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German Pages [492] Year 2015
Schriften zur politischen Kommunikation
Band 22
Herausgegeben von Angela De Benedictis, Gustavo Corni, Brigitte Mazohl, Daniela Rando und Luise Schorn-Schütte
Christian Steppan
Akteure am fremden Hof Politische Kommunikation und Repräsentation kaiserlicher Gesandter im Jahrzehnt des Wandels am russischen Hof (1720–1730)
Mit 17 Abbildungen
V& R unipress
Reihe des Internationalen Graduiertenkollegs »Politische Kommunikation von der Antike bis in das 20. Jahrhundert«
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MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-6312 ISBN 978-3-8471-0433-9 ISBN 978-3-8470-0433-2 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0433-6 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Ó 2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Wratislaw von Mitrowitz, Franz Karl Graf, Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv Austria, Digitale Sammlungen, Portraitsammlung, PORT_00106617_01 Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigen Papier.
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil 1: Der Handlungsspielraum der Akteure: Kommunikative, normative, institutionelle und begriffliche Rahmenbedingungen des frühneuzeitlichen Diplomatieparketts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Die vielfältige Sprache des frühneuzeitlichen Gesandtschaftswesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1. Der Kommunikationsprozess, seine Akteure und Medien . 1.1.2. Politische Kultur(en) und ihre Sprache(n) . . . . . . . . . 1.2. Die Vielfalt der Struktur – normative und institutionelle Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1. Ideengeschichtliche und normative Rahmenbedingungen des frühneuzeitlichen Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . 1.2.2. Ideengeschichtliche und normative Rahmenbedingungen der Zeremonialwissenschaften im frühen 18. Jahrhundert . 1.2.3. Ideengeschichtliche und normative Rahmenbedingungen der frühneuzeitlichen Gesandtschaftsliteratur . . . . . . . 1.2.4. Ideengeschichtliche und normative Rahmenbedingungen des internationalen Staatensystems . . . . . . . . . . . . . 1.2.5. Von der Norm zur Praxis – Professionalisierung des europäischen Gesandtschaftswesens . . . . . . . . . . . . . 1.2.6. Professionalisierung und institutioneller Ausbau des Gesandtschaftswesens in Wien und St. Petersburg/Moskau 1.2.7. Wissens- und Kulturtransfer durch die Intensivierung des diplomatischen Austausches . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Die Vielfalt der Quellen und die daraus erschließbaren Kommunikationsräume und Begriffsbestimmungen . . . . . . . 1.3.1. Die Akteure in ihren Netzwerken . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2. Die Kommunikationsräume der kaiserlichen Gesandten . . 1.3.3. Die Vielfalt der Begrifflichkeiten . . . . . . . . . . . . . . .
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6 Teil 2: Vom zwischenstaatlichen Tauwetter in die diplomatische Eiszeit – Wiederbelebung und Einfrieren der bilateralen Kommunikation in den Jahren 1720–1725 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Ein Klima des gegenseitigen Misstrauens? Die zwischenstaatlichen Beziehungen am Vorabend der groß angelegten Kontaktaufnahme von 1720/21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Die Entsendung einer diplomatischen Mission des Kaisers im Jahre 1721 – Annäherung an das neue Russland als zum Teil unerschlossener akkulturierter Kommunikationsraum . . . . . . . 2.2.1. Die Akteure am fremden Hof – Botschafter Stephan Wilhelm Graf Kinsky und Legationssekretär Sebastian Nikolaus Hochholzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2. Das wechselseitige Bemühen um die Freundschaft des anderen Hofes – die Kommunikationsstrategien der ersten Annäherungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3. Zusammenfassung: Die Kommunikationsstrategien der außenpolitischen Akteure und deren Widerhall in den verwendeten Schlüsselbegriffen ihrer Interaktion . . . . . . 2.3. Die Ausrufung Peters I. zum »Allrussischen Imperator« – der Auslöser für eine Periode des sukzessiven Einfrierens der diplomatischen Kommunikation ab dem Jahre 1722 . . . . . . . . 2.3.1. Das Eindringen des Zaren in das Weltbild des Kaisers – machtpolitische und ideengeschichtliche Hintergründe des Konflikts um den Imperatorentitel . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2. Das schwere Ringen um den Erhalt der bilateralen Beziehungen auf höchster Ebene – Kommunikationsmechanismen in Zeiten der einsetzenden diplomatischen Verspannungen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3. Der schwelende Konflikt um den Imperatorentitel und die Stagnation in der zwischenstaatlichen Kommunikation bis zum Tode Peters I. 1725 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4. Zusammenfassung: Die Kommunikationsstrategien der außenpolitischen Akteure und deren Widerhall in den verwendeten Schlüsselbegriffen ihrer Interaktion . . . . . .
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Inhalt
Teil 3: Aufblühen und Kultivierung der diplomatischen Beziehungen – Kommunikation zur Erlangung und Erhaltung der zwischenstaatlichen Freundschaft in den Jahren der schnellen Herrscherwechsel (1725–1730) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Wiederaufnahme der diplomatischen Kommunikation auf höchstem Niveau – das daraus resultierende Bündnis und die anschließende Intensivierung der Kommunikation (1725–1726) . . 3.1.1. Der Kompromiss in der Titelfrage – Grundlage für die Kommunikation zwischen den Herrschern und die Absendung des hochrangigen kaiserlichen Gesandten Amadeus Graf Rabutin nach Russland . . . . . . . . . . . . 3.1.2. Das Bemühen um den (potenziellen) Bündnispartner – Kommunikationsstrategien im Rahmen der Intensivierung zwischenstaatlicher Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3. Zusammenfassung: Die Kommunikationsstrategien der außenpolitischen Akteure und deren Widerhall in den verwendeten Schlüsselbegriffen ihrer Interaktion . . . . . . 3.2. Durch politische und verwandtschaftliche Bande verbunden – eine Hochblüte bilateraler Kommunikation zwischen den Höfen Karls VI. und Peters II. (1727–1730)? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1. Der Kaiser und sein Neffe, der Großfürst – Kommunikationsstrategien im innerrussischen Konflikt um die Thronfolge Peters II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2. Unerwarteter Wechsel der außenpolitischen Akteure – der Tod Rabutins und die schwierige Annäherung von Franz Carl Graf Wratislaw an den Hof Peters II. . . . . . . . . . . 3.2.3. Stagnation in der Freundschaft der beiden Bündnispartner? Wratislaws Ringen um die Gunst des Hofes von Peter II. . . 3.2.4. Zusammenfassung: Die Kommunikationsstrategien der außenpolitischen Akteure und deren Widerhall in den verwendeten Schlüsselbegriffen ihrer Interaktion . . . . . . 3.3. Ausblick statt Rückblick: Wratislaws erfolgreiche Interaktion mit dem Hof Anna Ivanovnas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung
Diese Arbeit liegt im historiographischen Trend. Sie reiht sich in eine Vielzahl von kleineren und größeren Werken der jüngeren Geschichtsschreibung ein, die die Akteure der (frühneuzeitlichen) Außenbeziehungen in den Blick nehmen. Grundlage aller dieser Untersuchungen stellt eine Neubewertung der wohl klassischsten Quellen der Diplomatiegeschichte dar – die Korrespondenzen zwischen den Gesandten und ihren Höfen. All diesen Studien gemeinsam ist eine neue Betrachtungsweise dieser traditionellen Materialien und die damit verbundene Konzentration auf die bislang unbeachteten Inhalte der diplomatischen Relationen. Damit traten Themen wie das Alltags-, Berufs- und Sozialleben sowie die Interaktion und sozialen Netzwerke der politischen Akteure ins Zentrum der historiographischen Aufmerksamkeit. Eine Herangehensweise, die sich mittlerweile bereits gut etabliert hat.1 Sehr viel Neues hält dieser Zugang auch im Falle der diplomatischen Beziehungen zwischen Wien und St. Petersburg/Moskau in den 1720er-Jahren bereit. So nahm die bisherige Geschichtsschreibung ausschließlich die aus Sicht der traditionellen Historiographie politisch relevanten Ereignisse der zwischenstaatlichen Beziehungen in den Blick. Dieser fokussierte sich somit auf ein einziges Ereignis: den Bündnisschluss im Jahre 1726. Die Vorgeschichte bzw. Auswirkungen und Folgen dieses Zusammenschlusses fanden in den genannten Werken jedoch nur am Rande Erwähnung.2 Große Ausnahmen stellen allerdings die Untersuchungen von Sergej Nelipovicˇ und des deutschstämmigen russischen Historikers Alexander Brückner (russisch: Aleksandr Brikner) dar. Ersterer veröffentlichte im Jahre 2010 die bislang erste zusammenhängende, auf russi1 Vgl. pars pro toto zu diesen neuen Betrachtungsweisen in der Diplomatiegeschichte: Gunda Barth-Scalmani/Harriet Rudolph/Christian Steppan, Einleitung, in: Gunda BarthScalmani/Harriet Rudolph/Christian Steppan (Hgg.), Politische Kommunikation zwischen Imperien. Der diplomatische Aktionsraum Südost- und Osteuropa (Innsbrucker Historische Studien, Bd. 29), Innsbruck-Wien-Bozen 2013, 9–17. 2 Vgl. dazu etwa die Arbeiten von J. Kliwar, W. Leitsch, G.A. Nekrasov und R. Pommerin, die in der Einleitung zu Teil 3 der Arbeit auf einen Blick zusammengefasst werden.
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Einleitung
schen Archivmaterialien basierende Studie über die russisch-österreichischen Beziehungen im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts, die sich auf die ereignisund militärgeschichtlichen Hauptentwicklungslinien der genannten Periode konzentriert.3 Der im 19. Jahrhundert an den Universitäten in Dorpat (Tartu, Estland) und Jena wirkende Brückner hingegen stützte seine Arbeiten auf die Korrespondenzen der kaiserlichen Gesandten mit dem Wiener Hof und behandelte darin bereits Fragen, die man heutzutage wohl als brandaktuell bezeichnen würde.4 Das Alltags-, Berufs- und Sozialleben der Diplomaten findet darin ebenso Erwähnung wie die personellen Netzwerke und Kommunikationsstrategien derselben. Wie in den meisten Werken dieser Epoche fehlen jedoch auch bei Brückner größtenteils die Angaben über die Herkunft seines Wissens. Außerdem gehen seine trotz alledem sehr gründlich recherchierten Beiträge in ihrem Charakter nicht über kommentierte Quelleneditionen hinaus und stellen die Fakten über die Tätigkeit der kaiserlichen Gesandten nicht in einen größeren theoretischen bzw. methodischen Zusammenhang. So ist zum Beispiel eine Einbettung der Ereignisse in die normativen Richtlinien der frühneuzeitlichen Diplomatie – wie sie in der vorliegenden Untersuchung vorgenommen wird – bei Brückner nicht zu finden. Ungeachtet dessen stellen die von ihm aufgeworfenen kulturgeschichtlichen Fragen der zwischenstaatlichen Beziehungen eine wertvolle Wissensbasis dar, die an manchen Stellen Verweise auf bereits niedergeschriebenes Wissen möglich macht. Dies ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit, da die vorhandene Literatur über die internationalen Beziehungen im betrachteten Zeitraum nicht allzu umfangreich ist und der aktuelle Forschungsstand auf diesem Gebiet nicht als gängiges Wissen vorausgesetzt werden kann. Aus diesem Grund werden in der vorliegenden Arbeit immer wieder Einschübe gemacht, in denen die Hauptentwicklungslinien der diplomatischen Auseinandersetzungen zusammengefasst werden. Diese sollen dem Leser an manchen Stellen als Faktengrundlage dienen, um sich in weiterer Folge in diese Fallstudie über das bilaterale Verhältnis zwischen Wien und St. Petersburg/Moskau vertiefen zu können. In den angesprochenen Untersuchungen von Brückner blicken auch jene Faktoren durch, die den im Titel der Dissertation angesprochenen »Wandel« des russischen Hofes bedingten. So liefert die vorliegende Arbeit nicht nur wertvolles neues Wissen über die diplomatischen Beziehungen zwischen den Höfen 3 Vgl. Christian Steppan, Rezension über : Sergej G. Nelipovicˇ, Sojuz dvuglavych orlov. Russkoavstrijskij voennyj al’jans vtoroj cˇetverti XVIII v., Moskva: Kvadriga 2010, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas / jgo.e-reviews, jgo.e-reviews 2 (2013), 14–15, , (26. Juni 2014). 4 Vgl. Brückner, Alexander, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 55: Nachträge bis 1899: Wandersleb–Zwirner, Leipzig 1910, 688–691.
Einleitung
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in Wien und St. Petersburg/Moskau, sondern bringt auch etwas mehr Licht in eine zum Teil unterbeleuchtete Epoche der russischen Geschichte. Gerade die zwischen den beiden »großen« Herrschern Peter I. (1682–1725) und Katharina II. (1762–1796) liegenden Jahrzehnte blieben eine von der bisherigen Historiographie im besten Fall nur oberflächlich erforschte Periode der russischen Geschichte. So ist bis heute aktuell, was bereits im Jahre 1986 von den Autoren des Handbuchs der Geschichte Russlands so treffend formuliert wurde. Demnach wurde die Regierungszeit Peters I. von der Geschichtswissenschaft als eigenständiges Zeitalter herausgegriffen, das aus historiographischer Sicht erst wieder mit der Epoche Katharinas II. einen entsprechenden Anschluss fand. Der im Schatten der beiden »Großen« verschwindende Zeitraum von 1725 bis 1762 blieb somit nicht nur eine unterbeleuchtete Phase der russischen Geschichte, sondern bekam vor allem auch den Charakter eines Zwischenspiels in mehreren Akten zugeschrieben. Das gilt auch für das im Zentrum dieser Untersuchung stehende Jahrfünft von 1725 bis 1730. Wenngleich die Historiographie diesen Abschnitt sehr wohl als eine spezifische Einheit wahrnahm, so wurde er im Wesentlichen auf ein Thema reduziert: die Frage der Nachfolge Peters I. und das damit verbundene Problem des Fortbestandes der Selbstherrschaft.5 Und das, obwohl die Regierungsjahre der unmittelbaren Nachfolger Peters I. sich in vielen Punkten sehr wohl als anschlussfähig an die Epoche des »großen« Herrschers erweisen und keineswegs nur die selbst von der jüngeren Geschichtsschreibung noch bevorzugte Macht-Frage aufwerfen.6 Der mit Peter I. einsetzende Wandel Russlands erlebte mit dessen Tod keinen Abbruch, sondern setzte sich etwa im Bereich der Außenpolitik, des Gesandtschaftswesens, der Diplomatie und des diplomatischen Zeremoniells sowie der Hofkultur auch unter seinen Sukzessoren fort.7 So stellte die an der Schwelle vom 17. zum 18. Jahrhundert einsetzende außenpolitische Neuorientierung des russischen Hofes nur eine von vielen Reformen des »großen« Herrschers dar, die auch nach seinem Tode weitergeführt wurde. Das wird unter anderem daran deutlich, dass die nach dem Frieden von Nystad (1721) eifrig betriebene Suche des jungen russischen Imperiums nach einem geeigneten Bündnispartner erst im Sommer 1726 – also eineinhalb Jahre nach dem Ableben des Langzeitherrschers – abgeschlossen werden konnte. Die Gründe dafür werden im zweiten Teil dieser Arbeit gründlich untersucht, indem darin die Beziehungen zwischen Wien und
5 Vgl. Klaus Zernack (Hg.), Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. 2,1: 1613–1856, Vom Randstaat zur Hegemonialmacht, Stuttgart 1986, 224–229, 392–401 sowie 444–446. 6 Vgl. dazu etwa die Arbeiten von E.V. Anisimov, I.V. Kurukin und N.I. Pavlenko, die in den Teilen 2 und 3 dieser Arbeit ausführlich besprochen werden. 7 Vgl. dazu im Detail die im Rahmen der vorliegenden Arbeit ausführlich besprochenen Studien von O.G. Ageeva.
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Einleitung
St. Petersburg/Moskau in den Jahren 1720 bis 1725 und damit die erste ernst zu nehmende Annäherungsphase zwischen Karl VI. und Peter I. betrachtet wird. Die bisherigen Werke über die Außenpolitik und die diplomatischen Beziehungen Russlands in den letzten Regierungsjahren Peters I. haben gezeigt, dass mit dem gewinnbringenden Frieden von Nystad und der unmittelbar darauffolgenden Ausrufung des Zaren zum allrussischen Imperator nicht nur die Grundlage für eine ernst gemeinte und nachhaltige Zusammenarbeit mit dem russischen Hof gelegt wurde, sondern auch die Basis für einen langwierigen ideologischen Kampf zwischen dem aufgestiegenen russischen Herrscher und den übrigen europäischen Souveränen bereitet wurde.8 Mit dem viel zitierten Wandel Russlands zur europäischen Großmacht und den damit verbundenen Veränderungen in der russischen Herrscherideologie hatte also nicht nur ein gefragter Bündnispartner, sondern auch ein ernst zu nehmender Konkurrent das politische Parkett der europäischen Mächte betreten. Der mit diesen Ereignissen einhergehende Wandel in der Haltung und Kommunikation des Wiener Hofes gegenüber Russland wird durch die nähere Betrachtung des Zeitraumes von 1720 bis 1725 genau unter die Lupe genommen. Diese ins Detail gehende Untersuchung zeigt deutlich, dass gerade die soeben angesprochene Titelfrage einen bestimmenden Faktor bei der Annäherung Russlands an die potenziellen europäischen Bündnispartner darstellte und im konkreten Fall der Beziehungen zwischen Wien und St. Petersburg/Moskau eine Allianz zwischen beiden Höfen zu Lebzeiten Peters I. unmöglich machte. Die damit verbundenen Probleme und Herausforderungen der kaiserlichen Gesandten in der Kommunikation mit dem russischen Hof und den übrigen ausländischen Diplomaten, die teilweise mit ihnen um die »feste Freundschaft« des russischen Herrschers kämpften, stehen daher im Zentrum der Betrachtungen des zweiten Teils dieser Arbeit. Neben diesem Hauptschwerpunkt der Untersuchung findet darin auch die Art und Weise nähere Erwähnung, wie der beschriebene Wandel Russlands in den letzten Regierungsjahren Peters I. und die damit verbundenen Veränderungen in den Beziehungen zwischen Wien und St. Petersburg/Moskau an eine breitere Öffentlichkeit transportiert bzw. von dieser wahrgenommen wurden. Die schnell aufeinander folgenden Herrscherwechsel in der zweiten Hälfte der 1720er-Jahre begünstigten jedoch nicht nur den Bündnisschluss im Jahre 1726, sondern stellten die diplomatischen Vertreter auch vor große Herausforderungen in der Kommunikation mit dem russischen Hof. So wurde mit dem überraschenden Regierungsantritt von Peters zweiter Frau, Ekaterina I. Alekseevna (1725–1727), vorerst eine Frage entschieden, die die kaiserliche Di8 Vgl. dazu etwa die Arbeiten von A.V. Florovskij, L.A. Nikiforov, S.M. Solov’ev und R. Wittram, die in Teil 2 der Arbeit ausführlich besprochen werden.
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plomatie bereits in der ersten Hälfte der 1720er-Jahre beschäftigte: die Nachfolge von Großfürst Petr Alekseevicˇ (1715–1730), einem Enkel Peters I. und Neffen Karls VI., der erst nach dem Tode Katharinas I. den russischen Thron als Peter II. (1727–1730) besteigen sollte. Teil drei dieser Arbeit wird unter anderem beleuchten, welche Kommunikationsstrategien der Wiener Hof in dieser heiklen innerrussischen Frage verfolgte und wie Karl VI. und seine diplomatischen Vertreter die Nachfolge des kaiserlichen Neffen voranzutreiben versuchten. Neben dem Abschluss eines Bündnisses und der Unterstützung der Nachfolge des Großfürsten waren die Gesandten in den Jahren 1725 bis 1730 vor allem damit beschäftigt, sich den sich schnell verändernden Kommunikationsvoraussetzungen am russischen Hof anzupassen. So brachten die angesprochenen Herrscherwechsel auch einen stetigen Wandel der Hofelite mit sich. Die Wiener Diplomaten mussten sich daher besonderer Interaktionsmechanismen bedienen, um sich das Vertrauen der ständig wechselnden einflussreichen Personen, Günstlinge und Favoriten an den Höfen Katharinas I. und Peters II. zu sichern. Die Betrachtungen der dabei angewandten Strategien stellen einen weiteren Untersuchungsschwerpunkt bei der Analyse der zwischenstaatlichen Beziehungen der zweiten Hälfte der 1720er-Jahre dar. Der soeben erwähnte Wandel der kommunikativen Voraussetzungen am russischen Hof bildet einen der Hauptaspekte des einleitenden ersten Teils dieser Arbeit, der als eine unabdingbare Wissensgrundlage für die anschließende Fallstudie über die diplomatischen Beziehungen in den Jahren 1720 bis 1730 konzipiert wurde. Jenseits der politischen Veränderungen an und gegenüber dem russischen Hof machte dieser bereits vor dem betrachteten Untersuchungszeitraum einen strukturellen und kulturellen Wandel durch, der die Interaktion der Gesandten maßgeblich beeinflusste. Im ersten Teil werden daher jene Elemente des sich verändernden Hoflebens beleuchtet, die nicht nur Auswirkungen auf die Tätigkeit der Diplomaten hatten, sondern auch deren Beschreibungen des fremden Machtzentrums in den 1720er-Jahren nachhaltig prägten. Neben ausführlichen Darstellungen über das der Dissertation zugrunde liegende Kommunikationsverständnis und die Rolle der Gesandten als Repräsentanten ihres Herrschers werden in diesem Großabschnitt jene theoretischen Fragen geklärt, die zum Teil in den darauffolgenden Kapiteln durch konkrete Beispiele aus den zwischenstaatlichen Beziehungen praktische Erklärungen finden. So wird darin den strukturellen und normativen Rahmenbedingungen für die diplomatische Kommunikation in der Frühen Neuzeit im Allgemeinen sowie für die Interaktion am russischen Hof im Speziellen besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Dies erfordert zunächst eine generelle Betrachtung der normativen Vorgaben des frühneuzeitlichen Gesandtschaftswesens, deren Wirksamkeit und Anwendbarkeit in weiterer Folge am konkreten Fall des russischen Hofs über-
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prüft werden soll. Entsprechend den übergeordneten Fragestellungen der vorliegenden Arbeit wird dabei ein Hauptaugenmerk auf die völkerrechtlichen Bestimmungen des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts gelegt, die vor allem aus der für die Gesandten als Orientierungshilfe dienenden gesandtschaftsrechtlichen und zeremonialwissenschaftlichen Ratgeberliteratur der damaligen Zeit erschlossen werden können. Konkret wird im ersten Teil dargestellt, welches Wissen diese Werke für die Tätigkeit der Diplomaten bereit hielten und in welchem Ausmaß es zur Zeit Peters I. und seiner unmittelbaren Nachfolger rezipiert wurde. Diese Ausführungen stellen somit die nötige Basis dar, um die praktische Anwendung dieser theoretischen Richtlinien am Beispiel der zwischenstaatlichen Beziehungen der 1720er-Jahre überprüfen zu können. Somit trägt die vorliegende Arbeit auch zur Klärung der Frage bei, inwiefern der Wandel des russischen Hofes auch durch diesen ideengeschichtlichen Transfer bedingt wurde. Eine ähnliche Vorgehensweise wird bei der Darstellung des strukturellen Wandels des Gesandtschaftswesens im betrachteten Zeitraum angewandt. Ausgehend von der Betrachtung der administrativen, infrastrukturellen und personellen Veränderungen in der europäischen Diplomatie des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts wird die Anpassung Russlands an die außenpolitischen Gebarungen der europäischen Höfe nachgezeichnet. Das machte sich vor allem im Ausbau der diplomatischen Vertretungen und des außenpolitischen Informationswesens sowie der Professionalisierung der Diplomaten bemerkbar. Tendenzen, die durch die zunehmende Integration Russlands in die europäische Staatengemeinschaft auch im Falle des russischen Gesandtschaftswesens beobachtet werden können. Außerdem bilden diese allgemeinen Ausführungen über die europäische Diplomatie auch eine Wissensgrundlage dafür, um im zweiten und dritten Teil der vorliegenden Arbeit den strukturellen Wandel und die Professionalisierung der Russlandpolitik des Wiener Hofes nachzeichnen zu können. Diese Ausführungen dienen in erster Linie der Charakterisierung des Wandels am diplomatischen Parkett des russischen Hofes sowie dessen normativer Richtlinien und ermöglichen die Betrachtung der Anpassung der Wiener Außenpolitik an diesen zum Teil unerschlossenen Kommunikationsraum. Abgesehen davon werden in der vorliegenden Arbeit auch jene Veränderungen im Bereich des russischen Hoflebens mitverfolgt, die sich aus den Relationen der 1720er-Jahre erschließen lassen. So berichteten die Diplomaten als ständige Besucher des fremden Machtzentrums in ihren Relationen über diverse Veranstaltungen des höfischen Alltags- und Festkalenders, weshalb diese auch in Hinblick auf die Wahrnehmung der sich verändernden russischen Hofkultur durch die ausländischen Vertreter besonders interessant sind. Im ersten Teil werden daher die Hauptentwicklungslinien dieses Wandels angesprochen, um in
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den anschließenden Abschnitten konkrete Beispiele aus den Berichten der Gesandten und anderer Beobachter herausgreifen zu können. Somit bereichern die Erkenntnisse dieser Arbeit das bereits ab dem 19. Jahrhundert in Augenschein genommene Themenfeld der Hofforschung, welches gerade von der jüngeren Geschichtsschreibung eifrig bearbeitet wurde. Natürlich beinhalten die Gesandtschaftsberichte auch eine Vielzahl von Themen, die bislang noch nicht erwähnt wurden. So stellte etwa der mit der kommunikativen und repräsentativen Tätigkeit der Gesandten verbundene finanzielle Aufwand der Außenpolitik einen Aspekt dar, der in den Relationen breite Erwähnung findet. Das gilt auch für Themenbereiche wie den durch die Diplomaten betriebenen Kulturtransfer im Bereich des Kunst- und Warenhandels, die religiöse und missionarische Tätigkeit derselben im orthodoxen Russland, ihre Darstellungen über die ökonomischen, militärischen und infrastrukturellen Gebarungen des russischen Reiches sowie die geographischen, klimatischen und kulturellen Besonderheiten von Land und Leuten – um nur einige weitere Aspekte des breiten inhaltlichen Spektrums der Relationen zu nennen. Zu jedem dieser Bereiche ließe sich allerdings eine eigenständige Forschungsarbeit schreiben, die dem Umfang der vorliegenden Studie wohl um nichts nachstehen würde. Das gilt auch für das Problem der Stellung der Russlandpolitik innerhalb der außenpolitischen Institutionen des Wiener Hofes. Eine seriöse Auseinandersetzung mit dieser Frage wäre jedoch nur durch die genaue Analyse der Organisationsstruktur der außenpolitischen Verwaltung Wiens möglich. Damit würde sich nicht nur der Umfang der auszuwertenden Archivmaterialien erheblich vergrößern, sondern die Studie insgesamt zu weit von ihren untersuchungsleitenden Fragen entfernen. Um den Rahmen des Machbaren eines Ein-Mann-Projekts nicht zu sprengen, wurden die angesprochenen Themen im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur am Rande erwähnt. Es finden sich mancherorts auch Hinweise auf deren mögliche Ausbaufähigkeit wieder. In diesem Zusammenhang muss auch auf einige generelle Eigenheiten der vorliegenden Studie eingegangen werden, die sich aufgrund der Themenwahl und des methodischen Zuganges der Arbeit ergeben. So macht die Untersuchung der kommunikativen und repräsentativen Tätigkeit der Gesandten eine mikroanalytische Untersuchung der Quellen unausweichlich, da nur durch eine detaillierte und nachhaltige Betrachtung der Materialien zufrieden stellende Ergebnisse über diese Facetten der Diplomatie herausgearbeitet werden können. Die daraus resultierende dichte Beschreibung des Inhaltes der einzelnen Materialien, auf deren Vielfalt noch später eingegangen wird, ist somit die logische Folge eines solchen Zuganges. Gleichzeitig ergeben sich damit Probleme, die auch an manchen Stellen der Dissertation zum Vorschein kommen. So kommt es durch die Zusammenführung von verschiedenen Darstellungen über ein und
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dasselbe Ereignis mancherorts zu Redundanzen, die auf den ersten Blick als überflüssig erscheinen mögen. Beim näheren Hinsehen zeigt sich jedoch deutlich, dass der Unterschied zwischen den diversen Beschreibungen lediglich durch einen ins Detail gehenden Vergleich derselben ermittelt werden kann. Wenngleich durch diese Betrachtungsweise das Lesevergnügen an einigen Stellen geschmälert wird, so sind es gerade diese kleinen, tief im Detail der verschiedenen Quellen steckenden Differenzen, die den Mehrwert der vorliegenden Studie begründen. Um im Dickicht dieser dichten Beschreibungen nicht den Überblick über das große Ganze zu verlieren, stehen am Ende jedes Teilabschnitts Zusammenfassungen, die die breiten inhaltlichen Darstellungen aus den einzelnen Kapiteln kompakt zusammenführen sollen. Auf Basis dieser Überblicke konnte ein Ausblick über die weiteren Ereignisse nach dem Jahre 1730 an das Ende dieser Arbeit gestellt werden. Diese Vorschau ermöglicht es, die mit dem Tode Peters II. keinesfalls zu Ende gehende diplomatische Tätigkeit des damaligen Missionschefs zumindest in groben Zügen bis zu ihrem Ende im Jahre 1733 zu betrachten. Gleichzeitig können damit die sich abermals wandelnden politischen und kommunikativen Rahmenbedingungen am russischen Hof der 1730er-Jahre angesprochen werden, die die Arbeit der kaiserlichen Gesandten in Russland nachhaltig beeinflussen sollten. Eine genaue Betrachtung dieser spannenden Phase der zwischenstaatlichen Beziehungen wird jedoch erst in nachfolgenden Untersuchungen des Autors geliefert werden können.
Teil 1: Der Handlungsspielraum der Akteure: Kommunikative, normative, institutionelle und begriffliche Rahmenbedingungen des frühneuzeitlichen Diplomatieparketts
Abb. 1: »Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft.« Der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann übergibt dem russischen Ministerpräsidenten Vladimir Putin ein Fahrrad aus österreichischer Produktion anlässlich der Unterzeichnung des Gaspipeline-Projekts »South Stream« (Wien, Hofburg, 24. April 2010).9
Dieses Bild ging durch die österreichischen und russischen Medien, als Russlands Ministerpräsident Vladimir Putin am 24. April 2010 seinem Amtskollegen einen Besuch in Wien abstattete. »[…] ›Mir san mit dem Radl do.‹ Bundeskanzler 9 Quelle: Fotoservice des Österreichischen Bundeskanzleramtes, , (8. Mai 2014).
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Faymann schenkte seinem Gast ein österreichisches Mountainbike […]«,10 kommentierte die österreichische Tageszeitung »Die Presse« den Schnappschuss und stellte das Foto von der Geschenksübergabe an den Beginn eines Artikels, in dem neben der Einigung auf die Unterzeichnung des gemeinsamen Gaspipeline-Projekts auch die Inszenierung einer guten Atmosphäre im Rahmen der Visite hervorgehoben wurde. Ähnliche Töne schlug der Korrespondent des russischen Fernsehsenders »NTV« in seinem Bericht über das Zusammentreffen der Regierungschefs an, der das Präsent Faymanns als Symbol für ein anderes, politisches Geschenk an Putin darstellte: »[…] Und gestern schenkte der österreichische Kollege Putins, Kanzler Werner Faymann, dem Premier ein Mountainbike für das Gelände. Aber es scheint, dass für Putin ein anderes Geschenk des österreichischen Staates wichtiger und angenehmer war. Nach langen Gesprächen stimmte Österreich – ein Land, das eine führende Rolle beim Bau der Gasleitung ›Nabucco‹ spielte, welche zur Schwächung der Abhängigkeit von Russland gedacht war – zu, am ›Südstrom‹ teilzunehmen, und gestand damit ein, dass eine Abkehr vom russischen Gas auf lange Sicht nicht realistisch ist. Der Vorstand von ›Gazprom‹ erachtet dies als großen Erfolg. […]«11
Gut drei Jahrhunderte zuvor bewegten derartige Geschenke auch die mediale Öffentlichkeit. So war die Übergabe von Fortbewegungsmittel aus heimischer Produktion als diplomatische Präsente schon damals ein beliebtes Mittel in der zwischenstaatlichen Kommunikation, um eine positive Atmosphäre in den bilateralen Beziehungen herzustellen oder zu bestätigen. Dementsprechend verfolgten die zeitgenössischen Gazetten derartige Geschenksübergaben genau, wie folgende Auszüge aus dem »Wienerischen Diarium« des Jahres 1728 beweisen: »[…] Dieser Tage überbrachte von Wien ein Kaiserlicher Bereiter acht schöne und mit kostbaren Zeugen belegte Reit-Pferde, zum Praesent an Se[ine] Czarische Majestät, und sollen in kurtzem noch 2. Züge Kutschen-Pferde nachfolgen. […]«12 Wenige Monate zuvor waren die dazugehörigen Parade-Kutschen Karls VI. (1711–1740) an seinen verbündeten Neffen Peter II. (1727–1730) geschickt worden: »[…] Dito nach-Mittag wurden die jüngst-gemeldte nach dem Russischen Hof gewidmete sehr kostbare zwey Wägen, und andere Kaiserl[iche] Praesenten für Ihre Russische Majestät von hier nacher Petersburg abgeschicket. […]«13 Über die Reaktion des Beschenkten wissen wir aus den Berichten des Überbringers der »guten Nachricht«, Franz Carl Graf Wratislaw14, Bescheid, der 10 Burkhard Bischof, Mit Muskeln aus Gas, in: Die Presse v. 25. April 2010, Nr. 18726, 3. 11 Vladimir Kontrat’ev, Prem’er Putin zaversˇaet vizit v Avstriju, , (25. April 2010). 12 Wienerisches Diarium v. 8. Mai 1728, Nr. 37, [4]. 13 Wienerisches Diarium v. 28. Februar 1728, Nr. 17, [7]. 14 Franz Carl Graf Wratislaw von Mitrowitz (* zwischen 1670 und 1680, † 1750) zählte zu den wichtigsten Diplomaten der Ära Karls VI. Nach Eintritt in den kaiserlichen Dienst im Jahre
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die Kutschen als kaiserlicher Gesandter anlässlich des Geburtstagsfestes der Schwester Peters II. im Juli desselben Jahres überreichte. »Nach einigen aufenthalt aber bey dem ober-cammerern und günstling des monarchen Knees Dolgoruky bin zu der audienz bey S[eine]r May[estät] eingeführet worden, wo selbsten ihro mit allen mir am anständigst erschienen worten das compliment über dieses von Eu[er] Kay[serlichen] May[estät] als zu einem offenbarn zeichen dero besondern liebe und consideration für ihro Rußl[ändische] May[estät] hieher gesandetes schancknuß abgeleget: […] Und ob derselbe [Anm.: Peter II.] zwar wegen seiner von erster jugend an führenden etwas ernstlichen mine selten äußerlich die empfindende freuden viel anzeiget, so schließen ich doch daraus, daß dem herrn diese praesenten ein nicht gemeines vergnügen müßen erwecket haben dieweilen er sich ohngeachtet des, bis in die spathe nacht wegen der Groß-Fürstin geburts-tag mitgehalten festins den anderen morgen gleich angesezet an Eu[re] Kay[serliche] May[estät] das aigenhändige schreiben zu verfertigen, welches als zu allerunterthänigsten beyschließung mir zugestellet, hiebey verwahret sich finden- und daraus die mehrere beschäftigung der wahren innerlichen erkandtnus zu ersehen seyn wird.«15
Dieser Auszug aus dem Bericht Wratislaws verweist nicht nur auf den hohen Stellenwert der frühneuzeitlichen Gesandten in der zwischenstaatlichen Kommunikation, sondern deutet auch auf einen Unterschied zur gängigen diplomatischen Praxis unserer Tage hin. Während Begegnungen von gekrönten Häuptern im 17. Jahrhundert noch mehrfach vorkamen, wurden derartige Treffen zwischen Souveränen im 18. Jahrhundert immer seltener und erlangten 1699 war Wratislaw zunächst als königlich kurböhmischer Appellationsrat und dann als kurböhmischer Gesandter auf dem Reichstag zu Regensburg (1709–1722) tätig. Dem folgte die Ernennung zum kaiserlichen Botschafter am polnischen bzw. kursächsischen Hof (1724–1728). Daraufhin wurde Wratislaw in den Jahren 1728 bis 1733 als bevollmächtigter kaiserlicher Minister an den russischen Hof geschickt. Im Anschluss daran kehrte er mit demselben Rang erneut an den polnischen bzw. kursächsischen Hof zurück (1733–1740, sowie 1740–1742), wo er schließlich das Amt des Obersthofmeisters der damaligen polnischen Königin bzw. Kurfürstin von Sachsen und österreichischen Erzherzogin, Maria Josepha, bekleidete. In dieser Funktion stellte Wratislaw den Antrag auf Ernennung zum wirklichen geheimen Rat, dem am 12. Mai 1743 stattgegeben wurde. Fast zwei Jahrzehnte zuvor war Wratislaw am 7. Februar 1724 bereits zum kaiserlichen geheimen Rat ernannt worden. Nachdem sich Wratislaw 1747 altersbedingt aus den offiziellen Geschäften zurückgezogen hatte, verstarb er am 23. April 1750 auf seinen Gütern in Böhmen. Seine Biographie ist somit ein gutes Beispiel für den Werdegang eines Hochadeligen, der als »Berufsdiplomat« Karriere machte. Vgl. Österreichisches Staatsarchiv (künftig: ÖStA), Haus-, Hof- und Staatsarchiv (künftig: HHStA), Reichsarchive, Geheime Räte, Karton (künftig: Kt.) 7 Geheime Räte U–Z, Konvolut 3 – Reichskanzlei Geheime Räte I. Dekrete Lit. U, V, W (1700–1760); Friedrich Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), Bd. 2: 1716–1763, Zürich 1950, 57, 75–76, 78, 80 sowie 255; Wratislaw, Franz Carl Graf, in: Constant von Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, Bd. 58: Wolf–Wurmbrand, Wien 1889, 166–167. 15 Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 26. Juli 1728, ÖStA, HHStA, Staatenabteilung (künftig: StA), Russland (künftig: RU) II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 194r–196v.
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erst mit der Gipfeldiplomatie des Wiener Kongresses in den Jahren 1814/15 zunehmende Verbreitung im internationalen Diskurs. So kam vor allem den hochrangigen Gesandten in der Frühen Neuzeit eine wichtige Rolle als Repräsentanten des Herrschers im fremden Machtzentrum zu, weshalb sie von Heinz Duchhardt auch als »verlängerter Arm« ihres Souveräns bezeichnet wurden.16 Daran anknüpfend könnte man auf Basis der Ausführungen Wratislaws auch das Bild des Botschafters als »Sprachrohr« seines Herrschers wählen, um der Bedeutung der Ambassadeure als zentrale Trägergruppe in der zwischenstaatlichen Kommunikation auch metaphorisch gerecht zu werden. Gerade im einführenden Beispiel der Kutschenübergabe an Peter II. fungierte der kaiserliche Gesandte nicht nur als Überbringer des Geschenks Karls VI., sondern auch als Vermittler der dazugehörigen Nachricht des Kaisers.
Abb. 2: »Große Geschenke erhalten die Freundschaft.« Eine prunkvolle Kutsche als Geschenk Kaiser Karls VI. an seinen Neffen, Peter II. (Kreml-Museum, Moskau).17
Wenngleich der Aufwand des diplomatischen Geschenkswesens der Frühen Neuzeit unter den politischen Beobachtern unserer Tage wohl den Verdacht der Bestechung hervorrufen würde, so ist die Semantik der eingesetzten Präsente im 18. wie im 21. Jahrhundert bei näherer Betrachtung dieselbe. So hielt etwa Jeanette Falcke diesbezüglich fest, dass derartige Zuwendungen, insbesondere in Form von Kunstgegenständen, ein äußerst differenziertes Vokabular geboten hätten, um nuancierte Aussagen treffen zu können und gleichzeitig mehrere Bedeutungsebenen miteinander zu verknüpfen. Im Diskurs der frühneuzeitli16 Heinz Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700–1785 (Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen, Bd. 4), PaderbornMünchen-Wien u. a. 1997, 19–32. 17 Quelle: Homepage des Museums des Moskauer Kremls, , (8. Mai 2014).
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chen Diplomatie seien diese daher als flexibles und elaboriertes Zeichen- und Kommunikationssystem zu verstehen. Dementsprechend setzten Geschenke einen gemeinsamen Code der Zeitgenossen voraus, der gegebenenfalls durch weitere Erläuterungen entschlüsselt werden konnte. Wenngleich die politischen Beobachter des 18. Jahrhunderts etwa im Fall von artifiziellen Erzeugnissen vielfach die kleinsten graduellen Unterschiede bemerkten und somit eine geschärfte Wahrnehmung für semantische Feinheiten der Kunstgegenstände bewiesen, so war der Sinngehalt solcher Präsente im politischen Diskurs selten eindeutig und damit an den Interaktionskontext gebunden. Meistens konnten den Zuwendungen erst durch die genauen Umstände oder die politischen Rahmenbedingungen der Geschenksübergabe klare Bedeutungen zugeschrieben werden. Die Interpretation des Empfängers und dessen Reaktion waren schließlich die Voraussetzung für die Anerkennung der zeichenhaften Botschaft und stellten oftmals die Grundlage für die weiteren politischen Ereignisse dar.18 Diese allgemeine Einschätzung über die Verwendung von Geschenken im Gesandtschaftswesen der Frühen Neuzeit trifft nicht nur auf das einführende Beispiel aus dem 18. Jahrhundert, sondern auch auf jenes aus dem 21. Jahrhundert zu. Markierte die Übergabe des Mountainbikes aus heimischer Produktion an den sportaffinen Ministerpräsidenten Putin die gute Atmosphäre im Rahmen des Treffens sowie den positiven Abschluss des Gaspipeline-Projekts und die damit verbundene Intensivierung der österreichisch-russischen Wirtschaftsbeziehungen, so waren auch die Kutschen und Pferde Karls VI. für den reitbegeisterten Peter II. ein Ausdruck für die angesprochene »Liebe« und »Consideration« des Kaisers zu seinem Bündnispartner und Neffen. Als Symbole existieren diese Präsente entsprechend einer allgemeinen Definition von Pierre Bourdieu nur für diejenigen, die sie entschlüsseln können und stellen somit ein Zeichen mit einer oder mehreren Bedeutung(en) sowie den Ausdruck sozialer Relationen dar.19 Dementsprechend haben sich im Laufe der Jahrhunderte weniger die Semantik der diplomatischen Geschenke, als vielmehr die Ausmaße derselben geändert. Sind es heutzutage die kleinen Geschenke, die zum Erhalt der Freundschaft eingesetzt werden, so waren es in der höfischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts die großen Präsente, die diesem Zweck dienten. 18 Vgl. Jeanette Falcke, Studien zum diplomatischen Geschenkwesen am brandenburgischpreußischen Hof im 17. und 18. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte, Bd. 31), Berlin 2006, 255–277. 19 Vgl. Gerhard Fröhlich/Boike Rehbein (Hgg.), Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2009, 229. Für eine überblicksartige Vertiefung zu den unterschiedlichen Definitionen von (politischen) Symbolen vgl. Francesco Benigno/Luca Scuccimarra, Introduzione. L’ impero dei simboli, in: Francesco Benigno/Luca Scuccimarra (Hgg.), Simboli della politica, Roma 2010, 7–21.
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So zeigt dieser Vergleich, wie weit die Wurzeln der politischen Kultur des 21. Jahrhunderts in die Vergangenheit zurückreichen und dabei keineswegs an den Grenzen des 18. Jahrhunderts Halt machen, sondern weit in frühere Zeitschichten vordringen. Gleichzeitig wird aus diesen einführenden Beispielen der Facettenreichtum der diplomatischen Sprache in der Frühen Neuzeit deutlich. Hatten Historiker diese Aspekte durch den Fokus der traditionellen Geschichtsschreibung auf die großen politischen Ereignisse bis weit ins 20. Jahrhundert hinein vernachlässigt, so stellt die vorliegende Arbeit den Versuch dar, die Kommunikation der kaiserlichen Gesandten am russischen Hof in ihrer Vielschichtigkeit zu beleuchten.
1.1. Die vielfältige Sprache des frühneuzeitlichen Gesandtschaftswesens 1.1.1. Der Kommunikationsprozess, seine Akteure und Medien Die einleitende Betrachtung von diplomatischen Geschenken als aussagekräftige Instrumente des zwischenstaatlichen Diskurses deutet darauf hin, dass der vorliegenden Arbeit ein spezifisches Kommunikationsverständnis bei der Analyse der zwischenstaatlichen Interaktion und der dabei verwendeten Medien zugrunde liegt. In Anlehnung an Niklas Luhmann wird Kommunikation als mehrgliedriger Selektionsprozess verstanden, in dem das Verstehen eine ebenso substantielle Bedeutung wie das Mitteilen einnimmt. Entsprechend dem von ihm postulierten Dreischritt, wonach auf die Auswahl der Information(en) sowie der Mitteilung(en) die Selektion des Verstehens folgt, kommen dem Sender und Empfänger eine gleichbedeutende Rolle innerhalb dieses Aktes zu. Mehr noch – die weit verbreiteten Zuschreibungen eines aktiven und eines passiven Parts in der Kommunikation werden aufgelöst. Oder in Luhmanns Worten gesprochen: Stellen die ersten beiden Selektionen der Informationsund Mitteilungswahl durch »Alter« die ersten Schritte des Prozesses dar, so ist die abschließende Selektion des Verstehens durch »Ego« ausschlaggebend dafür, ob es sich im konkreten Fall überhaupt um Kommunikation handelt. Diese Sichtweise lässt der Wechselseitigkeit zwischen Sender und Empfänger und der sich daraus ergebenden Anschlusskommunikation einen grundlegenden Charakter im Rahmen einer kommunikativen Operation zukommen.20 20 Vgl. dazu beispielsweise: Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Wiesbaden 20083, 109–120; Angela De Benedictis, The Richness of History and the Multiplicity of Experiences in Early Modern Societies. The Self-Description of »Alteuropa« by Luhmann, in: Massimo Rospocher (Hg.), Beyond the Public Sphere. Opi-
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Dieses theoretische Konzept spiegelt sich ebenso in der eingangs erwähnten Geschenksübergabe Wratislaws an Peter II. wider. So selegierte auch der kaiserliche Botschafter im Rahmen seiner Tätigkeit am russischen Hof ständig Informationen: aus der Korrespondenz mit den unterschiedlichen außenpolitischen Verantwortlichen am Wiener Hof, aus seinen Gesprächen mit dem Botschaftspersonal, mit anderen Diplomaten und mit den Macht- und Würdenträgern des fremden Machtzentrums und nicht zuletzt aus seinen eigenen Beobachtungen. Aus dieser Fülle an Informationen filterte er vor allem jene heraus, die für ihn und seinen Hof, deren politische Interessen und seine eigene Karriere von Nutzen waren. Im konkreten Fall der Geschenksübergabe könnten diese Selektionen unter anderem folgende Informationen umfasst haben: die Reitbegeisterung Peters II. als ausschlaggebender Faktor für die Wahl der Präsente, die am Zarenhof üblichen zeremoniellen Rahmenbedingung eines derartigen Aktes, die vor der eigentlichen Überreichung öffentlich wahrgenommene Reaktion auf die Anlieferung der Pferde und Kutschen von Seiten anderer Gesandter und der russischen Macht- und Würdenträger sowie vieles andere mehr. Dieser breite Informationspool diente Wratislaw als Grundlage für die Wahl der zu überbringenden Mitteilung. Neben dem genauen Inhalt der kaiserlichen Grußbotschaft waren dies zum Beispiel der genaue Ablauf der Präsentübergabe und die daran teilnehmenden Personen des Botschaftspersonals. Peter II. als Empfänger der Nachricht verstand die Überbringung der Kutschen und der dazugehörigen Worte des Kaisers als Mitteilung. So erlangte der junge Monarch dadurch Gewissheit über die besondere Zuneigung des Kaisers zu seiner Person. Gleichzeitig blieb ihm der selektive Charakter der Mitteilung keineswegs verborgen, da er sich dessen bewusst war, dass der tatsächlichen Übergabe ein intensiver Informationsaustausch Wratislaws mit den unterschiedlichen Interaktionspartnern über die Geschenksüberreichung vorangegangen war. Dieses Verstehen der sprachlichen und zeichenhaften Botschaften als solche veranlasste ihn schließlich zur Abfassung des Dankesschreibens an den Kaiser und stellte somit die von Luhmann als unausweichlich dargestellte Anschlusskommunikation als Folge des dreigliedrigen Kommunikationsprozesses dar.21 An dieses Konzept schließen also auch die in der Einleitung genannten Ausführungen Falckes über das frühneuzeitliche Geschenkswesen an, wonach die Interpretation des Empfängers eine Voraussetzung für die Anerkennung der (zeichenhaften) Botschaft sei. Dementsprechend nehmen nicht nur die Akteure, sondern auch die von nions, Publics, Spaces in Early Modern Europe (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento. Contributi, 27 = Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts. Beiträge, 27), Bologna-Berlin 2012, 73–90, hier: 83–85. 21 Vgl. Margot Berghaus, Luhmann leicht gemacht. Eine Einführung in die Systemtheorie, Köln-Weimar-Wien 32011, 96–97.
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ihnen verwendeten Medien einen zentralen Stellenwert in der vorliegenden Untersuchung ein. So bieten Letztgenannte die Möglichkeit der Eingrenzung von Selektionen innerhalb des Kommunikationsprozesses. Schon das Beispiel der Geschenksübergabe deutet darauf hin, dass die Wahl der Informationen und Mitteilungen von Wratislaw sowie die darauffolgende Auslese der Botschaften durch Peter II. so oder anders hätten ausfallen können. In diesem konkreten Fall waren sich Sender und Empfänger dessen bewusst, dass ihr Gegenüber diese Auswahl vornahm, weshalb sie ihre Selektionen darauf abstimmten. Ein Umstand, der von Luhmann als doppelte Kontingenz bezeichnet wird und die Grundlage für die Lösung angesichts der prinzipiellen Beliebigkeit der Selektionen bietet. Durch diese spezifische gegenseitige Wahrnehmung werden Alter und Ego füreinander zwar nicht durchschaubar oder gar berechenbar, wenngleich sie eine reziproke Einflussnahme annehmen, die wiederum zu Anschlussoperationen führt. Die doppelte Kontingenz stellt demnach die Basis für soziale Systeme dar. Nun wird durch die Verwendung von Medien wie Sprache, Schrift, nonverbale Gesten, Kunstgegenstände und vieles mehr der Selektionsspielraum begrenzt, ohne eine Auswahlmöglichkeit zu unterbinden. Diese Eingrenzung macht die Heranziehung einer passenden Selektion wahrscheinlicher. Bei näherer Betrachtung entfalten sich Medien jedoch stets in einer bestimmten Form, wie zum Beispiel die Sprache in Gestalt von Texten, Sätzen, Befehlen, Gesten und dergleichen mehr. Sie grenzen die Selektionen allerdings nicht nur ein, sondern erweitern diese gleichzeitig, indem sie zur Schaffung von Formen animieren. Dieses Paradoxon lässt sich durch die der Form zugrunde liegende Differenz zwischen dem tatsächlich gewählten Zeichen und dessen möglichen Variationen erklären.22 Dieses theoretische Konzept führt uns wiederum zu den eingangs angeführten Betrachtungen des frühneuzeitlichen diplomatischen Geschenkswesens. So grenzten die Präsente durch das ihnen innewohnende Vokabular die möglichen Selektionen ein und eröffneten gleichzeitig eine Fülle von unterschiedlichen Formen der praktischen Umsetzung und Ausdeutung. Nicht zuletzt deswegen scheint die von Falcke getroffene Charakterisierung von diplomatischen Geschenken als elaboriertes und flexibles Zeichensystem besonders passend zu sein. Ebenso verhält es sich mit dem »Inhalt« der von Wratislaw überbrachten Mitteilung Karls VI. an Peter II., in der an Stelle der »besonderen Liebe« etwa auch die »besondere Freundschaft« hätte hervorgehoben werden können. Im zwischenstaatlichen Diskurs wurde der Begriff »Freundschaft« bereits ab dem 16. Jahrhundert unter anderen mit den Begriffen »Liebe« und 22 Vgl. dazu beispielsweise: Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997, 195–202 sowie 814–815; Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984, 148–190.
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»Treue« kombiniert oder kumuliert. Ganz generell war die »Freundschaft« in der frühneuzeitlichen diplomatischen (Vertrags)Sprache ein fixer Terminus, der häufig in Kombination mit Begriffen wie »Bündnis«, »Vereinigung« und »Allianz« Verwendung fand.23 In den einzelnen Teilkapiteln der vorliegenden Arbeit soll daher auch eine tiefer gehende Analyse und Systematisierung des Verhältnisses dieser Begriffe vorgenommen werden. An Luhmanns Überlegungen knüpften jüngst die Vertreter unterschiedlicher Disziplinen an, die den Boten als Dritten am Kommunikationsprozess beteiligten ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten. Sie griffen die von Luhmann getroffene Unterscheidung zwischen dem unsichtbaren Medium und der sichtbaren Form auf, indem sie zunächst die Position des Beobachters zweiter Ordnung einnahmen und dementsprechend betrachteten, wie die Medien bislang beobachtet wurden. Aus diesem Blickwinkel erkannte etwa Alexander Zons den kleinsten gemeinsamen Nenner aller medientheoretischen Ansätze darin, dass Medien nicht nur Inhalt wiedergeben würden, sondern grundsätzlich generativ seien. Auf dieser gedanklichen Ausgangsbasis setzte zuvor Marshall McLuhan das Medium mit der Botschaft gleich und entfernte damit den Inhalt aus der Gleichung der Kommunikation. Diese Verknüpfung von Medium und Botschaft schuf eine neue Perspektive und machte den ursprünglichen Grund zur Figur und zum Fokus der Untersuchung. Konkret wurde damit die Frage nach der Übertragung der Botschaft von einem Kontext zum anderen aufgeworfen und eine Anpassung an die Bezugsrahmen nach beiden Seiten notwendig. Diese Neuorientierung führte zunächst zur Erkenntnis, dass die Verkoppelung von Medium und Botschaft gleichzeitig eine Implosion des dualistischen Gegensatzpaares von Sender und Empfänger bzw. Alter und Ego bedinge. Die beiden kommunikationstheoretischen Antagonisten werden dadurch auf ihre ursprüngliche Funktion des Kontakthaltens reduziert. Diese Beobachtung bringt die Figur des Boten als Vermittler zwischen Absender und Adressaten ins Spiel, wodurch das Medium zur Mitte und gleichsam zum verbindenden und trennenden Dritten im Kommunikationsprozess wird.24 Ein Ansatz, der gerade für das vorliegende Projekt von besonderem Mehrwert ist. Doch wollen wir diese geraffte Betrachtung theoretischer Überlegungen konkretisieren, um den Nut23 Vgl. Andreas Würgler, Freunde, amis, amici. Freundschaft in Politik und Diplomatie der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft, in: Klaus Oschema (Hg.), Freundschaft oder ›amiti¦‹? Ein politisch-soziales Konzept der Vormoderne im zwischensprachlichen Vergleich (15.–17. Jahrhundert) (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 40), Berlin 2007, 191–210, hier: 193; Katja Frehland-Wildeboer, Treue Freunde? Das Bündnis in Europa 1714–1914 (Studien zur internationalen Geschichte, Bd. 25), München 2010, 64–70. 24 Vgl. Alexander Zons, Der Bote, in: Eva Eßlinger/Tobias Schlechtriemen/Doris Schweitzer u. a. (Hgg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, Berlin 2010, 153–165, hier : 154–159.
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zen der dargestellten Perspektive für die weiteren Betrachtungen zu verdeutlichen. Horst Wenzel untersuchte beispielsweise das Verhältnis von körperlichen und nicht-körperlichen Nachrichtenträgern im Gesandtschaftswesen des frühen 13. Jahrhunderts. Ganz allgemein hielt er diesbezüglich fest, dass die Vermittlung zwischen zwei getrennten Sprechern stets über einen Mittelsmann erfolge. Demnach fungiere der Bote sowohl in der mündlichen als auch in der schriftlichen Kommunikation als Brücke zwischen Absender und Adressaten. Während bei einer mündlichen Übertragung die Botschaft körperlich aufgenommen und aus der Erinnerung vermittelt wird, so bleibt eine schriftliche Mitteilung dem Überbringer zwar äußerlich erhalten, erlebt jedoch eine Interpretation, Ergänzung oder gar Verzerrung durch dessen Stimme. Diese Beobachtung führte Wenzel zu dem Schluss, dass der Bote sich auf der Schnittlinie zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit befinde.25 Auf Basis derartiger Untersuchungen entwarf Sybille Krämer ein für die vorliegende Arbeit viel versprechendes theoretisches Gerüst, als dessen Grundpfeiler sie zunächst ein idealtypisches Modell vom Boten innerhalb des Kommunikationsprozesses verankerte. Demzufolge treffen sich die verschiedenen Ansätze zur Medialität darin, dass allen (intersubjektiven) Verhältnissen eine Mittelbarkeit zugrunde liegt, die auf Übertragungsvorgängen beruht. Wenngleich diese Prozesse zu einer Unsichtbarkeit neigen, so tritt gerade die grundlegende Mittelbarkeit als eine Unmittelbarkeit in Erscheinung. Dafür sprechen nach Krämer mehrere Beobachtungen. Ausgangspunkt für diese Überlegungen zur Medialität stellt die Differenz zwischen den auf einander Bezugnehmenden dar, die sich qualitativ aus ihrer Verschiedenheit sowie quantitativ aus ihrer räumlichen Entfernung ergibt. Nun erzeugen Medien ganz im Luhmannschen Sinn keine Umwandlung der Unterschiedlichkeit in Übereinstimmung, sondern weisen auf eine gemeinschaftliche Existenz unter Aufrechterhaltung der Differenzbedingungen hin. Sie leisten Übertragung und stellen somit vielmehr die Mitte, den Mittler und das Milieu als das Mittel oder Instrument dar. Dieser externe, korporale und materielle Prozess der Übertragung kann einerseits als Verkörperung gefasst werden und geht andererseits mit einer Entkörperung in Form der Unsichtbarwerdung der Medien einher. Unter Berücksichtigung dieser Differenz stellt die »Nicht-Gegenseitigkeit« das strukturelle Merkmal der Kommunikation dar.26 Der soeben skizzierte Übertragungsvorgang kann mit Hilfe des Boten als 25 Vgl. Horst Wenzel, Boten und Briefe. Zum Verhältnis körperlicher und nicht-körperlicher Nachrichtenträger, in: Horst Wenzel (Hg.), Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis (Philologische Studien und Quellen, Heft 143), Berlin 1997, 86–105, hier : 86–88. 26 Vgl. Sybille Krämer, Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt am Main 2008, 103–104.
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Reflexionsfigur näher erschlossen werden. Mit der Einnahme dieses Blickwinkels ändern sich zugleich die gebräuchlichen Parameter bei der Betrachtung von Kommunikationsprozessen. Während bislang der interaktive, stimmbasierte und körpernahe Dialog als Ausgangspunkt herangezogen wurde, so stellte Krämer die Entfernung an den Beginn ihrer Betrachtungen und geht damit von der räumlichen und zeitlichen Distanz zwischen den Interagierenden aus. Mitteilen impliziert demnach eine Differenz der aufeinander Bezugnehmenden, wodurch die Entfernung im Rahmen der Übertragung zum zentralen Element der Kommunikation wird. Die Überbringerperspektive eröffnet daher zunächst die Medialität in der Kommunikation zwischen Abwesenden. Aus diesen Betrachtungen über die botenvermittelte Abwesenheitskommunikation kann auch ein neues Verständnis für die Anwesenheitskommunikation geschaffen werden. Doch widmen wir uns zunächst der Distanz als Charakteristikum des Botenganges, der nicht nur die Überwindung des räumlichen Abstandes, sondern auch die Überbrückung der sich aus der Verschiedenheit der aufeinander Bezugnehmenden ergebenden Entfernung zum Ziel hat. Vermittlung und Trennung greifen also ineinander und erklären die bislang vorgenommenen Unterteilungen in Sender und Empfänger, Alter und Ego und dergleichen mehr. Die Distanz, Heterogenität und Differenz zwischen den Mitteilenden wird zum Wesensmerkmal für den Botengang, wobei sich die Vermittlung als operative Aufgabe des Überbringers herauskristallisiert und gleichsam einen Ausgangspunkt für die Medientheorie liefert.27 Eine weitere dem Boten implizierte Eigenschaft ist die seiner Funktion zugrunde gelegte Heteronomie. Er handelt im Auftrag eines anderen und ist nicht selbsttätig. Für die horizontale Vermittlungsebene, also etwa im Falle der Kommunikation zwischen zwei Herrschern, kann der Gesandte als ideales Beispiel herangezogen werden und dient nach Krämer vielfach als Ausgangspunkt für Untersuchungen über den Botengang. So wurde gerade der Botschafter in vielen Epochen als Extension des Körpers seines Auftraggebers betrachtet und stellte damit nicht nur den Repräsentanten, sondern auch die Vergegenwärtigung desselben dar. Diese allgemeine Einschätzung erinnert an die eingangs getroffene Charakterisierung des frühneuzeitlichen Diplomaten als »Sprachrohr« oder »Verlängerter Arm« seines Souveräns und trifft somit auch für die hochrangigen Ambassadeure des in der vorliegenden Studie betrachteten Zeitraums zu. Die Tätigkeit des Boten entspringt daher immer einer fremden Weisung und führt zu dem allgemeinen Schluss, dass es stets ein Außerhalb der Medien gibt. Darauf aufbauend erklärt sich auch seine beziehungsstiftende Funktion, da er nicht nur abgesandt, sondern mit seiner Mitteilung zu einem konkreten Adressaten geschickt wird. Diese Mittelstellung zwischen Absender 27 Vgl. Krämer, Medium, 108–111.
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und Adressaten macht den Boten zu einem unabdingbaren, idealtypisch nicht subjektiv handelnden Element einer Interaktionsgemeinschaft, durch die die bisher gebräuchlichen dualistischen Konzepte intersubjektiver Beziehungen erweitert werden. Diese Figuration des Dritten rückt das Sozialpotential anstelle der lange angenommenen Instrumentalfunktion in den Vordergrund. Die Drittheit als Grundlage der Sozialität des Boten begründet jedoch gleichzeitig seine potenzielle Janusköpfigkeit im kommunikativen Beziehungsgeflecht: So stellt sich die Frage, ob er die Heterogenität und damit die Neutralität im Rahmen seiner Vermittlungstätigkeit bewahrt oder die zu überbringende Botschaft eigenständig verändert – eine mögliche Bruchstelle, zu der das Medium generell tendiert und damit auf das ihm zugrunde liegende Konfliktpotenzial verweist.28 Schließlich muss der Bote im Zuge der impliziten Raumüberwindung die Botschaft nicht nur überbringen, sondern auch bewahren und steht damit in einem Spannungsverhältnis zu seinem Auftraggeber und der ihm eingeschriebenen Stabilität. Während sich die Mobilität der Nachricht in ihrem Überbringer verkörpert, muss der Gehalt möglichst unverändert überbracht werden. Die Botschaft ebenso wie der Bote und seine Körperlichkeit sind Bestandteile eines Materialitätskontinuums – die Nachricht wird nicht nur durch eine authentische Wiedergabe gesichert, sondern auch durch den Botenkörper beglaubigt. Nicht zuletzt aus diesen Gründen wurde der Gesandte vielfach als verschobener Körper des Fürsten betrachtet. In dieser Funktion, als verkörperter Mittler seines Auftraggebers, muss sich der Bote indifferent zum Gehalt der Nachricht verhalten, indem er diesem gleichgültig oder neutral gegenübersteht. Er nimmt sich folglich zu Gunsten dessen zurück, was er überträgt. Damit ist Fremdvergegenwärtigung durch Selbstneutralisierung ein weiteres Merkmal dieser idealtypischen Figur. Der Bote widerspricht auf den ersten Blick all dem, was in der Theorie mit Sprachlichkeit und Kommunikation verbunden wird: Er spricht nicht im eigenen, sondern im fremden Namen. Er denkt nicht zwangsläufig das, was er sagt. Er darf das Gesagte nicht selbst produzieren, sondern nur noch einmal verstehen. Durch diese Eigenschaften kann seine Übertragungsfunktion auch auf nicht-personale Erscheinungen umgelegt und in weiterer Folge durch symbolische und technische Nachrichtenträger ersetzt werden. Der idealtypische Bote wird seiner Rolle gerecht, indem er sich wie eine »Nicht-Person« verhält. Diese Aufgabe können auch Dinge übernehmen, weshalb die neutrale Botenfunktion ontologisch, persönlich und technisch realisiert werden kann.29 Mit diesem theoretischen Hintergrund lässt sich die von Wenzel dargestellte Brückenfunktion des Boten zwischen Absender und Adressaten bei mündlicher und schriftlicher Interaktion nachvollziehen und das Verhältnis von körperli28 Vgl. Krämer, Medium, 111–116. 29 Vgl. Krämer, Medium, 116–121.
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chen und nicht-körperlichen Nachrichtenträgern weiterverfolgen. Er liefert überdies die notwendige Bestätigung für die von ihm beschriebene Verbindungsfunktion des Boten als Ursprung jeglicher Fernkommunikation bei »unentwickelten« politischen Verhältnissen. Basierend auf seinen Untersuchungen für das frühe 13. Jahrhundert stellt er den Boten als das zentrale Element eines Briefes dar, da die mündliche Kommunikation, ungeachtet der Vorzüge der Schriftlichkeit, einem einfachen Briefwechsel in der »distanzierten« Interaktion hochgestellter Funktionsträger vorgezogen wurde. Durch diese Form des Austausches konnte der Reichtum der Beziehungsaspekte, mit all seinen nonverbalen Elementen, erhalten werden, der die Anwesenheitskommunikation auszeichnet.30 Diese Feststellungen treffen auch für das Diplomatiewesen des betrachteten Zeitraums zu und weisen auf die zentrale Bedeutung der Gesandten als (Über)Trägergruppe der frühneuzeitlichen Herrscherkommunikation hin. Das zeigten bereits die eingangs angeführten Darstellungen Wratislaws über die Übergabe der Kutschen an Peter II., in deren Rahmen er dem Zaren »mit allen mir am anständigst erschienen worten das compliment über dieses von Eu[er] Kay[serlichen] May[estät] als zu einem offenbarn zeichen dero besondern liebe und consideration für jhro Rußl[ändische] May[estät] hieher gesandetes schancknus abgeleget: […]«31 Wird darin zunächst auf die von Krämer angesprochene Funktion des Boten als Repräsentant oder gar Vergegenwärtigung des Auftraggebers hingedeutet, so spiegeln sich in den weiteren Darstellungen auch die von Wenzel hervorgehobenen Vorteile des Boteneinsatzes in der Fernkommunikation und der damit verbundene Gewinn der reichhaltigen Elemente der Anwesenheitskommunikation wider : »[…] Wogegen der Baron v[on] Ostermann im namen des iungen monarchen so viel zur anzeigung der großen erkandtlichkeit für Eu[er] Kay[serliche] May[estät] erwideret, daß deme anverbindlich- und ehrerbietigen expressionen nicht wohl ein mehrers in dergleichen gelegenheit hätten hinzu gesezet werden können, der herr aber hat, es seye nun aus seiner von anderen vorschüzlichen blödigkeit, oder weil er vielleicht persuadiret wird die teutsche sprache wenig zu gebrauchen, auch diesmahln in nichts selber sich gegen mich vernemmen laßen, ist iedannoch nach geendigter audienz auf die vor dem palais befindlichen altana herausgetretten, hat mit bewiesenen merckbaren wohlgefallen die schöne carossen betrachtet, auch mit solchen im hof einige mahl umbfahren laßen: […]«32
Somit bilden die soeben skizzierten Überlegungen über den idealen Boten ein äußerst brauchbares theoretisches Grundgerüst, um die Rolle der Diplomaten 30 Vgl. Wenzel, Boten, 88–89. 31 Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 26. Juli 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 194r–196v. 32 Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 26. Juli 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 194r.
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als Mittler zwischen Absender und Adressaten fassen zu können. Gleichzeitig bieten sie eine wertvolle allgemeine Orientierungshilfe für die Analyse der Funktion von Medien sowohl im Rahmen der Abwesenheits-, als auch im Zuge der Anwesenheitskommunikation. Überdies eröffnet das vorliegende Botenmodell weitere Anschlussmöglichkeiten an methodische Konzepte, die für die weiteren Betrachtungen sinnvoll erscheinen. So kann dadurch an die der neueren soziologischen Forschung entsprungenen »Akteur-Netzwerk-Theorie« angeknüpft werden, die sich dem Denken in Operationsketten verschrieben hat. Bei deren Betrachtung tritt die soeben beschriebene Dreierkonstellation wieder ans Tageslicht, indem sie die Vermittlung zwischen drei Akteuren als Ausgangspunkt jedes Netzwerkes annimmt.33 Doch dieser Gedanke soll bei der Betrachtung der Kommunikationsräume nochmals aufgegriffen und näher konkretisiert werden.
1.1.2. Politische Kultur(en) und ihre Sprache(n) Anknüpfend an diese soeben skizzierten und noch andere theoretische Überlegungen über die an der Kommunikation beteiligten Akteure räumte die jüngere Geschichtswissenschaft der Untersuchung ihrer sprachlichen und nicht sprachlichen Äußerungen einen zentralen Stellenwert ein. So sollen diese historischen Phänomene in der vorliegenden Studie unter Berücksichtigung der Ordnungskategorien, Wahrnehmungs- und Bedeutungsmuster derselben sowie unter Beachtung der von ihnen artikulierten Verständigungsbasis über die als gemeinsam angenommene (politische) Wirklichkeit analysiert werden. Dementsprechend lassen sich aus der Analyse der Kommunikationsprozesse unter den außenpolitischen Akteuren nicht nur die Konstruktionen kollektiver Selbstkonzepte und Regeln als konstitutive Elemente dieser Gruppe zurückverfolgen, sondern auch die darüber stattfindenden Diskurse nachvollziehen. Die sich darin offenbarenden gesellschaftlichen Handlungsnormen, Ordnungskategorien und Orientierungsleistungen sowie die darüber stattfindenden Diskussionen und deren Wandel sollen in der vorliegenden Arbeit daher vor allem in ihren sprachlichen und zeichenhaften Erscheinungsformen sichtbar gemacht werden.34
33 Vgl. Zons, Bote, 164. 34 Vgl. Luise Schorn-Schütte, Politische Kommunikation als Forschungsfeld. Einleitende Bemerkungen, in: Angela De Benedictis/Gustavo Corni/Brigitte Mazohl u. a. (Hgg.), Die Sprache des Politischen in actu (Schriften zur politischen Kommunikation, Bd. 1), Göttingen 2009, 7–18, hier : 7–13; Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe-Thesen-Forschungsperspektiven, in: Barbara Stollberg-Rilinger
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Diese Herangehensweise erlaubt einen tiefen Einblick in die am frühneuzeitlichen Diplomatieparkett herrschende politische Kultur, die sich gerade durch sichtbare verbale und nonverbale Manifestationen erschließen lässt und einen dahinter liegenden, nicht offensichtlichen politischen Sinn offenbart. Doch wollen wir zunächst bei der Begrifflichkeit der politischen Kultur an sich verweilen, die Karl Rohe bei seinem Versuch der Strukturierung und Eingrenzung ihres Gegenstandsbereichs als politisch relevantes Weltbild von Gruppen bezeichnet, das von seinen Trägern als natürlich gegebene Grundannahme über die Wirklichkeit vorausgesetzt und damit als solches von diesen gar nicht bewusst wahrgenommen wird. Demzufolge stellt die politische Kultur einen Code oder eine Programmsprache dar, die das Denken, Handeln und Fühlen der Akteure zwar zu steuern und zu konditionieren, nicht aber a priori vorzugeben vermag. Oder mit anderen Worten ausgedrückt: Ein mit Sinnbezügen gefüllter Rahmen, innerhalb dessen sich die von Interessen geleitete Lebenspraxis der Menschen abspielt. Diese Eingrenzung basiert, wie Kultur(en) im Allgemeinen, auf künstlichen Festlegungen jenseits natürlicher und technischer Zwänge und macht ein bestimmtes Verhalten kalkulier- und voraussehbar.35 Eben diese gedankliche Ausgangsbasis bildet die Grundlage für die Unterscheidung zwischen der Inhalts- und Ausdrucksebene, oder dem »Was« und »Wie« eines politischen Weltbildes. Dementsprechend begreift Rohe die politische Kultur als ein mit anderen geteiltes politisches Weltbild, das einen sichtbaren Ausdruck gefunden hat – politischer Sinn, der sinnenfällig, also wahrnehmbar werden muss. So besitzt diese Expressionsseite eine eigene Geschichte, weshalb politische Inhalte auch durch den Einsatz des richtigen oder falschen Ausdrucks entsprechend durchdringen bzw. durchgesetzt werden oder aber scheitern können und die dabei verwendeten Namen, Zeichen, Symbole und dergleichen mehr kulturell betrachtet keineswegs Schall und Rauch sind. Das haben die einführenden Beispiele der Geschenksübergaben verdeutlicht, die im weitesten Sinne die guten bilateralen Beziehungen zwischen Österreich und Russland bzw. Kaiser und Zar manifestierten. Die ausgewählten Präsente – Fahrrad und Kutsche – weisen überdies darauf hin, dass unterschiedliche politische Kulturen verschiedene Gefühlswelten und Ästhetiken aufweisen und somit eine affektive oder emotionale Komponente besitzen.36 Diese Differenz offenbart sich sowohl aus einer zeitlich-historischen/asynchron-vergleichenden als auch aus einer geographisch-kulturellen/synchron-gegenüberstellenden u. a. (Hgg.), Zeitschrift für historische Forschung, Bd. 31, Berlin 2004, 489–527, hier : 495–505. 35 Vgl. Karl Rohe, Politische Kultur und ihre Analyse. Probleme und Perspektiven der politischen Kulturforschung, in: Lothar Gall (Hg.), Historische Zeitschrift, Bd. 250, München 1990, 321–346, hier : 332–336. 36 Vgl. Rohe, Kultur, 336–338. Vgl. dazu auch: Benigno/Scuccimarra, Introduzione, 17.
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Perspektive. So hätte die Übergabe einer Prunkkutsche an Putin den Zeitgenossen nicht nur einen offensichtlichen Anachronismus vor Augen geführt, sondern wäre von den politischen Beobachtern und dem Beschenkten zweifelsohne völlig anders interpretiert worden als noch drei Jahrhunderte zuvor. Außerdem wäre ein vergleichbares Geschenk dieses Ausmaßes wohl wegen seiner hohen Herstellungskosten auf Unverständnis der unterschiedlichen Rezipienten unserer Tage gestoßen. Ähnliche Differenzen offenbaren sich jedoch auch aus einer kulturell/synchron vergleichenden Perspektive auf das Geschenkswesen der Frühen Neuzeit. So entwickelte jeder Fürstenhof mit dem Aufkommen diplomatischer Beziehungen eigene Präsenttraditionen. Während der Zarenhof bis weit ins 18. Jahrhundert Kleidungsgeschenke, insbesondere Pelze, als Zeichen des hohen sozialen Ranges des Beschenkten verteilte, wurden diese von den über diese Gepflogenheiten nicht informierten westlichen Empfängern vielfach als berechnende Gesten zum Erhalt eines wertvolleren Gegengeschenks interpretiert.37 Die angesprochene affektive und emotionale Komponente der Zeichen und Symbole politischer Kulturen und der daraus resultierenden Gefühlswelten und Ästhetiken wird anhand der weiteren Auseinandersetzung der politischen Beobachter mit der weiteren Verwendung der Geschenke deutlich. So berichtete Graf Wratislaw etwa zwei Jahre nach der Übergabe der Kutschen an Peter II. über den Einzug seiner Nachfolgerin Anna Ivanovna (1730–1740) in Moskau: »[D]ie Czaarin fuhre in dem grösten deren zweyen, von Eu[er] Kay[serlichen] May[estät] dem nechst verstorbenen herrn zum geschänck anhero geschickten kostbaren wägen, welcher gewiß dem ganzen zug das beste ansehen gegeben.«38 Dieses Faktum blieb auch von anderen ausländischen Beobachtern nicht unkommentiert. So hielt der preußische Gesandte, Axel Freiherr von Mardefeld (1691/92–1748),39 über dieses Ereignis fest: »Ihro K[ay]ß[er]l[iche] M[ajestä]t fuhren in der von des Römischen Kaysers M[ajestä]t hierher gesandten prächtigen staats kutsche, welche von vornen und hinten von der chevalier-garde um37 Vgl. Christoph Augustynowicz, »Ablegations-Negocien von keiner Erhöblichkeit?« Wirken und Wirkung der Moskauer Großgesandtschaft in Wien 1687, in: 200 Jahre Russisches Außenministerium (Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Bd. 50), Innsbruck u. a. 2003, 43–55, hier: 48–49; Hubert Winkler, Bildnis und Gebrauch. Zum Umgang mit dem fürstlichen Bildnis in der frühen Neuzeit. Vermählungen – Gesandtschaftswesen – Spanischer Erbfolgekrieg (Dissertationen der Universität Wien, Bd. 239), Phil. Diss. Wien 1993, 199–201. 38 Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 23. Februar 1730, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 136r. 39 Axel Freiherr von Mardefeld war in den Jahren 1726 bis 1746 zunächst subsistierender Minister und später außerordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister Preußens am russischen Hof. Vgl. Mardefeld, Axel von, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 20: Maaß–Maximilian II., München-Leipzig 1884, 308–310; Hausmann, Repertorium, 304.
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geben war.«40 Die Verwendung der als Präsent nach Russland geschickten Kutschen erregte also auch noch einige Zeit nach der Übergabe Aufsehen innerhalb der international besetzten Gesellschaft des russischen Hofes. So löste sich die Erinnerung an das wertvolle Geschenk nach der Überreichung im Juli 1728 nicht in »Schall und Rauch« auf, sondern es war offensichtlich noch einige Zeit als »die Kutsche des Kaisers« in aller Munde. Bis heute scheint sich die affektive, emotionale und ästhetische Komponente derartiger Symbole erhalten zu haben. So interessierten sich auch die politischen Beobachter unserer Tage für die weitere Verwendung jenes Fahrrads, das Kanzler Faymann im Mai 2010 an seinen Kollegen überreicht hatte. Die russische Tageszeitung »Izvestija« berichtete ein Jahr nach der Geschenksübergabe in einem Artikel über ein gemeinsames Sportwochenende von Ministerpräsident Vladimir V. Putin und Präsident Dmitrij A. Medvedev : »[…] Putin brachte ein Fahrrad mit. Dieses Bergfahrrad mit zweifacher Aufhängung der österreichischen Firma KTM schenkte der österreichische Kanzler, Werner Faymann, dem Premier im Frühling des vergangenen Jahres. Die österreichischen Medien waren sich damals uneins, wie der Kanzler das ›ideale Geschenk‹ für seinen Kollegen gesucht hatte und seine Wahl schlussendlich ausgerechnet auf das Bergfahrrad gefallen war. […]«41
Offensichtlich hatte der Kanzler damit den Geschmack seines Kollegen getroffen, wie aus verschiedenen deutschen Medienberichten hervorgeht: »Die Wahl der Fahrräder sei ›symbolisch‹, kommentierten russische Internetmedien den Ausflug. Während der als ›liberal‹ geltende Medwedew ein ›elegantes Rennrad‹ gewählt habe, saß der leidenschaftliche Kampfsportler Putin auf einem ›robusten‹ Mountainbike. Österreichs Kanzler Werner Faymann hatte 2010 dem Ex-Kremlchef ein solches Rad geschenkt.«42
40 Bericht Mardefelds an Friedrich Wilhelm I. v. 27. Februar 1730, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (künftig: GStA PK), I. Hauptabteilung (künftig: HA), Repertorium (künftig: Rep.) 11 Geheimer Rat Auswärtige Beziehungen Akten, Nummer (künftig: Nr.) 6709, Berichte Mardefeld 1730, 51r bzw. 74r. 41 Sjuzana Farizova, Sport-uikend na vysˇcˇem urovne, in: Izvestija v. 14. Juni 2011, Nr. 103 (28364), 2. 42 Der Spiegel (Onlineausgabe), Putin und Medwedew : Alpha-Männer können auch Spaß haben, , (25. Mai 2014); Die Welt (Onlineausgabe), Russlands Machttandem fährt gemeinsam Fahrrad, , (25. Mai 2014).
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Abb. 3: Diplomatische Geschenke als viel beachtete Bestandteile der politischen Kultur des 21. Jahrhunderts. Im Juni 2011 ging das Bild über die Verwendung des österreichischen Mountainbikes bei einem Sportwochenende Vladimir Putins und Dmitrij Medvedevs durch die deutsch- und russischsprachigen Medien.43
Die soeben exemplifizierte affektive Dimension der politischen Kultur verdeutlicht den konstitutiven Charakter ihrer Expressionsebene. Die Zweiseitigkeit von Inhalt und Ausdruck, Sinn und Sinnenhaftigkeit soll daher bei der Untersuchung der sprachlichen und nicht-sprachlichen Kommunikation der Gesandten besondere Berücksichtigung finden, um die politischen Phänomene in ihrer Vielschichtigkeit analysieren zu können. In diesem Zusammenhang kommt den Akteuren auch eine Trägerrolle als Pfleger der politischen Kultur zu. So bedarf diese einer ständigen Aufrechterhaltung, um nicht sinnentleert zu werden und in ihrer Formsprache und in ihren Ritualen nicht zu erstarren. Die konservierende Kulturpflege erfolgt durch den Rückgriff auf Traditionen, deren Adaption oder Vernachlässigung ebenso zu kulturellen Veränderungen führen können. Dementsprechend bringen sich die in diesen Prozess Eingebundenen – in unserem Fall die außenpolitischen Akteure – einerseits mit institutionalisierten sowie eigenen Erfahrungen ein und liefern andererseits als Interpreten und Produzenten von politischen Wirklichkeitsbildern andere bzw. neue Sinnund Deutungsmuster. Diese Zweiseitigkeit von Selbst- und Fremddeutung bringt gleichsam die Doppelheit von Sozio- und Deutungskultur ans Tageslicht und macht die Wechselseitigkeit von politischen Ideen und politischer Kultur augenscheinlich. Mit dieser Unterscheidung zeigt sich das Zusammenwirken von politischem Alltag und Sonntag oder realer und symbolischer Politik als grundlegendes Element jener Gemeinschaften, die kulturelle Muster bewahren wollen. Dieses Verhältnis mag jedoch sehr unterschiedlich ausfallen: Symbolische Politik kann eine verinnerlichte Begleiterscheinung des politischen All43 Quelle: Astakhov Dmitry, Itar-Tass, APA-PictureDesk, .
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tagsgeschäfts oder eine ausdifferenzierte Handlungsebene einer Repräsentativgesellschaft darstellen. Wenngleich politische Kulturen stets als Mischformen ihrer Bestandteile existieren, so muss als wichtiges Ergebnis für die weiteren Betrachtungen festgehalten werden, dass sich die sich am diplomatischen Parkett bewegenden außenpolitischen Akteure in einem von der Deutungskultur stark beeinflussten Milieu aufhielten, das in den Worten Rohes zu einer von professionellen Priestern verwalteten und zelebrierten politischen Zivilreligion tendierte.44 Die aus diesem Blickwinkel resultierende Wichtigkeit einer Verknüpfung symbolischer Aspekte der Kommunikation mit deren sprachlichen Überlieferung stellt auch ein zentrales Forschungsanliegen des Internationalen Graduiertenkollegs dar. So entspricht eine Berücksichtigung dieser beiden Komponenten der weitgreifenden Definition von Sprache als System von mündlichen, schriftlichen, und nonverbalen symbolisch-visuellen Zeichen.45 Diese Charakterisierung trifft auch auf die Sprache des frühneuzeitlichen Gesandtschaftswesens zu und deutet auf ihren in der Überschrift dieses Kapitels angesprochenen Facettenreichtum hin. Um die Vielfältigkeit der diplomatischen Kommunikation fassen zu können, werden bei deren Analyse verschiedene methodische Ansätze der sogenannten »Neuen Politikgeschichte« herangezogen. Gerade die Perspektiven der Historischen Kulturforschung liefern einen tiefgehenden Einblick in die Mannigfaltigkeit der diplomatischen Sprache. So hat die jüngere Forschung erkannt, dass die politische und soziale Ordnung der Frühen Neuzeit eine starke Prägung durch die sogenannte symbolische Kommunikation erfuhr. Sie begegnet uns unter anderem in Form von sprachlichen Metaphern, Bildern, Gebärden, komplexen Handlungsfolgen wie Ritualen und Zeremonien, welche eine spezifische Wirksamkeit besaßen. Sie müssen daher als performative Akte verstanden werden, die nicht nur etwas aussagten, sondern eben auch das bewirkten, was sie bezeichneten, und somit soziale und politische Zustandsveränderungen manifestierten. Handlungen wie zum Beispiel Rituale und Zeremonien unterlagen überdies einer formalen Normiertheit und Regelhaftigkeit, wodurch den beteiligten Akteuren eine erwartbare Aufgabe innerhalb 44 Vgl. Rohe, Kultur, 338–346. 45 Vgl. Schorn-Schütte, Kommunikation, 10–11. Diese Definition von Sprache spiegelt sich auch als gemeinsamer Nenner in den Vorworten eines im Rahmen des Internationalen Graduiertenkollegs entstandenen Sammelbandes wider, dessen Herausgeberinnen sich in ihren Einleitungen der Frage der politischen Kommunikation aus unterschiedlichen theoretisch-methodischen Perspektiven widmen. Vgl. Christina Antenhofer/Lisa Regazzoni/ Astrid von Schlachta (Hgg.), Werkstatt Politische Kommunikation. Netzwerke, Orte und Sprachen des Politischen (Schriften zur politischen Kommunikation, Bd. 6), Göttingen 2010, 13–14, 133–134 sowie 229–230.
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der Handlungssequenz zuteilwurde.46 Dementsprechend wird dem Begriff der »Performativität« der Vorzug gegenüber dem diffusen Terminus des »Symbolischen« eingeräumt, da letzterer alle Zeichen verbaler und non-verbaler Natur umfasst. Wollen wir uns daher zunächst Klarheit über die Bezeichnungen verschaffen. Der Begriff der »Performanz« stellt eine Wortschöpfung der Theaterwissenschaften dar und beschreibt jegliche Form von Aufführung. Diese sehr allgemein gehaltene Definition wirft zwangsläufig die Frage nach der Art und Weise der Herstellung von Aufführungen auf – ein Problem, das an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert den Regisseur in den Mittelpunkt dieser Disziplin rückte und damit den Begriff der »Inszenierung« als Bezeichnung für diesen Produktionsprozess fixierte.47 Mittlerweile haben sich diese Termini von der Theaterwissenschaft auf andere Fachrichtungen ausgebreitet und sind somit auch zu einem nicht mehr wegzudenkenden Untersuchungsgegenstand der Kulturwissenschaften geworden. Diese Anleihe sollte auch im Titel der vorliegenden Arbeit »Akteure am fremden Hof« zum Ausdruck gebracht werden, der gerade hinsichtlich der Frage der »Performativität« durchaus wortwörtlich verstanden werden kann. So wiesen die bisherigen Charakterisierungen der Gesandten als verschobener Körper des Fürsten oder als Sprachrohr und verlängerter Arm des Souveräns auch auf ihre Funktion als Schauspieler am diplomatischen Parkett hin. Diese Bedeutung wird bis heute in einigen Sprachen – wie zum Beispiel im Russischen48 – als erstes mit dem Wort »Akteur« assoziiert und weist auf dessen ursprüngliche Herkunft aus dem Theater-Jargon hin. Ein entsprechendes Verständnis finden wir in der deutschen Sprache des 18. Jahrhunderts vor. So beschreibt etwa Johann H. Zedler den »Acteur« als »agirende Mannsperson in einem Schauspiele«49. Im Deutschen erlebte der Terminus im Laufe der Zeit einen Bedeutungswandel, weshalb die Bezeichnung allem voran mit einer handelnden bzw. einer an einem bestimmten Ereignis beteiligten Person in Verbindung gebracht wird.50 Der im Titel der Arbeit angesprochene »Akteur« 46 Vgl. Stollberg-Rilinger, Kommunikation, 496–505. 47 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Performance, Inszenierung, Ritual. Zur Klärung kulturwissenschaftlicher Schlüsselbegriffe, in: Jürgen Matschukat/Steffen Patzold (Hgg.), Geschichtswissenschaft und »Performative Turn« (Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit, Bd. 19), Köln-Weimar-Wien 2003, 33–54, hier : 33–36. 48 Im Russischen steht die Bedeutung des Wortes Akteur für einen professionellen Interpreten einer Rolle in Theater oder Film an erster Stelle. Darüber hinaus kann darunter auch eine Person verstanden werden, die sich verstellt, um ihre wahren Gedanken, Absichten, Gefühle und dergleichen zu verhüllen. Vgl. S.A. Kuznecov (Hg.), Bol’sˇoj tolkovoj slovar’ russkogo jazyka, Sankt-Peterburg 2000, 33. 49 Vgl. Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal Lexicon […], Bd. 1: A–Am, Halle-Leipzig 1732, 392. 50 Vgl. Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden, Bd. 1: A–Bedi, Mannheim-Leipzig-Wien-Zürich 31999, 154–155.
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soll entsprechend den nun folgenden Ausführungen in der vorliegenden Untersuchung zumindest teilweise in seiner ursprünglichen Bezeichnung als Schauspieler verstanden werden. Aufführungen oder Performanzen sind im Gegensatz zu Texten und Artefakten nicht fixier- und überlieferbar, sondern zeichnen sich durch ihren flüchtigen und vorübergehenden Charakter aus. Als weiteres Wesensmerkmal kann ihre sich durch die Körper der Teilnehmer sowie die verwendeten Gegenstände konstituierende Materialität genannt werden, deren Bedeutung aus dem dynamischen Prozess der Aufführung ersichtlich wird. Schließlich stellt die Anwesenheit von Akteuren und Zuschauern eine Grundvoraussetzung von Performanzen dar, da diese Elemente ihre Medialität und damit ihre Wahrnehmbarkeit und ihren Kommunikationscharakter begründen. Diese Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption schafft besondere Perzeptionsbedingungen. Der Zuschauer kann nicht, wie bei herkömmlichen Texten, vor- oder zurückblättern und ist damit außerstande, alle Details des Spektakels wahrzunehmen. Zudem wird die Bedeutung der verwendeten Gegenstände, ungeachtet ihrer landläufigen Aussagekraft, aus der Aufführung deutlich. Somit setzen Performanzen besondere Bedingungen voraus: Die Kopräsenz von Akteuren und Zuschauern, die Ereignishaftigkeit als Zusammenspiel des Flüchtigen und Vorübergehenden sowie die Emergenz und Ambivalenz.51 Genau an diese Definition schließen jüngere Untersuchungen an, die das Verhältnis zwischen Performativität und Medialität untersuchen und an dieser Stelle eine Anknüpfung an die im vorangegangenen Abschnitt skizzierte Frage der Medien im Kommunikationsprozess ermöglichen. Demzufolge seien Medialität und Performativität in ihrer Zweidimensionalität als Akte des Vollzugs und dessen Wahrnehmung zu verstehen. Medien – in ihren unterschiedlichen Ausformungen – können jedoch nicht ausschließlich als materielle Zeichenträger bzw. Signifikanten identifiziert werden. Sie phänomenalisieren und machen wahrnehmbar. Sie wirken somit nicht nur durch Symbolisierung, sondern auch durch Verkörperung. Das, was sie verkörpern, existiert allerdings nur in der prozessualen und flüchtigen Gegenwärtigkeit des Medienumganges bzw. der Aufführung. Auch im konkreten Akt der Performanz nehmen sie die bereits ausführlich dargestellte Position als Mittler zwischen zwei Positionen ein und schaffen ein sinnstiftendes Kontinuum zwischen denselben.52 Hinsichtlich des Einsatzes performativer Akte im Allgemeinen sowie im Bereich der Politik im Speziellen muss auf die bereits angesprochene Frage der 51 Vgl. Fischer-Lichte, Performance, 37–41. 52 Sybille Krämer, Was haben ›Performativität‹ und ›Medialität‹ miteinander zu tun? Plädoyer für eine in der ›Aisthetisierung‹ gründende Konzeption des Performativen, in: Sybille Krämer (Hg.), Performativität und Medialität, München 2004, 13–32, hier : 13–14 sowie 24–25.
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Inszenierung eingegangen werden. Sie bezeichnet das Einsetzen von verfügbaren Techniken und Verfahren, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Somit geht es bei der Inszenierung nicht darum, etwa einen Text mit anderen Mitteln auszudrücken, sondern etwas sinnlich nicht Wahrnehmbares in Erscheinung treten zu lassen. Etwas Imaginäres soll durch sie in der Aufführung eine perzeptive Gegenwart annehmen. Aufgabe der Inszenierung ist es, unter der Verwendung der zur Verfügung stehenden Materialien (Körper, Räume, Objekte, Licht und dergleichen mehr) sinnlich fassbare Vorgänge zu gestalten, in denen etwas Imaginäres in Erscheinung tritt und den Zuschauern vor Augen geführt wird. Diese wiederum messen durch ihre Wahrnehmungen bestimmte Bedeutungen bei. Während Aufführungen unwiederholbar sind, ist die Inszenierung im Gegensatz dazu auf Repetition ausgelegt. Sie ist also ein ästhetischer Prozess, in dem bestimmte Kulturtechniken und -praktiken etwas in Erscheinung bringen sollen und somit ästhetische Wirklichkeit zu erzeugen trachten.53 Wenngleich die Übernahme der Theatermetaphorik gerade hinsichtlich der repräsentativen Tätigkeit der Gesandten und anderer höfischer Akteure sehr verlockend und auf den ersten Blick unumstritten erscheint, so reflektierte die jüngere Forschung über die direkte und uneingeschränkte Übertragung dieser Begrifflichkeiten auf die historischen Personen und Erscheinungen. Damit stellte sie sich einer schon lange anstehenden Frage, da das Bild des Diplomaten als Schauspieler bereits in der Gesandtschaftsliteratur der Frühen Neuzeit eifrig bedient wurde, wie in den diesbezüglichen Ausführungen des folgenden Kapitels noch zu lesen sein wird. Konkret kritisierten einige Historiker in den vergangenen Jahren die mangelnde Differenzierung zwischen Selbstdarstellung und Selbstvergewisserung bei der Verwendung der Theatermetaphern. Diese Doppelfunktion der performativen Akte begründe eine Einschränkung im Gebrauch der sprachlichen Bilder. So würden die höfischen Akteure nicht als Schauspieltruppe für ein Publikum agieren, wenngleich sie sich ihrer Wirkung auf die Zuschauer vielfach bewusst waren und ihre Aufführungen mitunter auf diese ausrichteten. Dennoch spiegle sich in einer derartigen Inszenierung nicht nur eine die Sinne ansprechende Selbstdarstellung wider, sondern sie führe auch den hierarchischen Aufbau der höfischen Gesellschaft und deren ordnungsstiftende Funktion vor Augen. So warf die jüngste Historiographie einige weiterführende Fragen und Probleme auf, die sich beim Gebrauch der angesprochenen Termini ergeben: Inwiefern kann der abgesprochene Verlauf der Inszenierungen durch die vorliegenden Überlieferungen verifiziert werden? Wer inszenierte die öffentliche Situation und deren Handlungsfolge? Und war ein einziger Regisseur Herr über diesen Aufführungsplan oder zeichneten beide kommunizierenden Seiten für die Aufführung verantwortlich? Inspiriert von diesen Fragen wählte 53 Vgl. Fischer-Lichte, Performance, 41–47.
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etwa Susanne Friedrich das Bild des Gesandten als Darsteller einer Rolle. Damit wird die Trennung der handelnden Person als eigenständiges Subjekt von der im Rahmen der spezialisierten Funktion aufgeführten Rolle möglich. Deren Bewertung unterliege dem subjektiven Urteil der unmittelbar beteiligten Beobachter und offenbare nicht nur die Beziehungen der Personen, sondern ließe auch Rückschlüsse auf deren Einschätzungen über den Akteur zu. Demzufolge übten die Gesandten ihr Rollenspiel nicht nur im Sinne einer theaterhaften Inszenierung aus, sondern versuchten damit auch den mit ihrer Position verbundenen Verhaltensnormen zu entsprechen.54 Diesen Umstand brachte Erving Goffman in seinem Klassiker über die Selbstdarstellung im Alltag auf den Punkt: »Zuschauer neigen dazu, das Selbst, das ein einzelner Darsteller während einer Vorstellung von sich entwirft, als verantwortlichen Repräsentanten seiner Kollegengruppe, seines Ensembles und seiner gesellschaftlichen Einrichtung zu akzeptieren. Die Zuschauer sehen die einzelne Darstellung des Individuums auch als Beweis an für seine Fähigkeit, irgendeine Rolle zu spielen. In gewissem Sinne werden die größeren Sozialeinheiten – Ensembles, Institutionen usw. – jedes Mal mit hineingezogen, wenn der Einzelne seine Rolle spielt;«55
Noch deutlicher brachte dies Victor Turner auf den Punkt: »[…] [W]ir sagen ›eine Rolle spielen‹, wenn wir z. B. von der staatsbürgerlich bedeutenden Tätigkeit wie der Beratertätigkeit eines Präsidenten sprechen. Andererseits sprechen wir von der ›großartigen Darstellung‹ auf der Bühne als Quelle einiger der tiefsten und ›wahrsten‹ Einsichten in die Conditio humana.«56
Schauspielen sei demnach doppeldeutig: »zugleich Arbeit und Spiel, erhaben und ludisch, Vortäuschung und Ernst, weltliches Handeln und das, was wir im Ritual oder Theater tun bzw. sehen.«57 Wollen wir unter den genannten Einschränkungen bzw. Konkretisierungen bei der verlockenden Theatermetapher bleiben. So war die Inszenierung performativer Akte ein viel gebrauchtes Mittel in der zwischenstaatlichen Kommunikation der Frühen Neuzeit, um einerseits Annäherungen sowie anderer54 Vgl. Susanne Friedrich, Drehscheibe Regensburg. Das Informations- und Kommunikationssystem des Immerwährenden Reichstags um 1700 (Colloquia Augustana, Bd. 23), Berlin 2007, 270–271; Karl-Heinz Spiess, Kommunikationsformen im Hochadel und am Königshof im Spätmittelalter, in: Gerd Althoff (Hg.), Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter (Vorträge und Forschungen, Bd. 51), Stuttgart 2001, 261–290, hier : 272–274; Thomas Zotz, Zusammenfassung I., in: Althoff, Formen, 455–472, hier : 458. 55 Erving Goffman, Die Selbstdarstellung im Alltag, München-Zürich 19917, 221–222. 56 Victor Turner, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt-New York 2009, 161–162. 57 Turner, Ritual, 162.
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seits Konflikte herbeizuführen. Ihr verbindender Charakter ging bereits aus den einführenden Beispielen der Geschenksübergaben hervor, in deren Rahmen durch den entsprechenden Einsatz von Teilnehmern, Präsenten, Übergabeorten und dergleichen mehr ein besonderes Naheverhältnis zwischen dem Übergeber bzw. seinem Auftraggeber und dem Beschenkten in Szene gesetzt werden sollte. Gerade der im Zentrum der Untersuchung stehende Zeitraum eignet sich hervorragend für eine derartige Untersuchung, da die zwischenstaatlichen Beziehungen in dieser Phase von Rivalität und Partnerschaft gekennzeichnet waren. So liefern die Berichte der kaiserlichen Gesandten ebenso wie Vergleichsdarstellungen anderer Diplomaten und der zeitgenössischen Presse unzählige Belege dafür, dass performative Akte wie etwa die mehrfach angesprochenen Geschenksübergaben ebenso wie Entsendungen von außerordentlichen Botschaftern, Feste sowie Titel- und Ordensverleihungen in der zwischenstaatlichen Kommunikation bewusst eingesetzt wurden, um eine Annäherung an den fremden Hof und seine Eliten zu erzielen. Zudem spiegelt sich in den verschiedenen Berichten vielfach auch die Strategie wider, derartigen Handlungen bewusst fernzubleiben, um die im Zentrum derselben stehenden performativen Akte nicht mit vollziehen und somit anerkennen zu müssen oder aber seiner Ablehnung diesen gegenüber Ausdruck zu verleihen. Die aus den Theaterwissenschaften entlehnten Begrifflichkeiten der Performanz und Inszenierung wurden auch durch die Ergebnisse anderer Fachrichtungen ergänzt und bereichert.58 So verhalf der bereits angesprochene Ethnologe Victor Turner dem Konzept der »cultural performances« zu allgemeiner Anerkennung jenseits der Grenzen der eigenen Disziplin. Dieser Begriff wurde zuvor vom Anthropologen Milton Singer etabliert und bezeichnet eine wesentliche kulturelle Aktivität zu einem bestimmten Anlass, welche im Rahmen eines vorgegebenen Zeitabschnitts und Aufführungsortes sowie unter Teilnahme von Zuschauern und Ausführenden stattzufinden habe. Auf dieser gedanklichen Ausgangsbasis erkannte Turner deren Aussagekraft über die soziale Ordnung und die verborgenen Konflikte einer Gesellschaft und entwarf das Konzept des »social dramas«, worin sich Mechanismen zur Konfliktregelung, Modelle des Parteienkampfes sowie Initiativen zur Krisenbeendigung deutlich widerspiegeln würden.59 Dieser Ansatz bildete wiederum die Grundlage für jene Fachrichtungen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten um die Neubewertung ritueller Phäno-
58 Vgl. zur Frage des Wechselverhältnisses zwischen Ritual und Performativität: Turner, Ritual, 140–160. 59 Siehe dazu beispielsweise: Milton Singer, When great tradition modernizes. An anthropological approach to Indian civilization, New York 1972; Victor Turner, Revelation and divination in Ndembu ritual, Ithaca-London 1975.
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mene bemühten.60 Das Ritual als ursprünglich auf den sakralen Bereich beschränkte Erscheinung wurde dadurch für andere gesellschaftliche Bereiche adaptiert. So griff auch die Performanzforschung den Begriff auf und übertrug ihn auf jede Form der Aufführung – von Theatervorstellungen über Sportwettkämpfe bis hin zu Festen und politischen Veranstaltungen. Das Ritual wurde als eine bestimmte Gattung der Aufführung bezeichnet, die der Selbstdarstellung und Selbstverständigung sowie der Stiftung, Bestätigung und Transformation von Gemeinschaften dient und unter Anwendung von Inszenierungsstrategien und -regeln geschaffen wird. Diese Definition macht die enge Verwandtschaft der Performanz und des Rituals als Genres der »cultural performance« deutlich und deutet auf die Schwierigkeit einer strikten Trennung beider Begriffe hin. Demzufolge stellte der Aufführungscharakter des Rituals jenes Element dar, das zu einer neuen Betrachtung des Phänomens führte. So ist es stets Ergebnis einer Inszenierung, deren Regeln teilweise auf Überlieferung beruhen und sich im Laufe der Tradierung gegebenenfalls verändern können oder von den Beteiligten ganz einfach ausgehandelt werden. Mit dieser Betrachtungsweise wurde das Ritual nicht nur in ein ganz neues Licht gerückt, sondern es wurde auch zu einer anwendbaren Kategorie der Kulturwissenschaften: Alle Kulturen und deren gesellschaftliche Untergruppierungen konstruieren ihr Selbstverständnis nicht nur durch Texte und Monumente, sondern auch in unterschiedlichen Formen von Aufführungen. Aus dieser Perspektive wird auch die generelle Bedeutung von Ritualen für Prozesse der Vergemeinschaftung und Identitätsbildung deutlich.61 Unter Berücksichtigung des soeben genannten Aufführungsaspekts werden daher auch die neueren Ansätze der Ritualforschung im Rahmen der vorliegenden Untersuchung herangezogen. Diese bieten nämlich ein wertvolles Instrumentarium zur näheren Betrachtung und Kategorisierung der performativen Akte und ermöglichen überdies eine Bemessungsgrundlage für die Einschätzung der Tragweite einzelner Handlungen im Bereich der zwischenstaatlichen Kommunikation. Einen ersten Untersuchungsschwerpunkt stellen die sogenannten Meso-Riten dar, die als Gesten der Ehrerbietung und des Benehmens die gegenseitige Erwartung sozialer Rollen, Klassenpositionen und dergleichen mehr vorschreiben. Durch sie kann also der soziale Rang eines Interaktionsteilnehmers erkannt, verifiziert und rituell bestätigt werden. Darüber hinaus gilt den als Makro-Riten bezeichneten großen formellen Zeremo60 Vgl. dazu beispielsweise: Benigno/Scuccimarra, Introduzione, 15; Erika FischerLichte, Einleitung: Zur Aktualität von Turners Studien zum Übergang vom Ritual zum Theater, in: Victor Turner, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt-New York 2009, I–XXIII; Maria Antonia Visceglia, La citt rituale. Roma e le sue cerimonie in et moderna, Roma 2002, 10–11. 61 Vgl. Fischer-Lichte, Performance, 47–52; Visceglia, Citt, 17–19.
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nien besonderes Interesse, die als unabhängige Ereignisse meist in Beziehung zu einer kleineren oder größeren sozialen Einheit stehen und eigene Rollenstrukturen und Verfahrensregeln voraussetzen. So umfassen Erstere kleinere symbolische Handlungen, die einerseits eine Gemeinschaft zusammenhalten und ihre innere Struktur bestätigen sowie andererseits durch Übertretung bzw. Nichteinhaltung derselben ein In-Frage-Stellen der etablierten Ordnung markieren. Zweitere hingegen beziehen sich auf die Gesellschaft als Ganzes und drücken somit eine spezifische kollektive Identität und moralische Werte der Gemeinschaft aus. Sie produzieren daher moralische Gegensätze positiver und negativer Natur, die im politischen Kontext häufig als Antagonismus loyal-illoyal in Erscheinung treten. Während Meso-Riten Handlungen sind, die ausgeführt werden können oder sollten, sind Makro-Riten moralisch viel höher aufgeladen, da es schließlich um Grenzfragen geht. Der Verstoß gegen eine Benimmregel wird daher meist nur als »Fauxpas« bewertet, wohingegen das nicht regelkonforme Verhalten oder Fernbleiben im Falle einer großen Zeremonie die im Zentrum des Aktes stehende zentrale Aussage der jeweiligen Gesamtgesellschaft in Frage stellt und daher weitreichende Folgen hat.62 Die Gesandtschaftsberichte kaiserlicher Botschafter ebenso wie Vergleichsdarstellungen anderer Diplomaten und der zeitgenössischen Presse liefern unzählige Beispiele für die soeben theoretisch beschriebenen Charakteristika der unterschiedlichen Ritualformen und ihre möglichen Auswirkungen auf eine gesellschaftliche Gruppe. So spiegelte die bewusste Ausführung oder Nichtbeachtung der soeben beschriebenen Meso- oder Interaktionsriten in erster Linie das Verhältnis zwischen dem am fremden Hof befindlichen Diplomaten oder seinem Herrscher und dem regierenden Zaren bzw. der herrschenden Zarin wider. Sie wurden als Gradmesser der zwischenstaatlichen Beziehungen betrachtet und fanden deshalb ausführlich Erwähnung in den Relationen. So finden sich darin viele Darstellungen von privaten und offiziellen Tafelgesellschaften und Festen bei Hofe wieder, in denen die guten Beziehungen beispielsweise daran festgemacht wurden, dass der Zar bzw. die Zarin das Glas auf die Gesundheit des Kaisers erhob (Siehe dazu beispielsweise: Kap. 2.2.2. »Das wechselseitige Bemühen um die Freundschaft des anderen Hofes«). Gerade in den Phasen der Annäherung beider Höfe stellten derartige symbolische Handlungen die ersten rituellen Ausdrucksformen dar, um das Naheverhältnis im privaten oder öffentlichen Rahmen zu manifestieren. Andererseits war das Nichtbeachten gebräuchlicher Umgangsformen von Seiten der russischen Herrscher gegenüber den Gesandten ein wichtiges Indiz für die persönlichen Beziehungen zwischen den beiden. Wie bereits in einem Auszug aus dem Bericht 62 Vgl. Albert Bergesen, Die Rituelle Ordnung, in: Andr¦a Belliger/David J. Krieger (Hgg.): Ritualtheorien. Einführendes Handbuch, Wiesbaden 2006, 49–75.
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Wratislaws angedeutet, wartete der Gesandte monatelang darauf, dass sich der zur Hälfte aus einem deutschen Adelsgeschlecht stammende Peter II. dazu entschied, ihn als kaiserlichen Vertreter persönlich und auf Deutsch anzusprechen. Ein gewichtiger Grund für diese anfänglichen Spannungen führt direkt zur Bedeutung der Makro-Riten in den bilateralen Beziehungen. So musste Wratislaw auf Anordnung Karls VI. Reiseschwierigkeiten bei der Überfahrt nach Russland vortäuschen, um die Krönung Peters II. zum »Allrussischen Imperator« zu verpassen. Dies, obwohl der Kaiser die Krönung über seinen kurz zuvor verstorbenen Vertreter, Amadeus Graf Rabutin,63 vorangetrieben hatte, da die beiden Herrscher durch verwandtschaftliche Bande miteinander verbunden waren (Siehe dazu: Kap. 3.2.2. »Unerwarteter Wechsel der außenpolitischen Akteure«). Darüber hinaus zeigt sich in vielen Berichten auch die bewusste Einsetzung von großen formellen Zeremonien oder Makro-Riten, um gute Beziehungen zwischen den beiden Höfen herzustellen oder zu erhalten. Die Veranstaltung pompöser Feste anlässlich des Namenstags des Kaisers sowie die bereits dargestellte Übergabe wertvoller Geschenke an den Zaren bzw. die Zarin oder wichtige Persönlichkeiten bei Hofe sind nur einige Beispiele von vielen. Gerade die Berichterstattungen fremder Diplomaten oder der zeitgenössischen Presse machen deutlich, dass durch die bewusste Einsetzung bzw. Missachtung von formellen Zeremonien oder Makro-Riten ein moralischer Wert zum Ausdruck kam. Einzelne Aspekte der soeben beschriebenen rituellen Ordnung begegnen uns auch in allgemeineren Kommunikationsmodellen wie in jenem der US-amerikanischen Schule der »Symbolischen Interaktion«. Deren zentrale Ansätze beinhalten viele Elemente der skizzierten kulturgeschichtlichen Herangehensweisen und können somit als Synthese und wertvolle Ergänzung an das Ende 63 Amadeus Rabutin Graf von Bussy († 1727) entstammte einem französischen Adelsgeschlecht, wobei sein Vater Johann Ludwig († 1716) als General-Feldmarschall, Geheimer Rat und Gouverneur von Siebenbürgen in kaiserliche Dienste getreten war. Amadeus war ab 1712 Kämmerer am kaiserlichen Hof und wurde später zum Oberst eines Dragonerregiments sowie General-Feldwachtmeister ernannt. 1724 wurde er in den Reichsgrafenstand erhoben. Daraufhin fungierte er zunächst als außerordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister des Kaisers am preußischen Hof (1725) sowie später als außerordentlicher Gesandter Karls VI. am russischen Hof (1726–1727). Rabutin heiratete im Jahre 1720 Maria Theresia Gräfin von Lamberg (zum damaligen Zeitpunkt Hofdame der Kaiserin), aus deren Ehe eine Tochter hervorging. Er starb im Jahre 1727 völlig unerwartet während seiner Mission in St. Petersburg, worauf in dieser Arbeit noch ausführlich eingegangen wird. Vgl. ÖStA, Allgemeines Verwaltungsarchiv (AVA), Familienarchive (1330–1990), Harrach (1548–1920), Familienarchiv (1548–1920), Familie in specie: Afra-Wenzel, Kt. 812 Historia, Buchstabe P (1447–1856), 812.29 Rabutin Graf von Bussi, Amadeo Ehepakten mit Maria Theresia Elisabeth Gräfin von Lamberg 1720; Rabutin, Grafen, in: Neues allgemeines Deutsches Adels Lexicon, Bd. 7: Ossa–Ryssel, Leipzig 1867, 311; Hausmann, Repertorium, 68, 77–78.
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dieser methodischen Betrachtung gestellt werden. Goffmans Forschungen zu den Interaktionsriten aufgreifend, betrachten die Vertreter des genannten Ansatzes diese nicht nur als Konventionen oder automatisch ausgeführte Handlungen, sondern als Akt des Respekts gegenüber dem sogenannten »self« oder »Selbst« des anderen. Mit diesem Begriff sind wir bereits bei der Kernfrage der »Symbolischen Interaktions-Theorie« angelangt, deren Begründer Charles H. Cooley, William I. Thomas und George H. Mead in einer Zusammenführung von Pragmatismus und Behaviourismus das Verhältnis zwischen dem Individuum und der Gesellschaft bzw. zwischen »self« und »society« ins Zentrum ihrer Betrachtungen stellten. Verbindendes Element der beiden Ebenen stellt demnach die Interaktion dar, mit deren Hilfe Individuen gegenseitig zu sozialen Objekten werden und in ihrem gesellschaftlichen Handeln aufeinander Bezug nehmen. Im Rahmen dieses Prozesses treten sie durch gestische Kommunikation in Beziehungen und bedienen sich dabei ihrer Stimme, ihrer Handbewegungen, ihres Lächelns und vieler anderer Gesten mehr – Körperlichkeit stellt somit die Voraussetzung für die Teilnahme an symbolischer Interaktion dar. Das Ausführen sozialer Handlungen bildet also den Kommunikationsverlauf, im Zuge dessen Gesten nicht nur als Äußerungen der inneren Erfahrungen und Absichten fungieren, sondern gleichzeitig auch als solche wahrgenommen sowie interpretiert werden müssen und damit die Basis für weitere Reaktionen darstellen (Vgl. dazu weiter oben: Luhmanns Kommunikationsansatz). Gleichzeitig kommunizieren Individuen intentional untereinander, indem sie die Perspektive des jeweils anderen einnehmen. Dabei bedienen sie sich signifikanter Symbole in Form von Gesten, Zeichen, Wörtern und dergleichen mehr, die nicht nur eine Bedeutung für das »Selbst«, sondern auch für den anderen haben und damit den Charakter einer Mitteilung an alle bekommen. Die dafür notwendige Identifikation mit einer Gruppe, ihren Objekten und Symbolen impliziert das Verständnis für die Handlung aus der Perspektive des bzw. der anderen und setzt die Fähigkeit der Rollenannahme voraus.64 Dieses »role taking« ebenso wie die bereits angesprochene gegenseitige Interpretation, die reziproke Handlungsanpassung sowie das Teilen von Perspektiven als Merkmale der sozialen Interaktion definieren eine Gesellschaft, die aus Sicht der »Symbolischen Interaktions-Theorie« bei jeder Art der Gruppenbildung in Erscheinung tritt. Grundvoraussetzung für sie ist eine kooperative Interaktion: Sie wird im Falle einer andauernden Kommunikation, gegenseitiger Rollenannahme, einer Akzeptanz des anderen als soziales Objekt und 64 Vgl. Joel M. Charon, Symbolic Interactionism. An Introduction, An Interpretation, An Integration, Upper Saddle River-New Jersey 19986, 151–170 sowie 191–205; Horst Jürgen Helle, Theorie der Symbolischen Interaktion. Ein Beitrag zum Verstehenden Ansatz in Soziologie und Sozialpsychologie, Wiesbaden 32001, 64–84.
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der damit verbundenen (situationsabhängigen) Identität, einer Festlegung gemeinsamer sozialer Objekte, auf die sich der gemeinsame Fokus richtet, sowie im Falle der Entwicklung von komplementären Zielen als gegeben angenommen. Aus dieser über einen längeren Zeitraum andauernden kooperativen Interaktion entwickelt sich schließlich eine eigenständige Kultur. Sie dient der Gesellschaft zunächst als eine Konstante, indem sie deren Mitgliedern Richtlinien für die soziale Interaktion vorgibt. Die handelnden Individuen schaffen Kultur, verändern sie jedoch gleichsam, da diese von ihnen kommuniziert, ausprobiert, angepasst und umgestaltet wird (Vgl. dazu weiter oben: Karl Rohes Positionen über die Konservierung und Wandelbarkeit von Kultur). Ebenso wandelbar sind die Rollen, welche Mitglieder einer Gesellschaft einnehmen. So sind sie keineswegs nur zu erfüllende Erwartungsmuster der Akteure, sondern werden von ihnen bis zu einem gewissen Grad geformt, um ihre eigenen Ziele zu erreichen. Sie sind demzufolge soziale Objekte, die nur durch die Interaktion und in weiterer Übereinstimmung mit der konkreten Situation geschaffen werden. Individuen spielen ihre Rolle nur so lange, wie sie ihnen nützlich ist, und passen sie im Rahmen eines ständigen Verhandlungsprozesses gegebenenfalls sogar an (Vgl. dazu weiter oben: der performative Ansatz und dessen kritische Reflexion – Akteure und ihr Rollenspiel). So lässt sich als wichtige Erkenntnis für die Fragestellung der vorliegenden Studie festhalten, dass die sozialen Akteure die sie einschließende(n) Gesellschaft(en) mit ihren eigenen Vorstellungen und Zielen begründen. Die Gesellschaft formt sie und sie formen auch die Gesellschaft. Sie gibt den Akteuren ihr »Selbst«, ihre Symbole, ihren Verstand, ihre Fähigkeit zur Rollenannahme, ihre sozialen Objekte und ihre Kultur(en), welche gleichsam von ihnen beeinflusst und verändert werden können.65 Mit diesem Blick auf die handelnden Akteure kehren wir zu den Hauptquellen der vorliegenden Untersuchung zurück, bei deren Analyse auch methodischtheoretische Ansätze der Begriffs- und Ideengeschichte herangezogen werden sollen. Auf die Notwendigkeit einer begriffsgeschichtlichen Analyse von aktualitätsbezogenen Quellen, wie es auch Gesandtschaftsberichte und Periodika sind, wurde gerade von der neueren Begriffsgeschichte hingewiesen. So betonte Reinhart Koselleck in seinen jüngeren Werken die Bedeutsamkeit der Untersuchung von temporal einmaligen Quellen wie Briefen und Zeitungen, die für eine kurze Zeitspanne relevant waren, den Rezipienten über aktuelle Ereignisse informierten und damit spezifische Forschungsfragen aufwerfen. Ausgehend von der Annahme, dass Wortgebrauch und Wortbedeutung sogenannter Grundbegriffe sich niemals eins zu eins zur angenommenen Wirklichkeit verhalten, spricht er von einer jeweils eigenen Geschichte der Begriffe und der Realitäten. Diese beiden Ebenen verweisen zwar aufeinander, verändern sich 65 Vgl. Charon, Interactionism, 171–190.
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jedoch unterschiedlich schnell. Auf dieser gedanklichen Ausgangsbasis lässt sich eine »temporale Binnenstruktur« von Grundbegriffen festmachen. Dementsprechend enthalten diese sowohl verschieden tief gestaffelte Anteile vergangener Bedeutungen sowie unterschiedlich gewichtete Zukunftserwartungen. Begriffe beinhalten daher zeitliche Bewegungs- und Veränderungsmöglichkeiten, ohne dabei ihren Realitätsgehalt einbüßen zu müssen. So können einzelne Sprechergruppen unterschiedliche Bedeutungen derselben bedienen oder abrufen, indem sie gleichzeitig auf den übergeordneten Terminus mit all seinen semantischen Teilschichten zurückgreifen. Eine isolierte Untersuchung von Begriffen ist daher nicht zielführend und wirft die Frage nach den Verwendungskontexten auf. Diesbezüglich muss für die im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehenden Quellen festgehalten werden, dass sie für den unmittelbaren Gebrauch gedacht und vielmehr auf Aktualität als auf Wiederholbarkeit angelegt waren und somit nur wenig theoretischen Anspruch hatten. Ihre einzige temporale Ebene ist daher jene der Gegenwärtigkeit oder der Pragmatik.66 Daran knüpfte gerade die jüngste Begriffsgeschichte an, indem sie sich nicht mehr ausschließlich auf die Veränderung von Begriffen über einen langen Zeitraum konzentrierte und eine Verengung der Perspektive auf kürzere Perioden vornahm. So unterstrich etwa Volker Seresse den Mehrwert einer Untersuchung scheinbar unbedeutender Texte, da diese direkt in die politische Sprache und Normen einer Gesellschaft führen würde.67 Auch Willibald Steinmetz wies auf die Wichtigkeit der Beachtung dieser Quellen hin, um die beobachteten Kommunikationsvorgänge selbst als Momente der Formulierung, Durchsetzung und Zurückweisung von Begriffen analysieren zu können. Demnach ermöglicht die Verengung der Perspektive auf kürzere Zeiträume und einzelne Akteursgruppen eine intensive Kontextualisierung der Belegstellen und eine genaue Bestimmung der Funktion des Gesagten in der konkreten Situation.68 Mit der Einnahme dieses Blickwinkels werden in der vorliegenden Untersuchung auch die im Rahmen des Internationalen Graduiertenkollegs viel beachteten methodisch-theoretischen Ansätze der »Cambridge School« berücksichtigt. So kann als kleinster gemeinsamer Nenner ihrer Hauptprotagonisten, John Pocock und Quentin Skinner, eben festgehalten werden, dass po66 Reinhart Koselleck, Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt am Main 2006, 56–76. 67 Vgl. Volker Seresse, Zur Praxis der Erforschung politischer Sprachen, in: Angela De Benedictis/Gustavo Corni/Brigitte Mazohl/Luise Schorn-Schütte (Hgg.), Die Sprache des Politischen in actu (Schriften zur politischen Kommunikation, Bd. 1), Göttingen 2009, 163–184, hier: 171–172. 68 Vgl. Willibald Steinmetz, Neue Wege einer historischen Semantik des Politischen, in: Willibald Steinmetz (Hg.), Politik. Situationen eines Wortgebrauchs im Europa der Neuzeit (Historische Politikforschung, Bd. 14), Frankfurt am Main-New York 2008, 9–40, hier : 15–16.
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litische Sprache nur mit Hilfe der Einbettung eines Textes in seine historischen Entstehungszusammenhänge analysiert werden kann, indem der soziale und politische Kontext anhand der Identifizierung sprachlicher Strukturen und ihres Gebrauches durch die Zeitgenossen erschlossen wird.69 Für die konkrete Umsetzung dieser Ansätze lieferte Seresse einen hilfreichen Leitfaden zur Untersuchung politischer Sprachen, der in der vorliegenden Untersuchung als Richtschnur herangezogen wird. Dementsprechend liegt ein Hauptaugenmerk auf den in den Darstellungen der unterschiedlichen politischen Beobachter über die Repräsentations- und Kommunikationsakte verwendeten Schlüsselbegriffen. Es handelt sich dabei um jene Termini, die eine normative Aufladung durch ihre bereits von Koselleck, Skinner und Pocock hervorgehobene Veränderbarkeit sowie die daraus resultierenden Mehrdeutigkeit erhalten und daher einer Kontextualisierung bedürfen. Die Eruierung dieser Schlüsselbegriffe wird gerade durch die den Gesandtschaftsberichten zugrunde liegende Formelhaftigkeit erleichtert. Diese ermöglicht zunächst eine Identifizierung der etablierten Termini und der damit verbundenen Denkmuster und Normen. Darauf aufbauend können mögliche Abweichungen oder gar ein Fehlen von etablierten Begriffen festgemacht werden, das vielfach auf die Zuspitzung einer Debatte oder eines Konflikts über die politischen Vorgänge hindeutet. So spiegelt sich in der Formelhaftigkeit auch das politische Selbstverständnis der Autoren wider. Eine mögliche Änderung oder unterschiedliche Verwendung der etablierten Begriffe beweist, dass sie keine leeren Floskeln sind. Im Gegenteil, sie deuten auf einen Wandel oder unterschiedliche Auffassungen der Autoren über die von ihnen imaginierte politische Realität hin.70 Wie bereits erwähnt, soll die soeben skizzierte Methode im Rahmen der vorliegenden Studie durch eine detaillierte Analyse des Schlüsselbegriffs der »Freundschaft« angewandt werden. Dadurch lässt sich unter anderem nachweisen, welche Begriffe sich zu einem Untersuchungsfeld zusammenschließen, mit welchen Attributen sie versehen und ergänzt werden und welche Gegenbegriffe für sie eingesetzt werden. Dementsprechend kann vorerst festgehalten werden, dass die normativ aufgeladenen Schlüsselbegriffe zur Verdeutlichung der eigenen Position oder auch als Argumente in der politischen Auseinandersetzung verwendet wurden. Sie stellten somit keine leeren, sondern vielfach umkämpfte Floskeln dar. So schließt eine derartige Untersuchung nicht nur an die jüngeren begriffsgeschichtlichen Studien über die Vorstellungen von »Freundschaft« in der frühneuzeitlichen Diplomatie an, sondern liefert auch Aufschluss darüber, inwiefern sich die aktuellen Debatten und Konflikte in der 69 Vgl. Luise Schorn-Schütte, Historische Politikforschung: eine Einführung, München 2006, 58 sowie 79–82. 70 Vgl. Seresse, Praxis, 169–170 sowie 173–174.
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begrifflichen Darstellung der unterschiedlichen Beobachter widerspiegeln und je nachdem decken oder divergieren.71 Demzufolge ermöglicht diese Herangehensweise an die unterschiedlichen Quellen einen tiefen Einblick in die Einschätzungen der politischen Rezipienten über die Wirkung der von den kaiserlichen Gesandten eingesetzten Kommunikationsstrategien und die daraus resultierenden Auswirkungen auf die bilateralen Beziehungen. Aus diesen einführenden methodisch-theoretischen Betrachtungen wurde einerseits die Vielfältigkeit der (diplomatischen) Sprache entsprechend der eingangs getroffenen Definition als System von mündlichen, schriftlichen und symbolisch-visuellen Zeichen deutlich. Darüber hinaus eröffneten sich darin andererseits auch die notwendigen methodischen Werkzeuge, die für die Untersuchung dieser facettenreichen Erscheinung notwendig sind. Durch die Verknüpfung der soeben skizzierten kultur- und begriffsgeschichtlichen Ansätze wird eine weitere Bestellung jener Forschungsfelder möglich, welche nicht nur im Zentrum dieser beiden Teildisziplinen, sondern mitunter auch im Interessensmittelpunkt des Internationalen Graduiertenkollegs stehen: Die Erschließung der Vorstellungen über das Politische, der als politisch wahrgenommenen Verhaltensweisen sowie der darüber stattfindenden Diskurse anhand der Untersuchung sprachlicher, symbolischer und performativer Kommunikationsformen.72
1.2. Die Vielfalt der Struktur – normative und institutionelle Rahmenbedingungen Als der kaiserliche Legationssekretär Sebastian Hochholzer im Oktober 1725, nach einer mehrjährigen diplomatischen Eiszeit in den zwischenstaatlichen Beziehungen, am Zarenhof die Entsendung eines kaiserlichen Botschafters nach St. Petersburg verkündete, war die Begeisterung von russischer Seite seinen Aussagen nach groß. Die Befürworter einer Annäherung an den Kaiser innerhalb der russischen Hofelite zeigten dies in Form von wahren Gefühlsstürmen, 71 Vgl. Frehland-Wildeboer, Freunde, 64–70; Seresse, Praxis, 173–174 sowie 180–181; Arno Strohmeyer, Kategorisierungsleistungen und Denkschemata in diplomatischer Kommunikation: Johann Rudolf Schmid zum Schwarzenhorn als kaiserlicher Resident an der Hohen Pforte (1629–1643), in: Gunda Barth-Scalmani/Harriet Rudolph/Christian Steppan (Hgg.), Politische Kommunikation zwischen Imperien. Der diplomatische Aktionsraum Südost- und Osteuropa (Innsbrucker Historische Studien, Bd. 29), InnsbruckWien-Bozen 2013, 21–30, hier : 24–25; Würgler, Freunde, 191–210. 72 Vgl. Ute Frevert, Neue Politikgeschichte: Konzepte und Herausforderungen, in Ute Frevert/Heinz-Gerhard Haupt (Hgg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt am Main-New York 2005, 7–26, hier : 24.
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indem sie Hochholzer »embrassiret, geküsset, und für diese allerwichtigste bottschaft freündlichst gedancket«73 haben. Aber auch die kaiserkritischen russischen Macht- und Würdenträger, darunter die regierende Zarin Katharina I. (1725–1727) selbst, interpretierten diesen Schritt als große Ehrenbezeugung gegenüber dem russischen Hof und erachteten die Gesandtschaft offensichtlich als Neuanfang in den zwischenstaatlichen Beziehungen. Dementsprechend beantwortete die Zarin diese Nachricht mit einer eindeutigen symbolischen Geste und beschenkte Hochholzer mit seltenen Wassermelonen aus Astrachan.74 Zudem bestätigten auch andere politische Beobachter die Aussagekraft der Gesandtschaft des Grafen Amadeus von Rabutin hinsichtlich der bilateralen Verhältnisse, indem etwa die Vertreter Frankreichs und Preußens als Gegner eines möglichen Bündnisses zwischen Wien und St. Petersburg ihre Chancen auf eine Annäherung an die Zarin durch diese diplomatische Mission in großer Gefahr sahen.75 Schließlich betrachtete die an ein breites Lesepublikum gerichtete »Europäische Fama« – in Ermangelung näherer Informationen über die zwischenstaatlichen Beziehungen – die Absendung Rabutins als Indiz für die Annäherung der beiden Machtzentren.76 Die offensichtlich hohe Bedeutung dieses diplomatischen Austausches für die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts lässt sich durch die gesandtschaftsrechtlichen und zeremonialwissenschaftlichen Rahmenbedingungen der frühneuzeitlichen Diplomatie erklären. So begegnen wir bei den im betrachteten Zeitraum meistgelesenen Autoren dieser Disziplinen einer einheitlichen Charakterisierung höchstrangiger Ambassadeure: nämlich als direkte Vertreter ihres Souveräns, die auch die Vorrechte desselben in Anspruch nehmen konnten. Dementsprechend spiegelt sich in der normgebenden, frühneuzeitlichen Literatur das Bild des Botschafters als »verlängerter Arm«, »Sprachrohr« oder »verschobener Körper« des Fürsten wider, wie es bereits im vorangegangenen Kapitel konstruiert wurde. Das wird vor allem anhand der darin verwendeten Begrifflichkeiten deutlich. So charakterisierte Abraham de Wicquefort (1606–1682) den »Ambassadeur« in seinem gleichnamigen gesandtschaftsrechtlichen Handbuch als einen Minister, dessen »[…] Recht eines von den 73 Bericht Hochholzer an Karl VI. v. 30. Oktober 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 236v. 74 Vgl. Bericht Hochholzer an Karl VI. v. 20. Oktober 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 215r–220r ; Bericht Hochholzer an Karl VI. v. 30. Oktober 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 236r–239v ; Aleksandr Brikner, Avstrijskie diplomaty v Rossii. Po dokumentam venskogo archiva, in: Vestnik Evropy 28/12 (1893), 506–558, hier: 508–509. 75 Vgl. A. A. Polovcov (Hg.), SIRIO, Tom 15, Sankt-Peterburg 1875, 291–292; G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 8–75. 76 Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 289 (1726), 208–210.
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durchläuchtigsten Kennzeichen der Souverainet¦ oder Oberhauptlichkeit zu achten […]«77 sei. Eine ähnliche Charakterisierung findet sich auch in der wichtigsten französischen Ratgeberliteratur der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wieder. FranÅois de CalliÀres (1645–1717) etwa hielt bezüglich der Privilegien der ordentlichen und außerordentlichen Ambassadeure fest, dass man ihnen die und ihrem Gefolge am fremden Hof die dementsprechenden Rechte des Völkerrechts vor allem auch in Hinblick auf die öffentlichen Audienzen gewährleisten müsse, »[…] parce qu’ils y representent leur maistres […].«78 Dementsprechend bezeichnete Antoine Pecquet in seinem etwas später erschienenen Ratgeber den »Ministre« als einen Repräsentanten, […] qui n’est que l’image du Souverain […].«79 Noch deutlicher spiegelt sich die Funktion der hochrangigen Gesandten als »verschobener Körper« ihres Souverains in der zeremonialwissenschaftlichen deutschsprachigen Literatur des frühen 18. Jahrhunderts wider. Nach Johann Christian Lünig (1662–1740) beispielsweise sei ein Ambassadeur »mit dem Charactere repraesentatitio versehen, und stellet die Person seines Principalen vor, dahero muß ihm auch bey dem Einzuge, in denen Visiten, bey der Audienz und andern Gelegenheiten ebenso viel Ehre und Respect erwiesen werden, als wenn sein hoher Principal selbst zugegen wäre.«80 Der zum Teil als spiritus rector für Lünigs »Theatrum Ceremoniale« fungierende Gottfried Stieve (1664–1725) hielt zuvor in seinem »Europäischen Hof-Ceremoniel« fest, dass ein Ambassadeur »eben so, als wenn sein Principal selbsten käme, an und aufzunehmen«81 77 [Abraham] de Wicquefort, L’Ambassadeur oder Staats-Bothschafter und dessen hohe Fonctions, und Staats-Verrichtungen. Herausgegeben und übersetzt von Johann Leonhardt Sautern, Franckfurt am Mayn 1682, 2. 78 [FranÅois] de Callières, De la ManiÀre de Negocier avec les Souverains. De l’utilit¦ de Negociations, du choix des Ambassadeurs & des Envoyez, 6 des qualitez necassaires pour r¦ussir ces employs, Paris 1716, 106. 79 [Antoine] Pecquet, Discours sur l’Art de Negocier, Paris 1737, 133. 80 Johann Christian Lünig, Theatrum Ceremoniale Historico-Politicum, Oder Historisch und Politischer Schau-Platz aller Ceremonien, Welche bey Päbst- und Kayser- auch Königlichen Wahlen und Krönungen […], Ingleichen bey Grosser Herren und dero Gesandten, Einzügen und Zusammenkünften […] beobachtet werden, Auch wie Kayser, Könige, Chur- und Fürsten, Grafen und Herren […] einander in Briefen tractiren, Nebst unterschiedlichen HofOrdnungen, Rang-Reglementen, und andern zum Hof- und Cantzley-Ceremoniel dienlichen Sachen […], Band 1, Leipzig 1719, 368. 81 Gottfried Stieve, Europäisches Hof-Ceremoniel, In welchem Nachricht gegeben wird, Was es für eine Beschaffenheit habe mit der Praerogativa und dem aus selbiger fliessenden Ceremoniel, Welches zwischen Kayser- und Königl. Majestäten, Churfürsten, Cardinälen, Fürsten und freyen Republiquen, dero Gesandten und Abgesandten beobachtet wird, Nebst beygefügtem Unterricht, Was ein Legatus Latere, Nuncius Apostolicus, Ambassadeur, Envoy¦ Plenipotentiarius, Comissarius, Resident, Agent, Deputatus, Consul, so wohl seiner Würde, als seinem Amte nach sey, und wie es mit dereselben Character, Creditiv, Instuction, Passeport, Quartier, Iviolabilität, Immunität, Reception, Magnificentz, Titulatur etc. be-
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wäre. Demzufolge stehe es ihm frei, »sich aller seinem Principal zustehenden Praerogativen und Gerechtsamkeiten zu gebrauchen.«82 In weiterer Folge setzt Stieve den Repräsentanten zumindest für die Zeit der Vertretungsfunktion beinahe mit seinem Herrn gleich: »Also wird der Ambassadeur auf eine Zeit des Glantzes der Souveränität theilhaftig, und ihme fast alle Ehre, als man der Majestät selbsten thun könnte, angethan.«83 Schließlich stoßen wir auf eine ähnliche Charakterisierung hochrangiger Gesandter in der »Ceremoniel-Wissenschafft« von Julius Bernhard von Rohr (1688–1742), der aufgrund des Neudrucks seines Werks im Jahre 1990 wohl zu den am häufigsten zitierten Zeremonialwissenschaftern des 18. Jahrhunderts zählt. Darin nennt er unter anderem folgenden Bestandteil als unabdingbares Element in einem Beglaubigungsschreiben für einen Ambassadeur : »Eure Majestät wollen diesem unsern Minister gleich uns selbst auf- und annehmen, wie wir ihm dann die Macht ertheilet, sich aller uns zustehenden Praerogativen und Gerechtigkeiten zu bedienen.«84 Das Bild des Botschafters als unmittelbarer Vertreter seines Souveräns, der überdies mit den Vorrechten desselben ausgestattet war, kann daher als »communis opinio« aus der theoretischen Literatur des späten 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts herausgelesen werden. Hinter dieser Charakterisierung steckt eine im genannten Zeitraum in ganz Europa immer stärker um sich greifende Hierarchisierung des Gesandtschaftspersonals. Dementsprechend kristallisierte sich bereits im 17. Jahrhundert eine mit besonderen Eigenschaften ausgestattete Diplomatengruppe der »ministri primi ordinis« heraus, wodurch die Rangstufen der Gesandten im weiteren Verlauf in Theorie und Praxis neu präzisiert wurden. Alle konnten sie als öffentliche Vertreter am fremden Hofe fungieren und genossen dabei den Schutz des Völkerrechts. Nichtsdestotrotz unterschieden sich die einzelnen Ränge im Wesentlichen darin, dass nur die höchsten diplomatischen Vertreter ihren Souverän direkt repräsentieren konnten und mit den gleichen Vorrechten ausgestattet waren. Die weitere Unterscheidung und Benennung der unterschiedlichen Diplomaten stellt uns jedoch vor ein beschaffen, Auch was es wegen des Ceremoniels auf Frieden-Schlüssen und bey Höfen, für Misshelligkeiten gegeben, Leipzig 21723, 260. 82 Stieve, Hof-Ceremoniel, 260. 83 Stieve, Hof-Ceremoniel, 262. 84 Julius Bernhard von Rohr, Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der Grossen Herren. Herausgegeben und kommentiert von Monika Schlechte, Weinheim 1990, 385. Das Werk wurde 1733 unter folgendem Titel publiziert: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft Der großen Herren, Die in vier besondern Theilen die meisten Ceremoniel Handlungen, sie die Europäischen Puissancen überhaupt, und die Teutschen Landes-Fürsten insonderheit, so wohl in ihren Häusern, in Ansehung ihrer selbst, ihrer Familie und Bedienten, als auch gegen ihre Mit-Regenten, und gegen ihre Unterthanen bey Krieges- und Friedens-Zeiten zu beobachten pflegen, Nebst den mancherley Arten der Divertissements vorträgt, sie so viel als möglich in allgemeine Regeln und Lehr-Sätze entschleußt, und hin und wieder mit einigen historischen Anmerckungen aus dem alten und neuen Geschichten erläutert, Berlin 1733.
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griffliches Problem. So fand der in der theoretischen Literatur sowie in der Praxis viel gebrauchte Terminus »Ambassadeur« als Bezeichnung für die hochrangigen Botschafter etwa nie offizielle Verwendung am Wiener Hof und konnte in manchen Fällen durch die Begriffe »Großbotschafter« oder »Legatus Magnus« ersetzt werden. Auch der zunächst allgemein gebräuchliche Terminus »Envoy¦« oder »Abgesandter«, welcher sich allmählich als Prädikat für die Diplomaten aus der zweiten Reihe durchsetzte, war in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor allem am Kaiserhof keine fixe Rangbezeichnung und konnte durchaus variieren. Schließlich setzte sich der Titel »Resident«, welcher ursprünglich für ständige Gesandte gebraucht wurde, bis Mitte des 18. Jahrhunderts als Bezeichnung für drittklassige diplomatische Vertreter durch. Lediglich beim Sammelbegriff für die gesamte Gruppe treffen wir auf eine weitgehend einheitliche Verwendung der Prädikate »Minister«, »Gesandte« oder »Legati«, die am ehesten wohl der heute gebräuchlichen Kategorie der »Diplomaten« entsprechen. Wenngleich wir im betrachteten Zeitraum mit einer teilweise diffusen Begrifflichkeit konfrontiert sind, so wollen wir für eine vorläufige Klassifizierung trotz alledem folgende Hierarchisierung des Gesandtschaftspersonals von Heinz Duchhardt übernehmen, die sich gerade im Laufe der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts an allen europäischen Höfen manifestierte: (1.) Botschafter oder Ambassadeur, (2.) Envoy¦ und (3.) Resident.85 Die Wahl der soeben aufgelisteten Ränge wurde von mehreren Faktoren abhängig gemacht: der Stellung des Souveräns im europäischen Mächtesystem, der Wertigkeit des Auftrages sowie der sozialen Herkunft des Abgesandten. Gerade das zuletzt genannte Kriterium ergab sich aus der Tatsache, dass in den meisten europäischen Monarchien ausschließlich Vertreter hochadeliger Familien als hochrangige Diplomaten und somit direkte Repräsentanten der Herrscher eingesetzt wurden. Daraus entwickelte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts eine strenge gesellschaftliche Stratifizierung des Gesandtschaftspersonals, wonach die Vertreter der ersten beiden Diplomatenränge aus mehr oder weniger hochgestellten Adelsfamilien stammen mussten.86 Die eingangs skizzierte Ankündigung des Legationssekretärs Hochholzer – eines zum damaligen Zeitpunkt noch drittrangigen Diplomaten – über die Entsendung des kaiserlichen Ambassadeurs Rabutin und die daraus resultierenden Reaktionen der unterschiedlichen politischen Beobachter exemplifizieren dieses normative Grundgerüst. Gleichzeitig deuten sie auf die Wichtigkeit der Berücksichtigung des sozialen Hintergrundes der frühneuzeitlichen Gesandten hin, welche auch im 85 Vgl. Duchhardt, Balance, 24–25; Klaus Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1749) (Bonner Historische Forschungen, Bd. 42), Bonn 1976, 116–124. 86 Vgl. Duchhardt, Balance, 24–25.
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Rahmen der vorliegenden Untersuchung Beachtung finden wird. So soll etwa der Funktion einer diplomatischen Mission als »Karrieresprungbrett« für die Vertreter der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen Aufmerksamkeit geschenkt werden. Diese treffende Formulierung von Heinz Duchhardt wollen wir durch ein weiteres, von ihm gewähltes Bild hinsichtlich der Wahl des Ranges eines Missionsleiters ergänzen, welcher als »Seismograph« für die zwischenstaatlichen Beziehungen zu betrachten sei.87 Auch diese Funktion der Gesandten offenbart sich in der einleitenden Episode der Entsendung Rabutins, welche von allen Seiten als Annäherung beider Höfe gewertet wurde. Somit zeigt sich sowohl anhand des normativen Grundgerüstes, als auch der diplomatischen Praxis des frühen 18. Jahrhunderts, welch prominente Rolle Gesandte als Trägergruppe der Herrscherrepräsentation und der politischen Kommunikation in der Frühen Neuzeit spielten. Zwei Themenfelder, die mitunter zentrale Forschungsgebiete des Internationalen Graduiertenkollegs darstellen.
1.2.1. Ideengeschichtliche und normative Rahmenbedingungen des frühneuzeitlichen Völkerrechts Eine Einbettung der vorliegenden Fallstudie zu den diplomatischen Beziehungen zwischen Wien und St. Petersburg/Moskau in die völkerrechtlichen Rahmenbedingungen liefert daher das notwendige normative Hintergrundwissen zur Beantwortung der im vorangegangenen Kapitel formulierten Forschungsfragen. So ermöglicht die Berücksichtigung dieser juristischen Komponente eine Verankerung der Untersuchung im zeitgenössischen Normdiskurs über das europäische Gesandtschaftswesen und erlaubt daher weitreichende Aussagen und Ergebnisse über die Entwicklung der Diplomatiegeschichte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Das frühneuzeitliche Völkergewohnheitsrecht des betrachteten Zeitraums sah eine detaillierte Regelung der internationalen Beziehungen vor, die sich aus der thematischen Vielfalt seiner einzelnen Teilgebiete ergab. So beschränkte sich das »ius gentium« keineswegs nur auf rechtliche Vorgaben für die Zeiten des Krieges oder zur Herstellung des Friedens, wie es der Titel des wohl bekanntesten Völkerrechtsklassikers »De jure belli ac pacis« von Hugo Grotius (1583–1645) vorzugeben scheint. Grotius selbst nimmt sich in seinem Werk des Rechts der Gesandten in einem eigenen Kapitel an und thematisiert darin unter anderem die diplomatische Immunität, die damit eng verbundene Frage des Verhältnisses der ausländischen Vertreter zu den Gesetzen des Gastlandes sowie das Problem der Entsendung und Aufnahme von Diplo87 Vgl. Duchhardt, Balance, 21–22 sowie 34.
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maten durch den (gastgebenden) Souverän.88 Diese Aspekte wurden auch von den nachfolgenden Theoretikern hervorgehoben und diskutiert. Darüber hinaus wurden auch weitgehend anerkannte Vorgaben hinsichtlich der Religionsausübung glaubensverschiedener Gesandter im fremden Staat, der Abgaben-, Gefolgs-, Quartier- und Zollfreiheit sowie des Post- und Asylrechts der Gesandten verankert. Gerade im Lauf des 18. Jahrhunderts etablierten sich zudem Verhaltensnormen für die Aushandlung von Krieg und Frieden im Rahmen von internationalen Kongressen, bei denen mitunter erste Bestimmungen bezüglich der Frage der zwischenstaatlichen Grenzen, der Neutralität und der europäischen Erbfolgeregelungen getroffen wurden.89 Das frühneuzeitliche Gesandtschaftsrecht beinhaltete überdies auch die normativen Richtlinien für die Herrscherrepräsentation und die Kommunikation am internationalen Parkett. Die diesbezüglichen Bestimmungen wurden durch das diplomatische Zeremoniell vorgegeben, das von Barbara StollbergRilinger so treffend als »ein Zeichensystem, das kleinste atmosphärische Veränderungen präzise abzubilden erlaubte«90 charakterisiert wurde. Dementsprechend diente es als ein Spiegelbild der internationalen Stellung des Souveräns, indem es etwa eine genaue Rangfolge unter den Vertretern der einzelnen Herrscher vorsah und deren Vorrechte innerhalb der internationalen Gesellschaft festlegte. Aus diesem Grund ist es kaum verwunderlich, dass das Zeremoniell auch als viel gebrauchtes Kommunikationsmittel zur Austragung von zwischenstaatlichen Konflikten herangezogen wurde, die eben nicht nur auf den Schlachtfeldern, sondern zuvor meist auch am diplomatischen Parkett ausgefochten wurden. So regelte es vor allem die Interaktionsmechanismen zwischen den Gesandten der ersten Reihe, da es etwa auch detaillierte Vorgaben für den Ablauf von öffentlichen Audienzen, den Einzug sowie gegenseitige Visitationen von Diplomaten und dergleichen mehr beinhaltete.91 Die soeben skizzierten allgemeinen Bestimmungen des Völkerrechts wurden vielfach aus dem Naturrecht abgeleitet und sollten das von den Souveränen umstrittene »Gute«, »Gerechte« und rechtlich »Zulässige« festlegen. Dementsprechend stellte diese Disziplin bis ins 18. Jahrhundert vor allem auch ein Fach für die Regenten und Diplomaten dar, welches das nötige »know how« über die 88 Vgl. Hugo Grotius, De jure belli ac pacis. Libri tres – Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens Paris 1625 (Die Klassiker des Völkerrechts in modernen deutschen Übersetzungen, Bd. 1), Tübingen 1950, 309–316. 89 Vgl. Duchhardt, Balance, 73–82; Judith Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763 (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde, Bd. 36), Leipzig 2011, 30–37; Müller, Gesandtschaftswesen, 144–160. 90 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Europa im Jahrhundert der Aufklärung, Stuttgart 2006, 41. 91 Vgl. Duchhardt, Balance, 31–32; Müller, Gesandtschaftswesen, 124–140.
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Prinzipien der Souveränität, die Rangverhältnisse, das Gesandtschaftswesen, das Zeremonialrecht sowie das Friedens- und Kriegsrecht für ihre Tätigkeit bereithielt. Sein Zweck war die Einrichtung von geregelten Beziehungen zwischen den einzelnen Staaten und die Verhinderung eines Rückfalls in den gefürchteten »Naturzustand« des Krieges.92 Diese prägnante Charakterisierung des frühneuzeitlichen Völkerrechts von Michael Stolleis deutet bereits auf die Frage des theoretischen Anspruchs und der praktischen Umsetzung dieses Regelwerks sowie auf das Problem des Verhältnisses von Theorie und Praxis hin. Aus diesem Grund wollen wir an dieser Stelle einen Exkurs in die ideengeschichtlichen Hintergründe des »ius gentium« wagen, um die Wirkmächtig- und Gültigkeit des normativen Grundgerüsts für die internationalen Beziehungen im betrachteten Zeitraum einschätzen zu können. Darüber hinaus soll dieser Einblick in die verschiedenen Denktraditionen der europäischen Völkerrechtsgeschichte in weiterer Folge als Grundlage für eine geistesgeschichtliche Verortung der herangezogenen gesandtschaftsrechtlichen und zeremonialwissenschaftlichen Ratgeberliteratur verwendet werden. Ideeller Ausgangspunkt des sogenannten »modernen« Völkerrechts war die spanische Spätscholastik, deren intellektuelle Erzeugnisse als wichtigster Beitrag Spaniens für die Entwicklung der frühneuzeitliche Ideengeschichte und des europäischen Rechts erachtet werden kann. Als kleinsten gemeinsamen Nenner der Hauptvertreter dieser Denkschule finden wir etwa in den Werken von Francisco de Vitoria (ca. 1492–1546), Bartolom¦ de Las Casas (1484–1566) oder Francisco Surez (1548–1617) die Vorstellung der Verbindung aller Entitäten zu einem Menschengeschlecht, einer Weltgemeinschaft bzw. einer Welteinheit. So geht der Begriff des Völkerrechts aus den Reihen der Spätscholastiker hervor, wobei die genannten Autoren keine einheitliche Antwort darauf geben, ob es sich dabei um ein Recht handelt, das seine Gültigkeit bei oder zwischen allen Völkern besitzt. Darauf aufbauend spiegelt sich ein zentraler Gedanke in den Werken der Spätscholastiker wider, welcher auch die Theoretiker des 17. und 18. Jahrhunderts beschäftigen sollte: die Verortung des Völkerrechts auf einer Ebene zwischen dem unveränderbaren Naturrecht und dem variablen positiven Recht. An diese Denktradition knüpfte auch Grotius an, indem er die seit der Antike bestehende enge Verkettung zwischen Natur- und Völkerrecht ebenfalls etwas lockerte. Demzufolge ortete er keine totale Übereinstimmung zwischen beiden Ebenen, was den Schluss auf die Existenz a priori vorgegebener und unveränderlicher sowie willkürlicher und variabler Aspekte des »ius gentium« 92 Vgl. Michael Stolleis, Zur Ideengeschichte des Völkerrechts 1870–1939, in: Lutz Raphael/ Heinz-Elmar Tenorth (Hg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte, München 2006, 161–171, hier : 161–162.
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zulässt. Eine klare Abgrenzung zwischen den beiden Bereichen trifft er jedoch nicht, sondern bleibt bei diesem Vorhaben wage: Das Naturrecht stelle demnach das Fundament des Völkerrechts dar, wobei Letzteres von Ersterem teilweise auch abweichen könne. Am Problem des nur schwer bestimmbaren Verhältnisses zwischen den beiden Ebenen schieden sich auch die Geister der nachfolgenden Gelehrtengenerationen. Diese Frage stellte somit den gedanklichen Ausgangpunkt dar, um den sich die weiteren Denktraditionen des 17. und 18. Jahrhunderts entwickelten. Gleichzeitig weist diese Diskussion auf ein grundlegendes Problem des Völkerrechts hin. So handelt es sich dabei keineswegs um einen allgemein gültigen Kanon von Rechtsregeln, sondern vielmehr um einen dem wissenschaftlichen Diskurs entstammenden Konsens verschiedener Autoritäten.93 Auf dieses Problem wies bereits Wilhelm Janssen hin, indem er betonte, dass die Beschäftigung mit der Völkerrechtsgeschichte stets die Frage nach dem Verhältnis zwischen geltendem Völkerrecht und der gelehrten Völkerrechtsdoktrin aufwerfe. Ersteres könne demnach so lange nicht aus den Traktaten der Rechtsgelehrten erschlossen werden, bis nachgewiesen ist, dass die theoretischen Erläuterungen mit der Rechtspraxis übereinstimmen. Solange diese Frage nicht für alle Epochen umfassend geklärt ist, bleibe diese Disziplin ein rein ideengeschichtliches Forschungsfeld.94 Einen höheren Anspruch verfolgt auch der Autor der vorliegenden Arbeit bei der Einbettung der Fallstudie in die völkerrechtlichen Rahmenbedingungen der Frühen Neuzeit nicht. So kann darin lediglich aufgezeigt werden, inwiefern sich die (rechts)wissenschaftliche Theorie in der diplomatischen Praxis oder vielmehr in den bilateralen Beziehungen zwischen Wien und St. Petersburg/Moskau des betrachteten Zeitraums widerspiegelt oder gegebenenfalls davon abweicht. Allgemeine Aussagen über die damals gültige Völkerrechtslage sind schon deshalb nicht möglich, da in dieser Studie kein Vergleich des Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis auf internationaler Ebene angestellt werden kann. Ein derartiges Vorhaben würde nicht nur den Rahmen des Forschungsprojekts bei Weitem sprengen, sondern gleichzeitig auch an den eigentlichen Forschungsfragen desselben vorbeigehen. Nichtsdestotrotz verlangt die Berücksichtigung dieses normativen Regelwerks 93 Vgl. Duchhardt, Balance, 73–82; Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Band 3: Neuzeit. Teilband 1: Von Machiavelli bis zu den großen Revolutionen (Geschichte des politischen Denkens. Von den Anfängen bei den Griechen bis auf unsere Zeit, Bd. 3/1), Weimar 2006, 106–129; Ernst Reibstein, Völkerrecht. Eine Geschichte seiner Ideen in Lehre und Praxis, Bd. I: Von der Antike bis zur Aufklärung (Orbis Academicus. Problemgeschichten der Wissenschaft in Dokumenten und Darstellungen), Freiburg-München 1958, 279–281, 313–318 sowie 333–336. 94 Vgl. Wilhelm Janssen, Die Anfänge des modernen Völkerrechts und der neuzeitlichen Diplomatie. Ein Forschungsbericht, Stuttgart 1965, 7–10.
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eine Kenntnis der bereits erwähnten völkerrechtlichen Denktraditionen, um die herangezogene theoretisch-wissenschaftliche Literatur ideengeschichtlich entsprechend verorten zu können. Wie bereits angedeutet, spielte sich die Begründung des Völkerrechts vor dem Hintergrund der Diskussionen über das Naturrecht in der europäischen Frühaufklärung ab. Großen Einfluss auf diesen Diskurs übte der englische Gelehrte Thomas Hobbes (1588–1679) durch die sogenannte rationalistische oder säkularisierte Betrachtung des Diskussionsgegenstandes aus. Dementsprechend verschwindet bei ihm die Vorstellung der Verknüpfung des menschlichen mit dem natürlichen und göttlichen Recht, indem er die Vernunft und deren Leistung nicht mehr als Gottesgeschenk annimmt, sondern vielmehr an ihrer Nützlichkeit misst. Hobbes verwirft in weiterer Konsequenz die Imagination des Naturrechts als ein aus vernünftiger Erwägung resultierendes Normgerüst für den ausschließlich in der Gemeinschaft vorstellbaren Menschen und wendet sich dem Einzelnen zu, dessen Interesse und Recht die Durchsetzung gegenüber dem anderen sei. Demnach stelle die Selbstbehauptung oder die »lex naturalis« die einzige Norm des Naturrechts dar und unterscheide sich von den zu ihrer Durchsetzung herangezogenen Vernunftregeln, die er unter dem Begriff »ius naturale« zusammenfasst. Unter Hintanstellung der Letztgenannten unterwerfe sich das Individuum daher dem aus der »lex naturalis« resultierenden gesellschaftlichen Zusammenschluss oder Staatsvertrag, durch den ein neues positives Recht seine Gültigkeit erlangt, das durch die Befehlsmechanismen der staatlichen Ordnung zu seiner Durchsetzung gelangt. Auf dieser gedanklichen Ausgangsbasis der Zweitrangigkeit des Naturrechts setzt Hobbes selbiges mit dem Völkerrecht gleich. Demnach befänden sich die Völker untereinander in einem auf dem Prinzip der gegenseitigen Selbstbehauptung beruhenden Naturzustand, weshalb das zwischen den Herrschern geltende Völkerrecht dem Naturrecht als zahnloses Regelwerk zwischen den Menschen entspreche.95 Etwas anders sehen die diesbezüglichen Gedankenkonstrukte der bedeutendsten deutschen Frühaufklärer aus. So steht deren Naturrechtskonzeption zwar in einem Spannungsverhältnis mit der Theologie, erlebt jedoch keine gänzliche Entkoppelung von der Metaphysik. Demzufolge begegnen wir bei den Hauptvertretern der deutschen Frühaufklärung einer Ableitung des Rechts von den naturrechtlich vorgegebenen Pflichten, während Hobbes und auch Grotius von den subjektiven Rechten des Individuums ausgehen. Samuel von Pufendorf (1632–1694) etwa nimmt auch eine Trennung von Naturrecht und Moraltheologie vor, hält jedoch an der göttlichen Instanz als dessen Geltungsgrund oder 95 Vgl. Wilhelm G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, Baden-Baden 19882, 408–410; Janssen, Anfänge, 17–18; Karl-Heinz Ziegler, Völkerrechtsgeschichte. Ein Studienbuch, München 1994, 194; Ottmann, Geschichte, 290–294.
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vielmehr Gesetzgeber fest. Demzufolge seien die Rechte die Bedingung dafür, die naturrechtlich vorgegebenen Pflichten erfüllen zu können. In weiterer Konsequenz unterscheidet Pufendorf zwischen »de iure« vorgegebenen Pflichten gegen sich und die anderen sowie jenen sich »de officio« ableitenden Pflichten gegenüber Gott, sich und den anderen und schafft damit eine säkulare Form der christlichen Nächstenliebe. Daraus würden sich in weiterer Folge entweder stillschweigend oder explizit anerkannte Gesellschaftsverträge wie beispielsweise die Herrschaft ergeben, wodurch er einen absoluten Bruch mit der aristotelischen Konzeption der künstlich gestifteten politischen Gemeinschaft schafft. Während Pufendorfs diesbezügliche Überlegungen den gedanklichen Ausgangspunkt für die Naturrechtslehre der deutschen Frühaufklärung bildeten, blieben seine völkerrechtlichen Erkenntnisse dahinter zurück. An Erstere knüpfte auch sein Schüler Christian Thomasius (1655–1728) an, indem er in seinen frühen Werken zunächst die Pflichtenlehre seines Lehrers übernimmt. In seinen späteren Erzeugnissen allerdings nennt er das göttliche Recht zwar nicht mehr explizit, lässt jedoch eine Imagination Gottes als Vater alles Guten offen und hält damit an der voluntaristischen Begründung des Naturrechts fest. Eine Weiterentwicklung der Pufendorfschen Lehre gelingt Thomasius durch eine Festlegung der naturrechtlichen Teilbereiche in das Sittliche (»honestum«), das Anständige (»decorum«) und das Rechtmäßige (»iustum«), die sich in ihrer Durchsetzbarkeit unterscheiden würden. Durch diese Trennung des erzwingbaren »iustum« vom nicht erzwingbaren »honestum« und »decorum« traf er auch eine Unterscheidung von Legalität und Moralität. Christian Wolff (1679–1754) als wohl bedeutendster deutscher Frühaufklärer übernahm ebenfalls den Pflichtenkanon Pufendorfs und fügte ihn in ein Konzept ein, wonach alle Menschen zur Vervollkommnung von sich selbst und des anderen streben sollten. Demnach seien wir dem anderen das schuldig, was wir auch uns selbst schuldig sind. Aus dieser Verbindlichkeit der Vervollkommnung ergeben sich daher Rechte, die zur Erfüllung der Pflicht notwendig seien. Diesbezüglich gäbe es jedoch keine Privilegien, weshalb das Naturrecht der ständischen Gesellschaft mit ihren künstlichen Unterscheidungen entgegenstehe. Auf dieser gedanklichen Ausgangbasis lassen sich Wolffs völkerrechtliche Betrachtungen erklären. So müssten auch die einzelnen Völker die Pflicht zur Vervollkommnung erfüllen, indem sie sich durch Verträge zusammenschließen. Auf Basis seiner bisher dargestellten Überlegungen lässt sich daraus leicht die von ihm getroffene Unterscheidung zwischen einem natürlichen und einem willentlichen Völkerrecht nachvollziehen. In seinem Werk spielt das praxisnahe vertragliche oder gewohnheitsrechtliche »ius gentium« allerdings keine weitere Rolle.96 96 Vgl. Ottmann, Geschichte, 404–424; Reibstein, Völkerrecht, 488–489 sowie 499–505; Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 197–198.
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Vor dem Hintergrund der soeben skizzierten unterschiedlichen Naturrechtskonzeptionen entwickelten sich an der Schwelle vom 17. zum 18. Jahrhundert verschiedene völkerrechtliche Denktraditionen, die in der Literatur gewöhnlich in zwei bis drei Hauptströmungen aufgegliedert werden. Die erste vielfach als »Naturrechtliche Schule« bezeichnete Lehrmeinung wird dabei mancherorts deshalb nicht berücksichtigt, da sie sich aus den Vertretern der sogenannten »Völkerrechts-Leugner« zusammensetzte. Dieser Terminus lässt bereits auf den geistigen Vater dieser Richtung, Thomas Hobbes, schließen, dessen Positionen im konkreten Fall der Betrachtung des »ius gentium« etwa auch von Pufendorf und Thomasius übernommen wurden. Auf Basis der bereits erwähnten Gleichsetzung des Natur- und Völkerrechts und des daraus resultierenden Naturzustandes zwischen den Völkern sprechen sie dem »ius gentium« jegliche Durchsetzbarkeit ab, da es von keiner Instanz geahndet werden könne. Eine gegensätzliche Position nahmen die Vertreter der sogenannten »Positivistischen Schule« ein. Diese sprachen sich gegen die Gleichsetzung des Natur- und Völkerrechts aus und räumten dem gewillkürten positiven »ius gentium« per se eine Existenzberechtigung ein, da es sich auf die durch den Konsens der Staaten und der Vernunft resultierenden Gewohnheiten und Verträge stütze. Einen Mittelweg beschritten die Vertreter der vielfach als »grotianisch« oder »synthetisch« bezeichneten Schule, zu denen etwa auch Wolff gerechnet werden kann. Unter Annahme einer übergeordneten Staatengemeinschaft oder »civitas maxima« gehen sie von einem Völkerrecht aus, das sich sowohl aus naturrechtlichen als auch aus positiven Rechtselementen speise. Diese Unterscheidung der einzelnen Denktraditionen darf jedoch nicht zu dem Trugschluss führen, dass es im betrachteten Zeitraum unterschiedliche Völkerrechtsordnungen gab. Genauso wenig darf in diesem Zusammenhang eine strikte Trennung der einzelnen Schulen angenommen werden, da gerade die ideengeschichtlichen Überlappungen der genannten Konzepte groß waren. Zuletzt stellt sich natürlich auch die Frage, inwiefern sich die Diskussionen der theoretischen Höhenkammliteratur in der völkerrechtlichen Praxis widerspiegelten und welche der genannten Positionen von den politischen Akteuren favorisiert wurde.97 Die Suche nach einer passenden Antwort ist im Rahmen der vorliegenden Studie nicht vorgesehen, da ein solches Vorhaben den Rahmen der Arbeit sprengen würde. Vielmehr ist hiermit der Grundstein für eine ideengeschichtliche Einordnung der gesandtschaftsrechtlichen und zeremonialwissenschaftlichen Literatur gelegt worden.
97 Vgl. Duchhardt, Balance, 74–75; Grewe, Epochen, 412–420; Janssen, Anfänge, 18–20; Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 193–195.
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1.2.2. Ideengeschichtliche und normative Rahmenbedingungen der Zeremonialwissenschaften im frühen 18. Jahrhundert So knüpften die am Beginn dieses Abschnitts genannten Zeremonialwissenschafter an den soeben skizzierten theoretischen Überlegungen der Frühaufklärung zum Natur- und Völkerrecht an. Gottfried Stieve griff als Erster die Vorstellung des »decorum« von Thomasius auf, indem er es zunächst mit dem Zeremoniell gleichsetzte und in weiterer Folge näher differenzierte. Dementsprechend seien die unter dem Begriff »decorum naturalis« zusammengefassten und vom Naturrecht abzuleitenden äußerlichen Liebesbezeigungen von den der Willkür entspringenden höfischen Sitten zu unterscheiden, denen er das Prädikat »decorum politicum« verleiht. Dieses könne wiederum in ein allgemeines und ein besonderes oder länderspezifisches »decorum politicum« untergliedert werden. Es habe somit eine ergänzende Funktion zum gültigen Recht, indem es zur Friedenssicherung und gegenseitigen Toleranz beitrage. Gleichzeitig sei eine Gleichsetzung des »allgemeinen decorum« mit dem Völkerrecht abzulehnen, da es sich dabei eben um eine Vermischung des »ius genitum« mit dem »decorum politicum« handle. Methodisch verfolgt Stieve eine Systematisierung des Zeremoniells, da es erst durch die Verknüpfung mit der Politik konkrete Handlungsanweisungen verspreche. In der völkerrechtlichen Praxis stelle es eine von den Souveränen eingeführte Ordnung dar, die von den Gesandten als Richtlinie für ein adäquates Verhalten gegenüber den politischen Akteuren herangezogen werden könne. Stieve spricht dem Zeremoniell also einen Rechtscharakter zu, weshalb dessen Ursprung auch nicht nur die Höflichkeit, sondern auch der rechtlich vorgegebene Unterschied zwischen Prärogation und Präzedenz darstelle. Dementsprechend differenziert er zwischen einem allgemeinen und einem speziellen Zeremoniell. Diese beiden Bereiche unterscheiden sich nach Stieve durch ihren Geltungsgrund – der Höflichkeit einerseits sowie dem Recht andererseits.98 Auch Johann Christian Lünig schließt inhaltlich und methodisch an die »Decorum-Lehre« an, wobei er keine klare Abgrenzung zwischen Recht, Moral und Sitte vornimmt. Zudem übernimmt er die Unterscheidung eines allgemeinen und besonderen Zeremoniells sowie dessen Verankerung auf völkerrechtlicher Ebene aus dem Werk von Stieve. Methodisch beschreitet Lünig jedoch einen gänzlich anderen Weg, indem er nicht die Aufstellung allgemeiner Regeln verfolgt, sondern vielmehr das historische Beispiel zum Lehrmeister erhebt. Lünig begründet diese induktive Methode mit der schnellen Wandelbarkeit des 98 Vgl. Milosˇ Vec, Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat. Studien zur juristischen und politischen Theorie absolutistischer Herrscherrepräsentation (Ius commune Sonderhefte, Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 106), Frankfurt am Main 1998, 43–63.
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Zeremoniells, dem er eine durchgehende rechtliche Grundlage abspricht. Dementsprechend sei auch die Präzedenzlehre vielmehr von einem Machtstreben als von einer Ordnung abzuleiten. Aus diesem Grund liefert sein Werk für die diplomatische Praxis weniger allgemein gültige Grundsätze als vielmehr ausführliche nach Themenbereichen geordnete Zeremoniebeschreibungen. Dem politischen Akteur erschließt sich daraus nur in jenen Fällen eine allgemeine Regel, in denen bereits allgemeingültige Vorgaben vereinbart wurden. Ansonsten beschränkt sich das Werk von Lünig auf die Beschreibung der bisherigen Praxis.99 Einer von den Thesen seiner Vorgänger abweichenden Begründung des Zeremoniells begegnen wir bei Julius Bernhard von Rohr. Während Stieve und Lünig noch von einer naturrechtlichen Legitimation des Rangrechts sprechen, greift er den Gedanken seines Lehrers Christian Wolff auf, wonach alle Menschen von Natur aus gleich seien. Die zwischenmenschlichen Verhältnisse würden in weiterer Folge durch den Gesellschaftsvertrag begründet, weshalb Zeremoniell und Rangrecht auf einer Ebene stünden. Deshalb bevorzugt Rohr auch den Begriff der Lehre von den äußerlichen Handlungen, die im konkreten Fall des Staatszeremoniells die äußerlichen Handlungen der Regenten und ihrer Vertreter vorschreibe. Damit steht auch er in der Denktradition von Thomasius und knüpft an dessen »Decorum-Lehre« an. Hinsichtlich der Frage der Legitimation des Zeremoniells schafft er eine Synthese zwischen den Positionen Stieves und Lünigs. Demzufolge seien manche Zeremonien durch die Willkür der Potentaten entstanden, während andere durch Reichsgesetze und öffentliche Traktate geregelt und damit unveränderlich seien. So betont Rohr den vielfach gewohnheitsrechtlichen Charakter derselben, weshalb er der Bezeichnung »Staatsbräuche« den Vorzug gegenüber dem Begriff »Staatsrechte« einräumt. Im Gegensatz zu Lünig leitet er die Entscheidung für eine Systematisierung des Zeremoniells aus dessen Veränderbarkeit ab. Die umfangreiche Lektüre unterschiedlicher Schriften ermögliche daher die Unterscheidung von Ausnahmen und Regeln. Aus diesem Grund stützt sich Rohr nicht auf die vorangegangenen theoretischen Werke, sondern vielmehr auf die Quellen. Aus diesen leitet er nach Anlässen geordnete Anleitungen und Verhaltensrichtlinien für die Praxis ab und lässt die langatmigen Beschreibungen von Zeremonien vielfach beiseite.100 Bei all den genannten theoretischen und methodischen Differenzen zwischen den einzelnen Autoren finden wir auch viele inhaltliche Überschneidungen zwischen den einzelnen Werken, die nunmehr für den gesandtschaftsrechtlichen Bereich skizziert werden sollen. So lässt sich die allgemeine Charakterisierung des Zeremoniells als Ausdrucksmittel für die »Majestas« des Fürsten als kleinster 99 Vgl. Vec, Zeremonialwissenschaft, 63–80. 100 Vgl. Vec, Zeremonialwissenschaft, 80–98.
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gemeinsamer Nenner in den betrachteten Arbeiten festmachen. Im konkreten Fall der Außenpolitik werde dem Souverän mit Hilfe des ihm dargebrachten Zeremoniells durch andere Herrscher oder deren Gesandte die gebührende Ehre erwiesen. Dementsprechend mache das Zeremoniell die Hoheit und Macht des Fürsten sinnlich erfahrbar und nehme gleichzeitig eine ordnende Funktion ein, indem es die Zuweisung dieser Attribute an auswärtige Regenten oder deren Vertreter vergegenwärtige. Nichtsdestotrotz wird die bereits erwähnte naturrechtliche Legitimation der Souveräne im Hinblick auf den völkerrechtlichen Bereich von den Zeremonialwissenschaftern des frühen 18. Jahrhunderts relativiert. Die prinzipielle Annahme der Einsetzung aller Herrscher durch Gott mache diese untereinander unabhängig und gleichrangig, weshalb das Zeremoniell auf der diplomatischen Ebene weniger auf naturrechtlichen Präzedenzen und realen Würdeunterschieden als vielmehr auf behaupteten Rangdifferenzen beruhe. In Anknüpfung daran werden die beanspruchte Ordnung und der daraus resultierende politische Zweck als konstitutive Elemente des Zeremoniells angesehen, das den Fürsten auch als wirksames Mittel zur Behauptung und Erweiterung ihres Ansehens gegenüber ihrer Umwelt und damit auch gegenüber den fremden Herrschern dient. So ermögliche erst eine zeremonielle Voraugenführung der Hoheit des Regenten die Bestätigung der zum Teil naturrechtlich legitimierten hierarchischen Verhältnisse oder gar einen Prestigegewinn. Der im Rahmen des Internationalen Graduiertenkollegs intensiv diskutierte frühneuzeitliche Ordogedanke101 spiegelt sich also auch in der Zeremonialwissenschaft in Form der Verknüpfung der politischen und kosmischen Ordnung wider. Demnach bestimmen Rangordnung und Hierarchie die von Gott gewollte Ordnung der Welt, deren Infragestellung als Angriff gegen die Gesellschaft betrachtet wurde.102 Keineswegs so eindeutig gestaltete sich diese göttliche Rangordnung unter den in der Theorie gleichberechtigten Souveränen, weshalb Präzedenzfragen in der Praxis von den verschiedenen Seiten unterschiedlich ausgelegt und somit viel besprochen wurden und heftig umstritten waren. Gerade in den Beziehungen zwischen Wien und St. Petersburg/Moskau führte dieses Problem im betrachteten Zeitraum zu weitgreifenden Normkonflikten und -diskussionen.
101 Vgl. Schorn-Schütte, Politikforschung, 86–93. 102 Vgl. Vec, Zeremonialwissenschaft, 139–170.
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1.2.3. Ideengeschichtliche und normative Rahmenbedingungen der frühneuzeitlichen Gesandtschaftsliteratur Weniger wissenschaftlich fundiert war die sogenannte diplomatische Ratgeberliteratur, die vielfach auch als Handbücher für die Diplomaten bezeichnet wurde. Die Gründe für deren unterschiedliche methodisch-theoretische Ausrichtung eröffnen sich bei näherer Betrachtung der hinter diesen Werken steckenden Autoren. So verfassten die eingangs erwähnten Abraham de Wicquefort, FranÅois de CalliÀres und Antoine Pecquet ihre Bücher nicht nur als Wissenschafter, sondern auch als Praktiker. Sie waren selbst in der Diplomatie entweder als Gesandte im fremden Machtzentrum bzw. als Organisatoren und Mitgestalter der Außenpolitik des heimischen Hofes tätig. Heidrun Kugeler hielt diesbezüglich fest, dass die Werke der Autoren bislang vielfach als kausalistisch und realitätsfremd betrachtet wurden, da sie nie mit den verwandten Literaturgattungen der Völkerrechts- und Zeremonialtheorie kontextualisiert wurden. Die Traktate entstanden einerseits in genau diesem wissenschaftlichen Umfeld und unterschieden sich andererseits durch genrespezifische Eigenheiten. Ihre Verfasser definierten sich demnach gleichzeitig als Gelehrte und Praktiker und besaßen somit ein gruppenspezifisches Profil, weshalb ihre geistigen Erzeugnisse über das frühneuzeitliche Gesandtschaftswesen eine Wahrnehmung und Konstruktion der Teilnehmer am Staatensystem darstellen.103 So nahmen auch sie auf die juristisch-wissenschaftliche Perspektive Bezug und grenzten sich teilweise von ihr ab. Durch die Heranziehung ihrer Werke kann daher bereits auf der Ebene der normativen Literatur zum Gesandtschaftswesen die bereits erwähnte Diskrepanz zwischen völkerrechtlicher Theorie und Praxis sichtbar gemacht werden. Darüber hinaus weisen natürlich auch diese Arbeiten eine klare methodische Grundlage auf und dürfen als die wohl berühmtesten theoretischen Abhandlungen über das Gesandtschaftswesen des 17. und 18. Jahrhunderts in diesem kurzen ideengeschichtlichen Überblick nicht fehlen. Der gebürtige Holländer Wicquefort war nicht nur als Gesandter an den verschiedenen europäischen Höfen tätig, sondern nahm auch als Beobachter des Westfälischen Kongresses an einem diplomatischen Megaevent der Frühen Neuzeit teil. Der ehemalige Gesandte aus zweiter Reihe betrachtete in seinem 1681 erstmals veröffentlichten Werk »L’Ambassadeur et ses fonctions« die im 16. und 17. Jahrhundert durch die zunehmende Vernetzung der europäischen Höfe steigende Anzahl an ständigen Vertretungen als wegweisende Neuerung der 103 Vgl. Heidrun Kugeler, »Le parfait Ambassadeur«. Zur Theorie der Diplomatie im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden, in: Heidrun Kugeler/Christian Sepp/Georg Wolf (Hgg.), Internationale Beziehungen in der Frühen Neuzeit. Ansätze und Perspektiven (Wirklichkeit und Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit, Bd. 3), Hamburg 2006, 180–211, hier : 180–185; Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 195–196.
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Diplomatiegeschichte. Diese von Italien bereits im 15. Jahrhundert ausgehende Entwicklung wurde später auch in der Forschungsliteratur zum konstitutiven Element des frühneuzeitlichen Gesandtschaftswesens gemacht, worauf an anderer Stelle noch näher eingegangen wird. Mit seinem Werk hob er sich deutlich von den zeitgenössischen Arbeiten ab, indem er dem in der sogenannten Traktatliteratur konstruierten Idealbild des perfekten Gesandten sowie den auf die rechtliche Stellung des Gesandten fokussierenden juristischen Werken eine Betrachtung über die Funktion der Diplomaten gegenüberstellte. Dabei knüpfte er durch die Forderung der Aufwertung des Völkerrechts und der darin getroffenen Absicherung der Gesandten an Grotius an, kritisierte jedoch gleichzeitig dessen Rückgewandtheit auf die klassische Antike. Überdies setzte er den Ideen seines Landsmannes eine nicht auf dem Naturrecht, sondern auf der »raison d’¦tat« basierende Völkerrechtskonzeption entgegen, wonach sich Letztere aus dem Verhalten der Staaten ableiten ließe. Dementsprechend betrachtete er das »ius gentium« als ein aus dem Kompromiss der Souveräne hervorgegangenes und damit den Ansprüchen der einzelnen Fürsten nicht unterordenbares Recht, das nicht zwischen den Staaten gelte sondern vielmehr über ihnen stehe. Aus dieser Betrachtungsweise ergibt sich auch die seinem Werk zugrunde gelegte Methode. Wicquefort stützte seine Ausführungen auf die Geschichte der vorangegangenen zwei Jahrhunderte, um die aus der Praxis hervorgegangenen bereits bestehenden Regeln des Völkerrechts aufzuzeigen. Diese Perspektive erklärt auch seine Ambition der Sammlung aktueller Vereinbarungen und der damit verbundenen Schaffung eines Handbuchs über das europäische Staatensystem für die diplomatische Praxis.104 Um einen Ausgleich zwischen dem repräsentativen Charakter eines Gesandten und den mit seinem Amt verbundenen anderen Wesensmerkmalen zu finden, gliedert Wicquefort sein Werk in zwei Teile. Das erste, wesentlich umfangreichere Buch widmet sich der bis dahin in der Literatur weitgehend vernachlässigten Funktion des Diplomaten als Repräsentant seines Herrschers. In diesem Zusammenhang hebt er die Souveränität als wichtiges Merkmal einer Gesandtschaft hervor und betont die Bedeutung des Ranges derselben. In weiterer Folge zeigt er anhand von Beispielen aus der Praxis, insbesondere des Westfälischen Kongresses, dass Repräsentation und Rang ebenso wie Präzedenz, Ritual und Zeremoniell vielfach eine übergeordnete Rolle gegenüber dem Aushandeln von Sachfragen spielen. Gleichzeitig betonte er die Wichtigkeit der Entsendung hochrangiger adeliger Ambassadeure in erster Linie für den Bereich der zeremoniellen Repräsentation, während das Alltagsgeschäft vor allem di104 Vgl. Maurice Keens-Soper, Wicquefort, in: G.R. Berridge (Hg.), Diplomatic Theory from Macchiavelli to Kissinger, Basingstoke 2001, 88–102, hier : 88–93; Kugeler, Ambassadeur, 187–188; Matzke, Gesandtschaftswesen, 259–262.
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plomatisches Handwerkszeug voraussetze, das von den niedrigen Gesandten vielfach besser beherrscht würde als von deren lernunwilligen adeligen Kollegen. Im zweiten Buch wendet er sich daher vom repräsentativen Aspekt des Gesandtschaftswesens ab und konzentriert sich auf jene Funktionen des Diplomaten, die in unserem heutigen Sprachgebrauch wohl eher unter dem Stichwort Fähigkeiten zusammengefasst werden würden. Demzufolge sei der Gesandte nicht ausschließlich ein Delegierter oder Deputierter, sondern zeichne sich durch eine Mischung aus Wissen und Besonnenheit aus. Die beste Vorbereitung für eine diplomatische Mission sei neben der Kenntnis der klassischen Historie die Aneignung der aktuellen Geschichte durch das Studium von Memoiren, Negotiationen, Kriegs- und Friedenstraktaten. Darüber hinaus sei das durch ein ehrbares und aufrichtiges Auftreten dem Gesandten vom eigenen und fremden Souverän entgegengebrachte Vertrauen Grundvoraussetzung für dessen Entsendung.105 Es ist bezeichnend, dass Wicquefort bei der Unterscheidung der im ersten Buch beschriebenen »Actions« von den am Beginn des zweiten Teils näher definierten »Functionen« das Bild des Ambassadeurs als Schauspieler wählt. Die näheren Ausführungen zeigen, dass sich die im vorigen Abschnitt dargestellten Zugänge der Performanztheorien schon in seinem Werk widerspiegeln: »Es ist kein durchlauchtigeres Theatrum oder Schauplatz als der Hof zu finden, und wird kein einziges theatralisches Schauspiel gesehen werden können, in welchen die Actores weniger sich scheinen dasselbe zu seyn, was sie doch würcklich und wahrhaftig sind, als eben die Ambassad[eure] in ihren Negotirungen: es werden wohl auch nit einige anzutreffen seyn, so in der That höhere Personen repraesentiren sollten. Dieweil aber der allergeschicklichste Actor und Comediant nicht allezeit auf dem Theatro erscheinet, auch zuweilen eine andere Person annime, so bald als man die Vorhänge des Theatri zugezogen: Gleicher massen soll ein Ambassadeur, welcher in den Functionen seines Caractere seine Rolle wohl gespielet, auch die Stelle eines aufrichtigen und ehrlichen Mannes vertreten, wenn er von der Schaubühne seiner Verrichtungen wieder abgetreten ist.«106
Durch die Zusammenführung dieser soeben angesprochenen repräsentativen und administrativ-institutionellen Aspekte des Gesandtschaftswesens liefert Wicquefort eine für seine Zeit aktuelle Konzeption des Hofsystems im 17. Jahrhundert. Die Kenntnis der Regeln und Praktiken dieses Systems ebenso wie dessen richtige Perzeption betrachtete er als Handbuchwissen für die Gesandten, wobei nur schwer zu eruieren ist, inwiefern es von diesen als solches wahrgenommen und verwendet wurde. Darüber können Fallstudien wie die 105 Vgl. Keens-Soper, Wicquefort, 93–96; Kugeler, Ambassadeur, 193–202; Matzke, Gesandtschaftswesen, 261–267. 106 Wicquefort, L’Ambassadeur, 677.
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vorliegende – wenn auch nur in begrenztem Ausmaß – durch den direkten Vergleich mit der Praxis Auskunft geben. Überdies war sich Wicquefort des begrenzten Spielraumes der Diplomatie bewusst, da er die Vermittlungstätigkeit in Abhängigkeit von der nicht immer rationalen Staatsräson stellte. Ausgehend von dieser Überlegung wollte er keine systematischen oder theoretischen Aussagen über die zwischenstaatlichen Beziehungen an sich tätigen, sondern vielmehr die Regeln des Gesandtschaftswesens zusammenfassen, welche mitunter das Staatensystem konstituieren würden und zur Abwicklung der Außenpolitik unabdingbar seien. Diese waren aus Sicht des Autors keineswegs kurzlebiger als jene Gesetze, die das Fundament der einzelnen Regierungen darstellten. Ein großer Verdienst seines Werkes ist daher die Systematisierung der Richtlinien für den Gesandten auf Basis einer historisch-induktiven Methode. Die für Wicquefort die Ordnung der europäischen Außenpolitik bestimmende »raison d’¦tat« brachte demnach die Notwendigkeit einer weitreichenderen Regulierung der internationalen Beziehungen in Krieg und Frieden hervor.107 Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Diplomatie und dem internationalen Staatensystem sollte FranÅois CalliÀres in seinem 1716 erschienenen »De la ManiÀre de Negocier avec les Souverains« eine andere Position einnehmen. Doch wollen wir zunächst auf die Gemeinsamkeiten der beiden Autoren und Werke eingehen, die anhand von biographischen Parallelen sichtbar werden. So verdiente sich auch CalliÀres seine Sporen als zweitrangiger Gesandter im diplomatischen Dienst, indem er als französischer Resident an den Friedensverhandlungen von Rijswijk 1697 teilnahm. Dem folgte eine Karriere als Kabinettssekretär am Versailler Hof, wo er mit dem Staatssekretär für auswärtige Angelegenheiten intensiv zusammenarbeitete. Ähnlich wie Wicquefort betrachtete er die Einrichtung von ständigen Gesandtschaften als wichtigen Einflussfaktor für die Herausbildung einer diplomatischen Theorie. Diese wollten beide Autoren aus ihrer Zeit heraus entwickeln und setzten damit einen Kontrapunkt zur damals weit verbreiteten Literatur über juristische Aspekte des Gesandtschaftswesens sowie über das gute Benehmen des perfekten Gesandten. CalliÀres, der im Übrigen eine Kopie des »Ambassadeurs« besaß, konnte in vielen Punkten auf dem enzyklopädisch aufgearbeiteten Wissen über die Funktionen des Gesandten aufbauen und dieses als Basis für seine eigene Untersuchung heranziehen.108 So finden wir hinsichtlich der Repräsentationstätigkeit des Diplomaten auch bei ihm den Vergleich mit dem Schauspieler wieder : »Un Ambassadeur ressemble en quelque maniere un Comedien, expos¦ sur le theatre aux yeux du Public pour y jouer de grands rúles, comme son employ l’¦leve: au-dessus 107 Vgl. Keens-Soper, Wicquefort, 96–102; Kugeler, Ambassadeur, 187–188. 108 Vgl. Maurice Keens-Soper, FranÅois CalliÀres and Diplomatic Theory, in: The Historical Journal 16/3 (1973), 485–508, hier: 485–495; Kugeler, Ambassadeur, 187–188.
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de sa condition et l’¦gale en quelque sorte aux Matres de la terre par le droit de representation qui y est attach¦, et par le commerce partculier qu’il lui donne avec eux, il ne peut passer que pour un mauvais Acteur s’il n’en sÅait pas sotenir la dignit¦; mais cette obligation est l’ecueil contre lequel ¦choiient plusieurs Negociateurs, parce qu’ils ne sÅavent pas pr¦cis¦ment en quoy elle consiste.«109
Im Gegensatz zu Wicquefort fokussiert CalliÀres jedoch weniger auf den Akteur als vielmehr auf die den Schauspieler umgebende Bühne. So hob er sich vom enzyklopädischen Werk seines Vorgängers nicht nur durch die Veröffentlichung eines vergleichsweise kurzen Handbuches ab. CalliÀres wagte nunmehr auch die Verknüpfung von diplomatischer Theorie und politischen Interessensfeldern. Dementsprechend wendet er sich von einer tief greifenden historischen Betrachtung der Diplomatie ab und konzentriert sich auf die Zeitgeschichte. Während Wicquefort durch die umfassende Analyse der Ereignisse eine diplomatische Praxis abzuleiten versucht, glaubt CalliÀres darin prinzipielle Elemente der zwischenstaatlichen Beziehungen erkennen zu können. Er eröffnet damit einen völlig neuen Blick auf das Gesandtschaftswesen, indem er dessen Vermittlungsrolle betont und dabei zunächst zweifelsohne auch an Wicquefort anknüpft. Demnach sei das Fortkommen der Staatsinteressen durch ein von Verstand und Umsichtigkeit bestimmtes Benehmen gewährleistet, das dem politischen Akteur die Fertigkeiten des geschickten Beobachtens, Einschätzens und Agierens abverlange. Weniger der politische Druck als vielmehr eine in Einklang mit den Staatsinteressen stehende Vermittlungstätigkeit könne eine ungünstige politische Lage beruhigen. Aus diesem Grund seien die richtigen »Manieren« – auch zwischen den Souveränen – in Zeiten internationaler Spannungen am wichtigsten. Die genaue Ausprägung der dafür notwendigen Eigenschaften könne wiederum aus der modernen Geschichte abgeleitet werden. Mit dieser Sichtweise entwickelt er die bisherige Gesandtschaftsliteratur weiter und eröffnet den Diskurs über das Verhältnis von Diplomatie und zwischenstaatlichen Beziehungen. Letztere ergeben sich nach CalliÀres aus einer zwangsläufigen Verbundenheit und veränderlichen Abhängigkeit der Staaten. Aus diesem Grund leitete er die Regeln für die politischen Beziehungen der europäischen Staaten weniger aus einem natürlichen oder positiven Recht ab, weshalb in seinem Werk nur wenige Anknüpfungen an das Völkerrecht zu finden sind. Vielmehr ergebe sich aus der Koexistenz der Pluralität und Unabhängigkeit von Staaten ein einzigartiges und beschränktes Setting, das CalliÀres mit dem damals aktuellen aus der »res publica christiana« hervorgegangenen Europa gleichsetzte. In diesem aus unabhängigen Staaten zusammengesetzten internationalen Beziehungsgeflecht seien Vertrauen und Ehrlichkeit im Verhandeln zwischen Diplomaten und Souveränen die Hauptmaxime. Damit 109 Callières, ManiÀre, 35–36.
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knüpft er zweifelsohne an Wicquefort an und führt dessen Gedanken weiter, indem er die prinzipielle Bereitschaft zum Kompromiss zur Grundvoraussetzung der Diplomatie machte.110 Bei aller Neuartigkeit ist eine derartige Perspektive auch mit Problemen verbunden. So ist CalliÀres sehr in der Politik seiner Zeit verhaftet, weshalb ihm etwa das Grotianische Konzept einer natur- bzw. völkerrechtlichen Regelung der zwischenstaatlichen Beziehungen und die damit verbundene Vorstellung einer übergeordneten Staatengemeinschaft zu abstrakt erscheint, während er den Vorstellungen Wicqueforts über den vermittelnden Diplomaten offensichtlich einiges abgewinnen kann. Trotz aller Aktualität berücksichtigt CalliÀres deshalb auch die zu Beginn des 18. Jahrhunderts stattfindenden systematischen Reformen nicht und ignoriert in seiner Arbeit das Veränderungspotential Europas, indem er die bereits getroffenen internationalen Regelungen beiseitelässt. Seine Veränderungsvorschläge beschränken sich darauf, dass ein gut ausgebildeter und wohl vorbereiteter Diplomatenkader das System verändern könne. Der große Wert seines Werkes besteht also darin, dass er die Diskussion um die Diplomatie in eine politische Richtung lenkte. Aus der soeben genannten Charakterisierung seines Handbuches wird deutlich, dass die Einschätzungen CalliÀres in der vorliegenden Studie als aktuelle und vor allem französische Position zum Gesandtschaftswesen betrachtet werden müssen und somit eine wertvolle Ergänzungen zu den deutschsprachigen Werken darstellen. Die soeben angesprochenen Kritikpunkte finden wir zum Teil auch im 20 Jahre später erschienenen »Discours sur l’Art de Negocier« von Antoine Pecquet wieder. Als langjähriger Beamter des französischen Staatssekretariats nimmt er natürlich auf CalliÀres Bezug und bringt die spezifische Konzeption der Diplomatie in einen weiteren Zusammenhang, indem er die Wichtigkeit des Verhandelns als zentralen Aspekt aller sozialen Beziehungen festlegt. Darüber hinaus kritisiert er CalliÀres Abkehr von den diplomatischen Qualitäten, wobei Pecquet durch die Neuauflage der Literatur über den perfekten Gesandten konzeptionell hinter seinen Vorgängern zurückbleibt. Der große Verdienst seines Werks besteht jedoch in der Thematisierung einer Solidarität unter den Gesandten, wodurch er erstmals die Vorstellung eines »Diplomatencorps« schafft, das sich trotz der unterschiedlichen Interessen seiner Mitglieder an den diversen Höfen und Kongressen konstituiere. In diesem Punkt trägt auch Pecquet zur Weiterentwicklung der Konstruktion einer internationalen Gesellschaft bei.111 Trotz der unterschiedlichen methodisch-theoretischen Zugangsweisen der einzelnen Autoren lassen sich beim Vergleich ihrer Werke große inhaltliche 110 Vgl. Keens-Soper, CalliÀres, 495–505; Kugeler, Ambassadeur, 193–202; Matzke, Gesandtschaftswesen, 261–268. 111 Vgl. Keens-Soper, CalliÀres, 505–508; Kugeler, Ambassadeur, 193–197.
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Verbindungslinien nachzeichnen. So ersetzten sie die in der einschlägigen Literatur weit verbreiteten Tugendkataloge durch eine Klugheitslehre und legten ein zwischen Zweckrationalismus und Ansehenswahrung ausgleichendes Agieren als Verhaltensmaxime der gesandtschaftlichen Tätigkeit fest. Die Schlagworte Esprit (Verhandlungskunst und Höflichkeit), Connaissance (diplomatiespezifisches Fachwissen) und Exp¦rience (praktische Erfahrung im Gesandtschaftswesen) markierten demnach die Hauptanforderungen an den Diplomaten, der die fürstliche Gesellschaft erfassen, sich darin galant bewegen und in seinem Sinn beeinflussen sollte. Dabei musste der Gesandte mitunter nicht einfach in Einklang zu bringende Positionen und Rollen in sich vereinigen: den galanten Höfling und würdevollen Repräsentanten sowie den aktiven Teilnehmer und passiven Beobachter der Hofgesellschaft. Für diese Tätigkeit war aus Sicht der Autoren eine adelige Sozialisation nicht mehr alleiniges Befähigungsmerkmal, sondern vielmehr ein Mix aus spezifischem Fachwissen und einer aus der diplomatischen Praxis erworbenen Lehrzeit.112 So weit ein Überblick über die wegweisenden Ideen, Theorien und Methoden der völker- bzw. gesandtschaftsrechtlichen sowie zeremonialwissenschaftlichen Literatur, die den normativen Rahmen der vorliegenden Untersuchung darstellen. Die soeben skizzierten Klassiker des Gesandtschafts- und Völkerrechts dienen in dieser Arbeit vor allem deswegen als geeigneter normativer Maßstab, da sie auch in Russland eine intensive Rezeption erlebten. So setzte unter Peter I. eine überaus aktive Übersetzungstätigkeit von ausländischen Büchern ein, die in erster Linie über die russischen Gesandten im Ausland an den Zarenhof gelangten (zum Kulturtransfer durch russische Diplomaten siehe vor allem die Abschnitte 1.2.6. und 1.2.7.). Dazu zählten neben technischen, historischen und politischen Schriften auch völker- und gesandtschaftsrechtliche Erzeugnisse. So wurden etwa die bereits näher charakterisierten Werke von Grotius und Wicquefort ebenso wie Pufendorfs »Bücher über das Natur- und Völkerrecht« übersetzt. Diese Translationen erreichten vorerst jedoch nur das Stadium von Manuskripten und wurden nicht für einen breiteren Leserkreis veröffentlicht. Gesandtschafts- und völkerrechtliche Fragen waren in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts vor allem Staatsdienern vorbehalten, die aktiv als Akteure in den internationalen Beziehungen involviert waren. In Anlehnung an die Traktatliteratur sollten diese ihr Studium überdies auf die Aussagen und Berichte der im Ausland befindlichen Gesandten stützen. Ein Blick auf die Bibliotheksbestände einiger im Dienste Peters befindlichen Adeligen weist auf die Kenntnis der russischen Diplomaten über dieses exklusive Wissen hin. So verfügte der russische Langzeitdiplomat Andrej Artamovicˇ Matveev (1666–1712)113 112 Vgl. Kugeler, Ambassadeur, 193–211; Matzke, Gesandtschaftswesen, 263 sowie 269. 113 Andrej Artamonovicˇ Matveev zählte zu den bedeutendsten Diplomaten Peters I. in den
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über die Werke von Grotius, Puffendorf und Wicquefort. Sein in außenpolitischen Angelegenheiten nicht minder bewanderter Kollege Petr Pavlovicˇ Sˇafirov (1669–1739)114 konnte in seiner Bibliothek mitunter Bücher von Grotius, Thomasius und CalliÀres vorweisen. Die russische Teilnahme am wissenschaftlichen Diskurs um das Völker- und Gesandtschaftswesen blieb – von einigen Ausnahmen abgesehen – bis ins 19. Jahrhundert eine passive Angelegenheit. Eine der wenigen genuin russischen Abhandlungen war Sˇafirovs Schrift »Rassuzˇdenie«, in der der Autor unter Absegnung Peters I. eine völkerrechtliche Legitimation der militärischen Aktionen im Krieg gegen Schweden vornimmt und diese Gelegenheit zum Anlass nimmt, Russland als ein zivilisiertes europäisches Land darzustellen.115 Schon diese Schreibintention deutet auf die sich im Laufe der ersten Dekaden des 18. Jahrhunderts verändernde Position Russlands innerhalb des internationalen Staatensystems hin, worauf nunmehr eingegangen wird.
1.2.4. Ideengeschichtliche und normative Rahmenbedingungen des internationalen Staatensystems Neben dem soeben skizzierten Perspektivenwechsel in der diplomatischen Theorie vollzog sich in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts auch der bereits angesprochene Wandel des internationalen Systems, welcher Neuerungen im Bereich der Völkerrechtspraxis und der europäischen Völkerrechtsgeersten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts. Seine diplomatische Karriere führte ihn unter anderem nach Holland (1699–1712) sowie an den Wiener Hof (1712–1715). Nach seiner Ernennung zum Grafen im Jahre 1715 wurde er zunächst 1719 zum Senator und Präsidenten des Justizkollegiums und daraufhin 1724 zum Präsidenten des Moskauer Senatskontors ernannt. 1727 zog er sich aus den öffentlichen Geschäften zurück. Vgl. Matveev, Andrej Artamonovicˇ, in: Enciklopedicˇeskij Slovar’ Brokgauza i Efrona, Tom XVIII: Maloletstvo–Mejsˇagola, Sankt-Peterburg 1896, 778. 114 Petr Pavlovicˇ Sˇafirov machte ab 1691 im Posol’skij Prikaz Karriere und wurde 1704 zum Vizekanzler ernannt. Er übte diese Funktion fast 20 Jahre aus und war maßgeblich an der Ausverhandlung der wichtigsten außenpolitischen Vertragswerke Russlands in den ersten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts beteiligt. 1723 wurde er aufgrund von Amtsmissbrauchsvorwürfen seines Barontitels und aller Ämter enthoben und in die Verbannung geschickt. Unter Katharina I. wurde er rehabilitiert und als Präsident des Kommerzkollegiums zurück an den russischen Hof geholt. Vgl. Sˇafirov, Petr Pavlovicˇ, in: Enciklopeˇ uguev–Sˇen, Sankt-Peterburg 1903, dicˇeskij Slovar’ Brokgauza i Efrona, Tom XXXIX: C 217–218. 115 Vgl. V.E. Grabar’, Materialy k istorii literatury mezˇdunarodnogo prava v Rossii (1647–1917), Moskva 20052, 34–52 sowie 107–123; V.E. Grabar, The History of International Law in Russia, 1647–1917. A Bio-Biographical Study (Translated and Edited with an Introduction and Bibliographies by W.E. Butler), Oxford 1990, 35–53 sowie 104–119; Lauri Mälksoo, The History of International Legal Theory in Russia: a Civilizational Dialogue with Europe, in: The European Journal of International Law 19/1, 211–232, hier : 216–219.
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meinschaft mit sich bringen sollte. Zwei teils mit Mythen beladene Ereignisse wurden in der bisherigen Geschichtswissenschaft als Rahmen dieses Umschwunges festgemacht. Das ist zum einen der Friede von Utrecht im Jahre 1713, in dessen Rahmen die bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts an Popularität gewinnende Vorstellung des Gleichgewichts der Mächte zumindest in der Theorie als Verhaltensmaxime der internationalen Beziehungen festgelegt wurde. Die bisherige Völkerrechtswissenschaft sprach in diesem Zusammenhang vielfach gar von einer Erhebung des im Vertrag explizit erwähnten »Aequilibriums« zum Völkerrechtsprinzip.116 Anlass für diese Einschätzung des Vertrages von Utrecht bildeten einige, dem Artikel 6 des Friedensvertrages zwischen Frankreich und Großbritannien angehängte Garantien von französischer und spanischer Seite, in denen von den jeweiligen Souveränen bzw. deren Nachkommen eine Vereinigung der beiden Kronen ausgeschlossen wird. Dabei bedienen sich alle des Arguments, dass eine derartige Vereinigung dem Prinzip des »Gleichgewichts« bzw. »der Gleichheit« der Mächte widersprechen würde. Dieser Gedankengang findet sich auch in der Garantie des spanischen Königs, Philipps V. (1700–1746), wieder, wonach der Frieden zwischen Frankreich und Spanien einerseits sowie Großbritannien andererseits: »[…] auf der Grund-Regel, durch eine gleiche balance der Macht unwiederheblich den allgemeinen Wohlstand und Ruhe von Europa zu versichern, damit nicht, wenn viele mit einander vereinigt sind, die balance der gewündschten Gleichheit zum Vortheil des einen, und Nachtheil der andern überschlagen möge«117
Ausgangspunkt dieser Vorstellung bildete die in der frühneuzeitlichen Staatstheorie inflationär gebrauchte Metapher des internationalen Systems als Maschine, deren reibungsloses Funktionieren Stabilität und Frieden gewährleiste. Wie den einzelnen Teilen einer Maschine, die eine bestimmte Tätigkeit vollbringen, komme demnach auch den Staaten eine fixe Position und Aufgabe im übergeordneten Beziehungsgeflecht zu. Wenngleich dieses System zwar einzelne Aktionen zuließe, die gegen das Prinzip des Zusammenspiels seiner Glieder verstießen, so schloss es theoretisch die Zerstörung eines seiner Teile aus. Von diesem zeitgenössischen Gedankenkonstrukt leiteten die Geschichtswissenschaften die »communis opinio« eines beweglichen Mächtegeflechts ab, in dem neben den handlungsleitenden Großmächten des europäischen Gleichgewichts auch die Schwellenmächte einen Platz als Zünglein an der Waage einnehmen 116 Vgl. dazu etwa: Grewe, Epochen, 328; Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 177. 117 Johann Friedrich Christ (Hg.), Ruhe des jetzlebenden Europa Dargestellet in Sammlung der neuesten Europaeischen Frieden-Schlüße Wie dieselbe unter Regierung unsers glorwürdigsten Kaysers Carl des VI. von den Utrechtischen an biß auf dieses 1726te Jahr zum Vorschein gekommen […], Coburg 1726, 672.
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würden. Demzufolge entstand im Laufe des 18. Jahrhunderts ein offenes Systems der fünf stärksten Kräfte Europas, deren Zugehörigkeit zu den sogenannten Pentarchiemächten an der militärischen Stärke, der Christlichkeit und der Ordnungsfunktion in einem Teil des Kontinents festgemacht wurde. Dieses trotz seiner hierarchischen Grundstruktur scheinbar egalitäre und referentielle innereuropäische System wurde in der Forschung daher vielfach den globalen Beziehungsgeflechten gegenübergestellt, welche von Verdrängungskriegen um die Kontrolle in Indien, Nordamerika und im Südpazifik gekennzeichnet waren.118 Doch gerade in der jüngeren Literatur wurde diese »communis opinio« kritisch hinterfragt und unter anderem auch die praktische Umsetzung des Gleichgewichtsgedankens thematisiert.119 So stellte etwa auch Heinz Duchhardt die Frage, »[…] in welchem Maß das Denken in der Kategorie des Gleichgewichts tatsächlich politikwirksam geworden ist in dem Sinn, dass praktische Politiker so oder so geartete Gleichgewichtsvorstellungen zur Richtschnur politischen Handelns erhoben.«120 Die Unschärfe des Begriffes aufgreifend, hielt Peter Krüger fest, dass dessen Interpretation von den jeweiligen Interessen sowie den vorherrschenden Auffassungen über die Grundsätze von Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und von den zwischenstaatlichen Beziehungen abhängig gewesen sei. Weitere Grundzüge des Gleichgewichtssystems wie die zunehmende Gleichberechtigung unter den Souveränen, der sich schrittweise etablierende Sicherheitsgedanke, die sich ändernden Subsysteme in Form von Barrieren und Puf118 Vgl. Duchhardt, Balance, 8–19; Harald Kleinschmidt, Geschichte der internationalen Beziehungen. Ein systemgeschichtlicher Abriß, Stuttgart 1998, 187, 193–195 sowie 214–15; Johannes Kunisch, Der Aufstieg neuer Großmächte im 18. Jahrhundert und die Aufteilung der Machtsphäre in Ostmitteleuropa, in: Peter Krüger (Hg.), Das europäische Staatensystem im Wandel. Strukturelle Bedingungen und bewegende Kräfte seit der Frühen Neuzeit (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien, Bd. 35) München 1996, 89–105, hier : 89; Freiland-Wildeboer, Freunde, 29–36. 119 Diese Frage stellt einen Teilaspekt der über die vergangenen Jahrhunderte intensiv geführten Debatte um das europäische Gleichgewicht dar. Eine wertvolle Kategorisierung der einzelnen Positionen zum europäischen Gleichgewicht finden wir bei Arno Strohmeyer. Er macht dabei zunächst zwei Zugänge in der Betrachtung des Phänomens fest: eine Innenund eine Außenperspektive. Während Erstere entweder Theorie oder Politik als mögliche Reflexionsebenen des Kräftegleichgewichts bzw. deren Wechselwirkung in den Blick nimmt, konzentriert sich Zweitere auf das Gleichgewicht als eine vom Bewusstseinshorizont der Teilnehmer unabhängige Systemgemeinschaft. Differenzierende Ansätze hingegen berücksichtigen diese beiden Betrachtungsebenen des Gleichgewichts und sprechen sich dabei vielfach für eine strikte Trennung der beiden Bereiche aus. Neuere Forschungen fokussieren zunehmend auch auf die drei genannten und meist getrennt voneinander betrachten Dimensionen: Theorie, Politik und System. Vgl. Arno Strohmeyer, Theorie der Interaktion. Das europäische Gleichgewicht der Kräfte in der frühen Neuzeit, Wien-KölnWeimar 1994, 26–56. 120 Duchhardt, Balance, 17.
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ferzonen der kleinen Staaten sowie die innere Ordnung, Ressourcen und das kulturelle Prestige der einzelnen Staaten seien daher für die Entwicklung der Gleichgewichtsidee von Bedeutung. Krüger spricht daher vom »Aequilibrium« als Mythos des europäischen Staatensystems, das bereits im ausgehenden 15. Jahrhundert als Verhaltensmaxime der zwischenstaatlichen Beziehungen etabliert wurde und vor allem in der Phase vom 17. bis zum 19. Jahrhundert als ein Zustand von Recht, Harmonie, Vernunft, Menschlichkeit, Berechenbarkeit und Wissenschaftlichkeit hochstilisiert wurde. Das Gleichgewicht reiche jedoch als alleiniges Erklärungsmodell der Staatenwelt nicht aus und benötige viele Ergänzungen, Erweiterungen sowie Verknüpfungen mit anderen Konzepten und Prinzipien. Dazu zählt er mitunter auch die im Natur- und Völkerrecht und anderen Vereinbarungen festgeschriebenen Regeln und Verhaltensnormen, die Berechenbarkeit und Sicherheit in das Zusammenleben der Staaten bringen.121 Diese kritische Neubewertung des europäischen Gleichgewichts verdeutlicht die Wichtigkeit der Einbettung der vorliegenden Studie in die völker- und gesandtschaftsrechtlichen sowie zermonialwissenschaftlichen Rahmenbedingungen. Ein weiteres von Mythen umwobenes Einschnittsdatum der Geschichte des europäischen Staatensystems stellt der Friede von Nystad im Jahre 1721 dar, welcher sowohl in der älteren als auch jüngeren Historiographie als Vollendung des Aufstiegs Russlands zur Großmacht im Norden bzw. Nordosten dargestellt wurde. Gerade die ereignisgeschichtlich ausgerichtete deutsch- und russischsprachige Historiographie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nannte die Erlangung der Vormachtstellung im Ostseeraum im selben Atemzug mit der Integration Russlands in die europäische Staatengemeinschaft. So hielt etwa der berühmte russische Historiker Sergej Solov’ev diesbezüglich fest, dass »[…] dieser Krieg, der mit einem so glanzvollen Frieden für Russland endete, die Lage Europas veränderte: neben Westeuropa erschien ein zu einem gemeinsamen Wirken bereites neues Europa, das Östliche, was sich sofort im europäischen Organismus widerspiegelte […].«122 Mit dem Ende des Nordischen Krieges war Russland für den am Beginn des 20. Jahrhunderts wirkenden deutschen Historiker Max Immich »ein gleichberechtigtes Mitglied der europäischen Staatengemeinschaft geworden.«123 Doch auch in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts findet sich eine differenziertere Schreibweise über die Position
121 Vgl. Peter Krüger, Mythen des europäischen Staatensystems: Gleichgewicht, europäisches Konzert, Integration, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 51/2 (1999), 100–114, hier : 106–107 sowie 109–111. 122 S.M. Solov’ev, Istorija Rossii s drevnejsˇich vremen. Nacˇalo 20-ch godov XVIII veka-1725, Kniga IX, Moskva 2003, 421. 123 Max Immich, Geschichte des europäischen Staatensystems 1660–1789, München 1967, 253.
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Russlands nach 1721. Alexander Brückner schrieb in seiner Biographie Peters I., dass »der Zar, wie man im Westen sagte, ›considerabel‹ in Europa geworden war. Die neue Großmacht im Osten erregte das Staunen, auch wohl die Entrüstung der anderen Regierungen. Vor Peter ignorierte man Rußland als ein außerhalb Europas stehendes Staatswesen; zu Ende seiner Regierung fürchtete man es.«124
Ähnlich wie Brückner relativierte die jüngere ereignisgeschichtliche Historiographie vielfach die Darstellung, wonach Russland mit dem Erkämpfen der Vormachtstellung im Norden automatisch einen Platz innerhalb der europäischen Staatengemeinschaft erringen konnte. So illustrieren diese Werke auch die im Zuge der Auseinandersetzung immer greifbarer werdenden russischen Integrationsversuche, die ihren Höhepunkt in der Annahme des Imperatorentitels durch Peter I. 1721 fanden.125 Gerade in der jüngeren Vergangenheit wurde mit der Vorstellung der plötzlichen Integration des neuen Kaiserreichs innerhalb des Kontinents gebrochen. So zeigte etwa Martin Schulze Wessel, dass der Aufstieg Russlands zur Großmacht nicht synchron mit der Einbindung in das europäische Staatensystem verlief. Gerade Peter I. sei nach dem Sieg im Nordischen Krieg von den »alten« Mächten zurückgewiesen worden, weshalb erst unter seinen Nachfolgern die Interessen des Zarenreichs innerhalb des Staatensystems gesichert werden konnten.126 Auch Astrid Blome zeigte anhand einer tiefgreifenden Analyse der zeitgenössischen deutschen Presse, dass die Berichterstatter ein differenziertes Bild über die Einstellung der verschiedenen Höfe zur neuen Großmachtrolle Russlands zeichneten und sich das Urteil der Öffentlichkeit vom Emporkömmling im Osten nicht schlagartig änderte.127 Isabel de Madariaga hingegen thematisierte die mentalitätsgeschichtlichen Hintergründe der Annahme des russischen Kaisertitels und zeigte damit, wie tief Peter I. durch die Selbsternennung zum »Allrussischen Imperator« in das Weltbild der europäischen Herrscher eindrang und sich damit als Dorn im Auge mancher Souveräne festsetzte.128 124 Alexander Brückner, Peter der Große (Allgemeine Geschichte in Einzeldarstellungen, Bd. 6), Berlin 1879, 484. Vgl. dazu auch die russische Ausgabe von Brückners Werk: A.G. Brikner, Istorija Petra Velikogo, Tom 2, Sankt-Peterburg 1882, 177. 125 Vgl. G.A. Sanin (Hg.), Istorija vnesˇnej politiki Rossii. XVIII vek (Ot Severnoj vojny do vojn Rossii protiv Napoleona) (Istorija vnesˇnej politiki Rossii. Konec XV v.–1917 g., Tom 2), Moskva 1998, 34–48 sowie 57–58. 126 Vgl. Martin Schulze Wessel, Systembegriff und Europapolitik der russischen Diplomatie im 18. Jahrhundert, in Historische Zeitschrift 266/3 (1998), 649–669, hier : 649–652 sowie 669. 127 Vgl. Astrid Blome, Das deutsche Rußlandbild im frühen 18. Jahrhundert. Untersuchungen zur zeitgenössischen Presseberichterstattung über Rußland unter Peter I. (Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Bd. 57), Wiesbaden 2000, 165–182. 128 Vgl. Isabel de Madariaga, Tsar into emperor: the title of Peter the Great, in: Robert
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Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung soll durch die nähere Betrachtung der Beziehungen zwischen Wien und St. Petersburg/Moskau auch ein Beitrag zur Neuinterpretation der Integration Russlands innerhalb Europas geleistet werden. So nimmt etwa die Frage des Kaisertitels und der damit verbundenen Schwierigkeiten in der Kommunikation beider Höfe einen großen Stellenwert ein, da sie bei der detaillierten Analyse der zwischenstaatlichen Beziehungen des betrachteten Zeitraums immer wieder zum Vorschein kommt. So zeigen etwa die Kapitel »2.3. Die Ausrufung Peters I. zum »Allrussischen Imperator« – der Auslöser für eine Periode des sukzessiven Einfrierens der diplomatischen Kommunikation ab dem Jahre 1722« sowie »3.1.1. Der Kompromiss in der Titelfrage – Grundlage für die Kommunikation zwischen den Herrschern und die Absendung des hochrangigen kaiserlichen Gesandten Amadeus Graf Rabutin nach Russland« die Wichtigkeit dieser Frage für die richtungsweisenden außenpolitischen Entscheidungen beider Mächte. Damit trägt die Studie auch zu einer Entmythisierung der Geschichte der Integration Russlands bei, indem sie die Schwierigkeiten des Wiener Hofes bei der Akzeptanz Russlands als »gleichberechtigter« Partner nach dem Nordischen Krieg unter die Lupe nimmt. Damit entspricht die Untersuchung auch Peter Krügers Forderung nach Erforschung der Integration in Europa unter Berücksichtigung der über die Jahrhunderte vorangetriebenen Entfaltung eines christlich-europäischen Kulturraums mit seiner prinzipiellen Gemeinsamkeit und Einheitlichkeit. Diese sei jedoch gleichzeitig nur unter Inbetrachtnahme der Eigenständigkeit, Unabhängigkeit und der Freiheitsbestrebungen der einzelnen Staaten sowie der modernen Kommunikationsverflechtungen, der unterschiedlichen Organisationsformen und nicht zuletzt der Rivalität, Verdrängung und Gewalt zwischen denselben zu verstehen.129 Diese Perspektive trägt also auch zu einer Relativierung der bis weit ins 20. Jahrhundert hineinwirkenden Mythen der Integration Russlands unter bzw. nach Peter I. bei, die sich aus der Wechselwirkung der vornehmlich russischen Perspektive einer sofortigen Eingliederung Russlands in das europäische Mächtekonzert mit 1721 und der mit dem 18. Jahrhundert vor allem im Westen einsetzende Darstellung des Emporkömmlings als Repräsentant des anderen speisten.130
Oresko et.al. (Hgg), Royal and republican sovereignty in early modern Europe: essays in memory of Ragnhild Hatton, Cambridge 1997, 351–381, hier : 368–375. 129 Vgl. Peter Krüger, Das unberechenbare Europa. Epochen des Integrationsprozesses vom späten 18. Jahrhundert bis zur Europäischen Union, Stuttgart 2006, 13. 130 Vgl. Jutta Scherrer, Russland im Spannungsfeld zwischen Ost und West. Selbst- und Fremdbilder, in: Dieter Holtmann/Peter Riemer (Hgg.), Europa: Einheit und Vielfalt. Eine interdisziplinäre Betrachtung (Region-Nation-Europa, Bd. 10), Münster-HamburgBerlin-London 2001, 213–236, hier : 217 sowie 225.
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1.2.5. Von der Norm zur Praxis – Professionalisierung des europäischen Gesandtschaftswesens Bei aller Vorsicht und begrifflicher Genauigkeit, die bei der Betrachtung des europäischen Gleichgewichts und der russischen Integration geboten sind, bedingten die genannten Eckdaten 1713 und 1721 zweifelsohne eine Veränderung des internationalen Staatensystems. Dies hatte unter anderem eine Umstrukturierung der europäischen Diplomatie zur Folge, was für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse ist. So machte die bisherige Forschungsliteratur eine an der Schwelle zum 18. Jahrhundert einsetzende Verdichtung ständiger Gesandtschaften innerhalb Europas sowie eine damit einhergehende Professionalisierung der diplomatischen Kader fest. Gerade in den frühen diplomatiegeschichtlichen Studien des 19. und 20. Jahrhunderts setzten sich die Autoren mit der Frage des Ursprungs der ständigen Gesandtschaften auseinander. Diesen lokalisierten sie in den frühneuzeitlichen italienischen Stadtstaaten des ausgehenden 15. Jahrhunderts, welche damals bereits ein zusammenhängendes Staatensystem bildeten. Wilhelm Grewe bezeichnete es gar als Gleichgewichtssystem im Kleinen. Innerhalb dieses wie auch immer im Detail gearteten Beziehungsgeflechts etablierten sich zunächst halboffizielle Agenten, die bis zur zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts einen repräsentativen Charakter als ständige Gesandte erlangen konnten. Grund für diese Aufwertung war das gegenüber Ersteren gehegte Misstrauen als undefinierbare Fremdkörper im eigenen Staat, weshalb alle Beteiligten an einer genauen Definition ihres Status interessiert waren. Diese Skepsis gegenüber dem ständigen Gesandten als Spion sollte trotz alledem noch bis weit ins 17. Jahrhundert fortdauern. Insgesamt legte diese Entwicklung den Grundstein für die Hierarchisierung der frühneuzeitlichen Diplomatie. Entgegen der Lehrmeinung des 19. Jahrhunderts kamen die Autoren der vergleichsweise jüngeren Werke zu dem Ergebnis, dass die ständige Gesandtschaft sozusagen als neue Erscheinung parallel zu den bereits bestehenden Adhoc-Gesandtschaften entstand, diese jedoch keineswegs ablöste. Unklarheit blieb jedoch dahingehend bestehen, wo die Grenze zwischen diesen beiden Vertretungsformen gezogen werden kann. Fritz Ernst versuchte Licht ins Dunkle dieser Frage zu bringen, indem er drei Gesandtschaftstypen festlegte: (1.) Gesandtschaften zur Übermittlung einer Botschaft oder Verhandlung eines bestimmten Themas; (2.) Gesandtschaften, die jenseits dieser spezifischen Sachfragen durch äußere politische Faktoren in die Länge gezogen werden; (3.) ständige Gesandtschaften, die nicht an ihrem Zeitumfang, sondern vielmehr am Bestreben der Etablierung einer dauernden Vertretung festgemacht werden können. Abgesehen von dieser bis heute ungeklärten Definitionsfrage besteht in der Literatur Einigkeit darüber, dass die Intensivierung der zwischenstaatlichen Kontakte eine schrittweise Perfektio-
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nierung der Diplomatie in Form eines straff organisierten, kontinuierlichen Berichtwesens und dergleichen mehr bedingte.131 Gerade in den jüngsten Forschungsarbeiten wurde erneut die Frage über den Ursprung des ständigen Gesandtschaftswesens in den italienischen Stadtstaaten aufgeworfen. So hielt etwa Daniela Frigo diesbezüglich fest, dass auch im Falle des frühneuzeitlichen Italiens eine Pluralität der Machtzentren innerhalb des diplomatischen Geflechts sowie eine Unterschiedlichkeit und Flexibilität der Gesandtschaften zu beobachten sei. So könne die Forschung nicht von fixen Kategorien wie außerordentlichen Ambassadeuren und Residenten sprechen und müsse deren Vielfalt und Diversität in Hinblick auf Legitimität, Macht und Repräsentativität in Betracht ziehen.132 In ähnlicher Weise nahmen sich diplomatiegeschichtliche Studien jüngeren Datums des Wandels des Gesandtschaftswesens an der Schwelle vom 17. zum 18. Jahrhundert an, das in der älteren Literatur ohne weitere Konkretisierungen als Zeitalter der ständigen Vertretungen bezeichnet wurde. So verbreiterte sich das Netzwerk ständiger Gesandtschaften in Europa zweifelsohne im Laufe des 17. Jahrhunderts, wobei sich markante Unterschiede zu seiner Entwicklung im darauffolgenden Säkulum festmachen lassen. Während Frankreich unter Ludwig XIV. (1643–1715) seine diplomatischen Posten vor allem in Italien und im Reich ausbaute, nahmen etwa London und Wien diese Erweiterung der Außenvertretungen nur zögerlich in Angriff. Gerade der Kaiserhof wurde aufgrund zeremonieller und finanzieller Schwierigkeiten daran gehindert. Die Wiener Regierung war daher tendenziell darum bemüht, die Außenposten und deren Rang gering zu halten, weshalb sie nicht vor Ende des 17. Jahrhunderts ständige Vertretungen an jenen Höfen einrichtete, mit denen aktuelle Probleme gelöst oder wichtige Verhandlungen aufgenommen werden mussten. Die zwischenstaatlichen Beziehungen vor dem 18. Jahrhundert waren daher von starken Schwankungen hinsichtlich Kontinuität, Ausstattung, Besetzung und Rang der 131 Vgl. Fritz Ernst, Über Gesandtschaftswesen und Diplomatie an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, in: Archiv für Kulturgeschichte 33/1 (1950), 64–95, hier: 65 sowie 88–89; Grewe, Epochen, 40–42; Janssen, Anfänge, 70–78. Vgl. genauer zur Entwicklung des Gesandtschaftswesens in den italienischen Stadtstaaten: Willy Andreas, Italien und die Anfänge der neuzeitlichen Diplomatie, in: Willy Andreas, Staatskunst und Diplomatie der Venezianer im Spiegel ihrer Gesandtenberichte, Leipzig 1943, 13–69; Garret Mattingly, Renaissance Diplomacy, Boston 1955. Vgl. genauer zur Literatur des 19. Jahrhunderts: Otto Krauske, Die Entwicklung der ständigen Diplomatie vom fünfzehnten Jahrhundert bis zu den Beschlüssen von 1815 und 1818 (Staats- und socialwissenschaftliche Forschungen 5, Bd. 3), Leipzig 1885; Adolf Schaube, Zur Entstehungsgeschichte der ständigen Gesandtschaften, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 10 (1889), 501–552. 132 Vgl. Daniela Frigo, Introduction, in: Daniela Frigo (Hg.), Politics and Diplomacy in Early Modern Italy. The Structure of Diplomatic Practice, 1450–1800, Cambridge 2000, 1–24, hier : 8.
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Gesandtschaften gekennzeichnet. Judith Matzke bezeichnete demnach ein für Modernisierungstendenzen offenes Staatswesen, eine entsprechende Verwaltung in Form eines funktionierenden außenpolitischen Apparates sowie finanzielle Ressourcen als Grundvoraussetzungen für die stehende Diplomatie. Abgesehen von den Großmächten war die Etablierung eines ständigen diplomatischen Austausches im 17. Jahrhundert vielmehr noch eine Frage des Pragmatismus als des Prestiges. Diese Beobachtung deutet auf einen weiteren Grund für die zunehmende Verflechtung der europäischen Höfe hin. So sanktionierte der Westfälische Friede von 1648 das bereits seit dem Spätmittelalter gepflegte Bündnisrecht der Reichsstände. Damit wurde deren außenpolitische Souveränität zu einer viel diskutierten Streifrage, die in ähnlicher Form bereits in den vorangegangenen Jahrzehnten die Gemüter erhitzte. Stein des Anstoßes war die Selbstdefinition des Kaisers als alleiniger Entscheidungsträger in der Außenpolitik des Reiches, obwohl er diesbezüglich bis 1648 von den Kurfürsten abhängig war. Die gleiche Frage stellte sich im Anschluss vor allem die zeitgenössische Fachliteratur hinsichtlich der sogenannten halb-souveränen Reichsstände, die zwar nach außen in ihrem Recht auf Gesandtschaften freie Handhabe gehabt hätten, gleichzeitig jedoch durch die Mitgliedschaft im Reichsverband in Sachfragen eingeschränkt gewesen seien. Die neuere Forschungsliteratur zweifelte diese Position an und sprach den Ständen weitgehend außenpolitische Souveränität zu, wobei diese durch die Verpflichtung zur Absendung zweitrangiger Diplomaten und der damit verbundenen zeremoniellen Unterordnung eingeschränkt wurde.133 Die soeben skizzierte zunehmende diplomatische Verflechtung der europäischen Höfe, welche durch die schrittweise Entwicklung eines ständigen Gesandtschaftswesens wesentlich forciert wurde, spiegelt sich auch in der gesandtschafts- und zeremonialrechtlichen Literatur wider. Die im Rahmen dieser Studie herangezogenen Werke dieser Gattung können in der Frage der ständigen Vertretungen ohne weiteres als Kinder ihrer Zeit bezeichnet werden und dienen damit als wertvolle zeithistorische Quellen zur Veranschaulichung des Gesinnungswandels hinsichtlich der stehenden Diplomatie. Aus dem 1625 erstmals erschienen Werk von Grotius lässt sich die damals weit verbreitete Skepsis in dieser Sache deutlich herauslesen. »Mit gutem Recht können aber die jetzt gebräuchlichen dauernden Gesandtschaften abgewiesen werden«134, konstatiert 133 Vgl. Duchhardt, Balance, 19–21; Matzke, Gesandtschaftswesen, 23–30. Vgl. genauer zur Frage der außenpolitischen Rechte der Reichsstände: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Westfälische Frieden und das Bündnisrecht der Reichsstände, in: Der Staat. Zeitschrift für Staatslehre, öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte 8/Heft 1/4 (1969), 449–478; Albrecht Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte des Heiligen Römischen Reiches nach 1648 (Schriften zum Völkerrecht, Bd. 1), Berlin 1988. 134 Grotius, De jure, 310.
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der »Vater des Völkerrechts« in Anlehnung an antike Vorbilder, die das prinzipielle Misstrauen hinsichtlich des Absendungsgrundes verdeutlichen sollen. Wicquefort, dem die Bedeutung ständiger Vertretung aus eigener Erfahrung bewusst war, lässt den für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts gängigen Pragmatismus in dieser Frage deutlich durchscheinen. Für den Fall, dass ein Ambassadeur am fremden Hofe keine Verhandlungen mehr durchzuführen habe und die Funktion eines Informationsvermittlers übernehme, hielt er es für sinnvoller, wenn sich ein Souverän »eines Kriegs-Officiers hierunter bediente, welcher, weil er viel besser von den KriegsActionen, als etwa ein Staats-Mann oder Gelehrter, juduciren kann, viel nützlicher könne gebrauchet werden, sonder dass es der Printz von nöthen habe, ihn mit dem Repraesentativ-Caractere versehen zu lassen, welchen der Printz sonder hochdringende Noth, niemand so leichtlich solle wiederfahren lassen.«135
Ein noch sehr ähnlicher Zeitgeist scheint im Werk von CalliÀres durchzuklingen, welches er unmittelbar nach den umwälzenden Ereignissen des Friedens von Utrecht im Jahre 1716 veröffentlichte. Bevor der Autor in medias res seiner Betrachtungen geht, schickt er in Richtung aller Souveräne und großen Staaten voraus, wie wichtig es sei, »d’entretenir de continuelles negociations dans les pays voisins & ¦lognez ouvertement ou secretement, durant la paix & durant la guerre.«136 Während CalliÀres sich noch mit offiziellen oder geheimen ständigen Vertretungen zufrieden gibt, ist für Pecquet im Jahre 1737 die Absendung eines residierenden Ministers an den fremden Hof ein Muss: »Aujourd’hui c’est un point de politique d’avoir des Ministres r¦sidens dans les Cours mÞmes o¾ l’on n’a rien negocier : De-la nat la n¦cessit¦ qu’un Ministre ait aussi tous les talens propres la societ¦.«137 Wenngleich also kein bestimmtes Datum für den skizzierten Strukturwandel der europäischen Diplomatie festgemacht werden kann, so sollten die bisherigen Ausführungen zumindest die Tendenz in Richtung einer zunehmenden diplomatischen Verflechtung und eines ständigen Gesandtschaftswesens an der Schwelle vom 17. zum 18. Jahrhundert verdeutlichen. Wesentlich konkreter fällt jedoch die Betrachtung der außenpolitischen Institutionen der beiden im Zentrum der Arbeit stehenden Hauptakteure aus, die von diesen allgemeinen Entwicklungen nicht ausgeklammert blieben.
135 Wicquefort, L’Ambassadeur, 685. 136 Callières, ManiÀre, 10. 137 Pecquet, Discours, XVIII.
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1.2.6. Professionalisierung und institutioneller Ausbau des Gesandtschaftswesens in Wien und St. Petersburg/Moskau Die betrachtete Periode stellte auch einen Wendepunkt im Gesandtschaftswesen sowie in der Struktur und Verwaltung der Außenpolitik beider Höfe dar. Die institutionelle Entwicklung der betrachteten Machtzentren macht deutlich, wie wichtig die bereits angesprochenen Modernisierungsbestrebungen, ein funktionierender außenpolitischer Apparat sowie finanzielle Mittel für die Verflechtung von Wien und St. Petersburg/Moskau waren. Im konkreten Fall der habsburgischen Diplomatie vollzog sich in den Jahren 1720 bis 1742 eine Zentralisierung der auswärtigen Angelegenheiten, die sich in einem allmählichen Rückgang des Einflusses der von Friedrich Karl Graf Schönborn (1674–1746) geführten Reichshofkanzlei auf die außenpolitischen Agenden zu Gunsten der von Philipp Ludwig Wenzel Graf Sinzendorf (1671–1742) geleiteten Österreichischen Hofkanzlei niederschlug. Das traf auch auf die Erledigung der russischen Angelegenheiten zu.138 Die vorliegende Fallstudie eröffnet daher auch einen Einblick in die strukturellen Veränderungen dieser Zentralisierungs- und Professionalisierungsphase der kaiserlichen Außenpolitik. Konkret sind dabei neue Ergebnisse hinsichtlich der Erschließung des Kommunikationsraumes Russland zu erwarten: Strukturelle, verwaltungstechnische und finanzielle Herausforderungen für den Wiener Hof und seine Gesandten hinsichtlich der aufwendigen und kostspieligen Herrscherrepräsentation am Zarenhof sowie der Etablierung neuer Kommunikationswege finden diesbezüglich Erwähnung. Die Einrichtung einer ständigen Mission Wiens in Russland erfolgte bereits vor dem endgültigen Aufstieg Russlands zur europäischen Großmacht. Mit der Akkreditierung von Otto Anton Pleyer139 als Resident am Hof Peters I. im Jahre 1710 war der Grundstein einer stehenden Vertretung im russischen Reich gelegt worden. Dieser Zeitpunkt war keineswegs zufällig gewählt, hatte Russland doch ein Jahr zuvor den Wendepunkt im Nordischen Krieg in der Schlacht von Poltava erzielt und damit die Basis für seinen Aufstieg geschaffen. An der Person Pleyers spiegelt sich überdies die bereits erwähnte Zögerlichkeit der Wiener Außenpolitik bei der Einrichtung ständiger Gesandtschaften wider. So wurde der be138 Vgl. Grete Klingenstein, Institutionelle Aspekte der österreichischen Außenpolitik im 18. Jahrhundert, in: Erich Zöllner (Hg.), Diplomatie und Außenpolitik Österreichs. 11 Beiträge zu ihrer Geschichte, Wien 1977, 74–93, hier : 82–86; Erwin Matsch, Geschichte des Auswärtigen Dienstes von Österreich(-Ungarn) 1720–1920. Wien-Köln-Graz 1980, 46–50; Müller, Gesandtschaftswesen, 22–32. 139 Otto Anton Pleyer wurde vor allem wegen der Veröffentlichung seiner Berichte aus Moskau bekannt, die unter dem Titel »Allerunterthänigste Relation von dem jetzigen moscowitischen Regierungswesen 1710« publiziert und auch ins Russische übersetzt wurden. Vgl. Plejer, Otto-Anton, in: Enciklopedicˇeskij Slovar’ Brokgauza i Efrona, Tom XXIIIa: Petropavlovskij–Povatazˇnoe, Sankt-Peterburg 1898, 867.
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reits ab 1691 auf Auftrag Leopolds I. (1658–1705) in Moskau befindliche Pleyer lange Zeit als halboffizieller Vertreter Wiens wahrgenommen, ehe er 1703 auf russisches Ansuchen hin zum kaiserlichen Sekretär ernannt und schließlich 1710 mit einem Kreditiv ausgestattet wurde.140 Die Unterhaltung eines ständigen Gesandten aus der zweiten Reihe wurde im betrachteten Zeitraum, mit Ausnahme der Phase des Konflikts um den Zarensohn Aleksej in den Jahren 1718/ 1719 (siehe dazu genauer Kapitel 2.1.: »Ein Klima des gegenseitigen Misstrauens? Die zwischenstaatlichen Beziehungen am Vorabend der groß angelegten Kontaktaufnahme von 1720/21«) nicht unterbrochen. So übernahm Nikolaus Sebastian Hochholzer141 diesen Posten offiziell ab dem Jahre 1721 und füllte ihn über zwanzig Jahre in verschiedenen Rangstufen aus, weshalb seinem Werdegang im Rahmen dieser Arbeit große Aufmerksamkeit geschenkt wird. Etwas schwieriger lässt sich die Frage der Etablierung einer ständigen Vertretung durch hochrangige Botschafter beantworten. Der Friede von Nystad 1721 und der damit besiegelte Aufstieg Russlands zur Großmacht markierten diesbezüglich einen Wendepunkt, der eine Phase der allmählichen Etablierung von ständigen Ambassadeuren im russischen Reich einleitete. Wurden Stephan Wilhelm Graf Kinsky142 1721 und Amadeus Graf Rabutin 1726 noch als außerˇ ast’ pervaja 140 Vgl. N.N. Bantysˇ-Kamenskij, Obzor vnesˇnich snosˇenij Rossii (po 1800 god), C (Avstrija, Anglija, Vengrija, Gollandija, Danija, Ispanija), Moskva 1894, 36, 41 sowie 44; Müller, Gesandtschaftswesen, 22–32. 141 Sebastian Hochholzer ist ein Paradebeispiel für jene außenpolitischen Akteure, die in der zweiten bzw. dritten Reihe der kaiserlichen Diplomatie Karriere gemacht haben. Hochholzer, ein nach eigenen Angaben in Stockerau geborenes Landkind, begleitete bereits im Jahre 1709 die Gesandtschaft des Grafen Wilczeck nach Moskau, um dort Erfahrung für den Dienst am russischen Hof zu sammeln. Wie die Ausführungen dieser Arbeit noch zeigen werden, durchlief Hochholzer nach seiner abermaligen Entsendung nach Russland in den 1720er-Jahren alle diplomatischen Rangstufen bis zum Residenten. Dieser Aufstieg brachte es auch mit sich, dass er 1727 in den Adelsstand erhoben wurde und 1734 erfolgreich um die Erhebung in den Reichsritter-Stand (mit dem Prädikat »Edler von Hohenholz«) ansuchte. Letzteres Ansuchen begründete er nicht nur mit seinen langjährigen Verdiensten für den Kaiser, sondern auch damit, dass seine vermehrte Präsenz bei den gesellschaftlichen Veranstaltungen am russischen Hof eine solche Erhöhung notwendigen machen würde. Hochholzer zählt somit zu den in der Gesandtschaftsliteratur angesprochenen Experten der zweiten bzw. dritten Reihe, die ihren hochrangigen Vorgesetzten mit dem nötigen Fachwissen über den fremden Hof zur Seite standen. Vgl. AVA, Adelsarchiv, Reichsadelsakten (1500–1806), Allgemeine Reihe (1500–1806), Kt. 194 Hofmändl-Hohenzollern, 194.32 Hohenholtz (Hochholzer/Niklas Sebastian); Bericht Hochholzer an Karl VI. v. 28. Januar 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–1721, 13r–14r ; Wienerisches Diarium v. 18. Oktober 1727, Nr. 84, [8]. 142 Wilhelm Stephan Graf Kinsky (1679–1749) machte zunächst in den Jahren 1702 bis 1719 Karriere in der kaiserlichen Armee und quittierte den Dienst mit dem Rang eines Oberst. Wie viele seiner hochrangigen Kollegen schlug er im Anschluss eine diplomatische Karriere ein. Seine erste Mission führte ihn in den Jahren 1721 bis 1722 an den russischen Hof. Im Anschluss daran machte er 1727 im Kurfürstentum Pfalz Station ehe er 1729 bis 1732 am französischen Hof tätig war. Nach seiner diplomatischen Karriere war er unter anderem als
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ordentliche Gesandte mit dem Auftrag der Aushandlung eines Bündnisses nach Russland geschickt, so entsandte der Wiener Hof deren Nachfolger in den 1720er- und 1730er-Jahren, Franz Carl Graf Wratislaw, Heinrich Carl Graf Ostein (1693–1742) sowie Anton Otto Marchese Botta d’Adorno (1688–1774), bereits als bevollmächtigte Minister an den russischen Hof.143 Anhand dieses feinen Unterschiedes hinsichtlich der Betitelungen wurde zumindest in der Theorie auf die Art der Gesandtschaft geschlossen. Demnach bestehe der Unterschied zwischen einem außerordentlichen und einem ordentlichen Ambassadeur darin, dass Ersterer nicht die Absicht einer ständigen Vertretung am fremden Hof verfolge und überdies das Vorrecht gegenüber Zweiterem im Falle einer gemeinsamen Präsenz im fremden Machtzentrum besitze.144 Gerade diese bevorzugte Stellung des außerordentlichen Gesandten führte dazu, dass das Prädikat »extraordinaire« im Laufe des 18. Jahrhunderts inflationär und ohne Rücksicht auf den tatsächlichen Aufenthaltsstatus des Botschafters verliehen wurde, um dem jeweiligen Vertreter die mit diesem Titel verbundenen Prärogativen am fremden Hofe zu sichern. Die Wiener Behörden folgten dieser Entwicklung jedoch nur sehr zögerlich, weshalb sie gerade in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts an der sachgerechten Vergabe der Prädikate festhielten.145 Somit deutet der angesprochene Wandel in der Betitelung der kaiserlichen Ambassadeure auf das Bestreben nach Einrichtung einer ständigen hochrangigen Vertretung des Kaisers am russischen Hof hin, was von Fritz Ernst als Kennzeichen einer stehenden Diplomatie bezeichnet wurde. Der Bündnisschluss von 1726 stellt zweifelsohne das zentrale Datum für diese Entwicklung dar. Noch umwälzender gestalteten sich die Veränderungen der russischen Außenpolitik und Diplomatie, die mit einer Europäisierung und Professionalisierung des Gesandtschaftswesens unter Peter I. einhergingen. Diese UmstruktuPräsident des Kommerz-Kollegiums und Oberstlandeshofmeister sowie Oberster Landkämmerer in Böhmen tätig. 1747 wurde er in den Reichsfürstenstand erhoben und war somit der erste Fürst des Hauses Kinsky. Als Gründe für diese Erhebung werden in den Adelsakten Kinskys unter anderem seine Verdienste als kaiserlicher Gesandter in Moskau genannt, welche in der vorliegenden Arbeit detailliert unter die Lupe genommen werden. Vgl. AVA, Adelsarchiv, Reichsadelsakten (1500–1806), Allgemeine Reihe (1500–1806), Kt. 221 Kielwein-Kipffinger, 221.41 Kinsky von Chinitz und Tettau, Stephan Wilhelm Graf; Hausmann, Repertorium, 61, 74–75 sowie 78; Kinsky von Wischnitz und Tettau, Stephan Wilhelm Fürst, in: Constant von Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, Bd. 11: Karolyi–Kiwisch, Wien 1864, 303–304. 143 Vgl. Bantysˇ-Kamenskij, Obzor, 59–62; Hausmann, Repertorium, 78–79; Matsch, Geschichte, 122. 144 Vgl Callières, ManiÀre, 105–106; Lünig, Theatrum, 368; Pecquet, Discours, 135–137; Rohr, Einleitung, 377–378; Stieve, Hof-Ceremoniel, 308–309; Wicquefort, L’Ambassadeur, 681. 145 Vgl. Müller, Gesandtschaftswesen, 120–121.
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rierung wurde in der bisherigen Forschungsliteratur in engen Zusammenhang mit der Übernahme »westlicher« Völkerrechtspraktiken gebracht. Demnach führten die erwähnten militärischen Erfolge im Rahmen des Nordischen Krieges zu einem Fußfassen des Zarenreichs als Großmacht auf dem europäischen Diplomatieparkett, das gleichzeitig die internationale Bestätigung der neuen Position Russlands in seiner Selbstdefinition als Kaiserreich notwendig werden ließ. Diese »Integration« Russlands innerhalb des europäischen Mächtesystems machte eine Umstrukturierung der zaristischen Diplomatie nach europäischem Vorbild unumgänglich. Neben einem intensiven Ausbau ständiger Vertretungen in diversen europäischen und außereuropäischen Machtzentren und der Etablierung neuer diplomatischer Kader in den ersten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts manifestierte sich die Zentralisierung und Professionalisierung des Gesandtschaftswesens auch in der Schaffung eines Kollegiums für auswärtige Angelegenheiten im Jahre 1720. Im Rahmen dieses Strukturwandels kam es auch zu einer Anpassung an das westliche Gesandtschaftsrecht und -zeremoniell. So bedingte der Anschluss des Zarenreiches an das europäische Mächtesystem auch die Übernahme von westeuropäischen Herrschafts- und Verwaltungspraktiken sowie von (verbalen und nonverbalen) Kommunikationsregeln, insbesondere im Bereich der Diplomatie.146 Karl-Heinz Ziegler spricht in diesem Zusammenhang von einer »Erweiterung der Völkerrechtsgemeinschaft durch das Hinzutreten neuer Großmächte im 18. Jahrhundert«, wobei »der Eintritt Russlands in den Kreis der europäischen Großmächte […] ein echter Fortschritt war, da nunmehr die Selbstbeschränkung des Abendlandes aufgegeben war. Im Prinzip war nun die griechisch-orthodoxe Welt unauflöslich mit Europa verknüpft.«147 Das hier gewählte Bild der Erweiterung der Völkerrechtsgemeinschaft um Russland sowie dessen Eintritt in bzw. Verknüpfung mit Europa erweckt den Anschein, als hätte es zuvor keine Verbindungen zwischen dem Zarenreich und der »westlichen Welt« gegeben. Die nähere Betrachtung der russischen Diplomatiegeschichte zeigt jedoch, dass diese Beziehungen bereits im 16. und 17. Jahrhundert sehr intensiv gepflegt wurden. Die Frage, ob Russland tatsächlich erst mit seinem Aufstieg zur europäischen Großmacht im 18. Jahrhundert eine Aufnahme in die europäische Völkerrechtsgemeinschaft erreichte und sich damit an den westlichen Völkerrechtspraktiken zu orientieren begann, ist für die vorliegende Untersuchung von besonderem Interesse. Hierfür ist ein kurzer Exkurs in die frühneuzeitliche Geschichte des russischen Gesandtschaftswesens unabdingbar. Dieser soll in 146 Vgl. Duchhardt, Balance, 139–154; V.P. Potemkin (Hg.), Istorija Diplomatii. Tom Pervyj, Moskva 1941, 266–279; Dmitri Zakharine, Von Angesicht zu Angesicht. Der Wandel direkter Kommunikation in der ost- und westeuropäischen Neuzeit (Historische Kulturwissenschaft, Bd. 7), Konstanz 2005, 72–76. 147 Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 183.
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weiterer Folge zur Klärung der Frage beitragen, inwiefern das frühe 18. Jahrhundert einen Einschnitt in der Entwicklung der russischen Diplomatie und des diplomatischen Zeremoniells darstellte. Das Moskauer Reich entwickelte an der Schwelle vom 15. zum 16. Jahrhundert eine immer intensiver werdende außenpolitische Tätigkeit, die von Ivan III. (1462–1505) aufgenommen und unter seinen Nachfolgern Vasilij III. (1505–1533) und Ivan IV. (1547–1584) intensiviert wurde. Grundlage dieser zunehmenden außenpolitischen Tätigkeit war eine im betrachteten Zeitraum durch politische Einigung und Zentralisierung hervorgerufene innere Konsolidierung des Landes, die zur Schaffung eines Großreiches in Osteuropa führte. Diese neue Stellung Moskaus brachte bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts auch einen immer stärker werdenden diplomatischen Austausch mit fremden Machthabern mit sich, der in erster Linie auf gemeinsamen militärischen und wirtschaftlichen Interessen basierte. Gleichzeitig war damit auch die Frage der Stellung der Moskauer Herrscher innerhalb der Rangordnung der europäischen Souveräne verbunden. So waren bereits Ivan III. und Vasilij III. um eine Gleichstellung mit den übrigen Fürsten bemüht. Ivan IV. stellte diese im Jahre 1547 mit der Annahme des Zarentitels vor vollendete Tatsachen, was gerade den Unmut des römischen-deutschen Kaisers hervorrief. Der daraus resultierende Titeldiskurs ist demnach so alt wie die diplomatischen Beziehungen zwischen Moskau und den übrigen europäischen Staaten selbst. So spricht bereits diese Tatsache gegen die für das 18. Jahrhundert festgelegte Eingliederung des Zarenreiches in die europäische Völkerrechtsgemeinschaft. Eine ähnliche Bewandtnis hat es mit der Frage der Übernahme westlicher Völkerrechtspraktiken. So machte die Intensivierung der diplomatischen Kontakte des Moskauer Reiches die Ausarbeitung eines Gesandtschaftszeremoniells für Empfänge in Moskau notwendig. Hatte dieses am großfürstlichen Hof zunächst einen sehr informellen Charakter, so wurde es in weiterer Folge mit besonderem Pomp und Glanz versehen. Dabei griffen die Moskauer Machthaber einerseits auf Beobachtungen ihrer (anfangs vielfach aus dem Westen stammenden) Gesandten zurück. Gleichzeitig schöpfte man durch die Heranziehung byzantinischer Elemente zum Teil aus derselben Quelle wie die europäischen Höfe. In der weiteren Entwicklung nahm das ursprünglich aus einem gemeinsamen Wissensschatz stammende Zeremoniell am Moskauer Hof eine äußerst starre Form an, indem die außenpolitischen Akteure bei Empfängen im In- und Ausland die eigenen Gebräuche als unverhandelbares Nonplusultra erachteten. Die spezifisch moskowitische Etikette resultierte vor allem aus der diplomatischen Praxis, indem die Kontakte mit den unmittelbaren Nachbarn zunächst noch häufiger waren und man sich an den dort gültigen Normen orientierte.148 148 Vgl. Grabar’, Materialy, 1–12; Grabar, History, 1–14; Leonid Juzefovicˇ, Put’ posla.
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Die unterschiedlichen Einflüsse des moskowitischen Gesandtschaftszeremoniells werden auch anhand der Ergebnisse der bislang erschienenen Forschungsliteratur zu den frühneuzeitlichen Beziehungen zwischen dem Kaiser und dem Zaren deutlich. Darauf wies etwa Claudia Garnier in ihren Beiträgen über symbolische Kommunikationsformen bei Gesandtschaftsempfängen am russischen Hof vom 15. bis zum 17. Jahrhundert hin. Demnach verfügten die Gesandten des Kaisers ebenso wie jene des Großfürsten im Falle diverser Kommunikationssituationen über ein gemeinsames Zeichenrepertoire, das von beiden Seiten verstanden wurde. Gleichzeitig war das russische Gesandtschaftszeremoniell durch Einflüsse des diplomatischen Austausches mit an der östlichen Peripherie des Kontinents liegenden Ländern angereichert, die bei den westlichen Besuchern auf Unverständnis stießen. Diese Zwischenstellung zwischen Ost und West wird sehr schön anhand der Figur des sogenannten »Pristaven« deutlich, dessen Funktion eines Empfängers der fremden Gesandten an der Grenze des Reiches ursprünglich aus dem venezianischen Gesandtschaftszeremoniell stammte. Gleichzeitig fungierte er auch als »Kulturdolmetscher«, indem er die fremden Gäste über die spezifisch russischen und vielfach östlich beeinflussten Gebräuche aufklärte.149 Die anfängliche Flexibilität des Moskauer Hofs in Hinblick auf das Gesandtschaftszeremoniell zeigte Michail Bojcov in seinem Artikel über den Austausch der Gesandtschaften zwischen Maximilian I. und Vasilij III. im Jahre 1518. Demzufolge habe sich der Moskauer Hof hinsichtlich des Empfangs der kaiserlichen Gesandten und deren Unterbringung an jenen Gepflogenheiten orientiert, die zuvor den moskowitischen Gesandten bei ihrem Aufenthalt am Kaiserhof in Innsbruck entgegengebracht worden waren.150 Die zuvor angesprochene immer unflexibler werdende Haltung, welche aus der für die Moskauer Diplomatie obersten Maxime der Hochhaltung des Herrscheransehens resultierte, führte zu einer Reihe von interkulturellen Kommunikationsproblemen bei Gesandtschaftsempfängen im In- und Ausland. So stand etwa die Titelfrage dabei stets an erster Stelle. Das war zweifelsohne ein Russkij posol’skij obycˇaj. Obichod-Etiket-Ceremonial konec XV-pervaja polovina XVII v., Sankt-Peterburg 2011, 5–13 sowie 255; Boris Meissner, Die zaristische Diplomatie, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge 4/3 (1956), 237–245, hier : 237–241; Potemkin, Istorija, 196–203 sowie 235–236. 149 Vgl. Claudia Garnier, Die Macht der Zeichen – die Zeichen der Macht. Zur Bedeutung symbolischer Kommunikation in der Politik des Großfürstentums Moskau im ausgehenden 15. und 16. Jahrhundert, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge 3 (2007), 331–356; Claudia Garnier, »Wer meinen Herren ehrt, den ehre ich billig auch«. Symbolische Kommunikationsformen bei Gesandtenempfängen am Moskauer Hof im 16. und 17. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 7 (2005), 27–51. 150 Vgl. Michail A. Bojcov, Maximilian I. und sein Hof 1518 – von den russischen Gesandten her (nicht?) gesehen, in: Heinz Noflatscher et. al. (Hgg.), Maximilian I. (1459–1519). Wahrnehmung – Übersetzungen – Gender (Innsbrucker Historische Studien, Bd. 27), Innsbruck-Wien-Bozen 2011, 45–69.
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flächendeckendes Phänomen der frühneuzeitlichen europäischen Diplomatie, weshalb sich die fremden Machthaber und Gesandten nicht an der Behandlung dieses Problems an sich stießen, sondern vielmehr über die formale Starrköpfigkeit und Rohheit brüskiert waren, die die außenpolitischen Akteure Moskaus zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen über die Präzedenz an den Tag legten. Der Unterschied zwischen der westlichen und östlichen Diplomatie lag vielfach nicht an den geltenden Spielregeln, sondern am Charakter der Spieler. Einen qualitativen Unterschied hinsichtlich der Regeln bildeten allerdings die Instruktionen der moskowitischen Gesandten. Diese beinhalteten detaillierte Vorgaben über das Auftreten und die Wortmeldungen sowie die zeremonielle Inszenierung der Vertreter des Zaren, weshalb sogar uneingeschränkt bevollmächtigte Diplomaten nichts ohne vorherige Abstimmung mit dem heimischen Hof unternehmen durften. Daraus ergaben sich diverse Verständigungsprobleme. So durften die zarischen Gesandten keinerlei Gespräche vor der Antrittsaudienz führen und lehnten die im Westen üblichen vorangehenden Visitationen in der Regel ab. Überdies führte die Forderung nach einem exklusiven Empfang für die Moskauer Gesandten ohne Beteiligung anderer Diplomaten ebenso wie unterschiedliche Gewohnheiten beim Austausch der Grußformeln und Vollmachten immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten. Nicht minder problematisch gestalteten sich im 16. und 17. Jahrhundert die Empfänge ausländischer Vertreter in Moskau. Dabei waren die Machthaber um die Abschottung der fremden Gesandten vor der Antrittsaudienz bemüht, weshalb für deren Unterbringung in isolierten Unterkünften, ja mit Anfang des 17. Jahrhunderts gar in einem eigenen Gesandtschaftshof, gesorgt wurde. Auch die Einrichtung eines Verhandlungsraumes, der sogenannten »Otvetnaja Palata«, sicherte die Beschränkung des Informationsaustausches auf die dafür vorgesehenen offiziellen Gespräche. Wenngleich sich dieses Reglement im Laufe des 17. Jahrhunderts etwas lockerte, so traten die Moskauer Machthaber den fremden Gesandten auch weiterhin misstrauisch gegenüber. Doch auch diese Haltung ist kein genuin »russisches« Phänomen und war, wie an anderer Stelle bereits gezeigt wurde, in unterschiedlichen Abstufungen in ganz Europa verbreitet. Es ist besonders interessant, dass das aus den genannten Normkonflikten resultierende Barbarenimage der moskowitischen Diplomatie durch die Zeit der »Smuta«, also des Dynastiewechsels an der Schwelle vom 16. zum 17. Jahrhundert, noch verstärkt wurde. Führte die innerstaatliche Instabilität zunächst zu einer Disziplinlosigkeit und vielen Regelverstößen der Gesandten im Ausland, so brachte der Regierungsantritt der Romanovs eine konservative Wende mit sich, die sich in einer Besinnung auf die alten Traditionen – auch im Bereich des diplomatischen Zeremoniells – niederschlug.151 151 Vgl. Grabar, History, 5–11; Juzefovicˇ, Put’, 255–260; Potemkin, Istorija, 236–247.
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Die aus den unterschiedlichen Gebräuchen resultierenden interkulturellen Missverständnisse und Konflikte hinsichtlich des diplomatischen Zeremoniells wurden auch von der jüngeren Forschung über die diplomatischen Beziehungen zwischen Wien und Moskau in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts herausgearbeitet. Auf Basis dieser Studien lassen sich sozusagen die zeremoniellen Hauptkonfliktherde bei Gesandtschaftsempfängen an den im Zentrum der Untersuchung stehenden Höfen festmachen. Neben den bereits erwähnten Dauerstreitigkeiten um die Anrede und den Titel des Zaren waren dies Konflikte bei der Übergabe von Beglaubigungs- bzw. Antwortschreiben, bei denen die Moskauer Gepflogenheiten der direkten Übergabe aus der Hand des Souveräns jenen des Wiener Hofs entgegenstanden, wo dieser Akt durch ein Mitglied des Hofes erfolgte. Christoph Augustynowicz und Jan Hennings zeigten am Beispiel der an den Kaiserhof gerichteten russischen Gesandtschaften der Jahre 1687 und 1698, dass noch weitere zeremonielle Fragen der Audienz zu langwierigen Auseinandersetzungen führten. Dazu zählten etwa die Anzahl der vom Wiener Hof zur Verfügung gestellten Kutschen, die Frage der Abnahme der Kopfbedeckung beim Betreten des Empfangssaales, die Anzahl der Verbeugungen sowie das Warten auf die Audienz im Anti-Chambre. Iskra Schwarcz hingegen verdeutlichte am Beispiel der Empfänge kaiserlicher Gesandter am Moskauer Hof, dass die Untersagung der Mitnahme von Degen beim Antrittsbesuch für Unmut bei den Wiener Vertretern sorgte. Darüber hinaus zeigen die Untersuchungen über die Moskauer Gesandtschaften, dass die Gewohnheiten des Geschenksaustausches am Zarenhof immer wieder für Unverständnis bei den Beschenkten sorgten. Das betraf sowohl die Wahl der Geschenke sowie deren Übergabe – üblicherweise wurden sie dem Kaiser zu Füßen gelegt. Schließlich sorgte auch der Empfang der Gesandtschaft, genauer gesagt die Frage, wer als erster vom Pferd oder aus der Kutsche stieg, da wie dort für große Konflikte. Diese hatten mitunter lange Wartezeiten an der Reichsgrenze oder in der Residenzstadt zur Folge, da die Beteiligten beider Parteien im wahrsten Sinne des Wortes darum rangen, wer den ersten Schritt machen sollte.152 Nichtsdestotrotz trugen die Entwicklungen des Gesandtschaftswesens im 17. Jahrhundert auch zu einer Professionalisierung der Moskauer Diplomatie bei. So erlebte etwa die 1549 unter der Bezeichnung »Posol’skoe Delo« gegründete außenpolitische Institution am Moskauer Hof im Laufe des drauffolgenden Säkulums eine personelle und ressorttechnische Erweiterung. Hatte der 152 Vgl. Augustynowicz, Ablegations-negocien, 52–60; Jan Hennings, Pomp and Circumstance in Tsar Peter I’s Visit to Vienna in 1698, in: The International History Review 30/3 (2008), 515–544, hier 519–529; Iskra Schwarcz, Die kaiserlichen Gesandten und das diplomatische Zeremoniell am Moskauer Hof in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Ralph Kauz et al. (Hgg.), Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im mittleren Osten in der Frühen Neuzeit, Wien 2009, 265–286.
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spätere »Posol’skij Prikaz« in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts knapp unter 20 Mitarbeiter, so stieg diese Zahl bis 1689 auf 53 Personen an – zudem kamen noch 22 Übersetzer und 17 Dolmetscher hinzu. Abgesehen von außenpolitischen Angelegenheiten kümmerte sich diese Institution im Laufe des 17. Jahrhunderts etwa auch um alle im Moskauer Reich befindlichen Ausländer. Schließlich war die Gründung des »Prikaz Tajnych Del« (»Abteilung für Geheime Angelegenheiten«, oder kurz »Geheime Abteilung«) unter Zar Aleksej Michajlovicˇ (1645–1676) ein weiterer Schritt in Richtung einer Professionalisierung der Diplomatie, da sie die Kontrolle der moskowitischen Gesandten im Ausland vorsah. Insgesamt rückte gerade gegen Ende des 17. Jahrhunderts eine aktive Machtpolitik innerhalb des Kontinents immer mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit der außenpolitischen Entscheidungsträger. So verfolgte etwa Afanasij Lavrentevicˇ Ordyn-Nasˇcˇokin (1605–1680)153 als Leiter des »Posol’skij Prikaz« unter Zar Aleksej das Ziel des Zugangs nach Europa über die Ostsee, während unter seinem späteren Nachfolger Vasilij Vasilevicˇ Golicyn (1643–1714)154 der Zugang zum Schwarzen Meer immer mehr in den Blick der Moskauer Diplomatie rückte. Diese beiden außenpolitischen Ziele sollten schließlich zu den Hauptbestrebungen der russischen Diplomatie im 18. Jahrhundert werden. So begann sich das Zarenreich auch vermehrt für die inneren Angelegenheiten fremder Staaten zu interessieren, was etwa den Aufbau eines dichten Agentennetzes innerhalb des Osmanischen Reiches zur Folge hatte. Selbiges galt auch für die übrigen europäischen Staaten, die aufgrund der immer enger werdenden diplomatischen Beziehungen mit Moskau ständige Gesandtschaften im Zarenreich einrichteten, um wichtige Informationen über die inneren Vorgänge des Landes zu erlangen. Russland selbst richtete – abgesehen von einer ständigen Vertretung in Polen ab dem Jahre 1673 – erst Ende des Jahrhunderts dauerhafte Gesandtschaften im Ausland ein. Daraus erwuchs der moskowitischen Diplomatie auch ein Nachteil gegenüber den westlichen Staatsapparaten, da sie über vergleichsweise geringe Informationen über die jeweils anderen Staaten verfügte, wenngleich die zeitweiligen russischen Gesandtschaften bereits zuvor Berichte über die Vorgänge im Ausland an den »Posolskij Prikaz« übermittelt hatten.155 153 Afanasij Lavrentevicˇ Ordyn-Nasˇcˇokin war maßgeblich an der Herbeiführung des Friedens zwischen Polen-Litauen und Russland im Jahre 1667 beteiligt. Er leitete daraufhin den Posol’skij Prikaz in den Jahren 1667 bis 1671. Vgl. Ordyn-Nasˇcˇokin, Afanasij Lavrentevicˇ, in: Enciklopedicˇeskij Slovar’ Brokgauza i Efrona, Tom XXII: Opeka–Outsajder, SanktPeterburg 1897, 123–124. 154 Vasilij Vasilevicˇ Golicyn spielte eine führende politische Rolle in der siebenjährigen Regierungszeit von Sov’ja Alekseevna (1657–1704). In diesen Jahren von 1682 bis 1689 leitete er auch den Posol’skij Prikaz. Vgl. Golicyny, in: Enciklopedicˇeskij Slovar’ Brokgauza i Efrona, Tom IX: Goa–Graver, Sankt-Peterburg 1893, 47–48. 155 Vgl. Grabar’, Materialy, 27–33; Grabar, History, 26–32; Meissner, Diplomatie, 239–245;
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Es stellt sich nur die Frage, worin die maßgeblichen Veränderungen in der russischen Diplomatie des 18. Jahrhunderts lagen. Bei der näheren Untersuchung dieses Problems muss auf der soeben geschilderten Entwicklung des Gesandtschaftswesens im 17. Jahrhundert aufgebaut werden, um nicht einen auf West- und Mitteleuropa zentrierten Blick einzunehmen und die dortige Entwicklung des Gesandtschaftswesens als Maß aller Dinge anzusehen. Diese in den Geisteswissenschaften häufig eingenommene Sichtweise beruht auf der Annahme, dass Europa eine Pionierrolle in der frühneuzeitlichen Geschichte der Menschenrechte, der Gewaltenteilung, der Säkularisierung, des modernen wissenschaftlichen Denkens und der Entstehung moderner rationaler Staatsverwaltungen gespielt hätte.156 Eine derartige dem Fortschrittsdenken des 19. Jahrhundert entstammende Geisteshaltung legt den verlockenden Trugschluss nahe, wonach sich Russland durch von außen hervorgerufene innere Reformen zu einem in vielen Bereichen »besseren« Staat entwickelte hätte. Dieses teleologisch motivierte Gedankenkonstrukt, das die schrittweise Entwicklung Russlands zur europäischen Großmacht sozusagen als Vollendung seiner staatlichen Entwicklung voraussetzt, muss bei näherer Betrachtung der historischen Entwicklung jedoch kritisch und ambivalent betrachtet werden. Viele der scheinbar »heilbringenden« Neuerungen waren in erster Linie Ergebnisse der (außen)politischen Praxis und (wenn überhaupt) erst in zweiter Konsequenz das Resultat des Wunsches nach einer Übernahme westeuropäischer Vorbilder. So waren die eben geschilderten interkulturellen Kommunikationsprobleme im Austausch zwischen West und Ost natürlich auch ein Ergebnis der vergleichsweise unzureichenden Kenntnis der Interaktionspartner auf beiden Seiten. Während die moskowitische Diplomatie auf einem reichen Erfahrungsschatz im Umgang mit den unmittelbaren Nachbarstaaten zurückgreifen konnte – was sich etwa in der verhältnismäßig frühen Einrichtung einer ständigen Vertretung in Polen widerspiegelt – so war das Wissen über den Austausch mit weiter entfernten europäischen Ländern wesentlich geringer. Diese praktischen Rahmenbedingungen erklären den Umstand, dass die vorwiegend aus der Hocharistokratie stammenden moskowitischen Diplomaten des 17. Jahrhunderts zumeist in rein repräsentativer Funktion nur für kurze Zeit ins Ausland geschickt wurden und demnach auch keine besonderen Fremdsprachenkenntnisse aufzuweisen hatten. Vor allem die den gesamten Kontinent umspannenden großen kriegerischen Auseinandersetzungen in den ersten beiden Jahrzehnten Potemkin, Istorija, 226–233 sowie 247–250; Michael Schippan, Die Einrichtung der Kollegien in Russland zur Zeit Peters I. (Forschungen zur Osteuropäischen Geschichte, Bd. 51), Wiesbaden 1996, 92–94. 156 Vgl. Hartmut Kaelbe, Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte Westeuropas 1880–1980, München 1987, 17.
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des 18. Jahrhunderts führten zu einer bislang unbekannten Verdichtung der Kontakte zwischen Russland und den übrigen europäischen Mächten, was schließlich auch zu einer allmählichen Ausbreitung ständiger Vertretungen des Zarenreichs über ganz Europa führte. Dazu zählte auch jene, die im Jahre 1701 am kaiserlichen Hof in Wien eingerichtet wurde.157 Diese veränderten außenpolitischen Rahmenbedingungen erforderten die Etablierung neuer diplomatischer Kader unter Peter I. In der bisherigen Forschungsliteratur wurde diese Aufbauphase in zwei Etappen unterteilt, die in etwa jeweils eine Dekade in Anspruch nehmen sollten. So wurden im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts vor allem Abkömmlinge der russischen Aristokratie sowie von hohen Adelsfamilien als ständige Vertreter des Zaren eingesetzt, um einerseits mit den neuen Männern auch neue diplomatische Methoden einzuführen sowie anderseits das geringe (zeremonielle) Prestige der moskowitischen Diplomatie durch den Einsatz hochrangiger Gesandter auszugleichen. In dieser Phase schickte Peter I. auch eine 24-köpfige Delegation nach Venedig, sozusagen an die Wiege der frühneuzeitlichen Diplomatie, aus deren Reihen er vorerst einen Großteil der ständigen Vertreter rekrutierte und damit den Grundstein für die Schaffung einer neuen Gesandtengeneration legte. Zunächst versuchte er den Mangel an kompetenten diplomatischen Vertretern auszugleichen, indem er einige Köpfe der ersten Generation für über zehn Jahre an ein und demselben Hof arbeiten ließ. Im Laufe des folgenden Jahrzehnts wurde dann eine Reihe von Nachwuchsdiplomaten als Botschafts-Kavaliere ins Ausland geschickt, um fremde Sprachen zu erlernen sowie mit den europäischen Verhaltensnormen vertraut zu werden. Diese unterschieden sich von ihren Missionsleitern, welche in manchen Fällen gleichzeitig ihre leiblichen Väter waren, nicht nur durch eine breitere Fremdsprachenkenntnis, sondern auch hinsichtlich des Alters. Die vergleichsweise jungen Diplomaten der zweiten Generation entwickelten aufgrund ihrer Ausbildung auch ein stärkeres Selbstbewusstsein, da sie in ihrem Auftreten, Benehmen und Wissen den Gesandten anderer Fürsten nicht mehr unterlegen waren. Ungeachtet der schnell aufeinander folgenden Regierungswechsel nach dem Tode Peters I. lassen sich eindeutige Elitekontinuitäten im Bereich des diplomatischen Personals festmachen. So wurde auch das Petrinische Ausbildungssystem nach 1725 durch die Entsendung von jungen Adeligen als Gesandtschaftskavaliere an die ständigen russischen Missionen fortgesetzt. Um den neuen Gesandten im Ausland den nötigen Respekt zu verschaffen, waren der Zar und seine Nachfolgerinnen und Nachfolger daher um eine pedantische Einhaltung des Zeremoniells gegenüber ihren Vertretern besorgt. Peter I. selbst brachte den ausländischen Diplomaten vielfach jedoch nicht die 157 Vgl. Dan Altbauer, The Diplomats of Peter the Great, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge 28/1 (1980), 1–16, hier: 1–4.
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eingeforderte Korrektheit entgegen. So konnte sich auch der Reformator einerseits nicht ganz von den alten Gewohnheiten trennen, indem er sich etwa bei den Audienzen nicht an die im Westen üblichen Formalitäten hielt.158 Andererseits war dieses Verhalten zweifelsohne auch eine Folge der ablehnenden Haltung des Zaren gegenüber offiziellen Empfängen und den damit verbundenen Förmlichkeiten.159 Das geht mitunter aus dem Bericht des kaiserlichen Gesandten Stephan Graf Kinsky über die Antrittsaudienz bei Peter I. hervor. So hatten die Wiener Konferenzminister dem Ambassadeur in Vorbereitung seiner Gesandtschaft zunächst aufgetragen, dass er »[…] diesfalls die fußstapfen voriger kay[serlicher] abgesandten eintrette, welche in derley begebenheiten des Czars willen gefolget, nichts begehrt, und alles angenommen, jedoch dem kay[serlichen] ansehen nichts zuvergeben gesorget haben.«160 Peter I. entschloss sich schließlich für eine Privataudienz in seinem Gartenhaus, die offensichtlich nicht nur einen häuslichen, sondern auch spontanen Charakter hatte. »Eben disen tag schickte der czar[ische] groß canzler einen canzley bedienten zu mir, vermeldendt, daß ihre Czar[ische] May[estät] dem folgenden tag, als den 1tn huijus mir in ihrem garten haus eine privat audienz umb 6 uhr fruhe morgens geben, er mich aber durch seine barque und einen canzley bedienten hierzu abhollen lassen wolle; Dieses ist nun auch also verwichenen Mittwoch geschehen, und habe mich umb die bestimbte stundt mit Euer Kay[serlicher] May[estät] legat[ions] secretario meinen officieren, und bedienten zu wasser nach dem czar[ischen] garten-haus begeben, alldorten auch dem groß- und vice canzler in dem vorzimmer schon angetroffen, wohin auch meine officier von dem vice canzler berufen worden. Zu einer halben stundt aber ist Czar[ische] May [estät] welche von braunen duch, worauf der orden gestücket, bekleydet, und mit dem ritter-bandt umbgeben waren, an d[er] seite aber einen hirschfänger, so wie man selben zu tragen pfleget, hatten, in gesagtes vorzimmer heraus gekommen, welcher ich mich dan genäheret; Es haben aber dieselbe von selbsten beobachtet, daß dises zimmer zur audienz sich nicht schicke, mithin mir und denen ministern ein zeichen zu eintrettung des andern, wo ihro parade bett stehet, gegeben; […]«161
Dieses unkonventionelle Auftreten Peters I. gegenüber ausländischen Vertretern wird uns im Rahmen der näheren Betrachtungen der diplomatischen Beziehungen in den Jahren 1720 bis 1725 immer wieder begegnen. Damit liefert die vorliegende Untersuchung auch weitere Beweise für die in der bisher erschienen 158 Vgl. Altbauer, Diplomats, 4–14; Grabar’, Materialy, 43–53 sowie 89–93; Grabar, History, 43–53 sowie 87–91; Potemkin, Istorija, 266–277. 159 Vgl. Potemkin, Istorija, 276–277. 160 Gutachten der Ministerialkonferenz v. 24. April 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–1721, 36r. 161 Bericht Kinskys an Karl VI. vom 3. Oktober 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–1721, 201r–201v.
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Forschungsliteratur bereits mehrfach formulierte These über den informellen Charakter des Zaren.
1.2.7. Wissens- und Kulturtransfer durch die Intensivierung des diplomatischen Austausches Der soeben angeführte Auszug aus dem Bericht des Grafen Kinsky deutet darauf hin, welch hoher Stellenwert dem Zeremoniell am fremden Hof in den Gesandtschaftsberichten eingeräumt wurde. Das traf natürlich auch für die Relationen der russischen Gesandten zu. Einer der Hauptinformationskanäle hinsichtlich des europäischen Hofzeremoniells verlief über die neu eingerichteten ständigen Vertretungen des Zarenreichs im Ausland. Durch die Einrichtung derselben konnte im Laufe der ersten beiden Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts eine dichte Informationssammlung über die westlichen Verhaltensnormen angelegt werden. So gelangte über diese Kanäle etwa auch das Wissen über die Organisation der Hofstaaten in den verschiedenen europäischen Machtzentren nach Russland und stellte mitunter die Grundlage für die Aufstellung einer neuen Rangtabelle im Jahre 1722 dar, welche wohl zu den bekanntesten Reformen Peters I. zählte. Die vielfach auf Beobachtungen der Gesandten beruhenden Verzeichnisse der Dienstränge und Hofangestellten erweisen sich daher als eine wichtige normative Quelle über das russische Hofleben.162 Auf diesem Wege gerieten in den Jahren 1722 und 1723 etwa auch detaillierte Beschreibungen des Wiener Hofstaates nach Russland. Darin nahm der Langzeitgesandte des Zaren in Wien, Ludwig Lanczinski,163 detaillierte Beschreibungen der Hofstaaten des 162 Vgl. O.G. Ageeva, Evropejskie obrazcy i ceremonialy russkogo imperatorskogo dvora XVIII v., in: A.V. Golubev (Hg.), Rossija i mir glazami drug druga: Iz istorii vzaimodejstvija, Bd. 3, Moskva 2006, 249–269, hier: 250; O.G. Ageeva, Imperatorskij dvor Rossii, 1700–1796 gody, Moskva 2008, 12–15 sowie 65–66; Grabar’, Materialy, 53–86; Grabar, History, 53–86. 163 Ludwig Lanczinski († 1752) entstammte einer polnischen Adelsfamilie und zählte somit zu den Ausländern unter den russischen Diplomaten, die im Dienste Peters I. und seiner Nachfolgerinnen und Nachfolger Karriere machten. Lanczinski trat 1705 als Übersetzer des Spitzendiplomaten A. A. Matveev in russische Dienste ein und begleitete ihn bis 1715 an verschiedene europäische Höfe. Nach der Abberufung Matveevs aus Wien im Jahre 1715 blieb er erstmals als eigenständiger Vertreter des Zaren am kaiserlichen Hof zurück und wurde 1717 zum dortigen Gesandtschaftssekretär ernannt. Daraufhin diente Lanczinski unter anderem in Danzig und Berlin, ehe er im Jahre 1720 nach Wien zurückkehrte. Dort sollte er bis zu seinem Tod im Jahre 1752 verweilen. Seine Karriere war also eng mit dem Wiener Hof verbunden, weshalb sie stellenweise im Rahmen der vorliegenden Untersuchung Berücksichtigung finden wird. Gerade seine Tätigkeit in den 1720er-Jahren und seine Verdienste um das Zustandekommen des Bündnisses zwischen beiden Höfen im Jahre 1726 legten den Grundstein für seinen sozialen Aufstieg. So fielen seine Ernennung zum Kammerherrn (1724) sowie zum wirklichen Kammerherrn und außerordentlichen Gesandten
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Kaisers sowie der Kaiserin vor. Diese beinhalten nicht nur eine ausführliche Betrachtung der Aufgaben der höchsten Hofämter, sondern sie gehen in weiterer Folge auch auf die Organisation der zu ihnen gehörenden Personalstäbe und deren Zuständigkeitsbereiche ein. Schon aus dem Umfang dieser Berichte, die mitunter die zeremoniellen Funktionen und sonstigen Tätigkeitsbereiche des Oberst-Hofmeisters, Oberst-Kammerherrn, Oberst-Hofmarschalls, OberstStallmeisters, Oberst-Jägermeisters sowie der Oberst-Hofmeisterin, Kammerfräulein und Hofdamen bis ins kleinste Detail beschreiben, wird der Wissensdurst hinsichtlich des europäischen Zeremoniells deutlich, der mit Hilfe dieser Darstellungen gestillt werden sollte.164 Das traf etwa in besonderem Ausmaß auf die westlichen Trauergebräuche zu. So machte das immer dichter werdende intereuropäische und die verschiedenen Dynastien verbindende Verwandtschaftsgeflecht, in welches das Zarenreich durch Heiratsverbindungen mit deutschen Fürstenhöfen in den ersten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts erstmals verstrickt wurde, nicht nur die gegenseitige Benachrichtigung über Todesfälle in der Herrscherfamilie, sondern auch die Anpassung Russlands an das europäische Trauerzeremoniell notwendig. Dementsprechend wurden am russischen Hof genaue Aufzeichnungen darüber geführt, welche Form und welcher Zeitraum der Trauer anlässlich des Ablebens eines Abkömmlings der Romanov-Dynastie an den europäischen Höfen festgelegt wurden. Man schenkte dieser Frage umso größere Bedeutung, wenn der oder die Verstorbene verwandtschaftliche Beziehungen mit einem anderen Herrschergeschlecht aufweisen konnte.165 So hielten die Behörden des russischen Hofs fest, dass anlässlich des Ablebens des Neffen Karls VI. »im Jahre 1730 am kaiserlichen Hof für seine kaiserliche Majestät Peter den Zweiten eine dreimonatige166 […] Trauer«167 verordnet wurde. (1725) in den Untersuchungszeitraum der vorliegenden Studie. Vgl. Lancˇinskij, Ljudovik, in: Russkij Biograficˇeskij Slovar, Tom X: Labzina–Ljasˇenko, Sankt-Peterburg 1914, 74–75. 164 Vgl. Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Drevnich Aktov (künftig: RGADA), fond (künftig: f.) 156 [Istoricˇeskie ceremonial’nye dela], opis’ (künftig: op.) 1, delo (künftig: d.) 189 [Opisanie pridvornogo sˇtata avstrijskoj princessy], 1–12; RGADA, f. 156, op. 1, d. 193 [Opisanie pridvornych ˇstatov avstrijskogo dvora], 31–65. 165 Vgl. Ageeva, Obrazcy, 259–265; N.JU. Bolotina, Gramoty imperatora svjasˇcˇenoj rimskoj imperii Karla VI. russkomu carju Petru I. v sobranii RGADA, in: Vestnik Archivista 123/3 (2013), 245–261. 166 Diese dreimonatige Trauer entspricht jener Zeit, die im Rahmen der sogenannten »Kleinen Kammerklage« vorgesehen war. Diese Form der Trauer wurde am Wiener Hof bis zur Etablierung einer normierten Trauerordnung im Jahre 1746 im Falle des Todes eines Verwandten des Kaiserpaares ausgesprochen. Sie unterschied sich von der sechsmonatigen »Großen Kammerklage«, welche beim Ableben sämtlicher Erzherzöge und Erzherzoginnen, Kinder und Enkel sowie Schwager und Schwägerinnen, Stiefmütter, Schwiegereltern, Großeltern, Onkeln und Tanten des Souveräns verordnet wurde. Vgl. Michaela Kneidinger/Philipp Dittinger, Hoftrauer am Kaiserhof 1652 bis 1800, in: Irmgard Pangerl/ Martin Scheutz/Thomas Winkelbauer (Hgg.), Der Wiener Hof im Spiegel der Zere-
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Abgesehen von diesem Interesse für die Mitgefühlsbekundungen an den fremden Höfen, war gerade Peter I. um eine Umwandlung des russischen Trauerzeremoniells nach westlichem Vorbild bemüht. Dafür nützte er abermals die im Ausland befindlichen Diplomaten als Informanten über die europäischen Gebräuche. Diese setzte der Zar im Rahmen von Beisetzungen seiner Verwandten, Vertrauten und Freunde während der ersten beiden Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts schrittweise in die Tat um, wobei die Feierlichkeiten anlässlich des Todes des Reformators selbst den Kulminationspunkt hinsichtlich der Neuerungen des Trauerzeremoniells darstellten und als Vorbild für die Herrscherbegräbnisse im 18. und 19. Jahrhundert fungierten. Dafür ließ sich Peter I. noch zu Lebzeiten ausführliche Berichte seiner Diplomaten über die Gewohnheiten an den übrigen europäischen Höfen zukommen, weshalb nach seinem Tode im Jänner 1725 auch der Bericht des russischen Gesandten über die Trauerfeierlichkeiten des kurz zuvor verstorbenen Kurfürsten von Sachsen als Orientierungsrichtlinie der eigens eingesetzten Trauerkommission für die Gestaltung des Zarenbegräbnisses herangezogen wurde. Besonders deutlich wird die Europäisierung des Trauerzeremoniells am Beispiel des Leichenzuges des Zaren. Entgegen den alten Gepflogenheiten des Moskauer Hofs wurde die Prozession nach europäischem Vorbild, unter Einsatz von (berittenen) Furieren, geschmückten Pferden, Rittern in verschiedenen Rüstungen, Marschällen, Zeremonienmeistern, Herolden sowie Paukern und Trompetern und vielen anderen bislang ungebräuchlichen Elementen, durchgeführt.168 Dieses Ereignis erhielt daher besondere Aufmerksamkeit in den Berichten der fremden Gesandten, wie die weiteren Ausführungen noch zeigen werden. Der russische Hof dokumentierte derartige Veranstaltungen auch nach dem Tode Peters I. sehr ausführlich, weshalb zum Beispiel genaue Skizzen über die Marschordnung des Leichenzuges von Peter II. erhalten geblieben sind.169 Natürlich wurden die Informationskanäle der ständigen Gesandtschaften im Ausland auch nutzbar gemacht, wenn es um die Beschaffung von Wissen über das diplomatische Zeremoniell am jeweils anderen Hof ging. So wurde mit der Einrichtung ständiger Gesandtschaften an den europäischen Höfen erstmals der Frage des diplomatischen Ranges bzw. Charakters der russischen Vertreter große Bedeutung geschenkt. Genauer gesagt machte die Eingliederung der Dimonialprotokolle (1652–1800). Eine Annäherung (Forschungen zur Landeskunde von Niederösterreich, Bd. 31; Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte, Bd. 47), Innsbruck-Wien-Bozen 2007, 529–572, hier : 529–530. 167 RGADA, f. 156, op. 1, d. 123 [Vypiska o trauerach po Ich Imperatorskich Velicˇestvach Gos. Petr I., Gos. Ekaterina, Gos. Petr II. upotreblennych pri cˇuzˇestrannych dvorach], 1. 168 Vgl. Ageeva, Obrazcy, 259–265; Marina Logunova, Pecˇal’nye ritualy imperatorskoj Rossii, Moskva-Sankt-Peterburg 2011, 58–108. 169 Vgl. RGADA, f. 156, op. 1, d. 51 [Risunok ceremoniala pogrebenija Ego Imperatorskogo Velicˇestva Petra II 1730 g.].
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plomaten in die internationale Gemeinschaft des jeweiligen Hofes eine Auseinandersetzung mit dieser Problematik notwendig. Dementsprechend wandten sich die russischen Gesandten des frühen 18. Jahrhunderts vielfach mit der Bitte der Zuteilung eines diplomatischen Ranges an den Zaren, da dieser für den ständigen Austausch mit den örtlichen außenpolitischen Verantwortlichen sowie den übrigen ausländischen Vertretern unabdingbar war. Daraus resultierte auch die bereits mehrfach angesprochene zunehmende Sensibilität der russischen Machthaber für die Rechte und Privilegien ihrer Repräsentanten im fremden Machtzentrum. Aus deren Einbettung in das internationale Diplomatencorps des ausländischen Hofes resultierte auch die vermehrte Auseinandersetzung mit dem Gesandtschaftszeremoniell desselben. Im Gegensatz zu den moskowitischen Diplomaten des 16. und 17. Jahrhunderts, die das ihnen dargebrachte Verhalten ausschließlich an den Maßstäben des heimischen Hofes maßen, setzten sich die russischen Gesandten der gesamten ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit den Gebräuchen des gastgebenden Hofes auseinander. Dieses Interesse erwuchs allen voran aus rein praktischen Gründen. So machte die ständige Kommunikation im Rahmen der international zusammengesetzten Gemeinschaft nicht nur eine Übernahme von zeremoniellen Gewohnheiten bei Audienzen, Einzügen, Visiten und dergleichen mehr notwendig, sondern erforderte auch eine Angleichung der Ausstattung der Diplomaten, ihres Haushalts und Gefolges mit den dafür notwendigen Gebrauchsgegenständen. Diese Normen und Kulturgüter wurden allmählich auch am russischen Hof übernommen, wobei gerade unter den Nachfolgerinnen Peters I., Anna Ivanovna und Elizaveta Petrovna (1741–1761), auf die Einrichtung eines besonders prachtvollen Gesandtschaftszeremoniells geachtet wurde.170 Die Kodifizierung der aus diesem Wissenstransfer hervorgegangenen Normen erfolgte jedoch vergleichsweise spät. So wurden die Vertreter an den größeren europäischen Höfen im Jahre 1739 dazu aufgefordert, Berichte über das im Gastgeberland übliche Gesandtschaftszeremoniell an das heimische Machtzentrum zu übermitteln. Neben den russischen Gesandten am englischen, französischen und preußischen Hof schickte auch Ludwig Lanczinski im März 1739 eine äußerst detaillierte Beschreibung des diplomatischen Zeremoniells am Kaiserhof nach St. Petersburg. Ausgehend von einer kurzen Darstellung der üblicherweise für die ständigen Vertreter der verschiedenen Souveräne gewählten Ränge geht er in weiterer Folge mitunter auf die zeremoniellen Vorschriften für die Diplomaten bei folgenden Anlässen ein: Ankunft und Abreise, Visiten bei den kaiserlichen Ministern, Einzug der Gesandtschaften, Audienzen, 170 Vgl. O.G. Ageeva, Diplomaticˇeskij ceremonial imperatorskoj Rossii. XVIII vek, Moskva 2012, 118–176; Grabar’, Materialy, 57–69 sowie 96–101; Grabar, History, 56–68 sowie 93–98.
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gemeinsamer Kirchgang bzw. Kirchgang der kaiserlichen Familie, Tafelgesellschaften sowie Karneval, Gala-, Feier- und Sonntage bei Hofe, Konferenzen und Opernbesuche.171 Diese ausführlichen Darstellungen stellten unter anderem die Wissensbasis für das Projekt der Ausarbeitung eines Zeremoniells für ausländische Gesandte durch das Kollegium für auswärtige Angelegenheiten im Jahre 1744 dar. Wenngleich dieses Dokument erst nach dem im Zentrum der vorliegenden Studie stehenden Untersuchungszeitraum entstanden ist, so stellte es zweifelsohne das Ergebnis eines langjährigen Informationssammlungsprozesses dar. Gerade durch die darin vorgenommene Auszeichnung von Übereinstimmungen und Unterschieden zu den Gebräuchen an anderen Höfen stellt es für die vorliegende Arbeit einen besonderen Wissensschatz dar. Gleichzeitig lässt es wertvolle Rückschlüsse auf die Abläufe am russischen Hofe in den 1720er- und 1730er-Jahren zu, in denen offensichtlich noch keine normierten Vorgaben hinsichtlich des Gesandtschaftszeremoniells existierten.172 Das soeben angesprochene Kollegium für auswärtige Angelegenheiten (»Kollegija inostrannych del«) war das Ergebnis einer institutionellen Umstrukturierung des russischen Hofes am Beginn des 18. Jahrhunderts, die »[…] erstens die allgemeine Struktur des Hofes und seine prinzipielle Unterteilung betraf, zweitens den Kreis der Hofränge und -bediensteten erneuerte und deren Europäisierung hervorbrachte.«173 Davon war auch der »Posol’skij Prikaz« nicht ausgenommen, der den dargestellten Veränderungen in der russischen Außenpolitik und den daraus hervorgehenden institutionellen Anforderungen nicht mehr Rechnung tragen konnte. Die Anfang des 18. Jahrhunderts als »mobile« außenpolitische Institution gegründete Gesandtschaftskanzlei (»Psol’skaja kanceljarija«), auf die im Laufe der darauffolgenden Jahre nahezu alle Funktion desselben übergingen, erhielt 1716 eine kollegiale Organisationsstruktur nach schwedischem Vorbild. Dieses Prinzip wurde auch bei der Gründung des Kollegiums für auswärtige Angelegenheiten im Jahre 1720, das den »Prikaz« endgültig ersetzten sollte, beibehalten.174 »Im Falle einer wichtigen Angelegenheit […] ist die Anwesenheit der wirklichen geheimen Räte unabdingbar und jeder von ihnen muss seine Meinung schriftlich abgeben und seine Entscheidung anschließend begründen«,175 hielt Peter I. hinsichtlich der Aufgabenverteilung des 171 Vgl. RGADA, f. 156, op. 1, d. 210 [Opisanie posol’skogo ceremoniala avstrijskogo dvora], 1r–7v. Der gesamte Inhalt von Lanczinskis Beschreibungen wurde jüngst im Werk von Ageeva abgedruckt. Vgl. Ageeva, Ceremonial, 859–869. 172 Vgl. Ageeva, Ceremonial, 188–228; RGADA, f. 15 [Diplomaticˇeskij otdel], op. 1, d. 78 [Proekt ceremoniala dlja inostrannych poslov]. 173 Ageeva, Dvor, 19. 174 Vgl. Grabar’, Materialy, 43–53; Grabar, History, 43–53; Potemkin, Istorija, 272–273. 175 RGADA, f. 15, op. 1, d. 26 [Über die Aufgaben des Kollegiums für auswärtige Angelegenheiten], 2r.
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Präsidenten Gavriil Ivanovicˇ Golovkin (1660–1734)176 und des Vizepräsidenten Petr Pavlovicˇ Sˇafirov fest. Eine eher operative Funktion hatten die beiden Kanzleiräte, Andrej Ivanovicˇ Ostermann (1686–1747)177 und Vasilij Vasil’evicˇ Stepanov, die mit der konkreten Abwicklung der Außenpolitik beauftragt waren: »Ihre Aufgabe ist das Verfassen von Schriftstücken für ausländische Herrscher, von Reskripten, Resolutionen, Deklarationen und sonstiges für die Minister, welche einer hohen Geheimhaltung und Bedeutung unterliegen, sowie überdies das in Auftrag geben von Schriftstücken beim Expeditionssekretär und die Kontrolle der Briefe […].«178
Die angesprochene Geheimhaltung war auch ein bestimmender Grund für die Betrauung der genannten, vorwiegend russischstämmigen Vertrauten Peters I. mit den außenpolitischen Agenden. Bei wichtigen Entscheidungen wurden diesem Gremium anfänglich die erfahrenen Diplomaten Grigorij Fedorovicˇ Dolgorukov (1656–1723)179 und Petr Andreevicˇ Tolstoj (1645–1729)180 hinzu-
176 Gavriil Ivanovicˇ Golovkin leitete ab 1706 den Posol’skij Prikaz und wurde 1709 von Peter I. zum Staatskanzler ernannt. Diesen Titel behielt er bis zu seinem Tode im Jahre 1734. 1717 wurde Golovkin zum Präsidenten des Kollegiums für auswärtige Angelegenheiten ernannt. In den Jahren 1726 bis 1730 war Golovkin Mitglied des Obersten Geheimen Rates. Nachdem er im Jahre 1707 zum Grafen des Heiligen Römischen Reiches ernannt worden war, erhielt er 1710 auch den russischen Grafentitel. Vgl. Golovkin, Gavriil Ivanovicˇ, in: Enciklopedicˇeskij Slovar’ Brokgauza i Efrona, Tom IX: Goa–Graver, Sankt-Peterburg 1893, 72. 177 Andrej Ivanovicˇ (eigentlich Heinrich Johann Friedrich) Ostermann entstammte einer deutschen Pastorenfamilie und trat 1707 als Übersetzer des Posol’skij Prikaz in russische Dienste. Ostermann war maßgeblich an der Aushandlung des Friedens von Nystad 1721 beteiligt und wurde dafür zum Baron ernannt. 1723 wurde Ostermann zum Vizepräsidenten des Kollegiums für auswärtige Angelegenheiten ernannt. In den Jahren 1725 bis 1741 fungierte er als russischer Vizekanzler. In dieser Funktion wurde er 1726 zum Mitglied des Obersten Geheimen Rates ernannt und übte überdies in den Jahren 1727 bis 1730 die Funktion des Erziehers von Peter II. aus. Vgl. Osterman, Genrich Iogann ili Andrej Ivanovicˇ, in: Enciklopedicˇeskij Slovar’ Brokgauza i Efrona, Tom XXII: Opeka–Outsajder, Sankt-Peterburg 1897, 336–337. 178 RGADA, f. 15, op. 1, d. 26, 2r. 179 Grigorij Fedorovicˇ Dolgorukov zählte zu den bedeutendsten russischen Diplomaten der Regierungszeit Peters I. und machte sich in den ersten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts vor allem als Langzeitgesandter des Zaren in Polen verdient. Vgl. Dolgorukov, Grigorij Fedorovicˇ, in: Russkij Biograficˇeskij Slovar, Tom VI: Dabelov-Djad’kovskij, SanktPeterburg 1905, 531–532. 180 Petr Andreevicˇ Tolstoj zählte ebenso zu den wichtigsten russischen Diplomaten in den ersten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts. Aufgrund seiner langjährigen Erfahrung wurde er von Peter I. als diplomatischer Vertreter im Konflikt um den geflohenen Zarensohn Aleksej Petrovicˇ eingesetzt. Diese Mission sollte sein Verhältnis zum Wiener Hof nachhaltig beeinflussen, wie in der vorliegenden Arbeit noch ausführlich gezeigt werden wird. Nach dem Tod Peters I. trat Tolstoj für die Regierung Katharinas I. ein und wurde 1726 als Mitglied in den Obersten Geheimen Rat berufen. 1727 wurde er auf Betreiben von Aleksandr Danilovicˇ Mensˇikov unter Arrest gestellt und verbannt. Vgl. Tolstoj, Petr An-
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Der Handlungsspielraum der Akteure
gezogen. So konnte der Zar die häufig in seiner Anwesenheit stattfindenden Kollegiumssitzungen auf einen ausgewählten Kreis von Eingeweihten beschränken. Gleichzeitig wurde die Hinzuziehung zu derartigen Versammlungen von der Beschaffenheit der Angelegenheit abhängig gemacht, was dem angestrebten kollegialen Charakter der Institution widersprach.181 Die bereits erwähnten Expeditionssekretäre waren sozusagen die Nachfolger der im Posol’skij Prikaz tätigen höheren Beamten (»Starsˇie Pod’jacˇie«), denen jeweils eine für den Austausch mit bestimmten Staaten vorgesehene Abteilung (»Povyt’e«) unterstellt war. Bis Ende des 17. Jahrhunderts war die erste von insgesamt fünf Sektionen für den Austausch mit dem Heiligen Römischen Reich, dem Papst, Frankreich, Spanien und England sowie für dynastische Fragen zuständig.182 Diese einzelnen Ressorts wurden im Rahmen des Kollegiums für auswärtige Angelegenheiten auf vier sogenannte Expeditionen reduziert, deren leitende Sekretäre und weitere Mitarbeiter folgende Wirkungsbereiche hatten: russische Expedition, Expedition für ausländische Sprachen (in erster Linie europäische Sprachen), polnische Expedition und Expedition für östliche Sprachen. Die im Zentrum der Untersuchung stehenden kaiserlichen Gesandten kamen vor allem mit den ersten beiden Abteilungen in Verbindung. So war die russische Expedition neben der Durchführung und Verwaltung der Korrespondenz mit den an fremden Höfen befindlichen russischen Gesandten unter anderem auch mit der Aufnahme der ausländischen Diplomaten beauftragt. Die Expedition für ausländische Sprachen hingegen kümmerte sich um alle eingehenden fremdsprachigen Schriftstücke und war zudem mit der Abwicklung und Protokollierung von Konferenzen mit den fremden Ministern betraut. Abgesehen von diesen einzelnen Unterabteilungen waren im neu gegründeten Kollegium neben einem Registrator für die ein- und ausgehende Korrespondenz sowie Kanzelaristen und Kopisten auch ein Archivar, ein Historiker und ein Beauftragter für die Informationsweitergabe an die inländischen Minister und die Zeitungen tätig. Durch die kollegiale Zusammensetzung dieser Institution, die sowohl intern als auch mit anderen Administrationseinheiten verstrickt war, sollte die Effizienz der außenpolitischen Verwaltung gesteigert werden.183 Damit orientierte sich Peter I. zweifelsohne an westlichen Strukturen, weshalb die Umstrukturierung der außenpolitischen Institutionen als Beispiel für die von Dmitri Zakharine angesprochene Aneignung von Verwaltungspraktiken herangezogen werden kann. Gerade die Einrichtung der Expeditionen und die strenge Abgrenzung ihrer Tätigkeitsbereiche hatten der Zar und seine Beaufdreevicˇ, in: Enciklopedicˇeskij Slovar’ Brokgauza i Efrona, Tom XXXIII: Termicˇeskie osˇcˇusˇcˇenija–Tombazi, Sankt-Peterburg 1901, 457–458. 181 Vgl. Schippan, Einrichtung, 96–97. 182 Vgl. Meissner, Diplomatie, 242–243. 183 Vgl. RGADA, f. 15, op. 1, d. 26, 4r–12r ; Schippan, Einrichtung, 97–101.
Die Vielfalt der Struktur
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tragten aus der schwedischen Verwaltungspraxis übernommen, da er eine Anpassung der russischen Institutionen an die schwedischen Vorbilder verlangte. Insgesamt legte die Schaffung des Kollegiums für auswärtige Angelegenheiten den Grundstein für die Herausbildung von Berufsdiplomaten als neue Staatsdiener. Das wird unter anderem dadurch deutlich, dass im Lauf des 18. Jahrhunderts vorwiegend russischstämmige Adelige ihre Tätigkeit im Kollegium oder im diplomatischen Dienst aufnahmen. Darüber hinaus entwickelte sich diese Institution zu einem Auskunftszentrum der russischen Administration, in dem Staatsverträge, Materialien über ausländische Behörden sowie Rang- und Zeremoniellordnungen gesammelt wurden.184 So sind die soeben skizzierten institutionellen Veränderungen ein weiterer Beweis für die These, dass die europaweit stattfindende Professionalisierung des Gesandtschaftswesens auch in Russland forciert wurde. Wollen wir am Ende dieses Abschnitts über die normativen und institutionellen Rahmenbedingungen der frühneuzeitlichen Diplomatie bei Zakharine verweilen, der sich intensiv mit der Frage des kulturellen Imports von Verhaltensmustern im Bereich der direkten Kommunikation von West- nach Osteuropa beschäftigt hat. Er beschreibt diesen als dreigliedrigen Prozess: Nach der Herauslösung der verbalen und nonverbalen Zeichen aus ihrem ursprünglichen bedeutungszuweisenden Kontext werden diese in einen anderen Zusammenhang von Lizenzen und Tabus übertragen, ehe die Wiederherstellung einer ursprünglichen Elementkette in einem neuen Rahmen erfolgt oder nicht erfolgt. Dementsprechend kann eine Fortführung von Normen in der Theorie ausschließlich durch die Reproduktion von Zeichencodes erfolgen. In der Praxis verblieben die importierten Phänomene jedoch lange Zeit auf der Ebene von schematischen Abbildungen oder sogar sprachlichen Bezeichnungen. Aus diesem Grund muss bei der Betrachtung derartiger Prozesse zunächst darauf geachtet werden, ob es sich um Reproduktionen handelt, bei denen die Zeichenstruktur erhalten bleibt und mit allen signifikanten Details abgebildet wird. Diese Idealsituation ist dann gegeben, wenn das Zeichen seine Struktur trotz der Übertragung von einem kulturellen Kontext auf den anderen unverändert beibehält. Vielfach sind wir jedoch mit schematischen Reproduktionen konfrontiert, die von den Einzelheiten des Objekts abstrahieren, eine geringe Ikonizität
184 Vgl. Maria Petrova, Diplomatische Vertreter Russlands im Heiligen Römischen Reich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: politische und kulturelle Tätigkeit, in: Gunda Barth-Scalmani/Harriet Rudolph/Christian Steppan (Hgg.), Politische Kommunikation zwischen Imperien. Der diplomatische Aktionsraum Südost- und Osteuropa (Innsbrucker Historische Studien, Bd. 29), Innsbruck-Wien-Bozen 2013, 179–192; Schippan, Einrichtung, 95 sowie 101.
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Der Handlungsspielraum der Akteure
aufweisen und somit eine schablonenhafte Nachahmung des Verhaltensmusters darstellen.185 Die vorliegende Studie liefert somit auch einen Beitrag zur Klärung dieser Frage im konkreten Fall der kulturellen Übertragungsprozesse auf dem diplomatischen Parkett der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die für eine derartige Betrachtung notwendigen und in diesem Kapitel skizzierten normativen Rahmenbedingungen, welche sich aus der genannten gesandtschafts-, völker- und zeremonialrechtlichen Literatur erschließen lassen, stellen somit die theoretischen Verhaltensrichtlinien dar, die einerseits am Beispiel der Kommunikation zwischen den beiden Kaiserhöfen näher exemplifiziert sowie andererseits mit der konkreten Interaktion zwischen den diplomatischen Akteuren kontrastiert werden sollen. Damit fügt sich die Untersuchung hervorragend in die übergeordneten Fragestellungen des Internationalen Graduiertenkollegs ein. So gehen die in diesem Forschungsverbund vereinigten Wissenschafter davon aus, dass in jeder Epoche, durch jede historische Gruppe bestimmte Normen entwickelt, definiert und weitergetragen werden. Durch die darüber stattfindende Verständigung sowie die daraus resultierende Verteidigung gegenüber anderen, gegenüber veränderten Zeitumständen sowie gegen eine schleichende Vermischung entsteht politische Kommunikation über diese Normen. Aus diesem Grund sollen innerhalb des Internationalen Graduiertenkollegs Eigenheiten dieser Normbegriffe durch chronologisch, regional oder eben durch national vergleichende Einzelstudien wie die vorliegende Arbeit herausgearbeitet werden.186
1.3. Die Vielfalt der Quellen und die daraus erschließbaren Kommunikationsräume und Begriffsbestimmungen 1.3.1. Die Akteure in ihren Netzwerken Am Beginn dieser Ausführungen über die Kommunikationsräume der Gesandten soll zunächst das im ersten Teil angesprochene Denken in Operationsketten wieder aufgegriffen werden. So führten die intensiven Reflexionen über die Figur des Dritten in den verschiedensten Fachdisziplinen zu einer Anknüpfung an jene theoretischen Ansätze, die die Vermittlung zwischen Akteuren als Ausgangspunkt jedes Netzwerkes voraussetzen. Wollen wir uns daher zunächst in Erinnerung 185 Vgl. Zakharine, Angesicht, 41–42 sowie 74. 186 Vgl. Luise Schorn-Schütte, Fortsetzungsantrag für die 2. Förderungsphase des Internationalen Graduiertenkollegs 1067 »Politische Kommunikation von der Antike bis ins 20. Jahrhundert«, Frankfurt am Main 2008, 19.
Die Vielfalt der Quellen
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rufen, welche Position der bereits charakterisierte ideale Bote innerhalb der gemeinsam mit seinem Absender und Empfänger bildenden Dreierkonstellation einnimmt. Wie im ersten Teil angesprochen, kann er als Kippfigur und Vermittler zwischen heterogenen Welten weder der einen noch der anderen Seite zugerechnet werden. Aus der seiner Rolle eingeschriebenen Fremdbestimmung sowie beziehungsstiftenden Funktion und der daraus resultierenden Janusköpfigkeit im Vermittlungsprozess ergibt sich die Frage nach der im Idealfall gegebenen Heterogenität und Neutralität des Boten bei der Nachrichtenüberbringung. Dementsprechend wird durch diese Figur die Unterscheidung zwischen treuem und verzerrtem Botendienst erst möglich. Als Figuration des Dritten im Kommunikationsprozess stellt er das Medium und damit auch die potenzielle Bruchstelle desselben dar. Beim Denken in Akteur-Netzwerken gerät genau diese Dreierkonstellation in den Blick. Dementsprechend beginnt sich ein Netzwerk zu formen, wenn drei Akteure durch Vermittlung zusammengeschlossen werden und das Medium seine Vermittlungsfunktion aufnimmt.187 Die Hinwendung zu diesen dreigliedrigen Netzwerken stellte das Resultat eines Perspektivenwechsels in der Wissenschaftstheorie dar. Dadurch stand nicht mehr die Frage im Vordergrund, was Wissenschaft und Technik eigentlich sind, sondern wie sie funktionieren, welchen Zweck sie erfüllen und welche gesellschaftlichen Subsysteme sie verkörpern. Dieses Umdenken brachte eine Auflösung der in der Moderne vorherrschenden Überzeugung einer Trennung von Technik/Natur und Gesellschaft und der daraus resultierenden Vorstellung einer entweder von der Technik oder vom Menschen determinierten Welt. So ging die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) von der Erklärung rein sozialer oder materiell-technischer Erscheinungen ab und wandte sich der Beschreibung heterogener Netzwerke auf Basis empirischer Beobachtungen zu. Demzufolge seien Zeichen, Menschen, Institutionen, Normen, Theorien, Artefakte und dergleichen mehr techno-soziale-semiotische Mischwesen, die sich in dauernd verändernden Netzwerken selbst organisieren. Wenn sich also Akteure darin einfügen, kommt es zu Relationen, Verbindungen und Prozessen verschiedener Art, die eingegangen, aufgelöst, fixiert und transformiert werden. Ein AkteurNetzwerk beruht demzufolge auf mindestens drei theoretischen Dimensionen: der Akteurs-, der Netzwerks- und der Prozessebene.188 Wenngleich diese Überlegungen weit über die im Zentrum der vorliegenden Untersuchung stehenden Fragen hinausgehen, so erweisen sich die näheren Charakterisierungen dieser Netzwerke als wertvolles Erklärungsmodell für jenes 187 Vgl. Zons, Bote, 163–165. 188 Vgl. Andr¦a Belliger/David J. Krieger, Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, in: Andr¦a Belliger/David J. Krieger (Hgg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, 13–50, hier : 17–22.
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dreigliedrige Beziehungsgeflecht, in dem die Gesandten ihre Vermittlungstätigkeit wahrnehmen. Ausgehend von Luhmanns Verständnis des Sozialen als Kommunikation und damit als Selektionsprozess der Information, der Mitteilung sowie des Verstehens weicht die ANT von dieser systemtheoretischen Definition ab. Aus der Perspektive der Wissenschaftsforschung und des daraus resultierenden Blicks auf die Welt als Labor geht sie ganz allgemein davon aus, dass jeder Akteur eine Reihe von Prüfungen in Form bestimmter Leistungen im Sinne einer Performanz absolvieren muss. Das Soziale wird demnach als Inszenieren und Bestehen von Prüfungen, als Bestehen von Versuch und Irrtum verstanden und als sogenanntes Handlungsprogramm bezeichnet. Akteure treten demnach im Rahmen von Funktionszusammenhängen in Erscheinung, die eine konkrete Bedingung oder Situation voraussetzen und für das entsprechende Agieren derselben ausschlaggebend sind. Im Rahmen dieses Handlungsprogramms bekommen die Akteure bestimmte Rollen zugewiesen, wobei dieser Vorgang bezeichnenderweise Übersetzung genannt wird. Dahinter verbirgt sich ein komplexer, aus einer Reihe von kommunikativen Akten resultierender Prozess, der letztlich dem Zweck der Schaffung eines Netzwerks dient. An die Stelle des sich bei Luhmann durch eine Verkettung von Kommunikationen selbst produzierenden und reproduzierenden Systems tritt die Netzwerkbildung. Netzwerke entstehen durch die Interaktionen, Transaktionen, Aushandlungen und Vermittlungen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren, wobei sie im Rahmen dieses Prozesses nicht nur bestimmte Rollen und Funktionen annehmen, sondern auch in unterschiedlichen Handlungsprogrammen eingebunden sind. Kommunikation zwischen den Akteuren kann demnach als Aushandeln eines Interessensausgleiches verstanden werden. Die dabei stattfindenden Übersetzungen stellen den dauernden Versuch der Einbindung derselben in ein Netzwerk dar, indem bestimmte Rollen und Interessen auf sie im wahrsten Sinne des Wortes übersetzt bzw. übertragen werden. Sie beinhalten all das, was ein Akteur tut, um einen anderen Akteur in sein Handlungsprogramm einzubinden. Dadurch entstehen Identitäten, Eigenschaften, Kompetenzen, Qualifikationen, Verhaltensweisen, Institutionen, Strukturen und dergleichen mehr, die für die Aufrechterhaltung des Netzwerks notwendig sind. Übersetzungen sind das Ergebnis einer Multilateralität oder Gegenseitigkeit und nicht von intentionalen Strategien eines individuellen Subjekts. Jeder Akteur und jedes Netzwerk selbst ist damit das Resultat von solchen Translationen.189 Im Rahmen dieser Übersetzungen kommt der Gesandte als Vermittler ins Spiel. Wollen wir daher die soeben dargestellte graue Theorie anhand einer näheren Beschreibung der einzelnen Phasen dieses Vorgangs und anhand ent189 Vgl. Belliger/Krieger, Einführung, 37–39.
Die Vielfalt der Quellen
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sprechender Beispiele aus dem kaiserlichen Gesandtschaftswesen erhellen. Der Kommunikationsprozess der Übersetzung wird von der ANT in vier multilaterale und mehrstufige Momente eingeteilt. So setzt die Netzwerkbildung das Vorhandensein eines Problems voraus, da jede Form des Handelns die Lösung eines solchen zum Ziel hat. Mit dem Bewusstsein dafür ist es jedoch noch nicht getan. Das Problem muss von allen Seiten als solches wahrgenommen werden, was in weiterer Konsequenz ein kooperatives Handeln bei der Definition und Deutung desselben ermöglicht. Der übersetzende Akteur definiert es auf eine Art und Weise, dass es von den anderen als ihr eigenes Anliegen wahrgenommen wird, und benutzt alle möglichen Mittel, um die Übrigen von einer gemeinsamen Lösung zu überzeugen. Damit trifft er eine Identifizierung der übrigen Akteure und ermöglicht deren Integration in das entstehende Netzwerk, um sie schließlich von der in seinem Handlungsprogramm vorhandenen Entscheidung ihres Problems zu überzeugen.190 Im Prinzip ließe sich diese erste Phase auf jeden beliebigen Kommunikationsprozess im diplomatischen Diskurs übertragen, was den methodischen Mehrwert für die vorliegende Fragestellung bereits erkennen lässt. Wollen wir diesen ersten Schritt jedoch anhand eines konkreten Beispiels aus den Beziehungen zwischen Wien und St. Petersburg/ Moskau illustrieren, das in den weiterführenden Betrachtungen der vorliegenden Untersuchung noch eine umfassende Darstellung erfahren wird. Dafür kehren wir an den Beginn des vorangegangenen Kapitels zurück, genauer gesagt in die zwischen beiden Höfen herrschende Phase der diplomatischen Eiszeit der Jahre 1721 bis 1725. Diese Epoche der eingefrorenen Beziehungen wurde durch die Annahme des Imperatorentitels durch Peter I. eingeleitet, welche nicht nur den Abzug des hochrangigen am russischen Hof befindlichen kaiserlichen Botschafters Graf von Kinsky und damit den Abbruch der kurz zuvor aufgenommenen Bündnisverhandlungen, sondern auch die Einstellung des Briefwechsels zwischen den beiden Souveränen zur Folge hatte. Die internationale politische Lage Mitte der 1720er-Jahre machte schließlich eine Annäherung der beiden politischen Akteure vor allem aus Sicht des Wiener Hofes immer dringlicher, da dieser sich aufgrund des unter den europäischen Machthabern herrschenden Kräfteverhältnisses zunehmend in eine politische Isolierung manövrierte. Der Kaiser und seine außenpolitischen Verantwortlichen waren daher bemüht, am russischen Hof ein Bewusstsein für dieses Problem zu schaffen und diesen von einer möglichen Lösung desselben zu überzeugen. Dies gelang zunächst durch Vermittlung über die in Wien und St. Petersburg/Moskau verbliebenen niederrangigen Gesandten – sie waren seit
190 Vgl. Belliger/Krieger, Einführung, 40.
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dem Einfrieren der diplomatischen Beziehungen sozusagen als Informanten und Kommunikanten am jeweils anderen Hof zurückgelassen worden.191 Die nähere Betrachtung der zweiten und dritten Phase des Übersetzungsprozesses liefert uns ein wertvolles theoretisches Modell für die weitere Analyse des Fallbeispiels. Im Zuge des als »Interessement« bezeichneten zweiten Übersetzungsstadiums geht es um die Frage, wer welche Schritte zur Lösung des Problems einleitet. Im Rahmen dieses kooperativen Akts geht es um die Rollenverteilung. Dabei versucht jener Akteur, dessen Handlungsprogramm und Beschreibungsperspektive gewählt wurde, Identitäten, Rollen und Funktionen für sich und die anderen zur Geltung zu bringen. Die anderen sollen im Idealfall die neue Rollenzuschreibung in Betracht ziehen und die damit verbundenen Aufgaben akzeptieren. Sie werden damit in ein neues Netzwerk eingebunden, was gleichzeitig eine Verschiebung oder Ersetzung des alten zur Folge hat. Ziel dieses Interessensausgleiches ist, die Akteure zu Verbündeten zusammenzuschließen. Auf diesen Schritt folgt die sogenannte »Enrolement-Phase«, in der die zugeschriebenen Rollen übernommen und damit die Voraussetzungen für eine Allianz geschaffen werden. Die Akteure werden von Opponenten zu Verbündeten und handeln im Sinne des übersetzenden Parts. Die erfolgreiche Schaffung eines Netzwerks hängt jedoch von der Gegenseitigkeit dieses Prozesses ab, indem alle Beteiligten ihre neuen Rollen übernehmen. Somit stellt diese Phase einen Transformationsvorgang dar, der alle Akteure des Beziehungsgeflechts betrifft.192 In unserem konkreten Beispiel aus den zwischenstaatlichen Beziehungen spiegelt sich das »Interessement« in der weiteren Vorgehensweise der Verantwortlichen des Wiener Hofes bei der Lösung der Titelstreitigkeiten wider. Den außenpolitisch Verantwortlichen war bewusst, dass für den Abschluss eines Bündnisses mit Russland eine Beilegung dieses Konflikts notwendig war. Der Kaiser und seine Konferenzminister als übersetzende Akteure nahmen im Rahmen eines Gutachtens eine klare Rollenverteilung der beiden Souveräne für eine mögliche Wiederaufnahme der Herrscherkommunikation vor. Karl VI. sollte sich demnach in seinen Briefen unter Verwendung seines Kurztitels an191 Vgl. dazu überblicksartig einen bereits veröffentlichten Beitrag des Autors über diese Annäherungsphase: Christian Steppan, Kaiserliche Gesandte und ihre Annäherungspolitik durch die Kraft der Gesten. Der symbolische Startschuss zum österreichisch-russischen Bündnis von 1726, in: Gunda Barth-Scalmani u. a. (Hgg.), Forschungswerkstatt: Die Habsburgermonarchie im 18. Jahrhundert/Research Workshop: The Habsburg Monarchy in the 18th Century (Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts, Bd. 26), Bochum 2012, 27–41, hier : 33–36; Siehe dazu ausführlich: Kap. 3.1.1. »Der Kompromiss in der Titelfrage – Grundlage für die Kommunikation zwischen den Herrschern und die Absendung des hochrangigen kaiserlichen Gesandten Amadeus Graf Rabutin nach Russland«. 192 Vgl. Belliger/Krieger, Einführung, 40–41.
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stelle der bisher gebräuchlichen Langform desselben sowie in Form von Handschreiben als Zeichen der besonderen Wertschätzung und der Ebenbürtigkeit an die neue Machthaberin Katharina I. wenden. Dafür garantierte ihm die russische Herrscherin, dass weder sie noch einer ihrer Nachfolger jemals den Imperatorentitel in einem an den Kaiser gerichteten Schriftstück führen würde. Die im Zuge des »Enrolements« notwendige Übernahme der neuen durch diesen Kompromiss zugeschriebenen Rollen wird anhand des ersten Briefwechsels zwischen Karl VI. und Katharina I. im Oktober 1725 deutlich, in dem sich beide Seiten an die bezüglich der gegenseitigen Titulierung getroffenen Abmachungen hielten.193 Die Akteure wurden damit von Opponenten zu Verbündeten in dieser konkreten Frage der Herrscherkorrespondenz und sollten diese neu gewonnene Einigkeit in weiterer Folge auch durch ein Bündnis bestätigen. Diesem Schritt ging jedoch eine vierte, entscheidende Phase des Übersetzungsprozesses voraus. Im Rahmen der sogenannten Mobilisierung treten die Akteure durch das Austauschen von Zeichen, Dingen, Rollen, Interessen und dergleichen mehr in Transaktion. Als Vermittler bzw. Vermittlungsinstanzen tritt all jenes in Erscheinung, was die beiden Seiten untereinander austauschen. Sie stellen sozusagen die Sprache des Netzwerkes dar. So übersetzen die Akteure durch Vermittlungsinstanzen ihre Intention auf den jeweils anderen. Diese können daher als Vertreter, Fürsprecher oder Delegierte bezeichnet werden. Die Absendung von Vermittlern, die Ausstattung derselben mit Information und ihre Verteilung und Stabilisierung im Netzwerk werden daher als Mobilisierung bezeichnet. Akteure bilden demnach Netzwerke, indem sie Vermittlungsinstanzen untereinander derart austauschen, dass ihre eigene Position innerhalb des Beziehungsgeflechts gestärkt wird. Dieses kann also erst dann entstehen, wenn Entitäten geschaffen und mobilisiert werden, die als Sprecher oder Delegierte für andere agieren.194 In unserem Fallbeispiel wird diese Phase der Mobilisierung anhand der aus dem Titelvergleich resultierenden Absendung des Botschafters Graf von Rabutin deutlich, die am russischen Hof nicht nur die bereits erwähnten Begeisterungsstürme unter den Befürwortern eines Bündnisses mit dem Kaiser hervorrief, sondern alle politischen Beobachter über die Möglichkeit einer Allianz zwischen Wien und St. Petersburg spekulieren ließ. Durch die Absendung des Ambassadeurs kam tatsächlich Bewegung in die Annäherung der beiden Akteure, die sich entlang der allgemeinen Merkmale dieser Mobilisierungsphase erklären lässt. Mit der Entsendung eines hochrangigen Delegierten, der von den 193 Vgl. Steppan, Gesandte, 36–38; Siehe dazu ausführlich: Kap. 3.1.1. »Der Kompromiss in der Titelfrage – Grundlage für die Kommunikation zwischen den Herrschern und die Absendung des hochrangigen kaiserlichen Gesandten Amadeus Graf Rabutin nach Russland« 194 Vgl. Belliger/Krieger, Einführung, 41–42.
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Zeitgenossen als Extension oder verlängerter Arm Karls VI. betrachtet wurde, bekam der Kaiser eine völlig neue Rolle und stärkere Position im fremden Machtzentrum. So wurde er nunmehr durch einen wirklichen Vertreter am russischen Hof repräsentiert. Diese Stellung des Diplomaten deckt sich auch mit dem Bild der Vermittlungsinstanz als Sprache des Netzwerks. So konnte Rabutin in seiner Funktion als Botschafter oder Sprachrohr des Kaisers die Intentionen Karls VI. auf die russischen Verhandlungspartner übertragen und stellte damit die kommunikative Grundvoraussetzung für die Aushandlung des im August 1726 geschlossenen Bündnisses dar.195 Das soeben dargestellte dreigliedrige Netzwerk wurde von den unterschiedlichen (politischen) Beobachtern inner- und außerhalb der beiden im Zentrum der Arbeit stehenden Höfe mit Argusaugen betrachtet. Sie ließen in ihre Berichterstattungen und Analysen über dieses Beziehungsgeflecht vor allem ihre Einschätzungen über jene Prozesse einfließen, die im Rahmen der Mobilisierungsphase durch die von den Vermittlern übersetzten Zeichen, Dinge, Rollen, Interessen und dergleichen mehr stattfanden. Somit waren die kaiserlichen Gesandten gleich von mehreren Kommunikationsräumen umschlossen, deren Besonderheiten und quellentechnische Ausstattung nunmehr genauer unter die Lupe genommen werden. Durch die Berücksichtigung der diversen Interaktionsräume und der daraus ersichtlich werdenden unterschiedlichen Blickwinkel der politischen Akteure und Beobachter kann schließlich die im Mittelpunkt des Internationalen Graduiertenkollegs stehende Forschungsfrage der Wirkung politischer Kommunikation als Erfolg oder Misserfolg bei den Rezipienten auch hinsichtlich der vorliegenden Fallstudie über die zwischenstaatlichen Beziehungen beantwortet werden.196
1.3.2. Die Kommunikationsräume der kaiserlichen Gesandten Zentraler Wirkungsbereich der kaiserlichen Gesandten als außenpolitische Akteure war der russische Hof. Das fremde Machtzentrum stellte jenen Kommunikationsraum der Diplomaten dar, in dessen Rahmen die bei der Herrscherrepräsentation eingesetzten Kommunikationsstrategien von einer international besetzten höfischen Gesellschaft beobachtet, interpretiert und bewertet wurden. Neben den russischen Macht- und Würdenträgern betrachteten die am Zarenhof befindlichen Vertreter der übrigen europäischen Mächte das Auftreten 195 Vgl. Steppan, Gesandte, 38–41; Siehe dazu ausführlich: Kap. 3.1.2. »Das Bemühen um den (potenziellen) Bündnispartner – Kommunikationsstrategien im Rahmen der Intensivierung zwischenstaatlicher Beziehungen«. 196 Vgl. Schorn-Schütte, Fortsetzungsantrag, 12–14; Schorn-Schütte, Kommunikation, 7–13.
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der kaiserlichen Gesandten akribisch genau, um daraus Rückschlüsse auf das Verhältnis des Kaisers und seiner Vertreter zum russischen Hof schließen zu können. Diese internationale Beobachtergesellschaft verdichtete sich im betrachteten Zeitraum vor dem Hintergrund des Aufstiegs Russlands zur europäischen Großmacht. Neben den gekrönten Häuptern in Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Polen, Preußen, Schweden und Spanien errichteten auch einige Vertreter deutscher Herrschergeschlechter – wie der Kurfürst von Sachsen, der Fürst von Braunschweig-Blankenburg sowie die Herzöge von BraunschweigWolfenbüttel, Holstein, Mecklenburg – und die Republik der Niederlande intensive diplomatische Kontakte mit dem Zarenreich. Alle genannten Souveräne waren im betrachteten Zeitraum über weite Strecken durch diplomatische Missionen unterschiedlichen Ranges am russischen Hof vertreten.197 Diese schemenhafte Darstellung der am russischen Hof befindlichen internationalen Akteurs- und Beobachtergesellschaft lässt bereits Vermutungen über die Ausmaße der höfischen Öffentlichkeit im betrachteten Zeitraum aufkommen. Eine genauere Betrachtung ihrer Zusammensetzung stellt für die im Zentrum der Untersuchung stehenden Kommunikationsstrategien der Gesandten eine unabdingbare Voraussetzung dar. So konnte etwa Andreas Pecˇar in seiner Arbeit über den Hof Karls VI. zeigen, dass sich die Orte der politischen Kommunikation im Laufe des späten 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts von den Ländern zum Kaiserhof hin verschoben. Schon für die Mitte des 17. Jahrhunderts machte Mark Hengerer eine ähnliche Entwicklung fest, wonach der qualitative Unterschied zum Hof des 16. Jahrhunderts nicht im Wachstum der Zahlen seiner Angehörigen, sondern vielmehr in der Hinwendung zu einer präsenzorientierten Anbindung und einer Mitgliedschaft bei Hofe lag. Durch derartige Prozesse konzentrierte sich der Kreis der an der Interaktion beteiligten Personen auf einige im Machtzentrum befindliche Adelsfamilien, deren Partizipation am Hofleben aufgrund ihrer zentralen Rolle in der Verwaltung und Repräsentation des Hofes für den Souverän von großer Bedeutung war. Dementsprechend waren alle Monarchinnen und Monarchen des betrachteten Zeitraumes auf die Einbeziehung breiterer Personenkreise und gesellschaftlicher Gruppen angewiesen, was die einflussreiche Stellung des Adels zu einem Strukturmerkmal aller modernen europäischen Höfe machte. Gerade die Interaktion mit den unterschiedlichen Hofkreisen stellte eine unabdingbare Voraussetzung dar, um politische Entscheidungen herbeiführen und durchsetzen zu können. Dabei war der Handlungsspielraum aller an der Kommunikation Beteiligten einerseits durch entsprechende rechtliche Normen und die ressourcentechnische Verfügungsgewalt des Monarchen sowie anderseits durch die 197 Vgl. Hausmann, Repertorium, 18, 22–23, 42, 122–123, 161–162, 194, 221–222, 248, 282, 303–304, 340–341, 378–379 sowie 392–393.
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soziale Erwartungshaltung an den Souverän begrenzt. Die Eingliederung des Adels kann daher als flächendeckendes Phänomen an allen europäischen Höfen beobachtet werden, wenngleich die Integrationsversuche und die zu integrierenden Gruppen von Machtzentrum zu Machtzentrum divergierten.198 Tatsächlich lassen sich derartige Entwicklungen auch für den russischen Hof des späten 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts festmachen, dessen Struktur(wandel) im Folgenden als unabdingbare Wissensbasis für die weiteren Betrachtungen skizziert werden soll. Wie bereits angesprochen, erfolgte die Neuorganisation des Machtzentrums einerseits in Form einer Veränderung der allgemeinen Struktur des Hofes und dessen Untergliederung sowie andererseits durch die Erneuerung und Europäisierung der Hofämter und -bediensteten. Dieses Ziel wurde zunächst durch eine schrittweise Beseitigung der alten moskowitischen Hofelite erreicht, die sich entsprechend dem sogenannten Prinzip des »Mestnicˇestvo« aus eingesessenen Bojarengeschlechtern zusammensetzte, die ihre Ämter vererben konnten. Das moskowitische Verwaltungssystem war generell von einer Überlappung der staatlichen und höfischen Institutionen gekennzeichnet, weshalb bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts keine vom Militär- oder Staatsdienst losgelösten Hofränge existierten. Die Umwandlung des russischen Machtzentrums ging daher aus allgemeinen Prozessen der Petrinischen Reformen hervor, welche auch die Schaffung eigener, für die Abwicklung des Hoflebens zuständiger Instanzen zur Folge hatten. Mit der Etablierung dieser neuen Stellen war auch die Möglichkeit des Elitenaustausches verbunden. Während die moskowitischen Hofämter zu Beginn der Regierungszeit Peters I. noch parallel zu den neu geschaffenen Ämtern existierten, führte gerade die Schaffung des Kabinetts des Zaren mit Sitz in der neuen Hauptstadt St. Petersburg im Jahre 1704 zu einem Wechsel der persönlichen Umgebung des Herrschers. Dessen persönliche Lebensführung, die im Laufe der Zeit durch die personelle Umbesetzung der »Kammern« seiner engsten Verwandten auf die gesamte Zarenfamilie übertragen wurde, führte zu einer allmählichen Verdrängung der alten moskowitischen Struktur und Elite. Den endgültigen Wendepunkt in der Umwandlung des Hofes stellte die Schaffung der Rangtabelle im Jahre 1722 dar, die hinsichtlich der höfischen Ämter das Ziel der Angleichung des russischen Machtzentrums an die übrigen europäischen Höfe verfolgte. Die Übernahme ausländischer Organisationsstrukturen zum Beispiel durch die Annahme von fremdsprachigen, vorwiegend deutschen Amtsbezeichnungen stellte einerseits ein äußerliches Kennzeichen des Versuchs der Überwindung 198 Vgl. Mark Hengerer, Kaiserhof und Adel in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Eine Kommunikationsgeschichte der Macht in der Vormoderne (Historische Kulturwissenschaft, Bd. 3), Konstanz 2004, 33; Andreas Pecˇar, Die Ökonomie der Ehre. Der höfische Adel am Kaiserhof Karls VI. (1711–1740), Darmstadt 2003, 7–15.
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kultureller Barrieren zum Westen dar. Andererseits setzte Peter I. damit auch ein deutliches Zeichen dafür, dass eine Rückkehr zu den alten Hofstrukturen und -eliten nicht gewünscht war und durch eine klare Aufgabenverteilung unter den Hofämtern ersetzt werden sollte.199 Der Erlangung dieses Ziels ging allerdings ein langer Reformprozess voraus, der seine wesentlichen Züge im Laufe des im Zentrum der vorliegenden Studie stehenden Untersuchungszeitraumes annahm. Bis zum Ende der Regierungszeit Peters I. konnte die Umstrukturierung des Hofes nur oberflächlich durchgeführt werden, indem die alten Kategorien der hohen und mittleren Ämter erhalten blieben und lediglich durch neue Bezeichnungen verändert wurden. Eine klare Zuteilung der Hofämter und -bediensteten zu der drei Jahre vor seinem Tod im Jahre 1725 geschaffenen Rangtabelle konnte noch nicht festgelegt werden. Wegweisende Konkretisierungen und Neuerungen sahen jedoch die Mitte der 1720er-Jahre verfassten Hofstaat-Projekte von Andrej Ivanovicˇ Ostermann und Aleksandr Danilovicˇ Mensˇikov (1673–1729)200 vor, die allem voran eine klare Strukturierung, Aufgabenverteilung und Besoldung der Hofämter und -bediensteten verfolgten. Aus Ostermanns Konzept wird deutlich, dass dieser nicht nur die Angleichung an die europäischen Machtzentren intendierte, sondern ganz bewusst die Etablierung eines kaiserlichen Hofes anstrebte und sich dabei an der Organisation des Wiener Hofes orientierte. Damit versuchte er, die Bemühungen der im Ausland befindlichen russischen Diplomaten um die Anerkennung des russischen Kaisertitels auf institutioneller Ebene zu unterstützen. 199 Vgl. Ageeva, Dvor, 19–74; Lindsey Hughes, The Courts of Moscow and St. Petersburg, c. 1547–1725, in: John Adamson (Hg.), The Princely Courts of Europe. Rituals, Politics and Culture under the Ancien R¦gime 1500–1750, London 1999, 295–338, hier: 308. Vgl. ausführlich zum personellen Wandel und zur Zusammensetzung des russischen Hofes unter Peter I.: Pol Busˇkovicˇ, Petr Velikij. Bor’ba za vlast’ (1671–1725), Sankt-Peterburg 2008; A.V. Zacharov, Gosudarev dvor Petra I. Publikacija i issledovanie massovych istocˇnikov ˇ eljabinsk 2009. razrjadnogo deloproizv_dstva, C 200 Aleksandr Danilovicˇ Mensˇikov machte sich als Feldherr an der Seite Peters I. im Nordischen Krieg (1700–1721) verdient. Seine militärischen Leistungen brachten ihm nach der Schlacht von Poltava (1709) den Rang eines Feldmarschalls ein. Nach seiner aktiven Beteiligung im Krieg bis zum Jahre 1714 wandte sich Mensˇikov im Anschluss vor allem innenpolitischen Tätigkeiten zu. Er war einer der engsten Mitstreiter Peters I. bei der Durchsetzung seiner Reformen und wurde im Jahre 1719 zum Präsidenten des neu gegründeten Kriegskollegiums ernannt. Seine Rolle im Konflikt um den Zarensohn Aleksej sowie im Rahmen der Nachfolge Peters I. wird in dieser Arbeit noch näher beschrieben werden. Außerdem findet darin auch sein Fall im Jahre 1727 ausführliche Erwähnung, welcher die Erhebung Mensˇikovs in den Reichsfürstenstand in letzter Sekunde verhinderte. Damit endet die steile Karriere von Aleksandr Danilovicˇ, der im Jahre 1702 zum Grafen des Heiligen Römischen Reiches ernannt worden war und 1707 als Erster den russischen Titel »Svetlejsˇij Knjaz’« erhalten hatte. Er starb 1729 in der Verbannung in Berezov. Vgl. Mensˇikov, Aleksandr Danilovicˇ, in: Enciklopedicˇeskij Slovar’ Brokgauza i Efrona, Tom XIX: Mekenen–MifuBanja, Sankt-Peterburg 1896, 102–104.
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Aus diesem Anspruch ging auch das große Interesse für die bereits erwähnten Beschreibungen des Wiener Hofstaates hervor, die über Ludwig Lanczinski an Ostermann übermittelt wurden. Hauptproblem bei dieser Angleichung war jedoch der Umstand, dass die Struktur des Wiener Machtzentrums nur schwer mit der Ämterhierarchie der 1722 geschaffenen Rangtabelle in Einklang zu bringen war. So kam es im Projekt Ostermanns nicht zu einer exakten Kopie des als Vorbild wirkenden Kaiserhofes, sondern zu einer terminologischen Angleichung der Ämterbezeichnungen sowie zu einer partiellen Umstrukturierung der höfischen Bediensteten nach dem Wiener Modell. Im etwa zeitgleich entstandenen Projekt des Fürsten Mensˇikov spiegelt sich hingegen der von Pecˇar angesprochene Versuch wider, die Stellung des Adels im russischen Machtzentrum zu stärken. Dieses Ziel sollte einerseits mit der erhöhten Berücksichtigung von Hofämtern in der Rangtabelle erreicht werden, wobei die beiden höchsten Vertreter des Hofstaates auf die ersten beiden Ränge gesetzt wurden. Darüber hinaus berücksichtigte auch Mensˇikov eine Umbenennung der Ämter nach dem Ostermannschen Konzept.201 Wenngleich diese Projekte in ihren ursprünglichen Formen nicht realisiert wurden, so hinterließen sie dennoch eindeutige Spuren in der Organisation der Hofstaaten von Katharina I., Peter II. und Anna Ivanovna. Während es unter Katharina I. lediglich zu vereinzelten Neuschaffungen von Ämtern kam, wozu auch die Etablierung des Oberzeremonienmeisters zählte, zeichnete sich die Amtszeit ihres Nachfolgers durch eine weiter greifende Reform aus. Diente zunächst das Projekt Mensˇikovs als Orientierungsrichtlinie für den Hof Peters II., so wurde Ostermann nach dem Fall des Fürsten abermals mit der Ausarbeitung eines neuen Konzepts beauftragt, das vor allem die Besoldung und Strukturierung der Hofämter regeln sollte. Die darin vorgesehenen 300 innerhalb und außerhalb der Rangliste befindlichen Ämter umfassten einige neue Tätigkeiten, wobei diese vor allem den angesprochenen Projekten aus der Mitte der 1720er-Jahre entnommen worden und somit auch von einer Übernahme der Bezeichnungen des Hofstaates am Wiener Hof gekennzeichnet waren. Wenngleich der Vorschlag durch einen Beschluss des Obersten Geheimen Rates Ende 1728 wirklich in die Tat umgesetzt wurde, dauerte es bis zur Umsetzung einige Zeit und die Erneuerung erlebte ihre volle Entfaltung erst unter der Regierung Anna Ivanovnas. Obwohl es mit ihrem Regierungsantritt im Jahre 1730 zu einer nahezu vollständigen Auswechslung der Personen in den führenden repräsentativen Hofämtern und zu einem Machtkampf der zum Teil neu etablierten höfischen Institutionen und ihrer Vorsteher kam, setzte die Herrscherin vorerst einen Schlusspunkt in der Reform des Hofstaates. Diese war mitunter von einer klaren Reglementierung der Zuständigkeitsbereiche der Ämter sowie der Festlegung ihrer Besoldung gekennzeichnet. Die ab 1731 201 Vgl. Ageeva, Dvor, 74–95.
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jährlich erfolgende Auflistung des Hofstaates der Herrscherin zeigt, dass die Reformarbeit der 1720er-Jahre damit abgeschlossen wurde. So erlebte die darin vorgenommene Festlegung der Hofämter sowie deren hierarchische Struktur und Tätigkeitsbereiche keine gravierenden Veränderungen mehr im Rahmen der darauffolgenden Regierungswechsel.202 Unter diesen strukturellen Voraussetzungen spielte sich die eingangs angesprochene Anbindung und Eingliederung des Adels am russischen Hofe ab. Die Interaktion der Souveräne beschränkte sich jedoch nicht nur auf die »ansässige« adelige Hofgesellschaft, sondern umfasste auch die europäischen Fürsten und damit vor allem ihre Gesandten. Letztere standen aufgrund ihrer weitgreifenden Integration am auswärtigen Hof nicht nur im regen Austausch mit dem fremden Herrscher, sondern auch mit den übrigen hochrangigen Mitgliedern des Machtzentrums. Wollte ein Fürst etwas weltkundig machen, verstand er darunter die anderen Machthaber und ihre Höfe und sprach damit die kleine Welt des Hochadels an. Neben der Aushandlung ereignispolitischer Fragen waren daher Ehre und Reputation das Hauptanliegen des zwischenstaatlichen Verkehrs bei Hofe. Gerade letztgenannte Faktoren schufen eine Öffentlichkeit, die einerseits international zusammengesetzt sowie andererseits nach innen und nach außen ständisch strikt limitiert war. Das nach 1648 immer dichter werdende Gesandtschaftswesen führte zu einer Zunahme und Perpetuierung der Interaktion unter den europäischen Fürsten. Deren Rang stand auch bei der Zusammenkunft ihrer Gesandten zur Disposition, was in der zunehmenden medialen Vermittlung und der Entwicklung einer gemeinsamen (zeremoniellen) Normensprache deutlichen Niederschlag fand. Gerade Letztere förderte die Verfestigung der Öffentlichkeit der europäischen Fürstenhöfe, in der der Umgang mit den Gesandten und deren Verhalten mit Argusaugen betrachtet wurden.203 Diese Beobachtungen veranlassten die jüngere Forschung zu einer Hinwendung zum semantischen Potenzial des Zeremoniells, während es zuvor eher in seiner Funktion als Kontrollinstrument der Untertanen und Höflinge sowie als Mittel zur Hierarchisierung der höfischen Gesellschaft betrachtet wurde. In den neueren Arbeiten wird das komplexe, sich aus unterschiedlichen Symbolen zusammensetzende Zeichensystem daher vor allem auf der Ebene der politischen Kommunikation zwischen dem Herrscher und den Untertanen untersucht. Dieser Blickwinkel wirft sogleich die Frage der Adressaten des Zeremoniells auf, welche sich nach Einschätzung eines Großteils der Autoren aus 202 Vgl. Ageeva, Dvor, 85–116. 203 Vgl. Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 103), Göttingen 1994, 78–82; Pecˇar, Ökonomie, 207–210.
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folgenden drei Rezipientengruppen zusammensetzen: den Mitregenten und deren Diplomaten, dem eigenen Hof und dessen Mitgliedern sowie den außerhalb der höfischen Welt befindlichen Untertanen. Durch die darin zum Ausdruck kommenden Spielregeln und Verhaltensrichtlinien des Hofes, dessen soziale Ordnung und Rangfolge ordnet das Zeremoniell nicht nur die internen Beziehungen des Machtzentrums, sondern kontrolliert auch den Zugang von außen. Zeremonielles Handeln umfasst demnach formalisierte Akte, die soziale Hierarchien abbilden und einen Teil der öffentlichen Interaktion des Herrschers und seines Hofes darstellen. Dementsprechend richtet sich das Zeremoniell gleichermaßen an Beteiligte wie Zuschauer, die die zeichenhafte Normensprache rezipieren, interpretieren und gerade im Falle der fremden Gesandten weitertransportieren.204 Wenngleich sich auch im Werk von Andreas Pecˇar im Wesentlichen die genannten Funktionen des Zeremoniells und dessen Adressaten widerspiegeln, so revidiert er dessen von den Zeremonialwissenschaften konstruiertes und bis in die aktuelle Forschung weitertransportiertes Bild als ordnungsstiftendes Element des Herrschers gegenüber dem Pöbel. So zweifelt er an der Eigenschaft der nicht-höfischen Untertanen als Hauptrezipienten, da diese von einem Großteil der zeremoniellen Veranstaltungen ausgeschlossen waren. Dementsprechend sei auch der zeitgenössischen Wissenschaft des 18. Jahrhunderts gegenüber die nötige Quellenkritik entgegenzubringen. So seien die Arbeiten der zeremonialwissenschaftlichen Autoren vor dem Hintergrund der bewussten Unterscheidung der Untertanen in den vom Zeremoniell verblendeten Pöbel einerseits, sowie in die das Spektakel verstehende Bildungsschicht andererseits entstanden. Sie verfassten demnach ideologische Werke, in denen nicht nur die Identität der Wissenschafter, sondern auch jene der Adressaten ihrer Werke zum Vorschein komme. Sie waren für jene Personen gedacht, die eine Qualifikation in der Politik des Fürstenhofes benötigten, und umfassten daher eine Selbstbeschreibung der Gesellschaft des höfischen Adels. Etwas weniger explizit spiegelt sich diese Erkenntnis auch im Werk von Jeroen Duindam wider. Demnach rückten das Zeremoniell und die sozialen Standards der höheren Gesellschaftsschicht immer näher aneinander heran. Während im 17. Jahrhundert noch größere 204 Vgl. Irmgard Pangerl/Martin Scheutz/Thomas Winkelbauer, Zeremoniell und zeremonielles Handeln am Wiener Hof. Eine Skizze, in: Irmgard Pangerl/Martin Scheutz/ Thomas Winkelbauer (Hgg.), Der Wiener Hof im Spiegel der Zeremonialprotokolle (1652–1800). Eine Annäherung (Forschungen zur Landeskunde von Niederösterreich, Bd. 31; Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte, Bd. 47), Innsbruck-WienBozen 2007, 7–14, hier : 7–11; Barbara Stollberg-Rilinger, Zeremoniell als politisches Verfahren. Rangordnung und Rangstreit als Strukturmerkmale des frühneuzeitlichen Reichstags, in: Johannes Kunisch (Hg.), Neue Studien zur Reichsgeschichte (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft, Bd. 19), Berlin 1997, 91–132, hier : 93–94.
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Unterschiede zwischen den großen Zeremonien und dem alltäglichen Verhalten bei Hofe lagen, wurden etwa Fragen der Präzedenz im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einer immer wichtigeren Angelegenheit des Herrschers und der hohen Adelsschicht, an der sich mitunter große Konflikte innerhalb der höfischen Gesellschaft entzündeten. Auch Andreas Gestrich schlägt in dieselbe Kerbe, indem er das Zeremoniell als Indikator für das Selbstverständnis der Herrscher bzw. der gesellschaftlichen Vorstellungen darüber charakterisierte. Zudem bemühten sich Pecˇar und Duindam um eine Klärung des in der Forschung diffus verwendeten Zeremonialbegriffs, indem sie eine Konkretisierung gegenüber den Bereichen der höfischen Etikette bzw. des höfischen Alltagslebens vornahmen. Beide bezeichneten das Zeremoniell als rechtlich-soziale Norm, die große Anlässe der höfischen Welt wie zum Beispiel das Zusammentreffen von Fürsten bzw. hochrangigen Adeligen regelte und die dabei zu beachtende Rangfolge fixierte. Der Übergang zur Etikette des Alltagslebens stelle sich jedoch fließend dar. Pecˇar schafft allerdings eine Abgrenzung, indem er diese als Wahrnehmungscode des höfischen Lebens und damit impliziten Bestandteil des kulturellen Wissens eines Höflings definierte.205 Diese Unterscheidung erinnert an die bereits im ersten Kapitel getroffene Differenzierung zwischen Meso- und Makroriten. Wollen wir uns deren allgemeine Funktion nochmals in Erinnerung rufen, um an dieser Stelle den Kreis zur Funktion des höfischen Zeremoniells im 18. Jahrhundert schließen zu können. Wie bereits genauer ausgeführt, umfassen Meso- oder Interaktionsriten Gesten des Benehmens oder der Ehrerbietung, die entsprechend den gegenseitigen Erwartungen der Interaktionsteilnehmer hinsichtlich der Erfüllung sozialer Rollen und Klassenpositionen vorgeschrieben werden. Makroriten hingegen bezeichnen die genannten großen formellen Zeremonien, welche in Bezugnahme auf größere soziale Einheiten klare Struktur- und Verhaltensregeln voraussetzen – wie es auch von Pecˇar und Duindam hervorgehoben wurde. Während ein Verstoß gegen die Verhaltensrichtlinien eines Mesoritus vielfach nur als »Fauxpas« interpretiert wird, so kann die Nichtbeachtung der Regeln eines Makroritus meist als ein In-Frage-Stellen der im Zentrum des Aktes stehenden Aussage aufgefasst werden. Gerade die soeben angesprochene semantische Bedeutung der großen zeremoniellen Anlässe wurde von der jüngeren Hofforschung als Grundlage für die Bedeutung des Gesandtschaftszeremoniells im 18. Jahrhundert festgemacht. Die zunehmende Vernetzung der ständigen Gesandtschaften nach 1648 und die daraus resultierende Häufung von Begegnungen zwischen den einzelnen 205 Vgl. Jeroen Duindam, Vienna and Versailles. The Courts of Europe’s Dynastic Rivals, 1550–1780, Cambridge 2003, 181–188; Gestrich, Absolutismus, 156–158; Pecˇar, Ökonomie, 141–150.
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Herrschern und ihren Gesandten räumten diesem einen immer größeren Stellenwert innerhalb des Hoflebens ein. Grund dafür stellte die damit verbundene Möglichkeit dar, dadurch Aussagen über die hierarchische Pyramide und den Rang der Teilnehmer im Hinblick auf den größeren gesellschaftlichen Kontext treffen zu können. Auf zwischenstaatlicher Ebene versuchten die Akteure mit Hilfe des Zeremoniells, die eigene Position innerhalb der internationalen Ordnung sowie ihre Macht und ihre persönlichen Interessen zu sichern. Die Machtverhältnisse zwischen den Herrschern beeinflussten daher das zeremonielle Verhalten der Souveräne und ihrer Repräsentanten. Gesandte waren sozusagen professionelle zeremonielle Hasardeure, da sie in jeder Situation um das Prestige ihres Souveräns bemüht sein mussten. Mit dieser Symbolsprache stand allen genannten Akteuren ein Ausdrucksmittel zur Verfügung, das die feinsten semantischen Abstufungen über die zwischenstaatlichen Beziehungen zum Ausdruck bringen konnte. So betrachteten vor allem die Gesandten die Zeremonien bis ins kleinste Detail und nahmen mögliche Abweichungen von der zeremoniellen Norm zum Anlass, dahinter ein öffentliches In-Frage-Stellen des Prestiges oder Ranges ihres Souveräns zu vermuten. Dementsprechend diente es einerseits als viel gebrauchtes Mittel und als Gradmesser zur Kennzeichnung der zwischenstaatlichen Beziehungen. Andererseits bot das Zeremoniell auch die Möglichkeit des Verbergens von kleineren und größeren Konflikten hinter den vielen normierten Verhaltensstandards.206 Grundvoraussetzung für das gemeinsame Verständnis dieser Symbolsprache war die bereits erwähnte Etablierung einheitlicher Verhaltensregeln an allen europäischen Höfen. Gerade die zunehmende Vernetzung der Machtzentren durch ständige Gesandtschaften war die Hauptmotivation für die Festlegung strikter Normen. So war durch die ständige Anwesenheit der auswärtigen Diplomaten bei Hofe die Notwendigkeit gegeben, den ausländischen Gästen klare Positionen im jeweiligen Rangsystem zuzuteilen. Diese wurden in den sogenannten Hofordnungen festgeschrieben, die bereits bei der Beschreibung des personellen und strukturellen Wandels am russischen Hof zur Sprache kamen. Ein staatenübergreifender Vergleich dieser normativen Quellen zeigt, dass sich vor allem im Laufe des 18. Jahrhunderts zeremonielle Standards etablierten, die in den wichtigsten Bereichen des Gesandtschaftszeremoniells (Audienzen, Einzüge und dergleichen mehr) nahezu an allen europäischen Höfe in die Tat umgesetzt wurden. Nichtsdestotrotz unterschieden sich die diversen Hofordnungen weiterhin vor allem in den zeremoniellen Details, weshalb die Gesandten sich stets mit den Spielregeln des jeweiligen Hofes vertraut machen mussten. Das Zeremoniell entwickelte sich zunehmend zu einer allgemein verständlichen 206 Vgl. Duindam, Vienna, 181–188; Gestrich, Absolutismus, 158–162; Pecˇar, Ökonomie, 207–208.
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Sprache der europäischen Diplomatie, deren Wortschatz sich lediglich in der lokalen Färbung der Dialekte der einzelnen Höfe unterschied. Mit diesen feinen semantischen Unterschieden mussten sich die Gesandten jedoch bei jeder einzelnen Mission aufs Neue vertraut machen. Am Wiener Hof begegneten sie etwa einer ungewöhnlich starken Unterscheidung von erstrangigen und zweitrangigen Diplomaten, die durch die zeremoniellen Vorrechte der hochrangigen Ambassadeure bei Visiten, Aufzügen, Audienzen und Hoffestivitäten zum Ausdruck kam. Außerdem stellten die strenge katholische Konfessionalisierung und der herausragende Ranganspruch des Wiener Hofes ein Kennzeichen des lokalen Kolorits dar. Gerade Letzteres führte dazu, dass viele europäische Souveräne den Kaiser nur mehr mit zweitrangigen Gesandten beschickten, um nicht eine rangtechnische Ungleichbehandlung hinnehmen zu müssen.207 Der Vereinheitlichungsprozess im Bereich des Gesandtschaftszeremoniells spiegelt sich auch im bereits angesprochenen Projekt des russischen Kollegiums für auswärtige Angelegenheiten über die Schaffung eines diplomatischen Zeremoniells am russischen Hof aus dem Jahre 1744 wider. Aus den detaillierten Beschreibungen lassen sich die allgemein üblichen Gebräuche – von der Begrüßung der Gesandtschaft bei der Grenze des Reiches, über den Einzug in die Residenzstadt bis hin zu den privaten und öffentlichen Audienzen bei den Regenten sowie den Visiten bei anderen russischen Würdenträgern – herauslesen. Die Übereinstimmung mit der Grundstruktur der zeremoniellen Ordnungen an den übrigen europäischen Höfen wird daran deutlich, dass neben den jeweiligen Bestimmungen vermerkt wurde, inwiefern die russischen Verhaltensregeln mit den Normen der übrigen europäischen Höfe übereinstimmten bzw. davon abwichen. So bestätigt dieses Dokument die von der jüngeren Forschungsliteratur aufgestellte These, dass die Unterschiede im diplomatischen Zeremoniell der einzelnen Höfe in den Details steckten. Zwei Beispiele aus der Beschreibung der offiziellen Audienzen am russischen Hof sollen einerseits die Vereinheitlichung der zeremoniellen Sprache sowie andererseits deren lokales Kolorit veranschaulichen. Entsprechend den Gewohnheiten des kaiserlichen sowie des französischen Hofes »[b]estimmt Ihre Kaiserliche Hoheit den Tag und die Stunde, zu der Sie den Gesandten zur öffentlichen Audienz zuzulassen geruhen wollen, und benachrichtigt durch den Zeremonienmeister einen von Ihrer Hoheit dazu bestimmten Kommissar.«208 Weit weniger einheitlich gestaltete sich hingegen der Empfang des Gesandten im Audienzsaal: »In diesem Saal geruhen Ihre Hoheit bei Ihrem Kaiserlichen Thron zu stehen […].«209 Schon dieses kleine Detail 207 Vgl. Duindam, Vienna, 197–200; Gestrich, Absolutismus, 162–166; Pecˇar, Ökonomie, 210–219. 208 RGADA, f. 156, op. 1, d. 210, 16v. 209 RGADA, f. 156, op. 1, d. 210, 22r–22v.
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veranlasst die Autoren des Projekts zu einer zweiseitigen Randnotiz über die diesbezüglichen Gebräuche an den anderen Höfen. Demnach findet der eintretende Gesandte den Kaiser am alten Kaiserhof in Hut und in spanischer Manier stehend vor – den Rücken zum Stuhl gewandt und denselben mit der rechten Hand umfassend. In England sitzen der König und die Königin auf zwei Sesseln unter einem königlichen Baldachin – der König rechts und die Königin links. Der spanische König hingegen steht vor dem Stuhl unter einem Baldachin. In Schweden sitzt der König beim Eintreten des Gesandten im Stuhl und trägt einen Hut. Bei der ersten Verbeugung des Gesandten nimmt er den Hut ab und bei der zweiten Verbeugung erhebt er sich. Einen außerordentlichen Gesandten empfängt der König stehend. Am französischen Hof empfängt der König den Gesandten sitzend und trägt einen Hut. Die Prinzessinnen und Prinzen der königlichen Familie stehen unterhalb des Throns zur Rechten und zur Linken.210 Dieses Dokument zählt überdies zu jenen vereinzelten (normativen) Schriftstücken, in denen die zeremonielle Behandlung eines kaiserlichen Gesandten explizit angesprochen wird. So wird hinsichtlich der Frage der Kopfbedeckung des Gesandten beim Betreten des Raumes festgehalten, dass der Botschafter Anton Otto Marquese Botta d’Adorno bei seiner Audienz im Jahre 1739 den Hut abnahm.211 Abgesehen von diesen vereinzelten Überlieferungen des russischen Hofes über die Kommunikationsstrategien der kaiserlichen Gesandten gegenüber den Macht- und Würdenträgern erfahren wir darüber meist nur aus den Eigendarstellungen der Diplomaten selbst. Sie können jedoch in Kontrast zu den Darstellungen der übrigen ausländischen Vertreter gestellt werden. Im Gegensatz zu den Berichten der Wiener Gesandten fanden die Relationen anderer europäischer Diplomaten vielfach Eingang in die aus dem 19. Jahrhundert stammende »Sammlung der Kaiserlich Russischen Historischen Gesellschaft«. Unter den edierten Materialien scheinen die Korrespondenzen der englischen212 und französischen213 Vertreter auf den ersten Blick vollständig in die Quellensammlung aufgenommen worden zu sein. Ein Vergleich mit den Originalquellen in den Archiven hat jedoch ergeben, dass diese chronologisch zwar relativ vollständig, jedoch inhaltlich keineswegs lückenlos 210 Vgl. RGADA, f. 156, op. 1, d. 210, 22r–22v. 211 Vgl. RGADA, f. 156, op. 1, d. 210, 23r. 212 Vgl. A. A. Polovcov (Hg.), SIRIO, Tom 66, Sankt-Peterburg 1889 (Korrespondenz 1728–1732). 213 Vgl. G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 40, Sankt-Peterburg 1884 (Korrespondenz 1719–1722); G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 49, Sankt-Peterburg 1885 (Korrespondenz 1723–1724); G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 52, Sankt-Peterburg 1886 (Korrespondenz 1723–1725); G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 58, Sankt-Peterburg 1887 (Korrespondenz 1725); G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888 (Korrespondenz 1725–1727); G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 75, Sankt-Peterburg 1891 (Korrespondenz 1727–1730).
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ediert wurden. Dabei ist auffällig, dass die Historiographie des 19. Jahrhunderts in erster Linie Darstellungen über die ereignispolitischen Hauptentwicklungslinien berücksichtigte und vielfach jene Stellen als scheinbar überflüssig beiseiteließ, in denen die unterschiedlichen Facetten der zwischenstaatlichen Kommunikation am russischen Hof Erwähnung finden. Aus diesem Grund wurden für die vorliegende Untersuchung stellenweise auch die in London214 befindlichen Originalquellen gesichtet, um weiteren Aufschluss über die im Zentrum der Arbeit stehenden Fragestellungen zu bekommen. Das gilt etwa auch für die Berichte der preußischen215 Gesandten, die in der Quellensammlung noch wesentlich fragmentarischer ediert wurden und einer Hinzuziehung der Originalquellen bedurften. Bereits dieser kurze Überblick über die wichtigsten Vergleichsdarstellungen216 offenbart die von der traditionellen Diplomatiegeschichte bei der Betrachtung der Materialien eingenommenen Blickwinkel und das inhaltliche Potenzial der Gesandtschaftsberichte, das auch im Rahmen der vorliegenden Untersuchung genutzt werden soll. Eine Gegenüberstellung der 214 Die Bestände der »National Archives« in London umfassen die Berichte der englischen Gesandten ab dem Jahre 1728, da der ständige diplomatische Austausch aufgrund der gespannten bilateralen Beziehungen zwischen England und Russland und der internationalen politischen Lage fast während der gesamten 1720er-Jahre auf Eis gelegt worden war. Nach der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen im Jahre 1728 stellen die englischen Korrespondenzen eine sehr ausführliche und detaillierte Quelle über die Vorgänge am russischen Hof dar. 215 Die sowohl chronologisch als auch inhaltlich lückenhafte Edition der preußischen Gesandtschaftsberichte wird schon daran deutlich, dass sich die Korrespondenz der Jahre 1721 bis 1730 auf einen Band der russischen Quellenedition beschränkt und dabei lediglich Schlüsselberichte über die staatspolitischen Hauptentwicklungslinien berücksichtigt. Vgl. A. A. Polovcov (Hg.), SIRIO, Tom 15, Sankt-Peterburg 1875. Dabei ist die Berücksichtigung der im »Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz« in Berlin vorhandenen Materialien sehr aufschlussreich. Wenngleich die preußischen Gesandtschaftsberichte nicht die Detailliertheit der habsburgischen Relationen erreichen, so wurden die Vorgänge am russischen Hof für den König im Laufe der 1720er-Jahre immer zentraler. So spiegelt sich darin Preußens Position als Zünglein an der Waage zwischen den Machtblöcken wider. Diese Materialien stellen also eine wertvolle Vergleichsdarstellung der zwischen Gegnerund Partnerschaft zum Bündnis zwischen St. Petersburg/Moskau und Wien schwankenden preußischen Diplomatie dar. 216 Neben den bereits genannten Berichten wurden vor allem im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in anderen russischsprachigen Druckwerken die Berichte weiterer ausländischer Gesandter publiziert. Dazu zählen etwa die Berichte des von Ende der 1720er- bis Anfang der 1730er-Jahre am russischen Hof befindlichen spanischen Gesandten. Da der Wiener Kaiser mit dem spanischen König seit 1725 durch ein Bündnis verbunden war, stellen die für die Jahre 1727 bis 1730 edierten Berichte wertvolle Vergleichsdarstellungen für das Wirken der kaiserlichen Gesandten dar. So agierten die Diplomaten des Kaisers bis zur Änderung der politischen Großwetterlage in den Jahren 1730/31 und der damit verbundenen Auflösung des Bündnisses häufig in Einklang mit dem spanischen Vertreter am russischen Hof. Vgl. Pis’ma o Rossii v Ispaniju, Djuka De-Lirija, in: Petr Vartenevyj (Hg.), Osmnadcatyj Vek. Istoricˇeskij sbornik, Kniga 2, Moskva 1869, 5–198; Zapiski djuka Lirijskogo, in: Russkij Archiv 1 (1909), 337–442.
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bereits edierten und unveröffentlichten Materialien ermöglicht daher auch eine Sichtbarmachung des Perspektivenwechsels von der traditionellen zur aktuellen Politikgeschichte. Angesichts des Problems der größtenteils fehlenden bzw. nur bruchstückhaft vorhandenen schriftlichen Dokumente der russischen Akteure stellt die Zusammenführung der unterschiedlichen Außenbeschreibungen vielfach die einzige Möglichkeit der Annäherung an ihre Perspektive dar. Wo es möglich ist, werden die russischen Darstellungen über die Wirkung der Kommunikationsstrategien der Gesandten in die Untersuchung mit einbezogen. Die Analyse der vornehmlich im »Russischen Staatsarchiv für Alte Akten« (RGADA) befindlichen russischen Hofakten hat ergeben, dass gesonderte Aufzeichnungen über das Auftreten der kaiserlichen Gesandten am russischen Hof kaum vorhanden sind und beinahe an ein bis zwei Händen abgezählt werden können. Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, dienen diese Materialien vorwiegend zur Rekonstruktion der am russischen Hof geltenden normativen Rahmenbedingungen und vereinzelter höfischer (zeremonieller) Großereignisse sowie als Fundus wichtiger Schriftstücke des diplomatischen Verkehrs zwischen den im Zentrum der Untersuchung stehenden Höfen. Die Zusammenführung dieser teils unveröffentlichten, teils edierten Quellen bietet schließlich die Möglichkeit, einem den Gesandtschaftsberichten innewohnenden quellentechnischen Problem begegnen zu können. So suggerieren diese Quellen eine multiple Blickperspektive, indem etwa durch die Verwendung des rhetorischen Stilmittels der indirekten Rede die Erfahrungen von mehreren Beobachtern wiedergegeben werden. Nichtsdestotrotz beinhaltet keines der Fremdzeugnisse einen absoluten Wahrheitsgehalt über die tatsächliche Wirkung der Kommunikationsstrategien auf die Eliten des russischen Hofes selbst und sagen mehr über den Beschreibenden und dessen urteilsleitende Normen als über die Beschriebenen selbst aus.217 Ein Vergleich der unterschiedlichen sprachlichen Überlieferungen über die Kommunikationsstrategien der kaiserlichen Gesandten ermöglicht daher eine tiefgreifende Analyse der beschriebenen Interaktionsmechanismen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob sich die in den Ausführungen der kaiserlichen Gesandten verwendeten Schlüsselbegriffe mit den in den Relationen der übrigen Diplomaten gebrauchten Termini decken oder nicht. So lässt sich auf Basis dieser Untersuchungen entweder ein Konsens oder ein Konflikt über die Begriffe herauslesen, welcher wiederum Rückschlüsse auf die Wirkung der dargestellten Kommunikationsstrategien als Erfolg oder Misserfolg bei den Rezipienten zulässt. Konkret steht dabei die Frage im Vordergrund, in welchen Satzzusammenhängen und mit welchen attributiven Aufladungen die 217 Vgl. Zakharine, Angesicht, 78–85.
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Begriffe gebraucht wurden bzw. welche Gegenbegriffe in den unterschiedlichen Darstellungen Verwendung fanden. Die daraus resultierende Übereinstimmung oder Divergenz in der Verwendung der Termini kann daher auch als Übereinstimmung oder Divergenz in den Ansichten über die politische Realität gewertet werden. Gerade die den Gesandtschaftsberichten als Hauptquellen der Arbeit zugrunde liegende Formelhaftigkeit eignet sich hervorragend für eine Analyse der im diplomatischen Diskurs verwendeten Schlüsselbegriffe als Indikatoren des politischen (Selbst)Verständnisses der beteiligten Akteure.218 So waren die im Kanzleistil verfassten Relationen nicht nur von einer starken Formelhaftigkeit geprägt, sondern zeichneten sich in ihrer Funktion als Kommunikationsmedien zwischen Abwesenden durch eine konzeptionelle Mündlichkeit aus. Sie dienten sozusagen als Ersatzformen der auf direkten Informationsaustausch beruhenden Audienzen und beinhalteten streng vorgegebene, aus der direkten Kommunikationsform stammende sprachliche und symbolische Gestaltungsmittel.219 Damit wurden indirekt auch die Adressaten der Berichte angesprochenen, die einen zweiten, die Gesandten einschließenden Kommunikationsraum darstellten. Konkret muss in diesem Fall vom Kaiser, von den für die Außenpolitik zuständigen Ministern sowie von anderen einflussreichen Personen und Diplomaten des Regierungszentrums in Wien gesprochen werden. So stellte der kaiserliche Hof ein komplexes kommunikatives Netzwerk dar, dessen Informationsaustausch mit den Vertretern in Russland auf unterschiedlichen Ebenen verlief. Konkret tritt zunächst die sogenannte offizielle Korrespondenz der kaiserlichen Gesandten mit Wien ins Blickfeld der Untersuchung. So richteten die Diplomaten ihre Relationen üblicherweise ein- oder mehrmals wöchentlich an den Kaiser, wobei die Häufigkeit der Berichterstattung von der Brisanz der augenblicklichen zwischenstaatlichen Beziehungen abhing. Diese unterlagen, abgesehen von Fragen des Briefzeremoniells, keiner inhaltlichen Vorgabe und sollten den Souverän und seine Minister über die wichtigsten politischen Ereignisse im fremden Machtzentrum informieren. Aus diesem Grund mussten Mitteilungen privater Natur auch in Form von Postskripten beigelegt werden. Von Seiten des Kaisers hingegen wurden vor Aufbruch der Mission allgemeine Instruktionen über die Aufgaben seines Vertreters am fremden Hof ausgegeben. Dem folgte nach Ankunft des Diplomaten an seinem Bestimmungsort etwa einmal monatlich ein Reskript des Souveräns. Diese Weisungen wurden gerade im betrachteten Zeitraum in ihrer inhaltlichen Erläuterung der politischen 218 Vgl. Seresse, Praxis, 169–184. 219 Vgl. Heiko Droste, Briefe als Medien symbolischer Kommunikation, in: Marian Füssel/ Thomas Weller (Hgg.), Ordnung und Distinktion. Praktiken sozialer Repräsentation in der ständischen Gesellschaft (Symbolische Kommunikation und Wertesysteme, Bd. 8), Münster 2005, 239–256, hier : 243–249.
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Entscheidungen immer detaillierter und beinhalteten meist notwendige Beilagen mit relevanten Informationen über die kaiserliche Außenpolitik an anderen Höfen.220 Die Relevanz, die gerade die Materialien der kaiserlichen Diplomatie auch noch Anfang des 21. Jahrhunderts für die (historische) Forschung aufweisen, wurde etwa von Friedrich Edelmayer hervorgehoben. Dabei betonte er zunächst das Desinteresse, das die Historikerzunft den Gesandtschaftsberichten als scheinbar nur die staatspolitischen Hauptentwicklungslinien beschreibenden und damit ausgeschöpften Quellen in den vergangenen Jahrzehnten entgegenbrachte. Wie die bisherigen Beschreibungen der diplomatischen Korrespondenzen europäischer Gesandter gezeigt haben, hielt auch er demgegenüber fest: »daß in den Gesandtschaftskorrespondenzen weit mehr steckt als die ohnedies bekannte bloße Ereignisgeschichte. Tatsächlich sind die Forschungsmöglichkeiten, die sich beim Studium der Gesandtschaftsberichte bieten, äußerst vielfältig. Es handelt sich dabei um weitgehend kontinuierlich fließende Quellen, berichteten doch die Botschafter meist wöchentlich an ihre Auftraggeber. Damit können sehr nuancenreich die verschiedensten Entwicklungen an einem Hof und in einem Territorium dargestellt werden. Und die Diplomaten berichteten weit mehr, als in vielen Aktenpublikationen aus dem 19. Jahrhundert abgedruckt wurde, in denen Nachrichten über die Kommunikation, das Wetter, Gesundheit und Krankheit, über soziale Kontakte der Botschafter und ihre Netzwerke, über Möglichkeiten der Informationsbeschaffung, das mühsame Leben der Briefboten und vieles mehr ganz einfach nicht ediert wurden. Damit ist es bis heute gar nicht möglich, ohne den Gang ins Archiv Arbeiten zur Stereotypenforschung zu wagen, zum Kulturtransfer, zum sich ausbildenden europäischen Kunstmarkt oder auch zur Wahrnehmung des Fremden, um einige weitere Desiderata zu nennen.«221
Wenn Edelmayer im selben Atemzug hinsichtlich der habsburgischen Gesandtschaftskorrespondenzen aus Russland festhält, dass diese in Form von Überblicksdarstellungen vergleichsweise gut aufgearbeitet worden wären, so meint er damit in erster Linie die bereits angesprochenen ereignisgeschichtlichen Werke.222 Das in diesen Materialien steckende Potenzial für die Geschichte Russlands und des russischen Hofes wurde auch von den wenigen russischsprachigen Autoren angesprochen, die ihre Arbeiten auf die Quellen des Wiener »Haus-, Hof- und Staatsarchivs« stützten.223 Die offizielle Ebene des Informationsaustausches mit dem heimischen 220 Vgl. Müller, Gesandtschaftswesen, 33–42. 221 Fritz Edelmayer, Gesandtschaftsberichte in der Frühen Neuzeit, in: Josef Pauser et al. (Hgg.), Quellenkunde der Habsburgermonarchie (16.–18. Jahrhundert). Ein exemplarisches Handbuch, Wien-München 2004, 849–859, hier : 855. 222 Vgl. Edelmayer, Gesandtschaftsberichte, 856. 223 Vgl. Brikner, Diplomaty, 506–507; A.V. Florovskij, Russko-avstrijskie otnosˇenija v epochu Petra velikogo, Praga 1955; M.A. Petrova, Ekaterina II i Iosif II. Formirovanie rossijsko-avstrijskogo sojuza 1780–1790, Moskva 2011, 11–23.
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Machtzentrum dient in erster Linie der Untersuchung der Kommunikation über die Kommunikation mit dem russischen Hof. Die dabei eingesetzten Strategien der Gesandten bzw. die von ihnen in diesen Zusammenhängen angedachten Vorschläge und deren tatsächliche bzw. erhoffte Wirkung am Zarenhof sollen mit den diesbezüglichen Vorstellungen des Kaisers sowie der für die Außenpolitik verantwortlichen Minister kontrastiert werden. Methodisch steht auch in diesem Fall die Analyse der in den Berichten und Weisungen eingesetzten Schlüsselbegriffe im Zentrum der Untersuchung. Die daraus resultierende Übereinstimmung oder Divergenz in der Verwendung der in Frage kommenden Termini kann auch auf dieser Ebene als Übereinstimmung oder Divergenz der Meinungen über die eingesetzten Kommunikationsstrategien und deren Wirkung gewertet werden. Bei dieser Gegenüberstellung kann jedoch nur am Rande auf jenen bereits mehrfach angesprochenen Konflikt innerhalb der Wiener Verwaltung eingegangen werden, der sich abseits der offiziellen Korrespondenz zwischen den beiden kaiserlichen »Außenministern« Schönborn und Sinzendorf abspielte. Im betrachteten Zeitraum existierte noch keine klare Zuordnung der außenpolitischen Agenden, da die auswärtigen Angelegenheiten zwischen der Österreichischen Hofkanzlei und der Reichshofkanzlei aufgeteilt wurden. Die Österreichische Hofkanzlei erlangte ab 1716 allerdings immer mehr Einfluss und erledigte die Korrespondenz mit nahezu allen Staaten außer den Nordischen. Vor allem bei der Verwaltung der russischen Agenden konnte sich die Reichshofkanzlei noch einige Zeit behaupten. In der zweiten Hälfte der 1720er-Jahre sank jedoch deren Einfluss auf die Außenpolitik, was auch bei näherer Betrachtung der diplomatischen Korrespondenz der kaiserlichen Gesandten in Russland mit dem Wiener Hof deutlich wird. So zeigen etwa die Gesandtschaftsprotokolle der Jahre 1726 bis 1732, dass die Hofkanzlei in diesen Jahren von den Gesandten wesentlich häufiger als Korrespondenzpartner herangezogen wurde als die Reichshofkanzlei.224 Abgesehen davon offenbarte sich die mit dem Bündnisschluss von 1726 einsetzende Intensivierung der Beziehungen auch in der Verwaltung des Briefwechsels. Die bis dahin gemeinsam archivierten Berichte und Weisungen wurden aufgrund ihres steigenden Umfanges voneinander getrennt. Neben diesem offiziellen Briefwechsel soll außerdem eine weitere Ebene des Informationsaustausches der Gesandten mit dem heimischen Hof in den Blick genommen werden. So unterhielten die meisten Diplomaten eine private Korrespondenz mit Kollegen in anderen Machtzentren, führenden Militärs, einflussreichen Wiener Ministern oder gar dem Kaiser selbst. Das Prädikat »privat« 224 Vgl. Matsch, Geschichte, 46–50; Müller, Gesandtschaftswesen, 22–32; ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 241, Gesandtschaftsprotokolle (1726–1732).
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Der Handlungsspielraum der Akteure
bezeichnete in diesem Fall jedoch keineswegs einen auf Partikularangelegenheiten eingeschränkten Schriftverkehr, sondern vielmehr einen politischen Informationsaustausch jenseits der offiziellen Kanzleien. Karl VI. selbst bediente sich nur in den seltensten Fällen einer solchen Geheimkorrespondenz und überließ diese Aufgabe seinen engsten Beratern, welche darin neben Bestätigungen des Ein- und Ausganges der Diplomatenberichte auch Hintergrundinformationen über ihre persönliche und vor allem die kaiserliche Meinung hinsichtlich der politischen Vorgänge am fremden Hof, des Verhaltens der Diplomaten und der daraus resultierenden Entscheidungen lieferten. Neben den für das Gesandtschaftswesen zuständigen Ministern unterhielt der stark in die kaiserliche Außenpolitik involvierte Prinz Eugen von Savoyen (1663–1736)225 im betrachteten Zeitraum mit nahezu allen Diplomaten an den auswärtigen Höfen eine umfangreiche Privatkorrespondenz.226 Diese erfüllte tatsächlich die Funktion eines vertraulichen Gedankenaustausches, indem darin die Möglichkeit der ungeschminkten Meinungsäußerung über geheime Aktionen, die Erschließung wichtiger Nachrichtenquellen sowie die Gewinnung bedeutender Persönlichkeiten gegeben war. So bot diese spezielle Kommunikationsform dem Kaiser, seinem Vertrauten und den Gesandten die Gelegenheit, ihre jeweiligen Ansichten über Vermittlung des Prinzen Eugen in informeller Art und Weise und jenseits des Kanzleiweges an das jeweilige Gegenüber zu transportieren. Der in den Jahren 1726 bis 1727 in Russland befindliche Ambassadeur Amadeus Graf Rabutin und sein bis 1733 am Zarenhof dienender Nachfolger Franz Carl Graf
225 Prinz Eugen von Savoyen galt in den Jahren 1715 bis 1736 als erster Minister des Kaisers am Wiener Hof und nahm somit auch einen maßgeblichen Einfluss auf die außenpolitischen Entscheidungen Karls VI. Bei dieser Einflussnahme war ihm die soeben beschriebene Geheimkorrespondenz mit den Diplomaten an den auswärtigen Höfen besonders dienlich und brachte ihm einen Vorteil gegenüber den anderen kaiserlichen Beratern ein. Das durch diesen Briefwechsel erworbene Wissen machte Prinz Eugen zum Meinungsmacher unter den kaiserlichen Ministern. So ist es kaum verwunderlich, dass die Annäherung an Spanien und Russland Mitte der 1720er-Jahre – welche in der vorliegenden Untersuchung noch ausführlich Erwähnung finden wird – ein wichtiger Bestandteil seiner außenpolitischen Konzeption für den Wiener Hof darstellte. Vgl. Max Braubach, Die Geheimdiplomatie des Prinzen Eugen von Savoyen (Wissenschaftliche Abhandlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Bd. 22), Köln-Opladen 1962, 14–15 sowie 35–36. 226 Um eine Vorstellung über die Ausmaße der ebenfalls im Wiener »Haus-, Hof- und Staatsarchiv« archivierten sogenannten »Großen Korrespondenz« des Prinzen Eugen zu bekommen, sei an dieser Stelle nur darauf hingewiesen, dass diese über 70 Kartons umfasst. Davon nehmen die Korrespondenzen mit den im Ausland befindlichen Diplomaten nur einen Teil ein. Vgl. ÖStA, HHStA, Große Korrespondenz, Prinz Eugen von Savoyen, Kt. 75a–152b.
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Wratislaw erhielten etwa den Auftrag, auf solchem Wege geheime Botschaften an Karl VI. zu übermitteln.227 Bei der Untersuchung dieser Quellen im Rahmen der vorliegenden Studie steht natürlich die Frage im Vordergrund, ob die darin angeführten Darstellungen auf inhaltlicher sowie begrifflicher Ebene von den Beschreibungen in der offiziellen Korrespondenz abweichen. Diese Analyse verspricht daher eine weitere Vertiefung der Frage nach der Wirkung der von den kaiserlichen Gesandten eingesetzten Kommunikationsstrategien innerhalb des Kommunikationsraumes des heimischen Hofes. In großer Abhängigkeit von der kaiserlichen Informationspolitik stand auch die »mediale« Öffentlichkeit als ein dritter, die Gesandten um- bzw. einschließender Kommunikationsraum. So kann das 18. Jahrhundert ganz allgemein auch als Zeitalter des Aufschwunges eines von der obrigkeitlichen Zensur kontrollierten Pressewesens bezeichnet werden. Gerade die bereits im 17. Jahrhundert einsetzende Produktion von Tageszeitungen machte diese zur zentralsten Informationsquelle über aktuelle Geschehnisse. Die Zeitungen als Öffentlichkeitsgeneratoren legten daher ein Hauptaugenmerk auf politische Berichterstattung auf internationaler Ebene, weshalb die politischen, militärischen und gesellschaftlichen Eliten die Medienrealität bestimmten. In diesem Zusammenhang stellte die Nachrichtenbeschaffung über die Vorgänge an den fremden Höfen eine große Schwierigkeit dar, da zum einen die Aktualität der Berichterstattung von der Entfernung des Geschehensortes und der teilweise geringen Anzahl der kundigen Informanten abhängig war. Das traf natürlich im besonderen Maße auf den Nachrichtentransfer aus dem weit entfernten Russland zu, der vor allem über dort lebende Ausländer wie Militärs, Kaufleute, Fachkräfte und Diplomaten sowie Kuriere erfolgte.228 Mit diesen Problemen waren auch die Herausgeber des 1703 gegründeten »Wienerischen Diariums« konfrontiert, welches im Rahmen der Untersuchung als Hauptquelle für die von oben gesteuerte Information der Öffentlichkeit über die Kommunikationsstrategien der kaiserlichen Gesandten am russischen Hof herangezogen werden soll.229 Diese mittlerweile vollständig im Internet veröf-
227 Vgl. Braubach, Geheimdiplomatie, 14–18 sowie 25–41; Müller, Gesandtschaftswesen, 43–60. 228 Vgl. Blome, Russlandbild, 20–21; Holger Böning, Aufklärung und Presse im 18. Jahrhundert, in: Hans-Wolf Jäger (Hg.), Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert (Das achtzehnte Jahrhundert: Supplementa, Bd. 4), Göttingen 1997, 151–163, hier: 152–155; Gestrich, Absolutismus, 168–169; Jürgen Wilke, Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Köln-Weimar-Wien 2000, 78–93; Andreas Würgler, Medien in der Frühen Neuzeit, München 2009, 50–64. 229 Alle Ausgaben des Wienerischen Diariums wurden im Rahmen eines großen Editionsprojekts der Österreichischen Nationalbibliothek digitalisiert und stehen der Öffentlichkeit
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fentlichte Tageszeitung erlangte im Laufe der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert nahezu eine kommunikationstechnische Monopolstellung innerhalb des Wiener Zeitungsmarktes, da sie in ihrer Funktion als Hofgazette mit exklusiven Rechten ausgestattet war. Gerade das am Beginn des Untersuchungszeitraumes stehende Jahr 1721 stellte in diesem Zusammenhang einen erheblichen Einschnitt dar, da der Zeitung ab diesem Zeitpunkt das einmalige Privileg einer Informationsübergabe aus erster Hand von Seiten des kaiserlichen Hofes vertraglich zugesichert wurde. In Folge erlangte das »Wienerische Diarium« im Vergleich zu den bisherigen Erscheinungsjahren und den übrigen Gazetten eine größere inhaltliche Bandbreite, was vor allem durch die Verarbeitung von amtlichen und diplomatischen Schriftstücken ermöglicht wurde. Nur wenige Zeit später wurde den Herausgebern schließlich die Erlaubnis erteilt, auch Berichte aus ausländischen Zeitungen abzudrucken, welche daraufhin durch Angabe des Herkunftsortes gekennzeichnet wurden. Bei allen Vorteilen, die diese Privilegien hinsichtlich des exklusiven Zuganges zu einem breiten Nachrichtenpool hatten, war damit auch die Verpflichtung zu einer in Einklang mit den Machthabern und der Zensur stehenden Berichterstattung verbunden. Aus diesem Grund hatte das Wienerisches Diarium den Charakter einer Chronik und konzentrierte sich, wie die meisten Zeitungen dieser Zeit, in erster Linie auf die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse in den auswärtigen Machtzentren.230 Die Kommunikation auf Ebene der Diplomatie war über Zeitungen wie das »Wienerische Diarium« auch für die nicht-höfischen Beobachter zugänglich geworden und hatte somit einen äußerst öffentlichkeitsrelevanten Charakter. Diplomaten nützten die Presse nicht nur als Informationsquelle über die Vorgänge in aller Welt, sondern verwendeten sie auch für eigene Zwecke, indem sie bestimmte Nachrichten über die Medien lancierten, um die internationale Reaktion darauf zu testen. Die täglichen Informationen gelangten daher vor allem über Gesandte an die Tageszeitungen, wobei das bereits mehrfach erwähnte Herausbilden ständiger Vertretungen eine Erhöhung der Frequenz und Qualität von Nachrichten aus dem Ausland zur Folge hatte. Vor allem zweit- und drittrangige Diplomaten fungierten meist als Informanten der Zeitungen. Dabei etablierten sich in erster Linie die vielen im Ausland befindlichen Agenten, welche sozusagen die Aufgabe des »Nachrichtendienstes« für ihre Souveräne übernahmen und damit eigentlich der Verschwiegenheit unterlegen waren, als Hauptversorger von aktuellen Ereignisberichten für die Presse. Wenngleich diese Vorgänge den um Geheimhaltung bemühten Fürsten ein Dorn im Auge waren, so drangen (zum Teil geheime oder bewusst aufgebauschte) Nachrichten im Internet zur Verfügung. Siehe dazu: Wienerisches Diarium (Digitalisat), , (17. Juni 2014). 230 Vgl. Franz Stamprech, Die älteste Tageszeitung der Welt. Werden und Entwicklung der »Wiener Zeitung«, Wien 1975, 5–41.
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vor allem über diese Kanäle an die Zeitungen, da diese Tätigkeit eine Haupteinnahmequelle für die Agenten darstellte. Aus diesem Grund waren die Herrscher auch auf eine saubere Berichterstattung über ihren eigenen Hof bedacht, weshalb die an den fremden Höfen befindlichen Gesandten auch auf eine dementsprechende Haltung der dort ansässigen Presse achten mussten. Europas Höfe stellten somit eine Kommunikationsgemeinschaft dar, in der auch Zeitungen ein Hilfsmittel der zwischenstaatlichen Interaktion darstellten. Dieses Informationswesen war für die Souveräne jedoch kaum kontrollierbar und hatte sozusagen durchlässige Stellen. Die aus dem Prestigedenken der Fürsten hervorgegangene Presselandschaft sorgte also dafür, dass (Geheim)Informationen an eine breitere Öffentlichkeit gelangten.231 Neben der höfischen Gesellschaft stellten die Gelehrten das »ungewollte« Hauptpublikum dar, zu welchem die Nachrichten über die Welt des Hochadels über die Zeitungen durchdringen konnten. Die sogenannte Gelehrtenrepublik definierte sich selbst als egalitäre Gesellschaft, die für die Souveräne eine im doppelten Sinne gefährliche Erscheinung darstellte: Einerseits widersprach ihre Organisationsstruktur den wesentlich hierarchischer gegliederten Gesellschaftsmodellen der Höfe, anderseits konnte sie sich tagespolitischer Themen ermächtigen und wurde damit zu einem kritischen Publikum. Genau diese Kritikfähigkeit ebenso wie der Glaube an Meinungs- und Lehrfreiheit waren vielfach die ideellen Eckpfeiler dieser »bürgerlichen« Rezipientengesellschaft. Aus diesem Grund wurde das aktive Zeitungsstudium auch zu einem Kennzeichen ständischer Zugehörigkeit, weshalb etwa auch das Erlernen eines (kritischen) Umganges mit der Presse Gegenstand des Studiums an den Universitäten war. Insgesamt stellte die Hinwendung zur Geschichte der Gegenwart ein weiteres Standesmerkmal der Gelehrten dar und erweiterte das bis dahin vorwiegend auf antiken Stoffen basierende Wissen. Die prinzipiell kritische Haltung der Gelehrten gegenüber den in den Zeitungen dargestellten Ereignissen der hohen Politik wird schon daran deutlich, dass diese häufig mit Theateraufführungen verglichen wurden.232 Die gelehrten Zuschauer sahen sich selbst als kritische Beobachter und Beurteiler der höfischen Aufführungen.233 231 Vgl. Gestrich, Absolutismus, 83–91. 232 Eines der berühmtesten periodischen Druckwerke, das diese Metapher sogar in seinem Namen trug, war das im 17. und beginnenden 18. Jahrhundert von Matthaeus Merian und seinen Nachkommen herausgegebene »Theatrum Europaeum«. Motivation für dessen Veröffentlichung war zunächst die Absicht der Schaffung einer zeitgenössischen Publikationsreihe über die Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges. Aufgrund der hohen Verkaufszahlen wurde die Veröffentlichung auch in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts fortgesetzt. Die Besonderheit des »Theatrum Europaeum« liegt nicht nur in seiner Qualität als Fundgrube von unterschiedlichen Quellen über die Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges und der nachfolgenden Epoche. Es zeichnet sich auch durch eine besonders reichhaltige Illustration der Ereignisse aus, die den Wert dieses zeithistorischen
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Für diese zum Teil kritischen Bewertungen wurden eigene Druckwerke geschaffen, die von der Forschung als historisch-politische Zeitschriften bezeichnet wurden. Diese wurden entweder als wiedergebende und damit auf eine möglichst lückenlose Wiedergabe von politischen Dokumenten bedachte oder als räsonierende, also kommentierende Zeitschriften veröffentlicht. Gerade in den Letztgenannten spiegelten sich die in der Öffentlichkeit geführten Diskussionen über das politische Geschehen wider. Sie stellten das interaktivste Printmedium des 18. Jahrhunderts dar und unterschieden sich von den Zeitungen durch Kommentierung, Kritisierung und nachhaltigere Betrachtung der im Zentrum der Berichterstattung stehenden zeithistorischen Ereignisse. Diese Quellen sollen daher als Zeugnisse einer unter den Untertanen geführten Debatte über die Vorgänge am russischen Hof herangezogen werden, um damit auch die im Rahmen des Internationalen Graduiertenkollegs vielbeachtete Frage der Kommunikation »von unten« zu berücksichtigen. So stellte gerade die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Hochblüte des historisch-politischen Zeitschriftenwesens dar, welches von der Zensur aufgrund des scheinbar buchartigen Charakters und der vielfach wissenschaftlichen Ausrichtung der Druckwerke weit weniger als die damaligen Zeitungen in den Blick genommen wurde. Dieser Umstand ermöglichte den Herausgebern und Autoren eine reflektierte Betrachtung der vielfach aus den Gazetten stammenden Informationen, weshalb sich auch deren Berichterstattung auf Staatsgeschäfte, Kabinettskriege, Hofaffären oder Festivitäten konzentrierte. Somit liefern die Zeitschriften auch wertvolle Hintergrundinformationen hinsichtlich des gesellschaftlichen Diskurses über die in den Zeitungen abgedruckten Ereignisreferate. Das für die Untersuchung der politischen Ereignisse am besten geeignete Periodikum dieser Art ist die »Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket«,234 die mit ihren nur im Zeitraum von 1702 bis 1735 660 erschienenen Ausgaben eines der meistgelesenen historisch-politischen Druckwerke des frühen 18. Jahrhunderts darstellte.235 Sie schenkte dem ZarenLesebuchs durch aufwendige Kupferstiche (historische Ereignisse, topographische Ansichten und Portraits) steigern sollten. Vgl. Lucas Heinrich Wüthrich, Das druckgraphische Werk von Matthaeus Merian d. Ae., Bd. 3: Die großen Buchpublikationen 1, Hamburg 1993, 115–118. 233 Vgl. Gestrich, Absolutismus, 96–114. 234 Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Leipzig 1702–1735. Nach 1735 wurde die Zeitschrift als »Neue Europäische Fama« weitergeführt. Beide Zeitschriften wurden von der Bayrischen Staatsbibliothek digitalisiert und damit über das Internet zugänglich gemacht. Siehe dazu: Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket (Digitalisat), , (17. Juni 2014). 235 Vgl. Böning, Aufklärung, 155–160; Gestrich, Absolutismus, 183–193; Joachim Kirchner, Das deutsche Zeitschriftenwesen. Seine Geschichte und seine Probleme. Teil 1: Von
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hof besondere Aufmerksamkeit und zeichnete dabei ein ambivalentes Russlandbild. Dieses schwankte von einer positiven Anerkennung der Verdienste Peters I. sowie der europäischen Integrationsbestrebungen unter seinen Nachfolgern bis hin zu einer Weitertradierung der traditionellen Russland-Stereotype des despotischen Verhältnisses zwischen Volk und Herrscher sowie des barbarischen Volkscharakters.236 Die Kontrastierung dieser beiden, von unterschiedlichen Sehepunkten aus an die Öffentlichkeit gerichteten Medien ermöglicht eine Gegenüberstellung der Kommunikation »von oben« mit jener »von unten«. Konkret soll in diesem Zusammenhang untersucht werden, wie die politischen Ereignisse in Russland sowie die Wirkung der von den kaiserlichen Gesandten eingesetzten Kommunikationsstrategien in der hofnahen Presse dargestellt wurden und welche Diskussionen darüber in der aus den Reihen der nicht-höfischen Untertanen stammenden Publizistik stattfanden. Die aus diesem Vergleich resultierenden Übereinstimmungen bzw. Divergenzen der Ansichten über die politische Realität können abermals anhand der Übereinstimmung oder Divergenz der in den Darstellungen verwendeten Schlüsselbegriffe dingfest gemacht werden. Darüber hinaus bietet die Gegenüberstellung der kaiserlichen Gesandtschaftsberichte und der Hofzeitung auf inhaltlicher und begrifflicher Ebene die Möglichkeit zur Überprüfung, in welchem Ausmaß die Diplomaten auch als Informanten der von oben gesteuerten Presse fungierten und somit auch zur Anschlussfähigkeit dieses Kommunikationsraumes beitrugen. In diesem Zusammenhang stellt sich zudem die Frage, inwiefern sich diese Darstellungen deckten und welche aus den diplomatischen Relationen stammenden Informationen an die Öffentlichkeit weitergegeben wurden. Die nähere Charakterisierung dieser die kaiserlichen Diplomaten ein- und umschließenden Kommunikationsräume verdeutlicht die Schlüsselrolle der Gesandten innerhalb derselben. So wurden die unterschiedlichen Interaktionsebenen auch mit ihnen als Akteure am russischen Hofe, durch sie als Informationsträger zum und vom fremden Machtzentrum und über sie als Diskussionssubjekte der verschiedenen Beobachter zu anschlussfähigen Systemen. Die soeben getroffene Charakterisierung der Kommunikationsräume der Gesandten sowie der zu ihrer Erschließung verwendeten Quellen sollen abschlieden Anfängen bis zum Zeitalter der Romantik, Wiesbaden 19582, 32–33; Wilke, Grundzüge, 94–114; Würgler, Medien, 43–49. 236 Vgl. Blome, Russlandbild, 121–122; Birgit Fissahn, Faszination und Erschrecken: Die Russlandberichterstattung der »Europäischen Fama« in der nachpetrinischen Ära, in: Mechthild Keller (Hg.), Russen und Rußland aus deutscher Sicht. 18. Jahrhundert: Aufklärung (West-östliche Spiegelungen, Bd. 2), München 1987, 136–152; Svetlana Korzun, Heinrich von Huyssen (1666–1739). Prinzerzieher, Diplomat und Publizist in den Diensten Zar Peters I., des Großen (Jabloniana. Quellen und Forschungen zur europäischen Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, Bd. 3), Wiesbaden 2013, 57–58.
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ßend in etwas vereinfachter Weise anhand der sich aus den unterschiedlichen Materialien ergebenden Schlüsselfragen und -botschaften bezüglich der Wirkung der kaiserlichen Vertreter zusammengefasst werden.
Kommunikationsraum
Kommunikationsraum
Höfische Öffentlichkeit – Russischer Hof
Höfische Öffentlichkeit – Heimischer Hof
Schlüsselbotschaften
Schlüsselbotschaften
›So war meine Wirkung.‹ ›So war seine Wirkung.‹
›So sollte ich wirken.‹ ›So musst du wirken.‹
Quellen
Quellen
Gesandtschaftsberichte kaiserlicher und anderer Diplomaten
Instruktionen sowie offizielle und geheime Korrespondenz
Bote
Übersetzungen Rollenzuweisungen
Empfänger
Entsender
Kommunikationsraum
Mediale Öffentlichkeit Schlüsselbotschaften
›So wirkten wir.‹ ›So wollten sie wirken.‹ Quellen
Periodische Druckwerke »von oben« und »von unten«
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Zur Rekonstruktion der Kommunikationsstrategien am russischen Hof stehen uns die Gesandtschaftsberichte der kaiserlichen Vertreter sowie jene der Diplomaten anderer Herrscher zur Verfügung. Während Erstere darin um die Darstellung der eigenen Wirkung bemüht waren, beschrieben Zweitere die Wirkung des im Zentrum des Geschehens stehenden anderen auf den fremden Hof. In der offiziellen und privaten Korrespondenz der kaiserlichen Vertreter mit den außenpolitischen Verantwortlichen des heimischen Hofes unterbreiteten die Ambassadeure, Envoy¦s und Residenten Vorschläge, wie sie zu Gunsten ihres Souveräns auf die Macht- und Würdenträger (ein)wirken könnten. Kaiser, Reichsvizekanzler und Österreichischer Hofkanzler sowie in manchen Fällen Prinz Eugen gaben ihnen klare Anweisungen, wie sie auf den russischen Hof (ein)wirken mussten. Schließlich wurde in den Ereignisberichten der von oben gesteuerten Hofpresse postuliert, welche Wirkung der Herrscher und seine Vertreter im fremden Machtzentrum durch ihre Kommunikationsstrategien erzielten. Dabei verfolgten diese mitunter auch das Ziel der Kundmachung ihres Vorgehens und ihrer Erfolge für die inländische und ausländische Hofgesellschaft. Die größtenteils gelehrten und meist nicht-höfischen Rezipienten der Zeitungen stellten sich in ihren eigenen Druckwerken häufig die kritische Frage, wie und warum ihre politischen Obrigkeiten mit den von ihnen eingesetzten Kommunikationsstrategien auf die Macht- und Würdenträger wirken wollten. Diese zentralen Botschaften und Fragen der einzelnen Kommunikationsräume ebenso wie die eingangs skizzierte Funktionsweise des dreigliedrigen Netzwerkes, in dem sich die Diplomaten bewegten, sollen in obenstehender Abbildung veranschaulicht werden.
1.3.3. Die Vielfalt der Begrifflichkeiten Aus den unterschiedlichen Quellen ergibt sich überdies eine Vielfalt an Bezeichnungen für die zwischenstaatlichen Beziehungen. Die Beschäftigung mit den internationalen – oder neutraler formuliert – den bilateralen Beziehungen führt zwangsläufig zur Konfrontation mit einer Reihe von ideologisch aufgeladenen Begriffen. Gerade das in der Literatur meist gebrauchte Prädikat der »österreichisch-russischen«237 bzw. »russisch-österreichischen«238 Beziehungen
237 Vgl. dazu pars pro toto eine der bedeutendsten deutschsprachigen Arbeiten zu den bilateralen Beziehungen in den 1720er-Jahren: Walter Leitsch, Der Wandel der österreichischen Rußlandpolitik in den Jahren 1724–1726, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge 6 (1958/1959), 33–91. 238 Vgl. dazu pars pro toto das fundierteste russischsprachige Werk zu den zwischenstaatlichen Beziehungen im betrachteten Zeitraum: S.G. Nelipovicˇ, Sojuz dvuglavych orlov.
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Der Handlungsspielraum der Akteure
führt zu einigen begrifflichen Schwierigkeiten, die in diesem Abschnitt einer Klärung bedürfen. Da die kaiserlichen Gesandten im zeitgenössischen Verständnis gleichzeitig als Vertreter des Heiligen Römischen Reiches sowie der habsburgischen Erblande betrachtet wurden,239 erscheint die Verwendung des Attributs »österreichisch« im Zusammenhang mit den bilateralen Beziehungen nur zu einem Teil zutreffend zu sein und muss streng betrachtetet als anachronistisch bezeichnet werden. So stellt die Verwendung des Begriffes »österreichisch-russisch« oder »russisch-österreichisch« eine unglückliche Rückprojektion aus der nationalstaatlichen Perspektive des 19. und 20. Jahrhunderts dar. Aus diesem Blickwinkel heraus könnte die Historiographie ja auch von »deutsch-russischen« oder »russisch-deutschen« Beziehungen sprechen und würde damit nur einen Bruchteil des Beziehungsgeflechts erfassen. Diese Beispiele zeigen, dass wir unsere nationalstaatlichen Konzeptionen nicht so einfach auf die Geschichte des 18. Jahrhunderts umlegen können. Darauf machte etwa Grete Klingenstein in ihren Untersuchungen zum Österreichbegriff im betrachteten Säkulum aufmerksam. Dementsprechend sei die Stellung Österreichs (im Sinne der von den Habsburgern als Landesherren der Erblande sowie als römisch-deutsche Kaiser regierten Gebiete) innerhalb der europäischen Staatengemeinschaft sowie dessen politische Organisation und innere Staatsbildungsprozesse für die Bezeichnung dieses Gebildes von großer Bedeutung gewesen. Dabei reiche das diffuse Begriffsfeld je nach historischer Epoche, vom »Erzherzogtum Österreich« über das »Haus Österreich« bis hin zur »Österreichischen Monarchie« und dem »Erblichen Kaiser von Österreich«. Die ersten drei genannten Termini bestanden im Laufe des 18. Jahrhunderts nebeneinander, wobei sie eine unterschiedliche semantische Aufladung erlebten. So kann das »Erzherzogtum Österreich« als erster Territorialbegriff greifbar gemacht werden, der durch eine klare geographische Zuschreibung sowie eine damit einhergehende physische Abgrenzung nach außen die Erblande als eindeutig fassbares Gebiet bezeichnete. Das dazugehörige Adjektiv »österreichisch« hingegen wurde zunächst als Begriff für den Rechtsraum und die Lebensgewohnheiten der Bewohner dieses Territoriums verstanden. Demgegenüber war die Bezeichnung »Haus Österreich« bis weit ins 18. Jahrhundert mit einer dynastisch-patrimonialen Konnotation versehen. Sie bezeichnete die aus der spanischen Nachfolge abgeleiteten Ansprüche des habsburgischen Herrschers und seiner Nachfolger auf ihre Machtstellung nicht nur als Herren des Hauses, sondern auch als römisch-deutsche Kaiser. Der Begriff »Haus Österreich« diente der europäischen Staatengemeinschaft zu Russko-avstrijskij voennyj al’jans vtoroj cˇetverti XVIII v (Zabytye vojny Rossii), Moskva 2010. 239 Vgl. Müller, Gesandtschaftswesen, 19–20.
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Beginn des 18. Jahrhunderts noch als Ausdruck für eine geopolitische Machtstellung: Diese umfasste eine heterogene Ansammlung von Territorien, die von unterschiedlichen Größen sowie verschiedenen Verfassungen und Kulturen gekennzeichnet waren und im zeitgenössischen Verständnis keineswegs zusammenhängend sein mussten.240 Diese, eine geopolitische Machtposition bezeichnende Vorstellung vom »Haus Österreich« findet sich auch in den Korrespondenzen der kaiserlichen Gesandten im betrachteten Zeitraum wieder. So berichtete Stephan Graf Kinsky im Jänner 1722 Folgendes über die laufenden Bündnisverhandlungen mit dem russischen Hof. Hinsichtlich eines möglichen Zusammenwirkens hielt ihm gegenüber der russische Unterhändler Petr Pavlovicˇ Sˇafirov fest: »[…] daß Ihro Czarische May[estät] ihre truppen undt flotta stehts im stande erhalten wollen, danach gewislich sich in unnüzige weithlaüfigkleiten niehmahlens wird einführen laßen, in etwas wider das haus von Österreich [Anm.: Hervorhebung Ch.St.], indeme Ihre Czarische May[estät] meistens ein Aliirter ware und in den letzt geführten krieg im norden Kay[serliche] May[estät] conduite der gehaltenen neutralitet nichts aus zustellen seye.«241
Dem entgegnete Kinsky im Laufe des weiteren Gespräches unter anderem: »Ich gabe ihme nach mehrers zugehörten die aufrichtigkeit und beständigkeit des allerdurchleüchtigsten hauses von Österreich [Anm.: Hervorhebung Ch.St.] vermeldent, ich würde mich glorios schätzen, wan wir durch unsere communication zwischen unseren beeden principalen ein foedus würden außmachen können.«242
Die soeben exemplifizierte machtpolitische Konnotation des Begriffs »Haus Österreich« verblasste allerdings im Laufe des 18. Jahrhunderts allmählich, wobei sich die »Monarchie« zunehmend als Bezeichnung für das politische Gebilde und in weiterer Folge als Territorialbegriff durchsetzte. Das »Haus Österreich« bestand weiterhin als Terminus für den Herrscher als Oberhaupt der Dynastie und deren Familienmitglieder. Daneben verblieb auch noch die Kurzbezeichnung »Österreich«. Damit konnte man die territorialen Besitzungen auf dem Schauplatz der internationalen Beziehungen als ein Ensemble ins Auge fassen, was vor allem durch den Verlust der Kaiserkrone unter Maria Theresia und der damit einhergehenden Emanzipation vom römisch-deutschen Reich notwendig wurde. Die aus diesem Begriffswandel hervorgegangene Bezeichnung »Österreichische Monarchie« hatte zunächst keineswegs einen territoria240 Vgl. Grete Klingenstein, Was bedeuten »Österreich« und »österreichisch« im 18. Jahrhundert? Eine begriffsgeschichtliche Studie, in: Richard G. Plaschka (Hg.), Was bedeutet Österreich? Inhalt und Umfang des Österreichbegriffs vom 10. Jahrhundert bis heute, Wien 1995, 150–220, hier : 212–215. 241 Bericht Kinsky an Karl VI. v. 30. Jänner 1722, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 97v. 242 Bericht Kinsky an Karl VI. v. 30. Jänner 1722, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 98r.
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len Anspruch. So verbanden die habsburgischen Herrscher damit anfänglich einen universalistischen Herrschaftsanspruch, der im Rahmen des Siegeszuges der Gleichgewichtsvorstellung in Europa allmählich seine Konnotation von Übermacht und Vorherrschaft verlor. Dieser Gesinnungswandel ging jedoch nur langsam auf das Weltbild der kaiserlichen Macht- und Würdenträger über. So war die Vorstellung des Kaisers als Oberhaupt der Christenheit in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch weit verbreitet, was sich etwa in den bereits angesprochenen und im Rahmen der vorliegenden Arbeit ausführlich betrachteten Streitigkeiten über den russischen Kaisertitel ausdrückt. Insgesamt erlebte der Begriff »Österreichische Monarchie« im Laufe des Jahrhunderts eine Territorialisierung, die die vorherige Konnotation eines universalistischen Machtstrebens verdrängte. Damit wurde nunmehr ein durch Grenzen definiertes und weithin geschlossenes Gebiet bezeichnet.243 Bei näherer Betrachtung ist die Suche nach einem adäquaten Begriff also mit Schwierigkeiten verbunden. So scheint auch die Gegenüberstellung der dynastischen Bezeichnungen »habsburgisch« und »romanovisch«, abgesehen von deren sprachästhetischer Unzulänglichkeit, nicht die richtige zu sein, würde man damit nämlich nur auf die dynastischen Vertretungsansprüche hinweisen und das bilaterale Beziehungsgeflecht nicht in seiner Ganzheit erfassen. Eine in der Literatur teilweise vorgenommene Vermischung dynastischer und staatlicher Attribute, wie »habsburgisch-russisch«,244 trifft den Nagel auch nicht auf den Kopf und scheint eher die viel zitierte Vermischung von Äpfeln und Birnen zu sein. Nicht minder problematisch sind die Begriffspaare »kaiserlich-russisch« oder »kaiserlich-zaristisch«, die gerade für den betrachteten Zeitraum eine klare Wertung vornehmen. So wurde der Zar im Jahre 1721 auch zu einem Imperator, weshalb – von der Metaebene aus betrachtet – ab diesem Zeitpunkt von »kaiserlich-kaiserlichen« Beziehungen gesprochen werden müsste. Isabel de Madariaga etwa nahm sich dieses Problems an und zeigte, dass Peter I. die Dankesfeiern anlässlich der Beendigung des Großen Nordischen Krieges (1700–1721) dazu nutzte, sich zum Kaiser krönen zu lassen, ohne dabei Rücksprache mit den übrigen europäischen Mächten zu halten. Genauer gesagt bediente er sich des lateinischen Titels »Imperator« anstelle der aus der griechischen Tradition stammenden Bezeichnung »Basileus« und stieß damit mitunter auf heftigen Widerstand der übrigen Souveräne. Allen voran auf jenen des römisch-deutschen Kaisers, der sich aufgrund dieses seines Titels als ranghöchster Herrscher der christlichen Staatengemeinschaft betrachtete. Andere 243 Vgl. Klingenstein, »Österreich«, 215–220. 244 Vgl. dazu pars pro toto: Mario Döberl, »Ein paar schöne wägen nach der Wienerischen neuesten faÅon«. Zur Geschichte eines Geschenks Kaiser Karls VI. an den Zarenhof anläßlich der russisch-habsburgischen Allianzverträge des Jahres 1726, in: Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien 4/5 (= Band 96/97 der alten Reihe) (2002/03), 296–331.
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Souveräne, die vom sich allmählich durchsetzenden Prinzip der Gleichheit aller europäischen Herrscher überzeugt waren, betrachteten diese Angelegenheit mit einer gewissen Ambivalenz oder gar mit Wohlwollen. Der Titelwechsel war also das Ergebnis einer aus Peters Europakurs hervorgehenden Prestigepolitik, mit der er sich in die höchsten Ebenen der europäischen Staatengemeinschaft zu integrieren versuchte. An die Stelle des Zaren aus dem Großfürstentum Moskau, der keine Bedeutung in der Rangordnung der westlichen Souveräne spielte, rückte der Imperator des russischen Reiches und machte seine Integrationsansprüche mehr als nur deutlich. Durch die Titelannahme war ein Präzedenzfall geschaffen, der die sich im Auflösen befindliche universelle Christengemeinschaft in radikaler Weise in Frage stellte.245 Dies, obwohl durch diese Neuetikettierung bei näherer Betrachtung keine gänzlich neue Situation geschaffen wurde. So stellte der 1547 von Ivan IV. angenommene Zarentitel die bereits ab dem 11. Jahrhundert verwendete Bezeichnung für den oströmischen byzantinischen Kaiser dar und bedeutete eben nichts anderes als Kaiser.246 Es stellt sich also die Frage, warum diese Namensänderung die Wogen derartig hochgehen ließ, wie in den folgenden Kapiteln dieser Untersuchung noch ausführlich dargestellt werden wird. Mit der Beanspruchung des Imperatorentitels wollte Peter I. den Topos des Ostreiches und jede Möglichkeit der Wiederbelebung eines solchen abprallen lassen. In den Jahrhunderten zuvor wurde der Titel Zar, als frühe russische Bezeichnung für den byzantinischen Basileus, bewusst als Abgrenzung gegenüber dem Westen geführt. Die moskowitischen Herrscher des 16. und 17. Jahrhunderts waren also keineswegs an der Bezeichnung Imperator interessiert, sondern wollten durch ihren Titel auch ihre Ansprüche als Souveräne des orthodoxen christlichen Reiches zum Ausdruck bringen. Gleichzeitig ignorierten die politischen Akteure des Westens den ursprünglichen Rang des Zaren, degradierten diesen zu einem Großfürsten und sprachen ihm damit die Gleichrangigkeit mit den übrigen europäischen Königen ab. Peter I. hängte durch die Titelannahme 1721 dem russischen Herrscher als Erbe des byzantinischen Reiches somit ein westliches Mäntelchen um und gab ihm einen klassisch römischen Anstrich. So bediente er sich bei der Ausrufungszeremonie klassisch-römischer Elemente, wozu etwa die Ehrentitel »pater patriae« und »magnus« zählten. Gleichzeitig war er sich auch der Magnetwirkung der Orthodoxie bewusst, weshalb er sich auch nach diesem Identitätswandel als Beschützer der Orthodoxie gegenüber den Osmanen darstellte. Religiöse Motive 245 Vgl. Madariaga, Tsar, 374–376. 246 Vgl. O.G. Ageeva, Titul »imperator« i ponjatie »imperija« v Rossii v pervoj cˇetverti XVIII veka, in: Mir istorii. Elektronnyj zˇurnal 5 (1999), , (18. Juni 2014); Max Vasmer, Russisches Etymologisches Wörterbuch, Bd. 3: Sea–Y Heidelberg 1958, 283.
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standen bei der Titelannahme jedoch nicht im Vordergrund. Peter I. war vielmehr an der Schaffung eines eigenen Absolutismus interessiert, indem er die unterschiedlichen Herrschaftsansprüche und Traditionen im Sinne einer weltlichen Machtsicherung miteinander kombinierte.247 Um keine Positionierung in dieser zeitgenössischen Streitfrage einzunehmen, dürfte man im Rahmen der vorliegenden Untersuchung, die im Wesentlichen nach dem Jahre 1721 angesiedelt ist, ausschließlich vom russischen Kaiser oder Imperator sprechen. Nun ergibt sich das Problem, dass wir die Bezeichnung Zar auch weiterhin als Quellenbegriff in den Berichten der unterschiedlichen Gesandten wiederfinden. Ein Grund dafür besteht unter anderem in der Tatsache, dass die europäischen Staaten unterschiedliche Positionen hinsichtlich der Anerkennung des russischen Kaisertitels einnahmen. Während Preußen, die Niederlande und Schweden diesen bereits im Laufe der Jahre 1721 und 1722 anerkannten, zögerten die übrigen, vor allem katholischen (Groß)mächte die Entscheidung noch weit über den Tod Peters I. hinaus. Großbritannien tat diesen Schritt im Jahre 1742. Dem folgten Frankreich 1745, Spanien 1759 und Polen 1764.248 Die jeweilige Haltung der einzelnen Souveräne in dieser Frage spiegelt sich auch in der Korrespondenz mit ihren Gesandten wider. So hielt etwa der preußische Vertreter Axel von Mardefeld im Jahre 1730 über den Einzug der frischgebackenen Herrscherin Anna Ivanovna in Moskau fest: »Auch, allergnädigster König und Herr, haben Ihro M[ajes]t[ät] die Rußische Kayserin [Anm.: Hervorhebung Ch. St.] gestern gegen mittage ihren solennen einzug in dero hiesige residentz gehalten;«249 Nur wenige Monate später verwendete der englische Gesandte, Claudius Rondeau,250 in der Beschreibung der Krönung von Anna Ivanovna folgende Worte: »Her Czarish Majesty [Anm.: Hervorhebung Ch. St.] was crowned the 28th of last month with much greater pomp than any of her predecessors […].«251 Bei der Darstellung desselben Anlasses wählte der
247 Vgl. Ageeva, Titul; Madariaga, Tsar, 376–381; Reinhard Wittram, Peter I. Czar und Kaiser. Zur Geschichte Peters des Großen in seiner Zeit, Bd. 2, Göttingen 2004, 462–467. 248 Vgl. Blome, Rußlandbild, 167–175; Wittram, Peter, 467–468; Karl-Heinz Ruffmann, England und der russische Zaren- und Kaisertitel, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge 3 (1955), 217–224, hier : 219–220. 249 Bericht Mardefelds an Friedrich Wilhelm I. v. 27. Februar 1730, GStA PK, I. HA, Rep. 11 Geheimer Rat Auswärtige Beziehungen Akten, Nr. 6709, Berichte Mardefeld 1730, 51r bzw. 74r. 250 Claudius Rondeau († 1739) begleitete den britischen Generalkonsul Thomas Ward als Sekretär im Juli 1728 nach St. Petersburg. Erst nach dem Tod Wards, am 4. Februar 1731, wurde Rondeau Monate später, am 11. September 1731, offiziell zum britischen Residenten am russischen Hof ernannt. Vgl. Anthony Cross, In the Lands of the Romanovs. An Annotated Bibliography of First-hand English language Accounts of the Russian Empire (1613–1917), Cambridge 2014, 81–82. 251 Bericht Rondeaus an Townshend v. 4. Mai 1730, National State Archives (künftig: NSA),
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französische Gesandte, Jean Magnan, denselben Titel, wenngleich die Wahrnehmung des Fests etwas anders ausfiel: »Avant-hier, 9 de ce mois, la c¦r¦monie du courennement de la Czarine se fit dans l’eglise cath¦drale de Moscou avec la mÞme pompe qui avait ¦t¦ observ¦ au courennement du feu Czar Pierre II [Anm.: Hervorhebungen Ch. St.] […].«252 Die ausgewählten Beispiele zeigen also, dass die Diskussion um den russischen Imperatorentitel bis in die 1730er-Jahre und darüber hinaus keineswegs als abgeschlossen oder geklärt betrachtet werden kann. Um diesem zeitgenössischen Diskurs begrifflich zu entsprechen, werden in der vorliegenden Arbeit die Begriffe Zar(in) und russische(r) Kaiser(in) bzw. Imperator/Imperatrix synonym verwendet, ohne dabei jedoch eine Auf- oder Abwertung der im Zentrum der Betrachtung stehenden russischen Herrscher zu intendieren. Die bisherigen Beobachtungen lassen somit auch den Versuch unpassend erscheinen, die Gleichrangigkeit der beiden Herrscher für die Bezeichnung der bilateralen Beziehungen als Maßstab anzulegen. Dies, obwohl ein solches Vorhaben auf den ersten Blick sehr vielversprechend erscheint. So wurde der Wiener Kaiser in den zeitgenössischen russischsprachigen Quellen stets als »Römischer Kaiser« (»rimskij cesar’«) und dessen Vertreter als »römisch-kaiserlich« (»rimsko-cesarskij«) bezeichnet. Das geht etwa aus der bereits erwähnten Beschreibung des Wiener Hofstaates hervor, in der der russische Gesandte folgende Überschrift wählte: »Beschreibung der höchsten und anderer Ämter des Hofes seiner römisch-kaiserlichen Hoheit [Anm.: Hervorhebung Ch. St.], ebenso wie aller dazugehöriger Bediensteten und deren Aufgaben, die von seiner kaiserlich-allrussischen Hoheit Kammerherrn Lancˇinskij am 22. Mai 1725 aus Wien abgeschickt wurden.«253
Es ist bezeichnend, dass dieses Dokument von der russischen Archivverwaltung des 19. Jahrhunderts die Bezeichnung »Beschreibung der Hofstaaten des österreichischen Hofes« erhielt. Aus zeitgenössischen russischer Sicht müsste man daher von Beziehungen zwischen dem römischen und dem (all)russischen Kaiser sprechen. Diese Bezeichnung würde allerdings nicht den Positionen des Wiener Hofes gerecht werden. Die soeben problematisierten Begriffe bzw. Begriffspaare weisen also auf ein terminologisches Dilemma hin, das so leicht nicht gelöst werden kann, ohne dabei nicht anachronistisch vorgehen oder indirekt Stellung für eine der beiden Seiten beziehen zu wollen. Die angesprochenen Attribute der zwischenstaatliSecretaries of State: State Papers Foreign, Russia, SP91/11, January–December 1730, 103r. Siehe dazu auch: A. Polovcov (Hg.), SIRIO, Tom 66, Sankt-Peterburg 1889, 186. 252 Bericht Magnans an Chauvelin v. 11. Mai 1730, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Bd. 81, SanktPeterburg 1892, 30. 253 RGADA, f. 156, op. 1, d. 193, 31r.
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chen Beziehungen werden daher in der vorliegenden Untersuchung nach Möglichkeit vermieden und durch unverfänglichere Umschreibungen ersetzt. Der Leser möge es dem Autor bei all seiner historischen Genauigkeit jedoch nachsehen, wenn an manchen Stellen vor allem aus sprachästhetischen Gründen auch ahistorische Begriffspaare verwendet werden. Das trifft überdies auch auf manche Umschreibungen zu, die bereits zu etablierten Fachausdrücken der Historiographie geworden sind. So lassen sich die häufig ändernden Bündniskonstellationen des internationalen Systems vielfach nicht ohne den Gebrauch nationalstaatlicher Attribute wiedergeben. Diese werden im Rahmen der gesamten Arbeit in alphabetischer Reihenfolge aufgelistet (z. B. das englischfranzösisch-preußische Bündnis, die österreichisch-russisch-spanische Allianz etc.).
Teil 2: Vom zwischenstaatlichen Tauwetter in die diplomatische Eiszeit – Wiederbelebung und Einfrieren der bilateralen Kommunikation in den Jahren 1720–1725
Der in diesem Abschnitt betrachtete Zeitraum stellt eine erste sinnvolle inhaltliche Klammer für die Untersuchung der Kommunikation zwischen den im Zentrum der Betrachtung stehenden Höfen dar. So wird darin ein Bogen von der Wiederaufnahme und Intensivierung der zwischenstaatlichen Beziehungen kurz vor bzw. nach Ende des Nordischen Krieges (1721), über den Bruch durch die Kaisertitelannahme von Peter I. (1721/22) bis hin zur neuerlichen Entspannung der bilateralen Verhältnisse nach dem Tod des russischen Herrschers (1725) gespannt werden. Diese Entwicklung soll eng an den am zwischenstaatlichen Diskurs beteiligten Akteuren und den von ihnen eingesetzten Kommunikationsstrategien und -mitteln festgemacht werden. So spiegeln sich bereits im ersten Teil der vorliegenden Fallstudie die Mechanismen der Annäherung bzw. des Auseinanderdriftens in der zwischenstaatlichen Interaktion wider. Gleichzeitig werden diese Ereignisse auch in den Kontext der internationalen Beziehungen unmittelbar vor bzw. nach dem Nordischen Krieg eingebettet. So waren beide Mächte im betrachteten Zeitraum gegenüber einem Bündnis mit dem jeweils anderen aus mehreren Gründen prinzipiell offen eingestellt. Russland stand bei der Durchsetzung seiner Territorialansprüche nach dem Frieden von Nystad (1721) einem großen Interessenskonflikt mit den Seemächten gegenüber, während der Kaiser zwischen diesen und dem französisch-spanischen Bündnis hin- und herschwankte. Die weiteren Ereignisse in Europa legten den Grundstein für eine Annäherung zwischen beiden Höfen, machten ein Bündnis zwischen Wien und St. Petersburg/Moskau jedoch vorerst nicht unabdingbar. So stieß Karl VI. einerseits aufgrund der Gründung der Ostende-Kompanie auf den Widerstand der Seemächte und sah sich aufgrund des rigiden Vorgehens der Jesuiten gegenüber den Protestanten in Polen, Schlesien und Ungarn auch in einen religiösen Konflikt mit Großbritannien und Preußen verwickelt. Überdies führten die Auseinandersetzungen mit Spanien hinsichtlich der Einrichtung einer Sekundogenitur in Sizilien zu einer Isolation Karls VI. und damit zu einer Annäherung an Russland. Gleichzeitig waren die bilateralen Beziehungen in der ersten Hälfte der 1720er-Jahre von einem Auseinanderdriften der Interessen
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gekennzeichnet. Während sich der Kaiser voll auf Europa konzentrierte, stürzte sich der Zar bis zum Frieden von Konstantinopel 1724 in einen Konflikt mit Persien und damit auf die sogenannte »Ostfrage«.254 Vor diesem Hintergrund wird das Auf und Ab in der zwischenstaatlichen Kommunikation in den einzelnen Teilabschnitten betrachtet. Dieser mikroanalytischen Analyse wird im Folgenden ein Überblick über die bilateralen Beziehungen in den ersten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts vorangestellt. Die einleitenden Ausführungen bieten das notwendige Basiswissen für die daran anschließenden Darstellungen der Ereignisse in den Jahren 1720 bis 1725. So legten die ersten beiden Jahrzehnte nicht nur den Grundstein für die zwischenstaatliche Annäherung in der ersten Hälfte der 1720er-Jahre, sondern zogen sich gleichzeitig wie ein dunkler Schatten über diese bilaterale Konsolidierungsphase. Nur unter einer bis an das Ende des 17. bzw. den Beginn des 18. Jahrhunderts zurückreichenden Berücksichtigung des außenpolitischen Kurses Peters I. und der daraus resultierenden Beziehungen mit dem Wiener Hof können die vereinenden und trennenden Momente des betrachteten Zeitraumes in weiterer Folge sichtbar gemacht werden. Eine zuverlässige Quelle dafür stellt die bislang erschienene, vergleichsweise umfangreiche und ereignisgeschichtlich ausgerichtete Forschungsliteratur dar, auf deren Ergebnissen die folgenden Ausführungen basieren.
2.1. Ein Klima des gegenseitigen Misstrauens? Die zwischenstaatlichen Beziehungen am Vorabend der groß angelegten Kontaktaufnahme von 1720/21 Am 6. Februar 1721 eröffneten die Konferenzminister Karls VI. ein Gutachten über die in Wien stattfindenden Gespräche zur Wiederaufnahme freundschaftlicher Beziehungen mit Russland sowie möglicher daraus resultierender Bündnisverhandlungen mit folgenden Worten: »Aller[gnädi]gster Kayser u[nd] Herr. Euer Kay[serliche] May[estät] haben sich allerg[nä]d[i]gst gefallen lassen auf des czarischen ministers Paul Jaguschinski unterm 27 t[e]n May 1720 allerun[ter]th[äni]gst beschehenes ansuchen dero geheimbte räthe dem Grafen Thomas Gundacar v[on] Stahrenberg, und dem Carl Friedrich Grafen v[on] Schönborn R[eichs]-H[of]-V[ize]-Cantzlern zu benennen: Umb mit besagtem Jaguschinski in sachen eines aufrichtigen vergiss aller vorigen zwistigkeiten, und
254 Vgl. Nelipovicˇ, Sojuz, 14–21.
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wiederherstellend-guter verständnus, anbey über das czar[ische] verlangen einer beständigen freundschaft, und angehender bindnus zu conferiren.«255
Diese Einleitung deutete darauf hin, dass die bilateralen Beziehungen zu diesem Zeitpunkt offensichtlich getrübt waren. Doch welche vorangegangenen Zwistigkeiten hatten die Konferenzminister im Sinn, die vor der Wiederherstellung eines guten Verständnisses sowie der Errichtung einer beständigen Freundschaft und der Aufnahme von Bündnisverhandlungen zunächst vergessen werden mussten? Wo lagen die zeithistorischen Konfliktthemen begraben, die das kollektive Gedächtnis der Macht- und Würdenträger beider Höfe belasteten? Antworten auf diese Fragen sollen nunmehr aus jener Forschungsliteratur erschlossen werden, die ihre Ergebnisse auf die diplomatischen Korrespondenzen der außenpolitischen Verantwortlichen in St. Petersburg/Moskau und Wien mit ihren jeweiligen Gesandten stützte. So setzten sich aus diesem Kreis der politischen Akteure jene Kollektive zusammen, die in den Jahrzehnten zuvor für das Aufkommen der angesprochenen Zwistigkeiten verantwortlich gewesen waren. Deren Ansichten, die uns in den kleineren und größeren Werken der beiden Nationalhistoriographien sozusagen als Puzzlestücke des bilateralen Diskurses im frühen 18. Jahrhundert vorliegen, sollen nunmehr zusammengefügt werden, um in aller Kürze ein zusammenhängendes Bild von den verbindenden und trennenden Momenten der zwischenstaatlichen Beziehungen bis zum Beginn der 1720er-Jahre rekonstruieren zu können. Den kleinsten gemeinsamen Nenner nahezu aller Studien, die sich mehr oder weniger ausführlich der zwischenstaatlichen Beziehungen in den ersten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts annehmen, bildet die These, dass das Zustandekommen eines Bündnisses zwischen dem Kaiser und dem Zaren vor allem daran scheiterte, dass die internationale politische Lage eine derartige Allianz zu keinem Zeitpunkt unabdingbar machte. Die Ambivalenz im Verhältnis zwischen beiden Höfen kann als »common sense« aller betrachteten Autoren hervorgehoben werden, der sich in aller Kürze folgendermaßen auf den Punkt bringen lässt: Wenngleich beide Seiten aufgrund gemeinsamer Grundinteressen immer wieder mit dem Gedanken eines Zusammenwirkens spielten, so ließen die primären außenpolitischen Interessen beider Länder im betrachteten Zeitraum ein gemeinsames Vorgehen auf der Prioritätenliste der Regierungen nach unten rutschen. Darüber hinaus verhinderten auch Momente des gegenseitigen Misstrauens eine Annäherung beider Höfe. Während das gemeinsame Vorgehen gegen die Türkei im 17. Jahrhundert den Grundstein für ähnliche Interessen in der Politik gegenüber der Pforte legte, so ließen die Verstrickungen beider Mächte in die zum Teil parallel verlaufenden Kriege des frühen 18. Jahrhunderts 255 Gutachten der kaiserlichen Konferenzminister v. 6. Februar 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 4r.
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diese Frage nur allzu selten zum selben Zeitpunkt auf den ersten Platz der außenpolitischen Agenda beider Mächte rücken. So war der Zar im Rahmen des Großen Nordischen Kriegs (1700–1721) über den gesamten Zeitraum in erster Linie mit dem Erkämpfen der Vormachtstellung im Ostseeraum beschäftigt, wohingegen der Kaiser all seine außenpolitischen Entscheidungen von den Entwicklungen im Spanischen Erbfolgekrieg (1701–1714) sowie im anschließenden Venezianisch-Österreichischen oder Ersten Türkenkrieg Karls VI. (1714–1718) abhängig machen musste. Darüber hinaus markierte die Schlacht von Poltava (1709) als Wendepunkt der russisch-schwedischen Auseinandersetzung auch einen Wandel im Verhältnis zwischen den beiden Höfen. So leitete die daraus resultierende Erstarkung Russlands einige ernst zu nehmende Annäherungsversuche zwischen beiden Höfen ein, die letztlich stets an den unterschiedlich gelagerten außenpolitischen Interessen der aufeinander zugehenden Mächte scheiterten. Dazu zählten unter anderem die Einrichtung eines Heiratsprojekts zwischen dem Zarevicˇ Aleksej (1690–1718)256 und der österreichischen Erzherzogin Magdalena (1689–1743) sowie die russische Gesandtschaft an den Wiener Hof im Jahre 1711 und jene des Kaisers nach St. Petersburg im Jahre 1715.257 Die eingangs angesprochenen Zwistigkeiten des Jahres 1720 beruhten jedoch unter anderem auch auf Konflikten, die ihren Ursprung im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts hatten und in jenen Arbeiten besprochen werden, die diese Periode näher in den Blick nehmen. So zeigte Franz Pilss, dass die Ursprünge des gegenseitigen Misstrauens etwa in der von 1701 bis 1705 am Kaiserhof befindlichen Gesandtschaft des Fürsten Petr Alekseevicˇ Golicyn (1660–1722) am Beginn des Säkulums begraben lagen. So beklagte sich der russische Diplomat, dass der Wiener Hof gegenüber dem Vertreter des Zaren nach Eintritt Peters I. in den Krieg mit Schweden und der darauffolgenden Niederlage Russlands bei Narva (November 1700) ein besonders abschätziges Verhalten an den Tag gelegt hätte.258 Begleitet und verstärkt wurden diese Spannungen durch die Veröf256 Aleksej Petrovicˇ war der älteste Sohn Peters I. und dessen erster Frau Evdokija Fedorovna (1669–1731). Aleksej heiratete im Jahre 1711 die Brauschweig-Wolfenbüttelsche Prinzessin Sophie Charlotte Christine (1694–1715) und wurde somit zum Schwager Karls VI., der im Jahre 1708 Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel (1691–1750) geheiratet hatte. Vgl. Aleksej Petrovicˇ, carevicˇ, in: T.A. Lobasˇkova, Dinastija Romanovych. Biobibliograficˇeskij ukazatel’, Moskva 2007, 88–90. 257 Vgl. Florovskij, Otnosˇenija, 9–16; Nelipovicˇ, Sojuz, 5–9; Pommerin, Bündnispolitik, 115–117. 258 So berichtete er etwa im Mai 1701 an den damaligen Leiter der russischen Diplomatie Fedor Alekseevicˇ Golovin (1650–1706): »Am 6. Mai kam ich nach Wien. Der Kaiser ist in seinem Landsitz in Loksemburk (Laxenburg). Ich ertrage jegliche Entbehrungen und Mängel.« ˇ ast’ II: PriZitiert nach: N.G. Ustrjalov, Istorija Castrvovanija Petra Velikogo, Tom 4, C lozˇenija, Sankt-Peterburg 1863, 195.
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fentlichung des berühmten und zunächst fälschlicherweise dem kaiserlichen Gesandten Christoph Ignaz von Guarient und Rall zugeschriebenen Reisetagebuchs seines Sekretärs Johann Georg Korb (1672–1741), der darin ein äußerst abschätziges Bild einer »barbarischen Moscovia« zeichnete.259 Der Druck des Werkes wurde schließlich aufgrund heftigster Proteste von russischer Seite eingestellt. Die im Jahre 1702 mit Bündnisverhandlungen an den Kaiser adressierte Gesandtschaft Johann Reinhold Patkuls (1660–1707) scheiterte am Unwillen der außenpolitischen Verantwortlichen in Wien, dem vordringenden Zarenreich einen Machtzuwachs zu verschaffen.260 Aufgrund dieser offensichtlichen Ressentiments war die russische Regierung in den darauffolgenden Jahren zunächst darum bemüht, ihren Hauptgegner im Nordischen Krieg am Wiener Hof in Misskredit zu bringen, indem sie eine mögliche Vereinigung Schwedens mit Frankreich als mögliches Schreckenszenario für den im Spanischen Erbfolgekrieg befindlichen Kaiser sowie ein eventuelles Zusammenwirken in Aussicht stellte.261 Gerade die militärische Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn unter der Führung von Franz II. Rkûczi (1676–1735) von 1708 bis zum Frieden von Sathmar 1711 bot Russland einen günstigen Anlass für ein gemeinsames Vorgehen mit dem Kaiser. Franz Pilss zeigte jedoch anhand der Wiener Archivmaterialien, dass gerade das Verhalten Peters I. in dieser Frage nachhaltige Folgen auf die Haltung des Wiener Hofs gegenüber dem Zaren hatte. Das Misstrauen des Kaisers wurde in erster Linie dadurch hervorgerufen, dass 259 Golicyn berichtete darüber am 8. August 1701 an Golovin: »Er [Guarient] gab ein Buch über den Zustand und die Verhältnisse des Moskauer Staates heraus. […] [I]n Wahrheit, wie ich hier höre, ist es eine bisher nie dagewesene Besudelung und Beschimpfung des Moskauer Staates; seit seiner Ankunft allhier, werden wir als Barbaren eingeschätzt und als nichtig ˇ ast’ II: Prilozˇenija, 201. Guarient betrachtet.« Zitiert nach: Ustrjalov, Istorija, Tom 4, C reagierte auf die fälschliche Zuschreibung dieses Werks in Form von drei Schreiben an Golovin und Sˇafirov im Dezember 1701 sowie an Peter I. im April 1702. Darin stellte er klar, dass er nichts mit der Veröffentlichung des Buchs zu tun habe und das Werk der Feder ˇ ast’ II: seines ehemaligen Sekretärs Korb entstamme. Vgl. Ustrjalov, Istorija, Tom 4, C Prilozˇenija, 211–212 sowie 237. 260 Patkul hielt bezüglich der Verhandlungen mit dem Wiener Hof Ende 1702 zum Beispiel fest: »Kaunitz stellt sich ein solches Bündnis unmöglich vor, und auch wenn er das nicht deutlich aussprechen will, habe ich gleichzeitig bemerkt, dass die Höfe Englands, Hollands und Hannovers dabei hinderlich sind: Weil sie das Erstarken Russlands nicht mit Begeisterung betrachten und in allen Gesprächen mit den kaiserlichen Ministern zu wissen geben, wie gefährlich es sei, den Zaren groß werden zu lassen; Deswegen begünstigen sie die Schweden und flüstern dem Kaiser ein, dass der Schwede den ehrlichen Wunsch hege, sich mit ihm zu vereinigen. Dadurch wird der Kaiser von einem Bündnis mit Seiner Zarischen Majestät abgehalten, worüber ich vom brandenburgischen und dänischen Minister erfahren habe.« ˇ ast’ II: Prilozˇenija, 259. Zitiert nach: Ustrjalov, Istorija, Tom 4, C 261 Vgl. Franz Pilss, Die Beziehungen des kaiserlichen Hofes unter Karl VI. zu Russland bis zum Nystädter Frieden (1711–1721), Phil. Diss. Wien 1949, 5–13; Bantysˇ-Kamenskij, Obzor, 40–42.
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Russland aus Sicht der außenpolitischen Verantwortlichen in Wien in diesem Konflikt ein Doppelspiel führte und gleich mehrmals Kontakt mit den »Rebellen« aufnahm. Gleichzeitig zeigte sich Peter I. vor allem verstimmt darüber, dass er nicht als Vermittler bei der Beilegung des Konflikts 1711 herangezogen, sondern diese Rolle an die Seemächte übertragen wurde. Diese Episode warf einen längeren Schatten auf die zwischenstaatlichen Beziehungen im zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts.262 Von besonderem Interesse für unsere Fragestellung sind weitere Ereignisse des soeben skizzierten Zeitraumes, die auch nachvollziehbare Erklärungen für das ambivalente Verhalten Peters I. während des Ungarnaufstandes liefern. So beanspruchte der ab 1710 am Wiener Hof befindliche russische Gesandte, Baron Johann Urbich (1653–1715), den Majestätstitel für seinen Herrn sowie den Exzellenztitel für sich selbst.263 Am Wiener Hof wurden erstrangige Gesandte auswärtiger Mächte besonders privilegiert behandelt. Dazu zählte unter anderem das Recht der Beanspruchung des Titels »Exzellenz«. Neben Frankreich und Spanien, die im betrachteten Zeitraum zumindest zeitweise einen höchstrangigen Botschafter nach Wien entsandten, waren der Papst, Portugal sowie die Republik Venedig am Kaiserhof in der Regel ständig durch Ambassadeure vertreten, die diesen Titel in Anspruch nahmen.264 Diese Besonderheiten des diplomatischen Austausches am Kaiserhof vermerkte auch der russische Gesandte Ludwig Lanczinski in seinem Bericht über das Wiener Gesandtschaftszeremoniell. »Botschafter, die an diesen Hof geschickt werden, haben den Charakter eines außerordentlichen und bevollmächtigten, oder nur bevollmächtigten Botschafters. Von den Letztgenannten sind es gewöhnlich der päpstliche Nuntius […] und der venezianische Botschafter, die mit Pausen ständig residieren. Ebenso Außerordentliche [Anm.: Botschafter] sind die vom französischen, spanischen [Anm.: König] und von anderen Königen;«265
Die Prätentionen Urbichs eröffneten ein spannungsgeladenes Kapitel der bilateralen Beziehungen, das bereits durch die von Peter I. 1687 ausgesprochene Einforderung des Kaisertitels bei Leopold I. für Konfliktpotenzial sorgte. Mit der Abwälzung dieser Entscheidung durch den Kaiser auf die Kurfürsten gab sich der Zar zunächst zufrieden, weshalb der Konflikt für mehrere Jahre ruhte. Durch die erneute Beanspruchung sah sich nunmehr Josef I. unter Zugzwang, da der 262 Vgl. Pilss, Beziehungen, 13–22. Vgl. ausführlich zur Position Russlands in diesem Konflikt: O.V. Chavanova (Hg.), Osvoboditel’naja vojna 1703–1711 gg. v Vengrii i diplomatija Petra I, Sankt-Peterburg 2013. 263 Vgl. Emmerich Lukinich, Der Kaisertitel Peters des Großen und der Wiener Hof, in: Jahrbücher für Kultur und Geschichte der Slaven 5/3 (1929), 369–376, hier: 369. 264 Vgl. Pecˇar, Ökonomie, 210–216. 265 RGADA, f. 156, op. 1, d. 210, 1r.
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rege Kontakt zwischen Peter I. und Franz II. Rkûczi prinzipiell eine diplomatische Antwort erforderte. Doch der Kaiser beauftragte seinen Gesandten, Heinrich Wilhelm Graf Wilczeck (1665–1739), am russischen Hof den Wunsch des Kaisers nach Beibehaltung der bisherigen Titulatur zu kommunizieren. Diese Stellungnahme löste Bestürzung unter den russischen Ministern aus, die unter anderem die Verweigerung der Entgegennahme aller folgenden Schriftstücke aus Wien androhten. Das bilaterale Verhältnis blieb bis zu Beginn des Jahres 1711 äußerst gespannt und die Stellung des Kaisers und seines Vertreters am russischen Hof litt enorm angesichts dieses offenen Konflikts. Der unerwartete Tod Josefs I. (1705–1711) im April desselben Jahres lieferte Peter I. den Anlass für ein abermaliges Aufwerfen der Titelfrage, womit er sozusagen die zweite Runde in diesem Streit einläutete. Doch der Wiener Hof blieb im Notifikationsschreiben vom Mai 1711 bei seiner ursprünglichen Haltung und bezeichnete den Zaren als »Serenissimo et potentissimo Domino Tzaro et magno duci Petro Alexievicio«. In seinem Antwortschreiben bezeichnete der verärgerte Peter I. die Interimsregentin und Witwe Leopolds I., Eleonore Magdalena Theresia (1655–1720), lediglich als »Serenitas«, worauf die entrüsteten Konferenzminister das Schreiben kurzerhand an Urbich retournierten. Dieser verweigerte jedoch die Annahme des Schriftstücks und betonte den ausdrücklichen Wunsch des Zaren hinsichtlich der darin gewählten Titulatur. Wie wichtig derartige Fragen des Briefzeremoniells im zwischenstaatlichen Verkehr waren, zeigt der Umstand, dass beide Seiten sogar mit dem Gedanken einer bewaffneten Auseinandersetzung zur Beilegung des Konflikts spielten. So weit kam es angesichts der Verwicklung beider Mächte in andere militärische Auseinandersetzungen jedoch nicht. Während seines herbstlichen Kuraufenthalts in Karlsbad 1711 insistierte der zunächst als Hoheit bezeichnete Peter I. so lange auf dem Majestätstitel, bis die Statthalterei schließlich nachgab und der Streit vorerst beigelegt werden konnte. Doch entgegen den Einschätzungen von Emmerich Lukinich verschwand der Konflikt auch gut zehn Jahre später durch den »Willkürakt« der Kaisertitelannahme keineswegs von der Tagesordnung.266 Ganz im Gegenteil: Dieses Ereignis rückte die Titelstreitigkeiten wieder an die erste Stelle der außenpolitischen Agenden beider Höfe, wie in den verschiedenen Abschnitten der vorliegenden Untersuchung noch zu lesen sein wird. Nicht minder konfliktreich gestaltete sich die Frage der russischen Avancen im Reich, genauer gesagt im Herzogtum Mecklenburg, und sie stellte somit ein weiteres Hindernis für die Annäherung beider Höfe dar. In aller Kürze lassen sich diesbezüglichen Ereignisse wie folgt auf den Punkt bringen. Im Rahmen des Nordischen Krieges entwickelte sich das Reich zu einem Durchzugsgebiet fremder Truppen, wobei der Herzog von Mecklenburg aufgrund von inneren 266 Vgl. Lukinich, Kaisertitel, 369–376.
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Konflikten mit der Adelsopposition nicht die militärischen Mittel für eine Absicherung seiner Gebiete aufbringen konnte und damit am meisten von der Belagerung durch fremde Truppenteile betroffen war. Für die innere Konsolidierung benötigte er daher einen Verbündeten von außen, den er zunächst vergeblich in Schweden und im Kaiser suchte und schließlich in Peter I. fand. Dieser war wiederum an einer Stärkung seiner Ausgangslage in der Ostsee interessiert, weshalb er unter anderem 1716 einer Verbindung seiner Nichte, Ekaterina Ivanovna (1691–1733), mit dem Herzog Karl Leopold von Mecklenburg-Schwerin (1678–1747) zustimmte und noch im selben Jahr ein militärisches Aufgebot in dessen Gebiete schickte. Diesem folgte schließlich eine zweite Truppenentsendung an der Schwelle des Jahres 1717. Das Vorgehen rief vor allem den Ärger des englischen Königs hervor, der sich um ein gemeinsames militärisches Entgegenwirken mit dem Kaiser bemühte. Dies konnte jedoch durch den Abzug der Truppen in den Sommermonaten 1717 verhindert werden, der vor allem durch den Druck der im selben Jahr geschlossenen dänisch-englisch-französischen Tripelallianz und deren Bündnisverhandlungen mit dem Kaiser hervorgerufen wurde. Franz Pilss zeigte anhand der Wiener Archivmaterialien, dass diese Frage ein großes Hindernis hinsichtlich der Annäherung des kaiserlichen Hofs an Russland darstellte. Wenngleich die außenpolitischen Akteure Wiens einer solchen Annäherung prinzipiell nicht abgeneigt gewesen sind, waren es auch in diesem Fall wiederum die unterschiedlichen Positionen hinsichtlich der Notwendigkeit eines Bündnisses gegen die Pforte, die eine solche verhinderten. Gerade für den Kaiser stellten die Truppenpräsenz Russlands in Mecklenburg und die Verhandlungen mit der Tripelallianz eine willkommene Verzögerung in dieser Frage dar. Die Annäherungspläne wurden schließlich durch einen unerwarteten Konflikt durchkreuzt.267 Dieser wurde durch die Flucht von Aleksej Petrovicˇ, dem Sohn Peters I. und Schwager Karls VI., an den Wiener Hof ausgelöst. Auch in diesem Fall lässt ein stichwortartiger Ereignisbericht die nachhaltigen Folgen der Geschehnisse für die bilateralen Beziehungen bereits erahnen. So wurde der in Opposition zu seinem Vater stehende Zarevicˇ nach seiner Flucht nach Wien unter strengster Geheimhaltung des kaiserlichen Hofes zunächst auf der Tiroler Festung Ehrenberg sowie anschließend in Neapel versteckt gehalten, konnte jedoch von im Reich befindlichen russischen Agenten ausfindig gemacht werden. Nach Bekanntwerden des Zufluchtsorts und der Veranlassung seiner Rückkehr von Seiten des Zaren im Jahre 1718 folgte ein Kampf auf diplomatischer Ebene, der 267 Vgl. Pilss, Beziehungen, 131–144. Vgl. ausführlich zum Mecklenburg-Konflikt: Walther Mediger, Mecklenburg, Rußland und England-Hannover 1706–1721. Ein Beitrag zur Geschichte des Nordischen Krieges (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens, Bd. 70), Hildesheim 1967; Peter Wick, Versuche zur Errichtung des Absolutismus in Mecklenburg in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Berlin 1964.
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letztlich mit dem Abbruch der bilateralen Beziehungen endete. Auf die mysteriöse Ermordung eines kaiserlichen Kuriers in Russland im selben Jahr folgte zunächst die Einstellung des Briefwechsels der Souveräne. Der anhaltende Konflikt führte 1719 zur Abberufung bzw. Ausweisung aller diplomatischen Vertreter aus Wien und St. Petersburg sowie zur Vertreibung der als kaiserliche Missionare eingesetzten Jesuiten aus Russland.268 Aus dieser Faktenlage lässt sich bereits der Maßstab des Konflikts herauslesen. Die ausführlicheren Studien zu den zwischenstaatlichen Beziehungen des betrachteten Zeitraums offenbaren jene Punkte, an denen sich die beiden Höfe in diesem Konflikt besonders stießen. So arbeiteten Nikolaj Ustrjalov und Franz Pilss aus den unterschiedlichen Archivmaterialien jene Momente der diplomatischen Auseinandersetzung heraus, die sozusagen die Steine des Anstoßes im Konflikt um Aleksej Petrovicˇ darstellten. Die bereits zwei Jahre vor dem tatsächlichen Ausreißen des Zarevicˇ geplante Flucht wurde nach Bekanntwerden der Beteiligung Wiens zunächst von kaiserlicher Seite unter dem Vorwand herabgespielt, dass man lediglich an der Sicherheit Aleksejs sowie der Verbesserung des gespannten Verhältnisses zwischen ihm und seinem Vater interessiert gewesen sei. Seine Rückholung durch den bereits erwähnten Graf Petr Andreevicˇ Tolstoj bot dem Wiener Hof die Möglichkeit, von der Defensive in die Offensive zu gehen. Der Kaiser stieß sich an der Tatsache, dass Tolstoj und der Zarensohn das Reich ohne vorherige Abschiedsaudienz verlassen hatten. Gleichzeitig sah man das devote Verhalten Aleksejs im Zuge der Rückholung durch den zarischen Vertreter als Beweis dafür an, dass mit dem schwachen Zarevicˇ keine Opposition in Russland aufgebaut werden konnte. Die nach seiner Rückkehr erzwungenen Geständnisse boten Peter I. die Möglichkeit, den Kaiser und Reichsvizekanzler der Mithilfe bei einer geplanten Usurpation zu bezichtigen und gleichzeitig die Verstrickung des kaiserlichen Vertreters Otto Anton von Pleyer in die verschwörerischen Machenschaften anzuprangern. Den Wiener Hof erzürnte in diesem Zusammenhang besonders, dass der Zar unter anderem diese Vorwürfe in zwei Manifesten269 veröffentlichte, wobei man in der Reaktion darauf betonte, dass Pleyer lediglich seine Pflicht der Informationsvermittlung erfüllt hätte. Die daraus resultierenden Schikanen gegenüber dem Gesandten in Form von Verboten des Hofzuganges und dergleichen mehr verärgerten den Wiener Hof nur noch mehr. Diese heftige Verstimmung wurde noch dadurch verstärkt, dass das im Sep-
268 Vgl. Busˇkovicˇ, Petr, 339–382; Florovskij, Otnosˇenija, 24–28; Nelipovicˇ, Sojuz, 9–10. 269 Die Manifeste vom 3. Februar sowie vom 5. März 1718 wurden bei Ustrjalov in voller Länge abgedruckt. Siehe dazu: N.G. Ustrjalov, Istorija Carstvovanija Petra Velikogo, Tom 6: Carevicˇ Aleksej Petrovicˇ, Sankt-Peterburg 1859, 438–446 sowie 477–487.
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tember 1718 von Generaladjutant Gerhard Johann Löwenwolde270 überbrachte Antwortschreiben des Zaren hinsichtlich der vom Kaiserhof erhobenen Beschwerden keinerlei Stellungnahmen über die Causa Pleyer und dessen öffentliche Diffamierung enthielt. Aus diesem Grund wartete der Kaiser nur mehr auf die Rückkehr seines Vertreters, die bereits im August 1719 durch dessen Abberufung eingeleitet wurde. Nachdem Pleyer im Jänner 1719 endlich Reichsboden unter den Füßen gehabt hatte, folgte schließlich die sofortige Ausweisung des russischen Gesandten Avraam Pavlovicˇ Veselovskij (1685–1783) sowie der Agenten Bussy und Bernhard Röss durch den Kaiser.271 Der belastende Zwischenfall rund um den Zarevicˇ korrespondierte jedoch nicht mit den allgemeinen außenpolitischen Interessen beider Höfe. Es war Peter I., der knapp ein Jahr nach dem diplomatischen Bruch den ersten Schritt in Richtung einer Annäherung unternahm, indem er im Jänner 1720 den böhmisch-stämmigen General Johann Bernhard von Weisbach († 1735) zu Vermittlungsgesprächen nach Wien entsandte. Dort stießen sich die außenpolitischen Verantwortlichen jedoch daran, dass dieser keine Vollmacht für Verhandlungen bei sich trug, weshalb im Mai desselben Jahres der im Ministerialgutachten erwähnte Graf Pavel Ivanovicˇ Jaguzˇinskij (1683–1736)272 an den Kaiserhof geschickt wurde. Nach Eintreffen des akkreditierten Vertreters Peters I. konnten schließlich auch Gespräche über ein mögliches Militär- und Wirtschaftsbündnis geführt werden. Wenngleich diesbezüglich keine Einigung erzielt wurde, so erreichte man im Rahmen der Verhandlungen doch die Beilegung des diplomatischen Konflikts und die Wiederaufnahme von freundschaftlichen Beziehungen. Diese Gesandtschaft legte somit den Grundstein für die Entsendung des kaiserlichen Botschafters Stephan Graf Kinsky und seines Sekretärs Sebastian Hochholzer nach St. Petersburg, wo die eigentliche Geschichte dieser Untersuchung einsetzt.273 Ein kurzer Blick in die ausführlichen,
270 Gerhard Johann Löwenwolde († 1723) entstammte einem deutschen Adelsgeschlecht und trat 1710 in russische Dienste. Löwenwolde wurde für seine Verdienste in Liefland zum Geheimen Rat ernannt und war Oberhofmeister von Sophie Charlotte Christine, der Ehefrau von Zarevicˇ Aleksej. Vgl. Levenvol’de, Gergard-Iogann, in: Russkij Biograficˇeskij Slovar, Tom X: Labzina–Ljasˇenko, Sankt-Peterburg 1914, 127. 271 Vgl. Pilss, Beziehungen, 145–177; Ustrjalov, Istorija, Tom 6, 119–235. 272 Pavel Ivanovicˇ Jaguzˇinskij wurde im Jahre 1722 zum Generalprokuror des Senats ernannt und behielt diesen Posten auch unter Katharina I. In der Regierungszeit Peters II. wurde er auf Betreiben Mensˇikovs mit der Armee in die Ukraine »verbannt«. Nach dem Fall des Fürsten wurde er an den russischen Hof zurückgeholt und zum General der Kavallerie ernannt. Jaguzˇinskij hatte seit seinem Aufenthalt in Wien ein enges Verhältnis zum dortigen Hof, worauf in dieser Arbeit noch ausführlich eingegangen wird. Jaguzˇinskij, Pavel Ivanovicˇ, in: Enciklopedicˇeskij Slovar’ Brokgauza i Efrona, Tom XLI: Erdin–Jajcenosˇcˇenie, Sankt-Peterburg 1904, 490. 273 Vgl. Florovskij, Otnosˇenija, 27–30; Nelipovicˇ, Sojuz, 11–13.
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auf den jeweiligen Archivmaterialien basierenden Studien offenbart die verschiedenen Hintergründe für diese rasche Haltungsänderung beider Höfe. Franz Pilss zeigte anhand der Wiener Archivmaterialien, dass der kaiserliche Hof nach dem Bruch mit Russland einem englischen Ansinnen über ein gemeinsames militärisches Vorgehen gegen den Zaren offen gegenüberstand. Doch die Unsicherheit über das Verhalten der übrigen Mächte, insbesondere Frankreichs und Polens, ließ den Kaiser den Verhandlungsweg einschlagen. Aus diesem Grund plante er auch die Versammlung aller am Nordischen Krieg beteiligten Mächte in einem unter seiner Vermittlung stehenden Kongress in Braunschweig. Wenngleich der Wiener Hof der Absendung Weisbachs zunächst skeptisch gegenüberstand, so goutierte er doch dessen Abhilfeleistungen hinsichtlich der vergangenen Ereignisse und betrachtete diesen Akt als ersten Schritt zur Wiederherstellung des kaiserlichen Ansehens. Die Möglichkeit der Übernahme der Mediationsfunktion im Nordischen Krieg sowie die schwierige Lage im Reich, welche sich durch die eigenständig handelnden Herrscher in Hannover und Preußen ergab, ließen den Kaiserhof einer Annäherung an Russland prinzipiell positiv entgegenblicken. Aus diesem Grund forderte allen voran Prinz Eugen auch die Absendung eines akkreditierten russischen Gesandten nach Wien. Um den prinzipiellen »good will« gegenüber möglichen Bündnisverhandlungen zur Schau zu stellen, stellte der Wiener Hof die Entsendung eines Gesandten nach Russland in Aussicht, wobei diesbezüglich drei böhmischstämmige Kandidaten in die engere Auswahl kamen. Nach dem zweiten Eintreffen Jaguzˇinskijs im Oktober 1720 und dem Studium des von russischer Seite übermittelten Bündnisprojekts signalisierte Wien schließlich die Bereitschaft zu Verhandlungen durch die Absendung Kinskys, dem der bereits russlanderfahrene Sekretär Hochholzer im Februar 1721 vorausgeschickt werden sollte. Damit reagierte der Kaiser gleichsam auf die Entsendung des ständigen russischen Vertreters Ludwig Lanczinski im August 1720 nach Wien. Die gleichzeitig vom Wiener Hof geführten Verhandlungen mit England fanden sozusagen pro forma statt, um mit dem König auch weiterhin auf gutem Fuß zu stehen.274 Das wurde auch von russischer Seite so wahrgenommen, wie Leonid Nikiforov in seiner auf russischen Quellen basierenden Studie beweisen konnte. So war der Zar aufgrund des 1718 entstandenen englisch-schwedischen Bündnisses in eine außenpolitische Isolation geraten, weshalb er über die Absendung Weisbachs eine Annäherung an den Kaiser anstrebte. Dieser soll bereits das zunehmende Auseinanderdriften Wiens und Londons bemerkt und demnach die positive Bereitschaft des kaiserlichen Hofs erkannt haben. Gleichzeitig sind die Ausführungen Nikiforovs bezeichnend für die ereignisgeschichtlich ausge274 Vgl. Pilss, Beziehungen, 178–193.
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richtete, traditionelle Politikgeschichte. So tut er darin den durch die Causa Zarevicˇ ausgelösten Bruch als überschätzte Nebensächlichkeit ab, die den »nationalen Interessen« beider Mächte widersprochen habe. Das in dieser Einschätzung zum Ausdruck kommende Primat der auf die großen Geschehnisse fokussierten Ereignisgeschichte führt ihn deshalb zu einer Fehleinschätzung über die Nachhaltigkeit des Konflikts, wie in den kommenden Ausführungen noch gezeigt wird. Abgesehen davon zeigte der Autor anhand der detaillierten Analyse der russischen Materialien, dass Weisbach trotz der Forderung nach einem akkreditierten Gesandten sein eigentliches Ziel der Herstellung einer Gesprächsbereitschaft der Wiener Seite erreichte. Die zweimalige Entsendung des Sondergesandten Jaguzˇinskij (Mai und Oktober 1720) war nicht zur Etablierung einer ständigen Vertretung gedacht, sondern folgte dem zunächst vordergründigen Ziel der Wiedereinrichtung freundschaftlicher Beziehungen mit dem Kaiserhof. Gleichzeitig sollte dieser die Bereitschaft des Zaren für eine engere Verständigung mit dem Kaiser signalisieren und im Falle von gegenseitigem Einvernehmen um das Abschicken eines bevollmächtigten kaiserlichen Vertreters nach St. Petersburg bitten. In erster Linie wollte die russische Regierung damit die Gefahr einer möglichen Vereinigung Wiens mit dem russlandfeindlichen Block verhindern.275 Darüber hinaus arbeitete Nikiforov in seiner detaillierten Analyse der Gespräche zwischen Jaguzˇinskij und den Konferenzministern deutlich heraus, dass diese von zwei Themen beherrscht wurden. Das war zum einen die Teilnahme Russlands am Braunschweiger Kongress, welche wiederum große Auswirkungen auf die Frage eines gemeinsamen Bündnisses haben sollte. So war Russlands zunächst keineswegs an einer Vermittlung des Friedens im Norden durch den Kaiser interessiert, da man sich wesentlich mehr Vorteile von bilateralen Verhandlungen mit Schweden erwartete. Um eine Entscheidung in dieser Sache hinauszuzögern, forderte man zunächst eine Garantie des Kaisers hinsichtlich seiner Neutralität im Verhandlungsprozess, was erwartungsgemäß lange Diskussionen nach sich zog. Nachdem sich der Wiener Hof schließlich dazu durchgerungen hatte, erklärte sich der Zar zur Absendung eines Vertreters für den Kongress bereit. Zu diesem sollte es jedoch nicht mehr kommen. Nach dem Abschluss des Friedens von Nystad schwand das kaiserliche Interesse an der Einberufung eines internationalen Friedenskongresses, während das gestärkte Russland nunmehr sogar an der Zusammenkunft interessiert war, um Ansprüche im Reich stellen zu können. Die Diskussionen über einen möglichen Bündnisschluss standen eindeutig im Schatten dieser Ereignisse. Nach Präsentation eines für den Kaiserhof inakzeptablen Bündnisvorschlags im Rahmen des 275 Vgl. L.A. Nikiforov, Vnesˇnjaja politika Rossii v poslednie gody Severnoj vojny. Nisˇtadtskij mir, Moskva 1959, 214–221.
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ersten Aufenthalts Jaguzˇinskijs im Sommer 1721 in Wien, folgte im Zuge der zweiten Mission ein ernst zu nehmendes Projekt von russischer Seite. Dieses umfasste keine uneingeschränkte, sondern vielmehr eine auf bestimmte Fälle eingegrenzte Defensivallianz, die den klaren Wunsch Russlands markierte, nicht in die kaiserliche Interessenspolitik im Westen verstrickt zu werden. Aus diesem Grund zeigten sich die außenpolitischen Akteure des Zarenhofs über die Ablehnung des Projekts von Seiten Wiens wenig verwundert. Die Hauptziele der Mission Jaguzˇinksijs waren ohnehin bereits erreicht: Die Wiederherstellung von freundschaftlichen Beziehungen und die damit verbundene Verhinderung einer Vereinigung des Kaisers mit den Gegnern des Zaren.276 In Rückschau auf die eben geschilderten Ereignisse stellt sich die Frage, ob Nikiforov mit folgender Bewertung der Geschehnisse richtig lag: Demzufolge habe die schnelle Wiedereinrichtung der diplomatischen Beziehungen gezeigt, »[…] wie künstlich und den Interessen Russlands und Österreichs widersprüchlich die extremen Spannungen und der Bruch der diplomatischen Beziehungen zwischen ihnen waren und wie nachdrücklich ihre Interessen eine gemeinsame Zusammenarbeit erforderten.«277 Oder folgten beide Mächte bei der Einrichtung der Freundschaft vielmehr doch dem Prinzip »Der Feind meines Feindes ist nicht mein Feind«278, wie es Nelipovicˇ in seiner Arbeit formulierte? Kann in der Vorschau auf die folgenden Ereignisse also den Einschätzungen von Pilss Glauben geschenkt werden, wonach die Gesandtschaft Kinsky »[…] eine neue und glücklichere Aera diplomatischen Verkehrs zwischen dem Zaren und dem Wiener Hof […]«279 einleitete? All diese Fragen knüpfen an das eingangs wiedergegebene Vorhaben der Konferenzminister des Jahres 1721 an, wonach diese die über Jahre aufgestauten »Zwistigkeiten« auf einen Schlag »vergessen« wollten. Ob dieses sofortige Verdrängen aller Streitigkeiten wirklich möglich war, sollen die nun folgenden Ausführungen zeigen.
2.2. Die Entsendung einer diplomatischen Mission des Kaisers im Jahre 1721 – Annäherung an das neue Russland als zum Teil unerschlossener akkulturierter Kommunikationsraum Aus dem soeben angesprochenen Gutachten der Konferenzminister geht hervor, dass das sofortige Vergessen der bisherigen Konflikte keineswegs nur der Haltung des Wiener Hofes entsprach. So legten die Ratgeber Karls VI. ihrer Ex276 277 278 279
Vgl. Nikiforov, Politika, 222–250. Nikiforov, Politika, 248. Nelipovicˇ, Sojuz, 14. Pilss, Beziehungen, 193.
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pertise den bereits angesprochenen russischen Projektentwurf bei, der dem Kaiser und seinen Vertrauten bereits im Dezember 1720 durch Jaguzˇinskij unterbreitet worden war. Entsprechend dem ersten Artikel dieses Projekts »[s]ollen alle mißverständniße undt diffidentzen, die bishero auf einerley weise beyder seits vorgefallen, durch diesen tractat gäntzlich getilget, undt von nun an in ewige vergeßenheit gesetzet werden, derogestalt daß hinführo zu keiner zeit von beeden theilen daran gedacht seye.«280
Dieses Tilgen oder Vergessen der Zwistigkeiten beschränkte sich jedoch nicht nur auf die führenden politischen Köpfe der beiden Mächte, sondern sollte sozusagen das gesamte öffentliche Gedächtnis beider Reiche umfassen, weshalb gemäß dem darauffolgenden Artikel »[…] von dieserzeit an auch ins künftige zwischen beederseit May[estäten] deren erben succesoren, reichen und landen, auch unterthanen solch feste, undt wahre freundschaft undt correspondentz etabliret werden, daß einer das andere nutzen undt avantage treu undt einträchtig befördern und handhaben.«281
Nun weist ein vergleichender Blick auf Vertragswerke dieser Epoche darauf hin, dass eine positiv bewertende Formulierung in der Rückschau auf die gemeinsame Vergangenheit ebenso wie die Beschwörung der ewigen Freundschaft – auch im Namen der Nachfolger und Erben – zu einem fixen Bestandteil der zwischenstaatlichen Vertragsrhetorik der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zählte.282 Angesichts dieser Tatsache ist es umso spannender, auch der Frage nachzugehen, ob es sich bei den gewählten Formulierungen lediglich um reine juristische Phrasendrescherei handelte, oder ob sich diese »Schwamm-DarüberHaltung« zumindest teilweise in der politischen Kommunikation der außenpolitischen Akteure widerspiegelte. Die Ereignisse rund um die Absendung der kaiserlichen Gesandtschaft im Jahre 1721 zeigen, dass es in deren Verlauf zu einer ernst gemeinten Annäherung beider Höfe kam, ehe durch die Kaisertitelannahme Peters I. gegen Ende desselben Jahres ein neuer Konflikt zu einer allmählichen Entzweiung der aufeinander zugehenden Akteure führte. Neben den Herausforderungen und Problemen, die sich beim Vordringen in diesen teilweise noch unerschlossenen Kommunikationsraum ergaben, soll in diesem Abschnitt der Frage nachgegangen werden, inwiefern die vertragsrechtlichen Stilmittel des sofortigen Vergessens der bisherigen Ereignisse und der unmittelbar folgenden Herstellung freundschaftlicher Beziehungen eine tatsächliche Verhaltensmaxime der politischen Akteure darstellten. Die Frage 280 Gutachten der kaiserlichen Konferenzminister v. 6. Februar 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 6r. 281 Gutachten der kaiserlichen Konferenzminister v. 6. Februar 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 6r–6v. 282 Vgl. Frehland-Wildeboer, Freunde, 54–55.
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nach der praktischen Umsetzung dieser Norm lässt sich am besten durch eine nähere Betrachtung der Kommunikationsstrategien beider Höfe und ihrer (diplomatischen) Vertreter beantworten.
2.2.1. Die Akteure am fremden Hof – Botschafter Stephan Wilhelm Graf Kinsky und Legationssekretär Sebastian Nikolaus Hochholzer Im bereits mehrfach erwähnten Gutachten, dessen Inhalt im Beisein Kinskys als künftiger kaiserlicher Vertreter am russischen Hof entworfen wurde, legten die ministeriellen Ratgeber Karl VI. nahe, Jaguzˇinskij in einem kaiserlichen Schreiben283 die prinzipielle Bereitschaft für eine Annäherung und mögliche Bündnisverhandlungen zu signalisieren. In diesem Brief sollte nach Ansicht der Konferenzminister zum Ausdruck gebracht werden, dass dem Kaiser eine »[…] solche [Allianz] gantz lieb seye, auch derenthalben den Graf Kinsky mit behöriger instruction nächstens fortschicken würden, jedoch sich darumben nicht ehender, dann nach dem Braunschweig[er] friedensschluss einlassen könten […].«284 Diese Expertise bestätigt die im vorigen Abschnitt zusammengefasste Position der bisherigen Forschungsliteratur, wonach die Vermittlungstätigkeit am Braunschweiger Friedenskongress für den Wiener Hof zu diesem Zeitpunkt absolute Priorität hatte. Gleichzeitig wird die Bedeutung der Absendung eines Botschafters als direkter Vertreter des Kaisers deutlich, wie in den vorangegangenen Abschnitten bereits ausführlich dargestellt wurde. Die Vorbereitung auf diese wichtige Mission verlief in den darauffolgenden Wochen und Monaten auf zwei Ebenen. Dabei wurden den beiden für den russischen Hof bestimmten kaiserlichen Akteuren unterschiedliche Aufgaben zuteil. Graf Kinsky bereitete sich sozusagen zu Hause zunächst durch das Studium der Akten über die zwischenstaatlichen Beziehungen und später durch gemeinsame Beratschlagungen mit den Konferenzministern vor. Damit entsprach er den bereits angesprochenen Vorgaben der diplomatischen Ratgeberliteratur, in der die Aneignung diplomatiespezifischen Fachwissens bzw. einer nötigen »Connaissance« von den unterschiedlichen Autoren als Grundvoraussetzung für die Vorbereitung der Gesandten genannt wurde. Legationssekretär Hochholzer hingegen kümmerte sich vor Ort um logistische Angelegenheiten der Gesandtschaft am russischen Hof, indem er etwa für die Organisation ent-
283 Vgl. Schreiben Karls VI. an Jaguzˇinskij v. 21. März 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 18r–19v. 284 Gutachten der kaiserlichen Konferenzminister v. 6. Februar 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 10r.
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sprechender Wohnräumlichkeiten für den Botschafter sowie das Gesandtschaftspersonal und dergleichen mehr sorgte. Die angesprochene Wichtigkeit der Aneignung von historischem Wissen – auch im Bereich der aktuellen Geschichte – wurde bereits in Wicqueforts »Ambassadeur« hervorgehoben. Demzufolge bestehe das »Allerführnehmste« in der Vorbereitung eines Botschafters »in fleissiger Les- und Untersuchung der alten und neuen Geschichte, worunter ich all das jenige, was denselben anhändig, und dazu einiger Maßen dienen kann, als nemlich die besondern Memorialien, Instructionen, Negotirungen, absonderlich aber die jenigen Kriegs- und Friedens-Tractaten, welche für allen Dingen wohl beobachtet werden sollen, begriffen haben will.«285
In den konkreten Lektüreempfehlungen spiegelt sich die Hochachtung des Autors für antike Wissensreservoirs wider, wobei er das Studium der griechischen und lateinischen Klassiker vor allem auch in Hinblick auf die Aneignung der antiken Sprachen nennt. Daneben werden in Wicqueforts Literaturliste auch jüngere frühneuzeitliche Traktate aufgelistet, wozu unter anderem auch die Werke von Grotius und Machiavelli zählen. Neben diesen Standardwerken über die »Staats-Verrichtungen« legt er den Ambassadeuren für die Vorbereitung ihrer Mission auch zeithistorische Lesestoffe wie die Staatsrelationen einzelner Höfe ans Herz.286 Ein noch stärkerer Fokus auf die aktuelle Geschichte lässt sich im Werk von CalliÀres festmachen. Um sich das angesprochene Fachwissen bis ins kleinste Detail anzueignen, müsse der Gesandte über den exakten Zustand der Truppen, den Haushalt sowie die Herrschaft des jeweiligen Fürsten bzw. der jeweiligen Republik unterrichtet sein. Darüber hinaus müsse er über die zwischenstaatlichen Verträge der europäischen Fürsten und Staaten gut instruiert sein.287 In Hinblick auf das (zeit)historische Wissen sei es für den Gesandten unabdingbar, »Qu’il ¦tudie avec soin l’histoire moderne de l’Europe, qu’il lise les divers memoires, les instructions et les d¦pÞches que nous avons de plusieurs habiles Negotiateurs, tant imprim¦es que manuscrites qui traitent des affaires dont ils ont ¦t¦ chargez et qui en apprenant plusieurs faits utiles la connoissance des affaires publiques, servent former l’esprit de celui qui les lit, et lui donner l’id¦e de la maniere dont il doit se conduire en de semblables occasions.«288
Ebenso deutlich wird die Betonung des zeithistorischen Wissens im Werk von Pecquet, wonach ein junger Mann in Vorbereitung auf seine »Negotiationen« die griechische und römische Geschichte lesen könne. Das Hauptaugenmerk sei 285 286 287 288
Wicquefort, L’Ambassadeur, 115. Vgl. Wicquefort, L’Ambassadeur, 115–118. Vgl. Callières, ManiÀre, 78–80. Callières, ManiÀre, 80–81.
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jedoch auf eine aktuellere Quellengattung zu richten: »[M]ais il doit donner sa principale application l’Histoire moderne dont les les ¦v¦nemens plus connus, et plus int¦ressans pour nous, sont aussi plus instructifs.«289 Dieser kurze Blick auf die gesandtschaftsrechtlichen Werke zeigt, dass die Vorbereitungen des Grafen Kinsky den normativen Richtlinien der zeitgenössischen Ratgeberliteratur entsprachen. Auch der Wiener Hof pflegte diese Praxis. So verlangten die außenpolitischen Verantwortlichen des Kaisers in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts ein intensives Aktenstudium ihrer Gesandten über den Stand der Beziehungen mit dem jeweiligen Bestimmungsland. Auf diesem Wissen aufbauend erhielten die Diplomaten vor ihrer Abreise Instruktionen über die Aufgaben am fremden Hof, welche im späten 17. und beginnenden 18. Jahrhundert noch relativ knapp gehalten und auf die unmittelbaren politischen Aufgaben derselben konzentriert waren. Erst mit der Übernahme der außenpolitischen Agenden durch den kaiserlichen Staatssekretär Johann Christoph von Bartenstein (1689–1767) änderte sich in der zweiten Hälfte der 1730er-Jahre diese Gepflogenheit. Seine Instruktionen enthielten einen Überblick über die Geschichte der zwischenstaatlichen Beziehungen sowie über die allgemeinen Eckpfeiler der Wiener Außenpolitik.290 Den Gepflogenheiten des Wiener Hofes im frühen 18. Jahrhundert entsprechend, arbeitete Kinsky auf Basis seines Aktenstudiums einen Fragenkatalog für eine gemeinsame Konferenz mit den kaiserlichen Ministern aus, wobei er sich dabei vor allem auf die Erfahrungswerte der Gesandtschaft von Heinrich Wilhelm Graf Wilczeck stützte. Dieser hatte ab März 1711 etwa ein Jahr als außerordentlicher Gesandter am russischen Hof verbracht, ehe er aufgrund wichtiger Staatsangelegenheiten von dort abberufen wurde.291 Seitdem waren also genau zehn Jahre vergangen, in denen der russische Hof unter anderem auch Zeit für Veränderungen gehabt hatte, weshalb Kinskys unmittelbare Bezugspunkte wohl nicht die aktuellsten waren. Die Zusammenstellung des kaiserlichen Gesandten ist gleichzeitig ein deutlicher Beweis dafür, welch hohen Stellenwert Fragen der Interaktion mit den Macht- und Würdenträgern im Allgemeinen sowie des diplomatischen Zeremoniells im Speziellen im Rahmen des zwischenstaatlichen Austausches hatten. So widmete sich Kinsky in einem ersten Teil jenen Aspekten, die unter dem Stichwort »Richtlinien für die Kommunikation mit dem russischen Hof« zusammengefasst werden können. Diesbezüglich erbat er entsprechende Instruktionen für sein Verhalten, falls ihm von russischer Seite bei der Anreise zum Zarenhof Ehrenbezeugungen entgegengebracht würden. Überdies kümmerte er sich um Fragen, welche Form des Einzuges er in St. 289 Pecquet, Discours, XXXIX. 290 Vgl. Müller, Gesandtschaftswesen, 35–36. 291 Vgl. Bantysˇ-Kamenskij, Obzor, 44.
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Petersburg wählen und ob er eine private oder öffentliche Audienz beim Zaren anstreben solle. Darüber hinaus stellte er sich die Frage, ob er die unentgeltliche Zurverfügungstellung einer Behausung von Seiten des russischen Hofes in Anspruch nehmen könne. Sodann beschäftigten Kinsky das Problem der Abstattung von Antrittsvisiten bei den russischen Ministern und ferner, ob er mit diesen auch in Verhandlungen treten könne, ohne davor sein Beglaubigungsschreiben direkt beim zumeist auf Feldzügen befindlichen Zaren abgegeben zu haben. Zudem wollte er wissen, an welchen seiner potentiellen russischen Kommunikationspartner er sich besonders zu halten habe. Schließlich fragte sich Kinsky, welche Form des Austausches er mit dem heimischen Hof zu pflegen hätte. In einem zweiten Teil widmete er sich vor allem politischen Sachfragen, die unter anderem das Problem der Einrichtung einer Defensivallianz sowie eines Wirtschaftsvertrages beinhalteten. Darunter listete er auch Aspekte auf, die für die Interaktion mit dem russischen Hof von großer Bedeutung waren. So etwa die Frage der Beilegung des Majestätstitels für den Zaren sowie der Betitelung und Ansprache des Fürsten Mensˇikov und der übrigen russischen Minister.292 Im April 1721 wurde der Katalog Kinskys bei einer Konferenz der kaiserlichen Minister im Beisein des Gesandten Punkt für Punkt durchgearbeitet. Entsprechend den Schwerpunkten der vorliegenden Untersuchung sind die Antworten auf die soeben angesprochenen Fragen über den Austausch mit dem russischen Hof von besonderem Interesse. Da diese sozusagen als Richtlinie für Kinskys Interaktion mit den unterschiedlichen Kommunikationspartnern dienten, soll im Folgenden näher darauf eingegangen werden. In diesem Ministerialgutachten wurde zunächst die Frage geklärt, mit welchem »Charakter« der kaiserliche Vertreter am russischen Hof ausgestattet werden sollte. Diesbezüglich vertraten die Ratgeber Karls VI. einhellig die Meinung, dass Kinsky nicht als bevollmächtigter Minister nach St. Petersburg entsandt werden sollte, da zu diesem Zeitpunkt offiziell noch keine Rede von der Aushandlung eines Traktats war. Der kaiserliche Dekor und die aktuelle politische Lage ließen es für die Konferenzminister jedoch unabdingbar erscheinen, den Grafen mit dem Rang eines »ablegati extraordinarii«, also eines »außerordentlichen Gesandten«, auszustatten.293 Die zeitgenössische gesandtschaftsrechtliche und zeremonialwissenschaftliche Fachliteratur liefert die notwendigen Hintergründe für diese Entscheidung. Während Wicquefort keinen Unterschied zwischen einem ordentlichen und 292 Vgl. Fragenkatalog Kinskys an die kaiserlichen Konferenzminister o.D. 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 22r–29v. 293 Vgl. Gutachten der kaiserlichen Konferenzminister v. 24. April 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 33r–34r.
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außerordentlichen Ambassadeur macht, da das Staatsrecht beiden die gleichen Vorzüge zugestehen würde,294 finden wir in der französischen und deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts klare Differenzierungsmerkmale wieder. So hielten CalliÀres, Pecquet und Rohr fest, dass dem Extraordinarius gewisse Ehrenbezeugungen entgegengebracht würden, die ein Ordinarius üblicherweise nicht in Anspruch nehmen könne. Pecquet fügt dem noch hinzu, dass ein außerordentlicher Gesandter lediglich mit kurzfristigen Aufträgen an einen fremden Hof entsandt werde.295 Die zeremonialwissenschaftlichen Arbeiten von Lünig und Stieve liefern weiterführende Konkretisierungen hinsichtlich der genannten Dauer der Entsendung sowie der bevorzugten Behandlung der Extraordinarii. Demzufolge werde der außerordentliche Gesandte mit dem Ziel abgeschickt, am fremden Hof nicht dauerhaft zu residieren, sondern lediglich bestimmte Aufträge wie die Übermittlung von Glückwünschen, Beileidsbekundungen oder Heiratsprojekten zu erfüllen. Überdies genieße der Extraordinarius beispielsweise stets den Vorrang gegenüber dem Ordinarius, egal ob sie vom gleichen Souverän oder von unterschiedlichen Herren entsandt worden seien.296 Die Bevorzugung der außerordentlichen Gesandten führte dazu, dass die meisten Höfe vor allem im 18. Jahrhundert ihren Vertretern das Prädikat »extraordinaire« verliehen, um keine zeremoniellen Benachteiligungen erleben zu müssen.297 Diese Überlegung dürfte wohl auch die Motivation für die kaiserlichen Minister gewesen sein, Kinsky als »ablegatus extraordinarius« nach Russland zu schicken. Die russische Diplomatie und Außenpolitik der Petrinischen Epoche waren gerade hinsichtlich der Gesandtschaftsränge von starken Tendenzen einer Angleichung an die übrigen europäischen Höfe gekennzeichnet. So kannte das alte Moskauer Reich die Signifikanz der im Westen gängigen Ränge der Diplomaten noch nicht, sondern nutzte die Unterscheidung der Gesandten in Ambassadeure, Envoy¦s und Herolde lediglich dazu, um den Grad der Solennität einer Mission zu kennzeichnen. Der zunehmende und ständig werdende Austausch des Zarenreichs mit den europäischen Mächten unter Peter I. machte die russischen Vertreter im Ausland jedoch zu einem festen Bestandteil des diplomatischen Corps am fremden Hofe. Aus diesem Grund nahmen die Petrinischen Gesandten auch von der Bedeutung der unterschiedlichen Ränge der Diplomaten Notiz und verarbeiteten die Informationen über die im Französischen als »Charaktere« bezeichneten Abstufungen in ihren Beschreibungen über das fremde Machtzentrum.298 So finden wir eine derartige Passage auch in der 294 295 296 297 298
Vgl. Wicquefort, L’Ambassadeur, 18. Vgl. Callières, ManiÀre, 105; Pecquet, Discours, 137; Rohr, Einleitung, 378. Vgl. Lünig, Theatrum, 368; Stieve, Hof-Ceremoniel, 308–315. Vgl. Müller, Gesandtschaftswesen, 120. Vgl. Grabar, History, 56–58.
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mehrfach erwähnten Beschreibung von Ludwig Lanczinski über das Gesandtschaftszeremoniell am Wiener Hof, in der es kurz und bündig heißt: »Botschafter, die an diesen Hof entsandt werden, haben den Charakter eines außerordentlichen und bevollmächtigten oder nur bevollmächtigten Botschafters.«299 Im wenige Jahre darauf niedergeschriebenen Projekt über das Gesandtschaftszeremoniell des russischen Hofes wurde diese Unterscheidung bereits ohne weitere Zusätze übernommen. So wird darin etwa hinsichtlich der Abschiedsaudienz der fremden Gesandten festgehalten: »Alle Abschiedsaudienzen von ordentlichen oder außerordentlichen Botschaftern müssen im Zeremoniell gänzlich der ersten Audienz entsprechen.«300 Wenngleich dieses normative Schriftstück etwas mehr als 20 Jahre nach der Absendung des Grafen Kinsky entstanden ist, so ist doch davon auszugehen, dass die Signifikanz der westlichen Gesandtschaftsränge bereits am Hof Peters I. bekannt war. Ansonsten wäre den kaiserlichen Konferenzministern nicht so viel daran gelegen gewesen, Kinsky eben als außerordentlichen Minister an den Zarenhof zu schicken. Hinsichtlich der Frage möglicherweise stattfindender Ehrenbezeugungen gegenüber dem kaiserlichen Gesandten auf dem Weg nach Russland kamen die Minister zu dem Ergebnis, dass Kinsky diese in Anspruch nehmen solle. Die vom Grafen geäußerten Unklarheiten bezüglich der Form des Einzuges wurden von der Art und Weise des Empfangs in St. Petersburg anhängig gemacht. Demzufolge erfordere ein öffentlicher Einzug auch eine öffentliche Audienz, während eine private Ankunft auch eine private Audienz zur Folge habe. Diesbezüglich möge sich Kinsky ebenso wie seine Vorgänger an den entsprechenden Bestimmungen des Zaren orientieren und dabei nichts begehren, bei seinem Auftritt jedoch gleichzeitig die Wahrung des kaiserlichen Ansehens im Auge behalten. Das Beharren auf einer öffentlichen Audienz wurde jedoch nicht angeraten, wenngleich die Konferenzminister im Falle einer solchen eine Orientierung an den bisherigen Vorgehensweisen empfahlen. Hinsichtlich der Anrede des Zaren im Rahmen des Empfanges habe sich Kinsky am »alten stylo« zu orientieren.301 Diese von den Konferenzministern angeratene Vorgangsweise hinsichtlich einer privaten oder öffentlichen Audienz dürfte wohl auch am russischen Hof Geltung gehabt haben. So heißt es im Gesandtschaftszeremoniell von 1744: »Wenn der Botschafter zunächst keinen öffentlichen Einzug und keine öffentliche Audienz hat, dann wird ihm eine Privataudienz gegeben.«302 Die diesbezüglichen Instruktionen der kaiserlichen Konferenzminister decken sich abermals mit den Richtlinien der gesandtschaftsrechtlichen und ze299 RGADA, f. 156, op. 1, d. 210, 1r. 300 RGADA, f. 15, op. 1, d. 78, 29r. 301 Vgl. Gutachten der kaiserlichen Konferenzminister v. 24. April 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 35v–36v. 302 RGADA, f. 15, op. 1, d. 78, 4v.
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remonialwissenschaftlichen Fachliteratur. So halten die meisten Autoren hinsichtlich der Aufnahmerituale am fremden Hofe fest, dass jeder Hof seine eigenen zeremoniellen Gepflogenheiten bei der Rezeption ausländischer Gesandter verfolge. Wicquefort etwa konstatiert: »Die Staats-Höflichkeiten, und das nunmehro fast in allen Königreichen eingeführte Ceremonien-Werck, weil es nicht eben von dem so genannten Völcker-Rechte herühret, soll eigendlich nach dem Herkommen und üblichen Gebräuchen, oder auch nach Arth der mancherley sich ereigneten Fälle, eingerichtet seyn.«303
Rohr fügt diesem allgemeinen Grundsatz hinzu, dass sich ein Ambassadeur in Vorbereitung seiner Mission über die angesprochenen Gebräuche zu informieren habe, um nichts zu verlangen, was ihm nicht zustehe und wodurch er sich der Lächerlichkeit preisgeben könnte.304 Auch Stieve weist ausführlich auf die eigenen Traditionen des jeweiligen Hofes hin und führt zudem weiter aus, dass es dem gastgebenden Souverän freistehe, einem Gesandten besondere Ehrerweisungen zukommen zu lassen. Gleichzeitig müsse sich jeder Herrscher im Klaren darüber sein, dass er im Falle einer Minderung des bereits eingeführten Zeremoniells gegenüber einem bestimmten ausländischen Vertreter auch dessen Verstimmung darüber in Kauf zu nehmen habe.305 Damit wirft er die berechtigte Frage des Maßstabes auf, an dem eine Erhöhung oder Verminderung zeremonieller Ehrenbezeugungen gemessen wurde. Ebenso wie die kaiserlichen Konferenzminister legten einige Autoren diesen an jene Verhaltensweisen an, die den Vorgängern der Gesandten entgegengebracht wurden. Rohr etwa macht darauf aufmerksam, dass viele das Zeremoniell ihrer »Vorfahren« prätendieren würden.306 Diese gängige Praxis hatte bereits Wicquefort beobachtet und hinzugefügt, dass die Diplomaten stets auf die Wahrung des Ansehens ihres Souveräns in dem ihnen dargebrachten Zeremoniell zu achten hätten.307 Wie bereits erwähnt, finden wir diese Verhaltensmaxime auch in den Instruktionen des Grafen Kinsky wieder. Schließlich zeigt sich darin auch die von beiden soeben genannten Autoren angeführte Richtlinie, wonach ein Ambassadeur nicht das Anrecht auf eine öffentliche Audienz besitze und diese somit nicht beanspruchen könne. Rohr weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass ein öffentlicher Einzug fakultativ sei und die dazugehörige öffentliche Audienz von den Gesandten beim zuständigen Staatsminister erbeten werden müsse.308 303 304 305 306 307 308
Wicquefort, L’Ambassadeur, 401. Vgl. Rohr, Einleitung, 387. Vgl. Stieve, Hof-Ceremoniel, 263–271 sowie 275–277. Vgl. Rohr, Einleitung, 390. Vgl. Wicquefort, L’Ambassadeur, 289 sowie 401. Vgl. Rohr, Einleitung, 397 sowie 401; Wicquefort, L’Ambassadeur, 325.
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Doch zurück zu den Instruktionen Kinskys. Eine möglicherweise kostenlose Unterbringung in St. Petersburg solle der Gesandte im gegebenen Fall eines entsprechenden Angebots annehmen, jedoch keine Ansprüche in dieser Sache stellen.309 Einer solchen Tradition begegnen wir etwa in den Aufnahmegebräuchen des französischen Hofes. So erwähnt CalliÀres in seinem Werk das Privileg der außerordentlichen Gesandten fremder Kronen, drei Tage lang Kost und Logis im »hútel des Ambassadeurs extraordinaires« genießen zu dürfen.310 Auf das Werk des Franzosen verweisend, hält Rohr diesbezüglich fest: »Solcher Gestalt werden in Franckreich die ausserordentlichen Gesandten der Cronen, auf Befehl des Königes, drey Tage lang im Pallast der ausserordentlichen Abgesandten einlogiret und ausgelöst, welches den ordentlichen nicht wiederfähret, immassen ihnen der König wegen freye Wohnung noch Auslösung giebt.«311
Die weiteren Ausführungen über die Gesandtschaft Kinsky werden zeigen, dass die Frage der Unterbringung dem Gesandten und seinem Sekretär einiges Kopfzerbrechen bereitete. Hinsichtlich der Visiten wiesen die Minister Kinsky dazu an, entsprechend den gängigen Gepflogenheiten im Umgang mit den unmittelbaren kaiserlichen Vertretern lediglich eine Antrittsvisite beim russischen Großkanzler zu absolvieren. Alle übrigen in- und ausländischen Minister sollten dem Ambassadeur von sich aus ihre Aufwartung machen. Eine Verhandlung mit den russischen Ministern ohne vorherige Übergabe der Credentialien sei zwar möglich, jedoch nicht anzustreben. Dabei habe sich Kinsky auf jene zeremonielle Formen zu beschränken, die von Seiten des Kaisers am Wiener Hof den fremden Diplomaten entgegengebracht wird.312 Die an den europäischen Höfen bereits lange gebräuchlichen Visiten stellten im Falle des russischen Hofes abermals eine Neuerung der Petrinischen Epoche dar. So hatten die außenpolitischen Verantwortlichen des Moskauer Staates zuvor jeglichen Kontakt mit Diplomaten fremder Herrscher zu vermeiden versucht, wie es bereits im vorangegangenen Teil angesprochen wurde. Die Gesandten Peters I. erkannten jedoch im Verlauf der ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts, wie wichtig die Abstattung derartiger Besuche für ihre Tätigkeit war, um die ausländischen Vertreter nicht gleich bei ihrer Ankunft vor den Kopf zu stoßen, und thematisierten diese Frage in ihren Berichten über die fremden Höfe.313 Auch in der Beschreibung Lanczinskis 309 Vgl. Gutachten der kaiserlichen Konferenzminister v. 24. April 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 36r. 310 Vgl. Callières, ManiÀre, 105. 311 Rohr, Einleitung, 390. 312 Vgl. Gutachten der kaiserlichen Konferenzminister v. 24. April 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 35v–37r. 313 Vgl. Grabar, History, 61.
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über das Gesandtschaftszeremoniell am Kaiserhof wird die Frage der Visiten ausführlich behandelt. Nach der von Seiten des ankommenden Botschafters erfolgten Antrittsvisite beim ersten Konferenzminister und den Audienzen bei der kaiserlichen Familie »[…] schicken die Botschafter ihre gentilles hommes zu allen kaiserlichen Konferenz- und Wirklichen-Räten, Kollegspräsidenten, Kammerherren und ausländischen Ministern und nehmen von ihnen die erste Audienz entgegen […].«314 Im Projekt über das russische Gesandtschaftszeremoniell aus dem Jahre 1744 finden wir eine klare Vorgabe hinsichtlich der Antrittsvisite bei den russischen Ministern, die im Detail von jener des kaiserlichen Hofes abweicht: »Der Botschafter kommt bei seiner Ankunft in der Residenz üblicherweise zuerst zum Kanzler, wobei er den Vizekanzler durch eine vorauseilende Botschaft über die Zeit benachrichtigt, zu der er sie sehen kann.«315 Dieser kleine aber feine Unterschied zu den Gebräuchen am Wiener Hof bereitete Kinsky schließlich auch Schwierigkeiten, wie die weiteren Ausführungen noch zeigen werden. Ein Blick auf die normative Literatur macht deutlich, dass die Ratschläge bezüglich der Antrittsvisiten zwar sehr ähnlich, aber keineswegs identisch waren. So lässt sich schon aus dem Werk von Wicquefort der Grundsatz herauslesen, wonach der gastgebende Hof dem Neuankömmling nicht die erste Visite schuldig sei, während die bereits länger anwesenden auswärtigen Diplomaten diesem üblicherweise von sich aus einen Besuch abstatten sollen.316 In Ergänzung dazu finden wir bei Lünig die Vorgabe wieder, dass aus- und inländische Minister nach Notifikation der Ankunft eines Gesandten das Begrüßungskompliment sowie die Anmeldung zur Visite durch einen Kavalier zu überbringen hätten.317 Stieve denkt diesbezüglich noch einen Schritt weiter und gibt den Gesandten hinsichtlich der Reihenfolge bei der Gegenvisite anderer ausländischer Vertreter den Ratschlag, sich dabei entweder nach dem Rang des Prinzipalen, nach der Abfolge der Besucher oder nach der Affektion gegenüber dem fremden Herrscher zu richten.318 Ergänzt und gleichzeitig relativiert werden diese Lehrmeinungen von Rohr, indem dieser festhält, dass ein niederrangiger Ankommender einem höherrangigen Anwesenden die Antrittsvisite abzustatten hätte, wobei es auch anders gehalten werden könne.319 Diese unterschiedlichen Vorgaben deuten darauf hin, dass diese ungeregelte Angelegenheit ganz allgemein einigen Zündstoff beinhalten konnte. Gerade dieser
314 315 316 317 318 319
RGADA, f. 156, op. 1, d. 210, 2r. RGADA, f. 15, op. 1, d. 78, 3r. Vgl. Wicquefort, L’Ambassadeur, 432–433. Vgl. Lünig, Theatrum, 368. Vgl. Stieve, Hof-Ceremoniel, 285. Vgl. Rohr, Einleitung, 398.
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Umstand dürfte auch für Kinsky der Grund gewesen sein, die Konferenzminister in dieser Sache um genaue Instruktionen zu bitten. Besonders interessant erweisen sich die Verhaltensrichtlinien der kaiserlichen Ratgeber hinsichtlich der möglichen Ansprechpartner Kinskys. So spiegeln sich darin ebenso positive Erfahrungen wie Ressentiments gegenüber den Vertretern des russischen Hofes aus der jüngsten Vergangenheit wider. Es wurde die prinzipielle Direktive ausgegeben, dass der Gesandte durch Einsatz seiner »Prudenz«, »Bescheidenheit« und seines »Geniums« die Wohlgesinnten unter den russischen Ministern ausfindig zu machen und deren Freundschaft zu gewinnen habe. Jaguzˇinskij, der beim Zaren prinzipiell gut angeschrieben sei, stelle diesbezüglich eine gute Adresse dar. Die aus den Akten erschließbare Unzufriedenheit Karls VI. mit dem Grafen Tolstoj, der sich das kaiserliche Missfallen im Zuge der Rückholung des Zarevicˇ Aleksej zugezogen hatte, solle diesem gegenüber nicht zum Ausdruck gebracht werden. Wie über alle anderen Konflikte blicke der Souverän auch über dessen Verfehlungen hinweg, weshalb sich Kinsky an der kaiserlichen Großzügigkeit orientieren solle, und sich im Falle eines guten Betragens des russischen Ministers ebenso verhalten solle.320 In diesem Zusammenhang scheint das Vergessen der Zwistigkeiten tatsächlich als Maßstab für die konkrete politische Praxis herangezogen worden zu sein. Die Schilderungen über die weiteren Ereignisse im Umgang mit Tolstoj werden jedoch näheren Aufschluss über diese Frage liefern. Was den Austausch und die erste Kontaktaufnahme mit den Vertretern des fremden Hofs betrifft, haben die Konferenzminister offensichtlich auf einen Wissenspool zurückgegriffen, den sie als »know how« ihrer Gesandten voraussetzten. So reichten in den Instruktionen die drei Schlagwörter »Prudenz«, »Bescheidenheit« und »Genium«, um Kinsky zu vermitteln, wie er die Machtund Würdenträger des fremden Hofes für sich gewinnen könnte. Doch was bedeutet das für den konkreten Umgang des Gesandten mit den russischen Vertretern? Ein Blick auf die normative Gesandtschaftsliteratur bringt auch in diesem Fall Licht ins Dunkel des Betrachters unserer Tage. Wenig Aufschluss über diese Frage liefert die zeitgenössische zeremonialwissenschaftliche Literatur, die in diesem Zusammenhang auch auf bereits bekanntes Wissen aufzubauen scheint. So hält Rohr diesbezüglich fest, dass der Charakter des Gesandten idealerweise auf jenen des fremden Souveräns abgestimmt werden müsse und Ersterer durch eifrige Konversation mit den Ministern sowie gelegentlichen Briefwechsel mit dem Souverän, die Führung eines Diariums über diese Kommunikation und das ständige Erscheinen bei den höfischen Veranstaltungen die
320 Vgl. Gutachten der kaiserlichen Konferenzminister v. 24. April 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 37v–38r.
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Freundschaft des fremden Hofes gewinnen solle.321 Stieve fasst diese Aufgaben ebenso stichwortartig unter dem Stichwort der »Dilligenz« eines Ambassadeurs zusammen. Dieser Eigenschaft stellt er noch die wesentlich ausführlicher beschriebene Bedeutung der »Magnifizenz« eines Gesandten bei der Gewinnung des fremden Hofes voran, worunter der Zeremonialwissenschafter eine möglichst prunkvolle repräsentative Tätigkeit versteht.322 Was Rohr und Stieve in ihren Werken nur am Rande beschreiben und ebenso wie die Wiener Konferenzminister als Grundwissen voraussetzen, findet in der Ratgeberliteratur des späten 17. und 18. Jahrhunderts ausführliche Erwähnung. In Hinblick auf die auch in der vorliegenden Untersuchung breit rezipierten Werke von CalliÀres, Pecquet und Wicquefort hält Klaus Müller fest, dass die Gewinnung einer guten Stellung am Bestimmungsort sowie die daraus resultierenden Einflussmöglichkeiten auf das fremde Machtzentrum sozusagen als kleinster gemeinsamer Nenner aus allen drei Arbeiten herausgefiltert werden könne. Der Aufbau eines unmittelbaren Vertrauensverhältnisses zum fremden Souverän sowie der damit verbundene Gunsterwerb desselben seien aus deren Sicht die direkten Mittel zum Erfolg.323 Ein vertiefender Blick in die genannten Werke eröffnet uns nicht nur die weiterführenden vertrauensbildenden Strategien der Gesandten im Allgemeinen, sondern liefert auch zusätzliche Erklärungen für die Instruktionen Kinskys im konkreten Fall der ersten Kontaktaufnahme mit den russischen Vertretern. Zunächst wollen wir jedoch einen Augenblick bei der Person Kinsky verweilen und uns die Frage stellen, ob die Wahl auf ihn fiel, weil er das von Rohr angesprochene Idealbild des Gesandten erfüllte und auch dem Charakter des empfangenden Souveräns entsprach. Diese Vorstellung spiegelt sich im Übrigen auch bei Wicquefort wider, der sozusagen ex negativo voraussetzt, dass ein Gesandter beim Versuch des Gunsterwerbs des fremden Herrschers mitunter aufgrund seiner persönlichen Eigenschaften scheitern könne.324 Diese Überlegungen scheinen jedoch keinen allzu großen Einfluss auf die Wahl Kinskys gehabt zu haben. Vielmehr hält Florovskij in seiner auf den kaiserlichen Gesandtschaftsberichten basierenden Untersuchung fest, dass Kinsky aus drei Kandidaten ausgewählt wurde, da er als böhmischer Adeliger der tschechischen Sprache mächtig war und somit eine mit dem Russischen verwandte slawische Sprache beherrschte.325 Dieser Aspekt wurde etwa von Pecquet stark betont. So ergaben sich für ihn folgende Vorteile aus der Kenntnis der Geschichte sowie der Sprache des Gastlandes: »Il en peut resulter de grands avantages. On s’introduit plus facilement; et aiant moins besoin des 321 322 323 324 325
Vgl. Rohr, Einleitung, 381 sowie 383. Vgl. Stieve, Hof-Ceremoniel, 291–308. Vgl. Müller, Gesandtschaftswesen, 296. Vgl. Wicquefort, L’Ambassadeur, 205–206. Vgl. Florovskij, Otnosˇenija, 30.
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tiers pour un infinit¦ de choses, on est bien plus sr de ce que l’on fait, comme de ce qu’on voit ou qu’on entend.«326 Mit dieser Feststellung spricht Pecquet eine zentrale Basiskompetenz der diplomatischen Kommunikation im Allgemeinen an: die Gewinnung eines Zugangs zu den wichtigsten Interaktionspartnern des fremden Hofes. Die Annäherung an den Souverän und seine Minister wurde in allen hier berücksichtigten Ratgeberwerken als Königsdisziplin eines Gesandten dargestellt, wobei sich diesbezüglich starke Parallelen zwischen den von den einzelnen Autoren vorgeschlagenen Strategien feststellen lassen. Gerade die Werke von CalliÀres und Pecquet bieten einen hervorragenden, chronologisch aufgebauten Überblick über jene Strategien, die ein Gesandter mit der Ankunft im fremden Machtzentrum zu verfolgen habe. Beide bezeichnen die Instruktionen als eine unabdingbare Leitlinie bei der Annäherung an die Kommunikationspartner, wobei im Rahmen dieses Prozesses auch ein Abweichen von dieser Richtschnur erlaubt, in manchen Fällen sogar notwendig sei. Entsprechende Entscheidungen könnten jedoch erst nach der erfolgten Ankunft und der damit einhergehenden intensiven Beobachtung der Gesprächspartner, der personellen Zusammensetzung des Hofes und seiner Netzwerke sowie der Gewohnheiten, Meinungen und Interessen des Souveräns sowie seiner Minister und Günstlinge getroffen werden. In diesem Zusammenhang dienten nicht nur die Beobachtungen aus den ersten Begegnungen im Rahmen der Antrittsvisiten und -audienzen, sondern auch der Austausch mit anderen, bereits seit längerer Zeit am Hof befindlichen Personen des In- und Auslands als wertvolle Informationsquellen. Gerade Pecquet hob auch die Gefahrenmomente dieser Treffen hervor. So könne ein Gesandter bei diesen Gelegenheiten zum Beispiel auch an in Ungnade gefallene Höflinge oder an zwei verfeindete Hofparteien geraten, weshalb eine allzu offene Meinungsäußerung dabei nicht anzuraten sei. Insgesamt dienten diese ersten Eindrücke daher lediglich als nutzvolle Indikatoren für die weitere Vorgangsweise.327 Diese erhellenden Erläuterungen aus den französischen Handbüchern liefern uns also einen ersten Grund dafür, warum sich die kaiserlichen Minister hinsichtlich der Annäherung an die Minister des fremden Hofs auf das Geschick ihres Gesandten verließen. So dürften sie sich diesbezüglich im Klaren gewesen sein, dass Fernanalysen ihrem Vertreter bei diesem schwierigen Unterfangen nur bedingten Nutzen bereiteten. Die einzige konkrete Anweisung der Minister, wonach sich Kinsky an den beim Zaren gut angeschriebenen Jaguzˇinskij – der ab dem Jahre 1722 als Generalprokuror des Senats ein außergewöhnliches Vertrauen genoss – zu halten habe, könnte jedoch ebenso gut aus dem Lehrbuch stammen. So hielten Cal326 Pecquet, Discours, 67–68. 327 Vgl. Callières, ManiÀre, 105 sowie 221–225; Pecquet, Discours, 68–71 sowie 73–86.
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liÀres, Pecquet und Wicquefort als wichtigste Aufgabe des Gesandten fest, nicht nur den fremden Souverän, sondern auch dessen Umgebung zu gewinnen. Konkret dachten sie vor allem an jene Personen, die den meisten Einfluss auf die Entscheidungen des Herrschers hatten. Diese könnten unter den folgenden Personengruppen des Hofes ausfindig gemacht werden: aus dem Kreis des Staatskanzlers und aller übrigen Minister, aus den Reihen der Favoriten sowie aus der herrschaftlichen Familie als engstes Umfeld des Fürsten. Im Umgang mit diesen Personengruppen solle sich der Gesandte daher auf seine zuvor gemachten Beobachtungen stützen und seine Interaktion auf den Charakter der einzelnen Personen abstimmen, um bei diesen in weiterer Folge reüssieren zu können. Im konkreten Fall des Souveräns bedeutete dies zum Beispiel eine Angleichung an dessen Redensart. So habe der Gesandte in den Gesprächen mit ihm die richtigen Worte und Themen zu wählen, da in diesen Unterhaltungen vielfach jeder einzelne Satz sozusagen auf die Waagschale gelegt würde.328 In allen genannten Werken wird eine Reihe von konkreten Beispielen genannt, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden soll. Auf diesen Wissensschatz soll später bei der Analyse der konkreten Situationen zurückgegriffen werden. Für den Moment reicht die Feststellung, dass sich die Konferenzminister bezüglich der Frage der Kontaktaufnahme mit den russischen Ministern sehr stark an den allgemeinen Richtlinien des diplomatischen Austausches orientierten. Gleichzeitig wird aus diesen Ausführungen deutlich, dass diese Aufgabe sozusagen das Herzstück der diplomatischen Tätigkeit darstellte und den Gesandten offensichtlich einigen Bewegungsspielraum offen ließ. Hinsichtlich des Austausches mit dem heimischen Hof machten sich die Konferenzminister nicht nur Gedanken über die »Gelegenheiten« einer regelmäßigen Korrespondenz, sondern auch über deren »Sicherheit«. Im Falle noch unerschlossener oder unsicherer Postwege solle sich Kinsky daher um eine eigene Fortschickung der Briefe bemühen oder diese auf geheimem Wege über Kaufleute aus Bremen, Lübeck und Hamburg an den heimischen Hof übermitteln. Wichtig sei jedoch die Einrichtung eines sicheren Weges, wobei sich der Gesandte in »würdigen Dingen« – also den politischen Umständen entsprechend wichtigen Angelegenheiten – Expressschreiben und einer Verschlüsselung deren Inhaltes zu bedienen habe.329 Auch diese Vorgaben entsprachen den üblichen Gepflogenheiten des Wiener Hofes. So berichteten die kaiserlichen Gesandten üblicherweise einmal pro Woche, sofern die Postverbindung mit dem Gastland eine derartige Frequenz erlaubte. In politisch heiklen Situationen war eine 328 Vgl. Callières, ManiÀre, 105 sowie 225–248; Pecquet, Discours, 82–93; Wicquefort, L’Ambassadeur, 694–725. 329 Vgl. Gutachten der kaiserlichen Konferenzminister v. 24. April 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 38r–38v.
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häufigere Berichterstattung vorgesehen. Auch die Verschlüsselung der Berichte war kein Ausdruck des besonderen Misstrauens gegenüber dem russischen Hof, sondern eine bereits seit dem 16. Jahrhundert gängige Praxis der internationalen Diplomatie. Diese Chiffrierungen wurden gewählt, um der ebenso gängigen Praxis der Interzeption bzw. des Abfangens der Post und dem damit verbundenen Bekanntwerden des Inhalts entgegenzuwirken. Aus diesem Grund empfahl der Wiener Hof, einen vertraulichen Text zur Gänze zu verschlüsseln und nicht nur die verwendeten Namen in Ziffern zu setzen.330 Diese Reflexionen über den Austausch mit dem heimischen Hof zeigen insgesamt, dass dieser im Wesentlichen den allgemeinen Richtlinien der europäischen Diplomatie entsprach. Gleichzeitig mussten die außenpolitischen Verantwortlichen Wiens im konkreten Fall des Briefwechsels mit Russland einen im wahrsten Sinne des Wortes bislang unerschlossenen Postweg gangbar machen. Die Frage der Übermittlung der Korrespondenz wird uns daher auch in den noch folgenden Abschnitten immer wieder begleiten. Die unmittelbare Kommunikation mit den russischen Macht- und Würdenträgern wurde von den Konferenzministern ganz klar reglementiert. Hinsichtlich des vom Zaren bereits immer wieder beanspruchten Majestätstitels – wie in den vorigen Abschnitten bereits mehrfach angesprochen wurde – fuhren die Minister eine harte Linie. Dieser Titel sei niemals »mit Grund« begehrt worden, weshalb das immer wieder als Grundlage für diese Beanspruchung herangezogene Schreiben Maximilians I. (1486–1519), »[…] worinn der damahlige Czar ein Kayser solle benennet worden seyn, nicht vor bekannt anzunemmen, die gantze sache cum exceptione observantiae et styli auf das freundschaftlichste zu evitiren«331 sei. Diese Frage stellte sozusagen einen dauerhaften Konfliktherd in den bilateralen Beziehungen des betrachteten Zeitraums dar und gipfelte zunächst in der Annahme des Kaisertitels durch Peter I. Ende des Jahres 1721, worauf noch ausführlich eingegangen wird. Was die Ansprache und Betitelung der übrigen russischen Minister anbelangt, so gestanden die Konferenzminister Aleksandr Danilovicˇ Mensˇikov die Fürstengnade zu, wie es bereits im kaiserlichen Diplom anlässlich seiner Ernennung zum Fürsten des Heiligen Römischen Reiches durch Josef I. im Jahre 1706 gemacht wurde.332 Alle übrigen Ministri
330 Vgl. Müller, Gesandtschaftswesen, 33 sowie 36–42. 331 Gutachten der kaiserlichen Konferenzminister v. 24. April 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 43v. 332 Drucke der Verleihungsurkunde befinden sich u. a. in den Beständen des RGADA. Vgl. RGADA, f. 199 [Portfeli G.F. Millera], op. 1, 7. 243, cˇast’ [künftig: cˇ.]1 [Dela, kasajusˇcˇiesja kn. A.D. Mensˇikova], d. 8 [Diplomy dannye kn. A.D. Mensˇikovu (1.) ot rimskogo imperatora 1706 pecˇ. v Moskve 1774 (lat. i russk. jazyk)].
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seien als Exzellenzen zu bezeichnen, vorausgesetzt, sie erweisen dem kaiserlichen Gesandten ebenfalls diese Gnade.333 Die Betitelung der Ambassadeure als Exzellenzen scheint im frühen 18. Jahrhundert eine gängige Praxis gewesen zu sein. So hielten Lünig, Rohr und Stieve unmissverständlich fest, dass den Ambassadeuren der Titel Exzellenz zustehen würde.334 Lediglich aus dem Werk von Wicquefort erfahren wir, dass dies eine bereits Ende des 17. Jahrhunderts lange, aber nicht schon immer gepflegte Umgangsform darstellte: »Es haben auch die Ambassadeurs bey Abnehmung gegenwärtiger hundert-jährigen Zeit, sich des Tituls Excellenz angemasset.«335 Ähnlich wie die Wiener Konferenzminister hielt auch er diesbezüglich fest, dass diese Anrede meist jedoch auf dem Prinzip der Reziprozität beruhe. Dies dürfte wohl auch der Grund dafür gewesen sein, warum – wie wir bei Wicquefort erfahren – auch die inländischen Staatsminister diesen Titel zu beanspruchen begannen.336 Im Verlauf der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts dürfte sich diese Betitelung auch am russischen Hof durchgesetzt haben, wie aus dem Projekt über das Gesandtschaftszeremoniell hervorgeht. Darin wird als Richtlinie für die Visiten fremder Gesandter beim Staats- und Vizekanzler folgendes Verhalten vorgeschrieben: »Sie bezeichnen und empfangen sich untereinander gleichwertig – sowohl durch den Exzellenztitel, als auch durch die Ehrerbietung, indem sie jene Höflichkeit bezeigen, die der eine dem anderen schuldig ist.«337 Wie die kommenden Ereignisse der Gesandtschaft Kinsky noch zeigen werden, beachtete der Ambassadeur das soeben mehrfach angesprochene Prinzip der Reziprozität im Umgang mit den fremden Ministern peinlich genau. Die in den unterschiedlichen Quellen betonte Gegenseitigkeit in Hinblick auf die Anrede kann als hervorragendes Beispiel für die von Dmitri Zakharine herausgearbeitete Bedeutung von Begrüßungsritualen in der direkten Kommunikation der Frühen Neuzeit herangezogen werden. So zeigt er gerade anhand der Geschichte des diplomatischen Austausches zwischen West- und Osteuropa, dass diese vielfach zur Statusmarkierung oder Degradierung gegenüber einem Kommunikationspartner herangezogen wurden. Die häufig lange andauernden Verhandlungen der frühneuzeitlichen Diplomaten mit den einheimischen Zeremonienmeistern über die Art und Weise der Begrüßungsform dienten letztlich dazu, eine eventuelle Degradierung durch den jeweiligen Interaktionspartner zu vermeiden. Eine mögliche Strategie dafür war unter 333 Vgl. Gutachten der kaiserlichen Konferenzminister v. 24. April 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 44r. 334 Vgl. Lünig, Theatrum, 368; Rohr, Einleitung, 377; Stieve, Hof-Ceremoniel, 288. 335 Wicquefort, L’Ambassadeur, 371. 336 Vgl. Wicquefort, L’Ambassadeur, 382–389. 337 RGADA, f. 15, op. 1, d. 78, 3v.
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anderem der faire Austausch von Kommunikationsmitteln, wie wir es auch im Beispiel der Instruktionen für den Grafen Kinsky sehen. So versuchten die frühneuzeitlichen diplomatischen Akteure vielfach, die Gleichheit mit dem Gesprächspartner auch durch den gerechten Wechsel von Titelanreden zum Ausdruck zu bringen. Wie schon im vorangegangenen Teil angedeutet, erlangte dieser Sprechakt erst durch seinen performativen Charakter und die Aufführung vor Zuschauern seine Bedeutung und musste daher in der Vorbereitung einer Gesandtschaft inszeniert werden.338 Während Kinsky noch zu Hause seine Kommunikationsstrategien gegenüber den russischen Ministern aushandelte und sie nach dem »placet« Karls VI. in dieser Form im Juni 1721 auch als Instruktionen für den Grafen festgeschrieben wurden,339 trat Sebastian Hochholzer, der ab diesem Monat in Petersburg verweilte,340 bei der Vorbereitung der Gesandtschaft Kinsky bereits in direkten Kontakt mit den Vertretern des Zarenhofs. Das Vorausschicken des Legationssekretärs stellte in der kaiserlichen Diplomatie des betrachteten Zeitraums eine übliche Vorgangsweise dar. So sollte dieser nicht nur die logistischen Vorbereitungen, wie etwa die Beschaffung einer Unterkunft treffen, sondern in manchen Fällen auch das Empfangszeremoniell für den nachkommenden Ambassadeur mit den zuständigen Hofbeamten aushandeln und erste Eindrücke über die dortigen Verhältnisse als Wissengrundlage für den Missionsleiter sammeln.341 Wie die nun folgenden Ausführungen zeigen werden, wurden diese Aufgaben mitunter auch Hochholzer zuteil. Um bei seinen Begegnungen mit den russischen Vertretern den Vorstellungen seines Hofes zu entsprechen, arbeitete auch er vor seiner Abreise einen verhältnismäßig kleinen Fragenkatalog aus, in dem er Reichshofvizekanzler Schönborn um entsprechende Instruktionen bat. Leider konnten dessen Vorgaben unter den übrigen Gesandtschaftsberichten nicht ausfindig gemacht werden, weshalb diese lediglich aus den weiteren Schilderungen des Legationssekretärs über seinen Aufenthalt in Russland sowie aus der normativen Gesandtschaftsliteratur erschließbar sind. In seinem relativ kurz gehaltenen Fragenkatalog spricht Hochholzer drei Kommunikationsebenen an, die in Vorbereitung seiner Abreise offensichtlich von Bedeutung waren: die russischen Vertreter am Wiener Hof, die außenpolitischen Verantwortlichen des Zarenreiches sowie die Vorgesetzten des heimischen Machtzentrums. Hinsichtlich der 338 Vgl. Zakharine, Angesicht, 384–396. 339 Vgl. Instruktionen Karls VI. für Kinsky v. 20. Juni 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 102r–147v. 340 Hochholzer berichtete über seine Ankunft in der Hauptstadt am 23. Juni 1721. Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 23. Juni 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 149r. 341 Vgl. Müller, Gesandtschaftswesen, 96–97.
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ersten Gruppe bat er um klare Anweisungen, ob er diese über seine bevorstehende Tätigkeit als Legationssekretär vorab informieren und um ein Begleitschreiben für ein leichteres Fortkommen bei der Reise durch das russische Reich bitten solle.342 Wie die weiteren Ereignisse zeigen werden, erfolgte der vom Legationssekretär angedachte Austausch mit den russischen Vertretern am Kaiserhof bereits vor seiner Abreise, weshalb Schönborns Antwort auf diese Frage – auch ohne Rücksichtnahme auf das Antwortschreiben des Reichshofvizekanzlers – mit Sicherheit ein »Ja« gewesen sein wird. Einige Fragen stellte sich Hochholzer auch hinsichtlich der Interaktion mit den Vertretern des russischen Hofes, wobei diese verständlicherweise seine Kommunikationsstrategien für den Zeitraum bis zur Ankunft des Grafen Kinsky betrafen. Konkret beschäftigte ihn, ob er sich bereits in dieser Phase offiziell als Legationssekretär des Kaisers melden solle, auf in dieser Zeit einlaufende Fragen reagieren dürfe, sich den in- und ausländischen Ministern zeigen könne und für die Feste des Zarenhofes – zu denen in Russland üblicherweise auch die Legationssekretäre eingeladen würden – eine Teilnahmeerlaubnis bekomme.343 Diese Fragen werden bei einem Blick auf die zeitgenössische zeremonialwissenschaftliche und gesandtschaftsrechtliche Literatur äußerst nachvollziehbar. So wird in den meisten in dieser Untersuchung herangezogenen Werken ein Unterschied zwischen Legationssekretären und sogenannten Gesandtschaftssekretären gemacht. Während Erstere in Dienst, Schutz, Bezahlung und Rechenschaftsschuld des abschickenden Souveräns stehen würden, so seien Zweitere lediglich als private Bedienstete des jeweiligen Gesandten zu betrachten. Aus diesem Grund hätten Legationssekretäre im Vergleich zu Gesandtschaftssekretären auch einen offiziellen Charakter, der ihnen nicht nur das Recht auf gemeinsame Teilnahme an den offiziellen Auftritten der Gesandtschaft, sondern auch jenes auf Vertretung des Herrschers im Falle der unerwarteten Abreise oder des plötzlichen Ablebens eines Ambassadeurs einräumte. Stieve hielt daher hinsichtlich der Funktion des Legationssekretärs fest, dass dieser üblicherweise an weit entfernte Höfe entsandt würde, um für den Notfall einen offiziellen Ansprechpartner zu haben und keine lange Periode der Vertretungslosigkeit zu riskieren. Genau diese Überlegung stellte laut Müller den Beweggrund für den Wiener Hof dar, bereits ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zwei Vertreter an den Zarenhof zu schicken, um den Erfolg der Mission trotz der Reisebeschwerlichkeiten sowie des ungewohnten Klimas und der damit verbundenen Erkrankungsgefahr gewährleistet zu wissen. Darüber hinaus betonte Stieve eine 342 Vgl. Bericht Hochholzers an Schönborn v. 7. Februar 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 15r–15v. 343 Vgl. Bericht Hochholzers an Schönborn v. 7. Februar 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 15v–16r.
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gewisse Eigenständigkeit des Legationssekretärs, indem er nur in offiziellen Angelegenheiten der Gesandtschaft vom Ambassadeur herangezogen werden könne. Wicquefort ging in eine ähnliche Richtung, indem er den Legationssekretär gar als »Gegenschreiber« zum Botschafter bezeichnet. Aus dem Werk von CalliÀres erfahren wir, dass Legationssekretäre am französischen Hof zwar als offizielle Vertreter anerkannt wurden und den Schutz des Völkerrechts genossen, jedoch keine Antrittsaudienzen und -visiten erwarten durften.344 All diese Hintergrundinformationen über das Amt des Legationssekretärs lassen es nicht verwunderlich erscheinen, dass Hochholzer um die Klärung einiger Fragen bemüht war. Und so viel kann schon jetzt vorausgeschickt werden: Er wurde bereits vor der Ankunft Kinskys offiziell als Legationssekretär vorstellig, auch wenn die offiziellen Aufzeichnungen des russischen Hofes etwas anderes besagen.345 Mit einem Blick in die soeben angesprochenen Werke lassen sich auch die weiteren Fragen Hochholzers bezüglich der Kommunikation mit dem heimischen Hof begründen. Demzufolge erhielte auch der Legationssekretär vor seiner Abreise ein Beglaubigungsschreiben und Instruktionen und sei nach seiner Ankunft am fremden Hofe zur Berichterstattung verpflichtet. Einen maßgeblichen Unterschied hinsichtlich des Informationsaustausches mit dem heimischen Hof stellte jedoch die Tatsache dar, dass er die Instruktionen von einem Minister erhalte und seine weitere Korrespondenz ebenso mit diesem zu führen habe.346 Hochholzer, der über diese allgemeinen Richtlinien wohl Bescheid wusste, stellte seine Fragen genau in die soeben angesprochene Richtung. So beschäftigte ihn unter anderem, ob er die Relationen an den Reichshofvizekanzler oder an den Kaiser zu richten hätte, ob er Instruktionen von Seiten der Kanzlei ausgestellt bekäme und ob er von dieser auch ein offizielles Dekret eines Legationssekretärs erhielte. Darüber hinaus erkundigte er sich, welcher Chiffren er sich in seinen Berichten zu bedienen habe und in welcher Form er sich vor seiner Abreise mit den kaiserlichen Ministern abzusprechen hätte.347 Hinsichtlich der von Hochholzer formulierten Fragen kann aufgrund der mangelnden Instruktionen der Reichshofkanzlei in Vorausschau auf die folgenden Ereignisse nur eines mit Sicherheit festgehalten werden: Entsprechend den allgemein üb344 Vgl. Callières, ManiÀre, 113–115; Lünig, Theatrum, 370; Müller, Gesandtschaftswesen, 88–89 sowie 94–96; Stieve, Hof-Ceremoniel, 340–343; Wicquefort, L’Ambassadeur, 70–71 sowie 93–95. 345 So hält Bantysˇ-Kamenskij in seinem auf den russischen Hofakten beruhenden Werk irrtümlicherweise fest, dass Graf Kinsky gemeinsam mit seinem Sekretär Hochholzer am 10. September 1721 in Sankt Petersburg angekommen sei. Vgl. Bantysˇ-Kamenskij, Obzor, 50–51. 346 Vgl. Stieve, Hof-Ceremoniel, 340–343; Wicquefort, L’Ambassadeur, 93–95. 347 Vgl. Bericht Hochholzers an Schönborn v. 7. Februar 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 16r–16v.
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lichen Richtlinien richtete er seine Relationen an den bereits im Fragenkatalog adressierten Schönborn. Kurz vor seiner Ankunft in der Hauptstadt berichtet er über die erste Tuchfühlung mit dem bereits mehrfach erwähnten Grafen Tolstoj, welche jedoch mit Schwierigkeiten verbunden gewesen war. Leider lässt der Bericht Hochholzers offen, ob der Legationssekretär diese Episode als Resultat des gespannten Verhältnisses zwischen Tolstoj und dem Kaiserhof betrachtete. Eine derartige Interpretation der Ereignisse wäre also nichts anderes als Spekulation. Trotzdem scheinen die Schilderungen Hochholzers insofern bemerkenswert, als er in einem Bericht aus Riga festhielt, »[…] daß ich die von dem Czarischen H[errn] Geheimen Rath Tolstoy mir gemachte, und in meinen vorigen relationen angeführte seine expresionen gar nicht in effectu gefunden.«348 Konkret habe sich der russische Minister gleich mehrfach bei Hochholzer erkundigt, wie viele Postpferde er für die Anreise nach Petersburg benötige und überdies gleich einen Pass für die Reise innerhalb der russischen Reichsgrenzen ausgestellt. Nun sei in diesem Dokument an keiner Stelle die Rede von den mitgeführten Pferden gewesen, weshalb Hochholzer die daraus erwachsenden Mehrkosten selbst begleichen hätte müssen. Er habe daraus jedoch keine große Sache gemacht. Gleichzeitig lässt er in diesem Schreiben anklingen, dass trotz mehrfacher Zusage der Unterstützung hinsichtlich der Suche einer Wohnung für den Grafen Kinsky von Seiten des Großkanzlers Graf Golovkin und des Grafen Jaguzˇinkij eine derartige Hilfsleistung bislang ausgeblieben sei, weshalb er in dieser Sache eine »glimpfliche Ahndung« zu machen gedenke.349 Die vorhandenen Vergleichsdarstellungen anderer am russischen Hof befindlicher Diplomaten lassen leider keine genaueren Rückschlüsse über das Verhältnis der russischen Minister zum kaiserlichen Legationssekretär zu. So erfahren wir aus dem Bericht des Marinekommissars und Informanten des französischen Hofs, Henri de La Vie,350 nicht mehr als uns schon aus den kaiserlichen Relationen bekannt ist: »Le secr¦taire de m[onsieur] Kinsky, ministre de l’empereur, est arriv¦ pour lui pr¦parer un hútel, et, en attendant, faire les affaires en qualit¦ de secr¦taire d’ambassade, pendant son absence.«351 Lediglich aus einem einige Monate zuvor abgefassten Bericht von dem auf dem Weg nach
348 Bericht Hochholzers an Schönborn v. 16. Juni 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 99r. 349 Vgl. Bericht Hochholzers an Schönborn v. 16. Juni 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 99r–99v. 350 Henri de La Vie († 1770) war in den Jahren 1715 bis 1723 französischer Konsul am russischen Hof. 351 Bericht La Vies an Cambrai v. 30. Juni 1721, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 40, SanktPeterburg 1884, 255.
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Russland befindlichen französischen Gesandten Jacques de Campredon352 über ein Gespräch mit Tolstoj hinsichtlich der bevorstehenden Ankunft Kinskys erfahren wir, dass der russische Minister zweifelsohne nicht zu der Partei des Kaisers am Zarenhof gerechnet werden konnte: »M[onsieur] Tolstoy me l’a bien fait sentir, et il m’a lch¦ dans le discours que la maison d’Autriche serait toujours la rivale et l’ennemie de la France, qui devait agir de concert avec le Czar, pour maintenir la libert¦ des princes de l’empire; et il est craindre que si le Czar trouve de la lenteur ou du refroidissement du cút¦ de la France sur les liaisons prendre, il ne se jette de l’autre cút¦ et n’entre dans les propositions que le comte de Kinsky viendra lui faire Riga.«353
In Sorge um eine mögliche Zurücksetzung Frankreichs hinsichtlich der von allen Seiten angestrebten Freundschaft des Zaren, bat der französische Gesandte deshalb um weitere Verhaltensvorgaben bezüglich der Bündnisfrage mit Russland.354 Campredon spielte damit natürlich auf die sich im Hintergrund dieses Gesprächs abspielende internationale Lage an. Diese war unter anderem von einem Wettstreit um die Vermittlerrolle im herannahenden Frieden zwischen Russland und Schweden gekennzeichnet, wobei gerade der Kaiser und Frankreich um diese Stellung bemüht waren. Der französische und russische Hof hatten sich bereits während der von Jaguzˇinskij in Wien durchgeführten Verhandlungen auf eine Annäherung geeinigt, die mitunter die Absendung Campredons an den Zarenhof zur Folge hatte. Als Lanczinski den Wiener Hof im März 1721 darüber informierte, dass Frankreich die Vermittlung in den Friedensverhandlungen mit Schweden übernommen habe, reagierte der Wiener Hof in der Hoffnung auf ein Zustandekommen des Kongresses von Braunschweig noch relativ gelassen. Obwohl der Zar daraufhin den Grafen Golovkin sozusagen pro forma nach Braunschweig entsandte, wurde im Zuge der parallel verlaufenden Verhandlungen in Nystad klar, dass ein Separatfrieden zu Gunsten des Zaren immer wahrscheinlicher wurde. Aus diesem Grund war der Wiener Hof trotz dieser Übergehung der eigenen Friedensbemühungen weiterhin sehr an einer Annäherung an Russland interessiert, was wiederum die von Campredon angesprochene Umgarnung des Zaren von Seiten der europäischen Höfe erklärt.355 Aus diesen soeben angeführten wenigen Anhaltspunkten ein bewusstes Schneiden Hochholzers von Seiten der russischen Minister zu konstruieren, 352 Jacques de Campredon (1672–1749) war in den Jahren 1721 bis 1726 bevollmächtigter französischer Minister am russischen Hof. 353 Berichte Campredons an Cambrai v. 9. und 14. April 1721, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 40, Sankt-Peterburg 1884, 229–230. 354 Vgl. Berichte Campredons an Cambrai v. 9. und 14. April 1721, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 40, Sankt Peterburg 1884, 230. 355 Vgl. Solov’ev, Istorija, 373–375 sowie 398–404.
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wäre zu weit gegriffen, zumal die weiteren Zusammenkünfte mit den russischen Macht- und Würdenträgern harmonisch verliefen. So berichtete der Legationssekretär im Juli bzw. August 1721, dass er im Rahmen eines Fests anlässlich des ersten großen Sieges der russischen Flotte bei Hangö 1714 sowie einer im Jahr zuvor erfolgreich verlaufenen Seeschlacht gegen Schweden besondere Ehrerweisungen von Seiten des Zaren erlebt hätte.356 Demzufolge wurde zu diesem denkwürdigen Jahrtag ein Kriegsschiff mit 66 Kanonen zu Wasser gelassen, auf das Peter I. – entsprechend seiner Vorliebe für das Seewesen und für ungezwungene Feste – die in- und ausländischen Minister zur Tafel lud. Unter den Gästen war auch der kaiserliche Legationssekretär. Dort kam Hochholzer zunächst an der Tafel des Grafen Jaguzˇinskij zu sitzen, wobei er sich im weiteren Verlaufe an den Tisch des Zaren sowie des Herzogs von Holstein und des Schiffskonstrukteurs begab, um mit dem dort sitzenden holländischen Residenten zu sprechen.357 Als seine »czarische Mayestät« ihn erblickte, so Hochholzer, »[…] ruften sie 2 mahl auf mich in holländischer sprach: Mein herr, sezt euch doch, wie aber kein plaz auf denen bäncken ware, so befahlen sie, einen sessel zu bringen, worauf ich gesessen, und auf Czar[ische] May[estät] gesundheit getrunken habe.«358 Bei diesem ersten näheren Kontakt mit dem fremden Herrscher bekam er auch erste Eindrücke über die Exzessivität des Feierns am russischen Hof: »Diese versamblung [hat] bis nach mitternacht getauert, ohne daß man vom schif abkommen können, ist auch dabey allenthalben ser starck getruncken worden, da man disen nicht ausweichen können.«359 Diese Schilderungen Hochholzers liefern uns auch einige noch ausstehende Antworten auf seine Fragen hinsichtlich der Interaktion mit dem russischen Hof bis zur Ankunft des Grafen Kinsky. So hatte ihm das Wiener Ministerium offensichtlich 356 Dieses Fest wurde im Rahmen einer von Peter I. durchgeführten Säkularisierung des russischen Festkalenders zu einem fixen Bestandteil desselben; es wurde alljährlich am 27. Juli begangen. Derartige Feierlichkeiten wurden vielfach mit den Heiligenfesten des »alten« Moskauer Hofs verknüpft, um diese mit einer neuen, weltlichen Bedeutung aufzuladen. Dazu zählte unter anderen das Fest anlässlich des Sieges bei Poltava, das genau einen Monat zuvor (am 27. Juni) anlässlich des Patroziniums des Heiligen Samson veranstaltet wurde. Vgl. Lindsey Hughes, The Petrine Year : Anniversaries and Festivals in the Reign of Peter I (1682–1725), in: Karin Friedrich (Hg.), Festive Culture in Germany and Europe from the Sixteenth to the Twentieth Century, Lewiston-Queenston-Lampeter 2000, 149–168, hier : 153–161 sowie 168. Auch Hochholzer verfasste unmittelbar nach seiner Ankunft einen Bericht über das Fest anlässlich des Sieges bei Poltava. Vgl. Bericht Hochholzers an Schönborn v. 11. Juli 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 157r–157v. 357 Vgl. Bericht Hochholzers an Schönborn v. 8. August 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 165r–165v. 358 Bericht Hochholzers an Schönborn v. 8. August 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 165v. 359 Bericht Hochholzers an Schönborn v. 8. August 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 165v–166r.
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erlaubt, sich in dieser Phase offiziell als Legationssekretär akkreditieren zu lassen und an den Festen des Zarenhofes als Vertreter des Kaisers teilzunehmen. Während Hochholzer erste Kontakte am russischen Hof knüpfte, trat Kinsky am 22. Juli 1721 die Reise nach St. Petersburg an. Diese führte ihn zunächst über Dresden, Berlin und Danzig, wo er zum Teil den örtlichen Fürstenhöfen einen Besuch abstattete. Vom Herzog in Kurland bekam er schließlich den Pass für die Reise mit seiner Suite innerhalb des russischen Reichsgebietes ausgehändigt und erhielt überdies die nötigen Reiseutensilien vom dortigen Postmeister. Entsprechend seinen Instruktionen nahm er die daraufhin vom Vizegouverneur in Riga dargebrachten Ehrerweisungen in Form einer zwölfköpfigen Ehrenwacht bei Ankunft und Unterbringung widerspruchslos in Anspruch. Da von Seiten des russischen Hofes die Reisevorkehrungen für die ganze Suite Kinskys zu diesem Zeitpunkt noch nicht getroffen waren, entschied sich der kaiserliche Gesandte, die Weiterreise nach St. Petersburg zu beschleunigen, indem er das letzte Stück alleine zurücklegte. Begleitet wurde er von einem vom Vizegouverneur abgestellten »Capitain«, der ihn sicher in die russische Hauptstadt geleitete, wo er am 21. September »mit guter Gesundheit« von Hochholzer in Empfang genommen wurde.360 Aus dem Projekt über das russische Gesandtschaftszeremoniell des Jahres 1744 geht hervor, dass ein derartiger Empfang fremder Gesandter bei der Anreise nach Russland üblich war : »Sowohl in den Grenzstädten, als auch in allen Städten am Weg wird ihm für sein Gesandtschaftsgeld ein schickliches Quartier gegeben und der Ehre halber in allen Städten, wo es eine Garnison gibt, zu ihm zum Quartier ein Sergeant mit einem Korporal und zwölf Grenadieren oder Soldaten als Ehrenwache geschickt. Und der Gouverneur oder Kommandant […] hat ihm die erste Visite zu geben, und im Gegenzug dazu wird auch vom Botschafter eine Gegenvisite erwartet.«361
Schon die Anreise auswärtiger Diplomaten stand im Interesse der unterschiedlichen politischen Beobachter. Für die bereits anwesenden Gesandten am fremden Hof bot ein derartiges Ereignis vor allem auch Anlass zu Spekulationen über die Hintergründe der Gesandtschaft. Die bisherigen Schilderungen lassen es nicht verwunderlich erscheinen, dass der um die Einholung weiterer Informationen über Kinskys Reise bemühte französische Unterhändler die räumliche Annäherung Kinskys mit der Möglichkeit auf eine politische Annäherung zwischen Wien und St. Petersburg verknüpfte: »Il m’est aussi revenu que m[onsieur] le comte de Kinsky est arriv¦ Riga, et que ce ministre vient ici pour traiter d’une alliance d’importance, et il y a apparance qu’il 360 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 26. September 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 191r–192r. 361 RGADA, f. 15, op. 1, d. 78, 3r.
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r¦ussira dans ses n¦gociations, vu qu’il parait que la bonne harmonie et amiti¦ sont entiÀrement r¦tablies entre la couronne imp¦riale et celle ci.«362
In Petersburg angekommen, musste sich Kinsky zunächst mit Problemen hinsichtlich der Unterbringung seiner Suite herumschlagen. Während Hochholzer vorab die Unterbringung der Gesandtschaft im »von Stein sehr wohl gebauten ˇ ernysˇev (1672–1745) vereinbart Haus« des Generalmajors Grigorij Petrovicˇ C hatte, wurde dieses Vorhaben aus nicht rekonstruierbaren Gründen von russischer Seite verhindert. Aus diesem Grund musste der kaiserliche Gesandte in ein etwa eine Stunde vom Hof entferntes hölzernes Haus ziehen, wo er für sich und seine gesamte Suite Platz fand. Das Hauptproblem der »Notunterkunft« stellte neben den hohen Kosten die ständige Feuergefahr dar, der sich Kinsky ausgesetzt fühlte.363 Diese Gefahr bekam der in einer solchen Behausung zuvor wohl selten hausende Graf gleich in einer der ersten Nächte am eigenen Leibe zu spüren, »[…] da die camingluth, bey welcher der rauchfang zu geschlossen wird in meinem schlafzimmer durch den einfachen ziegl die balcken ergrifen, und einen so haüfigen rauch erwecket hat, daß ich bey neuer erachtung kaum mehr respiren und mich heraus salviren können.«364 Der verängstigte Botschafter war allem Anschein nach mit der einfachen, aber teuren Behausung unzufrieden. Wenngleich es keine eindeutigen Beweise für die bewusste Schikanierung der Gesandten hinsichtlich der Unterbringung gibt, so ist es schon bemerkenswert, dass der russische Hof bei der Vorbereitung derselben offensichtlich sehr nachlässig agierte. Ob dies eine Folge des vorangegangenen Konflikts war, lässt sich jedoch nicht mit Sicherheit sagen. Näherer Aufschluss über die Haltung des russischen Hofes gegenüber der Gesandtschaft im Allgemeinen kann aus der nunmehr folgenden Betrachtung der Interaktion des Ambassadeurs mit dem Zaren und seinen Ministern gewonnen werden. So eröffnet diese mikroanalytische Auswertung des zwischenstaatlichen Austausches in den ersten Monaten der Anwesenheit Kinskys am fremden Hof auch weitere Erkenntnisse darüber, welchen Einfluss die vorangegangenen Konflikte tatsächlich auf die wieder aufgenommenen diplomatischen Kontakte hatten bzw. welche Kommunikationsstrategien zum Vergessen dieser Auseinandersetzung beitrugen. 362 Bericht La Vies an Dubois v. 8. September 1721, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 40, Sankt-Peterburg 1884, 270. 363 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 26. September 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 192r–192v ; Vgl. dazu auch: C. Höfler, Fragmente zur Geschichte Kaiser Karl’s VI. Nach geheimen brandenburgischen Archivalien und Aufzeichnungen des Grafen Stefan Kinsky bearbeitet, in: Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Classe 60 (1868), 417–453, hier : 434. 364 Bericht Kinskys an Karl VI. v. 26. September 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 192v.
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2.2.2. Das wechselseitige Bemühen um die Freundschaft des anderen Hofes – die Kommunikationsstrategien der ersten Annäherungsphase Die Kontaktaufnahme Kinskys mit den Macht- und Würdenträgern wurde zunächst dadurch verzögert, dass der sozusagen in russischer Emigration befindliche holsteinische Hof zum Zeitpunkt seiner Ankunft eine Reihe von Maskeraden und Lustbarkeiten veranstaltete. Nichtsdestotrotz ließ der kaiserliche Gesandte – entsprechend seinen Instruktionen – dem Großkanzler Golovkin unverzüglich sein Eintreffen und den damit verbundenen Wunsch zur Abstattung einer Visite nach Ablauf der Festivitäten verkünden. Wenngleich er ansonsten niemanden über seine erfolgte Anreise unterrichtete, stattete ihm der holsteinische Geheimrat, Henning Friedrich von Bassewitz (1680–1749)365, von sich aus einen Besuch ab. Neben Ablegung der obligatorischen Empfangskomplimente kamen diese sogleich auf die Friedensverhandlungen in Nystad zu sprechen, wobei sich Kinsky diesbezüglich auf keine inhaltlichen Vertiefungen einließ. Ebenso berichtete er über den kurz darauf stattfindenden Privatbesuch des Herzogs Karl Friedrich von Holstein (1700–1739)366, dass ihm dieser lediglich die üblichen Höflichkeitsgesten erwies, jedoch nichts in seinen eigenen Angelegenheiten »in Diskurs« brachte.367 Kinskys häufige Erwähnung, sich in den Gesprächen mit den holsteinischen Vertretern nicht weiter auf politische Sachfragen eingelassen zu haben, deutet darauf hin, dass er sich vor Absolvierung der offiziellen Antrittsbesuche noch nicht weiter »herauslassen« wollte und durfte. Damit beherzigte er offensichtlich auch die Vorgaben der im vorangegangenen Kapitel angesprochenen Ratgeberliteratur bezüglich des Verhaltens nach der Ankunft am fremden Hof. So war Kinsky zunächst mit dem Sammeln 365 Graf Henning Friedrich von Bassewitz war massiv am Zustandekommen der Hochzeit zwischen Herzog Karl Friedrich von Holstein-Gottorf und Anna Petrovna (1708–1728) beteiligt. Während seiner Anwesenheit am russischen Hof erhielt er von Karl VI. im Jahre 1726 die Reichsgrafenwürde, worauf in der vorliegenden Studie noch ausführlich eingegangen wird. Der russische Hof zeichnete ihn u. a. mit dem Andreas- und dem Alexanderorden aus. Vgl. Bassewitz, Henning Friedrich Graf von, in: Schleswig-Holsteinisches Biographisches Lexikon, Bd. 5, Neumünster 1979, 32–34. 366 Herzog Karl Friedrich v. Holstein-Gottorf wollte mit Hilfe Russlands die verloren gegangenen gottorfischen Anteile Schleswigs zurückgewinnen, während Peter I. durch ihn als Neffe des schwedischen Königs Einfluss auf den schwedischen Hof zu erlangen hoffte. Nach seinem Regierungsantritt ging er 1720 bis 1727 an den russischen Hof, heiratete 1725 Prinzessin Anna Petrovna (1708–1728) und war 1725 bis 1727 Mitglied des Obersten Geheimen Rates, verlor jedoch nach der Thronbesteigung Peters II. seinen Einfluss und musste mit seiner Frau den russischen Hof verlassen. Vgl. Karl Friedrich, Herzog von Holstein-Gottorf, in: Schleswig-Holsteinisches Biographisches Lexikon, Bd. 5, Neumünster 1979, 143–144. 367 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 26. September 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 191r–192r.
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von Informationen und dem Studium der Kommunikationspartner beschäftigt, wobei er sich – wie etwa von Pecquet empfohlen – zu keinen inhaltlichen Meinungsäußerungen hinreißen ließ. Diese erfolgten Ende September bzw. Anfang Oktober, wobei Kinsky zunächst die in seinen Instruktionen vorgesehene Antrittsvisite bei Großkanzler Golovkin wahrnahm. Der Empfang in dessen Privathaus verlief nach den allgemeinen zeremoniellen Gepflogenheiten, wonach Kinsky aus dem von Kanzleibediensteten »rangierten« Vorzimmer vom Großkanzler selbst in sein Kabinett geführt wurde. Neben der gegenseitigen Ablegung der obligatorischen Komplimente sprach Kinsky die Bitte um Festlegung des Audienztages aus und berichtete über seine beschwerliche Anreise nach Petersburg. Dem entgegnete Golovkin, dass der Zar neben der Einrichtung der alten Freundschaft zu »mehrerem geneigt« sei. Die Konversation wurde durch einen Dolmetscher übersetzt, wobei Kinsky hinsichtlich der Ansprache festhielt, dass er dem Großkanzler den Exzellenztitel zugelegt und diese Ehre selbst auch in der Translation durch den Übersetzer zugesprochen bekommen habe. Nachdem der kaiserliche Gesandte anschließend vom Großkanzler zur Haustüre geleitet worden war und die Visite damit endete, ließ er tags darauf Herzog Karl Friedrich von Holstein, Fürst Mensˇikov, Vizekanzler Sˇafirov, sowie allen in- und ausländischen Ministern sowie Generälen offiziell seine Ankunft verkündigen. Während Letztere durch einen General aus dem Gefolge Kinskys benachrichtigt wurden, beauftragte er seinen Legationssekretär Hochholzer dazu, alle Übrigen über seine erfolgte Anreise zu informieren.368 Die eben geschilderten Ereignisse entsprachen fast in allen Einzelheiten den normativen Richtlinien der zeremonialwissenschaftlichen Literatur sowie den russischen Empfangsgebräuchen. So hielten Lünig, Stieve und Rohr hinsichtlich der zuletzt angesprochenen Notifikation der Ankunft an die in- und ausländischen Minister durch einen Kavalier oder Sekretär fest, dass diese den Besuch der benachrichtigten Personen zur Folge hatten. Das Projekt über das russische Gesandtschaftszeremoniell verrät uns überdies, dass der ankommende Gesandte die wichtigsten Hof-, Militär- und Staatspersonen von seinem Einlangen in Kenntnis zu setzen habe, um von diesen in weiterer Folge die Visite zu bekommen. Daraufhin sei er ihnen natürlich auch einen Gegenbesuch schuldig. Auch die beschriebene Visite bei Kanzler Golovkin verlief in weiten Teilen entsprechend den idealtypischen Beschreibungen. So finden wir sowohl bei den Zeremonialwissenschaftern als auch im russischen Projekt den Grundsatz wieder, dass der Besuchte den Besuchenden entweder bereits bei der Kutsche oder bei der Haustüre empfängt und ihm in weiterer Folge den Vortritt beim 368 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 3. Oktober 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 199r–200r.
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Gang in das Empfangszimmer überlässt. Im konkreten Fall des russischen Hofes sollte der fremde Ambassadeur durch den Kanzler und Vizekanzler in Empfang genommen und weiter ins Kabinett geführt werden. Die von Kinsky angesprochenen, in den Vorzimmern »rangierten« Kanzleibediensteten hatten die Funktion, das Gefolge des Gesandten zu unterhalten, während dieser alleine seine Visite im dazu vorgesehenen Zimmer abstattete. Das nach dem Austausch der Höflichkeiten durch Golovkin erfolgte Begleiten Kinskys verlief ebenso entsprechend den Schilderungen der normativen Literatur, wobei darin betont wird, dass sich dieser Ablauf nach dem Prinzip der Reziprozität auch beim darauffolgenden Gegenbesuch der Visitierten zu wiederholen habe. Im konkreten Fall des russischen Hofs stattete diesen Besuch der Vizekanzler ab.369 Der Besuch Kinskys entsprach aber eben nur fast den Vorstellungen des russischen Hofs. So rief sein Auftreten den Unmut des soeben angesprochenen Vizekanzlers Sˇafirov hervor, der sich im Informationsaustausch übergangen fühlte und sich darüber beschwerte, erst so spät über seinen Besuch informiert worden zu sein. Grund für dessen Verstimmung war die Tatsachte, dass er es als seine Zuständigkeit betrachtete, den Großkanzler von derartigen Neuigkeiten in Kenntnis zu setzten. Um diese »chalousie« und mögliche Folgen aus dem Weg zu räumen, entschied sich Kinsky entgegen seinen Instruktionen dazu, Sˇafirov von sich aus einen Besuch abzustatten. Dieser sei dadurch »appaisiret« worden und habe dem Botschafter im Gegenzug versichert, dass in Nystad nichts beschlossen worden sei, was den Interessen des Kaisers zum Nachteil gereichte. Mit diesen Neuigkeiten übergab er Kinsky eine Kopie des Friedenstraktats, damit dieser es studieren könne. Besonders interessant ist überdies die Tatsache, dass Kinsky dem Vizekanzler zunächst zwar den Exzellenztitel zulegte, wobei dieser mit einem einfachen »Sie« reagierte. Im Sinne der in den Instruktionen angewiesenen Reziprozität in dieser Frage passte Kinsky sein weiteres Verhalten der Situation an und wechselte ebenfalls auf die Ansprache ohne Exzellenztitel.370 Die geschilderte Verärgerung Sˇafirovs ist mit einem Blick auf die normativen Richtlinien des russischen Hofs durchaus nachzuvollziehen. Wie bereits im vorangegangenen Abschnitt angesprochen, sah es das russische Gesandtschaftszeremoniell vor, dass der den Kanzler besuchende Gesandte den Vizekanzler zunächst darüber informiere, zu welcher Zeit er seine Visite abstatten möchte.371 Kinsky, der entsprechend seinen Instruktionen nicht über diese Gepflogenheiten Bescheid wusste, war sich offensichtlich des Umstandes bewusst, dass er einen Etikettebruch begangen hatte, weshalb er diesen Fehler durch die 369 Vgl. RGADA, f. 15, op. 1, d. 78, 2v–4r sowie 27r–27v ; Lünig, Theatrum, 445; Rohr, Einleitung, 398–400; Stieve, Hof-Ceremoniel, 285–288. 370 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 3. Oktober 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 200r–201r. 371 Vgl. RGADA, f. 15, op. 1, d. 78, 2v.
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unübliche Visite beim Vizekanzler auszumerzen trachtete. Diese Episode ist der Beweis dafür, dass die zeremoniellen Richtlinien von den Zeitgenossen keineswegs nur als unbedeutende Formalitäten betrachtet, sondern bis ins kleinste Detail beobachtet wurden und im Falle eines Abweichens von der Norm auch Auslöser für Verstimmungen zwischen den diplomatischen Akteuren sein konnten. Problemloser gestaltete sich die Antrittsaudienz beim Zaren, die unmittelbar nach dem Treffen mit Sˇafirov durch einen Kanzleibediensteten des Großkanzlers für den nächsten Tag, den 1. bzw. 13 Oktober, um sechs Uhr früh angekündigt wurde. Peter I. ließ Kinsky und sein Gefolge zu diesem ersten als Privataudienz festgelegten Treffen mit einer Barke abholen und zu Wasser zu seinem Gartenhaus bringen, wo er die Gesandtschaft in der für ihn charakteristischen ungezwungenen Art in Empfang nahm. Im Vorzimmer erwarteten sowohl Groß- als auch Vizekanzler den Gesandten, wohin nach etwa einer halben Stunde der Zar kam. Als dieser scheinbar erkannt hatte, dass sich dieser Raum für eine Audienz nicht schickte, wurden Kinsky und die russischen Minister in ein nebenstehendes Zimmer gebeten, wo sich das Paradebett Peters I. befand. Die Unterhaltung wurde fortan von Sˇafirov übersetzt, wobei sich Kinsky entsprechend dem privaten Charakter dieses Treffens bei der Anrede gegen die Nennung der vollen Titel – seines eigenen und des fremden Souveräns – und für einen »familiären Diskurs« entschied.372 Wenngleich es sich bei dem Antrittsbesuch eben nicht um eine offizielle, sondern um eine private Audienz handelte, so lässt sich anhand ihres Ablaufes doch auch die Übernahme westlicher Elemente im Gesandtschaftszeremoniell nachzeichnen. Mit Blick auf die Empfangsgebräuche des Zarenhofes hält etwa Lünig Folgendes fest: »Doch nachdem gantz Rußland durch die kluge Conduite Ihrer jetzigen Czaarischen Majestät [Anm.: Peter I.] in seiner Landes- und Regiments-Verfassung auf den Fuß der politesten Völker gesetzet worden, so hat man auch das Ceremoniel bey Reception der Gesandten also reguliret, daß es wenig oder nichts von dem Ceremoniel anderer Königl[icher] Höfe unterschieden ist.«373
Elemente des »europäischen« Empfangszeremoniells bei öffentlichen Audienzen finden wir also auch im konkreten Fall des privaten Antrittsbesuchs Kinskys bei Peter I. wieder, wenngleich der Zar diesem Treffen durch den intimen und häuslichen Empfang eine ganz persönliche Note verlieh. So halten etwa Rohr und Stieve im Allgemeinen sowie Lünig im speziellen Fall des russischen Hofes fest, dass die Ankündigung der Audienz sowie die Abholung des Gesandten und 372 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 3. Oktober 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 201r–202r. 373 Lünig, Theatrum, 492.
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seines Gefolges durch einen Hofbediensteten in dessen Privathaus fest zu den gängigen Gepflogenheiten zählten. Dieses Element finden wir auch im Bericht Kinskys wieder.374 Ein Vergleich mit dem etwas mehr als zwanzig Jahre später verfassten Projekt über das Gesandtschaftszeremoniell des russischen Hofes, in dem ein eigener Abschnitt zu den Richtlinien einer privaten Audienz zu finden ist, zeigt jedoch, dass die Privataudienzen unter Peter offensichtlich wesentlich informeller abliefen als zwei Jahrzehnte später. So scheint darin nahezu jeder einzelne Schritt des Gesandten, seiner Gefolgsleute sowie der russischen Vertreter von der Abholung, über die Ankunft beim Palast, bis hin zum Gang zum Audienzzimmer und der Audienz selbst festgeschrieben zu sein.375 Dieser informelle Charakter stellte jedoch auch keine Abweichung von den allgemeinen Gepflogenheiten der übrigen europäischen Höfe dar. So hielt etwa Lünig in Hinblick auf Privataudienzen fest, dass diese eben ohne Solennitäten über die Bühne gehen würden.376 Das zwei Jahrzehnte nach der Antrittsaudienz von Kinsky bei Peter I. am russischen Hof offensichtlich nicht mehr übliche spontane und legere Auftreten und Verhalten des Souveräns kann jedoch als Beispiel für den ihm nachgesagten lockeren Umgang in zeremoniellen Fragen herangezogen werden. Trotz des informellen Charakters waren derartige Fragen der zwischenstaatlichen Kommunikation also keineswegs Nebensächlichkeiten der Diplomatie. Das wird unter anderem daran deutlich, dass Kinsky seinem Bericht eine Abschrift der Anrede beilegte. Darin spiegeln sich einerseits die bereits genannten Vorzeichen wider, unter denen die Annäherung der beiden Höfe erfolgen sollte. Andererseits lassen die Ansprache des Gesandten sowie die darauffolgende Antwort Peters I. die normativen Richtlinien der Gesandtschaftsliteratur für derartige Kommunikationssituationen durchblicken. Kinsky richtete zunächst folgende Worte an den Zaren: »Ihre Römische Kayserliche und Königl[iche] May[estät] mein allergnädigster herr schückt mich zu Euer Czaarischen May[estät] zu erkundigen, Euer Czaarischen May[estät] und dero gantzen hohen hauses wohlstand zu vernehmen, indeme Ihro Kay[serliche] May[estät] einen sonderlichen antheil darüber nehmen beynebst aber will Euer Czaarische May[estät] durch den General Weißbach, und letzlich forderist durch den General Jagoschinsky Ihro Kay[serlichen] May[estät] zuerkennen eyfrigst gegeben haben, daß Euer Czaarische May[estät] die alte wahrhafte freundtschaft möchten wiederumb hergestellet sehen, welche in dero hohen haüser, durch dero hoche vorältern gepfleget ist worden, als thue Euer Czaarische Majestät unterthänigst eröffnen, wie daß Ihro May[estät] Euer Czaarischen May[estät] freundtschaft sehr hochgeschätzet angenehm und lieb. Mithin solche aufrichtigst zuerhalten, undt mit 374 Vgl. Lünig, Theatrum, 492; Rohr, Einleitung, 401–404; Stieve, Hof-Ceremoniel, 283–285. 375 Vgl. RGADA, f. 15, op. 1, d. 78, 4v–7r. 376 Vgl. Lünig, Theatrum, 445.
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dero selben in guthem vernehmen, ja auch in engster verbündtnüs zustehen Ihro Kay[serlichen] May[estät] höchstangelegen seyn wirdt; Zumahlen beeder seiths dahin zu gelangen undt zubestehen desto rechter seyn und bleiben werde als bekandtlich beede seiths hoch häuser undt länderinteresse unter sich haubtsächlich nicht anstössig, herentgegen wann mann recht zusammen schauet beede gemeinsamer nutz undt ansehen allerorthen zuerhöben undt zubefördern gantz leicht seye.«377
Dieser Absichtserklärung Karls VI. fügte Kinsky neben dem Hinweis auf die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Herrschern auch noch den persönlichen Wunsch hinzu, dass er alles tun werde, um die »Wohlgewogenheit« und die »hohe Gnade« des Zaren zu erlangen und in weiterer Folge eine »heilsame hohe Freundschaft« zwischen beiden Höfen »herstellen« zu können.378 So werden in dieser Anrede die vorangegangenen Konflikte gar nicht erst explizit angesprochen, sondern es wird nur indirekt darauf Bezug genommen, indem Kinsky etwa von der »Wiederherstellung der alten, wahrhaften Freundschaft« spricht. Der Wille zur neuerlichen Einrichtung dieser Freundschaft wird unter anderem durch die Aufladung derselben mit Adjektiven wie »angenehm«, »heilsam«, »hoch«, »hochgeschätzt« und »lieb« verstärkt. Überdies kommt darin auch die bereits angesprochene Beschwörung der zwischenstaatlichen Harmonie für die Zukunft zum Ausdruck, wie es in den zwischenstaatlichen Verträgen häufig der Fall war. Dementsprechend soll diese Freundschaft »aufrichtig erhalten« ja sogar »verewigt« werden, um fortan wieder in einem »guten Vernehmen« sowie in »engster Verbündnis« zu stehen. Ein Blick auf Rohrs Werk zeigt, dass Kinsky hinsichtlich des Inhalts und der Wortwahl seiner Ansprache den zeitgenössischen Standards entsprach: »Die Ministri, welche an auswärtige Staaten verschickt werden bemühen sich ihren Vortrag auf das allerobligeanteste einzurichten, sie melden gar offters, wie sie nicht so wohl den Nutzen ihrer hohen Herren Principalen, als vielmehr die Wohlfahrt des Staats an den sie abgeschickt worden, vor Augen hätten, und befleissen sich dieses vielen nach der Treue und Aufrichtigkeit schmeckenden Worten zu zeigen.«379
So finden wir in der Anrede Kinskys eine Reihe von Begriffen, die den von Rohr angeratenen Ansprüchen entsprechen. Das sehen wir etwa an der mehrfach angesprochenen Beförderung der »gemeinsamen Interessen« sowie des »gemeinsamen Nutzens und Ansehens« beider Souveräne und deren Häuser. Die Hoffnung der Erlangung von »Gnade und Wohlgewogenheit« des Zaren kann zu
377 Bericht Kinskys an Karl VI. v. 3. Oktober 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 204r–204v. 378 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 3. Oktober 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 204r–204v. 379 Rohr, Einleitung, 405–406.
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der von Rohr angesprochenen Kategorie der nach Treue und Aufrichtigkeit schmeckenden Worte gezählt werden. Der Zar bediente sich in seiner Antwort einer ähnlichen Terminologie, indem er dem kaiserlichen Vertreter über Sˇafirov antworten ließ, dass er seine Gesandtschaft als »wahrhaftes Zeichen« betrachtete, um die »aufs Neue gesuchte alte Freundschaft zu erneuern« bzw. »zu verewigen«. Daraufhin nahm Peter I. direkten Bezug auf die Person Kinskys und stützte sich dabei auf die Expertise von Jaguzˇinskij und Weißbach, die ihm versichert hätten, dass er als Gesandter »gar anständig« sei. Überdies erinnerte sich der Zar an das Zusammentreffen mit einem Onkel Kinskys bei seinem Besuch im Rahmen der großen Gesandtschaft in Wien, den er allerdings als größer und dicker in Erinnerung hatte. Schließlich befragte Peter I. den Gesandten über seine Eindrücke von der neuen Hauptstadt Petersburg, worauf dieser seine Verwunderung darüber zum Ausdruck brachte, dass die Stadt in so kurzer Bauzeit derart »fleurissant« geworden sei. Daraufhin gab sich der Monarch erneut überaus amikal und stellte dem Ambassadeur in Aussicht, ihm demnächst alles zeigen lassen zu wollen. In dieser ungezwungenen Atmosphäre endetet die Privataudienz beim Zaren, indem der kaiserliche Vertreter von den russischen Ministern ins Vorzimmer zurückgeführt wurde, wo er auf Jaguzˇinskij stieß, den er bei dieser Gelegenheit um die Vereinbarung einer Audienz bei der »Zarin« bat. Anschließend wurden Kinsky und sein Gefolge von Vizekanzler Sˇafirov bis zur zweiten Türe des Vorzimmers begleitet, von wo sie Jaguzˇinskij schließlich zur Stiege in Richtung Ausgang führte.380 Auch diese Antwort des Zaren entsprach zur Gänze den zeitgenössischen Richtlinien, sowohl hinsichtlich der Form der Übermittlung als auch bezüglich des gewählten Inhaltes. Das wird wiederum mit einem Blick auf Rohrs Zeremonialwissenschaften deutlich: »Die Regenten beantworten die Reden der fremden Gesandten entweder selbst oder durch ihren Cantzler und andere Staats-Minister, wie es an einem ieden Hofe Herkommens. […] Es machen wohl die grossen Herren obligeante Complimens [sic!] gegen die Gesandten, dass die getroffene Wahl ihrer Personen ihnen über die massen angenehm. Sie gedencken, wie sie sich erfreuen, dass ein solcher Minister abgschickt worden, der nicht allein das Interesse seines hohen Principalen mit grosser Treue suchte, sondern sich auch seiner eigenen Neigung wegen, die gemeine Sache sehr angelegen seyn liesse, und bey derselben möglichsten Fleiß anwende.«381
Die von Kinsky angesprochene persönliche Bezugnahme auf seine Person und seine Familie durch den Zaren dürfte also nicht nur eine Eigenheit in der 380 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 3. Oktober 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 196r sowie 202r–202v. 381 Rohr, Einleitung, 406.
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Wortwahl Peters I. gewesen sein, sondern entsprach auch den damals üblichen Richtlinien der Konversation im Rahmen einer Audienz. Der weit gereiste Herrscher kannte also offensichtlich die »europäischen« Maßstäbe und verstand es, diese auch auf sein eigenes Verhalten anzulegen. Die kurz darauf (am 3. bzw. 16. Oktober 1721) in denselben Räumlichkeiten stattfindende Audienz bei Katharina, der Gemahlin Peters I., verlief nach einem ähnlichen Muster. So überbrachte Kinsky darin zunächst den »freund-vetterlichen Gruß« seiner Majestäten und brachte deren Vergnügen über die »gute Gesundheit« des »ganzen zarischen Hauses«, insbesondere jene der mit dem Kaiserpaar verwandten Mitglieder der Zarenfamilie – Natal’ja Alekseevna (1714–1728) und Petr Alekseevicˇ (1715–1730) – zum Ausdruck. Sie waren aus der Ehe des Zarevicˇ Aleksej und der Schwester der Kaiserin, Sophie Charlotte Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel (1694–1715), hervorgegangen. Katharina ließ im Beisein Golovkins und Sˇafirovs über den zuletzt genannten Vizekanzler den Dank für das abgelegte Kompliment und die »Hochachtung« gegenüber den kaiserlichen Majestäten ausrichten und brachte ihr Vergnügen über die »Freundschaft« der Kaiserin zum Ausdruck. Die wenige Tage darauffolgende offizielle Visite beim Herzog von Holstein diente nach Angaben Kinskys lediglich der Ablegung des »instruktionsmäßigen Kompliments«, weshalb der Herzog nach dem Empfang des Gesandten auch keine politischen Sachfragen behandelte, sondern lediglich seinen stetigen Eifer um die »kaiserliche Gnade und Protektion« sowie seine ständige Hochachtung gegenüber Kinsky hervorhob.382 Die weiteren Ereignisse zeigen, dass die in den Audienzen und Visiten zum Ausdruck gebrachten Freundschaftsbekundungen keineswegs nur leere Worthülsen waren, die der Vertragsrhetorik entsprachen. Das illustrieren etwa die Berichte Kinskys über die höfischen Aktivitäten im Oktober und November des Jahres 1721. So veranstaltete der Zar zunächst ein dreitägiges Fest mit diversen Maskeraden anlässlich des Friedensschlusses von Nystad, zu dem er durch einen Kanzleibediensteten einladen ließ. Das in der Admiralität stattfindende Fest wurde durch die Anlegung eines Kriegsschiffs unter der Direktion Peters I. eingeleitet. Wenngleich es dem Gesandten aufgrund der »großen Frequenz« nicht gelang, dem Souverän persönlich zum Friedensschluss zu gratulieren, so sprach Katharina gleich mehrmals »von indifferenten Sachen sehr freundlich« mit ihm. Der Zar hingegen begnügte sich damit, dass er den Gesandten »en passant mit Vergnügen des Haupts gegrüßet«, nicht jedoch mit ihm gesprochen hat.383 382 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 6. Oktober 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 196r sowie 215r–216r. 383 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 6. Oktober 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 196r sowie 216r–217r.
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Der erste nicht-offizielle persönliche Kontakt mit Peter I. erfolgte jedoch genau zwei Wochen später und stellte eine große Ehrerbietung gegenüber dem kaiserlichen Vertreter dar. So wurde Kinsky gemeinsam mit dem holsteinischen Geheimrat Hespen zu einer Schifffahrt zu der vor St. Petersburg gelegenen Ostseeinsel Kronstadt eingeladen, um im Beisein des Zaren den dortigen Hafen, die Kriegsschiffe, die Festung sowie andere Sehenswürdigkeiten zu besichtigen. In »Cronschloß«, wie die deutschsprachigen Zeitgenossen den Ort häufig bezeichneten, wurde der Ambassadeur auch zu einer Maskerade im Haus von Fürst Mensˇikov sowie einer dort stattfindenden Tafel eingeladen. Nachdem Kinsky im Beisein aller russischen Minister auf Anfrage des Zaren seine Anerkennung darüber zum Ausdruck gebracht hatte, dass die betrachteten Sehenswürdigkeiten während des Krieges gebaut worden waren, manifestierte der geschmeichelte Herrscher sein Wohlwollen darüber, indem er ihm die Hand gedrückt haben soll.384 Diese und andere Freundschaftsgesten veranlassten Kinsky dazu, das gemeinsame »Sightseeing« als besondere Ehrerweisung gegenüber seiner Person zu deuten. Da sowohl der Herzog von Holstein als auch die übrigen ausländischen Minister in Petersburg zurückgeblieben waren, kam er zu dem Schluss, »[…] daß diese reiß lediglich mir zu ehren geschehen seye, wie mir auch Czar[ische] May[estät] sagen lassen, daß ich mich immer nahe an dero seiten halten solle.«385 Die Ereignisse veranlassten den Gesandten schließlich zu einer optimistischen Prognose für die verbleibenden Monate des Jahres 1721, an dessen Ende der Hof Gerüchten zufolge nach Moskau abgehen wollte. So stellte Kinsky in Aussicht, dass »[…] die mir allergnädigst commitirte negotien, wan keine wichtigere folgen, bis dahin wohl zum ende zu bringen hoffe […].«386 Ein Blick auf Berichte anderer Diplomaten macht deutlich, wie unabdingbar deren Vergleichsdarstellungen sind, um die Informationen der kaiserlichen Gesandten an manchen Stellen zu relativieren. So veranstaltete Peter I. diese Besichtigungsfahrt Ende Oktober 1721 gleich noch einmal mit dem frisch angereisten französischen Gesandten Campredon, über dessen Ankunft Kinsky Anfang November desselben Jahres berichtete.387 Aus den Schilderungen des Franzosen geht hervor, dass das Programm der »Sightseeing-Tour« frappierende Parallelen zu jenem von Kinsky aufwies. So erfolgte auch die Exkursion Campredons im Beisein des Zaren, der nach Demonstration der Kriegsschiffe und 384 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 20. Oktober 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 267r–268r. 385 Bericht Kinskys an Karl VI. v. 20. Oktober 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 268r. 386 Bericht Kinskys an Karl VI. v. 20. Oktober 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 269r. 387 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 3. November 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 277r–283r.
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Sehenswürdigkeiten vor seiner gesonderten Rückreise auch noch ein Glas Vodka auf die Gesundheit des französischen Vertreters erhob.388 Mit Ausnahme der gemeinsamen Tafel im Anschluss an die Vergnügungsfahrt erwies Peter I. dem französischen Gesandten also nahezu dieselben Ehrenbezeugungen wie dem kurz zuvor angekommenen kaiserlichen Vertreter. So fügte Campredon in einem gesonderten Postskriptum zu seinem Bericht folgenden Seitenhieb in Richtung Kinsky ein: »Le capitaine de la fr¦gate ¦tant venu ici, j’ai le temps d’ajouter qu’y ¦tant arriv¦ hier au soir, j’ai appris que m[onsieur] Kinsky, ¦tait fort inquiet de mon arriv¦e et des honneurs que le Czar m’a faits; qu’il pressait une alliance trÀs-¦troite entre son maitre et le Czar, qui ne prendrait pas sitút sa r¦solution.«389
Diese Ereignisse bleiben in den Berichten Kinskys verständlicherweise unerwähnt. So zeigt uns diese Episode, dass wir die Relationen der Gesandten stets vor dem Hintergrund ihres Charakters als Medien der Selbstdarstellungen lesen müssen, in denen politische Erfolge anderer – vor allem konkurrierender Diplomaten – nach Möglichkeit übergangen wurden. So neigten die Autoren zu einer Überzeichnung der ihnen dargebrachten Ehrenbezeugungen sowie gleichzeitig zu einer gewissen Ignoranz gegenüber den Erfolgen ihrer ausländischen Konkurrenten. So war es zweifelsohne auch im Falle Campredons und Kinskys, die zum betrachteten Zeitpunkt beide um die Gunst des Zaren ritterten. Gleichzeitig zeigen uns diese Schilderungen, dass Peter I. sozusagen eine harmonische Äquidistanz gegenüber beiden ausländischen Vertretern an den Tag legte. Harmonisch verlief auch das eine Woche später erfolgende Fest anlässlich des sechsten Geburtstages des bereits mehrfach erwähnten Großfürsten Petr Alekseevicˇ. Nachdem Kinsky dabei die Komplimente der Kaiserin und gleichsam Tante des Jubilars überbracht hatte, stieß im weiteren Verlauf des Abends auch der von der Festung Schlüsselburg zurückkehrende Zar zu der Festgemeinschaft hinzu. Nachdem zu diesem Zeitpunkt bereits auf die Gesundheit desselben getrunken worden war, »[…] so habe ich eine andere, und zwar auf ewige freundschaft zwischen Euer Kay[serlichen] May[estät] und dem Czaren angefangen, wovor mir der Czar ser freundlich gedancket hat«390, wie Kinsky in seinem Bericht festhielt. Insgesamt scheinen die außenpolitischen Verantwortlichen ihr Vorhaben des sofortigen Vergessens der vorangegangenen Zwistigkeiten und der Wiederherstellung der Freundschaft tatsächlich auch in 388 Vgl. Bericht Campredons an Dubois v. 29. Oktober 1721, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 40, Sankt-Peterburg 1884, 285–287. 389 Bericht Campredons an Dubois v. 29. Oktober 1721, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 40, Sankt-Peterburg 1884, 288–289. 390 Bericht Kinskys an Karl VI. v. 27. Oktober 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 312v–313r.
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der alltäglichen Praxis umgesetzt zu haben. Im Verlaufe dieser ersten Monate der Anwesenheit Kinskys am russischen Hof erwähnt der Gesandte nur einen Fall, in dem der Konflikt um Zarevicˇ Aleksej direkt angesprochen wurde. So wurde Kinsky gemeinsam mit Hochholzer Mitte bzw. Ende Oktober 1721 zu einer Konferenz mit Vizekanzler Sˇafirov in die Gesandtschaftskanzlei geladen. Dabei präsentierte der russische Minister dem kaiserlichen Vertreter die Originalurkunde des Friedensvertrages von Nystad und hob in diesem Zusammenhang hervor, dass der Vertrag ganz nach dem Verlangen des Zaren ausgefallen sei und »Teutschland« künftig keine Kränkungen von schwedischer Seite zu erwarten habe. Es handelte sich dabei sozusagen um eine Demonstration der neu gewonnen Stärke Russlands. Kinsky erwiderte darauf, dass der Kaiser zur Erneuerung der Freundschaft mit dem Zaren jedes beliebige Mittel einsetzen werde, wozu mitunter die Beschickung des Braunschweiger Kongresses zählte. Es ist bemerkenswert, dass der Gesandte in seinem Bericht hervorhob, an dieser Stelle nicht weiter über den Kongress gesprochen zu haben, da er diesen aufgrund der eigenmächtigen Friedensschließung für nicht mehr allzu bedeutend einschätzte. Gleichzeitig bat er um neue Instruktionen.391 Darauf habe ihm der Vizekanzler geantwortet, dass es dem kaiserlichen Hof bekannt wäre, »[…] wie sennlich der Czar durch die üble conduite des residenten Pleyers unterbrochene kay[serliche] freundschaft durch dem G[ene]ralen Weißbach und Jaguschinsky gesuchet hette, und erweisete sich der wahrhafte ernst gnugsamb aus denen, daß der Czar sonsten nicht so leicht nach zu geben gewohnet […]«392 sei.
Diese Anspielung auf den Konflikt um den Zarevicˇ blieb Kinskys Berichten nach die Einzige von russischer Seite, weshalb sich die zwischenstaatlichen Beziehungen auch weiterhin äußerst harmonisch gestalteten. Das zeigen die Ereignisse rund um die groß angelegten Festivitäten anlässlich des Friedens von Nystad. So fällt Kinskys Bericht über das Ereignis erstaunlicherweise relativ kurz aus, obwohl sich im Rahmen der Feierlichkeiten umwälzende Ereignisse mit weitreichenden internationalen Folgen abspielten. Dementsprechend berichtete der Gesandte relativ nüchtern über das am Vortag »prächtig zelebrierte« Fest und begnügte sich mit einer Auflistung der Ereignisse. Demnach fand zunächst ein Gottesdienst statt, zu dem die ausländischen Minister trotz Einladung nicht erschienen waren und in dessen Verlauf nach der Verlesung der Friedensartikel eine Ansprache des Grafen Golovkin sowie das »Te Deum Laudamus« abgehalten wurde.393 Kommentarlos (!) 391 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 13. Oktober 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 235r–237r. 392 Bericht Kinskys an Karl VI. v. 13. Oktober 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 237r–237v. 393 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 3. November 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 276r.
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legte er seinem Bericht die später vor allem aufgrund von folgenden Passagen berühmt gewordene Rede des Großkanzlers bei. So unterbreitete Golovkin die vom gesamten Senat an den Herrscher formulierte Bitte, »[…] in nahmen aller Dero unterthänigen-Reichs-Stände den, der Reussischen nation, in teffester Demuth zu ersuchen, es geruhen dieselbe zum Zeichen Unserer geringen, jedannoch getreuesten Erkentlichkeit, vor die Uns, und dem Vaterlande, unzählich erzeugte Wohltaten, die Tituls PETRI MAGNI, PATRIS PATRIAE IMPERATORIS TOTIUS RUSSIAE, anzunehmen, unter welchen Tituls, der, eines Imperatoris, oder Kaysers, bereits Eurer Maj[estät] glohrwürdigsten Antecessoren, von dem Römischen Kayser Maximiliano Imo vor etlichen hundert Jahren gegeben worden, und wird solcher auch Euer Majestät anjetzo würcklich, von vielen Potentaten zugestanden, und der titul MAGNUS, so Sie sich durch Ihre grosse Thaten erworben, der Billigkeit Gemäß, bereits von vielen in unterschiedenen Druck heraus gegebenen Schrifften beygeleget, den Namen PATER PATRIAE aber, haben wir uns unterstanden, Euer Majestät als Unseren, wie wohl ohne Unsere Verdienste, von dem Allerhöchsten, Uns gnädigst verliehenen Vater, nach dem Beispiel der alten Griechischen und Römischen Senaten, welche solche Nahmen, Ihren durch glorwürdige Thaten, und Gnaden-Bezeugungen, sich berühmtgemachten Monarchen zu geben in Gebrauch gehabt, beyzulegen.«394
Da in dieser öffentlichen Rede nicht nur der Kaisertitel beansprucht, sondern auch das in Kinskys Instruktionen angesprochene Schreiben Maximilians I. erwähnt wurde, ist es verwunderlich, dass der Gesandte in seinem Bericht mit keinem Wort darauf Bezug nahm. Man möchte beim ersten Hinsehen fast meinen, er hätte den Druck der Rede seiner Relation ungelesen angefügt. Doch abgesehen von diesen Spekulationen liegt die Vermutung nahe, dass der kaiserliche Vertreter angesichts der politischen Tragweite dieser Rede vorerst keine eindeutige Position beziehen wollte und schweigend auf weitere Instruktionen seines Hofes wartete. Das zeigen die weiteren Ausführungen des Gesandten sowie die Berichte über die Feierlichkeiten aus den russischen Archiven. So führte Kinsky weiter aus, dass er mit den übrigen ausländischen Ministern an dem im Beisein des frischgebackenen Imperators stattfindenden Festessen anlässlich des Friedensschlusses in den Räumlichkeiten des Senats teilgenommen habe. Dem fügte er eine Skizze des eigens für das Fest konstruierten und mit 12.000 Lampen illuminierten Tempels sowie des Feuerwerks bei (siehe Abbildung 4) und merkte an, dass das von ihm als »Lustfeuer« bezeichnete pyrotechnische Spektakel insgesamt zwei Stunden in
394 Anrede, welche von wegen des Senats im Nahmen aller Reichs Stande, der Reussischen nation, an Ihro Majestät, der Herr Reichs-Cantzler Graff Golowkin, in der Haupt-Kirchen gethan den 22 Octobr. Anno 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 279r–279v.
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Anspruch genommen habe.395 Die Quellen des russischen Hofes halten über die Ereignisse nach dem Gottesdienst fest, dass sich die kaiserliche Familie gefolgt von allen vornehmen Kavalieren und Damen zum Senat begeben habe, »allwo sich Se[ine] Hoheit der Hertzog von Hollstein nebst seiner gantzen suite, wie auch die frembde ministres [befanden]; Also von wegen Ihr[o] Maj[estät] dem Roemischen Kaeyser, dero würckl[icher] camer-herr, obrister und stadthalter in Böhmen Herr Graff Kinski.«396 Der angesprochene Kinsky und die übrigen Anwesenden hätten laut diesem Bericht »[…] bey Ihro Majest[tät] Eintritt dieselbe mit ihren gratulationen bewillkommet.«397 Im Vergleich zu dem eher objektiv gehaltenen Bericht des russischen Hofes lässt sich aus den Darstellungen von Kinskys Kollegen Campredon der Konkurrenzkampf zwischen den beiden herauslesen. So hält der um einen guten Sitzplatz bemühte französische Gesandte hinsichtlich der Sitzordnung an den unterschiedlichen Tafeln fest:
Abb. 4: Skizze der aufwendigen Illuminationen und Feuerwerke anlässlich der Friedensfeierlichkeiten in St. Petersburg im Jahre 1721.398
395 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 3. November 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 276v. 396 RGADA, f. 156, op. 1, d. 182 [Delo o prazdnovanii v Peterburge v cˇest’ mira Rossii s Sˇveciej 22. 10. 1722], 15v. 397 RGADA, f. 156, op. 1, d. 182, 15v. 398 Beilage zum Bericht Kinskys an Karl VI. v. 3. November 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, unfoliert.
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»Au sortir de l’¦glise, on se rendit dans la maison du s¦nat, o¾ il y avait des tables rang¦es pour plus de mille personnes. Je fus plac¦ celle du chancelier Golofkin avec la plupart des autres ministres ¦trangers. Le Czar se mit la seconde table, et m[onsieur] Kinsky affecta de sa placer celle o¾ ¦tait le duc de Holstein.«399
Nachdem der kaiserliche Gesandte als Augenzeuge der Ereignisse seinen Bericht über das pompöse Fest abgeschickt hatte, erfuhr der Wiener Hof aufgrund der telegrafen-, telefon- und internetlosen Kommunikation dieser Tage noch lange nichts über die Geschehnisse in Russland. Dort veranstaltete der russische Gesandte Ludwig Lanczinski zur selben Zeit ein pompöses Fest anlässlich des Friedensschlusses von Nystad. Damit entsprach er einem Erlass Peters I., wonach alle Vertreter des Zaren entsprechende Feierlichkeiten an den fremden Höfen organisieren sollten.400 Schon aus diesem »Ukaz« kann herausgelesen werden, wie wichtig dem frischgebackenen Imperator das In-Kenntnis-Setzen der übrigen europäischen Machtzentren von der neu gewonnenen Position Russlands war. Die angesprochenen Feste eigneten sich als hervorragende Kommunikationsmittel für diese Botschaft. Die wohlwollende Haltung Wiens gegenüber dem erstarkten russischen Souverän und seinem Gesandten zeigt sich unter anderem darin, dass die wichtigsten Macht- und Würdenträger des Kaiserhofes an den am 2. und 3. November 1721 veranstalten Feierlichkeiten teilnahmen. Noch deutlicher wird diese Haltung dadurch, dass viele der Anwesenden zum guten Gelingen der Veranstaltungen beitrugen. So stellte Feldmarschall Wirich Philipp Graf Daun (1669–1741) dem russischen Gesandten anlässlich eines von ihm veranstalteten Balls eine 40-köpfige Leibwache zur Verfügung. Sozusagen den Ehrenschutz für das Fest, an dem nach Angaben Lanczinskis über 300 Personen teilnahmen, übernahm der Bruder des in St. Petersburg befindlichen Grafen Kinsky, indem er die Funktion des »Ballkönigs« einnahm. Prinz Eugen, Vizekanzler Schönborn sowie der bayrische Gesandte, Graf Ignaz von Törring (1682–1763), stellten das Silberservice für das Festessen zur Verfügung. Tags darauf veranstaltete Lanczinski überdies eine entsprechende Feierlichkeit für die Hofangehörigen des zweiten Ranges, was ein weiteres Indiz für die bereits angesprochene Intention der russischen Diplomatie 399 Bericht Campredons an Dubois v. 7. November 1721, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 40, Sankt-Peterburg 1884, 298–299. 400 Die zeitgenössischen Tageszeitungen stellen eine wertvolle Quelle über diese Festlichkeiten dar, da darin ausführlich über den Ablauf der Feste an den einzelnen Höfen berichtet wurde. Diese Artikel zeigen, dass die Feierlichkeiten der russischen Diplomaten in den anderen Machtzentren nicht minder pompös begangen wurden. Als Beispiel dafür kann etwa das Fest des russischen Gesandten Vasilij Lukicˇ Dolgorukij am französischen Hof genannt werden, das im »Wienerischen Diarium« als eines der »kostbarsten« und »prächtigsten« Feste bezeichnet wurde, das man in Paris je gesehen hatte. Vgl. Wienerisches Diarium v. 3. Januar 1721, Nr. 1, [3]; Wienerisches Diarium v. 17. Januar 1721, Nr. 5, [3–4].
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darstellt, damit eine möglichst breite höfische Öffentlichkeit erreichen zu wollen.401 Zwei Wochen nach den Feierlichkeiten und der damit verbundenen Ausrufung Peters I. zum Imperator zogen erste Gewitterwolken am bislang wolkenlosen Himmel der bilateralen Beziehungen auf. Davon ließen sich die Akteure beider Seiten zunächst nichts anmerken und blieben vorerst auf einem harmonischen Kurs. So veranstaltete Kinsky Anfang bzw. Mitte November 1721 ein Fest anlässlich des Namenstages des Kaisers. Diesbezüglich bat er seinen russischen Vertrauten Jaguzˇinskij zu sondieren, ob der Zar daran teilnehmen wolle. Für den Vergleich mit späteren Festen dieser Art ist die zögerliche Haltung Kinskys bezüglich der Einladung des fremden Herrschers interessant, da dadurch klar wird, dass er in dieser Frage offensichtlich auf keine Erfahrungswerte zurückgreifen konnte. Jaguzˇinskij ließ ihn jedoch sogleich wissen, dass es sein Souverän wohl »sehr empfinden« würde, zu dieser Festivität nicht eingeladen zu werden. Nach Ankündigung desselben habe der Zar tatsächlich alle Mitglieder des Ministeriums, der Admiralität und Generalität sowie den Herzog von Holstein dazu einladen lassen, weshalb Kinsky eine große Tafel vorbereiten ließ. Aus den weiteren Schilderungen des Gesandten geht hervor, dass viele der Eingeladenen aufgrund eines unerwarteten Sturms nicht hätten erscheinen können. Der Zar habe jedoch als Zeichen seines guten Willens es sich nicht nehmen lassen, unter eigener Regie auf dem Wasserwege zur Wohnung des kaiserlichen Gesandten zu gelangen.402 Aus den Schilderungen Kinskys über das Verhalten Peters I. kann keinerlei Verstimmung des russischen Herrschers herausgelesen werden, da er betonte, »daß der Czaar eurer kay[serlichen] allerhöchsten gesundheit aus einem sehr grossen und also begehrten debel glas getruncken, sehr wohl auf und content […] auch von 11 bies nach 3 uhr nachmittags bey mir mit auslassung seines sonstgewöhnlichen staates verblieben, welche des Czaren fröhlichkeit, dann alle übrige auch sehr lustig gemacht hat.«403
Überdies sei er vom Zaren, nachdem der ihn sehr »flattiret« und »carisiret« hatte, gleich mehrmals geküsst worden.404 Liest man Campredons Gegendarstellungen zu diesem Fest, könnte man den Eindruck gewinnen, als hätten die beiden Autoren unterschiedliche Ereignisse 401 Vgl. RGADA, f. 156, op. 1, d. 181 [Delo o torzˇestvach pri rossijskich posol’stvach za granicej po slucˇaju mira Rossii so Sˇveciej 24. 09. 1721], 1r–3r sowie 33r–34v. 402 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 17. November 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 293r–293v. 403 Bericht Kinskys an Karl VI. v. 17. November 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 293v. 404 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 17. November 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 293v.
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beschrieben. Zumindest decken sich die Ausführungen darin, dass das große Fest bei Kinsky unter Anwesenheit des Zaren und einiger wichtiger Personen des russischen Hofs sowie der ausländischen Minister stattgefunden hat. Ähnlich wie der kaiserliche Gesandte betont Campredon im nächsten Atemzug das zuvorkommende Verhalten, das der fremde Monarch ihm gegenüber an den Tag gelegt habe. Demzufolge sei er nach der Ankunft des französischen Vertreters in freundlichster Art an ihn herangetreten und habe ihn als Zeichen der Freundschaft geküsst. Von den schmeichelhaften Worten Peters I. in Richtung des Kaisers sowie von dessen guter Laune während des Fests ist indessen bei Campredon keineswegs die Rede. Vielmehr hob er hervor, dass er kurz vor dem Verlassen des Zaren einige Worte mit ihm wechseln konnte, in denen der Franzose die Hoffnung auf das Zustandekommen eines gemeinsam mit Vizekanzler Sˇafirov ausgearbeiteten Plans über ein gemeinsames Bündnis zum Ausdruck brachte, auf den sogleich noch näher eingegangen werden wird. Peter I. habe ihm darauf wohlwollend bestätigt, dass alles gut laufen würde, und das Fest gleich im Anschluss trotz eines heftigen Sturmes zu Wasser verlassen. Auch wenn Campredon im Gegensatz zu Kinsky nicht den guten Willen des Zaren hinsichtlich der erschwerten Anreisebedingungen erkennen wollte, so decken sich beide Berichte wiederum darin, dass die ausländischen Minister aufgrund des heftigen Unwetters beim kaiserlichen Ambassadeur übernachten mussten.405 Insgesamt bestätigen diese beiden Darstellungen die bereits vorsichtig formulierte These, dass der russische Monarch gegenüber beiden seine Freundschaft begehrenden Ministern ein ähnlich zuvorkommendes Verhalten an den Tag legte, um sich alle Optionen offen zu halten. Dieses zeigte er den Ausführungen Kinskys folgend also auch während des beschriebenen Namenstagsfests. Das tat er, obwohl es am Vortag zu ersten Unstimmigkeiten zwischen dem kaiserlichen Gesandten und den russischen Ministern bezüglich der Kaisertitelannahme gekommen war. Der Vizekanzler hatte den Botschafter und seinen Legationssekretär um zehn Uhr vormittags zu einer gemeinsamen Sitzung in die Gesandtschaftskanzlei einladen lassen, wo die kaiserlichen Vertreter von einigen russischen Ministern an einer langen Tafel erwartet wurden.406 Kinsky zeigte sich bereits über die erste Anrede Sˇafirovs verwundert. Er hielt fest, dass die russischen Minister »[…] auf austrücklichen befehl Ihro Kay[serlichen] May[estät] ihres allergnädigsten herrns (worunter sie den Czaaren verstanden) mir dasjenige zueröffnen, was mir be-
405 Vgl. Bericht Campredons an Dubois v. 17. November 1721, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 40, Sankt-Peterburg 1884, 333–334. 406 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 17. November 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 294r–294v.
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reiths bekandt seye, wie die selbe aus besondern antrieb, undt vorstellung ihrer unterthanen den titul Imperator angenohmen hätten […].«407
In seinem weiteren Vortrag stützte sich Sˇafirov abermals auf das Schreiben von Maximilian I. an Vasilij III. und den darin gewählten Kaisertitel, weshalb Lanczinski bereits angewiesen worden sei, den Kaiser um die Beilegung des Titels zu bitten. Gleichzeitig habe der Vizekanzler den kaiserlichen Ambassadeur gebeten, das Anliegen an seinen Herrn durchdringen und konfirmieren zu lassen. Kinsky zeigte sich äußerst überrascht ob dieses Vortrags und antwortete den russischen Ministern entsprechend seinen Instruktionen. So könnte die »neu zu befestigende Freundschaft«, wegen der der Gesandte auf Anliegen des Zaren hierher geschickt worden sei, durch dieses Anliegen »gekränkt« werden. Der Kaiser würde nicht aus der »bisher geübten Titulatur schreiten«, da er dies auch nicht im Falle von bisher geäußerten Vorschlägen dieser Art getan habe. Außerdem erachte sein Herr das erwähnte Schreiben Maximilians als kein »authentisches Original«, da weder ein Entwurf noch eine Kopie desselben in den Registraturen, Kanzleien oder Archiven des Wiener Hofes zu finden seien.408 Der darauffolgende, emotionsgeladene Wortwechsel deutet auf den Zündstoff hin, der in dieser Frage steckte: »Es hat aber gesagter vice cantzler hierauf mir eine mehrere vehementz und eyfer gezeiget, benebst angeführtes maximilianisches original schreiben sambt beyliegenden gedruckten copia zur stelle bringen lassen, undt noch dabey allegiret, daß Euer Kay[serliche] May[estät] in der üblichen titulatur mit dem Czaaren das worth Authocrator braucheten, welches doch denen grüchischen kaysern, wo es herkomme gewöhnlich war, und seye in vorigen zeiten niemahlen formaliter d[er] titul Imperator sondern nur jener der Mayestät wo von sie ministri, aber dieses mahl gahr nichts in comissis hätten, von dem Czaarn bey Eurer Kay[serlichen] May[estät] gesuchet worden. Wie ich zwahr besagte maximilianische original schreiben angesehen, so habe auf das andere versetzet, das Euer Kay[serliche] May[estät] bey dem in der czaarischen titulatur bishero gebrauchten worth Authocrator unzweiffentlich verbleiben würden, dieses worth Authocrator aber keines weegs univocam oder synonimum mit dem worth Imperator seye, sondern Selbstregirer vermög unterschiedl[icher] authoren expliciret würde;«409
Kinsky selbst erkannte das dieser Frage innewohnende Konfliktpotential, indem er festhielt, dass der Zar von dieser »Prätention schwerlich abweichen« werde 407 Bericht Kinskys an Karl VI. v. 17. November 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 294v. 408 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 17. November 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 294v–295r. Vgl. zum Ablauf der Konferenz auch: Wittram, Peter, 469–470. 409 Bericht Kinskys an Karl VI. v. 17. November 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 295r–295v.
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und die weiteren Verhandlungen merklich von dieser Frage abhängig sein würden. Auch wenn ihn die russischen Minister nach diesem ersten Schlagabtausch baten, dem Kaiser das Anliegen vorzutragen, so fügte er verschlüsselt hinzu, »[d]aß ich folglich umb Eurer Kay[serlichen] May[estät] allergnädigste instruction, wie ich auch hierinfals positive zuverhalten habe allergehorsambst bitte, da mir zu dato noch [unbekannt] ist, wie weith Euer Kay[serliche] May[estät] sich mit diesem hof zu verbinden gedencken.«410 Um die politischen Folgen dieser ersten Auseinandersetzung besser einschätzen zu können, lohnt sich ein Blick auf die Vergleichsdarstellungen Campredons. Diese zeigen deutlich, dass der russische Hof gegenüber dem französischen Vertreter eine gänzlich andere Strategie hinsichtlich der Anerkennung des Titels verfolgte. Zur Veranschaulichung der unterschiedlichen Kommunikationsstrategien ist an dieser Stelle ein etwas ausführlicherer Exkurs auf die Darstellungen Campredons notwendig, der einige Tage vor der soeben beschriebenen Konferenz angesetzt werden muss. So bat Sˇafirov den französischen Gesandten am 10. November 1721 zu einer gemeinsam Konferenz, die zur Verdeckung der wahren Verhandlungsgegenstände bei Kanzler Golovkin stattfinden sollte, um vor den anderen ausländischen Ministern den Eindruck zu erwecken, es ginge nur um die formale Aushandlung eines Audienztermins beim Zaren. Der Vizekanzler lockte Campredon überdies mit der Ansage an, er wolle sich mit ihm als Freund unterhalten, und stellte im Falle eines reziproken Verhaltens desselben einen wahrscheinlichen Erfolg der Verhandlungen in Aussicht. Aus den Schilderungen über diese Konferenz geht hervor, dass Sˇafirov darin sogleich auf Kinsky zu sprechen kam und hervorhob, dass dieser sehr ungehalten darüber sei, dass der Zar gemeinsam mit Campredon ebenso nach Kronstadt gefahren sei. Insgesamt seien die Vorschläge Kinskys darauf ausgelegt, das europäische System gänzlich zu ändern und die Ruhe im Reich zu gefährden. Der Vizekanzler versichere ihm jedoch, dass der Monarch sich noch keineswegs festgelegt hätte, wobei er – im Falle eines entsprechenden Verhaltens von Campredon – dessen Entscheidung in eine Richtung lenken könnte, die den Interessen Frankreichs zugutekommen würde. Dafür benötige er jedoch einen gemeinsamen Plan, weshalb er Campredon um seine diesbezüglichen Vorschläge bat. Dieser ließ sich jedoch von diesen schmeichelnden Worten nicht aus der Reserve locken und betonte, dass er entsprechend seinen Vorgaben lediglich auf Vorschläge von Seiten Russlands reagieren könne. Nach einem langen Gespräch über die möglichen Aspekte eines gemeinsamen Bündnisses einigten sich
410 Bericht Kinskys an Karl VI. v. 17. November 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 295v.
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die beiden schließlich darauf, dass Campredon sich so schnell wie möglich um entsprechende Instruktionen und Vollmachten zu bemühen habe.411 Scheinbar völlig en passant machte ihn Sˇafirov vor seinem Verlassen auf am Tisch liegende Schriftstücke aufmerksam, die alle die Anerkennung des Imperatorentitels von unterschiedlichen Souveränen und Republiken beinhalteten. Darunter natürlich auch jenes von Kaiser Maximilian aus dem Jahre 1514. Sˇafirov hielt diesbezüglich fest, dass sein Souverän bislang zu bescheiden gewesen wäre, den französischen König um die Anerkennung des angesprochenen Titels zu bitten. Daraufhin bediente er sich eines Arguments, das er eine Woche später auch gegenüber Kinsky ins Treffen führte. So möge der König dieses Anliegen nicht ausschlagen, da er dem Zaren ohnehin bereits dieses Prädikat lediglich mit dem griechischen Wort »Autocrator« verliehen hätte. Daraufhin kündigte der Vizekanzler Campredon an, dass er in den darauffolgenden Tagen um eine formale Bestätigung des Titels gebeten werden würde. Dieser hielt demgegenüber jedoch sogleich fest, dass er in dieser Sache keinerlei Zugeständnisse ohne weitere Anweisungen seines Souveräns machen könne.412 Es ist sehr bezeichnend, dass Campredon nach den Schilderungen dieser Gesprächsinhalte folgenden Seitenhieb auf Kinsky anhängte: »[I]l me revient seulement de plusieurs endroits que les propositions de m[onsieur] le comte de Kinsky ne font plus tant d’impression.«413 So waren sich die russischen Akteure wohl bewusst, dass sie beim kaiserlichen Gesandten hinsichtlich der Titelfrage auf starke Gegenwehr stoßen würden. Während gegenüber Kinsky das heftige Insistieren auf diesem Anliegen den russischen Vertretern offensichtlich als die einzige Erfolg versprechende Strategie erschien, so wollten sie bei Campredon die Anerkennung scheinbar mit Hilfe der Konstruktion eines besonderen Vertrauensverhältnisses erzielen. Das wird auch durch das weitere Verhalten der russischen Minister gegenüber dem französischen Vertreter deutlich. So berichtete Campredon etwas mehr als eine Woche später darüber, dass er unter dem Vorwand einer geheimen Konferenz mit dem Zaren zu Sˇafirov geladen worden sei. Dort wurde ihm abermals das Schreiben Maximilians mit der erneuten Bitte um Anerkennung des Imperatorentitels von Peter I. vorgelegt, worauf der französische Gesandte erneut festhielt, dass er in dieser Sache Rücksprache mit seinem Hofe halten müsse. Nachdem der Vizekanzler seine anwesenden Sekretäre daraufhin aus dem Raum geschickt hatte, eröffnete er Campredon, dass er die Notifikation des Titels an diesem Tag bereits Kinsky 411 Vgl. Bericht Campredons an Dubois v. 10. November 1721, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 40, Sankt-Peterburg 1884, 308–316. 412 Vgl. Bericht Campredons an Dubois v. 10. November 1721, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 40, Sankt-Peterburg 1884, 316–318. 413 Bericht Campredons an Dubois v. 10. November 1721, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 40, Sankt-Peterburg 1884, 317.
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unterbreitet hätte und in einer Stunde Mardefeld mit demselben Anliegen behelligen werde. Er habe ihn daher bewusst an diesem Tag zu sich bestellt, um die anderen Minister glauben zu machen, es ginge lediglich um die Frage der Titelanerkennung. Sˇafirov sei daher sogar sehr froh, wenn sie ihn hier zu Gesicht bekommen würden. Tatsächlich wolle er mit ihm jedoch einen Plan für ein mögliches Bündnis aushandeln, weshalb er ihn nochmals an die Notwendigkeit von entsprechenden Instruktionen und Vollmachten erinnerte.414 Wenngleich die Strategie gegenüber Campredon eine andere war als jene gegenüber Kinsky, so stellte die Anerkennung des »allrussischen Imperators« offensichtlich auch in Hinblick auf eine mögliche Einigung mit Frankreich für die russischen Akteure zu diesem Zeitpunkt eine Grundvoraussetzung dar. Kinsky lag mit seiner Prognose also völlig richtig und vermutete zu Recht, dass nicht nur die weiteren Verhandlungen mit dem russischen Hof von der Titelfrage bestimmt, sondern auch der Wille des Wiener Kaisers zu einer engeren Verbindung mit dem russischen Hof von diesem Konflikt abhängen würde. Das werden uns die Ausführungen der folgenden Abschnitte noch klar vor Augen führen. Am Ende dieses Abschnitts kann jedoch resümiert werden, dass die ersten Monate der Wiederaufnahme der bilateralen Beziehungen von Anfang 1721 bis zur Kaisertitelannahme im Oktober bzw. November 1721 vom festen Willen zur viel zitierten Wiederherstellung der Freundschaft zwischen beiden Höfen geprägt waren. Dabei waren die Vertreter beider Seiten auch tatsächlich dazu bereit, die vorangegangenen Streitigkeiten um den Zarevicˇ Aleksej zu vergessen und einen Neuanfang ohne die alten Ressentiments zu wagen. Diese wurden in der direkten Kommunikation der Akteure daher auch nur vereinzelt oder indirekt angesprochen. Das der normativen Vertragsrhetorik entstammende Beschwören der gemeinsamen Freundschaft für die Zukunft war also im Fall der Beziehungen zwischen dem Kaiser und dem Zaren des Jahres 1721 tatsächliche eine Leitlinie für die konkrete Diplomatie beider Mächte. Die Verwandlung des Letzteren zum »allrussischen Imperator« entfachte einen Konflikt, der im Gegensatz zum Streit um Zarevicˇ Aleksej nicht ohne weiteres vergessen werden konnte und die bilateralen Beziehungen während des gesamten betrachteten Untersuchungszeitraums dieser Studie belastete. Im Fall der Mission Kinsky führte die Auseinandersetzung um den Kaisertitel zu einem sukzessiven Einfrieren der diplomatischen Kommunikation zwischen beiden Höfen, wie die folgenden Ausführungen noch zeigen werden.
414 Vgl. Bericht Campredons an Dubois v. 21. November 1721, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 40, Sankt-Peterburg 1884, 335–342.
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2.2.3. Zusammenfassung: Die Kommunikationsstrategien der außenpolitischen Akteure und deren Widerhall in den verwendeten Schlüsselbegriffen ihrer Interaktion Aufbauend auf einem Basiswissen über die Beziehungen zwischen Wien und St. Petersburg/Moskau im frühen 18. Jahrhundert eröffneten die Ausführungen der vorangegangenen Abschnitte einen ersten Einblick in die Kommunikationsstrategien der außenpolitischen Akteure sowie deren theoretische Aushandlung und praktische Umsetzung am Beginn des Untersuchungszeitraumes dieser Studie. In dieser Zusammenfassung soll in einem ersten Schritt zunächst auf die soeben angesprochene Festlegung der Richtlinien für die Interaktion der kaiserlichen Gesandten mit den russischen Vertretern eingegangen werden. Dabei erscheint die Zusammenführung von zwei Erzählsträngen als sinnvoll. In aller Kürze wollen wir uns noch einmal die in der Vorbereitung der Gesandtschaft Kinsky festgelegten Grundpfeiler der Kommunikation mit dem russischen Hof und deren normative Hintergründe vergegenwärtigen. Gleichzeitig werden in diesem Rückblick jene Momente herausgegriffen, in denen bei der Festlegung der Strategien im Umgang mit den Macht- und Würdenträgern des Zarenreichs auf alte Erfahrungswerte und Ressentiments rekurriert wurde. Schließlich sollen für diese Phase bereits jene Schlüsselbegriffe herausgearbeitet werden, die sozusagen als Leitlinien für den zwischenstaatlichen Austausch verwendet wurden. Die Vorbereitung der Kommunikation mit dem russischen Hof erfolgte auf zwei Ebenen. Während Graf Kinsky gemeinsam mit den kaiserlichen Konferenzministern die inhaltlichen Richtlinien am heimischen Hof aushandelte, übernahm Legationssekretär Hochholzer in erster Linie die logistischen Vorkehrungen für den Ambassadeur und sein Gefolge im fremden Machtzentrum. Die Ausführungen über die inhaltlichen Vorbereitungen haben gezeigt, dass diese in nahezu allen Punkten in Einklang mit den zeitgenössischen Richtlinien der normativen gesandtschaftsrechtlichen und zeremonialwissenschaftlichen Literatur sowie den Gebräuchen des kaiserlichen und des russischen Hofes getroffen wurden. Das spiegelte sich etwa in Kinskys Aneignung von (zeit)historischem Wissen über die zwischenstaatlichen Beziehungen wider, wie es vor allem in den Ratgebern von CalliÀres, Pecquet und Wicquefort angeraten und von der kaiserlichen Diplomatie gepflegt wurde. Dabei griff der Gesandte jedoch auf ein relativ altes Wissen zurück, indem er sich vorwiegend auf die Berichte seines zehn Jahre zuvor am russischen Hof befindlichen Vorgängers stützte. Diese Tatsache ist ein Beweis dafür, dass der Austausch hochrangiger Diplomaten zwischen beiden Machtzentren zum gegebenen Zeitpunkt noch keinen ständigen Charakter hatte und Kinsky durchaus mit veränderten Kommunikationsbedingungen rechnen musste. Was die Wahl seines Ranges als »außerordentlicher Minister« betraf, so waren sich die außenpolitischen Verantwort-
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lichen offensichtlich im Klaren darüber, dass die Bedeutung und Aussagekraft dieses »Charakters« am russischen Hof bekannt waren – ein Wissen, das erst durch die Petrinische Diplomatie in Russland verinnerlicht worden war. Die inhaltlichen Richtlinien für die Audienzen, Visiten und ersten direkten Kontaktaufnahmen mit den russischen Vertretern weisen ebenso klare Parallelen mit der normativen zeitgenössischen Literatur sowie eine eindeutige Abstimmung mit den bisherigen Usancen des zwischenstaatlichen Austausches und den Gebräuchen des russischen Hofes auf. Gerade hinsichtlich der Verhaltensvorgaben für die Audienzen wurde auf die zuletzt angesprochenen Erfahrungswerte zurückgegriffen, während in Bezug auf die Visiten bei den einheimischen und ausländischen Ministern die allgemeinen Richtlinien der europäischen Diplomatie berücksichtigt wurden. Auch im Fall dieser Antrittsbesuche setzten die kaiserlichen Vertreter ein entsprechendes Wissen über Ablauf und Semantik derselben im fremden Machtzentrum voraus. Das spiegelte sich etwa in den Richtlinien hinsichtlich der Ansprache der Kommunikationspartner einer solchen Visite wider, welche entsprechend der normativen Literatur sowie der Gebräuche beider Höfe die gegenseitige Betitelung als »Exzellenz« vorschrieben. Besonders wertvolle Aufschlüsse über die Frage des Handlungsspielraums der Gesandten lieferten die Vorgaben der Konferenzminister in Hinblick auf die erste Kontaktaufnahme mit dem russischen Hof und bezüglich der Ansprechpartner Kinskys. Entsprechend den allgemeinen Vorgaben der gesandtschaftsrechtlichen Literatur verließen sie sich dabei auf das Geschick ihres Diplomaten, zu dessen Hauptaufgaben eben die Gewinnung des fremden Souveräns und seiner vertrauten Umgebung zählten. Dabei traten abermals Erfahrungswerte aus vorangegangenen Konflikten ans Tageslicht. So legten Kinskys Instruktionen ein Naheverhältnis des Gesandten mit Pavel Ivanovicˇ Jaguzˇinskij nahe, der dem Wiener Hof als Vermittler im Streit um Zarevicˇ Aleksej in positiver Erinnerung geblieben war. Weniger beliebten Personen gegenüber, wie dem bei der Rückholung des Zarensohns bei Karl VI. in Ungnade gefallenen Petr Andreevicˇ Tolstoj, sollte Gnade vor Recht erwiesen werden. Im Falle eines reziproken Verhaltens des angesprochenen russischen Ministers war Kinsky dazu angehalten, es seinem Herrscher gleich zu tun und über dessen Verfehlungen hinwegzublicken. Auch diese Verhaltensvorgabe entsprach absolut der zeitgenössischen Norm, wie wir aus Christian Meiers interepochaler Studie über das Gebot des Vergessens erfahren. Demzufolge sei dieser Denkprozess ein epochenübergreifendes Phänomen, da in der Geschichte immer wieder das Vergessen von vielerlei Unrecht, Grausamkeit und Schlimmem als Verhaltensmaxime der zwischenstaatlichen Kommunikation festgeschrieben wurde. Als Beispiel dafür nennt er unter anderem auch frühneuzeit-
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liche Friedensverträge.415 Somit kann auch diese Vorgabe des Vergessens als Norm der europäischen Diplomatie bezeichnet werden, die auch am russischen Hof Geltung besaß, wie ein Blick auf den in Anwesenheit von Kinsky geschlossenen Vertrag von Nystad zeigt. Darin heißt es unter anderem: »Es soll ferner beiderseits eine allgemeine Amnestie und ewige Vergessenheit alles dessen sein, was währendem Kriege über von der einen oder anderen Seite Feindliches oder Widerwärtiges, es sei durch die Waffen oder sonst gegen einander fürgenommen, ausgeführet und geschehen ist […].«416
Wenngleich der Informationsaustausch mit dem heimischen Hof auch den allgemeinen Standards des Wiener Hofes im beginnenden 18. Jahrhundert entsprach, so mussten die außenpolitischen Akteure in diesem Zusammenhang im wahrsten Sinne des Wortes auch neue Wege beschreiten. Die Vorgaben Kinskys zeigen, dass man hinsichtlich der regelmäßigen Kommunikation mit einem hochrangigen Vertreter am russischen Hof noch keine allzu großen Erfahrungswerte hatte. So mussten etwa bislang unbekannte Postrouten und Übermittlungssysteme erschlossen werden, um die Relationen sicher und ungeöffnet von A nach B zu bringen. Insgesamt haben die bisherigen Ausführungen jedoch gezeigt, dass sich die Akteure des kaiserlichen Hofes auf die Kommunikation mit einem bereits in weiten Teilen akkulturierten Interaktionspartner vorbereiteten. So konnten Kinsky und die kaiserlichen Konferenzminister dabei auf die Normen der europäischen Diplomatie zurückgreifen, ohne ein von interkulturellen Missverständnissen geprägtes Aufeinanderprallen mit den Gebräuchen des russischen Hofes erwarten zu müssen. In diesem Zusammenhang war natürlich mit Herausforderungen zu rechnen, die sich nicht nur aus der Unvorhersehbarkeit der weiteren Ereignisse im Umgang mit den russischen Vertretern, sondern auch aus dem vorangegangenen Konflikt um den Zarevicˇ ergeben konnten. Die Ambivalenz zwischen alten Ressentiments und neuer gesuchter Freundschaft bekam vor allem Hochholzer zu spüren, der in seiner Funktion als Legationssekretär und damit offizieller Vertreter des Kaisers als Erster in Kontakt mit dem fremden Hof und seinen Machthabern trat. Da die direkte Interaktion zwischen den Vertretern beider Mächte in dieser Phase der Vorbereitung noch sehr gering war, fällt die Suche nach übereinstimmenden und umstrittenen Begriffen noch relativ schwer. Doch schon zu diesem Zeitpunkt wurden das »Vergessen« der vorangegangenen Konflikte sowie die Wiederherstellung der »Freundschaft« als richtungsweisende Schlagworte für den zwischenstaatlichen Austausch verwendet. Gerade die »Freundschaft« stellte für 415 Vgl. Christian Meier, Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit, München 2010, 10 sowie 40–44. 416 Wilhelm G. Grewe (Hg.), Fontes Historiae Iuris Gentium, Band 2: 1493–1815, Berlin-New York 1988, 326.
Die Entsendung einer diplomatischen Mission des Kaisers im Jahre 1721
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die im Folgenden zusammengefasste Phase der direkten Kommunikation zwischen den Vertretern beider Höfe den meist gebrauchten und umstrittensten Schlüsselbegriff dar. Auch in Hinblick auf diese Ereignisse sollen zwei Erzählstränge zusammengeführt werden. So soll einerseits zusammengefasst werden, wie die konkrete Umsetzung der Kommunikationsstrategien im direkten Kontakt mit den Vertretern des russischen Hofes aussah und welche Wirkung damit bei den Interaktionspartnern erzielt wurde. Andererseits wird in diesem Zusammenhang auch näher darauf eingegangen, inwiefern im direkten Austausch der Akteure alte Ressentiments zum Vorschein kamen und wie dieselben neue, durch unvorhersehbare Situationen hervorgerufene Herausforderungen und Probleme meisterten. Die in den konkreten Kommunikationssituationen bzw. bei deren Beschreibung verwendeten Schlüsselbegriffe sollen als weitere Gradmesser dafür herangezogen werden, wie es im jeweiligen Moment um das Verhältnis der Interagierenden bestellt war. Zunächst zeigten die ersten ausführlich beschriebenen Kontakte zwischen den außenpolitischen Vertretern beider Höfe, dass sich Kinsky bei diesen Aufeinandertreffen sehr stark an den Vorgaben der Konferenzminister orientierte und in manchen Fällen eine sich durch die speziellen Anforderungen der Situation ergebende Anpassung oder Abänderung des beschlossenen Kurses vornahm. So wurde in diesem Abschnitt auch der Handlungsspielraum der Diplomaten sichtbar, der dem Gesandten gemäß der normativen Literatur auch die Einsetzung seines eigenen Geschicks erlaubte. Das zeigte etwa das Beispiel der Antrittsvisite bei Kanzler Golovkin, die fast zur Gänze den zeitgenössischen Maßstäben entsprach. Kleine aber feine Unterschiede in den Richtlinien für die Kontaktaufnahme bei solchen Treffen sorgten zunächst für Unmut bei den russischen Vertretern, den Kinsky durch die Abstattung eines außerordentlichen, in seinen Instruktionen nicht vorgesehenen Besuchs bei Vizekanzler Sˇafirov beseitigen konnte. Gerade die Visiten haben auch gezeigt, inwiefern der Titel »Exzellenz« einen umstrittenen Begriff darstellte, durch dessen Austausch die interagierenden Akteure sozusagen eine Kommunikation auf gleicher Ebene zum Ausdruck brachten. Gerade die Gegenüberstellung des Besuchs bei Golovkin mit jenem bei Sˇafirov macht deutlich, dass in diesen Fällen das Prinzip der Reziprozität ausschlaggebend war. Gleichzeitig haben wir am Beispiel der Visite beim Kanzler erfahren, dass Golovkin den Wunsch des Zaren »zur Wiedereinrichtung der alten Freundschaft« bereits bei dieser Gelegenheit vorausschickte. Die darauffolgenden Audienzen spielten sich nach den zeremoniellen Vorstellungen des russischen Hofes ab und entsprachen der Erwartungshaltung der kaiserlichen Akteure sowie den Richtlinien der normativen Literatur. Die dabei zwischen Kinsky und Peter I. gewechselten Worte ließen überdies die Schlüsselbegriffe zum Vorschein kommen, welche sozusagen als Losung für den weiteren Austausch vorgegeben wurden. Die von beiden Seiten beschworene »Freund-
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schaft« war in diesem Zusammenhang das zentrale Schlagwort. Diese erlebte nicht nur Konkretisierungen durch die im selben Atemzug genannten Worte »Wiederherstellung«, »Erhaltung« oder »Verewigung«, welche Anspielungen bzw. Wunschvorstellungen hinsichtlich der vorangegangenen und zukünftigen politischen Ereignisse markierten. Sie erfuhr ebenso eine emotionale adjektivische Aufladung durch die Begriffe »angenehm«, »teuer«, »lieb« und »heilsam«, welche sozusagen den gemeinsamen Willen zur Herstellung derselben noch stärker zum Ausdruck bringen sollten. Schließlich begegnen wir der »Freundschaft« auch in Form von Synonymen wie der Herstellung eines »guten Vernehmens« oder eines möglichen »Bündnisses«. Als Voraussetzung oder Ergebnis der »Freundschaft« wurden überdies die »gemeinsamen Länderinteressen« bzw. der »gemeinsame Nutzen« betont, welche(r) einerseits als »nicht entgegengesetzt« sowie andererseits als »leicht herstellbar« und »leicht zu befördern« bezeichnet wurde(n). Die vorangegangenen Konflikte wurden also lediglich indirekt angesprochen, indem die Akteure eben von der »Wiederherstellung« der »Freundschaft« sprachen. Der damit zum Ausdruck gebrachte Akt des Versöhnens und Neuanfangs stellte keineswegs eine bemerkenswerte historische Ausnahme dar. Die daraus ersichtlich werdende Bedeutung des verbalisierten Nicht-Erinnerns und Vergessens muss daher auch wörtlich genommen werden. Die Beschwörung der Vergessensformel stellte nach Christian Meier eine Bekundung dessen dar, dass die Urheber der Verträge und Beschlüsse eben genau das wollten, was die verschiedenen Bedeutungen von Vergessen umfassen.417 Dieser Wille wurde anhand der weiteren Ereignisse deutlich. Die darauffolgenden Aufeinandertreffen Kinskys mit den unterschiedlichen Vertretern des russischen Hofes waren einerseits von einer beidseitigen Zurschaustellung der in den Audienzen und Visiten beschworenen »Freundschaft« charakterisiert. Andererseits wurde diese auch von anderen ausländischen Gesandten begehrt, weshalb der Zar und seine Minister in ihrem Auftreten nicht nur eine Äquidistanz zu den einzelnen Prätendenten zeigen wollten, sondern auch ihre Freunde nach dem Kriterium des den größten Nutzen bringenden Partners wählen wollten. Die »Freundschaft« wurde daher auch zu einem begehrten und gleichsam umkämpften Begriff in der Interaktion der unterschiedlichen Diplomaten mit dem russischen Hof. Der Konkurrenzkampf um das heiß begehrte Prädikat spiegelte sich daraufhin in fast jeder Begegnung der unterschiedlichen außenpolitischen Akteure wider. Zunächst kam es auch zu einer performativen Darstellung des Freundschaftswillens von Seiten des Zaren im Rahmen der beschriebenen Exkursion mit Kinsky nach Kronstadt, in deren Rahmen er seine Wohlgewogenheit sowohl non-verbal durch einen Händedruck als auch verbal durch den Rat an Kinsky, sich »immer an seiner Seite zu halten«, zum Ausdruck 417 Vgl. Meier, Gebot, 47–48.
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brachte. Dasselbe Naheverhältnis ließ er den französischen Gesandten Campredon spüren, indem er ihn auch zu einer solchen Reise einlud, was wiederum das Alleinstellungsmerkmal Kinskys in Bezug auf die Gunst des Zaren auflöste und dessen Missgunst gegenüber dem Franzosen hervorrief. Daraufhin bemühte sich Kinsky umso mehr um die »Freundschaft« des russischen Hofes. So trank er im Rahmen des Geburtstagsfests des Großfürsten Petr Alekseevicˇ etwa auf die »Freundschaft zwischen dem Kaiser und dem Zaren« und betonte in der kurz darauffolgenden Konferenz mit Sˇafirov, in deren Rahmen das Friedenstraktat von Nystad präsentiert wurde, den Wunsch zur »Wiederherstellung der Freundschaft«. Der zu diesem Zeitpunkt bereits Druck ausübende Vizekanzler ließ in seiner Antwort erstmals wieder explizit alte Ressentiments anklingen. So erinnerte er daran, dass die üble »Conduite« des kaiserlichen Vertreters Pleyer diese »Freundschaft unterbrochen« habe. Die massive Störung des Annäherungskurses durch die Annahme des Imperatorentitels spiegelte sich auch begrifflich in der darauffolgenden Interaktion des kaiserlichen Gesandten mit dem russischen Minister wider. Der immer noch auf Druck setzende Sˇafirov forderte dabei von Kinsky die Anerkennung des Titels, während Letzterer zu bedenken gab, dass durch dieses Anliegen »die neu zu befestigende Freundschaft gekränkt« werden könnte. Sich der Tragweite dieser Forderung im Klaren, bat Kinsky daher seinen Souverän um weitere Instruktionen darüber, wie weit er sich in Zukunft mit dem russischen Hof »verbinden« wolle. Währenddessen machte der russische Vizekanzler dem französischen Gesandten durch eine gänzlich andere Strategie schöne Augen. So lud er Campredon als »Freund« ein, um mit diesem über einen Plan für ein mögliches Bündnis sowie die Anerkennung des Imperatorentitels zu sprechen. Diese Betrachtung der Schlüsselbegriffe zeigt, dass dieses Ereignis einen Bruch in den zwischenstaatlichen Beziehungen darstellte und weitreichende Folgen auf die Kommunikation Kinskys mit dem russischen Hof hatte.
2.3. Die Ausrufung Peters I. zum »Allrussischen Imperator« – der Auslöser für eine Periode des sukzessiven Einfrierens der diplomatischen Kommunikation ab dem Jahre 1722 Die Annahme des Imperatoren- bzw. Kaisertitels im Oktober 1721 stellte einen Bruch in den zwischenstaatlichen Beziehungen dar und leitete das allmähliche Erkalten des Verhältnisses zwischen Wien und St. Petersburg/Moskau ein. Dieser Bruch erfolgte jedoch nicht unmittelbar nach der Ausrufung Peters I. zum »Allrussischen Imperator«, sondern zog sich aufgrund der langen Kommunikationswege bis zum Jahre 1722 hinaus. In diesem Abschnitt sollen die dadurch
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hervorgerufenen machtpolitischen Grabenkämpfe näher betrachtet und die Mechanismen des langsamen Auseinanderdriftens in der zwischenstaatlichen Kommunikation illustriert werden. Letztere scheiterte trotz eines beidseitigen Ringens um ein Bündnis und hatte den Abzug Kinskys im Juni 1722 zur Folge. Dem folgten drei Jahre, in denen der Kaiser »nur« durch seinen Legationssekretär Hochholzer am russischen Hof vertreten war. Dieser Wechsel der diplomatischen Hauptakteure deutet bereits darauf hin, dass damit eine Abkühlung der zwischenstaatlichen Beziehungen bis zum Tode Peters I. im Jänner 1725 verbunden war.
2.3.1. Das Eindringen des Zaren in das Weltbild des Kaisers – machtpolitische und ideengeschichtliche Hintergründe des Konflikts um den Imperatorentitel Wie die Ausführungen des letzten Abschnittes bereits angedeutet haben, saß der Schock bei den außenpolitischen Verantwortlichen des Kaisers in St. Petersburg ebenso wie in Wien nach den umwälzenden Ereignissen am russischen Hof tief. Die Ausrufung Peters I. zum »Allrussischen Imperator« führte zunächst zu einer mehrmonatigen Lähmung der kaiserlichen Russlandpolitik, welche vor allem durch die Ausarbeitung neuer (Kommunikations-)Strategien gegenüber dem russischen Herrscher und seinen Ministern hervorgerufen wurde. Diese Neuorientierung in der Wiener Diplomatie wird vor allem anhand einer der wenigen erhaltenen russischsprachigen Archivalien über die Mission Kinsky deutlich. So schien sich der russische Hof nach den Ereignissen rund um den Friedensschluss von Nystad und den damit verbundenen Veränderungen besonders für die Haltung des Kaisers und seines Vertreters in Hinblick auf das »neue« Russland zu interessieren. Aus diesem Grund wurde Peter I. höchstwahrscheinlich Ende des Jahres 1721 über das Gespräch mit einem namentlich nicht erwähnten Informanten über die Ziele und Absichten Kinskys informiert. Obwohl das Schriftstück kein genaues Datum aufweist, kann aus dem Inhalt sowie der Anrede Peters I. als »kaiserliche Hoheit« erschlossen werden, dass die Unterredung mit dem kaiserlichen Gesandten und deren Protokollierung unmittelbar nach der Ausrufung des Zaren zum Imperator stattgefunden haben müssen. Der Informant teilt dem russischen Souverän zunächst jenes mit, was wir bereits aus den Berichten Kinskys wissen. Demzufolge sei der kaiserliche Gesandte ursprünglich nach Petersburg entsandt worden, um bei der Herbeiführung des Friedens zwischen Russland und Schweden behilflich zu sein. Dies habe sich jedoch durch den Abschluss des Traktats von Nystad und dessen Veröffentlichung während seiner Reise nach Russland bzw. unmittelbar nach
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seiner Ankunft in St. Petersburg erübrigt. In diesem Gespräch brachte Kinsky offensichtlich den Unmut des Kaisers zum Ausdruck, dass hinsichtlich der Anschaffung eines ordentlichen Botschaftsgebäudes bislang keine Fortschritte zu verzeichnen seien. Des Weiteren habe der kaiserliche Vertreter seinen Hof um weitere Instruktionen gebeten, um zu wissen, was er nunmehr am russischen Hof zu tun und zu verhandeln habe. Die sich durch die neue Ausgangslage ergebende Verschlossenheit Kinskys gegenüber dem russischen Hof wird vor allem daran deutlich, dass er in der beschriebenen Unterredung auf folgende Verhandlungsgrundlage hinwies. So könne er sich über den Willen des Kaisers zu einem gemeinsamen Bündnis nur dann weiter »herauslassen«, wenn Peter I. etwa seinen Willen zu einem solchen mit Polen und der Republik Venedig bezeige. Schließlich habe Kinsky dem Gesprächspartner mitgeteilt, dass er Befehl gehabt habe, sich diesbezüglich zu öffnen, was nunmehr ohne ein klares Bekenntnis des russischen Souveräns nicht mehr möglich sei.418 Der kaiserliche Vertreter gab sich also nicht nur verschlossen gegenüber dem russischen Hof, sondern brachte indirekt auch sein Missfallen über den bisherigen Verlauf seiner Mission zum Ausdruck. Auch in konkreten politischen Sachfragen, die bei dieser Unterredung angesprochen wurden, verhielten sich beide Seiten uneinig. So hielt der russischen Unterhändler Kinsky gegenüber fest, dass sich Peter I. zum derzeitigen Zeitpunkt einen anderen Partner gegen die Türkei suche, während Kinsky vorsichtig auf die Festlegung eines Nachfolgers von Peter drängte. Im daraufhin angesprochenen Hauptkonfliktpunkt der Anerkennung des Imperatorentitels schien der kaiserliche Vertreter die Position des heimischen Hofes auch ohne weitere Instruktionen aus Wien zu kennen. So könne der Kaiser den neuen Titel nicht anerkennen, da im Falle eines solchen Zugeständnisses auch die Könige von Frankreich, England und Spanien mit derselben Bitte an ihn herantreten würden. Daraufhin schilderte Kinsky seinem Gesprächspartner kurz und bündig jene Geisteshaltung, die für seinen Souverän eine Anerkennung eines zweiten Imperators unmöglich machte. So würde durch eine derartige Okkasion die große Gemeinschaft der Potentaten in Konfusion geraten und die gesamte christliche Republik einen erheblichen Schaden erleiden.419 In diesen Worten spiegelt sich genau jenes Weltbild wider, das den kaiserlichen Konferenzministern bei der Ausarbeitung eines Gutachtens hinsichtlich des von Peter I. beanspruchten Imperatorentitels zugrunde lag. Diese Expertise dürfte in etwa zum selben Zeitpunkt ausgearbeitet worden sein, als Kinsky das Gespräch mit dem russischen Unterhändler führte. 418 Vgl. RGADA, f. 15, op. 1, d. 30 [Doklad neizvestnogo o celi i namerenijach cesarskogo posla Kinskogo posle zakljucˇenija Nejsˇtatskogo traktata 1721 g.], 2r–3r. 419 Vgl. RGADA, f. 15, op. 1, d. 30, 3r–3v.
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Das Anfang Dezember 1721 verfasste Gutachten wurde nach Erhalt des bereits ausführlich besprochenen Berichts von Kinsky über die Beanspruchung des Imperatorentitels von Seiten der russischen Minister erstellt. In dieser Relation hatte der kaiserliche Gesandte den Wiener Hof im Übrigen auch über weitere wichtige Verhandlungspunkte der Konferenz mit Sˇafirov informiert, in der mitunter konkrete politische Sachfragen angesprochen wurden. So gab die russische Seite dabei zu erkennen, in Sachen des Herzogs von Holstein »in concerto« mit dem Kaiser handeln zu wollen, um letztlich eine Restitution bzw. Entschädigung für denselben zu erwirken. Kinsky gab sich diesbezüglich »instruktionslos« und hielt fest, diese Frage bislang als Thema des nunmehr hinfällig gewordenen Kongresses von Braunschweig betrachtet zu haben. Durch einen scheinbaren Scherz über eine mögliche Hochzeit des Herzogs mit einer russischen Prinzessin wollte er den Verhandlungspartnern überdies nähere Informationen über die diesbezügliche Haltung des russischen Hofes entlocken und bat den heimischen Hof daraufhin um weitere Instruktionen. Ebenso uninformiert zeigte sich die russische Seite über das bei dieser Konferenz von Kinsky erstmals angesprochene Wirtschaftsbündnis bezüglich des Schlesienhandels. Sie kündigte Kinsky jedoch die Einholung weiterer Instruktionen an und bat ihn, sich auf eine gesonderte Konferenz über diese Frage inhaltlich vorzubereiten.420 Obwohl gerade der zuletzt angesprochene Punkt ein zentrales Anliegen der Instruktionen Kinskys darstellte, waren diese politischen Sachfragen für die kaiserlichen Konferenzminister angesichts der veränderten Ausgangslage zu Nebensächlichkeiten geworden. Die »questio an« für ein Bündnis mit Russland stellte die schwierige Lösung der Titelfrage dar. Das wird anhand des Konferenzgutachtens deutlich, auf dessen argumentative Grundlagen nunmehr ausführlich eingegangen werden soll. Diese ausführliche und 20 Seiten umfassende Reaktion der kaiserlichen Minister kann im Wesentlichen in drei Abschnitte unterteilt werden. Zunächst wird die Position des Wiener Hofes hinsichtlich des aus seiner Sicht »unmöglichen« Anliegens thematisiert, ehe die Unmöglichkeit der Annahme desselben nicht nur mit (aktuellen) politischen und historischen Argumenten untermauert, sondern auch im Namen aller europäischen Potentaten ausgesprochen wird. Dem folgt das Votum der Minister, das gleichzeitig die weiteren Instruktionen für Kinsky enthält und mit einem »placet in toto« von Karl VI. abgesegnet wurde. Gerade im ersten Abschnitt spiegelt sich die ideengeschichtliche Basis für die weitere Argumentation des Kaiserhofes wider, weshalb dieser Teil in den Kontext der bisher erschienenen Forschungsliteratur über diese alle europäischen Höfe betreffende Streitfrage gestellt werden kann. Zunächst stießen sich die Konfe420 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 17. November 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 295v–297v.
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renzminister ganz allgemein an der Art und Weise, wie dieses Anliegen von russischer Seite vorgebracht worden war. So habe der russische Gesandte Lanczinski das Ansinnen an das »sacram faciem« des Kaisers gerichtet, ohne zuvor Rücksprache mit den kaiserlichen Verantwortlichen zu halten. Diese Tatsache an sich wurde von den Konferenzministern einhellig als eine »wahre Unmöglichkeit« aufgenommen.421 Hinter dieser Vorgehensweise steckte tatsächlich ein klares Kalkül des russischen Hofes, wie aus dessen Extrakten über die Audienz hervorgeht. Darin heißt es, dass »[…] dem Kammerjunker Lanczinski in Wien angeordnet wurde, eine private Audienz beim Kaiser durch die Mitteilung zu fordern, dass er den Befehl von Seiner Zarischen Majestät habe, einige wichtige Angelegenheiten anzukündigen, damit er über die Audienz nichts vom Ankündigungsauftrag der Annahme des Seiner Majestät schon lange beigelegten Imperatorentitels sagen muss und dafür das Beispiel vorstellen soll, dass dieser schon den Vorgängern Seiner Majestät von den Römischen Kaisern gegeben wurde.«422
Lanczinski hatte den Kaiser mit dieser »Überraschung« offensichtlich in eine peinliche Situation gebracht, die aus Sicht der direkten Kommunikation im diplomatischen Bereich höchst interessant ist. Die gespannte Lage im Rahmen der Audienz des russischen Gesandten lässt sich aus dessen Bericht erschließen, in dem er festhielt: »Nachdem ich ins Audienzzimmer gekommen war und die üblichen drei Verbeugungen dargebracht hatte, begann ich mit der Rede, wie sie mir in der Weisung vorgeschrieben worden war, und ich brachte diese durchaus laut und Wort für Wort vor, als ich gleichzeitig bemerkte, welche Miene ihre Majestät zu zeigen geruhte; doch ich konnte keine Veränderung feststellen und seine Majestät geruhte, wie sie es gewohnt war, reglos beim Tisch zu stehen, hörte meine Rede ruhig bis zum Ende an und geruhte mir dann zu antworten, jedoch so undeutlich und schnell, dass ich unter keinen Umständen auch nur ein Wort verstehen konnte; doch konnte ich von ihrer Majestät keine Erklärungen verlangen, denn dafür gibt es viele Beispiele, dass wenn sie sich in etwas bestimmten nicht herauslassen will, einfach wiederholt undeutlich zu antworten pflegt und die auswärtigen [Minister] sich in solchen Fällen an den kaiserlichen Vizekanzler richten.«423 421 Vgl. Gutachten der Konferenzminister v. 11. Dezember 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 345r–346v ; Vgl. dazu auch: Wittram, Peter, 470. 422 RGADA, f. 197 [Portfeli A.F. Malinovskogo], op. 1, portfel’ 8 1696–1725, d. 57 [Vypiski iz reljacijam rossijskich ministrov pri raznych dvorach evropejskich, o tom kak bylo prinjato ob’’javlenie ich vosprijatii Petrom I. imperatorskogo titula 1721], 1r–1v. 423 Zit. nach: Solov’ev, Istorija, Bd. IX, 424. Siehe dazu auch: RGADA, f. 197, op. 1, portfel’ 8 1696–1725, d. 57, 1v : Kammerjunker Lanczinski habe in seinen Berichten geantwortet, »dass er eine Audienz beim Kaiser über den Imperatorentitel gehabt hat, aber über die kaiserliche Antwort nicht berichten kann, da der Kaiser so leise sprach, dass man nichts verstehen konnte.«
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Letzterer habe sich zunächst bei Lanczinski damit entschuldigt, dass er keine Gelegenheit zum Gespräch mit dem Kaiser gehabt habe, bis er den russischen Vertreter schließlich darüber informierte, dass der Herrscher sich zuerst mit seinen Ministern beraten wolle. Hinter den Kulissen der offiziellen Diplomatie fällten die Konferenzminister in ihrem Gutachten jedoch ein eindeutiges Urteil, auch wenn Solov’ev auf Basis der Berichte Lanczinskis diesbezüglich festhielt, dass unter ihnen unterschiedliche Positionen bezüglich der Anerkennung des Titels vertreten waren.424 Diese von Lanczinski vorgebrachte »unerhörte Neuerung« betreffe aus ihrer Sicht jedoch das Heilige Römische Reich im Gesamten und die den Kaiser wählenden Reichsfürsten im Speziellen, weshalb hinsichtlich dieser »seltsamen Begebenheit« und »wunderlichen Zumutung« die Reichsstände befragt werden müssten. Sie konnten aus Sicht der Konferenzminister in dieser Frage jedoch nur zu einem Urteil kommen. So habe man seit der »Geburt des Heiligen Reiches« in ganz Europa »nur einen christlichen Kaiser« anerkannt und neben diesem nur den orientalischen, also nicht-christlichen Kaiser geduldet, dessen Titel der türkische Herrscher trage. In Erwägung der sich aus dem russischen Ansinnen ergebenden »gefährlichen Umstände« und »hässlichsten Nachfolgungen« könne man den von Peter beanspruchten Titel weder innerhalb noch außerhalb des Reiches anerkennen, da dieses »Ehrenwort« dem Kaiser »in Europa alleine zustehe«.425 Ansonsten würden alle Fürsten ein solches Recht beanspruchen und damit »ein christlicher kirchen leib, deßen erst- und oberst-weltliches haubt E[uer] K[aiserliche] M[ajestät] allein seynd, bald zwey, oder noch mehrere köpfe, wann mit der zeit nicht minder andere potentaten, wie leicht vorzusehen, dem höchsten Kaysers nehm ambirten, würde haben müßen.«426
Damit wären also auch der »Vorgang« bzw. die Präzedenz des Kaisers und dessen »Würde als allerhöchster unter den christlichen Potentaten« sowie jene seiner Gesandten an den fremden Höfen in Frage gestellt.427 Damit sprachen die Konferenzminister in ihrem Gutachten genau jene Punkte an, die von der jüngeren Forschung als allgemeine ideengeschichtliche Konfliktherde hinsichtlich der Annahme des russischen Imperatorentitels herausgearbeitet wurden. So zeigte Isabel de Madariaga, dass die Annahme von den 424 Vgl. Solov’ev, Istorija, Bd. IX, 424; RGADA, f. 197, op. 1, portfel’ 8 1696–1725, d. 57, 1v. 425 Vgl. Gutachten der Konferenzminister v. 11. Dezember 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 346v–347r. 426 Gutachten der Konferenzminister v. 11. Dezember 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 347r–347v. 427 Vgl. Gutachten der Konferenzminister v. 11. Dezember 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 347v–348r ; Vgl. dazu auch: Wittram, Peter, 470–471.
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meisten übrigen Mächten als Angriff aufgefasst wurde und im speziellen Fall des kaiserlichen Hofes eben als »unerhört« wahrgenommen wurde. Den Grund für diese Empörung des Kaisers und seiner Berater stellte deren Überzeugung von der mittelalterlichen Tradition der »christlichen Staatengemeinschaft« – also die von Kinsky in der Unterredung angesprochene »christliche Republik« – dar, die im betrachteten Zeitraum immer mehr in den Gegensatz zu der sich allmählich durchsetzenden Vorstellung der Gleichheit aller souveränen Staaten geriet. Diesem bereits teilweise überholten Weltbild entstammen eben die von den Konferenzministern angesprochenen Argumentationslinien, wonach der christliche Kirchenleib nur ein Haupt haben könne und jegliche Beanspruchung dieses Platzes durch einen anderen Souverän ein unrechtmäßiges In-FrageStellen der legitimen Vormachtstellung des Kaisers unter den christlichen Herrscher darstellen würde. Damit sah der Wiener Hof die Titelfrage zum Teil aus einem gänzlich anderen Blickwinkel als die übrigen Mächte, worauf an anderen Stellen noch ausführlicher eingegangen werden soll.428 Zunächst wollen wir jedoch einen Blick auf die ideengeschichtlichen und machtpolitischen Hintergründe werfen, die Peter I. zu diesem gewagten Schritt veranlassten. In diesem Zusammenhang kam Ol’ga Ageeva beinahe zur selben Zeit wie Isabel de Madariaga zu ähnlichen Forschungsergebnissen, die an dieser Stelle in geraffter Form zusammengeführt werden sollen. So hoben beide Autorinnen hervor, dass der Zeitpunkt der Feierlichkeiten rund um den Frieden von Nystad sowie das damit fixierte Ende des Nordischen Krieges keineswegs zufällig als Anlass für die Titelannahme herangezogen wurden. So hatte Peter I. als Sieger dieses, das europäische Mächteverhältnis verändernden Konflikts genug Selbstvertrauen gesammelt, um ohne weitere Rücksprache mit den übrigen Höfen das militärische und politische Gewicht Russlands zu manifestieren und einen fixen Platz an der obersten Stelle der Rangordnung der europäischen Fürsten zu beanspruchen. Die Annahme des Imperatorentitels hatte in erster Linie außenpolitische Hintergründe und lässt sich mit der bis zu diesem Zeitpunkt verbreiteten gegenseitigen Wahrnehmung Russlands und der »europäischen« Souveräne erklären. So hatte das moskowitische Zarentum bis zum Regierungsantritt des Reformators gar keinen Bedarf für einen fixen Platz unter den westlichen Fürsten. Bis zu der am Beginn des 18. Jahrhunderts einsetzenden Intensivierung der diplomatischen Beziehungen mit den europäischen Höfen hatte der Zarentitel im Gegenteil sogar eine abgrenzende Funktion. In Rekurs auf die byzantinische Tradition wählten die moskowitischen Herrscher bewusst den Zarentitel als russische Bezeichnung für den griechischen Kaisertitel eines »Basileus«, um damit auch einer »Westernisierung« entgegenzuwirken. Gleichzeitig sahen die Moskauer Regenten im Zarentitel ein gleichrangiges 428 Vgl. Madariaga, Tsar, 374–375.
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Äquivalent zur Bezeichnung »Caesar« (russisch: »GVbQam« / »Cesar’«), welche im Russischen als Titel für den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches verwendet wurde. Für die westlichen Souveräne hingegen war der Zar sozusagen eine unbestimmte Größe, weshalb diese ihn oft einfach zu einem »Großfürsten von Moskau« degradierten. Diese Unbestimmtheit und Unkenntnis der Bedeutung des russischen Titels führte im Laufe der Jahrhunderte jedoch zu den unterschiedlichen Bezeichnungen in der diplomatischen Korrespondenz, die vom »Großfürsten« über einen »König« bis hin zum »Caesar« oder »Imperator« reichten. Insgesamt war die Vorstellung des Zarentitels als Äquivalent für den Königstitel in Europa am weitesten verbreitet. Bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts, als der Austausch mit den westlichen Höfen noch sporadisch war, stellte die Bezeichnung für den Moskauer Zaren keine allzu politisch brisante Frage dar, weshalb dieser mitunter auch als »Imperator« betitelt wurde. Der Aufstieg Russlands zur europäischen Großmacht und die damit verbundene Annahme des »allrussischen Imperatorentitels« im Jahre 1721 waren jedoch ein heißes Eisen der internationalen Diplomatie und wurden zu einem Präzedenzfall der europäischen Geschichte. Bislang hatte es kein christlicher Fürst – nicht einmal die souveränen Könige Englands, Frankreichs oder Spaniens – gewagt, den Imperatorentitel zu beanspruchen. Peter I. war daher an einer Anerkennung von Seiten des Kaisers besonders interessiert, da in diesem Fall ein entsprechendes Verhalten der übrigen Kronen zu erwarten war.429 Deren Reaktion war wiederum ein zentraler Gegenstand des Gutachtens der kaiserlichen Konferenzminister und stellte sozusagen die Überleitung zur aktuellen politischen Lage dar. Ausgehend von dem soeben geschilderten Weltbild war für sie nicht nur die Anerkennung durch das Reich unmöglich, sondern sie waren sich auch ziemlich sicher, dass andere Kronen keinen »zweiten Kaiser in Europa erkennen« würden. Umso befremdlicher erachteten sie das Ansinnen des Zaren, da dieser solches auch nicht an anderen Höfen vorbereiten habe lassen. Nichtsdestotrotz vermuteten sie, dass etwa England oder Frankreich in dieses Spiel involviert seien, da der französische Gesandte Campredon gegenüber Kinsky bereits »Werbung« für den neuen Titel in Form der Ankündigung gemacht habe, dass es nunmehr einen neuen Kaiser gebe. Ungeachtet dessen würden sich die übrigen Könige durch eine mögliche Anerkennung mit einer »schadhaften Neuigkeit beladen«, indem sie den Untertanen des Zaren, die ihren Herren nennen können wie sie wollen, folgen würden. Das begründeten sie wiederum mit dem bereits bekannten Argumentationsmuster. So sei es eine »sittliche Unmöglichkeit«, dass der Römische Kaiser einen »Nebenimperator in Europa kenne«. Wenngleich dem Zaren das Glück derzeit hold sei, so werde ihm »die Sonne vielleicht nicht mehr so lange scheinen«, da er einigen Nachteil aus 429 Vgl. Ageeva, Titul; Madariaga, Tsar, 369 sowie 374–377.
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diesem Anliegen zu ziehen haben werde.430 Dieses Weltbild sollte jedoch nicht von allen Mächten geteilt werden, wie die folgenden Ausführungen noch zeigen werden. Zunächst wollen wir jedoch einen Blick auf die bereits mehrfach angesprochenen und von beiden Seiten bemühten historischen Argumente für bzw. gegen die Anerkennung des russischen Imperatorentitels werfen. So führten die Konferenzminister einige Bespiele an, wonach die Vorgänger des Kaisers den Zaren lediglich als »großen Fürsten« oder »magnum ducem« bezeichnet hätten – so etwa Ferdinand I. (1531–1564) 1559 und Maximilian II. (1564–1576) 1576 an den Reichstagen von Augsburg bzw. Regensburg sowie Ferdinand III. (1636–1657) im Westfälischen Frieden von 1648 und mit ihm das ganze »christliche Europa«. Im nachfolgenden Sendschreiben, in dem der Zar in der Rangfolge nach den Königen von Portugal und Polen sowie vor den Republiken eingereiht wurde,431 bezeichnete der Kaiser den russischen Herrscher zwar als »Czar«, »Autocrator« und »Selbsthalter«, nicht jedoch mit dem häufig begehrten Titel einer »Majestät«. Der 1687 anlässlich des Türkenkrieges nach Wien abgeschickten moskowitischen Gesandtschaft hatte man dieses Anliegen ebenso ausgeschlagen. Schließlich hatten sowohl der 1709 nach Russland entsandte Graf Wilczeck ebenso wie Kinsky den Auftrag, weder in der Titulatur noch im Zeremoniell gegenüber dem Zaren irgendetwas zu ändern. Den eigentlichen Stein des Anstoßes stellte das bereits mehrfach erwähnte Schreiben Maximilians I. an Vasilij III. aus dem Jahre 1514 dar, in dem der Kaiser den russischen Herrscher als Imperator bezeichnet haben soll. Dieses gleiche den übrigen Schriftstücken Maximilians jedoch gar nicht, weshalb die Konferenzminister zu dem Schluss kamen, dass darin der »Zar« durch einen »Kaiser« ersetzt oder dieser Titel durch irgendwelche »Irrungen« eingeflossen sei. Das Schreiben wäre daher als »fictitium, aut sub- et obreptitium« zu betrachten, da diese Titulatur in weiterer Folge nie gebraucht wurde und auch gegenüber anderen Kronen und Republiken niemals Verwendung fand. Und selbst wenn es ein authentisches Schriftstück sein sollte, so sei es eine »litera unica«, die eine »a soeculo dein in contrarium usitata formula« enthalte.432 Für die an der Echtheit des Schreibens zweifelnden Konferenzminister war das von russischer Seite in der Diskussion um den Imperatorentitel herangezogene Schriftstück Maximilians keine Neuheit. So hielten sie Kinsky bereits in seinen Instruktionen dazu an, den Brief Maximilians I. gegenüber dem russi-
430 Vgl. Gutachten der Konferenzminister v. 11. Dezember 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 348r–349v ; Vgl. dazu auch: Wittram, Peter, 471. 431 Vgl. Rohr, Einleitung, 8–11. 432 Vgl. Gutachten der Konferenzminister v. 11. Dezember 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 349v–351r.
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schen Hof als »unbekannt« zu bezeichnen.433 Wie auch die jüngere Forschung gezeigt hat, war das Schreiben für den kaiserlichen Hof natürlich keine Überraschung und stellte überdies auch keine Fälschung dar. So stellte der im Mai 1718 vom Bruder Sˇafirovs aus dem Archiv der Gesandtschaftskanzlei ausgegrabene Brief sozusagen einen Sensationsfund dar, der die argumentative Hauptgrundlage der russischen Ansprüche rund um den Imperatorentitel war. Noch im selben Monat veranlasste Peter I. die Publikation des Schriftstückes in deutscher und russischer Sprache in einer Auflage von 310 Exemplaren, um seine für ihn rechtmäßigen Ansprüche öffentlich zu machen. Schon damals reagierte der Wiener Hof sofort und gab vor, dass selbiges in den Hofarchiven nicht auffindbar sei und von Experten gar als Fälschung entlarvt worden sei.434 Wie wichtig dieses Schriftstück für die russischen Titelansprüche war, zeigt die Sammlung des aus Westfalen stammenden Gerhard Friedrich Müller, der ab den 1720er-Jahren als Fedor Ivanovicˇ Miller (1705–1783) in seiner Funktion als Historiker sowie Mitglied und Professor der Akademie der Wissenschaften und Künste wichtige Erinnerungsorte der russischen Geschichte festhielt. Dazu gehörte auch das Wissen über den russischen Imperatorentitel in Europa. Darin hielt er bezüglich des Schreibens Maximilians fest: »Des Großfürsten Iwan Wasiliewitsch der 1. mit dem römischen Kaißer Maximilian dem 1. briefwerckel und unterhandlungen sind desto merkwürdiger, je klarer sie beweisen, daß dieselbe nicht erst mit dem bündniße, welches Wasili Iwanowitsch und Maximilian im J[ahre] 1514 wider den König Sigismund von Pholen errichtet, und worin dieser jenem den kaiserlichen titel begehret hat, den anfang genommen.«435
Für die kaiserlichen Konferenzminister, die den soeben angesprochenen Brief als Fälschung bzw. Irrtum erachteten, war die Einwilligung des Kaisers hinsichtlich des russischen Ansinnens daher »unanständig« und »unmöglich«. Auch wenn der Zar den Titel bei allen anderen Kronen durchzusetzen versuche, so werde der Kaiser mit ihm deswegen jedoch »in Undank verbleiben« und sei sogar zu einem Bündnis mit der Pforte bereit, die den Titel unter keinen Umständen anerkennen würde. Mit dem Gutachten wolle man daher einer möglichen »Freundlichkeit« des Kaisers gegenüber dem russischen Hof vorgreifen, weshalb die Konferenzminister zu folgendem Votum gekommen seien und damit die weitere Vorgehensweise und Instruktionen für Kinsky einleiteten. Zunächst zogen sie aus dem »kuriosen Ansuchen« die Lehre hinsichtlich des 433 Vgl. Gutachten der kaiserlichen Konferenzminister v. 24. April 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 343v. 434 Vgl. Ageeva, Titul; Grabar, History, 55–56; Madariaga, Tsar, 374; Wittram, Peter, 468–469. 435 RGADA, f. 199 [Portfeli G.F. Millera], op. 1, 7 299, cˇast’ 1 [Diplomaticˇeskie zapiski o snosˇenijach Rossii s Rimsko imperatorskom dvorom], d. 2 [Izvestie o imperatorskom rossijskom titule], 5v.
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Austausches mit den fremden Gesandten, in Zukunft keinen geheimen Minister mehr ohne vorherige Rücksprache über den Inhalt seines Vortrags vor den Kaiser treten zu lassen. Abgesehen von der »ungewöhnlichen Art«, in der dieses Begehren angebracht wurde, sei dieses an sich nichts Neues. Der Zar hätte nur darauf gewartet damit »herauszubrechen«, wobei man aufgrund seines »genios« – damit sprachen die Minister den Charakter Peters I. an – mit einer heftigen Reaktion im Falle einer Absage zu rechnen habe. Aus diesem Grund könne man eine Antwort hinauszögern, indem die Entscheidung von einem »Konsens Europas« in dieser Frage abhängig gemacht werde, welcher ebenso als »Konsens des ganzen Reiches« zu betrachten sei. Man wolle daher in Sachen Titulierung wie bisher fortfahren und sei dabei der »freundlichen Zuversicht«, dass der Zar diese Haltung verstehe, da der Kaiser dem Zaren niemals etwas unterbreiten würde, was diesem zu seinem Nachteil gereiche und jede Gelegenheit zum Beweis einer »freundwilligen Hochachtung mit Freud« ergreifen würde. Es sei daher im eigenen Interesse des Zaren, von diesem Ansinnen Abstand zu nehmen, da in Europa kein System formiert werden könne, in dem mehrere Mächte die Kaiserwürde beanspruchen. Im Falle einer weiteren Beanspruchung des Titels gegenüber dem Kaiser sei dieser zur Einholung eines Gutachtens von Seiten der Reichsfürsten gezwungen.436 So weit die offizielle Vorgabe für die Kommunikation mit dem russischen Hof. Die weiteren Instruktionen für den kaiserlichen Gesandten sprachen eine etwas andere Sprache. Kinsky, der bereits eine Anfrage bezüglich der Mitreise mit dem russischen Hof nach Moskau gestellt hatte, könne wohl kein Bündnis aufgrund der Zwistigkeiten in der Titulatur zustande bringen, wenngleich der Kaiser ein solches gerne gesehen hätte. Er habe daher den »alten stylo« gegenüber dem Zaren fortzuführen und solle nicht mit nach Moskau reisen, sondern im Falle einer dringlichen Entscheidung seine schwache Gesundheit als Ausrede für sein Zurückbleiben in St. Petersburg vorschieben. Für den Fall, dass der russische Hof seine Mitreise nicht beanspruche, möge er seine Abreise ebenfalls unter Vorgabe von Gesundheitsgründen vor der Rückkehr des Zaren ankündigen. In der Abwesenheit Peters I. könne Kinsky schließlich seine Zelte abbrechen, um nicht der Gefahr ausgesetzt zu sein, als kaiserlicher Vertreter an einer der »öffentlichen Ostentationen« bezüglich des Titels teilnehmen zu müssen. Darüber hinaus solle er gegenüber dem russischen Hof seine Rückkehr nicht in Aussicht stellen, um damit auch kein Recreditiv in Anspruch nehmen zu müssen. Im Anschluss solle Hochholzer als Beobachter und Berichterstatter zurückgelassen werden, wenngleich auch dieser nicht mit dem Zaren nach Moskau
436 Vgl. Gutachten der Konferenzminister v. 11. Dezember 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 351r–353r.
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reisen dürfe.437 Die weiteren Instruktionen Kinskys zeigen, wie wichtig dem Kaiser und seinen Konferenzministern die Verhinderung jeglichen Kontakts mit dem russischen Hof war, um ein Zugeständnis durch einen ihrer offiziellen Vertreter in der Titelfrage unter allen Umständen zu verhindern. Wittram hält hinsichtlich dieser Frage kurz und bündig fest, dass Kinsky dann tatsächlich doch nach Moskau mitgegangen sei.438 Dabei lässt er jedoch die Tatsache unbeachtet, dass diese Beschlussfassung dem kaiserlichen Gesandten äußerst schwer fiel und ihm eine eigenständige Entscheidung abverlangte, zu der er durch den langen Kommunikationsweg zwischen St. Petersburg und Wien gezwungen wurde. So wurden die weiteren Weisungen an Kinsky erst am 30. Dezember 1721 abgeschickt, auch wenn das ministerielle Gutachten gut zwei Wochen zuvor ausgearbeitet worden war. Die Instruktionen stellten im Wesentlichen eine größtenteils chiffrierte Zusammenfassung des Gutachtens dar, wobei den soeben geschilderten Verhaltensweisen noch hinzugefügt wurde, dass Kinsky den russischen Hof bei allfälligen Anfragen damit vertrösten solle, dass er bis dahin noch keine Antwort vom Kaiser erhalten habe. Schließlich äußerte der Kaiser abschließend die Hoffnung, dass der Gesandte entsprechend seinem bisherigen Diensteifer und seiner Geschicklichkeit alles aufs Beste auszurichten wissen werde.439 Diese häufig als reine Floskel verwendete Redensart kam in diesem Fall tatsächlich zum Tragen, wobei die angesprochene »Geschicklichkeit« Kinskys offensichtlich nicht ganz den Vorstellungen seiner Vorgesetzten entsprach. Einen Tag nach Absendung der kaiserlichen Weisungen verfasste Kinsky seinen Bericht an den heimischen Hof, in dem er denselben darüber informierte, dass der Zar und etwas später dessen Familie bereits nach Moskau abgereist waren. Da alle übrigen ausländischen Minister bereits aufgebrochen bzw. reisefertig seien, »vermeinte« er »nicht Unrecht zu tun«, ebenso dorthin abzugehen. Diese Formulierung lässt bereits vermuten, dass er sich bei seiner Entscheidung nicht ganz sicher gewesen sein muss. Er begründete diese letztendlich damit, dass der Zar einerseits nicht vorhabe, sich dort lange aufzuhalten, und keine besonderen Aufgaben erledigen werde. Um seine Entscheidung schließlich noch stärker zu rechtfertigen, bediente er sich einer ähnlichen Diktion wie der Souverän in seinen Weisungen. So habe er sich trotz seines schlechten Gesundheitszustandes in Anbetracht seines Eifers um den kaiserli-
437 Vgl. Gutachten der Konferenzminister v. 11. Dezember 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 353v–355r. Vgl. dazu auch: Wittram, Peter, 471–472. 438 Vgl. Wittram, Peter, 472. 439 Vgl. Weisung Karls VI. an Kinsky v. 30. Dezember 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 394r–396v.
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chen Dienst gemeinsam mit Hochholzer zur Anreise nach Moskau entschlossen, um jede »ungleiche Mutmaßung« gegen ihn abzuwenden.440 Wenngleich die bevorstehende Reise nach Moskau den kaiserlichen Gesandten unter Zugzwang brachte, so dürfte diese Phase der nicht vorhandenen direkten Kommunikation mit dem russischen Hof für die außenpolitischen Akteure Wiens eine willkommene Gelegenheit gewesen sein, weitere Informationen in dieser Frage zu sammeln und auf dieser Wissensbasis die weitere Vorgehensweise festzulegen. Wie bereits aus dem Gutachten der Konferenzminister hervorging, war für Wien die Position der übrigen Höfe in dieser Frage äußerst wichtig. Aus diesem Grund beauftragte der Kaiser umgehend alle seine Gesandten in den übrigen europäischen Machtzentren damit, Stellungnahmen über die Haltung der jeweiligen Höfe in der russischen Titelfrage nach Wien zu schicken. Diese wurden zur besseren Übersicht in einem Extrakt der Reichkanzlei Anfang 1722 gesammelt und mitunter auch an Kinsky geschickt, der zuvor auch die einzelnen ausführlichen Berichte bekam. Daraus wird das Gewicht der Titelfrage für den Kaiserhof deutlich, indem eben »[…] H[err] Graf Kinski wie auch all-anderen, kay[serlichen] ministern an außwärtigen höfen rescribirt worden, deren und jedes insonderheit antwort gegeben,«441 wie es im angesprochenen Extrakt heißt. Aus Paris erhielt man die Nachricht, dass der französische König keine Eile bei der Anerkennung des Titels habe und diese Frage nach Möglichkeit hinauszögern werde, wobei man sich eine Einwilligung unter »gewissen Begebungen« vorstellen könne. England habe auf französische Anfrage ausrichten lassen, dass es den Kaisertitel nur einmal zu Beginn des 18. Jahrhunderts – wie es damals mit den asiatischen Mächten üblich gewesen wäre – gegenüber dem russischen Herrscher gebraucht, dieses Ansinnen ansonsten jedoch immer ausgeschlagen habe. Der kaiserliche Gesandte in Braunschweig nahm auch auf das englische Schreiben Bezug und bekräftige die ablehnende Haltung des englischen Königs. Die einmalige Ausnahme begründe sich damit, dass die damalige englische Königin Anna (1702–1714) ihre Korrespondenz dem »stylum ad barbaros« anpasste, mit denen Peter I. wohl nicht verglichen werden will. Die englische Position ist also ein hervorragendes Beispiel für die bereits angesprochene Degradierung der Moskauer Herrscher vor der Intensivierung der diplomatischen Kontakte. Aus Warschau erhielt man Nachricht, dass die »Aktion« des Zaren als unüblich betrachtet würde, die übrigen Kronen sich kein Beispiel an den russischen Untertanen nehmen sollten und der polnische König 440 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 31. Dezember 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 384v–387r. 441 Extrakt über den russischen Kaisertitel v. 28. März 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 174v.
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dem Zaren den Titel niemals zugestehen würde. Der Gesandte in Stockholm hingegen berichtete über die Haltung der »nordischen« Staaten. Der preußische König habe den Titel bereits anerkannt und öffentlich auf die Gesundheit des russischen Kaisers getrunken, wolle diesem jedoch keine Zugeständnisse in der Präzedenz machen. Der König in Dänemark betonte das Recht des russischen Herrschers, sich im eigenen Land nennen zu lassen, wie er will, er hätte jedoch die übrigen Könige um ihre Meinung fragen sollen. Schweden hingegen werde versuchen, die Frage so lange wie möglich hinauszuzögern, auch wenn eine Anerkennung letztlich nicht zu verhindern sei.442 Diese kurzen Stellungnahmen decken sich im Wesentlichen mit den ausführlichen Berichten, die die russischen Gesandten über die Reaktion der einzelnen Höfe auf die Ankündigung der Titelannahme verfassten.443 Natürlich fanden in diesem Extrakt auch die Ausführungen Kinskys Eingang, der einerseits auch die Bereitschaft des preußischen Königs hervorhob und überdies ausführte, dass die Niederlande nach Angaben des holländischen Residenten nichts überstürzen und sich nach den anderen Potenzen richten wollten.444 Insgesamt hatte die russische Diplomatie vor allem bei den Republiken keine allzu großen Probleme, den Titel durchzusetzen. Die Generalstaaten bestätigten diesen noch im Jahre 1722 mit Rücksicht auf ihre Handelsbeziehungen, worauf die Stadt Hamburg folgte, da sie aufgrund dieser Frage keinen Nachteil gegenüber den Holländern in Kauf nehmen wollte. Wie vom kaiserlichen Gesandten in Schweden in seiner Stellungnahme angekündigt, konnte der dortige Hof die Anerkennung nur auf bestimmte Zeit hinauszögern und bestätigte diese bereits im Jahre 1723. Abgesehen von Preußen gaben sich die übrigen europäischen Kronen in dieser Frage sehr reserviert und verweigerten Russland die neue Kaiserwürde bis weit über den Tod Peters I. hinaus.445 Für Kinsky war daher vor allem die Haltung des preußischen Gesandten in St. Pe442 Vgl. Extrakt über den russischen Kaisertitel v. 28. März 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 174v–177v. Vgl. dazu auch: Solov’ev, Istorija, Bd. IX, 425–426; Madariaga, Tsar, 372–374; Wittram, Peter, 472–473. Vgl. dazu ausführlich die Antwortschreiben der einzelnen Gesandten an den auswärtigen Höfen: Stellungnahme von Martel aus Polen v. 28. Dezember 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 381r–383r sowie Stellungnahme von Martel aus Polen v. 7. Januar 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 27r–29v ; Stellungnahme von Metsch aus Braunschweig v. 2. Januar 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 1r–7v ; Stellungnahme von Pentenriedter aus Frankreich v. 5 Januar 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 19r–24v ; Stellungnahme von Fridag aus Schweden v. 21. Januar 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 70r–71v sowie Stellungnahme von Fridag aus Schweden v. 25. Februar 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 145r–150v. 443 Vgl. RGADA, f. 197, op. 1, portfel’ 8 1696–1725, d. 57, 2v–8r. 444 Vgl. Extrakt über den russischen Kaisertitel v. 28. März 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 177v–178v. 445 Vgl. Solov’ev, Istorija, Bd. IX, 423; Wittram, Peter, 468.
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tersburg besonders wichtig, die er noch im Dezember 1721 in einem ausführlichen Bericht für seinen Hof zusammenfasste. Dieser diente als Informationsbasis für das erwähnte Extrakt. So hielt er darin fest, dass Mardefeld dem Zaren in einer Audienz zugesichert habe, dass der preußische König den Titel bestätigen würde, worauf Peter seine Freude über diese erste offizielle Anerkennung zum Ausdruck gebracht habe. In einem darauffolgenden Gespräch mit dem preußischen Minister hielt Kinsky fest, dass er sich über die Haltung dieses Reichsstandes sehr wundere, da der Kaiser diesbezüglich nichts ohne Zustimmung des Reiches unternehmen würde. Mardefeld entgegnete darauf, dass sein Souverän lediglich in seiner Funktion als »rex borussiae« zugestimmt habe und dies vor allem deshalb getan habe, um beim für Preußen so wichtigen Zaren keinen Verdruss hervorzurufen.446 Das war jedoch offensichtlich nur die halbe Wahrheit. So hatte sich der angesprochene »rex borussiae« 1701 selbst zum König in Preußen krönen lassen und verkörperte damit den Kurfürsten von Brandenburg sowie den König des außerhalb des Heiligen Römischen Reiches liegenden Preußen in einer Person. Dieser Krönung gingen lange diplomatische Verhandlungen mit dem Kaiser voraus.447 Kinsky hält in seinem Bericht über die Audienz Mardefelds bei Peter fest, dass dieser die schnelle Anerkennung auch als Entgegenkommen für die sofortige Bestätigung des preußischen Königstitels durch den russischen Zaren bezeichnete, da »[…] auch der Czar dem verstorbenen König in Preussen seinem herrn vattern für einen König in Preussen auf die erste requisition ohnbedencklich erkennet hetten.«448 Hinter dieser Entscheidung steckten also zweifelsohne auch unterschiedliche Positionen hinsichtlich der Vormachtstellung des Kaisers innerhalb der christlichen Herrscher, die vor allem durch den konfessionellen Unterschied zwischen den protestantischen Souveränen und dem katholischen Kaiser in Wien hervorgerufen wurden. Mardefeld hielt in seinem Bericht hinsichtlich dieser umstrittenen Frage relativ nüchtern fest: »E[uer] K[öni]gl[iche] Maj[estät] können versichert sein, dass die prompte recognition des Zaren zum Kaiser allhier allen ersinnlichen effect gethan und des russischen Kaisers Majestät aufs höchste charmieret. Der kaiserliche Gesandte hat hieraus sehr offenherzig mit mir gesprochen und die Ursache deduciret, woraus der Kaisers solches zu thun auf keine Weise im Stande sei, absonderlich da er ein Wahlkaiser und also ohne 446 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 19. Dezember 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 374v–375v. 447 Vgl. dazu: Heide Barmeyer (Hg.), Die preußische Rangerhöhung und Königskrönung 1701 in deutscher und europäischer Sicht, Frankfurt am Main-Wien 2002; Johannes Kunisch (Hg.), Dreihundert Jahre Preußische Königskrönung: eine Tagungsdokumentation, Berlin 2002. 448 Bericht Kinskys an Karl VI. v. 19. Dezember 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 374r. Vgl. dazu auch: Wittram, Peter, 469–470.
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allgemeinen Reichsschluss hierunter sich und seinen Successoren nichts vergeben könnte.«449
Abgesehen von Preußen schien die Position der übrigen europäischen Kronen hinsichtlich der Anerkennung des Titels eher zurückhaltend zu sein. Das habe den russischen Hof dazu gebracht, insgesamt nichts forcieren und Kinsky nach seiner Ankunft in Moskau nicht weiter unter Druck setzen zu wollen, wie Wittram in seinem Werk feststellte.450 Diese Feststellung legt die Vermutung nahe, dass die unbewusste Nichtbeachtung der auf dem Weg nach Russland befindlichen Instruktionen durch Kinsky auch den außenpolitischen Verantwortlichen Wiens gelegen gekommen sein muss. Ein abschließender Blick auf die Ereignisse unmittelbar nach seiner Ankunft in Moskau soll weiteren Aufschluss über die Folgen seines eigenständigen Handelns liefern. Nachdem Kinsky Anfang Jänner 1722 nach einer knapp einwöchigen, strapaziösen und seinem Gesundheitszustand zusetzenden Reise in Moskau angekommen war, hatte er immer noch keine Nachricht von seinem Hofe. Er berichtete daher über den kurz zuvor stattgefundenen Einzug des Zaren in der Stadt. Der vom Zaren selbst in der Uniform eines Obersten angeführte Triumphzug der Garderegimenter habe außerhalb der Stadt begonnen und sei weiter über vier Stationen, an denen Triumphbögen aufgebaut gewesen wären, bis zur »Wohnung« des Herrschers verlaufen. Nachdem der Zar sich auf dem Weg dorthin bei jedem Triumphbogen in etwa eine Stunde aufgehalten habe, fand beim Letzten ein bis in die späte Nacht dauerndes Fest statt. Dort habe sich der Zar nach altem russischem Brauch gemeinsam mit einer 100-köpfigen Suite bei den örtlichen Bojaren und Kaufleuten durch »Trinken divertieret«. Wichtig schien für Kinsky auch die am Ende des Berichts angefügte Information zu sein, dass außer den geschilderten Ereignissen nichts »erheb- und nachdenkliches« geschehen sei, womit er natürlich auf mögliche Huldigungen Peters als »Imperator« anspielte.451 Das dürfte auch der Grund dafür gewesen sein, warum etwas mehr als einen Monat nach der Berichterstattung Kinskys auch ein Artikel über den Einzug des Zaren im »Wienerischen Diarium« veröffentlicht wurde. Dafür diente die Relation des kaiserlichen Gesandten jedoch sicherlich nicht als Informationsquelle, da sich diese in der Darstellung der Details von jener des »Wienerischen Diariums« ziemlich unterscheidet. Die Herausgeber der Zeitung
449 Bericht Mardefelds an Friedrich Wilhelm I. v. 15. Januar 1722, A. A. Polovcov (Hg.), SIRIO, Tom 15, Sankt-Peterburg 1875, 199–200. 450 Vgl. Wittram, Peter, 473. 451 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 8. Januar 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 36r–37v.
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dürften also nicht die Möglichkeit gehabt haben, auf den Bericht Kinskys als Quelle zurückzugreifen.452 Unmittelbar nach Verschriftlichung seines Berichts dürften Kinsky die Instruktionen des Wiener Hofes erreicht haben, was aus einem datumslosen Schreiben an Reichsvizekanzler Schönborn hervorgeht, in dem er seine Mitreise nach Moskau rechtfertigte und dabei gleichzeitig auf den soeben angesprochenen Bericht über den Einzug des Zaren Bezug nimmt. Zunächst rechtfertigt er seine Entscheidung abermals damit, dass alle anderen ausländischen Minister ebenso wie der Herzog von Holstein bereits abgegangen gewesen seien. Er habe deshalb keinen Verdacht erregen wollen, wodurch der »russische Hof« ebenso wie »die ganze Welt« etwa Näheres über »sein präferiertes Commodum« hätten erfahren können. Außerdem hätten logistische Gründe die Abreise notwendig gemacht. So hätten zu einem späteren Zeitpunkt keine Postpferde mehr zur Verfügung gestanden.453 Diese organisatorische Begründung war offensichtlich keineswegs an den Haaren herbeigezogen. So erfahren wir hinsichtlich der Ankunft des russischen Hofes in Moskau aus dem sich auf Hamburger Quellen stützenden »Wienerischen Diarium«, dass abgesehen vom holländischen Residenten »[…] die übrige Ausländische Minister hätte aus Mangel der Pferden, deren eine große Anzahl zu dieser Reise vonnöthen, noch nicht folgen können.«454 Besonders interessant sind vor allem Kinskys verschlüsselte und damit geheime Erläuterungen über die weiteren Kommunikationsstrategien. So sei seine Mitreise besser für den kaiserlichen Dienst gewesen als eine sofortiger Abbruch des »Commersiums« mit dem Zaren. Ein ungewolltes Beiwohnen Kinskys bei »öffentlichen Ostentationen« wäre vorerst nicht zu befürchten, da derartige Veranstaltungen derzeit nicht geplant seien und auch der Einzug des Zaren scheinbar sehr »simpliciter« ausgefallen wäre. Allerdings könne er zum derzeitigen Zeitpunkt nicht abschätzen, wie der Zar und seine Minister auf die Anrede »Zar« im Gespräch mit ihm oder anderen Gesandten reagieren würden.455 Er bediene sich vorerst des Majestätstitels, wobei er bei den gemeinsamen Essen mit den übrigen Diplomaten seine Position durchklingen lassen habe, indem er sich als schlechter Trinker ausgegeben und daher vorgeschlagen habe, »[…] daß man in einem deckel glas tutta la padronanza zusammentrincken thuet.«456 Damit blieb es ihm offensichtlich erspart, coram publico auf die Ge452 Vgl. Wienerisches Diarium v. 11. Februar 1722, Nr. 12, [6]. 453 Vgl. Bericht Kinskys an Schönborn o.D. 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 111r–111v. 454 Wienerisches Diarium v. 11. Februar 1722, Nr. 12, [5]. 455 Vgl. Bericht Kinskys an Schönborn o.D. 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 111v–112v. 456 Bericht Kinskys an Schönborn o.D. 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 112v.
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sundheit des russischen Herrschers trinken und dessen neuen Titel gebrauchen zu müssen. In weiterer Folge schlug er dem Reichsvizekanzler vor, nochmals in eine Konferenz mit den russischen Ministern über den Schlesienhandel zu gehen und die Sache zu Ende zu bringen oder zumindest Sicherheit über einen möglichen Unwillen von russischer Seite zu gewinnen. Er werde dabei die »Freundschaft« des Kaisers und dessen Bündniswillen zum Ausdruck bringen, jedoch keineswegs seine Instruktionen überschreiten. Insgesamt wolle er dabei die Erhaltung des derzeitigen Friedens als beidseitiges Interesse hervorheben und im Falle einer Beanspruchung des Titels eine mögliche »Verfeindschaft« der beiden Höfe androhen. Sollten die russischen Minister auf eine Antwort bestehen, so werde er diese damit vertrösten, dass der russische Gesandte Lanczinski bei Zeiten eine Antwort auf die Frage bekommen werde, die er selbst gestellt hatte. Kinsky war sich jedoch ziemlich sicher, dass der russische Hof derzeit nicht darauf bestehen würde, wenngleich er die bevorstehenden Verhandlungen abwarten wollte. Im Falle eines Beharrens von russischer Seite, wolle er Hochholzer instruktionsgemäß zurücklassen, da dieser ohnehin nicht allzu oft in direkten Kontakt mit dem Zaren kommen würde.457 Kinsky sollte mit seiner Einschätzung vorerst Recht behalten. So ging er Ende Jänner 1722 im Rahmen der Gegenvisite Sˇafirovs in die erste Besprechung mit dem Vizekanzler. Dabei versuchte er, vor allem gegen Campredon zu intrigieren. Sˇafirov habe Kinsky zunächst darauf angesprochen, dass dieser »einige Ombrage« daran nehmen würde, dass man den französischen Gesandten ebenso »tractieren« würde wie Kinsky selbst, wobei er abermals betonte, dass mit Frankreich bislang noch nichts ausgehandelt worden sei. Kinsky habe daraufhin ausführlich erklärt, dass Russland durch Frankreich zu keinem »Vorteil« gelangen würde und Letzteres selbst »die Früchte abzulesen gedenke«, während die »aufrichtige Freundschaft« zwischen ihren beiden Herrschern sehr »vorteilhaft« sei. Darüber hinaus habe er betont, wie glücklich er sich darüber schätzen würde, wenn durch ihre »Kommunikation« ein »Foedus« zustande komme. In gewissen »Sachen und Neuigkeiten«, die der Kaiser als erwählter »römischer Kaiser« nicht akzeptieren könne, gleichzeitig jedoch auch nicht »substantialiter« seien, solle man sich daher nicht länger aufhalten. Sˇafirov habe auf diese Anspielung auf den Titel erstaunlich »manierlich« reagiert und ihn erst gar nicht bezüglich der Notifikation des Kaisertitels gefragt.458 Der angesprochene französische Hauptkonkurrent intrigierte zum selben Zeitpunkt gegen Kinsky und stellte gleichzeitig auch Vermutungen über die 457 Vgl. Bericht Kinskys an Schönborn o.D. 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 112v–113v. 458 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 30. Januar 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 97r–98r.
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weitere Vorgangsweise des Kaiserhofes an. Zunächst erfahren wir aus den Berichten Campredons, dass dieser unmittelbar nach der Notifikation des russischen »Imperatorentitels« durch Sˇafirov mehrfach in Kontakt mit Mardefeld stand, welcher um jeden Preis mehr über die Haltung Frankreichs in der Titelfrage sowie über ein mögliches Bündnis mit dem russischen Hof erfahren wollte. Der französische Gesandte vermutete diesbezüglich völlig zu Recht, dass Mardefeld als Vertrauter Kinskys in dieser Sache vor allem als Informant für den kaiserlichen Vertreter diente.459 Das bestätigt sich etwas später in den Weisungen des preußischen Gesandten, der von seinem Hof Anfang 1722 dazu angehalten wurde, die Arbeit Kinskys gegen ein Bündnis zwischen Frankreich und Russland zu animieren und gleichzeitig selbst alles zu einer Verhinderung einer solchen Verbindung zu unternehmen.460 Campredon seinerseits versuchte Ende des Jahres 1721 das Zweiergespann zu schwächen, indem er ihren engen Vertrauten Jaguzˇinskij für sich gewinnen wollte. Hintergrund dieses Vorgehens war sein Wissen über das enge Verhältnis zwischen Peter I. und Jaguzˇinskij, weshalb der französische Gesandte diesen bei gemeinsamen Veranstaltungen erstmals vorsichtig ansprach und Gerüchte über geheime Verhandlungen zwischen ihm und Ostermann aus der Welt zu schaffen versuchte.461 Im Zuge der Übersiedlung des Hofs nach Moskau brachte die französische Diplomatie auch mehr über die Haltung des kaiserlichen Gesandten und seines Hofes in der Titelfrage in Erfahrung, wobei sie sowohl in Petersburg durch La Vie, als auch in Moskau durch Campredon an entsprechende Informationen geriet. Campredon erfuhr von der Position des kaiserlichen Hofes zunächst durch den holsteinischen Gesandten und berichtete darüber, dass Kinsky den Auftrag habe, die ablehnende Haltung des Kaisers unter Betonung der prinzipiell »freundschaftlichen Beziehungen« seines Souveräns mit dem russischen Herrscher an dessen Hof zu kommunizieren.462 La Vie brachte etwas später in Erfahrung, dass der Kaiser Kinsky abberufen wolle, welcher ursprünglich den Auftrag gehabt habe, russische Hilfstruppen für den Wiener Hof auszuhandeln. Als Grund für das Scheitern der Verhandlungen machte er die gute Arbeit
459 Vgl. Bericht Campredons an Dubois v. 21. November 1721, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 40, Sankt-Peterburg 1884, 344–345; Bericht Campredons an Dubois v. 24. November 1721, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 40, Sankt-Peterburg 1884, 366–367. 460 Vgl. Bericht Friedrich Wilhelms I. an Mardefeld v. 13. Januar 1722, A. A. Polovcov (Hg.), SIRIO, Tom 15, Sankt-Peterburg 1875, 198–199. 461 Vgl. Bericht Campredons an Dubois v. 1. Dezember 1721, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 40, Sankt-Peterburg 1884, 370–371; Bericht Campredons an Dubois v. 17. Dezember 1721, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 40, Sankt-Peterburg 1884, 390–391. 462 Vgl. Bericht Campredons an Dubois v. 15./16. Jänner 1722, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 49, Sankt-Peterburg 1885, 19.
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Campredons verantwortlich.463 Letzterer, der zu diesem Zeitpunkt offensichtlich ebensolche Gerüchte gehört hatte, habe hingegen von Kinsky selbst erfahren, dass dieser bald nach Wien zurückbeordert werden solle.464 So weit ein kurzer Überblick über die Gerüchteküche der internationalen Diplomatie, die sich jedoch keineswegs alleine für die Haltung des Kaisers und seines Vertreters in der russischen Titelfrage interessierte. So spekulierten auch die zeitgenössischen Tageszeitungen ebenso wie die politischen Zeitschriften über die Hintergründe des Verhaltens der kaiserlichen Diplomatie in dieser Sache. Es ist besonders bemerkenswert, dass sogar im von oben gesteuerten »Wienerischen Diarium« Gerüchte über eine mögliche Abreise Kinskys gestreut wurden. Und das zu einem Zeitpunkt, als der kaiserliche Minister soeben in Moskau angekommen war und wahrscheinlich gerade erst seine weiteren Weisungen erhalten hatte. Es ist also zu vermuten, dass die Herausgeber der Hofzeitung in dieser Sache auf andere Informationsquellen zurückgriffen als jene, die ihnen vom kaiserlichen Hof zur Verfügung gestellt wurden. So veröffentlichte das »Wienerische Diarium« Anfang Jänner 1722 einen Bericht aus Petersburg vom 1. Dezember des Vorjahres, in dem es heißt: »Den 27. November hatte der Herr Kinski, kays[erlicher] Minister bey Ihrer Czarischen Majestät seine Abschieds-Audientz, und stehet bereit erster Tagen nacher Wien zurück zu kehren; worin aber desselben Verrichtungen bestanden, kann man nicht erfahren.«465 Gerade der letzte Zusatz lässt darauf schließen, dass diese Information der Hofzeitung von außen zugespielt wurde. Ansonsten finden wir jedoch keine weiteren Spekulationen über das Verhalten der kaiserlichen Diplomatie hinsichtlich der Titelfrage in der von oben gesteuerten Presse. Die umwälzenden Ereignisse und ihre Hintergründe wurden hingegen in der »Europäischen Fama« retrospektiv ausführlich und eifrig kommentiert, ohne dass sich die Autoren dabei wirklich ein Blatt vor den Mund genommen hätten. Diese Zeitschrift bezeichnete die Veränderungen im Zarenreich zunächst als »seltsam« und betonte das »absonderliche« Glück des Herrschers. Damit wurden einerseits die Person des Zaren selbst sowie andererseits seine politischmilitärischen Erfolge angesprochen. So sei es als ungewohnt zu betrachten, dass ein Zar, dessen Vorfahren mit Ausnahme der Nachbarstaaten Polen und Schweden nichts von Europa wissen wollten, sein Reich verließ, um die »Verfassung« anderer Staaten zu sehen. Darauf folgt ein weiter argumentativer Sprung auf die unmittelbar vorangegangenen aktuellen Ereignisse. So hätte sich Russland durch die im Frieden mit Schweden erworbenen Vorteile besonders 463 Vgl. Bericht La Vies an Dubois v. 6. Februar 1722, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 49, Sankt-Peterburg 1885, 37. 464 Vgl. Bericht Campredons an Dubois v. 9. Februar 1722, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 49, Sankt-Peterburg 1885, 39. 465 Wienerisches Diarium v. 10. Januar 1722, Nr. 3, [6].
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»fröhlich erwiesen« und habe diese Freude im Rahmen der prächtigen Feste seiner Gesandten zum Ausdruck gebracht. Dieser Kommentar zeigt, dass die gewünschte Botschaft der Feierlichkeiten, wie sie an anderer Stelle bezüglich der Feste angesprochen wurde, bei den politischen Beobachtern angekommen war. Die Freude sei auch bei den Feierlichkeiten in St. Petersburg zu erkennen gewesen, wobei sich der Senat für die »Mühe«, die »väterliche Fürsorge« zum »Wohl des Landes« sowie die »Machtvermehrung« beim Zaren bedankte, indem er diesem den neuen Titel zulegte. Die weiteren Beschreibungen der Reaktionen sprechen Bände über die Qualität der Kommentare in der »Europäischen Fama«. Mit merkbarer Ironie kommen die Verfasser auf die scheinbare Verwunderung des Zaren hinsichtlich der Ereignisse und stellen sogar den Vergleich mit jener Karls des Großen bei seiner Krönung an. In diesem Ton fortfahrend wird schließlich festgestellt, dass sich Peter schließlich nach einer Unterredung mit den Senatsmitgliedern sowie nachfolgendem heftigem »Anhalten« seiner Räte dazu überreden ließ, der Bitte seines Volkes zu folgen und den Titel anzunehmen.466 Dem folgt eine wortwörtliche Wiedergabe der bereits zitierten Rede Golovkins. Der Kommentar der »Europäischen Fama« auf diese Rede bestätigt die allgemeinen Leitlinien der Russlandberichterstattung, wie sie bereits im vorangegangenen Teil generell charakterisiert wurden. Er wurde auf der großen Frage der Rechtmäßigkeit der von Peter angenommenen drei Titel »der Große«, »Vater des Vaterlandes« und »Imperator« aufgehängt. So seien die Worte Golovkins auf den ersten Blick übertrieben schmeichelhaft, wobei er sich bei genauerer Betrachtung der Person Peters tatsächlich keiner »Hyperbolen« bedient habe. Im Vergleich mit anderen Personen, die den Beinamen »der Große« trugen, habe er sich diesen zweifelsohne verdient. Seine große Tat bestehe jedoch nicht in den Taten an sich, die der russische Herrscher geleistet hat, sondern vielmehr in der Tatsache, unter welchen Voraussetzungen er dies vollbracht hat. So hätte er das mit einem Volk bewerkstelligt, das zu Anfang seiner Regierung noch »sittenlos« gewesen sei. Der Topos von Peter als Bezähmer der barbarischen Russen scheint hier deutlich durch und wird in der Begründung des Titels »Vater des Vaterlandes« noch deutlicher. Dieser stehe ihm schon allein deswegen zu, da er für seine Untertanen »Heldentaten« begangen und »Ruhm« und »Machterweiterung« erworben hätte. Diese Errungenschaften brächten den Untertanen selbst vielfach keinen großen Nutzen. Nicht jedoch im Falle Russlands, wo Peter sein Volk dadurch sozusagen aus der Wildheit in die Zivilisiertheit geführt habe. So sei ihm auch dieses Prädikat nicht streitig zu machen. Die Annahme des Kaisertitels hingegen habe ihm »freilich« viel »Widerspruch« 466 Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 258 (1722), 529–533.
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gebracht. So sei es prinzipiell in Ordnung, dass er sich diesen Titel von seinen Untertanen geben lasse, da es kein Mensch verwehren könne, dass er sich gegenüber seinem Volk dieses Titels bediene.467 »Nur können Sie es fremden Höfen nicht zumuthen«, so die Autoren in Hinblick auf die zarische Majestät weiter, »daß Sie Ihnen diese gantz besondere Würde zum Nachtheil eines Dritten, der dieselbe seit langer Zeit in Europa gleichsam exclusiv besessen, zustehen sollen.«468 Damit war natürlich der Kaiser angesprochen, auf dessen Reaktion nach Zusammenfassung der Ereignisse rund um die Anerkennung, die Forderung Sˇafirovs bei den fremden Gesandten sowie die Reaktion anderer Höfe detailliert eingegangen wurde. So könne sich, wie die Geschichte des preußischen Königs zeige, niemand einen Hoheitstitel ohne die Zustimmung des Kaisers beilegen. Aus diesem Grund sei es nicht verwunderlich, dass sich der Zar allen voran um den »Beifall« des Kaisers in dieser Sache bemüht habe. Der die Anfrage bezüglich des Titels überbringende Lanczinski habe von diesem jedoch nur eine »dunkle Antwort« bekommen und habe in weiterer Folge auch vom Vizekanzler Schönborn keine näheren Erklärungen erhalten.469 So weit ein kurzer Blick auf den offensichtlich zu Gunsten der kaiserlichen Haltung ausfallenden Kommentar der »Europäischen Fama«, deren darauffolgende Erläuterungen den weiteren Ereignissen des Jahres 1722 vorgreifen würden. Aus diesem Grund sollen diese Darstellungen mit jenen der unterschiedlichen Diplomaten über den weiteren Verlauf der Dinge im nächsten Abschnitt zusammengeführt werden. So haben die Ausführungen dieses Kapitels gezeigt, dass die Frage des »russischen Kaisertitels« zweifelsohne ein Politikum gesamteuropäischen Ausmaßes darstellte. Dessen weitreichende Folgen auf die zwischenstaatlichen Beziehungen werden vor allem aus den weiteren Ereignissen der Gesandtschaft Kinskys deutlich.
2.3.2. Das schwere Ringen um den Erhalt der bilateralen Beziehungen auf höchster Ebene – Kommunikationsmechanismen in Zeiten der einsetzenden diplomatischen Verspannungen Beide Höfe setzten vorerst also auf die Aufschiebung der Konflikte verheißenden Frage und gingen sozusagen zur Tagesordnung über. Auf dieser standen zu467 Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 258 (1722), 533–538. 468 Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 258 (1722), 538. 469 Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 258 (1722), 538–544.
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nächst große höfische Festivitäten. Im Februar 1722 berichtete Kinsky über das nunmehr auch in Moskau zelebrierte Friedensfest, das nach Angaben des Gesandten ähnlich wie jenes in St. Petersburg verlief. So habe der Zar alle in- und ausländischen Minister »traktiert« und bei dieser Gelegenheit auch einige »Promotionen« durchgeführt. So hätte der Herzog von Holstein im Rahmen des Fests den Andreasorden bekommen, während Prinzessin Elisabeth als Zeichen der einsetzenden Pubertät die Flügel vom Kleid abgeschnitten worden seien.470 Anlässlich der Feierlichkeiten habe der russische Herrscher allen ausländischen Ministern eine aus sibirischem Gold geprägte und eine russische Inschrift tragende Gedenkmünze überreicht, »wovon ihro May[estät] der Czar eine extra große und 6 loth schwere mir selbsten verehret hat, denen ausl[ändischen] auch frembden ministris aber, eine weit kleinere gegeben.«471 Kinsky wollte seinem Souverän damit offensichtlich vermitteln, welche Form der Wertschätzung der russische Hof bislang an den Tag legte. Doch da der König von Polen seine Entscheidung in der Titelfrage von jener des Reiches bzw. des Kaisers abhängig mache, so Kinsky in chiffrierten Lettern weiter, befürchtete der Gesandte, dass das bisherige »Tractament«, womit man ihn gegenüber anderen »distinguiert« hätte, sich in eine »Kaltsinnigkeit verwandeln« könnte. Grund dafür sei die mögliche Vorbildwirkung des Kaisers in der Titelfrage auf andere Herrscher.472 Ein Blick auf andere Darstellungen über dieses Fest macht einmal mehr deutlich, wie wichtig die Heranziehung von Vergleichsdarstellungen zu den Gesandtschaftsberichten ist. So finden wir etwa im Bericht Campredons, der das Fest insgesamt sehr ähnlich wie Kinsky beschreibt, kein Wort über die »extra große« Goldmünze für den kaiserlichen Gesandten.473 Das ließe sich ja noch damit erklären, dass der französische Vertreter in direkter Konkurrenz mit dem kaiserlichen Botschafter stand und damit gegenüber seinem Herrn keine Niederlage gegenüber demselben eingestehen wollte. Doch auch im »Wienerischen Diarium« als Hofgazette des Kaiserhofes, das seinen Artikel über das Fest auf Hamburger Berichte stützte, ebenso wie in der »Europäischen Fama« finden wir keine Erwähnung der scheinbaren Distinktion Kinskys.474 Daraus lässt sich keineswegs erschließen, dass der kaiserliche Gesandte in Wahrheit keine größere Goldmünze als alle anderen Minister erhalten hat. Das Fehlen dieser Informa470 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 9. Februar 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 129v. 471 Bericht Kinskys an Karl VI. v. 9. Februar 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 129v. 472 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 9. Februar 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 128r–130v. 473 Vgl. Bericht Campredons an Dubois v. 9. Februar 1722, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 49, Sankt-Peterburg 1885, 44–45. 474 Vgl. Wienerisches Diarium v. 21. März 1722, Nr. 23, [3]; Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 258 (1722), 553–554.
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tionen in den Vergleichsdarstellungen weist jedoch darauf hin, dass diese vergleichsweise größere Münze von den übrigen Beobachtern nicht als solche wahrgenommen wurde und damit nicht als besondere Distinktion für Kinsky registriert wurde. Die mit diesem performativen Akt intendierte Botschaft wurde allem Anschein nach nur von ihm selber so aufgenommen, was durch dessen Wirkung auf die übrigen Augenzeugen unter Beweis gestellt wird. So kann diese Episode wohl darunter eingeordnet werden, was Heiko Droste hinsichtlich der Funktion von Gesandtschaftsberichten als Mittel der Selbstdarstellung bezeichnete.475 Kinsky wollte damit offensichtlich seine positive Reputation am russischen Hof betonen, die – seiner weiteren Argumentation folgend – durch die Titelfrage bzw. die Haltung des Kaisers in dieser Sache in Mitleidenschaft gezogen werden könnte. Demzufolge wäre Kinsky selbst nicht als der Schuldige für eine eventuelle Verschlechterung der Beziehungen fest zu machen. Abgesehen davon machte Kinsky in seinem Bericht auf einen weiteren wichtigen Umstand aufmerksam. So hätte sich Sˇafirov zuvor bei ihm dafür entschuldigt, dass die letzte Post auf dem Weg von St. Petersburg nach Moskau von einem betrunkenen Kurier verloren worden war. Nichtsdestotrotz habe er in Erfahrung bringen können, dass sich darunter auch zwei kaiserliche Reskripte befunden hätten. Hinsichtlich der Richtigkeit der Angaben des russischen Vizekanzlers wollte Kinsky in seinem Bericht jedoch keine Spekulationen anstellen.476 Prinzipiell wäre dem russischen Hof ein bewusstes Verschwindenlassen jener Briefe, in denen der Kaiser seine Position in der Titelfrage kundgab, sicherlich von großem Nutzen gewesen. Außerdem scheinen Sˇafirovs Aussagen vor allem in Anbetracht der Tatsache verdächtig, dass wichtige Post zur Zeit Peters I. stets von Gardeoffizieren transportiert wurde, um nicht auf die Zufälligkeiten der regulären Post angewiesen zu sein.477 Diese Argumente sprechen also für ein bewusstes Abfangen der kaiserlichen Post von russischer Seite. Der Wahrheitsgehalt einer derartigen Vermutung kann anhand der vorhandenen Materialien jedoch nicht bestätigt werden. Ein späterer Bericht aus dem »Wienerischen Diarium« lässt überdies darauf schließen, dass der Postweg zwischen St. Petersburg und Moskau zu diesem Zeitpunkt noch nicht gut erschlossen war : »Petersburg 22. Martij. […] Man ist beschäftigt, zwischen diesem Ort, und der Stadt Moscau eine ordinaire hin und her gehende Post anzurichten, welche den
475 Vgl. Droste, Briefe, 247–249. 476 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 9. Februar 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 129r–129v. Vgl. dazu auch: Höfler, Fragmente, 434. 477 Vgl. dazu genauer: JU.N. Smirnov, Osobennosti social’nogo sostava i komplektovanija russkoj gvardii v pervoj polovine XVIII veka, in: Klassy i soslovija Rossii v period absolutizma, Kujbysˇev 1989, 87–107.
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Weg über Novgorod, Wellyky, und Olonitz nehmen soll [….]«478 Diese Notiz deutet gleichzeitig darauf hin, dass die Einrichtung eines derartigen Postweges vor allem mit der Übersiedlung des Hofes mitsamt der vielen ausländischen Diplomaten notwendig wurde. Der Verlust der kaiserlichen Post könnte vor der Einrichtung dieser Postroute also tatsächlich auch logistische Gründe gehabt haben. Während Kinsky in Moskau weiterhin auf seine Instruktionen wartete, gingen die Festivitäten am russischen Hof weiter. Sein zusammenfassender Bericht über die Maskeraden anlässlich des Faschings bzw. Karnevals zeigt, dass dem Gesandten dabei keineswegs die befürchtete »Kaltsinnigkeit« von Seiten des russischen Hofes entgegengebracht wurde. So sei er von den russischen Ministern »recht wohl angesehen« und gegenüber den anderen ausländischen Vertretern »vorzüglich distinguieret« worden. Außerdem habe er dabei die Gelegenheit gefunden, die Frage des Schlesienhandels anzusprechen. Ein scheinbar günstiger Zeitpunkt für diese Angelegenheit, da der Zar für fünf Wochen nach Olonec abgehen wollte. Dabei hätten ihm die russischen Minister nicht nur versichert, diesbezüglich weitere Informationen einholen zu wollen, sondern sie hätten auch anklingen lassen, dass der Zar auf ein Defensivbündnis mit dem Kaiser gegen die Pforte hoffe.479 Dieses Vorhaben dürfte wohl auch der Grund für die bevorzugte Behandlung des kaiserlichen Gesandten gewesen sein. Diese war dem kaiserlichen Gesandten jedoch nicht ganz geheuer, da er offensichtlich stets die unausgesprochene Streitfrage um den Titel im Hinterkopf hatte. So habe er den russischen Ministern kurz zuvor die kompromisslose Haltung des Kaisers in dieser Sache deutlich vermittelt, weshalb »sich demnach bey etwa künftiger negotiation schon bald zeigen [wird], wie weit oder ob diese vermuthende abschlägige antwort auch zu interrumpirung des mit E[uer] Kay[serlichen] May[estät] gepflogene commercii und freündschaft ansehen werden.«480 Die von Kinsky angesprochene bevorzugte Behandlung blieb dieses Mal von anderen politischen Beobachtern auch nicht unbemerkt. So wissen wir aus dem Faschings-Bericht Campredons zum Beispiel, dass der kaiserliche Gesandte als einziger ausländischer Vertreter gemeinsam mit dem Zaren, der Zarin und ihrer Suite zu einer Maskerade beim Fürsten Mensˇikov eingeladen wurde.481 Abgesehen von den politischen Ereignissen im Rahmen der Festivitäten stellen die Beschreibungen der Ereignisse in der zeitgenössischen Presse einen interes478 Wienerisches Diarium v. 2. Mai 1722, Nr. 35, [4–5]. 479 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 16. Februar 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 137r–138r. 480 Bericht Kinskys an Karl VI. v. 13. Februar 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 137r–138r. 481 Vgl. Bericht Campredons an Dubois v. 16. Februar 1722, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 49, Sankt-Peterburg 1885, 49–51.
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santen Gegenstand in Hinblick auf die Wahrnehmung und Bewertung der russischen Hofkultur in der breiten Öffentlichkeit dar. Im »Wienerischen Diarium«, das sich in seinen Beschreibungen auch in diesem Fall auf Hamburger Quellen stützte, finden wir einen sehr faktenorientierten Bericht, in dem man die Belustigungen jedoch als »curios« und als in Russland noch »niemals gesehene« bezeichnete, die bei den Zuschauern »desto größere Verwunderung verursacht« hätten. Die Einzigartigkeit bestand in der Aufstellung einer aus Schlitten zusammengestellten »See-Armee«, die von einer Fregatte des Zaren angeführt wurde und an der auch die fremden Gesandten als Priester verkleidet mit einer eigenen »Chaloupe« teilnahmen.482 Während es das »Wienerische Diarium« bei einer genauen Auflistung der Zusammenstellung der Schlitten-Armada beließ, nutzte die »Europäische Fama« diese Ereignisse für wesentlich weiter reichende Beurteilungen. Darin wird nicht nur der bereits angesprochene Unterschied in der Berichterstattung der beiden Druckwerke deutlich, sondern es kommen auch die weiter oben skizzierten Leitlinien der Russlandberichterstattung in der historisch-politischen Zeitschrift zum Vorschein. Die »Europäische Fama«, welche ihren Kommentar offensichtlich auf denselben Informationen wie das »Wienerische Diarium« aufbaute, wollte dem Leser zunächst vor Augen führen, was passiert, wenn sich »die Russen« europäischer Traditionen bedienen und diese nach ihrem Geschmack neu ausschmücken. So würden diese Erfindungen von seltsamen Kleidern und Masken und anderen »Lächerlichkeiten« nicht nur das Gelächter der übrigen europäischen Völker hervorrufen, sondern auch die Russen vor den Kopf stoßen, da sie sich dadurch eben dem Vorwurf der Schaffung von »unnützen Erfindungen« ausgesetzt sehen müssten. So solle der Zar selbst der Ideengeber dieser Maskerade gewesen sein und habe damit das alte und das neue Russland gegenüberstellen wollen. Sie stießen sich an der Kostümwahl vor allem deswegen, da unter den Teilnehmern neben den Schweinen, Bären und Hunden – welche als Sinnbilder für das alte Zarenreich gedeutet wurden – auch auf Ochsen reitende Kardinäle zu finden waren. Wenngleich die Kommentatoren abschließend die Möglichkeit der Fehlinterpretation in den Raum stellen, so lassen sie doch ihre diesbezügliche Position deutlich durchblicken.483 So würden sie es »[…] allen denen [überlassen,] die eine grössere Gabe haben, Hieroglyphische Stücke zu erklären, daß sie sich mit denen gegenwärtigen hauptsächlich lustig machen mögen.«484
482 Vgl. Wienerisches Diarium v. 25. April 1722, Nr. 33, [3–4]. 483 Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 258 (1722), 554–559. 484 Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 258 (1722), 559.
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Abb. 5: Beilagen zu Kinskys Berichten vom Februar 1722: Übersetzung der Nachfolgeregelung Peters I. und dazugehörige Eidesformel.485
Noch im selben Monat kam es zu einem umwälzenden Ereignis politischer Natur, das ebenso einen großen Widerhall unter den verschiedenen Beobachtern erlangte. So übermittelte Kinsky Ende Februar die Übersetzung eines Manifests von Peter I. nach Wien, in dem dieser eine neue Sukzessionsregelung verlautbarte.486 Drei Tage zuvor hatte er seinem Hof die daraus entnommene Eidesformel für die russischen Untertanen geschickt. Durch deren Ausspruch mussten sie ihren Eid zwar nicht auf einen konkreten Nachfolger ablegen, sondern sich lediglich darauf festlegen, dass sie jeden beliebigen von Peter I. bestimmten Untertanen als Sukzessor anerkennen würden.487 Für den Wiener Hof hatte diese Frage eine große Bedeutung, da der bereits mehrfach erwähnte Neffe des Kaisers, Großfürst Petr Alekseevicˇ, diesbezüglich zu den engen Favoriten zählte. Doch war die Haltung des Zaren in dieser Frage keine Neuigkeit 485 Beilagen zu den Berichten Kinskys an Karl VI. v. 23. und 27. Februar 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 142r sowie 152r. 486 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 27. Februar 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 152r–153r. 487 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 23. Februar 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 142r–143r.
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für den Kaiserhof. So hatten die Konferenzminister bereits in den Instruktionen für Kinsky angeführt, dass der Zar sich an kein Erbrecht binden, sondern in dieser Frage willkürlich vorgehen wolle, indem er einen beliebigen Untertanen bestimme. Aus diesem Grund sei es für den kaiserlichen Gesandten äußerst gefährlich, sich in diese interne Angelegenheit einzumischen. Nichtsdestotrotz solle er alle Informationen über die Nachfolge vorsichtig ausforschen, ohne dabei irgendeinen Verdacht zu erwecken. Sollte er vom Zaren in dieser Frage angesprochen werden, könne er anklingen lassen, wie angenehm dem Kaiser die Nachfolge seines Blutsverwandten sei. Sollte der Zar versterben, ohne sich auf einen Nachfolger festzulegen, solle sich Kinsky im Falle guter Chancen des Großfürsten mit »allem Nachdruck« und »öffentlich« für den Großfürsten einsetzen, nicht jedoch ohne mit dem heimischen Hof Rücksprache gehalten zu haben.488 Diese Variante stand dem kaiserlichen Gesandten nunmehr also nicht mehr offen, weshalb weiterhin äußerste Vorsicht in dieser Frage geboten war. Wie er sich in dieser Frage tatsächlich verhielt wollen wir an anderer Stelle nochmals näher betrachten. Zunächst genügt die Feststellung, dass Kinsky die Aufgabe der unmittelbaren Berichterstattung offensichtlich erfüllt hat. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Bericht Kinskys sowie die Übersetzung der Eidesformel dem »Wienerischen Diarium« als Vorlagen für seinen diesbezüglichen Bericht dienten, da eine inhaltliche Zusammenfassung der deutschsprachigen Kopie des Gelöbnisses mit demselben Datum wie die Relation des Gesandten in der Zeitung abgedruckt wurden. Diese wurden wie so oft in einen nüchternen Faktenbericht über die Ereignisse in Moskau eingebettet.489 In der »Europäischen Fama« hingegen wurde der genaue Wortlaut der Eidesformel mit einem meinungsschwangeren Kommentar umhüllt. Darin wurde die Nachfolgereglung als absolut wichtig und richtig für Russland dargestellt. So entspringe diese dem Wunsch des Zaren, das Land sozusagen vor einem Rückfall in Vorpetrinische Zeiten zu bewahren. Zwar gebe es den Großfürsten Petr Alekseevicˇ als legitimen Nachfolger, dem die Autoren schon allein deshalb gute Regierungsvoraussetzungen zuschrieben, da er einen deutschen Erzieher habe. Er sei jedoch noch ein Kind, weshalb man zum jetzigen Zeitpunkt nicht feststellen könne, ob er die guten Anlagen seines Großvaters besitze, oder doch eher nach seinem Vater, dem in Ungnade gefallenen Zarevicˇ Aleksej, gerate. Insgesamt schrieben sie also Peter I. gewissermaßen als einzigem Russen die Fähigkeit zu, einen geeigneten Sukzessor festzulegen. In weiser Voraussicht solle sich der Zar bereits festgelegt haben, sein Testament jedoch bis zu seinem Ableben versiegelt unter Verschluss halten, um den gewünschten Nachfolger nicht in Gefahr zu 488 Vgl. Gutachten der kaiserlichen Konferenzminister v. 24. April 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 39v–40v. 489 Vgl. Wienerisches Diarium v. 11. April 1722, Nr. 29, [5].
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bringen. Aus den bereits genannten Gründen dürfte darin wohl nicht der Name des Großfürsten aufscheinen, wird in der »Fama« weiter spekuliert. Auch die Chancen des bislang vielfach als Kandidaten gehandelten Aleksandr L’vovicˇ Narysˇkin (1694–1745)490 wurden insofern relativiert, dass Gerüchte über eine Verheiratung desselben mit einer Tochter Peters nicht stimmen würden.491 Es ist bezeichnend, dass bei all diesen Spekulationen die Nachfolge von Peters Frau, Ekaterina Alekseevna, völlig ausgeschlossen wurde. Diese Möglichkeit außer Acht lassend, traf die »Europäische Fama« schließlich folgende vorsichtige Prognose: »Wer das Glück hat, wird auch dißmahl die Braut heimführen, und da kommt es drauf an, wie er sich dabey aufführen, und ob er die von ihm geschöpffte [sic!] Hoffnung erfüllen wird.«492 Nach diesen zukunftsweisenden Ereignissen vom Februar 1722 verharrte Kinsky weitere vier Monate instruktionslos in Moskau, was ihn jedoch nicht daran hinderte, in direkte Gespräche mit den russischen Ministern zu treten. Dabei gab er sich – entsprechend seiner bisherigen und bereits an den Hof übermittelten Verhaltensstrategie – bündnisbereit, wobei er eine mögliche gemeinsame Allianz von der Titelfrage abhängig machte. Da Kinsky jedoch so lange ohne weitere Weisungen ausharren musste, waren diese Unterredungen im Großen und Ganzen von beidseitiger Zurückhaltung gekennzeichnet. Seit dem ungeklärten Verlust der kaiserlichen Reskripte auf dem Weg von St. Petersburg nach Moskau drang kaum Information von seinem Hof zu ihm durch. So ging er in einem Bericht von Anfang April 1722 auf ein von ihm entgegengenommenes Schreiben Schönborns ein, aus dem er die Haltung des Kaisers hinsichtlich seines Verbleibens in Russlands erfahren hatte. Leider wurde dieses Schriftstück offensichtlich nicht mit der übrigen offiziellen Korrespondenz aufbewahrt, weshalb dessen Inhalt nur aus der Zusammenfassung Kinskys erschlossen werden kann. So wollte ihn der Kaiser aus damaliger Sicht zurückberufen, wenngleich er das Zustandekommen eines Defensivbündnisses gerne gesehen hätte. Sollte am russischen Hofe jedoch »kein rechter Ernst zur nahen Verbündnis« bemerkbar und damit eine »leere Verzögerung« in dieser Sache 490 Aleksandr L’vovicˇ Narysˇkin war ein Cousin und enger Angehöriger Peters I. Seine Jugendjahre verbrachte er zum Studium des Seewesens im Ausland. 1724 wurde er zum Direktor der Flotten-Akademie ernannt. 1725 folgte die Ernennung zum Präsidenten des Kammerkollegiums. Seine Feindschaft zu Mensˇikov führte ihn unter der Regierung Peters II. in die Verbannung. Nach dem Regierungsantritt von Anna Ivanovna kehrte er an den Hof zurück und erfüllte das Amt des Kommerzkollegiums-Präsidenten. Vgl. Narysˇkiny, in: Enciklopedicˇeskij Slovar’ Brokgauza i Efrona, Tom XXa: Nakaznyj ataman–Nejasyti, SanktPeterburg 1897, 607–608. 491 Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 258 (1722), 559–567. 492 Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 258 (1722), 567.
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spürbar sein, so möge Kinsky nicht mehr als »unfruchtbare Belastung des kaiserlichen Ärars« in Moskau verbleiben.493 Die Wortwahl des Kaisers bzw. Schönborns lässt darauf schließen, dass die außenpolitischen Verantwortlichen Wiens offensichtlich weniger Geduld gegenüber den Verhandlungspartnern am russischen Hof aufbringen wollten als ihr dortiger Vertreter. Es lässt sich daraus jedoch keine direkte Kritik am Vorgehen Kinskys herauslesen. Die Haltung seiner Vorgesetzten dürfte wohl auch der Grund dafür gewesen sein, dass Kinsky erstmals klare Worte gegenüber den russischen Ministern, insbesondere seinem Vertrauten Jaguzˇinskij, wählte. So hielt er diesem gegenüber fest, dass er sein Ziel der Herstellung einer »vertraulichen guten Freundschaft« erreicht und daher beim Kaiser um die Rückberufung wegen seiner Partikularangelegenheiten angesucht hätte. Sollten der Zar und seine Minister mit ihm über ein Defensivbündnis verhandeln wollen, so möge man alsbald damit beginnen. In diesem Falle würde er seine privaten Angelegenheiten aufgrund des beiden Herrschern daraus erwachsenden »bonu comuni« gerne für einige Monate hintanstellen. Die Ungeduld des kaiserlichen Hofes führte offensichtlich dazu, dass Kinsky einen vorsichtigen Druck auf die russischen Verhandlungspartner ausübte. Gegenüber dem auf Ergebnisse drängenden eigenen Hof hielt er fest, dass er keine Sekunde lang zögern werde, allfällige Vorschläge von russischer Seite über ein gemeinsames Projekt nach Wien zu schicken. Er selbst halte den Zaren jedoch immer noch für bündnistauglich, sollte dieser jedoch den Kaisertitel beanspruchen, so würde er sich unter dem Vorwand seiner Partikularangelegenheiten und unter »Evitierung aller Verdruss erwirkenden Anstößlichkeiten« zurückbegeben. Dafür gab sich Kinsky selbst noch bis zur geplanten Abreise des Zaren nach Astrachan’ Zeit. Sollten bis dahin die »sehnlich erwarteten« Instruktionen noch nicht eingelangt sein, so werde er sich beim Zaren beurlauben lassen und Hochholzer zur »Führung der Korrespondenz« zurücklassen.494 Kurz darauf wurden offensichtlich auch die russischen Minister etwas konkreter. Dem darauffolgenden Bericht Kinskys zufolge versicherten die russischen Minister, dass der Zar von mehreren Mächten zu einem Bündnis eingeladen worden wäre, jedoch eine Defensivallianz mit dem Kaiser eingehen wolle. Aus diesem Grund würden sie eine Deklaration von Seiten des kaiserlichen Gesandten erwarten. Dieser entgegnete darauf, dass seine bisherigen Instruktionen nicht mehr aktuell seien, da sie vor dem Frieden von Nystad ausgestellt worden seien. Der Kaiser sei jedoch ebenso zu einem Bündnis geneigt, weshalb 493 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 6. April 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 187r–188r. 494 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 6. April 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 188r–188v.
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er die auf dem Weg von St. Petersburg nach Moskau verloren gegangenen Reskripte sehnlich erwarte. Damit waren weitere Verhandlungen also vom Eintreffen der Weisungen abhängig, weshalb Kinsky daraufhin deren dringende Notwendigkeit betonte. So sei die russische Seite davon überzeugt, dass der Kaiser ein Bündnis mit dem Zaren nicht allzu ernst nehme und vorerst nur Pro und Contra abwägen wolle. Ein weiterer Aufschub der Frage würde von der Gegenseite daher als Misstrauen ausgelegt werden und öffne diese für eine Allianz mit anderen Mächten, wenngleich alle diesbezüglichen Anträge bislang scheinbar tatsächlich nicht in Betracht gezogen worden seien. Das schnelle Eintreffen der Instruktionen sei überdies umso dringender, da der Zar kurz vor der Abreise stehe und in seiner Abwesenheit keine außenpolitischen Entscheidungen getroffen werden könnten. Seine lange untätige Präsenz am russischen Hof, rechtfertigte sich der kaiserliche Gesandte weiter, sei insofern nicht unnütz, als dass er einen ausführlichen Bericht nach Wien mitbringen wolle. Nichtsdestotrotz schloss er mit pessimistischen Perspektiven. So habe er dem russischen Ministerium eingeschärft, dass der Kaiser hinsichtlich des Titels nicht vom »alten stylo« abweichen könne. Seine Befürchtung bestand nunmehr darin, dass andere Mächte einstweilen den Titel anerkennen könnten und der russische Hof unter Hintanstellung der Defensivallianz dies auch von ihm begehren würde. Sollte man das durch das In-Aussicht-Stellen eines möglichen Allianzprojekts »erschleichen wollen«, so werde er sofort zu erkennen geben, dass er zur Annahme desselben nicht instruiert sei. Eine weitere Befürchtung, die Kinsky mit einer möglichen Anerkennung des Titels durch andere Mächte verband, war, dass er sich weiterhin instruktionslos als »charakterisierter« Minister neben dem Zaren aufhalten und hier immer »odioser« angesehen werden könnte. Wie schon mehrfach erwähnt, wolle er daher unter Vorgabe seines schwachen Gesundheitszustandes und privater Umstände die Rückreise antreten, wenn die Instruktionen bis zur Abreise des Zaren nicht einlangen würden.495 Dieses flehende Drängen auf das Abschicken der Instruktionen sollte die außenpolitischen Verantwortlichen in Wien erst einen Monat später erreichen, da der Bericht erst am 13. Mai 1722 am Kaiserhof einlangte. Es ist daher kaum verwunderlich, dass Kinsky einen Monat nach dem Abschicken seiner Relation immer noch ohne Instruktionen in Moskau ausharrte und in dieser Zeit über keine weiteren Gespräche mit den russischen Ministern berichtete. Mitte Mai fühlte er sich daher offensichtlich zum Handeln gezwungen, wie aus einem Brief an Jaguzˇinskij hervorgeht. Darin bat er seinen Vertrauten, beim Zaren eine Privataudienz für den kaiserlichen Gesandten zu vermitteln. In dieser wollte er den russischen Herrscher hinsichtlich der Bündnisverhandlungen auf später 495 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 13. April 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 192v–195r.
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vertrösten und gleichzeitig um seine Beurlaubung bis zur Rückkehr desselben ansuchen.496 Es ist interessant, dass sich der Hauptkonkurrent Kinskys in einer ähnlichen Situation befand. So weilte auch Campredon ohne weitere Instruktionen seines Hofs in Moskau. Ein Blick auf seine Relationen zeigt, dass er sich ähnlicher Argumentationsmuster bediente, um den König zur Absendung weiterer Weisungen für seine Mission zu bewegen. Seine Berichte müssen daher auch unter diesen Vorzeichen gelesen werden. So berichtet auch er Anfang April 1722 über ein weiteres Treffen mit Sˇafirov, in dem der Vizekanzler den französischen Gesandten erneut hinsichtlich seiner Instruktionen befragte. Ebenso wie Kinsky versicherte man auch Campredon, dass der Zar bereit für ein Bündnis mit Frankreich wäre. Sollten sich die Verhandlungen jedoch weiter verzögern, so könne der russische Herrscher bis zu seiner Abreise auch eine Allianz mit anderen Mächten abschließen. Das Hauptanliegen Sˇafirovs, so der französische Gesandte weiter, sei also, dass Campredon endlich Instruktionen für Verhandlungen bekäme und sich gesundheitlich bald erhole.497 Diese Darstellungen zeigen nicht nur, dass der russische Hof es weiterhin auf Doppelverhandlungen mit dem Kaiser und Frankreich anlegte, sondern gegenüber dem französischen Vertreter gleichzeitig auch einen leichten Druck ausübte – wie es Kinsky zur selben Zeit mit den russischen Ministern machte. Es stellt sich nur die Frage, ob dies lediglich eine Argumentationsstrategie von russischer Seite gegenüber Campredon darstellte, um den französischen Vertreter zum Handeln zu zwingen, oder ob der russische Hof tatsächlich eine Allianz mit einer anderen Macht in Erwägung zog. Die weiteren Ausführungen werden näheren Aufschluss darüber geben. Gleichzeitig zeigen diese Schilderungen, dass Campredon diesem Druck trotz starker gesundheitlicher Probleme standhalten musste. Diese dürften tatsächlich recht gravierend und langwierig gewesen sein, da das »Wienerische Diarium« für Juni 1722 festhält, dass der französische Gesandte erneut erkrankt sei und Blut auswerfe.498 Trotz dieses angeschlagenen Zustandes war Campredon in der Lage, die Andeutungen Sˇafirovs richtig auszulegen. So vermutete er den Kaiser hinter der vom Vizekanzler angesprochenen anderen Macht und stützte sich dabei auch auf sein Wissen über die Vorgänge in Wien. So hätte der dort befindliche russische Resident berichtet, dass der Kaiserhof sich in letzter Zeit äußerst willfährig verhalte, indem er etwa Zugeständnisse in der Mecklenburgischen Frage machte. Hinsichtlich seiner Anfrage bezüglich des Kaisertitels sei ihm geant496 Vgl. Brief Kinskys an Jaguzˇinskij v. 11. Mai 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 239r–240v. 497 Vgl. Bericht Campredons an Dubois v. 3. April 1722, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 49, Sankt-Peterburg 1885, 85–88. 498 Vgl. Wienerisches Diarium v. 19. August 1722, Nr. 66, [5].
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wortet worden, dass diese Sache eine Entscheidung des Reiches sei und der Kaiser zunächst auch die Reaktion der übrigen gekrönten Häupter abwarten wolle. Der Zar scheine sich mit dieser Position einstweilen zufrieden zu geben. Darin komme jedoch bei Weitem nicht das zum Ausdruck, was man in Moskau von Kinsky höre, so Campredon weiter. Wenn man diesem Glauben schenke, so würden die beiden Höfe nicht zögern, ein gemeinsames Bündnis zu schließen. Angesichts dieser Situation bat er schließlich seinen Hof inständig um weitere Instruktionen.499 Die scheinbare Umgarnung Kinskys von Seiten des russischen Hofs stellte in weiterer Folge die Hauptargumentationsbasis für sein Flehen um neue Instruktionen dar. So berichtete er nur eine Woche später, dass der Herzog von Holstein nach der Rückkehr des Zaren das Hochzeitsprojekt mit dessen Tochter unter Dach und Fach bringen wolle, während der kaiserliche Gesandte versichert habe, dass der Kaiser in einem solchen Fall die Restitution Schleswigs vorantreiben werde. Insgesamt scheine der russische Hof Kinsky sehr zu umgarnen. So hänge eben von der Entscheidung rund um den Herzog ein Bündnis zwischen dem Kaiser und Russland ab. Darüber ginge man immer mehr in Verhandlungen, seitdem klar sei, dass es zu einer russischen Expedition gegen Persien kommen werde. Anschließend hält Campredon fest, dass er diesen Vorgängen nichts entgegensetzen könne, da ihm durch sein Schweigen die Hände gebunden wären. Abermals bittet er daher um das Absenden weiterer Instruktionen, um eine mögliche »Freundschaft« zwischen den beiden Höfen verhindern zu können.500 Eine weitere Woche später berichtete er abermals über eine Unterredung mit Sˇafirov, in der der Vizekanzler scheinbar den Ernst Frankreichs hinsichtlich eines gemeinsamen Bündnisses anzweifelte. Ähnlich wie zuvor schon Kinsky stellte auch er das lange und ungewollte Schweigen als möglichen Grund dafür hin, dass die weiteren Entwicklungen ohne sein Verschulden nicht nach seinem Willen verlaufen könnten. Damit spielte er den Ball sozusagen zurück an den eigenen Hof, indem er betonte, dass aus diesem Grund jede Sekunde vor der Abreise des Zaren äußerst wertvoll sei. Für die bis dahin verbleibende Zeit stellt er abermals ein mögliches Bündnis zwischen dem Zaren und dem Kaiser als Folge seines Wartens auf die Instruktionen in Aussicht:501 »[J]e ne puis vous dire quoi il [Le Czar] les emploiera; ce sera apparemment conclure un trat¦ d’alliance avec l’empereur, car je sais de bonne part, qu’on recherche fortement le
499 Vgl. Bericht Campredons an Dubois v. 3. April 1722, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 49, Sankt-Peterburg 1885, 88–89. 500 Vgl. Bericht Campredons an Dubois v. 10. April 1722, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 49, Sankt-Peterburg 1885, 90. 501 Vgl. Bericht Campredons an Dubois v. 17. April 1722, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 49, Sankt-Peterburg 1885, 100–101.
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c-te de Kinsky et qu’il a de fr¦quentes conf¦rences avec m-rs Jagoujinsky et Ostermann.«502 Die Gegenüberstellung der Berichte Kinskys und Campredons zeigt, dass der französische Gesandte zu diesem Zeitpunkt eigentlich keinen Grund für eine derartige Panikmache hatte. Das lässt sich in der Retrospektive sowie in Kenntnis der beiden Positionen sehr leicht sagen. Nichtsdestotrotz ist auch anzunehmen, dass sich Campredon bewusst einer etwas drastischeren Darstellung bediente, um seinen eigenen Hof zum Handeln zu motivieren. Gerade die nahezu gleiche Ausgangsposition der beiden Gesandten erlaubt einen hervorragenden Einblick in die Funktion der Relationen als Medien der Selbstdarstellung, in denen sich die Diplomaten offensichtlich ähnlicher Argumentationsmuster bedienten, um ihr Vorgehen am fremden Hof in ein gutes Licht zu rücken. Natürlich handelte es sich dabei nicht ausschließlich um Strategie. So hatten sie einen weit geringeren Informationsstand über die Ausgangslage ihrer Konkurrenten, weshalb sie mitunter zu Recht darum bangen mussten, dass ihnen diese das gemeinsame Ziel eines erfolgreichen Bündnisabschlusses mit dem fremden Hof sozusagen vor der Nase wegschnappten. Weit weniger Kenntnisse über die Vorgänge am fremden Hof hatten Zeitschriften wie die »Europäische Fama«, weshalb diese in ihrer Analyse natürlich zu ganz anderen Ergebnissen kam. Auf dieses Problem machten die Autoren vor ihren Betrachtungen über die Bündnisverhandlungen in Russland des Jahres 1722 eindeutig aufmerksam. Zunächst hielten sie diesbezüglich fest, dass lange die Rede von einem französisch-russisch-spanischen Bündnis gewesen sei. Dieses sollte jedoch unter dem Prätext der Hochzeit zwischen dem Sohn des französischen Königs und einer russischen Prinzessin zustandegebracht werden. Zwar möchte man nicht glauben, dass der Zar seine Tochter einem »pauvre sir« wie dem Herzog von Chartres zur Frau gebe, der aus Sicht der Autoren noch dazu keine fürstlichen Tugenden besitze. Sollten es die politischen Angelegenheiten notwendig machen, sei auch ein solcher Schachzug nicht auszuschließen. Am russischen Hof hingegen spreche man lediglich über ein französisch-russisch-spanisches Handelsabkommen.503 Auf diese Zusammenfassung der am weitesten verbreiteten Gerüchte folgt schließlich der Hinweis über den schlechten Informationsstand: »Da ist es denn freylich kein Wunder, daß die Leute die alles wissen wollen, was in grosser Herren Cabinetten vorgeht, es sich verdriessen lassen, wenn man aus denen Czaar[ischen] Absichten lauter Geheimnisse macht, und dass sie um sich deßwegen zu 502 Bericht Campredons an Dubois v. 17. April 1722, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 49, Sankt-Peterburg 1885, 101–102. 503 Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 258 (1722), 585–587.
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rächen, auf alle die kleinsten Bewegungen Ihrer Majestät Achtung geben; daß sie sich unzehlich viel zu sehen einbilden, welches vielleicht Schatten und Träume sind, und daß sie überall Schlüsse machen, die doch, wenn es um und um kommt, meist alle miteinander das Ziel nicht getroffen haben.«504
Trotz dieser abschätzenden Haltung gegenüber den politischen Spekulanten bietet auch die »Europäische Fama« ihren Lesern einige dieser Mutmaßungen an, ohne deren Richtigkeit gewährleisten zu können. Dabei wird auf die Haltung des russischen Hofes gegenüber Preußen und Dänemark sowie in der holsteinischen und mecklenburgischen Frage eingegangen. Über ein mögliches Bündnis Russlands mit dem Kaiser wird jedoch mit keinem Wort gemutmaßt.505 Wesentlich mehr wusste man jedoch über die Haltung des Kaisers in der Titelfrage und deren Folgen zu berichten. Dabei beschränkte man sich zunächst jedoch auf die Schilderung der Vorgänge am Wiener Hof. Demzufolge hätte das kaiserliche Ministerium das vielfach erwähnte Schreiben an Vasilij III. in den Archiven der Reichskanzlei nicht gefunden, weshalb man gar an der Echtheit desselben zweifle. Selbst wenn Kaiser Maximilian ein solches geschrieben hätte, so wäre dies ohne das Vorwissen und die Zustimmung der Reichsstände geschehen und damit hinfällig. Der hartnäckige russische Resident habe daraufhin weitere Argumente ins Treffen geführt. So hätten zum Beispiel andere Mächte den Titel bereits anerkannt, der den russischen Herrschern unter anderem auch von einigen Vorgängern des Kaisers zugestanden worden wäre. Diese Argumente wurden damit abgeschmettert, dass sich andere Mächte davon vielleicht Gefälligkeiten von Seiten des Zaren erwarten würden oder diesem im Range ohnehin weichen müssten. Sollte Kaiser Maximilian den Titel tatsächlich gebraucht haben, dann wäre dies eben der Betitelung anderer morgenländischer Herrscher gleichgekommen und habe überdies ohne Zustimmung der Reichskanzlei und in schweren Kriegszeiten stattgefunden.506 Schließlich bezogen die Autoren eindeutige Position zu den vorgebrachten Argumenten Lanczinskis: »Wir gestehen, daß uns diese Gründe, die wir, wie wir sie anderwerts angetroffen, angeführt haben, so schwach vorkommen, daß wir beinahe zweiffeln, ob sie der Czaar[ische] Minister dem Kayserlichen Hofe, und ob hinwiederum, wie gemeldet worden, dieser solche dem Reichs-Tag zu untersuchung, übergeben habe.«507
504 Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 258 (1722), 587. 505 Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 258 (1722), 587–595. 506 Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 258 (1722), 544–545. 507 Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 258 (1722), 545.
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Diesen Ausführungen fügten sie die Kopie des Maximilianischen Schreibens in der deutschen Übersetzung vom 10. Mai 1718 an und schlossen ihre Betrachtungen mit einer Interpretation der Hintergründe der Beanspruchung des Titels von Seiten des Zaren ab. So bringe ihm dieser im eigenen Land keine großen Vorteile, da die Untertanen nicht danach unterscheiden würden, ob sie einem Großfürsten, König oder Kaiser Gehorsam leisten müssten. Ursprünglich hätte der Kaisertitel dem Imperator auch keine höhere Stellung gegenüber den gleichberechtigten Souveränen eingebracht. Diese sei ihm nur deswegen als Einzigem zugestanden worden, da er als Fortsetzer des römischen Kaisertums betrachtet wurde. Daraufhin stellten die Autoren die Frage in den Raum, ob der Zar im Fall einer Annahme seines neuen Titels durch den Kaiser auf einer Stufe mit diesem stehen würde. Daran knüpften sie sogleich die Überlegung an, welche Vorzüge dieses Prädikat dem russischen Herrscher gegenüber anderen Souveränen einbringen würde. Diese Fragen scheinen sie zunächst lediglich in den Raum zu stellen und eine passende Antwort jenen zu überlassen, die »in dieser Sache erfahrener« wären. Anschließend wird indirekt darauf eine Antwort gegeben, indem die Autoren sogleich historische Beispiele von jenen Souveränen anführen, die ebenso diesen Titel beansprucht hatten und daran kläglich gescheitert waren.508 Für die kaiserlichen Konferenzminister, die im Mai 1722 die erwähnten Berichte Kinskys vom Vormonat erhalten hatten, war nicht nur diese Frage ausschlaggebend für ihre Entscheidungen über das weitere Schicksal des Gesandten. In einem Ministerialgutachten wurden die darin angesprochenen Punkte abgehandelt: Erstens die Frage nach einem gegen die Pforte ausgerichteten Bündnis mit dem Zaren sowie zweitens das Problem der Rückkehr Kinskys im Zuge der bevorstehenden Abreise des russischen Herrschers nach Astrachan’. Die diesbezüglichen Positionen der Minister waren von einem starken Misstrauen gegenüber dem Zaren gekennzeichnet, welches zweifelsohne aus der strittigen Frage um den Kaisertitel resultierte. So habe sich ihre Haltung bezüglich eines Bündnisses gegen die Türkei seit dem Projekt Jaguzˇinskijs vom Jahr 1720 nicht wesentlich geändert. Auch wenn »Gutgesinnte« am russischen Hof – und damit meinten sie wohl Jaguzˇinskij – die Unterstützung des Zaren sowie seine derzeitige militärische Stärke im Falle eines Krieges mit Frankreich und Spanien und dem daraus resultierenden Erstarken der Pforte anpriesen, so rieten sie aus mehreren Gründen von einem Bündnis mit Russland ab. Wenn der Zar nur seinen eigenen Nutzen verfolgen würde, so hätte er sich schon längst mit Frankreich und Spanien »contra quoscumque« zusammengeschlossen. Da der Zar nunmehr die Bundesgenossen oder Untertanen der Türken bekriegen wolle, 508 Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 258 (1722), 546–553.
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sei für ihn ein Bündnis mit dem Kaiser von großem Nutzen. Für diesen und das Erzhaus hingegen wäre eine solche Allianz »gefährlich«, »undienlich« und »endlich schädlich«. In einer solchen Konstellation wäre mit einem Offensivkrieg des Zaren auch die Verstrickung in einen weiteren Türkenkrieg verbunden. Um diesen jedoch weiterhin »beizubehalten«, solle Kinsky nicht öffentlich abberufen werden, sondern – wie bereits in seinen Instruktionen vom 30. Dezember 1721 angeordnet – seine vorläufige Rückreise unter dem Vorwand seiner Gesundheit und seiner Hausgeschäfte ankündigen. Hochholzer solle mit einem Residentengehalt zurückgelassen werden, bis man sehe, wohin die »zarischen Sachen laufen« und eventuell einen neuen Minister absenden wolle.509 Ein Blick auf die spärlich vorhandene Sekundärliteratur zu den Beziehungen zwischen den beiden Höfen am Beginn der 1720er-Jahre liefert die näheren Hintergründe für die Entscheidung der Konferenzminister. Die verbindenden und trennenden Elemente der beiden Mächte wurden jüngst von Nelipovicˇ hervorragend herausgearbeitet. Während Russland nach dem Frieden von Nystad vor allem um die Anerkennung der Friedensbestimmungen sowie um die Durchsetzung der Territorialansprüche der Herzöge von Mecklenburg und Holstein bemüht war, manövrierte Wien zwischen den Seemächten und dem starken französisch-spanischen Block hin und her. Einen gemeinsamen Feind hatten die beiden Höfe in dieser Phase des europäischen Friedens jedoch nicht. Die weiteren gesamteuropäischen Entwicklungen des Jahres 1722 legten schließlich den Grundstein für eine Annäherung derselben. So geriet der Kaiser einerseits aufgrund seines »Ostende-Projekts« allmählich in einen Konflikt mit den Seemächten und war überdies mit einem religiös motivierten Konflikt konfrontiert, der durch das harte Vorgehen der Jesuiten gegen die Protestanten in Polen, Schlesien und Ungarn hervorgerufen wurde und somit Spannungen mit England und Preußen aufkommen ließ. Andererseits befand sich der Wiener Hof mit Spanien in einem Konflikt um Sizilien, das den Habsburgern als Folge des Kriegs der Quadrupelallianz (1717–1720) kurz zuvor zugesprochen worden war. Diese Ausgangssituation war der Grund für die außenpolitische Isolation des Kaisers zum gegebenen Zeitpunkt. Gerade der russische Gesandte Lanczinski war wegen dieser Umstände um die Herstellung eines Bündnisses mit dem Wiener Hof bemüht und wollte die Titelanerkennung sowie die Durchsetzung der Territorialansprüche der Herzöge von Holstein und Mecklenburg gegen die Neutralität Peters im Reich eintauschen. Das erschien den außenpolitischen Verantwortlichen als ein schlechtes Tauschgeschäft, die auch durch die bereits dargestellten Doppelverhandlungen des Zaren in Moskau an der Ernsthaftigkeit der russischen Vorschläge zweifelten. Aus machtpolitischer Sicht waren die 509 Vgl. Gutachten der Konferenzminister v. 23. Mai 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 182r–184v. Vgl. dazu auch: Wittram, Peter, 473.
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Haupthinderungsgründe für die Annäherung der beiden Höfe, dass Peter I. sich voll auf seinen Feldzug in Persien konzentrierte, während Karl VI. seinen Fokus auf Europa richtete.510 Diese ereignisgeschichtlichen Hintergründe der außenpolitischen Lage der Habsburgermonarchie in Europa hatten zweifelsohne starken Einfluss auf die genannten Entscheidungen der Konferenzminister. Daraus wird auch die Wichtigkeit der Berücksichtigung der traditionellen Diplomatiegeschichte deutlich, die durch die Darstellung der großen staatspolitischen Ereignisse den Grundstein für die vorliegende, mikroanalytisch ausgerichtete Studie liefert. Unter Bezugnahme auf diese gesamteuropäische Ausgangslage, wie sie im Gutachten aus Sicht des Kaiserhofes dargestellt worden war, schickte der Kaiser die von den Konferenzministern ausgearbeiteten Instruktionen zwei Tage nach deren Erstellung an Kinsky.511 Sie sollten jedoch zu spät beim kaiserlichen Gesandten eintreffen. Wie bereits angesprochen, hatte dieser bereits auf eigene Faust eine Privataudienz beim Zaren zur Ankündigung seiner Beurlaubung beantragt, die vier Tage nach der Absendung der neuen Instruktionen über die Bühne gehen sollte. Es spricht für das politische Gespür Kinskys, dass er mit diesem Schritt – ohne Gewissheit über die Position des eigenen Hofes zu haben – dem Willen der Konferenzminister entsprach. Die Privataudienz lief überaus harmonisch ab, was die außenpolitischen Verantwortlichen Wiens auch gefreut haben dürfte, da sie sich – entsprechend ihrem Gutachten – die Wohlmeinung des Zaren erhalten wollten. So berichtete Kinsky unmittelbar nach der Abreise des Monarchen und seiner Frau über das Zusammentreffen mit Peter I., wobei die Einleitung der Relation so klingt, als hätte der Zar dem kaiserlichen Gesandten die kalte Schulter zeigen wollen. Demnach sei Kinsky von seinem Vertrauten Jaguzˇinskij für den ersten Pfingsttag um sieben Uhr früh zur Audienz gebeten worden. Den Bräuchen des russischen Hofs entsprechend, habe der russische Herrscher jedoch nachts einige Stunden in der Messe verbracht, daher länger geschlafen, sei nach dem Aufstehen direkt in den Gottesdienst gegangen und dürfte dabei auf den kaiserlichen Gesandten vergessen haben, wie Jaguzˇinskij und Ostermann diesem versicherten. Kinsky nahm daran jedoch keinerlei Anstoß und nützte die Wartezeit, um seine eigene Messe zu hören und daraufhin wieder zum Hofe zurückzukommen. Dort erwartete ihn offensichtlich eine große Ehrenbezeugung von Seiten des russischen Herrschers. Nachdem dieser aus der Kirche zurückgekommen war, gab er Jaguzˇinskij ein Zeichen, wonach dieser gemeinsam mit Kinsky dem Zaren und 510 Vgl. Nelipovicˇ, Sojuz, 14–17. Vgl. dazu ausführlich: Hans Bagger, Russlands alliancepolitik efter freden i Nystad, Kopenhavn 1974; M.A. Polievktov, Baltijskij vopros v russkoj politike posle Nisˇtadskogo mira, Sankt-Peterburg 1907. 511 Vgl. Weisung Karls VI. an Kinsky v. 25. Mai 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 185r–195r.
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Ostermann in das Empfangszimmer folgen sollte. Diese Szene spielte sich im prominent besetzten »Antichambre« ab, weshalb der kaiserliche Gesandte verschlüsselt die Vermutung hinzufügte, dass der Souverän ihm diese zeitliche Bevorzugung gegenüber allen anderen in- und ausländischen Ministern sowie Adeligen und Offizieren wohl vorsätzlich gegeben habe. Daraufhin sollen sich die beiden etwa 45 Minuten lang unterhalten haben, wobei nach Kinskys Glückwünschen für die bevorstehende Reise Peters I. gegenseitige Freundschaftsbekundungen folgten. Nachdem der kaiserliche Gesandte schließlich seine Privatangelegenheiten als Grund für seine Heimreise vorgeschoben und der Zar diese Entscheidungen ganz dem Wiener Hof überlassen hatte, ließ Kinsky im weiteren Gespräch weitere Fragen einfließen, über die er jedoch erst in seinem mündlichen Bericht in Wien sprechen wollte.512 Wenn wir dem Bericht des kaiserlichen Gesandten Glauben schenken wollen, so erfolgte die offensichtliche Bevorzugung durch Peter I. allerdings erst nach dem Gespräch, abermals im Vorzimmer. Dort sollen bereits alle in- und ausländischen Minister gewartet und dem Zaren beim Gang durch die »Antichambre« die Hand geküsst haben. »Ich nahme gar wohl in acht, daß seine May[estät] außer einer besonder[en] kopfneygung zu denen frembdten ministern nichts gesprochen habe, obschon Campredon und Mardefeld bezeiget haben, das[s] sie gleichfals gern einen particular-abschied von S[eine]r Czar[ischen] May[estät] zu haben gewunschen hetten, und solches noch in der zeit ein jeder von ihnen zu denen hiesigen ministern vermeldet, zu welchen sie ihr meistes vertrauen sezeten, ihnen aber zu antworth gegeben worden, Ihro Czar[ische] May[estät] wären ser von denen gehabten andachten fatiguiret und zu ihrem mittagmahl eyleten.«513
Natürlich erfahren wir aus den anderen Diplomatenberichten nichts darüber, weshalb Kinskys äußerst positive Darstellungen dieser Szene zweifelsohne in manchen Punkten etwas nüchterner betrachtet werden müssen. Es ist jedoch bezeichnend, dass die offizielle Hofpresse diese lange Zeit als Nebensächlichkeit der Geschichte missachteten Ereignisse des Hofes an ihre Leser weiter vermittelte. So waren derartige Darstellungen für die »Öffentlichkeitsarbeit« besonders wertvoll, da der Wiener Hof dadurch die Tätigkeit seiner Diplomaten in ein gutes Licht rücken konnte. Deshalb wurden diese Schilderungen inhaltlich fast eins zu eins in dem von oben gesteuerten »Wienerischen Diarium« wiedergegeben. Es muss wohl nicht näher darauf eingegangen werden, welche Handschrift dieser Artikel trägt. 512 Vgl. Bericht Kinskys an Karl VI. v. 29. Mai 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 242r–243r. 513 Bericht Kinskys an Karl VI. v. 29. Mai 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 243r–243v.
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»Seine Majestät haben vor dero Abreis Ihro Excellenz den Herrn Grafen Stephan Kinski Ihrer Römisch-Kaiserl[ichen] Majestät bevollmächtigten Ministern vor allen andern fremden ministern distinguirt, und seynd Ihre Excellenz in einer drey-viertel Stund langen Audientz und Verabredung mit Ihrer Russischen Majestät gewesen, wo hingegen alle übrige fremde Ministern nur in der Anti-Camera im Vorbeygehen sich beurlauben können.«514
Der Bericht Kinskys, welcher dem »Wienerischen Diarium« offensichtlich als Vorlage diente, stellte leider die letzte Relation des Gesandten über die Zusammentreffen mit den russischen Vertretern dar, da er von da an den heimischen Hof in einem mündlichen Bericht informieren wollte. Leider konnte ein Protokoll dieser Unterredung nicht ausfindig gemacht werden. Das ist überaus bedauerlich, da wir aus Vergleichsdarstellungen anderer Gesandter wissen, dass Kinsky mit den russischen Ministern auch nach der Abreise des Zaren und bis zu seiner Rückkehr nach Wien noch mehrfach Kontakt hatte. Auf deren Darstellungen wollen wir jedoch später zurückkommen. Zunächst soll anhand der soeben erwähnten und vorhandenen Berichte Kinskys ein erster Blick auf die Bewertung seiner Mission in jener spärlich vorhandenen Sekundärliteratur geworfen werden, die ihr Urteil ebenso auf Basis seiner Relationen fällte. Florovskij war bislang der Einzige, der sich diesbezüglich zu eindeutigen Äußerungen hinreißen ließ. Sein Urteil muss bei näherer Betrachtung zum Teil revidiert werden. So hielt er in seiner auf den Wiener Archivalien basierenden Arbeit fest, dass Kinsky oft mit der Titelfrage konfrontiert worden sei oder diese umgehen habe müssen, um keine Verletzung der Etikette zu begehen. Daher sei es verständlich, dass er unter Vorgabe gesundheitlicher Gründe seinen Posten räumte.515 Dieses Urteil kann jedoch nur bedingt bestätigt werden. So wissen wir zwar, dass Kinsky sich etwa einiger Ausreden und Tricks bediente, um bei gemeinsamen Essen mit den übrigen Ministern nicht auf den frischgebackenen russischen Imperator anstoßen zu müssen, was also für die These Florovskijs sprechen würde. Andererseits haben wir aber auch gesehen, dass der russische Hof nach seiner Übersiedlung nach Moskau keinerlei Druck in dieser Sache auf Kinsky ausübte, da beide Seiten die Titelfrage zu diesem Zeitpunkt noch aufschieben wollten, um die gesamteuropäische Entwicklung bezüglich dieses heiklen Themas abzuwarten. Aus diesem Grund erwuchsen dem kaiserlichen Gesandten auch keinerlei Probleme bei den Hofveranstaltungen des Jahres 1722. Im Gegenteil, wie die Darstellungen über die Maskeraden sowie über die Abschiedsaudienz gezeigt haben, stellte er selbst ein besonders zuvorkommendes Verhalten des russischen Hofes gegenüber seiner Person fest. Darüber wussten
514 Wienerisches Diarium v. 1. Juli 1722, Nr. 52, [6]. 515 Vgl. Florovskij, Otnosˇenija, 33–34
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auch andere politische Beobachter zu berichten, weshalb Florovskijs Darstellungen an dieser Stelle eben revidiert werden müssen. Die soeben angesprochenen anderen politischen Beobachter waren auch jene, die über das weitere Vorgehen Kinskys am russischen Hof berichteten. Gute zwei Monate nach der Privataudienz des kaiserlichen Gesandten beim Zaren berichtete Campredon sichtlich erleichtert, dass sich Kinsky endlich auf den Weg nach Wien mache. Zuvor habe er jedoch noch eine lange Audienz mit Golovkin, Jaguzˇinskij, Ostermann und Sˇafirov gehabt. Darin soll es scheinbar nur um die Wiederherstellung des Handels in Schlesien gegangen sein. Im Rahmen der Konferenz sollen jedoch auch andere Fragen besprochen worden sein, über deren Inhalt er, Campredon, bis dahin jedoch noch nichts in Erfahrung habe bringen können.516 Eine Woche später sah sein Informationsstand jedoch bereits ganz anders aus. So hatte der französische Gesandte aus angeblich vertraulichen Quellen erfahren, dass die Gesprächsinhalte bewusst gewählt worden waren, um den Schein zu erwecken, dass es sich dabei lediglich um eine Verabschiedung handle. Im Rahmen der Konferenz sei es jedoch auch zu Geheimverhandlungen zwischen Kinsky, Jaguzˇinskij und Sˇafirov gekommen. In vorangegangen Unterhaltungen, die laut Campredon nur zum Schein veranstaltet worden seien, habe Kinsky das »gute Einvernehmen« und die Bündnisbereitschaft des Kaisers gegenüber dem Zaren, die damit verbundenen Vorteile für den russischen Hof aufgrund des kaiserlichen Einflusses in den Hannoverschen, Holsteinischen und Mecklenburgischen Angelegenheiten sowie die Notwendigkeit der Wiederbelebung des Handels zwischen Schlesien und der Ukraine hervorgehoben. Nachdem er seinen Willen zur Rückkehr und Herstellung einer Allianz nach der bevorstehenden Ankunft des Zaren bekundet habe, folgten laut Campredon die üblichen Höflichkeiten von Seiten der russischen Minister : Der Zar teile die »Gefühle« des Kaisers, wolle die Wiederherstellung eines Handelsabkommens bald erledigen und freue sich stets über die Anwesenheit eines kaiserlichen Ministers an seinem Hofe.517 Soweit die scheinbar wortgetreue Zusammenfassung des Inhalts jener Unterredung, die für die russischen Minister veranstaltet worden sei, um sie davon zu überzeugen, dass Kinsky nichts anderes unterbreiten wolle. Diese Gesprächsstoffe seien im Vorhinein gemeinsam mit Mardefeld und möglicherweise gar mit Jaguzˇinskij abgesprochen worden. Den am engsten vertrauten Ministern – damit meinte er Jaguzˇinskij und Sˇafirov – hätte er jedoch ein Geheimnis des Kaisers anvertraut: im Falle der Festlegung des jungen Großfürsten als Nach516 Vgl. Bericht Campredons an Dubois v. 24. Juli 1722, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 49, Sankt-Peterburg 1885, 121–123. 517 Vgl. Bericht Campredons an Dubois v. 30. Juli 1722, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 49, Sankt-Peterburg 1885, 126–128.
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folger Peters I. könne ein sehr enges Bündnis mit dem Wiener Hof hergestellt werden. Für diese Wahl habe der kaiserliche Gesandte gleich mehrere Gründe angeführt. So entspreche diese dem Wunsch des Volkes und würde durch die Sukzession aus der direkten Linie am wenigsten Schwierigkeiten bereiten. Darüber hinaus würde die Möglichkeit bestehen, eine Hochzeit zwischen dem Großfürsten und einer Tochter Peters I. zu arrangieren. Der Kaiser würde seinen Verwandten stets unterstützen und im Falle einer Zustimmung des Plans durch den Zaren diesem und allen seinen Freunden mit allen Kräften zur Seite stehen. Unter diesen Voraussetzungen könne er mit Peter I. eine unzerreißbare Allianz eingehen und sogar die Regentschaft der Zarin protegieren. Für dessen zweite Tochter hingegen wolle der Kaiser einen deutschen Fürsten suchen und sei überdies sogar dazu bereit, die Anerkennung seines neuen Titels durchzusetzen. Kinsky habe darauf zu verstehen gegeben, dass der Plan dem Zaren direkt vorgelegt werden könne. Überdies wolle er in direkten Kontakt mit der Zarin treten, welche diesen bei ihrem Mann zur Durchsetzung bringen könnte. Schließlich werde der Gesandte seinen bevorstehenden Aufenthalt in Wien nützen, um den Kaiser mit allen Mitteln von diesem Plan zu überzeugen und zur Schließung eines Bündnisses wieder zurückzukehren. Dieser Vorschlag hätte die Minister verwundert – insbesondere Jaguzˇinskij, der nicht nur zu Kinskys engsten Vertrauten zähle, sondern auch der Partei des Großfürsten angehöre. Gleichzeitig sollen sie Kinsky versichert haben, dem Zaren diesen Vorschlag zu unterbreiten, wenngleich sie die Reaktion der Zarin sowie der Feinde Wiens fürchteten. Zu diesen zähle vor allem Tolstoj, der sich derzeit mit dem Monarchen auf Reisen befinde, weshalb sie überlegen wollten, mit der Unterbreitung des Plans bis zur Rückkehr Peters I. zu warten. Jaguzˇinskij habe sich über diesen Vorschlag besonders gefreut und eine mögliche Entsendung von Johann Christoph Ernst Schleinitz für Bündnisverhandlungen nach Wien in Aussicht gestellt.518 Nach der Zusammenfassung des zweifelsohne brisanten Inhaltes dieses Gesprächs bat Campredon den französischen Hof um absolute Verschwiegenheit in dieser Sache, da ein Bekanntwerden seiner Kenntnis der Inhalte des vertraulichen Gesprächs nicht nur seinem Informanten, sondern auch ihm selbst schaden könnte. Angesichts dieser nachteiligen Aussicht für den französischen Hof bat er seinen Souverän abermals um die Absendung von Instruktionen in dieser Sache. Er selbst hielt jedoch mit seiner Kenntnis über die Inhalte dieser Geheimkonferenz keineswegs hinter dem Berg. Und das sogar gegenüber Kinsky selbst. So habe ihm der scheinbar stets »Freundschaft« und »Offenheit« vorgebende kaiserliche Minister am Vortag die Abschiedsvisite abgestattet. Dabei 518 Vgl. Bericht Campredons an Dubois v. 30. Juli 1722, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 49, Sankt-Peterburg 1885, 128–133.
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habe Kinsky den Inhalt der angeblich formalen Abschiedskonferenz wiedergegeben und die Wiederherstellung des Schlesienhandels und seine mögliche Rückkehr angesprochen. Darüber hinaus habe sich der kaiserliche Gesandte über das Vorankommen des französisch-russischen Handelsabkommens und die Gerüchte bezüglich der russischen Thronfolge erkundigt. Hinsichtlich der Sukzession habe ihm Campredon geantwortet, dass die Gerüchte keine faktische Grundlage besitzen würden, ebenso wie alle Gerüchte darüber, dass Kinsky die Thronfolge des Großfürsten mit allen Kräften des Kaisers zu garantieren versuche. Diese Anspielung auf die Geheimkonferenz habe Kinsky zum Erröten gebracht, wobei er daraufhin erwidert haben soll, dass der Kaiser sich nicht in innere Angelegenheiten einmischen werde und mit dem Zaren in freundlichen und hervorragenden Beziehungen verbleiben wolle.519 Leider können wir auf keine schriftliche Überlieferung Kinskys über diese Zusammenkunft zurückgreifen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass dieses Gespräch und dessen Inhalte nicht der Phantasie Campredons bzw. seines Informanten entsprungen sind. Vielmehr ist anzunehmen, dass der kaiserliche Gesandte vor seiner Abreise noch etwas erreichen wollte, um nicht mit ganz leeren Händen an den heimischen Hof zurückzukehren. Wenn wir also den Worten Campredons Glauben schenken wollen, ist Kinsky in dieser Sache weit über seine Instruktionen hinausgegangen. Denn daraus können keine derartigen Vorschläge von Seiten des Wiener Hofes herausgelesen werden. Im Gegenteil: So hatte der Kaiser seinen Gesandten angewiesen, lediglich im Falle der ungeregelten Nachfolge beim Ableben Peters I. öffentlich für die Sukzession des Großfürsten einzutreten. Aus einer fast vier Jahre später verfassten Relation Hochholzers an den Wiener Hof erfahren wir, dass Kinsky tatsächlich Vorschläge dieser Art vorgebracht haben muss. So berichtete Hochholzer im Mai 1726, dass der holsteinische Vertreter Bassewitz an ihn mit einem möglichen Heiratsprojekt herangetreten sei. Dieser wollte den Großfürsten mit der bereits angesprochenen zweiten Tochter Peters I. und späteren Monarchin Elisabeth verheiraten. Bei diesem Vorhaben wurden Erinnerungen an ein ähnliches Ansinnen Kinskys und die damit verbundenen Probleme wach: »Gleichwie man sich dabey gar wohl erinneret, daß dergleichen nach H[errn] Grafen v[on] Kinsky glümpflich geschehenen vortrag, und zwar damals mit der jungen czaarischen lezthin aber verstorbenen Prinzeßin unter dem vorwandt der nahen blutsverwandtschaft nicht hat angehen wollen, meldete mir doch der Bassewiz, daß der general Jaguschinsky versicheret hätte, daß wan nur die Czaarin und der Herzog mit zufrieden seyn wollen, die hiesige geistlichkeit zu abwendung künftig besorgender
519 Vgl. Bericht Campredons an Dubois v. 30. Juli 1722, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 49, Sankt-Peterburg 1885, 134–135.
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einsmaliger rebellionen hireinfals ohnbedencklich dispensiren, und gar nichts in weeg legen werden.«520
Die bisherige Forschungsliteratur über die Mission Kinsky konnte auch keine klaren Ergebnisse über die Haltung und das Verhalten des Gesandten in dieser Frage präsentieren. So hielt etwa Brikner fest, dass über Kinskys Gesandtschaft nicht mehr bekannt sei, als dass dieser sich nicht in innere Angelegenheiten Russlands einmischen habe dürfen, gleichzeitig jedoch zu Gunsten des kaiserlichen Neffen agieren und eine Hochzeit zwischen dem Großfürsten und der Tochter Peters arrangieren sollte.521 Auch Evgenij Anisimov betont in seinem Werk, dass Kinsky sich für das Recht der Nachfolge des Großfürsten stark gemacht habe und einen Ausgleich der Interessen durch das Heiratsprojekt mit der Tochter Peters erzielen habe wollen. Aus den Berichten des kaiserlichen Gesandten geht allerdings nicht hervor, dass Kinsky diese beiden Angelegenheiten mit dem Zaren direkt besprochen hat, wie es vom russischen Historiker behauptet wird – leider liefert er dafür keine Quellenangaben, die eine Kontrolle seiner Angaben ermöglichen würden.522 Florovskij betont unter Verweis auf die Gefahren einer Einmischung in die innerrussischen Angelegenheiten für die kaiserliche Diplomatie, dass Kinsky und Hochholzer das Schicksal des Großfürsten sowie dessen Erziehung, Ausbildung und Verhältnis zum Zaren genau beobachtet hätten. In Anlehnung an das Werk von Solov’ev hält er schließlich fest, dass der russische Hof damit sehr unzufrieden und dies vielleicht auch ein Mitgrund für die verfrühte Abreise des kaiserlichen Gesandten gewesen sei.523 Insgesamt rückt Florovskij die Ergebnisse der Gesandtschaft Kinsky in ein äußerst schlechtes Licht. Dieses Urteil beruhte zunächst auf einer näheren Betrachtung der »Hauptaufgabe« des Gesandten – das Zustandekommen eines Handelsabkommens. So seien nach einem Gesetz von 1714 ukrainische Waren nicht mehr – wie bis dahin – über Schlesien, sondern über die Ostseehäfen ausgeführt worden, weshalb der Gesandte eine Wiederbelebung des Schlesienhandels erreichen hätte sollen. Das konnte jedoch erst durch Hochholzer im Jahre 1725 erzielt werden, wobei der Handel damit zwar wieder aufgenommen wurde, allerdings in einem wesentlich geringeren Ausmaß als vor 1714. Kinskys Mission sei daher mit keinerlei realen und günstigen Resultaten verbunden gewesen. Er habe seine politischen und handelspolitischen Vorgaben nicht umsetzen können. Seine Rolle sei also nur die eines Vertreters des kaiserlichen Standpunktes gewesen. Wenngleich offiziell gesundheitliche Gründe für die 520 Bericht Hochholzers an Schönborn v. 11. Mai 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 1, Berichte 1726 I–VI, 183r–183v. 521 Vgl. Brikner, Diplomaty, 508. 522 Vgl. Evgenij Anisimov, Kuda zˇ nam plyt’? Rossija posle Petra Velikogo, Moskva 2010, 35. 523 Vgl. Florovskij, Otnosˇenija, 30–32.
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Abreise Kinskys vorgeschoben worden seien, sei inoffiziell sein allumfassender Misserfolg, vor allem in der Titelfrage, ausschlaggebend dafür gewesen. Kinsky habe gerade in dieser Sache genaue Vorgaben gehabt, weshalb ein Verbleib am russischen Hof unmöglich gewesen sei.524 Der Abschluss eines Handelsabkommens war zweifelsohne eine der Hauptaufgaben Kinskys, wie Florovksij in seiner Studie richtig feststellte. So wurde dieses Vorhaben bereits in jenem Projekt über ein gemeinsames Bündnis angedacht, das Jaguzˇinskij im Jahre 1720 an den Wiener Hof überbrachte. Punkt Fünf des genannten Vorschlages sah vor, dass »zu errichtung eines commercien tractats beyderseits comisarien zuernennen, welche dann die conditiones davon, undt was noch darzu gehörig reguliren und abfaßen werden.«525 Diesen Vorschlag aufgreifend wurden in Kinskys Instruktionen folgende Verhaltensvorgaben in dieser Sache ausgegeben. So stellten die Konferenzminister diesen Punkt in den größeren Zusammenhang des Abschlusses eines gemeinsamen Bündnisses. Dem Abschluss eines solchen stand zum damaligen Zeitpunkt noch der bevorstehende Kongress von Braunschweig entgegen, in dessen Rahmen der Wiener Hof als großer Friedensvermittler auftreten wollte. Nach Erledigung dieser Vermittlerfunktion sollte sich Kinsky den Vorschlägen des Zaren über ein gemeinsames Bündnis offen gegenüber erweisen. Um nicht den Anschein zu erwecken, als sei er sozusagen mit leeren Händen und ohne Pouvoir nach Russland entsandt worden, sollte er die Vorträge in dieser Sache »ad referendum« nehmen und in weiterer Folge an den Wiener Hof schicken. Auch die Aushandlung eines Handelsvertrags wurde als »schicklich« bezeichnet.526 Wenngleich man Kinsky das Pouvoir erteilte, in beiden Sachen verhandeln zu dürfen, so machte man hinsichtlich seiner Entscheidungsgewalt doch einen qualitativen Unterschied, da »[…] Graf Kinsky über beydes endlich sich einlasssen könnte, das erste ad ferio praeparandum: Das andere, wann man von ihme es verlanget ad con-cludendum alles nach inhalt beyliegender voriger kay[serlicher] resolutionen mit […] von Weißbach, und Jagouschinski gleichwie der Graf Kinsky allerdings den wahn zuvermeiden hat, als wäre er nur mit leeren worten abgeschicket, und man dahier nicht gewillet, rechter zeit sich würcklich zu mutuellen nutz beständig zuvereinbahren, und zuverbinden, dann in facto beede höfe und nationes sich wenig schaden, wohl aber viel nutzen können.«527 524 Vgl. Florovskij, Otnosˇenija, 33–35. Vgl. dazu ausführlich: G.A. Nekrasov, Vnesˇnjaja torgovlja Rossii cˇerez Revel’skij port v 1721–1756 gg., Moskva 1984. 525 Gutachten der kaiserlichen Konferenzminister v. 6. Februar 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 8r. 526 Vgl. Gutachten der kaiserlichen Konferenzminister v. 24. April 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 41r–42r. 527 Gutachten der kaiserlichen Konferenzminister v. 24. April 1721, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 26, Russica 1719–21, 42r–42v.
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Der Wiener Hof gab Kinsky also eine Vollmacht hinsichtlich des Abschlusses eines Handelsabkommens in die Hand, um sozusagen nicht mit leeren Händen vor die russischen Verhandlungspartner treten zu müssen. So kann in diesem Punkt Florovskij dahingehend Recht gegeben werden, dass der kaiserliche Gesandte seine handelspolitischen Vorgaben nicht umsetzen konnte. Bei näherer Betrachtung der vorangehenden Ausführungen geht er jedoch mit Kinsky zu hart ins Gericht, wenn er von einem »allumfassenden Misserfolg« seiner Mission spricht. So hat die ausführliche Darstellung seiner Interaktion mit dem russischen Hof gezeigt, dass er nach der Ausrufung Peters I. zum »allrussischen Imperator« eben gar nicht weitergehen konnte, als »nur« den Standpunkt des Kaisers zu vertreten. Dabei war er überdies noch mit dem Problem konfrontiert, dass er über weite Strecken instruktionslos am russischen Hof verweilte und seine Entscheidungen alleine treffen musste. Abgesehen von der Mitreise mit dem russischen Hof nach Moskau, welche im Nachhinein auch von den außenpolitischen Verantwortlichen abgesegnet wurde, traf er fast alle seine Entscheidungen in Einklang mit der Position des Kaisers und seiner Minister, wobei er lange Zeit nicht über deren Position Bescheid wusste. Die in den Berichten Campredons angesprochenen Verhandlungen mit den russischen Ministern über die Sukzession des Großfürsten und die daraus entstehenden Bündnismöglichkeiten waren wohl dem Umstand zuzuschreiben, dass Kinsky nicht mit leeren Händen an den heimischen Hof zurückkehren wollte. Damit ging er zweifelsohne weit über seinen vom heimischen Hof abgesteckten Handlungsspielraum hinaus. So müssen die Ergebnisse seiner Mission abschließend ambivalent beurteilt werden. Einerseits gelang es Kinsky nicht, die politischen Vorgaben seiner Instruktionen umzusetzen, welche allerdings vor der die Sachlage verändernden Kaisertitelannahme durch Peter I. formuliert worden waren. Andererseits zeigte Kinsky nach diesem umwälzenden Ereignis ein feines Gespür hinsichtlich der diesbezüglichen Haltung seines Hofes, was letztlich dazu führte, dass der Gesandte das russische Machtzentrum trotz der im Hintergrund brodelnden Streitfrage um den russischen Kaisertitel während seines gesamten Aufenthaltes wohlgestimmt halten konnte. Eine ähnliche Ansicht vertrat bereits Höfler in seinen kurzen, auf den Wiener Archivmaterialien basierenden Betrachtungen der Mission Kinskys: »Die Mission, […] die hauptsächlich ein gutes Verhältnis mit dem Czaren anzubahnen bezweckte, die Ausforschung der gegenwärtigen Tendenzen des Czaren, in wieferne sie den Kaiser betrafen, und der Macht und Hilfsquellen des neuen russischen Kaiserthums [sic!], konnte im Ganzen als gelungen betrachtet werden. Kinsky scheint sich die
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Achtung des Czaren erworben und eine wenn auch kleine österreichische Partei bei Hofe begründet zu haben.«528
Damit legte er auch den Grundstein für eine den Umständen entsprechend neutrale Ausgangsposition der kaiserlichen Diplomatie gegenüber dem russischen Hof, wenngleich er mit seinen Verhandlungen kurz vor seiner Abreise eine solche zweifelsohne gefährdete. Diese Beurteilung der Mission Kinsky unterstreicht die Notwendigkeit einer mikroanalytischen Betrachtung der Gesandtschaftsberichte, wie sie in der vorliegenden Untersuchung vorgenommen wird. So können mit deren Hilfe auch die Ergebnisse der traditionellen Politikgeschichte relativiert werden, welche die Gesandten vielfach zu sehr nach deren Verdiensten rund um große politische Fragen beurteilte, ohne dabei deren Verdienste in der politischen Kommunikation zu berücksichtigen.
2.3.3. Der schwelende Konflikt um den Imperatorentitel und die Stagnation in der zwischenstaatlichen Kommunikation bis zum Tode Peters I. 1725 Im Jahre 1723 ordnete Peter I. den Gebrauch seines neuen Titels in der Kommunikation mit den auswärtigen Höfen sowie innerhalb seines Reiches an.529 Die bisherigen Ausführungen über die Haltung des Kaisers in dieser Frage lassen erahnen, dass dieser Befehl eine Interaktion zwischen den Höfen in Wien und St. Petersburg/Moskau auf höchster Ebene nahezu unmöglich machte. Das beweisen die Aufzeichnungen des russischen Hofes über die Korrespondenz mit dem Kaiser in den 1720er-Jahren. So schickte Karl VI. im Dezember 1721 für lange Zeit seine letzten beiden Briefe nach Russland – beide Schriftstücke waren Antwortschreiben an den Zaren. Der Kaiser übermittelte am 13. Dezember ein Glückwunschschreiben anlässlich des zuvor von Peter I. notifizierten Friedens mit Schweden nach St. Petersburg. Dem folgte eine Woche später, am 20. Dezember, ein Antwortbrief über die Angelegenheiten des Herzogs von Mecklenburg. Der nächste Brief Karls VI. sollte den russischen Hof erst vier Jahre später erreichen. Es war ein Kondolenzschreiben an Peters Witwe und Nachfolgerin, Katharina I., anlässlich des Ablebens des Zaren.530 Die Kommunikation auf höchster Ebene war also für fast vier Jahre auf Eis gelegt.
528 Höfler, Fragmente, 435. 529 Verfügung Peters I. o.D. 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 127r–128r. 530 Vgl. RGADA, f. 188 [Kancelarija MGAMID], op. 13, d. 45 [Opis’ avstrijskich gramot XVIII v.], 12v–15r.
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Abb. 6: Ein international viel beachteter Erlass von Peter I. (1723) – die Verordnung über die Verwendung des russischen Kaisertitels in der Korrespondenz mit den auswärtigen Höfen.531
Unter diesen Umständen wurde die von den Konferenzministern angedachte Absendung eines hochrangigen Ambassadeurs aus der Sicht Wiens immer unwahrscheinlicher, da dieser als unmittelbarer Vertreter des Kaisers mit ständigen Problemen in der Interaktion mit dem russischen Souverän zu rechnen hatte. Die grundlegende Auseinandersetzung rund um die Anrede Peters I. entzog der bilateralen Kommunikation auf höchster Ebene daher jegliche Basis. Die Folgen dieses Konflikts waren nachhaltig: So war der Kaiser bis weit über den Tod Peters I. im Jänner 1725 hinaus lediglich durch einen Legationssekretär am russischen Hof vertreten. Die nähere Betrachtung dieser Phase ermöglicht daher wertvolle Einblicke in den Wandel der zwischenstaatlichen Kommunikation, der mit der hierarchischen Herabsetzung der ständigen Repräsentanz am russischen Hof verbunden war. So kommen darin auch die Vorteile, Probleme und Herausforderungen zum Vorschein, die sich für den Wiener Hof und Hochholzer als niederrangigen Gesandten im Austausch mit dem fremden Hof ergaben. Die Veränderung des Ranges der diplomatischen Vertretung wurde unmit531 Verfügung Peters I. o.D. 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 127r.
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telbar nach dem Abzug Kinskys im Sommer 1722 nach außen kommuniziert. So berichtete Hochholzer im August 1722 über seine Antrittsvisiten bei den übrigen Gesandten. Der Umstand, dass Hochholzer von sich aus die übrigen ausländischen Vertreter als Erster besuchte, deutet auf den bereits an anderer Stelle etwa von Stieve und Rohr angesprochenen Grundsatz der frühneuzeitlichen Diplomatie hin, wonach man sich bei den Antrittsbesuchen nach dem Rang des Gesandten zu richten habe. Demzufolge solle der Niederrangige dem Höherrangigen als erster die Ehre erweisen.532 Dies schien auch für Hochholzer eine Selbstverständlichkeit gewesen zu sein. So stattete er Ende August 1722 den allesamt höherrangigen Gesandten Dänemarks, Frankreichs und Preußens seine Antrittsvisiten ab, um diese von seiner Zurücklassung mit bisherigem Charakter in Kenntnis zu setzen und gleichzeitig deren »Freundschaft und Kommunikation« zu erbitten.533 Wenngleich diese Ankündigung unter den besuchten Ministern sogleich Spekulationen über eine Verschlechterung der Beziehungen zwischen St. Petersburg und Wien hätte wachrufen können, so wurde die Neuigkeit über die Veränderung des »Charakters« der diplomatischen Vertretung scheinbar nicht als ausschlaggebender Gradmesser für die bilateralen Beziehungen herangezogen. So waren die übrigen ausländischen Vertreter zu diesem Zeitpunkt allem Anschein nach von einer Rückkehr Kinskys nach Russland überzeugt, die der Ambassadeur noch vor seiner Abreise aus Moskau vielerorts in den Raum gestellt hatte. Das wird aus einer Relation Hochholzers vom März 1723 deutlich, in der er über Gerüchte berichtete, wonach Kinsky nach Petersburg zurückkehren und im Palais von Sˇafirov – der Anfang 1723 in Ungnade gefallen und verbannt worden war – untergebracht werden sollte. Es ist bezeichnend für die informationstechnische Versorgungslage des Legationssekretärs, dass er diesem Bericht verschlüsselt hinzufügt, nichts darüber zu wissen, weshalb er »indirekt« und »zweifelhaft« auf diesbezügliche Anfragen geantwortet habe.534 Wenngleich anzunehmen wäre, dass der kaiserliche Vertreter als Erster über derartige Informationen hätte verfügen müssen, so zeigt sich bei näherer Betrachtung der Kommunikation Hochholzers mit dem heimischen Hof, dass dieser in Hinblick auf Neuigkeiten vom heimischen Hof über weite Strecken sozusagen auf dem Trockenen saß. Bis zum Tod Peters I. im Jänner 1725 erreichten ihn insgesamt zwei Weisungen aus Wien, die im Zusammenhang mit der im Jahre 1724 stattfindenden Krönung der Zarin standen. Dieser Umstand zeigt, dass der Kaiserhof den Legationssekretär weniger als aktiven diplomati532 Vgl. Stieve, Hof-Ceremoniel, 285; Rohr, Einleitung, 398. 533 Vgl. Bericht Hochholzers an Sinzendorf v. 28. August 1722, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 27, Russica 1722, 307v. 534 Vgl. Bericht Hochholzers an Schönborn v. 12. März 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 57v.
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schen Akteur, sondern vielmehr als passiven Berichterstatter über die Vorgänge am russischen Hof betrachtete. So traf ihn die nachlässige Informationsversorgung von Seiten des heimischen Hofes, mit der auch viele andere hochrangige Diplomaten konfrontiert waren, besonders.535 Lediglich als ein offizieller Nachrichtenvermittler des Kaisers wurde er offensichtlich auch von den übrigen ausländischen Gesandten am russischen Hof wahrgenommen. So finden wir in deren Vergleichsdarstellungen nur vereinzelt Erwähnungen über den Legationssekretär, was auch die Einordnung der Selbstdarstellungen in seinen Berichten erschwert. Seine Relationen dienen uns daher vor allem als wertvolle Quellen über die (Repräsentations-)Aufgaben und Wahrnehmungsmuster eines niederrangigen diplomatischen Vertreters am fremden Hof. Diese Erkenntnis stellt somit auch den Mehrwert des vorliegenden Abschnittes dar und liefert gleichzeitig die Begründung dafür, warum mehr als zwei Jahre der zwischenstaatlichen Beziehungen in diesem Unterkapitel abgehandelt werden. Die aktive bilaterale Kommunikation, die im Zentrum der vorliegenden Untersuchung steht, war vor allem wegen des Konflikts um den Imperatorentitel im betrachteten Zeitraum faktisch auf Eis gelegt worden. Das war ein offenes Geheimnis, worüber auch die international zusammengesetzte Gesellschaft am russischen Hof und in den übrigen europäischen Machtzentren Bescheid wusste. Nichtsdestotrotz zeigen die Darstellungen Hochholzers, dass dieser Konflikt keineswegs offen, sondern vielmehr hinter vorgehaltener Hand ausgetragen wurde. Nach außen hin legten die russischen Macht- und Würdenträger dem kaiserlichen Legationssekretär gegenüber ein äußerst zuvorkommendes Verhalten an den Tag. Das zeigen die Beschreibungen Hochholzers über die höfischen Festivitäten im Laufe des Jahres 1723. So wurde der Legationssekretär sehr wohl als Vertreter des Kaisers wahrgenommen und aus diesem Grund vielfach mit allen anderen ausländischen Gesandten gemeinsam zu den Hofveranstaltungen eingeladen. Das wird aus seinen Relationen über die bei Hofe veranstalteten Feste anlässlich der hohen religiösen und weltlichen Feiertage deutlich, die Hochholzer vielfach in Begleitung seiner Ehefrau besuchte.536
535 Vgl. zum Problem der Informationsversorgung der Diplomaten etwa: Müller, Gesandtschaftswesen, 35. 536 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. über das Osterfest am russischen Hof v. 30. April 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 74r–79v ; Bericht Hochholzers an Karl VI. über das Fest anlässlich des Namenstages von Peter I. v. 12. Juli 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 164r–164v ; Bericht Hochholzers an Karl VI. über die bevorstehenden Maskeraden am russischen Hof v. 6. September 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 202v ; Bericht Hochholzers an Karl VI. über das Geburtstagsfest von Großfürst Petr Alekseevicˇ v. 25. Oktober 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 221v–222r ; Bericht Hochholzers an Karl VI. über das Fest anlässlich des Namenstages der Zarin v. 10. Dezember 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 241r–242v ;
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Abb. 7: Ein Beleg Hochholzers aktiver Teilnahme am russischen Hofleben – Skizze des Neujahrsfeuerwerks von 1723, die dem Legationssekretär im Rahmen der Feierlichkeiten von Peter I. persönlich überreicht wurde.537
Wenngleich seine Darstellungen der Feste meist nicht über kurze Ereignisberichte hinausreichen, so können einige davon auch als Beispiel für eine positive Selbstinszenierung des Autors gegenüber dem heimischen Hof herangezogen werden. Selbst wenn diese entsprechend seiner gesellschaftlichen Stellung wesentlich bescheidener als in den Berichten seines hochrangigen Vorgängers ausfiel, so spiegelt sich auch darin die bereits mehrfach angesprochene Funktion der Relationen als Mittel der Selbstdarstellung wider. So berichtete der Legationssekretär über das im April 1723 veranstaltete Osterfest, dass er gemeinsam mit den übrigen Gesandten zur Verkostung der geweihten Speisen an den Hof geladen worden sei, welche nach russischem Brauch mit dem gegenseitigen Wangenkuss mit dem Zaren beendet worden sei. Dabei habe er gemerkt, »daß dise meine beobachtung von denen czar[ischen] ministern sehr wohl aufgenommen worden, bey welchen ich den feyertag wunsch miteins gebührlich abBericht Hochholzers an Karl VI. über das Neujahrsfest am russischen Hof v. 25. Jänner 1724, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 95v–96r. 537 Beilage zum Bericht Hochholzers an Schönborn v. 15. Januar 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 20r.
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geleget habe.«538 Hinsichtlich des Jahrestages der Schlacht von Poltava etwa betonte Hochholzer, dass er und der holsteinische Resident als einzige ausländische Minister zum Fest eingeladen worden seien.539 Im Rahmen des am darauffolgenden Tag stattfindenden Namenstagsfestes des Zaren habe ihm dieser sogar die Ehre erwiesen, auf dem Weg in die Kirche bei ihm anzuhalten, um die Komplimente des Legationssekretärs entgegenzunehmen und ihn zu einer Jagd nach »Cronschloß« (Kronstadt) einzuladen, die für ihn sowie den schwedischen und sächsischen Gesandten bereitgestellt worden wäre.540 Aufgrund der fehlenden Vergleichsdarstellung anderer politischer Beobachter sagen uns diese Berichte weniger über die tatsächliche Haltung des russischen Hofes gegenüber Hochholzer, als vielmehr über seine eigene Position gegenüber dem heimischen Machtzentrum aus. Es ist bemerkenswert, dass er zu dieser positiven Selbstdarstellung vor allem in den ersten Berichten über sein selbstständiges Auftreten neigte. Aus der Sicht eines Beobachters liefert uns Hochholzer mit seinen Relationen über die angesprochenen Feierlichkeiten und andere höfische Veranstaltungen wertvolle Informationen hinsichtlich der Festkultur sowie der politischen Kommunikation am russischen Hof und seiner eigenen Fertigkeit als politischer Kommentator. Das geht etwa aus seinen Beschreibungen über die im Sommer 1723 anlässlich des Jahrestags des Friedens von Nystad veranstalteten Maskeraden hervor. Diesbezüglich erscheint es zunächst bemerkenswert, dass der Legationssekretär seine Teilnahme an diesen Belustigungen vor der Abhaltung derselben gegenüber dem Kaiser rechtfertigte. So könne er davon nicht fernbleiben, da sein Fehlen im Vorjahr von Seiten des russischen Hofes negativ aufgenommen worden sei. Er werde daher in der »Bande« und »Gesellschaft« der übrigen fremden Minister daran teilnehmen, dieselbe Verkleidung wie diese tragen und hoffe, damit keinen Fehler zu begehen.541 Offensichtlich hegte der Legationssekretär Befürchtungen, im Rahmen der Maskerade in ein Kostüm schlüpfen bzw. an einem Schauspiel teilnehmen zu müssen, das dem Wiener Hof missfallen könnte. Das erscheint umso wahrscheinlicher, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass die Maskeraden des Vorjahres keineswegs den Geschmack der Berichterstatter der zeitgenössischen Presse getroffen hatten. Über den Ablauf der Maskeraden wissen wir aus den Berichten Hochholzers, dass sich die 538 Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 30. April 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 74r–79v. 539 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 9. Juli 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 154v–155r. 540 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 12. Juli 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 164r–164v. 541 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 6. September 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 202v.
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Gesellschaft stets um drei Uhr nachmittags an einem bestimmten Ort traf, um in weiterer Folge im Garten eines russischen Ministers oder Fürsten zu trinken und spazieren zu gehen. Abgesehen von der bereits an anderen Stellen betonten Trinkfreude am russischen Hof spielte sich im Rahmen der Maskeraden auch ein in Hinblick auf die politische Kommunikation des russischen Hofes bemerkenswertes Ereignis ab. So ist Mensˇikov als Gastgeber der prächtigsten Maskerade im Ordenskleid des dänischen Elefantenordens erschienen, dessen Mitglied der Fürst war. Als Grund für die eigentümliche Verkleidung vermutete Hochholzer eine Provokation gegenüber Dänemark, dessen Minister aus diesem Grund ausgeblieben war. Der Legationssekretär glaubte, dass die höchstwahrscheinlich auf Wunsch des Zaren erfolgte Provokation bewusst vorbereitet worden sei, um das Missfallen Russlands über die Haltung Dänemarks hinsichtlich der Zollfreiheit, des russischen Imperatorentitels sowie der Restitution Schleswigs zum Ausdruck zu bringen.542 Hochholzers Reflexionen über die Verkleidung Mensˇikovs gehen somit wesentlich weiter als etwa jene des französischen Gesandten Campredon, der diesbezüglich lediglich festhält, dass der dänische Gesandte wahrscheinlich aufgrund des Kostüms des Gastgebers ausgeblieben sei.543 In den beiden Vormonaten schickte der Legationssekretär Berichte über die Teilnahme an gemeinsamen Jagden mit dem Zaren an den heimischen Hof, in denen er mitunter interessante Darstellungen über die Entwicklung der Petrinischen Prunkbauten sowie deren Bedeutung als internationale Prestigeobjekte mit einfließen ließ. Nachdem er im Juli 1723 mit den übrigen ausländischen Vertretern an einer Jagd in »Cronschloß« (Kronstadt) teilgenommen hatte,544 folgte im August die Einladung Peters I. nach Peterhof. Diesbezüglich hielt er fest, dass der russische Souverän ihm und den übrigen ausländischen Vertretern das neue Lustschloss persönlich zeigen wollte.545 Schon zuvor hatte Hochholzer seinen Hof über die Bauarbeiten in Peterhof am Laufenden gehalten. So berichtete er im Mai 1723, dass der Zar dorthin gefahren sei, um die Bauarbeiten selbst zu überwachen und ihnen die »bestmögliche Beförderung zu geben«. Unter Bezugnahme auf den mündlichen Bericht Kinskys hielt er fest, dass das Gebäude nach Fertigstellung wohl zu den berühmtesten in Europa zu rechnen 542 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 17. September 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 209r–210v. Vgl. dazu genauer : KHans [Hans] Bagger, Datsko-russkie otnosˇenija v XVIII v., in: Henning Gottlieb (Hg.), Danija i Rossija – 500 let, Moskva 1996, 62–84, hier : 66–69. 543 Vgl. Bericht Campredons v. 20. September 1723, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 49, Sankt-Peterburg 1885, 380. 544 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 16. Juli 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 177r–177v. 545 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 16. August 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 193r–193v.
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sei, wie der Ambassadeur dem Kaiser in seiner Schilderung wohl mitgeteilt haben wird.546 Hochholzers Beschreibungen über das Schloss fallen in ihrer Ausführlichkeit daher weit hinter jene anderer Diplomaten zurück. Der französische Gesandte Campredon etwa beschreibt die Sehenswürdigkeiten der gemeinsamen Reise mit dem Zaren bis ins kleinste Detail. Das beginnt mit einer genauen Beschreibung des künstlich angelegten, vom Meer zum Palast führenden Kanals, auf dessen Schleusensystem und die Wasserversorgung durch einen prunkvollen Brunnen er genau eingeht. Den Palast selbst bezeichnet er als relativ klein und noch nicht fertiggestellt, hebt jedoch dessen Ausstattung mit guten flämischen, italienischen und sogar chinesischen Bildern hervor. Darüber hinaus berichtete Campredon, dass der Zar selbst den ausländischen Gästen alle Räumlichkeiten des Palasts präsentierte, die er als klein, aber bequem bezeichnet und unter anderem deren bildertechnische Ausstattung und künstlerische Gestaltung unterstreicht. Dem folgt eine Beschreibung des quadratisch angelegten Gartens, in dem man beim Geräusch eines großen in Mitten des Parks befindlichen Brunnens sehr angenehm spazieren könne. Nach weiteren ausführlichen Schilderungen über andere in Peterhof befindliche Sehenswürdigkeiten betont auch der französische Vertreter den repräsentativen Charakter der Reise. So habe der Zar ihn als Kenner der architektonischen Schönheiten Frankreichs gefragt, ob er denn auch hier etwas Bemerkenswertes entdeckt hätte. Campredon antwortete »diplomatisch« und meinte, dass all die während der Kriegsjahre sowie unter einem derartigen Klima entstandenen »hervorragenden« Objekte Aufmerksamkeit verdienen würden.547 Ähnlich detaillierte Darstellungen finden wir auch in der Berichterstattung der »Europäischen Fama«. Neben der Ausführlichkeit des Artikels über den Aufenthalt der Gesandten in Peterhof sind vor allem deren Beurteilungen der russischen Hofkultur bemerkenswert und geben weiteren Aufschluss über das »von unten« transportierte Russlandbild dieser historisch-politischen Zeitschrift.548 Nach einer ausführlichen Beschreibung des Schlosses sowie des »Sightseeing-Programms« attestierten die Autoren dem russischen Hof sehr wohl das Vorhandensein von »Ergötzlichkeiten« und »hochfürstlichen Lustbarkeiten«. Wenngleich die Letztgenannten zwar nicht so »künstlich ausgesonnen« und »wohl eingerichtet« wie an anderen christlichen Höfen seien, so würden doch auch in Russland Geburts-, Namens- und Ordenstage, Gedächtnisse von gewonnenen Schlachten, geschlossenen Frieden und dergleichen mehr 546 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 10. Mai 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 79r. 547 Vgl. Bericht Campredons v. 3. September 1723, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 49, Sankt-Peterburg 1885, 370–374. 548 Vgl. dazu auch: Korzun, Huyssen, 58–59.
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begangen werden. Der Zar finde überdies besonderes »Wohlgefallen« an Maskeraden.549 Trotz dieses anerkennenden Grundtenors verfiel man daraufhin abermals in den bereits bekannten »Kulturchauvinismus«: »Bei allen diesen Gelegenheiten wird man grosse Pracht gewahr, aber auch hier und dar von dem alten Geschmack derer Russen, der freylich nicht der allerfeinste gewesen. Das Rafinement sur les Plaisires begreifft vieles unter sich, und ist im gantzen Ernste ein Anzeigen eines grossen Verstandes.«550
Damit spielten die Autoren natürlich auf den Verstand des Zaren an, dem sie in weiterer Folge auch eine »geschickte Wahl unter denen Ergötzlichkeiten« zuschreiben. Sein Verstand in diesen Angelegenheiten ist es dann auch, der sie eine wohlmeinende Perspektive hinsichtlich der russischen Hofkultur machen lässt: »Ob die Russen die sich in anderen Stücken ziemlich gelehrig erwiesen, es hierinn zu einer grossen Vollkommenheit bringen werden, stehet zu erwarten.«551 Neben der Einladung zu dieser Kulturreise mit repräsentativem Charakter erreichten die ausländischen Gesandten in den Sommermonaten wichtige politische Gerüchte. In seinem Bericht über die Einladung nach Peterhof hielt der französische Gesandte fest, dass der Hof Ende September nach Moskau abgehen wolle, um die Krönung der Zarin, ihre Ausrufung als zukünftige Regentin sowie die Nachfolge der älteren Tochter Peters vorzunehmen.552 Hochholzer hatte zum selben Zeitpunkt offensichtlich noch weniger Informationen über die konkreten Ereignisse, die in Moskau über die Bühne gehen sollten. Er informierte Wien im August und September 1723 lediglich über die bevorstehende Abreise dorthin und bat den Kaiser um weitere Befehle bezüglich der Mitreise.553 Erst Anfang Oktober 1723 wurde er konkreter, was die Gründe für die bevorstehende Übersiedlung des Hofes anbelangte. So habe er aus sicherer Quelle erfahren, dass »[…] sich der Czar alß Kayser von allen Reüßen crönen zu laßen willens ist, worzu bereits eine kostbahre cron zu welcher Fürst Menzikow viele jubelen und in specie einen doch grosen noch fast niemahlen geschehenen ungeschliffenen rubin contribuiren müssen.«554 Angesichts dieser bevorstehenden Ereignisse machte er 549 Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 270 (1723), 495–498. 550 Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 270 (1723), 498. 551 Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 270 (1723), 498–499. 552 Vgl. Bericht Campredons v. 13. August 1723, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 49, SanktPeterburg 1885, 363. 553 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 16. August 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 194v ; Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 6. September 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 202v. 554 Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 8. Oktober 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 218r.
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sich in weiterer Folge Gedanken, ob er in seiner Funktion als Repräsentant des Kaisers und damit eben auch als aktiver diplomatischer Akteur an den Feierlichkeiten teilnehmen sollte. So erinnerte er sich zwar, dass der Kaiser dem Grafen Kinsky bereits zuvor die Abreise nach Moskau verboten hatte. Nichtsdestotrotz gab er zu bedenken, dass der Zar sein Ausbleiben sicher sehr »empfindlich« aufnehmen würde, da alle anderen Minister, deren Souveräne den Imperatorentitel ebenso wenig anerkennen würden wie der Kaiser, auch dorthin aufbrechen würden. So erbat er von seinem Souverän abermals Befehle in dieser heiklen Angelegenheit.555 Hochholzers Wissensstand über die Motivation für die Reise nach Moskau macht einen klärenden Blick auf deren wahre Hintergründe notwendig. Wenngleich beide soeben angesprochenen Gesandten zum gegebenen Zeitpunkt zumindest offiziell noch nichts über die Hintergründe der Übersiedlung des Hofes wissen konnten, so hatte Campredon offensichtlich die besseren Informanten, da er mit seiner Prognose näher an den tatsächlich folgenden Ereignissen lag. So gab Peter I. im November 1723 ein Manifest heraus, in dem er die Krönung seiner Frau Ekaterina Alekseevna nicht nur ankündigte, sondern dieses Vorhaben gleichzeitig auch rechtfertigte. Konkret hatte die Zarin bereits im Dezember 1721 in einer Sitzung des Senats und Synods das Recht zugesprochen bekommen, als Frau Peters I. den Titel einer Imperatorin tragen zu dürfen. War dieser Anspruch seitdem also an das Eheverhältnis mit dem Souverän selbst gekoppelt, so wollte der Herrscher ihr diese Würde auch für die Zeit nach seinem Tod zusichern. Im Manifest argumentierte Peter I. damit, dass diese Vorgangsweise den Traditionen vieler christlicher Staaten, insbesondere jener von Byzanz, entsprechen würde. Gleichzeitig stellte er seine Frau darin als seine ständige Helferin in Staatsangelegenheiten dar und führte in diesem Zusammenhang etwa ihre Unterstützung durch die Mitreise im Persienfeldzug als Bestätigung an.556 Diese Argumentationsweise deutet eindeutig auf den Wunsch Peters I. hin, Katharina als seine Nachfolgerin festlegen zu wollen, weshalb dieses Manifest von der bisherigen Historiographie in größeren Zusammenhang mit der Sukzessionsfrage gebracht wurde. Anisimov und Pavlenko etwa stellten das Krönungsmanifest als einen weiteren Schritt in Richtung der Vorbereitung der Nachfolge Katharinas – nach der bereits erwähnten Sukzessionsregelung vom Februar 1722 – dar. Beide halten diesbezüglich fest, dass der »Ustav« von der Angelegenheit rund um den Thronfolger Aleksej beeinflusst gewesen sei, da 555 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 8. Oktober 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 218v–219r. 556 Vgl. Anisimov, Kuda, 21–22; N.I. Pavlenko, Ekaterina I, Moskva 2009, 23–24; Solov’ev, Istorija, Bd. IX, 706–707.
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Peter durch die Ersetzung des Erstgeborenenrechts durch ein vom Souverän abhängendes willkürliches Recht die Fortführung seines Reformkurses gewährleistet wissen wollte. Anisimov meint diesbezüglich, dass dieser Schritt in erster Linie gegen die Nachfolge des Großfürsten Petr Alekseevicˇ gerichtet gewesen sei. So sah das aus dem Vorpetrinischen Russland stammende Gewohnheitsrecht der Sukzession in der direkten männlichen Linie nach dem Tode des Zarevicˇ Aleksej 1718 sowie dem Ableben von Peters Sohn, Petr Petrovicˇ (1715–1719), aus seiner zweiten Ehe mit Katharina im Jahre 1719 den Großfürsten Petr Alekseevicˇ und Enkel Peters als Nachfolger vor. In der Befürchtung, damit die Gegner von Peters Reformen wieder an die Macht geraten zu lassen, habe er durch die Abschaffung des Erstgeborenrechts Petr Alekseevicˇ die rechtliche Grundlage für die Nachfolge nehmen wollen, welche unter den Untertanen große Zustimmung gefunden hätte. Pavlenko ist in diesem Zusammenhang etwas vorsichtiger und stellt das Verhältnis Peters zu seinem Enkel als ambivalent dar, ohne es in direkten Zusammenhang mit der Nachfolgeregelung bringen zu wollen. Er deutet die Vorgehensweise des Zaren rund um die Krönung als eindeutiges Zeichen dafür, Katharina in diesem aufwendigen und keineswegs nur dekorativen Akt gleichzeitig als Nachfolgerin festlegen zu wollen.557 Für den Wiener Hof war die Frage der Krönung Katharinas zunächst nicht wegen des Schicksals des Großfürsten ein heißes Eisen. Nach Empfang des Schreibens mit der Bitte um weitere Verhaltensvorgaben in dieser Frage versammelten sich die Konferenzminister im Dezember 1723 zu einer Sitzung in dieser Frage. Sie schlugen dem Kaiser folgende Vorgehensweise vor, welcher Karl VI. schließlich auch sein »Placet« erteilte. So möge Hochholzer dem Zaren bei Zeiten zwar folgen, sollte die Krönung jedoch frühzeitig veranstaltet werden, solle sich der Legationssekretär »zu Petersburg krank stellen« und erst etliche Wochen nach dem Akt in Moskau ankommen. Falls er vor den Feierlichkeiten doch dorthin abgehen müsse, was aus Sicht der Konferenzminister für den kaiserlichen Dienst als erforderlich erachtet wurde, solle er sich bei der Krönung »zum Ausgehen unkräftig« geben und allezeit dem Akt enthalten.558 Diesem Beschluss fügte der Kaiser in seiner wenige Tage später verfassten Weisung lediglich eine Bemerkung an, die bezeichnend für den Informationsaustausch mit dem Legationssekretär ist. In offensichtlich ungehaltenem Ton hält Karl VI. einleitend fest, dass er eine Wiederholung der Befehle für Kinsky vom Dezember 557 Vgl. Anisimov, Kuda, 19–21; E.V. Anisimov, Samoderzˇavie XVIII veka: Pravo pravit’ bez prava, in: Robert O. Crummey/Holm Sundhaussen/Ricarda Vulpius (Hgg.), Russische und Ukrainische Geschichte vom 16.–18. Jahrhundert, Wiesbaden 2001, 53–61; Pavlenko, Ekaterina, 22–23 sowie 46–48. 558 Vgl. Gutachten der Konferenzminister v. 7. Dezember 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 238r–239r ; Vgl. dazu auch: Brikner, Diplomaty, 535–536.
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1721 sowie Mai 1722 eigentlich für unnötig erachte. Hochholzer könne selbst ermessen, »[…] daß unser allerhöchste kay[serlichen] praerogativen nicht zulassen die anderwärts offent- oder heimblich vorkommente vermeyntlich kayserl[iche] ostentationen irgents wo persönlich ansehen zu lassen […].«559 Die Berichterstattung der »Europäischen Fama« im Vorfeld der Krönung Katharinas zeigt, dass eine derartige Vorgangsweise nicht einzigartig war und die wahren Hintergründe für ein mögliches Ausbleiben von den zeitgenössischen Beobachtern ohne größere Schwierigkeiten erahnt werden konnten. Zunächst machten die Autoren ganz allgemein darauf aufmerksam, dass sich der Zar in Anlehnung an die europäischen Sitten gemeinsam mit seiner Gemahlin krönen lassen wolle. Der russische Herrscher wolle diesem europäischen Gebrauch daher die nötige Ehre erweisen und ihn in seinem »Groß- und KleinRußischen Kaisertum« einführen. In diesem Zusammenhang bleibt in der »Europäischen Fama« jedoch unerwähnt, dass Peter I. dabei auf die byzantinische Krönungstradition zurückgriff – nämlich die Krönung der Ehefrau durch den Herrscher selbst.560 In weiterer Folge wird allerdings auf die sich für die ausländischen Gesandten diesbezüglich ergebenden Schwierigkeiten in der Kommunikation mit dem russischen Hof eingegangen. So habe Kanzler Golovkin diesen andeuten lassen, dass der Zar sich zum Kaiser krönen lassen wolle, und sie zur Krönungszeremonie eingeladen. Offensichtlich habe der russische Hof schon im Vorhinein mit Absagen gerechnet, da der Zar gleichzeitig die Hoffnung ausgesprochen habe, dass auch jene ausländischen Vertreter daran teilnehmen würden, deren Prinzipalen bislang noch nicht den Kaisertitel angenommen hatten.561 Der dänische, französische und andere Minister hätten daraufhin folgende Erklärung abgegeben: »Sie erkennten zwar die Ehre, die man ihnen durch diese Einladung erwiesen, mit gehörigem Danck, wären auch bereit mit nach Moscau zu reisen: wüsten aber nicht, wie sie die Beschuldigung einer Unhöflichkeit vermeiden, und doch zugleich ihren in Händen habenden Instructionen sich gemäß bezeigen könnten, als nach deren Innhalt es ihnen nicht zugelassen seyn würde, denen Solennitäten beyzuwohnen, und hernach bey Ihrer Maj[estät] als Kayser von Groß- und Klein-Rußland die GlückwünschungsComplimente abzulegen.«562
559 Weisung Karls VI. an Hochholzer v. 15. Dezember 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 252v. Vgl. dazu auch: Brikner, Diplomaty, 533. 560 Vgl. Richard S. Wortman, Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy. From Peter the Great to the Abdication of Nicholas II, Princeton 2006, 34–37. 561 Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 270 (1723), 519–522. 562 Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 270 (1723), 519–522.
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Die scheinbare Offensichtlichkeit der sich ergebenden Kommunikationsprobleme könnte auch der Grund für die widerwillig verfasste Weisung des Kaisers gewesen sein. Sie zählte zu den seltenen Ausnahmen, in denen der heimische Hof mit Hochholzer in Kontakt trat. Schließlich standen in dieser Frage auch die kaiserlichen Prärogative auf dem Spiel, die Karl VI. durch ein Erscheinen seines Vertreters bei der Krönung der Zarin in Gefahr sah. Wenngleich der Wiener Hof in diesem Fall den Legationssekretär seiner repräsentativen Pflichten enthob, so trat Hochholzer Ende des Jahres 1723 auch als offizieller Vertreter des Kaisers auf – allerdings in einem gänzlich anderen Zusammenhang. Ebenso wie Kinsky zwei Jahre zuvor nahm auch Hochholzer den Namenstag seines Souveräns zum Anlass, um ein Fest bei sich auszurichten. Gerade der Vergleich zwischen den beiden Feierlichkeiten eignet sich hervorragend, um zu zeigen, dass bei derartigen Anlässen auch der Rang des jeweiligen Diplomaten eine Rolle spielte und damit auch der Grad der Repräsentation seiner Gesandtschaft zum Ausdruck gebracht wurde. Wollen wir uns zunächst in Erinnerung rufen, dass Kinsky nach Anfrage über Jaguzˇinskij beim Zaren nicht nur den fremden Herrscher selbst, sondern auch alle Mitglieder des Ministeriums, der Admiralität und Generalität sowie den Herzog von Holstein begrüßen durfte. Die Gästeliste des Fests bei Hochholzer wich davon jedoch deutlich ab. So hatte der Legationssekretär bei dieser Gelegenheit neben den fremden Gesandten und Ministern von russischer Seite nur den Geheimrat Ostermann sowie einige holsteinische Kavaliere »tractiren« dürfen, welche laut seinen Angaben allesamt sehr »fröhlich« und »content« gewesen seien.563 Es liegt also die Vermutung nahe, dass der Legationssekretär es wegen seines niedrigen Repräsentationsgrades gar nicht für angemessen erachtete, höhere Würdenträger, geschweige denn den Herrscher des fremden Hofes, einzuladen. Diese Annahme wird durch seine weiteren Ausführungen auch bestätigt. Nachdem sie sich von der Tafel erhoben hätten, sei der Herzog von Holstein von sich aus zu ihm gekommen und habe scherzhaft gemeint, dass er wegen der fehlenden Einladung Hochholzers eben ungebeten vorbeikommen hätte müssen, um seine »Devotion« und »Verneration« für den Kaiser zum Ausdruck zu bringen. Die darauffolgende Antwort des Legationssekretärs ist bezeichnend für seine Selbstwahrnehmung als niedriger diplomatischer Vertreter am fremden Hof. So habe er dem Herzog »submissest« geantwortet, »daß gleich wie ich diese höchste ehre mit der unterthänigsten dancknemmlichkeit erkennete, so hatte ich doch auch aus lauter ehrerbietigkeit, und tiefen respect meine geringe haushal-
563 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 19. November 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 236r.
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tung nicht zulänglich erachtet, einen so hohen gast bey mir zu bewirthen.«564 Der auf kaiserlichen Beistand in der Schleswig-Frage hoffende Herzog habe daraufhin der Gesellschaft vier Stunden lang seine Ehre erwiesen, auf die Gesundheit des Kaisers getrunken und seine eigenen Musiker zur allgemeinen Unterhaltung zur Verfügung gestellt, was er noch bei keinem anderen ausländischen Gesandten gemacht hätte. Als weiteres Alleinstellungsmerkmal seines Fests hält er fest, dass er die ganze »Campagne« von Anfang bis Ende mit Tokajer-Wein versorgen hätte können, und bittet den Kaiser schließlich, seine Schilderungen mit »Wohlgefallen aufzunehmen«. Aus diesen Worten geht hervor, dass das Fest Hochholzers einen wesentlich geringeren repräsentativen Charakter hatte und in erster Linie die anderen ausländischen Minister ansprechen sollte. Während Kinsky als unmittelbarer Vertreter des Kaisers damit die Würde seines Herrschers gegenüber dem fremden Hof zum Ausdruck brachte, wollte Hochholzer damit vielmehr seine Zugehörigkeit zum Kreis der auswärtigen Diplomaten als offizieller Repräsentant des Wiener Hofes hervorheben. Dieser Unterschied in der Selbstwahrnehmung der kaiserlichen Gesandten ist bezeichnend für deren kommunikative Haltung gegenüber dem gastgebenden Hof. Während Kinsky als direkter Vertreter des Kaisers eine äußerst aktive Interaktion mit den russischen Macht- und Würdenträgern pflegte, nahm Hochholzer eine eher passive Rolle im Austausch mit diesen ein und trat nur in äußerst bescheidener Form als Repräsentant des Herrschers auf. Der Legationssekretär hatte also tatsächlich in erster Linie die Aufgabe eines offiziellen Berichterstatters und nahm diese sehr gewissenhaft wahr. Das zeigen seine Relationen über das Schicksal des kaiserlichen Neffen Petr Alekseevicˇ deutlich, das er im Zuge des allmählichen Bekanntwerdens der Krönung Katharinas immer enger mit der Sukzessionsfrage verknüpfte. Im April des Jahres 1723 hielt er diesbezüglich noch fest, dass es um die Sukzession des Großfürsten sehr ruhig geworden sei.565 So legte der Legationssekretär seine Anstrengungen zunächst voll auf die Informationsbeschaffung über die Erziehung desselben. Im Mai 1723 ließ er dem Kaiser darüber einen äußerst ausführlichen Bericht zukommen, in dessen Einleitung Hochholzer seine Hauptaufgabe als Beobachter und Berichterstatter anspricht: »Gleich wie meine vorherige allergehorsambst relationes E[uer] Kay[serlichen] May[estät] meiner treu fleisigsten aufsicht, und all- möglichste beobachtung ihro allerhöchsten dienstes am hiesigen hof allerunterthänigst versichert, als habe ich mich auch wegen der von der höchst seeligsten verstorbenen cron prinzessin hinterlassenen 564 Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 19. November 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 236v. 565 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 19. April 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 65r–65v.
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jungen herrschaft ihrer dermahlen education, und was mir immer dieser höchstwichtiges angelegenheit anhängig seyn kann embsigst, und mit aller nöthigen praecaution zu informiren getrachtet.«566
Dabei griff er auf dieselben Informanten wie sein Vorgänger Kinsky zurück und trat mit einem bereits mit der verstorbenen Mutter des Großfürsten nach Russland gekommenen Informanten namens Seemann in Kontakt. Diese erste Tuchfühlung benötigte insofern die angesprochene Vorsicht, da ein Umgang mit ausländischen Gesandten aufgrund möglicher Konsequenzen von Seiten des russischen Hofs laut Hochholzer sehr gefürchtet war. Aus diesem Grund berief er sich auf den Grafen Kinsky, um seinen Gesprächspartner zu einer »offenherzigen Erzählung« zu bewegen.567 Diese Empfehlung erweckte offensichtlich das notwendige Vertrauen bei seinem Informanten, da »er mich«, so der Legationssekretär in seinem Bericht, »dann auch auf einen anderen tag allein zu sich gebeten, und da ich erschienen, so seyn wir wohl etliche stunden in dem discurs von dieser materi verharret.«568 In diesem Gespräch wurde Hochholzer zunächst über die Lebensumstände und Erziehungsinhalte des Großfürsten und seiner Schwester unterrichtet. Neben Sprachunterricht in deutscher und russischer Sprache soll der Großfürst demzufolge bislang auch im Fechten und Schiffsbau unterrichtet worden sein und genieße überdies eine der »russischen Religion« entsprechende Erziehung. Seine Hofstatt setze sich ausschließlich aus Russen zusammen, wobei er in einem Haus mit der Zarenfamilie lebe, an der Tafel der Prinzessin Platz nehme und stets gut gekleidet sei. Seemann hob überdies hervor, dass sich die Zarin selbst seiner angenommen habe und die beiden Majestäten ihm mit großer »Liebe« und »Neigung« begegnen würden. Besonders interessant stellen sich die näheren Ausführungen über den Charakter des kaiserlichen Neffen dar. Neben seinem »guten Verstand« und »Judicium«, seiner »Freundlichkeit« und »Herzhaftigkeit« sowie der »Neigung zu militärischen Übungen« wurde vor allem seine Ähnlichkeit zu Peter I. betont. So seien viele davon überzeugt, dass er dem »Zaren selbst nacharte«, weshalb auch zu hoffen sei, dass er dem »Genie des Zaren erwachsen werde«. Damit stellte Hochholzer den Großfürsten natürlich in direkten Vergleich zu seinem Vater Aleksej, zu dem der Wiener Hof seit der Causa um den Zarevicˇ zumindest ein ambivalentes Verhältnis hatte. Hinsichtlich einer möglichen Sukzession des kaiserlichen Neffen hielt sich Hochholzer prinzipiell zuversichtlich, auch wenn es Gerüchte gebe, dass Peters ältere Tochter 566 Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 28. Mai 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 110r. 567 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 28. Mai 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 110r–110v. 568 Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 28. Mai 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 110v.
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als Kronprinzessin bezeichnet würde. Die vornehmsten russischen Adelsgeschlechter stünden auf seiner Seite, wenngleich darüber absolutes Schweigen herrsche, der Zar sich nicht einmal mit seinen engsten Vertrauten darüber austausche und sich in dieser Frage offensichtlich nur mit der Zarin beratschlage.569 Mit fortschreitender Zeit und dem Bekanntwerden der Krönung Katharinas schwächte die Zuversicht Hochholzers bezüglich der Sukzession des Großfürsten ab. Sich jeweils auf einen »sicheren« bzw. »guten Freund« berufend, berichtete er im Laufe der Folgemonate über unerfreuliche Gerüchte hinsichtlich der Sukzession. So zunächst im Juni 1723, als er in Erfahrung bringen konnte, dass die Tochter Peters kurz darauf als Kronprinzessin festgelegt werden sollte, wobei er dieser Neuigkeit nur wenig Glauben schenkte.570 Schon konkreter wurden seine Befürchtungen im Dezember desselben Jahres, als er mit der Zuspielung einer deutschen Übersetzung des Edikts über die Krönung der Zarin auch die Nachricht erhalten hatte, wonach deren Nachfolge eine »ausgemachte Sache« sei. Es ist bemerkenswert, dass Hochholzer zu diesem Zeitpunkt bereits die später von der Sekundärliteratur ebenso dargestellte Haltung der hohen russischen Aristokratie in dieser Frage kannte. Demnach sei es unwahrscheinlich, dass sich die durch den vorangegangenen Krieg stark belastete Nation von einem »Weibe ausländischer Extraktion« regieren lasse, da sie ebenso wie das gemeine Volk für die Nachfolge des Großfürsten sei.571 Das in dieser Einschätzung zum Vorschein kommende Frauenbild spiegelt sich auch in einem darauffolgenden Bericht Hochholzers über einen Wechsel des Erziehers des Großfürsten wider. So berichtet Hochholzer darüber, dass der Zar dem Großfürsten einen neuen Erzieher namens Sekan (russische Variante: Ivan Alekseevicˇ Zejkin) zur Seite gestellt habe, der laut Hochholzers Angaben ein zur Orthodoxie konvertierter ungarischstämmiger Katholik war und bereits die Prinzen Narysˇkin erzogen hatte. Der bereits betagte Mann habe seinen aus Danzig stammenden Vorgänger abgelöst, da dieser sich bei Peter I. fälschlicherweise als Hannoveraner ausgegeben und damit den Hass des Zaren auf sich gezogenen hatte.572 Mit diesem Wechsel sei der Großfürst auf jeden Fall aus den Händen der Weiber geraten, die Hochholzer in Anspielung auf die Zarin offensichtlich für 569 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 28. Mai 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 110v–113v. 570 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 4. Juni 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 121r–124v. 571 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 10. Dezember 1723, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 28, Russica 1723, 247r–248r. 572 In der Sekundärliteratur wird darüber festgehalten, dass Katharina zunächst ihren Pagen Semen Afanasevicˇ Mavrina für die Erziehung des Großfürsten abgestellt hatte, der vom Zaren durch den kompetenteren Ivan Alekseevicˇ Zejkin ausgetauscht wurde. Vgl. Pavlenko, Ekaterina, 22.
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die Erziehung eines jungen Fürsten als nicht geeignet erachtete. Abgesehen von einer Ausbildung in Französisch und Latein könne man sich von dem neuen Erzieher aber kaum etwas erwarten.573 Neben seinem Dasein als Berichterstatter war Hochholzer mit dem Herannahen der Krönung Katharinas zunehmend auch in seiner Funktion als Repräsentant des Kaisers gefragt. Ende Februar 1724 berichtete er nach Wien, dass der Zar bereits nach Moskau abgereist sei und die Krönung für den 19. April anberaumt worden sei, wobei der Hof bereits im Juni 1724 nach St. Petersburg zurückkehren solle.574 Wie so oft bei derartigen höfischen Feierlichkeiten, konnte auch in diesem Fall der anfänglich getroffene Zeitplan nicht eingehalten werden. Wie wir aus den Weisungen Hochholzers wissen, zwangen ihn derartige Verzögerungen zur Anreise nach Moskau. Von dort berichtete er Anfang April, dass viele über seine Reise in die Krönungsstadt verwundert gewesen seien. Er werde daher umso »mehr besorgt sein müssen«, um seinem Ausbleiben bei diesem Akt »einen wahrscheinlichen Glanz« geben zu können.575 Diese Einschätzung Hochholzers deutet darauf hin, dass die internationale Beobachtergesellschaft des russischen Hofs den Legationssekretär in diesem Zusammenhang trotz seines niedrigen diplomatischen Ranges auch als offiziellen Vertreter des Kaisers wahrnahm. Der erwähnte Umstand machte es notwendig, dass er die Vorbereitungen der Krönung im Auge behielt, um sozusagen rechtzeitig den Absprung schaffen zu können. Diese liefen im Laufe des Aprils 1724 offensichtlich auf Hochtouren, wie Hochholzer Ende des Monats festhielt. Da die Krönung zu diesem Zeitpunkt für den 1. Mai festgelegt war, jedoch mit weiteren Verzögerungen gerechnet werden musste, wurde die »Prolongation« auf den vom Kaiser vorgegebenen »Vorwand zum Wegbleiben« für den Legationssekretär nicht nur »umso wahrscheinlicher«, sondern gleichzeitig auch umso »dienlicher«. So sei im Mai eben die übliche Zeit für Kuren, die er von seinem »Medico« tatsächlich verschrieben bekommen hatte.576 In diesem Bericht machte der Legationssekretär auf einen weiteren Umstand aufmerksam, der nicht nur für die Interaktion des Gesandten am fremden Hof ausschlaggebend, sondern auch für seine Informationsversorgung bezeichnend war. So habe er vom holsteinischen Vertreter Andreas Ernst von Stambke
573 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 25. Jänner 1724, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 128r–129r. 574 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 29. Februar 1724, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 126v–128r. 575 Vgl. Bericht Hochholzers an Schönborn v. 7. April 1724, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 136r. 576 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 24. April 1724, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 147r–147v.
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(1670–1739)577 erfahren, dass der Kaiser dem Herzog von Holstein die Zulegung des Königstitels versprochen habe.578 Hochholzer musste diese Neuigkeit, die natürlich auch für seine Kommunikation mit dem in Russland befindlichen holsteinischen Hof nicht unerheblich war, sozusagen aus zweiter Hand erfahren. Der Kaiser erachtete es offenbar nicht für notwendig, seinen Gesandten davon selbst in Kenntnis zu setzen, obwohl Fragen des Titels und der Anrede keine Nebensächlichkeiten darstellten, wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben. Das wird aus Hochholzers Berichten über die Krönung Katharinas deutlich, die er bereits aus »Perowa« – mittlerweile ein Bezirk Moskaus im Osten der Stadt (»Perovo«) – nach Wien schickte. Darin schilderte er vor allem die Reaktion des russischen Hofes auf sein Ausbleiben bei der Krönung. Nachdem der Legationssekretär aus sicherer Quelle erfahren hatte, dass die Krönung am 7. Mai stattfinden sollte, zögerte er keine Minute lang, die Stadt zu verlassen. Um nicht mit einer Einladung von Seiten des russischen Hofes »überfallen« zu werden, legte er seine Absentierung für den nächsten Tag nach dem Erhalt der Nachricht fest. Als Vorwand seiner Abreise habe er eine »unumgänglich notwendige Majal-Cur« angegeben, die er nunmehr tatsächlich für vier Wochen in Anspruch nehmen müsse. Genauer gesagt hatte er einen seiner Kanzleibediensteten mit der Nachricht für den russischen Hof hinterlassen. Aus diesem Grund habe er sich seit seiner Ankunft in Moskau auch »unpässlich angestellet«, weshalb er das am Vortag stattgefunden habende Geburtstagsfest des Herzogs von Holstein nur kurz besuchte, um sich nach der Überbringung seiner Glückwünsche zu entschuldigen. Überdies habe er aus vertraulichen Quellen erfahren, dass der Zar sich bei einer Konferenz erkundigt habe, ob der kaiserliche Legationssekretär ihnen auch die »Ehre geben« würde. Hochholzer, dem die Frage des »guten Freundes« verdächtig vorkam, habe darauf geantwortet, dass er zunächst die Einladung abwarten wolle. Konkret vermutete er dahinter eine List des russischen Hofes, über den Informanten Näheres über Hochholzers wahre Haltung hinsichtlich der Krönung zu erfahren. All das führte
577 Baron Andreas Ernst von Stambke wurde 1720 zum holsteinischen Staatsrat ernannt und als außerordentlicher Gesandter nach Russland geschickt. Abgesehen von einigen kleineren Unterbrechungen blieb er dort bis zum Jahre 1729 und erlangte in dieser Zeit viel Einfluss und unterschiedliche Ehrungen von holsteinischer und russischer Seite. Stambke pflegte zum Teil ein sehr freundschaftliches Verhältnis mit den kaiserlichen Vertretern am russischen Hof, worauf in dieser Untersuchung noch ausführlich eingegangen wird. Vgl. Stambke, Andreas Ernst, Baron von, in: Schleswig-Holsteinisches Biographisches Lexikon, Bd. 3, Neumünster 1974, 252–253. 578 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 24. April 1724, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 147r.
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ihn zur Vermutung, dass seine »Wegbleibung sicherlich unangenehm sein dürfte«.579 Vom scheinbaren Kuraufenthalt in »Perowa« setzte er seinen Hof davon in Kenntnis, dass die Krönung unter Beteiligung der Gesandten Frankreichs, Dänemarks, der Niederlande, Schwedens und Sachsens stattgefunden hätte. In seiner Abwesenheit habe der russische Hof auch ihn dazu eingeladen bzw. den verbliebenen Kanzleibediensteten gebeten, Hochholzer davon in Kenntnis zu setzen. Aus diesem Grund fasste Hochholzer den Beschluss, auch nach der Krönung einige Tage außerhalb der Stadt zu verweilen, um sicher zu gehen, dass alle »Solemnitäten« vorübergegangen seien. Außerdem habe er von einem guten Freund erfahren, dass man sich an einem sehr »vornehmen Ort« – Hochholzer vermutete dahinter den Fürsten Mensˇikov – nach ihm erkundigt hätte.580 Wieder zurück in Moskau berichtete er, dass seine Abwesenheit bei der Krönung bislang keine Folgen gehabt hätte und der Entschuldigungsgrund der Kur »allgemeiniglich geglaubt« werde. Für diese Feststellung griff er auf weitere Berichte über die bereits erwähnte Sitzung mit dem Zaren zurück, bei der sich Peter I. über die Anwesenheit Hochholzers erkundigt habe.581 Auf dessen Nachfrage seien ihm die Gründe für das Fernbleiben genannt worden, »[w]ornach sich endlichen derselbe wohl gefunden haben solle, so wie mir von einem, welcher gegenwärtig gewesen weitlaüfig erzellet worden ist.«582 Überdies beschreibt der Legationssekretär auch die im Rahmen der Krönung stattgefundenen Zeremonien, wobei er sich dabei natürlich auf Berichte von anwesenden Beobachtern verlassen musste. Natürlich geht er mit seinen Schilderungen nicht ins Detail. Nichtsdestotrotz dürfte er gute Informanten gehabt haben. So decken sich seine Ausführungen im Wesentlichen etwa mit den Beschreibungen Pavlenkos, der die Krönung anhand der offiziellen Hofberichterstattung sowie der Darstellungen des holsteinischen Kammerjunkers Friedrich Wilhelm von Bergholz (1699–1765) rekonstruierte.583 Besonders dürfte den Wiener Hof die Feststellung Hochholzers interessiert haben, dass die ausländischen Gesandten im Rahmen ihrer Glückwunschbekundungen am Folgetag der Zeremonie der Zarin nur zur
579 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 1. Mai 1724, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 157r–157v ; Brikner, Diplomaty, 536. 580 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 19. Mai 1724, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 158r–158v. 581 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 29. Mai 1724, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 162v. 582 Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 29. Mai 1724, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 162v. 583 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 29. Mai 1724, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 161r–162v ; Pavlenko, Ekaterina, 25–27.
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Krönung gratuliert, dabei jedoch nicht den Imperatorentitel verwendet hätten.584 In seinem darauffolgenden Bericht machte Hochholzer seinen Hof überdies auf ein wichtiges Detail hinsichtlich der Krönung aufmerksam. So sei die Zarin im Rahmen der Zeremonie auch gesalbt worden, was ihr das Recht auf die Sukzession einräume.585 Diese Lesart des Zeremoniells finden wir etwa auch im Bericht des französischen Gesandten Campredons: »Ce qu’il y a de plus remarquable, c’est que la Czarine a ¦t¦ ointe, contre l’usage ordinaire, en sorte que par cette c¦r¦monie elle est reconnue r¦gente et souvraine aprÀs la mort du Czar, son ¦poux.«586 Die »Europäische Fama«, die über die Ereignisse und Zeremonielle rund um die Krönung sehr ausführlich berichtet, hob dieses Detail der Feierlichkeiten allerdings nicht hervor.587 Sozusagen »post mortem imperatoris« stellte sie die Krönung jedoch sehr wohl als Ausdruck des Willens Peters I. zur Nachfolge seiner Frau dar : »Der Czaar ist unstreitig mit dem, was nach seinem Absterben ausgebrochen, seit geraumer Zeit umgegangen, und hat in seinem Hertzen seiner Frau Gemahlin, deren Würdigkeit und Fähigkeit er durch so viele Beweisthümer kennen lernen, die Beherrschung der Russischen Monarchie nach seinem Tode zugedacht gehabt.«588 In Anbetracht des Charakters seiner Untertanen, die sich nur allzu gern vom Glanz sowie äußerlichen Gebräuchen und Zeremonien blenden lassen würden, habe Peter I. deren Schwachheit genutzt und sie auf die Herrschaft seiner Frau vorbereitet, indem er sie zur Kaiserin krönte und ihr damit einen Teil seiner Majestät zukommen ließ. Diesen Willen habe er bereits im Manifest über die Krönung Katharinas durchblicken lassen, weshalb die Autoren es wortgetreu wiedergaben.589 Insgesamt zeigte das »diplomatische Corps« am russischen Hof allem Anschein nach nur wenig Verständnis für die Krönung Katharinas. So berichtete der Legationssekretär Folgendes über das erste Zusammentreffen mit den übrigen fremden Gesandten: »Schlüßlichen habe ich nach meiner zurückkonft ein und andere frembden ministern visiten gegeben, welche die von mir vorgewendete ursach meiner abweesendheit von der crönung für eine politische kranckheit 584 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 29. Mai 1724, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 162v. 585 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 02. Juni 1724, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 165r–166r. 586 Bericht Campredons an Morville v. 26. Mai 1724, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 52, Sankt-Peterburg 1886, 220. 587 Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 281 (1725), 349–362. 588 Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 281 (1725), 349. 589 Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 281 (1725), 349–351.
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halteten, meine dießfällige conduite gelobet haben.«590 Hochholzer blieb jedoch vorsichtig, schließlich hätte diese Belobigung von Seiten seiner Kollegen auch eine List sein können, um eine Bestätigung für den wahren und scheinbar offensichtlichen Grund seines Ausbleibens zu bekommen und dieses Wissen möglicherweise gegen ihn zu verwenden. Er habe ihnen daher geantwortet, »[…] daß ihnen meine unpäßlichkeit, mit welcher ich noch aus Petersburg anhero gekommen nicht verborgen seye, und übrigens hätte ich von E[uer] Kay[serlichen] May[estät] den generalen befehl die czarische hofstatt fürnemblich das ministerium aller orthen zu folgen worauf ich auch meine anhero reis von Petersburg gegründet habe. Und hätte ich zwar wohl eine nähere instruction gehoffet, dieselbe aber nicht erhalten.«591
Die Frage rund um den umstrittenen russischen Imperatorentitel beschäftigte Hochholzer und den Wiener Hof auch in den darauffolgenden Monaten bis zum Tode Peters I. im Jänner 1725. So erhielt er vom Kaiser zunächst Instruktionen für sein Verhalten nach der Krönung Katharinas. Besonders interessant ist die Diktion Karls VI. in Zusammenhang mit der Titelfrage: So solle Hochholzers »Personal Erscheinung« jedes Mal unter einem »wahrscheinlichen Vorwand« ausbleiben, »[…] wan, wo und so oft es beym czarischen hof auf eine vermeyntlich kay[serliche] gepräng angesehen wäre […].«592 In allen anderen Fragen möge sich der Legationssekretär daran orientieren, was »Herkommens« üblich und »andere zu tun pflegen«, wobei der Kaiser seinem Gesandten einen kleinen Handlungsspielraum einräumte, indem er bei unvorhersehbaren Ereignissen auf das »Geschick« Hochholzers zählte.593 In Hinblick auf die erwähnte »vermeintliche kaiserliche Gepräng« sollte sich bis Anfang 1725 kein großes Brimborium mehr ereignen. So berichtete Hochholzer im Oktober 1724 darüber, dass er vom kaiserlichen Legationssekretär in Schweden, Christoph Theodor Antivari, die Abschrift einer Verordnung des Fürsten Repnin bekommen habe, wonach die russischen Untertanen anstelle des bisherigen Kaisertitels die Bezeichnung Imperator für den russischen Monarchen verwendeten.594 Im Jänner 1725 erhielt Hochholzer schließlich über denselben Informationskanal, diesmal jedoch vom am schwedischen Hof bevollmächtigten kaiserlichen Mi590 Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 2. Juni 1724, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 166r. 591 Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 2. Juni 1724, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 166r–166v. 592 Weisung Karls VI. an Hochholzer v. 8. Juli 1724, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 170r. 593 Vgl. Weisung Karls VI. an Hochholzer v. 8. Juli 1724, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 170r. 594 Vgl. Bericht Antivaris an Hochholzer v. 25. Oktober 1724, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 222r–223v.
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nister Graf Fridag, die Nachricht, dass der russische Kaisertitel von Schweden anerkannt worden sei, ohne dass jedoch eine Veränderung im Zeremoniell erfolgt sei.595 Dieser Informationsaustausch ist ein zusätzlicher Beweis dafür, dass die kaiserliche Diplomatie an allen europäischen Höfen ein besonderes Auge auf die Entwicklung der Frage um den russischen Kaisertitel warf. Weiteren Aufschluss über das innere Kommunikationssystem der Wiener Außenpolitik liefert eine Weisung des Kaisers an seinen Legationssekretär vom Dezember 1724. Darin unterrichtet Karl VI. Hochholzer darüber, dass der bereits mehrfach erwähnte Graf Rabutin als Zeichen des kaiserlichen Interesses für das »gemeinsame Reichswesen« sowie der »Freundschaft« nach Berlin gesandt worden sei. Ihm sei aufgetragen worden, den Legationssekretär über die Vorgänge in Preußen zu informieren. Hochholzer wiederum solle Rabutin im Gegenzug über die Ereignisse am russischen Hof informieren.596 Diese Weisung zeigt nicht nur die bereits mehrfach angesprochene Wichtigkeit der Informationsachse Berlin – St. Petersburg – Wien, sondern deutet auch darauf hin, dass Hochholzer mit seinem späteren Missionschef Rabutin schon vor dessen Versetzung nach Russland in Kontakt stand. Abgesehen vom Kaisertitel war Hochholzer nach der Krönung Katharinas ganz besonders am Schicksal des jungen Großfürsten interessiert. Seinen Bericht über das Fest anlässlich des neunten Geburtstags des Großfürsten nützte der Legationssekretär auch dazu, den Kaiser über die weitere Entwicklung von Petr Alekseevicˇ zu informieren. So gereiche das »schöne Wachstum« desselben allen am russischen Hofe zur »großen Freude«.597 Nichtsdestotrotz hege er weiterhin Bedenken hinsichtlich der Erziehung des Großfürsten. Demnach »seynd derselben natürliche schene eigenschaften umb so viel mehr zu admiriren, als noch immer die einen solchen Fürsten convenable education in und nach anderung geschehen ist, ermangelet.«598 Die weiteren Ereignisse am russischen Hof veranlassten Hochholzer jedoch dazu, vor allem über die Sukzession des kaiserlichen Neffen zu spekulieren. So berichtete er im Dezember 1724, dass nunmehr die Verlobung zwischen dem Herzog von Holstein und der ältesten Tochter des Zaren, Anna Petrovna (1708–1728), stattgefunden habe. Aufgrund dieser Verbindung würden alle glauben, dass die Sukzession des Großfürsten 595 Vgl. Bericht Fridags an Karl VI. v. 27. Jänner 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 34r–35r. 596 Vgl. Weisung Karls VI. an Hochholzer v. 10. Dezember 1724, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 4r. 597 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 24. Oktober 1724, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 218r. 598 Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 24. Oktober 1724, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 218r.
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nicht »ausbleiben solle«. So habe er selbst auch bemerkt, dass der Zar diesem eine vorher nicht dagewesene »Estime« ebenso wie »Liebeszeichen« entgegenbringe. Außerdem seien alle russischen Fürsten und Bojaren dem Großfürsten mit »ganzem Herzen« zugetan. Eine Ausnahme würden lediglich jene Personen bilden, die bei der Verfolgung des Zarevicˇ mitgeholfen hätten – allen voran Graf Tolstoj. Vom gemeinen Volk würde Petr Alekseevicˇ jedoch »unbeschwerlich geliebt« werden. Diese Beobachtungen führten Hochholzer zu dem Schluss, dass es um die Sukzession des Großfürsten gut bestellt sei, obwohl es bislang so schien, als wollte der Zar seine älteste Tochter auf den Thron setzen. Hinsichtlich der Sukzession habe er ganz allgemein vernommen, dass nicht nur die »Großen« des Reiches, sondern auch die »in Kriegsdiensten Stehenden« nach dem Tod des Zaren dem »unbeschränkten Despotismus« des Herrschers ein Ende setzen und eine Nachfolgeregelung »nach dem Exempel anderer europäischer Reiche« etablieren wollten.599 Diese positive Haltung gegenüber der Sukzession des Großfürsten behielt Hochholzer bis zur Todesstunde des Zaren bei. So zeigen seine Berichte, dass er auch über die im Jänner 1725 sich verschlechternde Krankheit Peters I. auf dem Laufenden gehalten wurde. Am Vorabend des Todes Peters I. setzte er seinen Hof davon in Kenntnis, dass der Zar an einer »retentionem urinae« leide, die den Zar trotz einer Operation in einen lebensbedrohlichen Zustand versetzt hätte.600 An dieser Stelle lohnt sich ein kurzer Exkurs auf die Berichterstattung der zeitgenössischen Presse über den Gesundheitszustand des russischen Herrschers. Ein Blick auf die von oben gesteuerte Hofpresse zeigt, dass der kritische Zustand des Zaren im »Wienerischen Diarium« nicht nur übergangen, sondern bewusst verschwiegen oder schön gefärbt wurde. In einem vom 30. Jänner 1725 stammenden Bericht aus St. Petersburg wird über den Todestag des russischen Herrschers Folgendes berichtet. Der Zar habe sich am 28. Jänner nicht mit der Zarin beim Gottesdienst einfinden können, da er »aus Vorsorge einige Medicamenta gebrauchen« würde und »in dero Palast verbleiben« wolle. Die beiden Majestäten ebenso wie deren Familie befänden sich jedoch im »erwünschten Wohlstande«.601 Die »Europäische Fama« verfügte in der Retrospektive der Ereignisse über Informationen, welche nicht durch die höfische Zensur verzerrt wurden. Noch genauer als bei Hochholzer wird darin berichtet, dass der kritische Zustand des Zaren durch ein Geschwür ausgelöst worden sei, das eine »Verstopfung des Urins« nach sich zog. Dem folgen genaue Angaben über den Verlauf der angesprochenen Operation und die daran beteiligten Ärzte, welche 599 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 16. Dezember 1724, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 237r–239r sowie 244v–245v. 600 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 6. Februar 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 47r–47v. 601 Vgl. Wienerisches Diarium v. 21. Februar 1725, Nr. 15, [5].
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aufgrund einer Krebsdiagnose keine weiteren Eingriffe mehr vorgenommen hätten.602 Hochholzer verfügte als unmittelbarer Zeitzeuge offensichtlich nicht über die Kenntnis dieser Einzelheiten, hatte jedoch zumindest gute Informanten. Von einem Confidenten, auf dessen Wort man bauen könne, habe er erfahren, dass es für den Zaren keine Hilfe mehr gäbe. Aus diesem Grund haben sich die Garderegimenter versammelt, um in der Nachfolgefrage »die Mesuren« in die Hand zu nehmen. Demzufolge solle der Großfürst nach dem Tode des Zaren als »Prosuccesor erkennet, proklamieret« und »von allen hohen und niedrigen Zivil- und Militärbedienten gehuldigt« werden. Sollte der im Sterben liegende Herrscher vor seinem Ableben noch einen mündlichen Wunsch äußern wollen, solle er von einigen Personen in seinem Zimmer daran gehindert werden. Die russischen Senatoren hätten gemeinsam mit dem Herzog von Holstein die Zarin ersucht, sich nicht in die Sukzessionsfrage einmischen zu wollen.603 Evgenij Anisimov und Igor’ Kurukin hielten bezüglich der Version Hochholzers über die umwälzenden innerrussischen Ereignisse fest, dass sich der Legationssekretär dabei auf die Informationen des schwedischen Gesandten, Baron Hermann von Cedercreutz (1684–1754), gestützt hätte. Doch in der letzten Nacht vor dem Tod Peters I. sollte sich das Blatt zu Gunsten Katharinas wenden.604 Aus diesem Grund musste Hochholzer seine ursprünglich für den Großfürsten so aussichtsreichen Perspektiven vier Tage später revidieren. So wurde in der Zwischenzeit ein Hofsekretär mit der Bitte zu Hochholzer geschickt, den Kaiser über die Ausrufung Katharinas zur neuen Herrscherin zu benachrichtigen. Wenngleich dieser noch nichts über den genauen Verlauf der Ereignisse gesagt hatte, so konnte der Legationssekretär vorerst berichten, dass die Zarin drei Stunden nach dem Tode Peters I. von der hohen Geistlichkeit, dem Senat, der Generalität, der Admiralität und besonders von den Gardeoffizieren als Kaiserin anerkannt worden sei. Aus diesem Grund sei ein schriftliches »Consilium« abgefasst worden, das von jedem einzelnen unterschrieben und der Herrscherin unter Ablegung des »Homagii« übergeben worden wäre.605 Wie unsicher sich Hochholzer angesichts der unerwarteten Neuigkeiten über das von Seiten des heimischen Hofes von ihm erwartete Verhalten war, wird aus dem letzten verschlüsselten Satz seiner Relation deutlich: »Zu meiner könftigen 602 Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 281 (1725), 403–404. 603 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 6. Februar 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 47v–48v. 604 Vgl. Anisimov, Kuda, 25–26; I.V. Kurukin, Epocha »dvorskich bur’«: Ocˇerki politicˇeskoj istorii poslepetrovskoj Rossii, 1725–1765 gg., Rjazan’ 2003, 87. 605 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 10. Februar 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 53r–54r.
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verhaltung, und zu allerunterthänigsten befolgung ihro allerhöchsten intention mit allem gehorsamb erwarten bis dahin aber mich allenthalben passive undt fleißig zu haus in meiner wohnung behalten.«606 Der sich aus Angst vor möglichen Kontakten mit Vertretern des russischen Hofes zu Hause aufhaltende Hochholzer konnte seinen Hof drei Tage später mit weiteren Neuigkeiten über den Ablauf der Sukzession versorgen. Zunächst hielt er darin jedoch fest, dass seine Post vom 6. Februar, in der er den Kaiser über die Ausrufung der Zarin informiert hatte, zurückgehalten worden sei. Aus diesem Grund wisse er nicht, ob die Neuigkeiten an ihn durchdringen würden, und setzte seinen weiteren Bericht angesichts der Brisanz der Informationen zur Gänze verschlüsselt fort. Der Kaiser hätte seinen Berichten entnehmen können, dass für seinen Neffen mit guter Hoffnung gearbeitet worden wäre. Die Zarin und ihr Anhang hätten jedoch bis zum Tode Peters I. lange genug Zeit gehabt, um die Sache umzudrehen. Auch wenn die Fürstengeschlechter Dolgorukov, Golicyn und Repnin ebenso wie der Bruder des Admirals Fedor Matveevicˇ Apraksin (1661–1728), Petr Matveevicˇ Apraksin (1659–1728),607 den Großfürsten zu »soutenieren geneigt waren«, so hätte die Zarin die Gardeoffiziere und den Herzog von Holstein auf ihrer Seite gehabt. Die Partei Petr Alekseevicˇs sei daher unter Gewaltandrohung genötigt worden, sich den anderen zu »konfirmieren«. Diese Nachrichten haben Hochholzer dann offensichtlich doch dazu veranlasst, das Haus zu verlassen. So sei er wie alle anderen ausländischen Gesandten zum holsteinischen Minister Bassewitz gefahren, welcher seine Freude über die Nachfolge der Zarin zum Ausdruck gebracht hätte. Außerdem habe er verkündet, dass der Großfürst möglicherweise als Sukzessor und die Zarin als einstweilige Regentin verkündet werden könnten. Damit sollte nämlich die Machtteilung der russischen Reichskonsilien erzielt werden. Hochholzer zeigte sich gegenüber dieser Eröffnung von Bassewitz jedoch skeptisch und überließ es dem Urteil des Kaisers, ob dieser Plan tatsächlich den Wünschen des holsteinischen Hofes entspreche.608
606 Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 10. Februar 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 54r. 607 Fedor Matveevicˇ Apraksin war der dritte General-Admiral in der Geschichte Russlands. Sein Bruder, Petr Matveevicˇ Apraksin, war Mitglied des Senats und wurde 1722 zum Präsidenten des Justizkollegiums ernannt. Vgl. Apraksiny, in: Russkij Biograficˇeskij Slovar, Tom II: Aleksinskij–Bestuzˇev-Rjumin, Sankt-Peterburg 1900, 239–240. 608 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 13. Februar 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 76r–77r. Vgl. dazu auch: Kurukin, Epocha, 91.
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Abb. 8: Manifest des Senats über den Regierungsantritt von Katharina I. (vom 28. Januar 1725 – links) sowie dazugehörige Übersetzung von Hochholzer (rechts).609
Der angesichts der Tatsachen verwunderte Hochholzer habe darauf seine Glückwünsche zum weiteren Erfolg der holsteinischen Angelegenheiten »dissimulieret« und gleichzeitig »auf ganz natürliche Art gefraget«, ob man denn an den Großfürsten gar nicht gedacht hätte. Bassewitz sei daraufhin völlig unverblümt darüber ins Detail gegangen, wonach einige für den Großfürsten gewesen, diese jedoch sogleich »heruntergemacht« und zur Unterzeichnung des »Conclusiums« genötigt worden seien. Der Legationssekretär habe sich daraufhin nach einem Testament oder einer letzten mündlichen Deklaration des Zaren erkundigt. Der Zar hätte diese zwar niederschreiben wollen, habe die Feder aus Schwachheit jedoch nicht mehr halten können, wie ihm Bassewitz und viele andere versicherten. Katharina sei also unter einer derartigen »Tranquilit¦« zur »Souverainit¦« und »despotischen Herrschaft« gekommen, da niemand aus Angst vor den Soldaten und Wachen irgendetwas dagegen unternommen hätte. Hochholzers Diktion in dieser Frage erübrigt jeden weiteren Kommentar über seine Haltung hinsichtlich der Sukzession. Er fügte jedoch noch seine »allergeringste Meinung« über die möglichen Folgen der Ereignisse an. So sei er davon überzeugt, dass die Zarin alles unternehmen würde, um die Nachfolge des 609 Beilagen zum Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 28. Januar 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 39r sowie 40r.
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Großfürsten zu verhindern und an seine Stelle eine ihrer Töchter zu setzen, woran schließlich auch die holsteinischen Vertreter interessiert seien. Andererseits könnte die Zarin aus Angst vor möglichen Folgen für sich und ihre Familie auch den sicheren Weg gewählt haben, dem Großfürsten die Sukzession nach dessen Erreichung der Volljährigkeit zu überlassen. Insgesamt sei die Lage des kaiserlichen Neffen jedoch nur sehr schwer einschätzbar.610 Die von Hochholzer selbst als schwer einschätzbar eingestuften Ereignisse machen daher einen Blick auf die von der Sekundärliteratur rekonstruierten Begebenheiten rund um die Sukzession Katharinas I. notwendig. Dieser eröffnet uns nicht nur näheres Wissen über die Bedeutung der geschilderten Vorgänge für die russische Geschichte, sondern ermöglicht auch einen Einblick in die Qualität und Verlässlichkeit der Informationsvermittlung Hochholzers aus zweiter Hand. Ein Vergleich mit der bisher erschienen Forschungsliteratur zeigt, dass Hochholzer über die personelle Zusammensetzung der beiden Parteien am russischen Hofe relativ genau Bescheid wusste. So setzte sich die Gruppe der Anhänger des Großfürsten tatsächlich aus den führenden Köpfen der alten russischen Aristokratie – Vasilij Lukicˇ Dolgorukov (1672–1739),611 Dmitrij Michajlovicˇ Golicyn (1665–1737)612 und Anikita Ivanovicˇ Repnin (1668–1728)613 – 610 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 13. Februar 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 77r–78r. Die Darstellung Hochholzers über den Besuch bei Bassewitz und dessen offenherzige Schilderung der Ereignisse zog auch Anisimov zur Rekonstruktion der Ereignisse rund um die Ausrufung Katharinas I. heran. Vgl. Anisimov, Kuda, 54. 611 Vasilij Lukicˇ Dolgorukov war von 1707 bis 1720 als Gesandter Russlands am dänischen Hof tätig. Im Anschluss wurde er als Vertreter des russischen Reiches nach Frankreich geschickt. Nach seiner Rückkehr an den russischen Hof im Jahre 1723 wurde er zum Senator ernannt. Daraufhin führte ihn seine diplomatische Tätigkeit nach Warschau und Stockholm. Unter Peter II. wurde er zum Mitglied des Obersten Geheimen Rates ernannt und war massiv am Aufstieg seiner Familie unter dem jungen Monarchen beteiligt. Vgl. Dolgorukovy, in: Enciklopedicˇeskij Slovar’ Brokgauza i Efrona, Tom Xa: Desmurgija–Domician, Sankt-Peterburg 1893, 922. 612 Dmitrij Michajlovicˇ Golicyn machte in den ersten beiden Jahrzehnten als Diplomat und Feldherr Peters I. Karriere. 1718 wurde er zum Mitglied des Senats ernannt und erhielt gleichzeitig das Amt des Kammerkollegiums-Präsidenten verliehen, das er bis zum Jahre 1722 ausübte. Nach dem Tod Peters I. im Jahre 1725 zählte Golicyn zu den führenden Köpfen jener Hofpartei, die sich für die Nachfolge von Großfürst Petr Alekseevicˇ einsetzte. Vgl. Golicyny, in: Enciklopedicˇeskij Slovar’ Brokgauza i Efrona, Tom IX: Goa–Graver, Sankt-Peterburg 1893, 48–50. 613 Anikita Ivanovicˇ Repnin machte als Heerführer Peters I. im Nordischen Krieg Karriere. Nach der Einnahme Rigas im Jahre 1711 wurde er zum dortigen Generalgouverneur ernannt. 1724 bekam er das Amt des Kriegskollegiums-Präsidenten verliehen. Im Rahmen der Krönung Katharinas im Jahre 1724 wurde er zum Feldmarschall ernannt. Nach deren Regierungsantritt im Jahre 1725 wurde er aufgrund seiner Parteinahme für den Großfürsten vom russischen Hof entfernt und nach Riga geschickt, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 1726 als Generalgouverneur verblieb. Vgl. Repniny, in: Enciklopedicˇeskij Slovar’ Brokgauza i Efrona, Tom XXVIa: Rezonans–Roza, Sankt-Peterburg 1899, 600.
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zusammen, die den bereits genannten Bruder des Admiral Apraksin für sich gewinnen konnten. Der Vorschlag einer Festlegung des Großfürsten als Nachfolger Katharinas und deren Einsetzung als Regentin bis zur Erlangung der Volljährigkeit Petr Alekseevicˇs wurde von dieser Gruppe eingebracht, wobei der bereits mehrfach angesprochene Graf Tolstoj als einer der Anführer der Partei der Zarin bei den Beratschlagungen über die Nachfolge Peters I. dagegen auftrat. Mit ihm gemeinsam setzten sich vor allem der bereits genannte Admiral Apraksin, Jaguzˇinskij, Mensˇikov und der Kabinettssekretär Peters I., Aleksej Vasil’evicˇ Makarov (1674/75–1740), für die Sukzession Katharinas ein und wurden dabei vor allem von einem Gedanken angetrieben, den Hochholzer in Hinblick auf die Zarin und ihre Familie ansprach. So waren sie allesamt Unterzeichner des 123 Unterschriften tragenden Todesurteils gegen den Zarevicˇ Aleksej und fürchteten die Rache seines Sohnes Petr Alekseevicˇ im Zuge eines möglichen Regierungsantritts des Großfürsten.614 Der erwähnte Kompromissvorschlag, den die Partei des Großfürsten in Anbetracht des Übergewichts der Gegner eingebracht hatte, wurde jedoch bereits vor der Ausrufung Katharinas als Nachfolgerin abgelehnt. Diese Vormachtstellung der Anhänger der Zarin konnte vor allem durch die eifrige Tätigkeit des Fürsten Mensˇikov und des Grafen Tolstoj erzielt werden, die trotz eines ambivalenten Verhältnisses zueinander aufgrund ihres eigenen Schicksals in dieser Frage an einem Strang ziehen mussten. In den letzten Lebenstagen Peters I. gelang es beiden durch eine intensive Werbetätigkeit, die geistlichen und zivilen Staatsbediensteten auf ihre Seite zu ziehen. Unterstützt wurden sie dabei von den Hauptträgern von Peters Kirchenreform – den Erzbischöfen Feodosij Janovskij (†1726) und Feofan Prokopovicˇ (1681–1736). In einer gemeinsamen Besprechung wurde beschlossen, dass alle Beteiligten unter ihren Vertrauten Werbung für die Nachfolge Katharinas machen sollten. Die von Hochholzer angesprochene Unterstützung der Garderegimenter konnte vor allem mit Geld erkauft werden, indem neben Zusatzzahlungen für die höheren Ränge der üblicherweise mit Verspätung ausgezahlte Sold der Soldaten bereits im Vorhinein vergütet wurde.615 Genau deren Beteiligung war der Grund dafür, warum die Ereignisse
614 Vgl. Anisimov, Kuda, 23–26; Kurukin, Epocha, 87–97; Ettel Melamud, Die Anteilnahme des russischen Adels an den Palastrevolutionen von 1725–1741 in Russland, Phil. Diss Wien 1928, 17–26; Pavlenko, Ekaterina, 48–49; Michael Schippan, Ernst Glück und Katharina I., in: Christiane Schiller/Mara Grudule, »Mach dich auf und werde Licht – Celies nu, topi gaisˇs«. Zu Leben und Werk Ernst Glücks (Fremdsprachen in Geschichte und Gegenwart, Bd. 4), Wiesbaden 2010, 111–142. 615 Vgl. Anisimov, Kuda, 26–31; Kurukin, Epocha, 87–97; Melamud, Anteilnahme, 28–38; Pavlenko, Ekaterina, 50–54.
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rund um die Nachfolge Katharinas in der Forschungsliteratur vielfach als Palastrevolution bezeichnet wurden.616 Anisimov etwa spricht von einer »typischen Palastrevolution«, was er an Elementen wie dem Patrouillieren der Garderegimenter auf den Straßen, der Verdoppelung der Wachen, dem Verbot des Verlassens der Stadt sowie der von Hochholzer angesprochenen Anhaltung der Post festmacht. Pavlenko hingegen bezeichnet die Ereignisse als »besondere Palastrevolution«, da es gar nicht erst so weit kam, den rechtmäßigen Herrscher vom Thron stürzen zu müssen und durch einen anderen Kandidaten zu ersetzen. Gleichzeitig sei damit der Grundstein für die einflussreiche Position der Garde in der Sukzessionsfrage gelegt worden. Welches Etikett man den Ereignissen auch immer anheften möchte, sie legten zweifelsohne die Basis für eine Parteienbildung am russischen Hof, die weit über den Zeitpunkt der Ausrufung Katharinas als neue Herrscherin hinausging. Das lassen bereits die weiteren Ereignisse erahnen. Unmittelbar nach Peters Tod, in den Morgenstunden des 28. Jänner 1725, versammelten sich Senat, Synod, Regierungsbeamte und die Generalität zur Beratschlagung über die Nachfolge des verstorbenen Herrschers. Das war also genau jener Tag, an dem Hochholzer seinen Hof lediglich über die Ausrufung Katharinas informieren konnte, ohne weitere Details liefern zu können. Zunächst wurde der scheinbar unparteiische Kanzleisekretär Peters I., Aleksej Vasil’evicˇ Makarov, gefragt, ob der Zar nicht einen letzten Willen in schriftlicher Form hinterlassen hätte. In Ermangelung eines solchen gab dieser die keineswegs unbefangene Antwort, wonach der Zar seinen Willen in der Krönung Katharinas zum Ausdruck gebracht hätte und spielte damit natürlich auf die Nachfolge Katharinas an. Erzbischof Feofan Prokopovicˇ versuchte die argumentative Ausgangsbasis mit dem Einwand zu stärken, dass der Zar im vertrauten Kreise – bestehend aus Graf Golovkin, Erzbischof Feodosij und ihm selbst – am Vorabend der Krönung seinen Willen verkündet habe, Katharina damit das Recht auf die Nachfolge einzuräumen.617 Angesichts dieser schwachen Faktenlage der Partei Katharinas sahen die Anhänger des Großfürsten den Moment für ihre Argumente gekommen. Eine ausführliche Beschreibung der weiteren Ereignisse finden wir bei Anisimov, der bei der Rekonstruktion unter anderem auf einen bislang unerwähnten Bericht Hochholzers späteren Datums zurückgriff. So habe Graf Golovkin zunächst den Vorschlag einer Abstimmung eingebracht. Obwohl er dabei von den Fürsten Dolgorukov, Golicyn und Repnin unterstützt worden war, lehnten die Anhänger Katharinas diesen ab. Daraufhin brachte die Partei Petr Alekseevicˇs abermals 616 Vgl. zu den bisherigen Forschungsergebnissen und Interpretationen ausführlich: Kurukin, Epocha, 17–32. 617 Vgl. Anisimov, Kuda, 31–34 sowie 49–52; Pavlenko, Ekaterina, 27 sowie 54–55.
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über Golovkin den Kompromissvorschlag ein, die Witwe Peters bis zur Volljährigkeit des Großfürsten als Regentin einzusetzen. Dagegen trat nunmehr Graf Tolstoj auf, der eine eindeutige Entscheidung forderte und dabei ein klares Votum für Katharina als geeignetste Kandidatin abgab. In dieser gespannten Lage traten nunmehr die führenden Köpfe der Garderegimenter auf den Plan und trachteten die Wahl Katharinas durch die lautstarke Androhung von Gewalt gegenüber ihren Gegnern durchzusetzen. Erzbischof Feofan ergriff diesen Moment, um diese als neue Herrscherin auszurufen, was auch von ihren verängstigten Opponenten widerspruchslos hingenommen wurde und die bereits von Hochholzer angesprochene Unterzeichnung des diesbezüglichen Manifests zur Folge hatte.618 Die Gegenüberstellung der Berichte Hochholzers über die Ereignisse rund um die Sukzession Katharinas I. mit den späteren Rekonstruktionen der Forschungsliteratur haben gezeigt, dass der Legationssekretär offensichtlich über ein zuverlässiges Informantennetzwerk verfügte, um eine weitgehend mit den tatsächlichen Ereignissen übereinstimmende Berichterstattung liefern zu können. So zeichnete er ein im Wesentlichen den Fakten entsprechendes Bild über die personelle Zusammensetzung der beiden Hofparteien sowie deren Positionen hinsichtlich der Sukzessionsfrage. Gleichzeitig wird aus seinen Relationen deutlich, dass das Problem der Nachfolge nicht nur für die zeitgenössischen Beobachter, sondern auch für die handelnden politischen Akteure bis zum bedrohlichen Einschreiten der Garde keineswegs geklärt war. Das wird aus den von Hochholzer weitertransportierten Fehlinformationen über die Einflussnahme der Soldaten zu Gunsten des Großfürsten und die tatsächlichen Ereignissen nach dem Tod Peters I. deutlich. Anisimov hielt diesbezüglich fest, dass diese Nachricht nicht ganz den Tatsachen widerspreche und von der Vorbereitung der Partei des Großfürsten angesichts der herannahenden »Stunde X« zeuge. Diese sei übrigens über Jaguzˇinskij zu Mensˇikov und Katharina vorgedrungen.619 Leider lässt sich nicht rekonstruieren, ob Hochholzer in diesem Zusammenhang eine Rolle spielte – schließlich verfügte er bereits vier Tage vor dem Tod Peters I. über die Kenntnis dieser Nachricht und zählte zu den Vertrauten Jaguzˇinskijs. Bemerkenswert ist überdies auch die Tatsache, dass der holsteinische Minister Bassewitz auch noch nach der Ausrufung der Zarin den Kompromissvorschlag von Seiten der Partei des Großfürsten als mögliche Perspektive in Aussicht stellte. Dies kann wohl nicht als etwas anderes als ein Besänftigungsversuch von Bassewitz gewertet werden, um den kaiserlichen Vertreter und seinen Hof angesichts der für sie unerfreulichen Nachricht milde zu stimmen. Zu Recht zweifelte Hochholzer also an der Ernsthaftigkeit dieses Vorschlages, der bereits 618 Vgl. Anisimov, Kuda, 52–55; Kurukin, Epocha, 91. 619 Vgl. Anisimov, Kuda, 26.
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zuvor abgelehnt worden war. So spiegelt sich in den Berichten Hochholzers die hohe Qualität und Zuverlässigkeit seiner Berichterstattung wider, wodurch diese zu einer besonders wertvollen Quelle über die umwälzenden Ereignisse der russischen Geschichte wurden. Wesentlich weniger ertragreich stellen sich die Berichte der zeitgenössischen Presse über die Vorgänge in Russland dar. Ein Blick auf die Artikel des »Wienerischen Diariums« zeigt, dass die Hofberichterstatter dieses heiße Eisen nicht anfassen wollten. Die Neuigkeiten über den Tod Peters I. erreichten die Zeitungsmacher einen Monat nach dessen Ableben aus Berlin. Der Todesnachricht wurde lediglich ein genauer Bericht über die hinterbliebene Familie des Zaren angefügt.620 Es ist wohl anzunehmen, dass man dem Leser über die reine Auflistung dieser »Genealogie« selbst alle Spekulationen über die mögliche Nachfolge des Zaren überlassen wollte. Noch weniger als über den Sukzessor wollte oder konnte man sich in der darauffolgenden Berichterstattung über die Umstände der Nachfolge herauslassen. Während am 21. März, also knapp zwei Monate nach dem Tod des Zaren, lediglich auf dessen Ableben, die tiefe Trauer im ganzen Land und in seiner Familie sowie die Vorbereitungen der Begräbnisfeierlichkeiten eingegangen wurde,621 informierte man die Leser eine Woche später schließlich folgendermaßen über den vollzogenen Regierungswechsel: »Ihro Majestät die Czarin befinden sich samt der hohen Familie in erwünschtem Wohlstande, wie dann auch mittelst Ihro allermildesten Regierung alles in gröstem Vergnügen lebet.«622 Die üblicherweise wesentlich freier und offener über die politischen Ereignisse spekulierende »Europäische Fama« präsentierte eine äußerst friedvolle Version der Nachfolge Katharinas, die angesichts der tatsächlichen Geschehnisse bemerkenswert ist. Unmittelbar nach dem Tode Peters haben sich Senat, Synod und die Generalität versammelt und beschlossen, die Zarin »für ihre souveräne Frau erkennen« zu wollen. Um acht Uhr morgens hätten sie sich daher zum Palast begeben, sich vor ihr niedergeworfen, ihr den Treue-Eid abgelegt und das Manifest übergeben.623 Die Zarin habe daraufhin versprochen, ihnen unter anderem eine Mutter des Vaterlandes sein zu wollen. Besonders interessant ist jedoch die Darstellung – oder besser gesagt NichtDarstellung – der Rolle der Garderegimenter in dieser Sache: »Hierauf ward befohlen, daß der Tod des Czaaren denen Garden-Regimentern kund gethan, und zugleich die neue Beherrscherin ausgeruffen wurde. Diese Trouppen, die man vor dem Pallast versammlet hatte, vergossen erstlich eine grosse Menge Thränen, 620 621 622 623
Vgl. Wienerisches Diarium v. 28. Februar 1725, Nr. 17, [4–5]. Vgl. Wienerisches Diarium v. 21. März 1725, Nr. 23, [5]. Wienerisches Diarium v. 28. März 1725, Nr. 25, [4]. Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 281 (1725), 405.
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trösteten sich aber auch bald untereinander selbst mit diesen Worten, die sie laut ausrufften: Wenn gleich unser Vater gestorben ist, so lebt doch unsre Mutter hoch.«624
Angesichts der Brisanz dieser Frage, wie wir sie bereits aus den Berichten Hochholzers herauslesen konnten, ist zu vermuten, dass die zeitgenössische Presse wohl nicht über andere Informationen verfügte. Sie musste sich in ihrer Berichterstattung offensichtlich auf die von der Zensur »weichgespülten« Ereignisberichte verlassen. Während die »von oben« und »von unten« herausgegebenen Zeitungen diesbezüglich demselben Informationsmangel ausgesetzt waren und sich daher in ihrer Berichterstattung nicht wesentlich voneinander unterschieden, so taten sie es in der Beurteilung der Folgen der Ereignisse jedoch sehr wohl. Im Laufe des Monats April 1725 wurde im »Wienerischen Diarium« lediglich davon gesprochen, dass unter der Regierung der Zarin alles in »schönster« bzw. »bester Ordnung« und das ganze Reich »vergnügt« und »ruhig« sei.625 Die »Europäische Fama« hingegen vermutete dahinter die Ruhe vor dem Sturm und bediente sich bei der Prognose über die weiteren Ereignisse bereits bekannter Stereotypen. So zeigten sich die Autoren verwundert darüber, dass der Regierungswechsel trotz des bekannten Charakters der Russen derartig ruhig verlief. Konkret stieß man sich an der Tatsache, dass die Russen die Regierung einer ausländischen Frau einfach so hinnahmen. Einzig mögliche Erklärung hierfür sei, dass sie von der Schnelligkeit der Ereignisse überrannt worden seien. Völlig überrascht hätten sie daher nicht ihre »berühmte Widerspenstigkeit« an den Tag legen können. Sobald ihr Geist jedoch nicht mehr benebelt sein würde, werde die Regierung Katharinas nicht mehr so ruhig verlaufen, wie sie angefangen hatte. Dafür spreche nicht nur, dass sie eine ausländische Frau sei, sondern dafür spreche auch die Tatsache, dass sie von ausländischen Ministern und Generälen umgeben sei und die Fortsetzung des Kurses ihres Ehemannes verfolge. So sei die Familie des verstorbenen Thronfolgers Aleksej noch am Leben und habe viele Anhänger. Es wäre für diese Partei daher ein Leichtes, mit eventueller Unterstützung ausländischer Kräfte die Macht an sich zu reißen. Diese gewagte Vermutung stellen die Autoren jedoch nur als scheinbare Frage in den Raum und zeigen damit gleichzeitig, dass sie zumindest prinzipiell über den totgeschwiegenen Parteienkampf am russischen Hofe Bescheid wussten.626 Die gleichsam brisanten wie unerfreulichen Nachrichten erreichten den 624 Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 281 (1725), 405–406. 625 Vgl. Wienerisches Diarium v. 14. April 1725, Nr. 30, [1]; Wienerisches Diarium v. 18. April 1725, Nr. 31, [3]; Wienerisches Diarium v. 28. April 1725, Nr. 34, [2–3]. 626 Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 281 (1725), 416–423.
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Wiener Hof natürlich wesentlich früher als die zeitgenössischen Zeitungsmacher – Anfang März 1725. So kamen die erwähnten Relationen vom 6. und 10. Februar aus Petersburg am 2. März in Wien an, worauf der Kaiserhof in ungewohnter Schnelle, nämlich am darauffolgenden Tag, weitere Verhaltensvorgaben an den Legationssekretär übermittelte. Die außenpolitischen Verantwortlichen Wiens warteten damit gar nicht erst bis zum Eintreffen des ausführlichen Berichts vom 13. Februar, der erst am 6. März in der Residenzstadt eintraf. Hochholzer hätte sich demnach bei den dienlichen Orten »höflich zu contestiren« und das »Bedauern« des Kaisers über das Ableben des Zaren und dessen gehegte »besondere Freundschaft und Hochachtung« für den Verstorbenen zu bezeugen. Außerdem hätte Karl VI. auch die Notifikation der »Freundschaft« durch die Zarin mit »Wohlgefallen« aufgenommen. Darüber hinaus solle sich Hochholzer ohne großes Aufsehen und unter der Hand über die »Souverainit¦« der Zarin erkundigen. Konkret möge er in Erfahrung bringen, ob diese etwa in einem Testament festgelegt worden sei, was es mit dem jungen Großfürsten auf sich habe, welche Hoffnung es für ihn gebe und was für ihn hinsichtlich der Sukzession zu befürchten sei. Über diese Fragen solle Hochholzer »ein wachsames Auge halten« und in »möglichster Stille und Verborgenheit« darüber berichten. Außerdem habe der Kaiser mit Freuden vernommen, dass der Herzog von Holstein dem Großfürsten nicht die Unterstützung entsagen wolle, wobei es im »vernünftigen Ermessen« des Legationssekretärs liege, »wie weit mit dem Herzog von Holstein zu gehen« und diesem »eine stille Eröffnung davon zu machen« sei.627 Besonders interessant hinsichtlich der zwischenstaatlichen Kommunikation sind jedoch die weiteren Ausführungen über den einstweilen stattgefundenen Austausch mit dem russischen Gesandten in dieser Frage. So habe Lanczinski bereits Kontakt mit dem Wiener Hof aufgenommen und angefragt, wie er sich bei der mündlichen und schriftlichen Notifikation »ohnanstößig zu verhalten« habe. Die kaiserlichen Minister hätten ihm zur Antwort gegeben, dass er bei der Audienz in »bescheidenen Terminis« und ohne den unannehmbaren »ungewöhnlichen Titul« auftreten solle. Hinsichtlich der schriftlichen Notifikation schlugen sie folgenden, bei Titelstreitigkeiten offensichtlich üblichen Ausweg vor. So sollen zwar Kopien angelegt werden, wobei »das Anstößliche unlesbar durcheinander gezogen« und den Ministern zur Nachricht vorgelegt werden solle. Hinsichtlich des Austausches der Credentialien setzten die Wiener Minister auf das in diesem Fall günstige Prinzip der Reziprozität. Ebensowenig wie der Zar von Hochholzer ein derartiges Schreiben verlangt habe, wolle man ein solches von Lanczinski verlangen. Der Legationssekretär solle in dieser Sache 627 Vgl. Weisung an Hochholzer v. 3. März 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 127r–129r ; Brikner, Diplomaty, 534.
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jedoch nicht zu »traktieren« beginnen, sondern durch diese Nachrichten lediglich den guten Willen des Kaisers zum Ausdruck bringen. Außerdem solle Hochholzer die »befestigende gute Verständnis und Freundschaft« vor allem in Hinblick auf die Pforte vermitteln sowie deren »Nutzen« und »Vorträglichkeit« hervorheben. So sei der Wiener Hof dem Zaren in diesem Fall niemals mit etwas »Bösem«, sondern stets mit »allem Guten« begegnet. Auch in Zukunft wolle man sich alle »gute Wirkung« davon erhoffen, da die aktuelle Beschaffenheit der Politik in Hinblick auf die Pforte sowie die allgemeine politische Lage Europas ein derartiges Zusammenwirken notwendig machen würden.628 Sobald der Wiener Hof Hochholzers detaillierten Bericht über die Ereignisse rund um die Sukzession der Zarin erhalten hatte, revidierte er die Weisungen für Hochholzer in einem wichtigen Punkt. Nachdem sich der Herzog von Holstein entsprechend dem aktuellsten Bericht des Legationssekretärs vom 13. Februar beinahe öffentlich für die Zarin und gegen den »armen Großfürsten« ausgesprochen habe, solle er diesem gegenüber folgendes Verhalten an den Tag legen: Entgegen den vorangegangenen Anweisungen möge er sich gegenüber dem Prinzen und seinen Ministern nichts anmerken lassen und sich keineswegs in das »Sukzessionswesen« für oder gegen den Großfürsten einmischen. Er habe alles mit »indifferenten Augen« Gott und den »torronti novo« des russischen Hofes zu überlassen. Dies hindere Hochholzer jedoch nicht daran, den Hof weiterhin zu frequentieren und sich dabei entsprechend den bisherigen Vorgaben zu verhalten.629 Diese Weisungen aus Wien zeigen, welch vorsichtiges Verhalten der Legationssekretär in dieser heiklen innerrussischen Angelegenheit an den Tag legen sollte. Hofften die kaiserlichen Minister zunächst, über den scheinbar loyalen Herzog von Holstein Einfluss in dieser Sache ausüben zu können, so erging nach dem Bekanntwerden von dessen Position in der Sukzessionsfrage sofort das Kommando retour. Hochholzer solle diese Angelegenheit fortan sozusagen gleichgültig betrachten und den Großfürsten seinem Schicksal überlassen. Gleichzeitig wird aus den Instruktionen deutlich, dass der Kaiser – trotz des unerfreulichen Ausgangs der Nachfolge des Zaren – aufgrund der allgemeinen politischen Rahmenbedingungen an einer Annäherung an den russischen Hof interessiert war. Darauf soll jedoch im folgenden Großkapitel über das »Aufblühen und die Kultivierung der diplomatischen Beziehungen« näher eingegangen werden. Vom nunmehr angedeuteten Zusammenwirken war in den letzten Lebensjahren des Zaren, in denen Hochholzer die Stellung am russischen Hof hielt, kaum die Rede gewesen. Diese Entwicklungen sollen im 628 Vgl. Weisung an Hochholzer v. 3. März 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 129r–130v ; Brikner, Diplomaty, 534. 629 Vgl. Weisung an Hochholzer v. 7. März 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 136r–136v ; Brikner, Diplomaty, 556.
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folgenden Abschnitt unter besonderer Berücksichtigung der in den Quellen verwendeten Schlüsselbegriffe zusammengefasst werden.
2.3.4. Zusammenfassung: Die Kommunikationsstrategien der außenpolitischen Akteure und deren Widerhall in den verwendeten Schlüsselbegriffen ihrer Interaktion Die Ausführungen dieses Großkapitels haben gezeigt, dass die in der Zusammenfassung des vorangegangenen Abschnitts erwähnte Befürchtung Kinskys einer »Kränkung« der »neu zu befestigenden Freundschaft« durch die Annahme des russischen Imperatorentitels tatsächlich eintraf und die bilateralen Beziehungen bis zum Tod Peters I. schwer belastete. In Anknüpfung an die in Kapitel 2.2.3. betrachteten Schlüsselbegriffe der Interaktion der außenpolitischen Akteure soll nunmehr näher darauf eingegangen werden, wie sich die Kommunikation zwischen den beiden Höfen in den unmittelbaren Folgejahren nach der europaweit umstrittenen Annahme des Kaisertitels durch den russischen Zaren veränderte. Gerade die weitere Auseinandersetzung mit der, durch dieses Ereignis zweifelsohne gekränkten »Freundschaft« zwischen Wien und St. Petersburg/Moskau lässt den Paradigmenwechsel in der Interaktion beider Machtzentren begrifflich sichtbar werden. Ein Blick auf die von den kaiserlichen Konferenzministern im Gutachten über den russischen Kaisertitel verwendeten Termini macht deutlich, welch einschneidendes Erlebnis dessen Annahme durch Peter I. für den Wiener Hof und seine Beziehungen zu Russland darstellte. Bei der Lektüre der ministeriellen Expertise stechen sogleich zwei Begriffspaare ins Auge. So bezeichneten die Minister die Annahme des Titels und die russischen Anstrengungen einer Durchsetzung desselben als »wahre Unmöglichkeit« bzw. »unmögliches Anliegen«. Im Zuge der näheren Betrachtung dieser Begriffspaare lässt sich eine moralisierende adjektivische Aufladung dieses Ereignisses und der dafür verwendeten Termini festmachen. Dementsprechend bezeichneten die Ratgeber Karls VI. die Geschehnisse in Russland als »sittliche Unmöglichkeit« sowie »unerhörte Neuerung« und nannten die daraus resultierenden Bemühungen der russischen Diplomatie hinsichtlich der Titelanerkennung ein »unanständiges Anliegen«. Darüber hinaus lässt sich aus den Worten der Minister eine gewisse Konfusion des Wiener Hofes herauslesen, indem sie diesbezüglich von einer »seltsamen Begebenheit« und einem »kuriosen Anliegen« sowie der »ungewöhnlichen Art des Vortrages« sprachen. Die verwendeten Begriffe liefern den nötigen Beweis dafür, dass die Annahme und Durchsetzungsversuche des russischen Imperatorentitels in Wien als eindeutiger Normbruch wahrgenommen wurden. In ihrer weiteren Argumentation versuchten die Konferenzminister die
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Gefahren aufzuzeigen, welche mit dieser Verletzung des von allen europäischen Souveränen scheinbar anerkannten Regelwerks verbunden waren. Sie konstruierten daher das Bild eines bedrohten Europas, indem sie die mit der möglichen Anerkennung des Titels verbundenen »gefährlichen Umstände«, »hässlichsten Nachfolgerungen« und »schadhaften Neuigkeiten« für den Kontinent und dessen Herrscher herausstrichen. So sei die Haltung des Kaisers bezüglich des russischen Imperatorentitels von einem »Konsens« des ganzen Reichs sowie ganz Europas in dieser Frage abhängig, der aus Sicht der Konferenzminister allerdings nur negativ ausfallen konnte. Aus diesem Grund zeigten sie sich dem russischen Hof gegenüber kompromisslos und wollten mit ihrem Gutachten einer möglichen »Freundlichkeit« von Seiten des Kaisers vorgreifen, der aufgrund des unmoralischen und kuriosen Anliegens mit dem Zaren in »Undank verbleiben« sollte. Eine weniger eindeutige Sprache finden wir in den Relationen Kinskys wieder, der trotz dieses Normbruches weiterhin um die »Freundschaft« des russischen Hofs bemüht war. Wie schon in der Zusammenfassung des vorigen Großkapitels, kann anhand seiner Berichte abermals festgestellt werden, dass diese sozusagen als Voraussetzung für eine gemeinsame Allianz gewertet und somit vom Gesandten vielfach synonym verwendet wurde. So berichtete er zum Beispiel nach der Annahme des Kaisertitels, mit den russischen Ministern trotzdem in Konferenz gehen und dabei die »Freundschaft« und den »Bündniswillen« des Kaisers zum Ausdruck bringen zu wollen. Sein großer Wunsch zur Herstellung einer Allianz mit Russland wird unter anderem dadurch deutlich, dass er in einer Unterredung mit Sˇafirov die Hoffnung äußerte, durch ihre »Kommunikation« ein »Foedus« zwischen beiden Höfen zustande zu bringen. Wie schon vor dem unerwarteten Zwischenfall rund um den Titel versuchte Kinsky dem Vizekanzler dieses unter dem Hinweis auf den »Nutzen« einer »aufrichtigen Freundschaft« ihrer Souveräne schmackhaft zu machen. So wies er in weiterer Folge auch auf das »bonu comuni« beider Souveräne hin, um die Aufnahme von Bündnisverhandlungen voranzutreiben und seine bereits angekündigte Abreise nach Wien noch etwas aufzuschieben. Gerade anhand der zögerlichen Haltung der russischen Seite und des Drängens von Kinsky auf offizielle Konferenzen wird deutlich, dass ein gutes Einvernehmen zwischen den Herrschern die Grundvoraussetzung für ein intensives politisches Zusammenwirken darstellte. So wies der kaiserliche Gesandte auf die bereits erzielte Herstellung einer »vertraulichen und guten Freundschaft« hin, um die russischen Verhandlungspartner zu offiziellen Gesprächen zu animieren. Doch die Freundschaft zwischen den beiden Herrschern stand seit der Titelannahme durch Peter I. in großer Gefahr. Das wird vor allem daran deutlich, dass im Anschluss erstmals Gegenbegriffe in den Relationen Kinskys auftauchen. So hielt der Gesandte in Hinblick auf die Aufnahme von Bündnisver-
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handlungen fest, dass er eine »Verfeindschaft« der beiden Höfe androhen werde, sobald die russischen Minister auf dem beanspruchten Kaisertitel beharren würden. Darüber hinaus stellte er gleich mehrmals einen Verlust der Freundschaft aufgrund der Haltung Karls VI. in der Titelfrage in den Raum. So befürchtete Kinsky etwa, dass die bislang gegenüber seiner Person an den Tag gelegte »Distinktion« wegen der nicht ausgehandelten Streitfrage in eine »Kaltsinnigkeit« umschwenken und eine »Interrumpierung der Freundschaft« mit dem russischen Hof zur Folge haben könnte. Darüber hinaus hielt er fest, dass er als Minister mit »Charakter« im Falle einer Anerkennung des Titels durch andere Mächte im fremden Machtzentrum immer »odioser« angesehen werden könnte. Wie die Ausführungen der vorangegangenen Abschnitte gezeigt haben, war dieses Argumentationsmuster ein beliebtes Mittel, um sich im Falle eines möglichen politischen Scheiterns aus der Verantwortung zu ziehen und die Schuld indirekt den außenpolitischen Verantwortlichen des heimischen Hofes zuzuschieben. Das zeigen die Vergleichsdarstellung des französischen Vertreters Campredon, der nicht nur Kinskys Auftrag über die Betonung »freundschaftlicher Beziehungen« mit Russland hervorhob, sondern die Absendung weiterer Instruktionen durch den französischen Hof vorantreiben wollte, indem er die Gefahr des Zustandekommens einer »Freundschaft« sowie eines »Bündnisses« zwischen St. Petersburg und Wien in Aussicht stellte. Die von mehreren Seiten angestrebte Freundschaft des russischen Hofes spiegelt sich somit auch begrifflich in den Berichten der verschiedenen Diplomaten wider und lässt abermals deren Eigenschaft als »umkämpfter Schlüsselbegriff« der politischen Kommunikation ersichtlich werden. Gegenbegriffe zur viel umworbenen Freundschaft lassen sich auch anhand des häufig synonym verwendeten Bündnisbegriffes festmachen. So ließen die Konferenzminister Kinsky zunächst wissen, dass er im Falle eines fehlenden Bündniswillens der Verhandlungspartner nicht als »unfruchtbare Belastung« des kaiserlichen Ärars in Russland verbleiben solle. Besonders interessant stellt sich jedoch die begriffliche Ausstattung des Gutachtens über ein mögliches Bündnis mit Russland unmittelbar vor der Abreise Kinskys dar. So kamen die Konferenzminister diesbezüglich zu dem Schluss, dass eine solche Allianz vor allem für den Zaren von »Nutzen« sei, während sie für den Wiener Hof hingegen »schädlich«, »gefährlich« und »undienlich« wäre. Diese Begriffe machen hellhörig. So verwendeten die kaiserlichen Ratgeber die ersten beiden Termini bereits in Hinblick auf eine mögliche Anerkennung des Imperatorentitels durch andere Mächte. Diese Beobachtung lässt also den Schluss zu, dass ein Bündnis mit dem russischen Hof für die außenpolitischen Verantwortlichen Wiens zum gegebenen Zeitpunkt ebenso unwahrscheinlich war wie die Annahme des russischen Kaisertitels. Eine solche Ausgangslage machte es Kinsky äußerst schwer, politisch am fremden Hof zu reüssieren und ein Bündnis mit Russland zustande
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zu bringen. So wird auch aus dieser zusammenfassenden Betrachtung der Schlüsselbegriffe deutlich, dass die Mission des hochrangigen kaiserlichen Gesandten von der Forschung in ein besseres Licht gerückt werden muss als es bisher der Fall war. Eine nähere Betrachtung der Kommunikation des niederrangigen Nachfolgers Kinsky lässt einen direkten Zusammenhang der dargestellten Stagnation der bilateralen Kommunikation und der Verwendung des Freundschaftsbegriffs erkennen. So verschwindet dieser Terminus für lange Zeit aus den Relationen des Legationssekretärs, wenn er über die Interaktion mit dem russischen Hof berichtet. Dieses plötzliche Ausbleiben der Freundschaftsbekundungen lässt sich nicht nur dadurch erklären, dass der niederrangige kaiserliche Vertreter wesentlich seltener in Berührung mit den russischen Macht- und Würdenträgern kam als sein hochrangiger Vorgänger. Bei näherer Betrachtung seiner Berichte wird deutlich, dass der Begriff sehr wohl beim Aufeinandertreffen mit Vertretern anderer Mächte Verwendung fand. So bat er die am russischen Hof befindlichen ausländischen Gesandten bei seiner Antrittsvisite um deren »Freundschaft« und »Kommunikation«. Darüber hinaus brachte etwa der Herzog von Holstein seine »Devotion« und »Veneration« gegenüber dem Kaiser zum Ausdruck, indem er uneingeladen bei der vom Legationssekretär veranstalteten Namenstagsfeier erschien. Es scheint, dass Hochholzer selbst einen zu geringen Rang hatte, um in seiner Person als Symbol der »Freundschaft« gegenüber dem russischen Hof wahrgenommen zu werden. Das zeigt das Beispiel der im Jahre 1724 nach Preußen abgeschickten Gesandtschaft Rabutins, die vom kaiserlichen Hof als »Zeichen der gegenseitigen Freundschaft« bezeichnet wurde. All diese Episoden bestätigen auf einen Blick, was in diesem Kapitel an mehreren Stellen mehrfach ausführlich angesprochen wurde: Hochholzer wurde von allen politischen Akteuren und Beobachtern vielmehr als passiver Berichterstatter als ein aktiver Botschafter am fremden Hof wahrgenommen. In politisch brisanten Zeiten nahm man ihn jedoch sehr wohl als offiziellen Vertreter war – das zeigen die Beispiele über seine Anwesenheit bei der Krönung Katharinas sowie sein Verhalten hinsichtlich der Sukzessionsfrage des Großfürsten. Die unterschiedlichen Quellen über Hochholzers Interaktion mit dem heimischen und dem fremden Hof in diesen Angelegenheiten zeigen, dass gerade in diesen Fragen äußerste Vorsicht angesagt war. Durch scheinbare Zurückhaltung in der Sukzessionsfrage und das Vorschieben einer Ausrede für die Krönung Katharinas wollte der Wiener Hof einen offenen Konflikt mit Russland vermeiden und weiterhin »Gute Miene zum bösen Spiel machen« – denn die Beziehungen waren seit der Annahme des Kaisertitels durch Peter I. sichtlich gestört. Das änderte sich erst nach dem Tod des Herrschers, wie es bereits von der bislang erschienenen Forschungsliteratur festgestellt wurde. Sie verknüpfte den Konflikt auch mit der Abneigung und dem Misstrauen des kaiserlichen
Die Ausrufung Peters I. zum »Allrussischen Imperator«
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Hofes gegenüber der Person des Zaren. Nach dessen Ableben und der daraus resultierenden Thronbesteigung seiner Gemahlin sollte Hochholzer sogar als Vermittler des neuen Annäherungskurses des Kaisers an die neue russische Herrscherin fungieren – dabei kam es zu einer plötzlichen Wiederbelebung des Freundschaftsbegriffs. Wir erinnern uns daran, dass Hochholzer der neuen Herrscherin die »Freundschaft« und »Hochachtung« des Kaisers gegenüber dem verstorbenen Peter I. und auch dessen »Wohlgefallen« über die »Freundschaft« zu Katharina I. zum Ausdruck bringen sollte. Die Hintergründe für diese plötzliche Haltungsänderung lassen sich jedoch nicht nur mit der Abneigung Karls VI. gegenüber dem verstorbenen Zaren erklären. Das zeigt sich vor allem darin, dass Hochholzer die »befestigende gute Verständnis« und »Freundschaft« des Kaisers in Hinblick auf eine gemeinsame Türkei- und Europapolitik zwischen St. Petersburg/Moskau und Wien artikulieren sollte. Das deutet darauf hin, dass die allgemeinen außenpolitischen Rahmenbedingungen den Kaiserhof offensichtlich dazu zwangen, die strittige Titelfrage zumindest ein wenig beiseitezuschieben und eine tatsächliche Annäherung an die neue russische Herrscherin zu wagen. Die näheren Hintergründe dieses Annäherungskurses sowie die damit verbundenen Kommunikationsstrategien der kaiserlichen Diplomatie sollen im folgenden Großkapitel einer näheren Betrachtung unterzogen werden.
Teil 3: Aufblühen und Kultivierung der diplomatischen Beziehungen – Kommunikation zur Erlangung und Erhaltung der zwischenstaatlichen Freundschaft in den Jahren der schnellen Herrscherwechsel (1725–1730)
Der in diesem Teil betrachtete Zeitraum von 1725 bis 1730 stellt eine weitere sinnvolle inhaltliche Klammer bei der Analyse der zwischenstaatlichen Kommunikation des gesamten Untersuchungszeitraumes dar. Das wird vor allem daran deutlich, dass diese Phase von der Historiographie bislang fast unbeachtet blieb. So betrachten die vorhandenen einschlägigen Untersuchungen entweder das Zustandekommen des Bündnisses zwischen Wien und St. Petersburg/ Moskau am Beginn dieser Periode630 oder setzen bei den militärischen Nagelproben der Allianzpartner in den 1730er-Jahren ein (Polnischer Thronfolgekrieg 1733–35, Türkenkrieg 1737–39)631. Mit Ausnahme von Nelipovicˇs Gesamtdarstellung über die zwischenstaatlichen Beziehungen im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts, in der der Autor eine detaillierte Analyse der ereignis- und militärgeschichtlichen Hauptentwicklungslinien für die Phase von 1726 bis 1729 und darüber hinaus liefert,632 sowie den bereits erwähnten Quellensammlungen Brikners über den Hof Peters II.633 wurden weiterführende Aspekte der bilate630 Vgl. Johann Kliwar, Der österreichisch-russische Bündnisvertrag des Jahres 1726, Phil. Diss. Wien 1921; Leitsch, Wandel; Reiner Pommerin, Bündnispolitik und Mächtesystem. Österreich und der Aufstieg Rußlands im 18. Jahrhundert, in: Johannes Kunisch (Hg.), Expansion und Gleichgewicht. Studien zur europäischen Mächtepolitik des ancien r¦gime, Berlin 1986, 113–167; G.A. Nekrasov, Rol’ Rossii v evropejskoj mezˇdunarodnoj politike 1725–1739 gg., Moskva 1976; Karl A. Roider, Austria’s Eastern Question. 1700–1790, Princeton 1982. 631 Vgl. V.I. Ger’e, Bor’ba za pol’skij prestol v 1733 g., Moskva 1862; Maren Köster, Russische Truppen für Prinz Eugen. Politik mit militärischen Mitteln im frühen 18. Jahrhundert, Wien 1986; Karl A. Roider, The Reluctant Ally. Austria’s Policy in the Austro-Turkish War, 1737–1739, Baton Rouge 1972; Walter Strobl, Österreich und der polnische Thron, 1733, Phil. Diss. Wien 1950. 632 Vgl. Nelipovicˇ, Sojuz, 5–87. 633 Vgl. Brikner, Diplomaty ; A. Brikner, Russkij Dvor pri Petre II 1727–1730. Po dokumentam venskogo archiva (Teil 1), in: Vestnik Evropy 31/1 (1896), 99–125; A. Brikner, Russkij Dvor pri Petre II 1727–1730. Po dokumentam venskogo archiva (Teil 2), in: Vestnik Evropy 31/2 (1896), 559–598; A. Brikner, Russkij Dvor pri Petre II 1727–1730. Po dokumentam venskogo archiva (Teil 3), in: Vestnik Evropy 31/3 (1896), 7–44.
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Aufblühen und Kultivierung der diplomatischen Beziehungen
ralen Kommunikation bislang nur in Form von einzelnen Beiträgen untersucht.634 Dieser Fokus der bislang erschienenen Monographien auf die großen Ereignisse der 1720er- und 1730er-Jahre ist bezeichnend für die theoretischmethodische Ausrichtung der traditionellen Forschungsliteratur, da gerade dieser Zeitraum aus kommunikationsgeschichtlicher Perspektive besonders interessant ist. So waren die kaiserlichen Gesandten in diesen Jahren ständig mit der Erlangung und Erhaltung der Freundschaft des Bündnispartners bzw. der im Rahmen mehrerer, schnell aufeinander folgender Herrscherwechsel sich wandelnden Hofeliten beschäftigt und mussten dabei die passenden Kommunikationsstrategien einsetzen – Aspekte, denen die klassische Politikgeschichte keine große Aufmerksamkeit schenkte. Diese Freundschaft war für beide Mächte im gesamten Zeitraum von besonderer Bedeutung, da angesichts des konfliktgeladenen Verhältnisses zwischen den durch das Bündnis von 1726 fixierten Machtblöcken ständig die Gefahr eines gesamteuropäischen Krieges drohte. Eingebettet in diesen Kontext soll in diesem letzten Teil zunächst ein Bogen von der Erlangung der Freundschaft im Rahmen der Machtübernahme Katharinas I. und dem daraus resultierenden Bündnisschluss von 1726 bis hin zur Erhaltung und Intensivierung der Freundschaft im Rahmen der Thronbesteigung Peters II., dem Neffen Karls VI., gespannt werden. Dessen Machtübernahme eröffnete der kaiserlichen Diplomatie nicht nur günstige Kommunikationsbedingungen durch die enge politische und verwandtschaftliche Verbindung mit dem befreundeten Hof, sondern stellte sie auch vor die Herausforderung der Annäherung an die zum Teil wechselnden Eliten in Russland. Die genaue Untersuchung der von den außenpolitischen Akteuren eingesetzten Kommunikationsstrategien wird verdeutlichen, dass die zwischenstaatlichen Beziehungen im betrachteten Zeitraum über weite Strecken harmonisch verliefen. Damit ging auch eine Kultivierung der diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern einher, die sich vor allem in der Etablierung gebräuchlicher Interaktionsmechanismen zwischen beiden Bündnispartnern niederschlug. Somit wird in diesem Teil auch das tiefere Eindringen
634 Vgl. Döberl, Wägen; Steppan, Gesandte; Christian Steppan, Kaiser Karl VI. und sein Neffe, der Großfürst. Repräsentation, Interaktion und Kommunikation kaiserlicher Gesandter im Konflikt um die Thronfolge von Zar Peter II., in: Gunda Barth-Scalmani/ Harriet Rudolph/Christian Steppan (Hgg.), Politische Kommunikation zwischen Imperien. Der diplomatische Aktionsraum Südost- und Osteuropa (Innsbrucker Historische Studien, Bd. 29), Innsbruck-Wien-Bozen 2013, 125–144; Kristian Sˇteppan, Simvolicˇeskaja politika v epoche ozˇivlenija avstro-russkich otnosˇenij. Imperatorskij posol Franz Karl Graf Wratislaw v Rossii 1728–1733, in: E.S. Uzeneva (Hg.), Slavjanskij mir v tret’em tysjacˇeletii. Slavjanskie narody : vektory vzaimodejstvija v Central’noj, Vostocˇnoj i Jugo-Vostocˇnoj Evrope, Moskva 2010, 130–139.
Wiederaufnahme der diplomatischen Kommunikation auf höchstem Niveau
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der politischen Akteure in den Kommunikationsraum Russland sichtbar gemacht werden.
3.1. Wiederaufnahme der diplomatischen Kommunikation auf höchstem Niveau – das daraus resultierende Bündnis und die anschließende Intensivierung der Kommunikation (1725–1726) Wie am Ende des vorangegangenen Abschnitts bereits angesprochen, führte der Regierungsantritt Katharinas I. zu ernsthaften Bestrebungen in Richtung einer »Befestigung« des »guten Verständnisses« und der »Freundschaft« zwischen Wien und St. Petersburg/Moskau. Die Hintergründe dieses Kurswechsels in den bilateralen Beziehungen waren vielfältig. So markierte die Mitte der 1720er-Jahre nicht nur den bereits ausführlich beschriebenen Herrscherwechsel in Russland, sondern auch eine außenpolitische Isolation Karls VI., die durch das Bündnis mit Spanien 1725 und den daraus resultierenden Zusammenschluss von England, Frankreich und Preußen zur »Herrenhausener Allianz« hervorgerufen wurde. Diese Rahmenbedingungen schufen einerseits die Basis für eine Annäherung des Kaisers an Katharina I. und machten andererseits eine Kontaktaufnahme mit dem russischen Hof nahezu unausweichlich. In diesem Teilkapitel soll daher ein Bogen von den Voraussetzungen für die Wiederaufnahme der zwischenstaatlichen Kommunikation bis hin zur Schließung des Bündnisses im August 1726 und dessen Folgen auf die Interaktion zwischen den beiden Höfen gezogen werden. Dieser Abschnitt erlaubt somit auch einen weiteren Einblick in die mit der Intensivierung der zwischenstaatlichen Beziehungen verbundenen strukturellen Veränderungen der kaiserlichen Diplomatie.
3.1.1. Der Kompromiss in der Titelfrage – Grundlage für die Kommunikation zwischen den Herrschern und die Absendung des hochrangigen kaiserlichen Gesandten Amadeus Graf Rabutin nach Russland Der Regierungsantritt Katharinas I. stellte einen guten Anlass dar, um die über Jahre auf Eis gelegte Kommunikation zwischen den Herrschern in Wien und St. Petersburg wieder aufzunehmen. Dieses Ereignis ließ den beiden Höfen beinahe keine andere Wahl. So hielt Kaspar Stieler in einem der bekanntesten zeitgenössischen Briefsteller fest, dass die sogenannten »Berichtschreiben« nicht nur »aus Höflichkeit« und »der Ehren wegen«, sondern auch aus »Not- und Schuldigkeit« abgehen würden. So würden gute Freunde einander »notifizieren«, um
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Aufblühen und Kultivierung der diplomatischen Beziehungen
einerseits die Freundschaft zu »erhalten« und »fortzupflanzen« sowie andererseits keinen »Schaden« durch einen Informationsnotstand entstehen zu lassen.635 Wollen wir uns kurz in Erinnerung rufen, dass Hochholzer im Auftrag des Kaisers die zu »befestigende gute Verständnis und Freundschaft« gegenüber der neuen russischen Herrscherin zum Ausdruck bringen sollte. Unter diesen Voraussetzungen blieb Karl VI. beinahe nichts anderes übrig, als ein Notifikationsschreiben der Zarin anzunehmen – auch wenn darin die »Anstößlichkeiten« bezüglich des Titels unkenntlich gemacht werden sollten. Denn der Austausch von Notifikationsschreiben über den Tod des alten bzw. den Regierungsantritt des neuen Herrschers zählte zu den normativen Standards der Kommunikation zwischen den europäischen Höfen, wie wir aus Stielers Werk erfahren. So führt er konkretisierend hinsichtlich der »Berichtschreiben« aus, »[…] daß zu dieser Schreibart alle relationes, Beschreibungen und Zeutungen gehören, wie auch alle Erkundigungen, Notification oder Eröffnungsschreiben, deren es an Fürstlichen Höfen täglich viel giebt, so wol in Freuden- als Trauer-Sachen, als: Beylager, Kindesgeburt, Antretung der Regierung, Erlebung des Geburtstages, Erlangung einer Ehr und Würde, Zurückkunft von einer Reise, Erhaltung eines Sieges oder andern Glücks, und hingegen Absterbung der Eltern, Ehegatten, Kinder und vornehmer Verwandten und anderer zugestossenen Unfälle.«636
Diese Standards setzten sich im Laufe des frühen 18. Jahrhunderts auch am russischen Hof durch. Im Zuge einer »Europäisierung« des russischen Briefstils wurden unter anderem Stielers Ausführungen über die Korrespondenz zwischen Herrschern herangezogen. Es war der bereits erwähnte Entdecker des Schreibens von Maximilian I., Michail Sˇafirov, der zum Beispiel die Vorgaben Stielers über die »Königliche Notification« ins Russische übersetzte. Die daraus hervorgehenden russischen Briefsteller (»Priklady«) wurden 1708 erstmals veröffentlicht, fanden daraufhin Verwendung in der Gesandtschaftskanzlei und erlebten im Jahr des Regierungsantritts Katharinas I. bereits ihre vierte Auflage.637 Trotz des scheinbar standardisierten Austausches solcher Notifikationsschreiben sorgte sich nicht nur der russische Gesandte Lanczinski in Wien, sondern auch Hochholzer in Petersburg bezüglich der Annahme des Briefes durch Karl VI. Ende Februar 1725 berichtete er an die heimische Kanzlei von 635 Vgl. [Caspar Stieler], Der Allzeitfertige Secretarius Oder : Anweisung, Auf was Masse ein jeder halbgelehrter bey Fürsten, Herrn, Gemeinde und in seinem Sonderleben, nach jetziger Art, einen guten, wohlklingenden und hinlänglichen Brief schreiben und verfassen könne. […], Nürnberg 1686, 406–407. 636 Stieler, Secretarius, 410. 637 Vgl. Gabriele Scheidegger, Studien zu den russischen Briefstellern des 18. Jahrhunderts und zur »Europäisierung« des russischen Briefstils (Slavica Helvetica, Bd. 14), BernFrankfurt am Main-Las Vegas 1980, 41–58 sowie 214–215.
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einer Unterhaltung mit Bassewitz über das Notifikationsschreiben der Zarin, das unter Verwendung des Kaisertitels bereits nach Wien abgegangen sei. Darin äußerte er dem holsteinischen Vertreter gegenüber die Vermutung, dass das Schriftstück einige »Difficultät« bei der Annahme mit sich bringen würde, wobei er die Zustimmung seines Gesprächspartners fand. Aus diesem Grund äußerte der Legationssekretär die Bitte an seine Vorgesetzten, dem russischen Gesandten im Falle einer Übergabe zuvorzukommen.638 Dass diese Schriftstücke keineswegs nur reine Formsache waren, zeigt sich nicht nur in den Sorgen Hochholzers und seines russischen Pendants in Wien, sondern wird auch dadurch deutlich, dass der Legationssekretär tags darauf das russische Original inklusive einer Kopie und eines kurzen Kommentars an den kaiserlichen Hof schickte. Es ist bemerkenswert, dass Hochholzer zu diesem Zeitpunkt der russischen Sprache bereits so mächtig gewesen sein dürfte, um einen Vergleich der beiden Schriftstücke anstellen zu können. So vermochte er keinen Unterschied festzustellen, außer dass »[…] das wort: anverwandter oder vetter in der vorig rußischen copia […] ausgelaßen worden, insgleichen auch der titul in inserptione, sonsten aber alles durchgehends gleichlautend seye.«639 Der von Hochholzer angesprochenen Anrede des Kaisers als »Anverwandter« und »Vetter« (im russischen Original: »srodnik«) ging die Bezeichnung des Souveräns als »Bruder« (im russischen Original: »brat«) voran. Damit entsprach das Schreiben absolut den damaligen Gepflogenheiten der Korrespondenz zwischen Herrschern, wie ein Blick auf Stielers Muster-Notifikationsschreiben zum Regierungsantritt zeigt, in dem die Anrede »Vetter« gebraucht wird.640 Die Verwendung von Verwandtschaftsbezeichnungen in der gegenseitigen Anrede der Souveräne sollte die Gleichrangigkeit der Korrespondierenden zum Ausdruck bringen.641 Diese Praxis fand im Brief Katharinas in der Anrede des Kaisers als »freundlich geliebter Bruder« (»druzˇeljubeznyj brat«) und in ihrer Eigenbenennung als »gute Schwester« (»dobraja sestra«) am Schluss des Schreibens ihren Niederschlag. An diesen Bezeichnungen dürfte sich die kaiserliche Diplomatie, wie der Kommentar Hochholzers zeigt, keineswegs gestoßen haben. Ein genauer Blick auf das russische Original sowie auf die Kopie zeigt, dass darin auch der russische Kaisertitel keine Verwendung fand. So wird der verstorbene Peter I. darin lediglich als »Seine allrussische Hoheit« (»Ego Velicˇestvo Vse638 Vgl. Bericht Hochholzers v. 24. Februar 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 125r–125v. 639 Bericht Hochholzers v. 25. Februar 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 125r–125v. 640 Vgl. Stieler, Secretarius, 435. 641 Vgl. Sophie Ruppel, Verbündete Rivalen. Geschwisterbeziehung im Hochadel des 17. Jahrhunderts, Köln 2006, 67.
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rossijskogo«) bezeichnet.642 Die bereits angesprochenen »Anstößlichkeiten« werden in diesen Schreiben also nicht greifbar. Selbst wenn der russische Kaisertitel im Notifikationsschreiben Verwendung gefunden haben sollte, so wusste man in Wien mit Hilfe des Durchstreichens sogar damit umzugehen. Das zeigt, wie wichtig für den kaiserlichen Hof die durch den Austausch der Schriftstücke zum Ausdruck gebrachte Freundschaft mit der neuen russischen Herrscherin war.
Abb. 9: Notifikationsschreiben Katharinas I. an ihren »freundlich geliebten Bruder« Karl VI. aus dem Jahre 1725 (links) sowie dazugehörige Übersetzung Hochholzers (rechts).643
Das spiegelt sich in der Audienz Lanczinskis beim Kaiser wider, in der Karl VI. wie folgt auf die offizielle Benachrichtigung über den Tod Peters I. reagiert haben soll: »Die derzeit regierende Zarin gibt uns Grund auf ihren Wunsch zur Fortsetzung der Freundschaft zu hoffen, worauf auch wir von unserer Seite aus 642 Vgl. Schreiben Katherinas I. an Karl VI. v. 12. Februar 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 71r–71v ; Kopie des Schreibens Katherinas I. an Karl VI. v. 12. Februar 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 67r–67v. 643 Schreiben Katherinas I. an Karl VI. v. 12. Februar 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 71r ; Übersetzung des Schreibens von Hochholzer, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 62r.
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gerne hinwirken werden.«644 Dies habe der Kaiser nach Angaben des russischen Gesandten noch deutlich von sich gegeben. Für seine weiteren Ausführungen bediente er sich nach Angaben Lanczinskis jedoch einer ähnlichen Strategie wie seine Konferenzminister beim Durchstreichen des Titels, indem er die Schlusssätze der Audienz unverständlich aussprach. So habe der Kaiser noch etwa 20 Worte an ihn gerichtet, jedoch so undeutlich, dass der russische Gesandte nichts verstehen konnte645 – eine Taktik, der wir bereits beim Empfang desselben im Jahre 1721, unmittelbar nach der Annahme des Kaisertitels durch Peter I., begegnet sind. Diese Vorgehensweise änderte jedoch nichts am Annäherungskurs des Kaisers an Russland und dessen bereits mehrfach betonten Bemühungen um die Freundschaft der Zarin. Das geht auch aus den Instruktionen Hochholzers hervor, die er von Seiten des Wiener Hofes hinsichtlich der Audienz zur Kondolenz bzw. Gratulation bei der Zarin erhielt. So sollte er darin mitunter zum Ausdruck bringen, dass der Kaiser durch den Tod Peters I. einen »guten Freund verloren« habe und überdies hoffe, in der Zarin eine »ebenso gute Freundin« zu finden.646 Doch noch ehe die Audienz bei der Zarin stattfand, sollte in Russland ein anderes zeremonielles Großereignis über die Bühne gehen – das Begräbnis Peters I. Hochholzers Beschreibungen dieses Ereignisses zeigen, welch großes Interesse die ausländischen Gesandten an dessen Ablauf hatten. So schickte er zunächst einen Kurzbericht an den heimischen Hof, in dem er zunächst in aller Knappheit auf die Marschfolge des Trauerzuges einging. Besonders interessant gestalten sich jedoch seine Ausführungen über die Beteiligung der fremden Diplomaten. So seien diese nicht zur Teilnahme an der Prozession, sondern lediglich zum darauffolgenden Gottesdienst geladen worden. Dieser Einladung in die Kirche habe jedoch keiner Folge geleistet, da sie viel lieber »die leich-begängnus«, und »die ganze procession sehen« wollten.647 Das traf offensichtlich auch auf den Legationssekretär selbst zu. So folgte kurz darauf ein ausführlicher Bericht über den Ablauf des Begräbnisses, in dem nicht nur die Teilnehmer des Leichenzuges (teilweise namentlich bzw. nach ihrer Funktion) aufgelistet, sondern auch die diversen Ausschmückungen der Prozession beschrieben wurden.648 Dieser Bericht zeigt, dass die ausländischen Gesandten ein enormes Interesse an dem 644 Zit. nach: S.M. Solov’ev, Istorija Rossii s drevnejsˇich vremen. 1725–1740, Kniga X, Moskva 2003, 31. 645 Vgl. Solov’ev, Istorija, Bd. X, 31. 646 Vgl. Weisung an Hochholzer v. 10. März 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 138r–139v. 647 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 24. März 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 162r–162v. 648 Vgl. Beilage zum Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 10. April 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 169r–170v.
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höfischen Großereignis hatten und sich dessen Tragweite als Neuheit des russischen Zeremoniells bewusst waren – wie bereits im ersten Teil dieser Arbeit näher ausgeführt wurde. So stellte der Ablauf dieses Begräbnisses das »europäisierte« Muster dar, woran sich alle nachfolgenden Ereignisse dieser Art orientieren sollten.
Abb. 10: Hochholzers Bericht als Spiegelbild des russischen Trauerzeremoniells – Auszug aus der Marschordnung beim Begräbnis Peters I. im Jahre 1725.649
Die nachfolgende Audienz Hochholzers bei der Zarin eröffnet uns eine weitere Feinheit bezüglich der Semantik des Hofzeremoniells, die gerade im Vergleich mit dem Empfang seines hochrangigen Vorgängers besonders deutlich wird: So geht aus deren Ablauf hervor, dass die zeremonielle Behandlung der Gesandten vom Rang des jeweiligen Diplomaten abhing. Nach Beantragung der Audienz bei Kanzler Golovkin und dem mit dem Regierungsantritt Katharinas zum Vizekanzler ernannten Ostermann sei der Legationssekretär zunächst gebeten worden, die »stille Zeit« der Trauer vergehen zu lassen und erst zu den bevorstehenden Osterfeiertagen zu erscheinen. Ein Blick zurück zeigt, dass die Anmeldung der Audienz offensichtlich nach demselben Muster wie bei Kinsky 649 Beilage zum Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 10. April 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 169r.
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verlief. Doch nachdem auch Hochholzer von einem Kanzleibediensteten zur Audienz geladen worden war, sollte sich diese von jener eines hochrangigen Ambassadeurs deutlich unterscheiden. Während Kinsky und sein Gefolge mit einer von Peter I. abgeschickten Barke abgeholt worden waren, habe sich der trotz des Feiertags in Trauerkleider gehüllte Legationssekretär selbstständig zum Hof begeben. Dort sei er von einem Kammerjunker empfangen worden, der ihn direkt ins Audienzzimmer der Zarin geführt habe. An dieser Stelle offenbart sich der erste Unterschied hinsichtlich der Aufnahmerituale. So wissen wir aus den Darstellungen Kinskys, dass dieser im Vorzimmer zunächst von den beiden Kanzlern begrüßt worden war, ehe er von ihnen in die Empfangsräume des Zaren geführt wurde.650 Dies entsprach den normativen zeitgenössischen Richtlinien für den Empfang von Ambassadeuren. So decken sich die Vorgaben der zeremonialwissenschaftlichen Literatur und des russischen Gesandtschaftszeremoniells darin, dass hochrangige Gesandte im Vorzimmer entweder von Ministern oder hochrangigen Hofämtern empfangen und von diesen ins Audienzzimmer geleitet werden sollen.651 Dort angelangt, erwartete Hochholzer ein wesentlich formellerer Ablauf, als das bei der Privataudienz von Kinsky der Fall gewesen war. So habe ihn die in Schwarz gekleidete Zarin stehend empfangen, neben ihr Vizekanzler Ostermann sowie die beiden Prinzessinnen und das Gefolge der Hofdamen. Auf der anderen Seite seien Fürst Mensˇikov, Graf Golovkin, Graf Tolstoj, Großadmiral Apraksin sowie andere Vornehme des Reiches und Generäle platziert gewesen. Nachdem sich Hochholzer nach Ablegung der »gebührlichen Reverenzen« der Herrscherin genähert hatte, seien sowohl die Ansprache des Legationssekretärs als auch die Antwort der Zarin durch den neben ihr stehenden Ostermann erfolgt.652 Im Gegensatz zur Privataudienz von Kinsky – deren formloser Ablauf der Vorliebe Peters I. für ungezwungene Zusammentreffen entsprochen hatte – hatte der Empfang Hochholzers offensichtlich den Charakter einer öffentlichen Audienz. Das wird durch den Vergleich mit den später niedergeschriebenen Richtlinien des russischen Gesandtschaftszeremoniells sichtbar, da sich dessen allgemeine Vorgaben über die Aufstellung der Herrscherin und ihres Hofstaates größtenteils mit den Beschreibungen Hochholzers decken. Demzufolge sollten Staats- und Vizekanzler zur Rechten des Throns Platz nehmen, wobei auf derselben Seite, etwas nach hinten versetzt, der Oberhofmeister den ersten Platz in der daran anschließend Reihe der Staatsdamen und -fräulein sowie der anderen Hofdamen 650 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 10. April 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 168r–168v. 651 Vgl. RGADA, f. 15, op. 1, d. 78, 21v–22r ; Lünig, Theatrum, 448; Rohr, Einleitung, 402; Stieve, Hof-Ceremoniel, 284. 652 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 10. April 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 168v sowie 173r.
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einnehme. Zur Linken hingegen seien die Hofkavaliere und andere Würdenträger der ersten Klasse – abgestuft nach ihren Rängen – zu postieren.653 Diese Gegenüberstellung zeigt, dass die verschriftlichten Richtlinien der 1740er-Jahre im Wesentlichen bereits unter den vorangegangenen Herrschern Anwendung fanden. Abgesehen von Unterschieden in der zeremoniellen Behandlung beider kaiserlicher Vertreter zeigt der nachfolgende Auszug aus der Anrede Hochholzers auch einige Parallelen zu den von Kinsky gewählten Worten. Dabei hielt sich der Legationssekretär offensichtlich genau an jene Anweisungen, die er kurz zuvor vom Kaiser erhalten hatte: »Ihro Röm[ische] Kay[serliche] und Königl[iche] Cathol[ische] May[estät] mein allergnädigster herr haben mir anbefohlen, daß ich in ihro allerhöchsten nahmen von deroselben Euer May[estät] einen freündlichen gruß mit aller ehrerbietigkeit ablegen solle, und daß ihro Kay[serliche] May[estät] den ihro notificirten tödlichen hintrit weyl[and] Euer May[estät] verstorbenen ehe gemahls May[estät] als eines bewährten freundes sehr beklagen, mithin wünschen, daß die hand Gottes mit so betrübten schickungen fürohin still stehen wolle; Jedoch ist Ihro Kay[serliche] May[estät] dabenebst sehr lieb zu vernehmen geweßen, daß der erledigte thron von Euer May[estät] wiederumb glücklich bestigen und bevestiget worden ist, gestalten ihro Kay[serliche] May[estät] für Euer May[estät] eine sonderbare hochachtung hegen, und gleich wie Ihro Kay[serliche] May[estät] an Ihro May[estät] einen beständigen guten freund verlohren haben, als hoffen dieselbe zuversichtlich, daß sie an Euer May[estät] eine eben so gute freundin anwiederumb finden, mithin beede reiche durch gute verständnus den sicheren ruhe-stand erhalten werden, worzu Ihro Kay[serliche] May[estät] ihro seits alles gern beytragen wollen;«654
Die Zarin bediente sich in ihrer Antwort ähnlicher Termini, indem sie nicht nur ihren »verbundenen Dank« für die Notifikation, sondern auch ihre »beständige Freundschaft« versichert und überdies ihren Kooperationswillen zur »Befestigung dieser beharrlichen Freundschaft« zum Ausdruck gebracht hat.655 Die Betonung der Freundschaft des fremden Souveräns ebenso wie des guten Verständnisses beider Reiche kennen wir bereits aus der Anrede Kinskys an Peter I. und dessen anschließender Antwort. Demzufolge sollten beide Vorträge den Startpunkt der Annäherung des Kaisers an den russischen Hof zum Ausdruck bringen. Was Karl VI. zu dieser Haltung führte und wie ernst er es damit meinte, soll ein kurzer Blick auf die ereignisgeschichtlichen Hintergründe zeigen. Einhellig wird in der bisherigen Forschungsliteratur das Kräfteverhältnis in 653 Vgl. RGADA, f. 15, op. 1, d. 78, 22r–22v. 654 Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 10. April 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 171r–171v. 655 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 10. April 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 173r.
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der europäischen Bündnispolitik Mitte der 1720er-Jahre für die Annäherung zwischen den Höfen in Wien und St. Petersburg/Moskau verantwortlich gemacht. Hatte das Bündnis zwischen Wien und Madrid von 1725 und das damit verbundene Handelsabkommen die »Allianz von Herrenhausen« zwischen England, Frankreich und Preußen hervorgerufen, so stieg ab diesem Zeitpunkt das Interesse innerhalb dieser verfeindeten Machtblöcke, Russland als neuen Partner zu gewinnen. Grundlage dieser Bestrebungen war der bereits ausführlich beschriebene Gewinn der Großmachtstellung Russlands durch den Sieg im Nordischen Krieg. So wurde der russische Hof auch zu einem attraktiven Bündnispartner für alle mächtigen Herrscherhäuser am Kontinent. Der Abschluss des Friedens von Nystad ermöglichte Peter I. den Start seiner Expansionspolitik im Osten, welche ihm im russisch-persischen Krieg von 1722 bis 1723 Gebietsgewinne im kaspischen Raum einbrachte.656 Unter diesen Rahmenbedingungen war Russland 1725 vor allem um den Erhalt der neu erworbenen Gebiete bemüht, deren Anerkennung auch ein Hauptkriterium für die Wahl des Bündnispartners darstellte. Hinzu kamen noch Bestrebungen, im Rahmen einer solchen Allianz die Restitution Schleswigs zu erwirken, welche vor allem durch die Einrichtung verwandtschaftlicher Verbindungen mit den Holsteinern durch die Hochzeit zwischen der aus der Ehe Peters I. und Katharinas hervorgegangenen Tochter, Anna Petrovna, und dem bereits mehrfach erwähnten Herzog Karl Friedrich von Holstein für den Zarenhof von besonderem Interesse war.657 Diese politische Ausgangslage in Europa hatte natürlich Auswirkungen auf die Vorgehensweise der unterschiedlichen auswärtigen Gesandten am russischen Hof. So wurde Hochholzer im Rahmen der Übermittlung des Traktats mit Spanien vom Kaiser dazu angehalten, mit dem spanischen Minister am russischen Hof freundlich umzugehen.658 Auch in der Korrespondenz des französischen Vertreters Campredon mit seinem Hof spiegelt sich die von der Historiographie dargestellte Umwerbung der Zarin durch die unterschiedlichen Machtblöcke deutlich wider. Unmittelbar nach dem Abschluss des Bündnisses zwischen Wien und Madrid im April 1725 hob Campredon in unterschiedlichen Relationen hervor, dass dieses Ereignis großen Eindruck auf den russischen Hof gemacht habe. Konkret weist er gleich mehrfach auf den daraus resultierenden Machtzuwachs des Kaisers hin, der die russischen Verantwortlichen dazu führe, die guten Beziehungen mit Wien zu erhalten, und gleichzeitig den Gegnern eines Bündnisses mit Frankreich in die Hände spiele, da damit der Aufschub eines 656 Vgl. dazu ausführlich: I.V. Kurukin, Persidskij pochod Petra Velikogo. Nizovoj korpus na beregach Kaspija (1722–1735), Moskva 2010. 657 Vgl. Kliwar, Bündnisvertrag, 22–38; Leitsch, Wandel, 34–72; Nekrasov, Rol’, 82–90; Nelipovicˇ, Sojuz, 14–25; Pommerin, Bündnispolitik, 115–119; Steppan, Gesandte, 32–33. 658 Vgl. Weisung Karls VI. an Hochholzer v. 16. Juni 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 9r.
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Vertragsabschlusses bis zur Klärung der russisch-spanischen Gebarungen verbunden sei.659 Diesen Machtausbau Karls VI. fürchtete auch der französische König im darauffolgenden Reskript an seinen Gesandten in St. Petersburg, in dem er eine Einigung über ein von russischer Seite ausgearbeitetes »KonterProjekt« in greifbarer Nähe sah. Demzufolge habe die Zarin keine Zeit mehr zu verlieren, gegen den Kaiser vorzugehen, der lediglich an der Schwächung ihrer Macht interessiert sei. Dabei könnte er jedoch nicht auf all ihre Wünsche eingehen, da die einzelnen Bestimmungen für eine Allianz mit den Vorstellungen des englischen Bündnispartners in Einklang zu bringen seien.660 Es würde zu weit führen, an dieser Stelle auf die einzelnen Diskussionspunkte der Verhandlungen zwischen Russland und Frankreich detailliert einzugehen. Wichtig für unsere Fragestellung ist die Tatsache, dass auch der russische Kaisertitel eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Umgarnung des russischen Hofs durch beide Machtblöcke spielte. Die »großen Ereignisse« der Verhandlungen rund um die sachpolitischen Fragen sind uns Dank der Ergebnisse der bislang erschienenen Werke über die diplomatischen Beziehungen des betrachteten Zeitraums vielfach bekannt. Das trifft auch auf die bereits genannten Studien zu, die die Annäherung der Höfe von Wien und St. Petersburg/Moskau in den Jahren 1725 und 1726 näher in den Blick nahmen. Diese behandelten in erster Linie die einzelnen Verhandlungs- und Vertragspunkte der beiden Mächte und die damit verbundenen zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen, ohne näher auf die Rahmenereignisse der Verhandlungen einzugehen. Genau diese Darstellung wurde von den im ersten Teil erwähnten unterschiedlichen Ausrichtungen der »Neuen Politikgeschichte« kritisiert. Demnach richtete die traditionelle Geschichtsschreibung des Politischen ihren Fokus unter anderem auf die Motive und Folgen des historischen Handelns und die im Zentrum des Interesses stehenden Ereignisse selbst. Deshalb gingen die Historiker in der jüngeren Vergangenheit vielfach von der reinen Auflistung der Gründe und Auswirkungen von Vertragsabschlüssen, Wahlen und dergleichen mehr ab, und widmeten sich diesen »big events« auch in ihrer Dimension als kommunikative Akte. Trotzdem darf den kritisierten Werken keineswegs ihre Wichtigkeit für die Erforschung der zwischenstaatlichen Beziehungen abgesprochen werden. Ganz im Gegenteil, sie dienen als unabdingbares Faktengerüst für die weitere Vertiefung in diese Thematik und bilden, wie es Karl Rohe auf den Punkt brachte, die notwendige Wissensbasis, um die dargestellten politischen Phänomene 659 Vgl. Bericht Campredons an Morville v. 22. Mai 1725, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 58, Sankt-Peterburg 1887, 331–333; Bericht Campredons an Morville v. 26. Mai 1725, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 58, Sankt-Peterburg 1887, 346–347; Bericht Campredons an Morville v. 9. Juni 1725, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 58, Sankt-Peterburg 1887, 366. 660 Vgl. Weisung Ludwigs XV. an Campredon v. 20. Juni 1725, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 58, Sankt-Peterburg 1887, 385–392.
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unter Berücksichtigung ihrer kulturellen Dimension in ihrer Vielschichtigkeit zu erschließen.661 Diese Erweiterung des Blicks auf die Rahmenhandlungen der Ereignisse erfordert in unserem konkreten Fall eine nähere Betrachtung der Vorgeschichte der offiziellen Verhandlungen zwischen Wien und St. Petersburg/Moskau. Dabei musste zunächst der scheinbar unlösbare Konflikt um den russischen Kaisertitel aus der Welt geschafft werden, um die bilateralen Gespräche überhaupt beginnen zu können. Dieser Aspekt wurde von der traditionellen Historiographie gar nicht oder nur am Rande erwähnt. Lediglich die Arbeit von Leitsch stellt diesbezüglich eine Ausnahme dar, da er den 1725 getroffenen Kompromiss über diese »Formalität« als Voraussetzung für die Aufnahme von Verhandlungen charakterisierte. Dem stellt der Autor eine kurze Vorgeschichte über die bereits dargestellte Annahme des Kaisertitels durch Peter I. und die damit verbundenen diplomatischen Spannungen zwischen Wien und St. Petersburg/Moskau voran.662 Es ist bezeichnend für die methodische Schwerpunktsetzung der klassischen Politikgeschichte, dass etwa Kliwar den Streit um den Kaisertitel lediglich in einer Fußnote erwähnt.663 Hinter diesem Konflikt verbirgt sich allerdings die von Rohe angesprochene Ausdrucksseite eines Weltbildes, die nicht nur einen tiefen Einblick in die politische Kultur der Frühen Neuzeit erlaubt, sondern gleichzeitig auch deren Relevanz in Hinblick auf die »großen Ereignisse« der Diplomatiegeschichte verdeutlicht.664 Die Bedeutung von politischen Symbolen für die zwischenstaatliche Kommunikation – wie etwa die Titel der sich austauschenden Herrscher – erschließt sich zunächst vor allem aus der zeitgenössischen zeremonialwissenschaftlichen Literatur. Diese charakterisierte das Zeremoniell ganz generell als Mittel, um die Majestas des Fürsten zum Ausdruck zu bringen sowie die Hoheit und Macht eines Herrschers sinnlich erfahrbar zu machen. In der Außenpolitik erfolge diese Ehrerbietung sowohl durch die Person des jeweils anderen Souveräns, als auch durch dessen Gesandte. Dementsprechend besaß das Zeremoniell eine Ordnungsfunktion, indem es unter anderem die Zuweisung von Hoheit und Macht unter den regierenden Fürsten regelte.665 Das geschah vor allem auch durch die Titel der einzelnen Herrscher, die diese Abstufung bereits bei der Anrede des jeweiligen Souveräns sicht- bzw. hörbar machten. Wenngleich diese theoretische Grundlage der Zeremonialwissenschaft scheinbar keinen großen Interpretationsspielraum zulässt, hielt etwa Rohr hinsichtlich der Titulaturen 661 Vgl. Rohe, Kultur, 333–334; Stollberg-Rilinger, Kommunikation, 495–496; Vgl. dazu auch: Steppan, Gesandte, 32 sowie 34. 662 Vgl. Leitsch, Wandel, 73–76. 663 Vgl. Kliwar, Bündnisvertrag, 41. 664 Vgl. dazu auch: Steppan, Gesandte, 34–35. 665 Vgl. Vec, Zeremonialwissenschaft, 139–140.
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fest, dass in diesem Bereich schon so manche Veränderungen vorgegangen seien. Einige Regenten würden sich jedoch der Annahme von neuen Titeln durch andere Souveräne so lange entgegensetzen, bis besondere Vergleiche angestellt oder Vermittlungen in dieser Sache durchgeführt wurden. Als Beweis dafür nennt er die Beanspruchung des Majestätstitels von Peter I. gegenüber den anderen Mächten.666 Die Berücksichtigung dieser Auseinandersetzungen in der theoretischen Literatur des 18. Jahrhunderts stellt einen zusätzlichen Stützpfeiler der These dar, wonach diese keineswegs nur einen vernachlässigbaren Nebenschauplatz der »großen Ereignisse« darstellten.667 Noch größere Aufmerksamkeit erlangte der Konflikt um den russischen Kaisertitel in Lünigs »Europäischem Kanzleizeremoniell«, das zu den wichtigsten zeitgenössischen Standardwerken über die briefliche Kommunikation im zwischenstaatlichen Bereich zählte. Es ist bemerkenswert, dass der Autor darin zunächst eine Etymologie des Wortes »Czaar« liefert. So hält er diesbezüglich fest, dass diese gängige Schreibart des russischen Herrschertitels zu einem Trugschluss geführt hätte. Demnach würden die Moskowiter das Wort mit einem Buchstaben schreiben, der dem deutschen »Z« gleichkomme. Da dieser in der polnischen Sprache – in der die genannte Schreibweise offensichtlich ihren Ursprung hatte – als »S« gelesen würde, setzten die Moskowiter dem »Z« den Buchstaben »C« – also ihre Entsprechung für das deutsche »Z« – voran. Aufgrund dieses Umstandes würde das Wort vielfach fälschlich als »Kzar« oder »Ksar« gelesen und letzten Endes daraus ein »Caesar« gemacht. Diesen Schluss bezeichnete der Autor jedoch als »einfältig« und von »ziemlicher Ignoranz«. Er begründet dieses Urteil damit, dass das Wort »Zaar« seit jeher die slawische Bezeichnung für einen König sei und nennt dafür die Benennungen der Könige David, Salomon und Herodes in der »slawischen Bibel«. Auf Basis dieser »etymologischen Expertise« über den Trugschluss der synonymen Verwendung der Wörter »Czaar« und »Caesar« nennt er an anderer Stelle die Bestrebungen des russischen Hofes in »jüngeren Zeiten«, zunächst das kuriale »Caesarea Majestatis« und dann den Imperatorentitel bei den übrigen Höfen durchzusetzen.668 Die Erklärungen Lünigs stellen jedoch den Umkehrschluss der tatsächlichen Etymologie des Wortes »Zar« dar, um – bewusst oder unbewusst – die Ableitung 666 Vgl. Rohr, Einleitung, 415–425; Ähnliche Erklärungen für derartige Auseinandersetzungen finden wir auch in den anderen zeremonialwissenschaftlichen Werken des frühen 18. Jahrhunderts. Vgl. Lünig, Theatrum, 3–4; Stieve, Hof-Ceremoniel, 4–12. 667 Vgl. dazu auch: Steppan, Gesandte, 35. 668 Vgl. Johann Christian Lünig, Theatrum Ceremoniale Historico-Politicum, Oder Historisch- und Politischer Schau-Platz des Europäischen Kantzley-Ceremoniels, Wie Kayser, Könige, Chur- und Fürsten, Grafen und Herren […] einander in Briefen tractiren, Nebst unterschiedlichen Historisch- Politisch- und Cantzley-Anmerckungen, Elencho und vollkommenen Register, Band 2, Leipzig 1720, 26 sowie 40.
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vom lateinischen Wort »Caesar« zu verdecken. So leitete sich nicht nur im Russischen, sondern in nahezu allen anderen slawischen Sprachen diese Bezeichnung – in ihren unterschiedlichen Schreibweisen – vom lateinischen Wort »Caesar« ab und diente somit vielfach auch als Entsprechung für das deutsche Wort »Kaiser«.669 Nicht umsonst nennt Lünig dieses Beispiel in der Einleitung seines Werks, um das Konfliktpotential der Titulaturen zu veranschaulichen. Den unterschiedlichen Gesandten am russischen Hof ging es jedoch im Zuge der Annäherung an Katharina I. darum, Zündstoff aus der Frage herauszunehmen. Dafür mussten ihre Herrscher jedoch zumindest kompromissbereit sein. Dementsprechend berichtete Hochholzer ab August des Jahres 1725 mehrfach an den Kaiser, dass die am Zustandekommen eines Bündnisses zwischen Wien und St. Petersburg/Moskau interessierten Vertreter Schwedens und Holsteins hinsichtlich eines Vergleichs mit dem russischen Hof in der Titelfrage an ihn herangetreten seien. In den Darstellungen über die Gespräche spiegelt sich der zentrale Stellenwert einer Lösung dieses Konflikts im Hinblick auf die Annäherung Russlands an einen der beiden europäischen Machtblöcke wider. So erachteten die urgierenden Kollegen eine Beilegung des Majestätstitels von Seiten des Kaisers gegenüber der Zarin für unabdingbar, um eine Separierung des russischen Hofes von England und Frankreich zu erzielen. Daneben stellten sie eventuell bevorstehende Zugeständnisse dieser beiden Länder hinsichtlich der beanspruchten russischen Kaiserwürde in den Raum, sollte es zu einem Bündnis mit den verfeindeten Allianzmächten kommen. Da Hochholzer die restriktive Haltung Wiens in dieser Frage kannte, ließ er sich in seinen unmittelbaren Reaktionen auf dieses Ansinnen zu keinen eindeutigen und aussichtsreichen Antworten hinreißen.670 Diese Befürchtungen der Gegner einer Annäherung zwischen Russland und den Mächten der »Herrenhausener Allianz« waren keineswegs unberechtigt. So zeigt eine Weisung Ludwigs XV. an Campredon, dass England und Frankreich in diesem Zusammenhang durchaus zu Zugeständnissen bereit waren. Daher habe er sich mit dem englischen König darauf geeinigt, in der Einleitung eines möglichen Bündnistraktats den russischen Kaisertitel zu verwenden – so wie es in der letzten Version des »Konter-Projekts« von russischer Seite vorgeschlagen
669 Vgl. Ageeva, Titul; Vasmer, Etymologisches Wörterbuch, 283. 670 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 11. August 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 40v–41r ; Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 14. August 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 64r–64v ; Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 25. August 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 91v–94r ; Brikner, Diplomaty, 534.
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worden sei.671 Die Begründung für diesen Schritt spricht Bände über die Wichtigkeit dieser Frage für die zwischenstaatlichen Beziehungen: »C’est une condescendance, que l’on a bien voulu avoir pour faire connatre plus particuliÀrement la Czarine, que ce qui peut d¦pendre de moi et du roi d’Angleterre pour la satisfaction de cette Princesse, ne peut point faire un obstacle la signature de l’alliance, qui ne serait pas en effet diff¦r¦e, si les ministres de la Czarine voulaient reconnatre la diff¦rence, qu’il y a entre ce qui peut s’accorder avec mes engagements et ceux de l’Angleterre, et ce qui y serait totalement contraire.«672
Das Zugeständnis in der Titelfrage sollte angesichts der offensichtlich nicht ganz problemlos verlaufenden Verhandlungen ein Zeichen des »good will« von Seiten Frankreichs und Englands sein, von dem man sich eine gute Wirkung auf den russischen Hof erwartete.673 Eine ähnliche Position nahm der Wiener Hof in dieser umstrittenen Frage ein. So betonten schon Brikner und Leitsch, dass sich die Konferenzminister in Wien der Unabdingbarkeit einer Einigung in der Titelfrage für den Abschluss eines Bündnisses mit Russland bewusst gewesen seien. In diesem Zusammenhang erwähnen die Autoren auch ein von Reichsvizekanzler Schönborn auf Basis von Gesprächen mit dem russischen Gesandten Lanczinski im August 1725 ausgearbeitetes Gutachten, in dem neben der Titulierung der Zaren auch die politischen Vorteile einer Allianz mit Russland abgehandelt wurden. Dieses Gutachten wurde am 17. August von den Konferenzräten goutiert und nach längerem kaiserlichem Zögern schließlich am 7. September von Karl VI. abgesegnet.674 Die Brisanz der darin behandelten Titulatur geht schon allein aus dem Umfang des über dreißig Seiten umfassenden Schriftstücks hervor, das unter anderem die zwischen dem Kaiser und dem Zaren verwendete Anrede seit der Regierungszeit Rudolfs II. (1576–1612) bis hinauf zum Jahre 1725 detailliert ausbreitet.675 Darüber hinaus wird in der Einleitung des Gutachtens die enge Verstrickung der Titelfrage mit den damals aktuellen Ereignissen rund um die Bildung neuer Allianzsysteme deutlich. So liefern die Konferenzminister darin zunächst eine aufschlussreiche Erklärung dafür, warum sie nunmehr zu Zugeständnissen in dieser Sache bereit waren. Zunächst wird rückblickend festgehalten, dass der Abbruch des Briefwechsels mit dem Zaren die übrigen »Potenzen« dazu geführt hätte, eine Allianz mit dem russischen Herrscher »auf sich zu ziehen« und diesen 671 Vgl. Weisung Ludwigs XV. an Campredon v. 19. Juli 1725, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 58, Sankt-Peterburg 1887, 446. 672 Weisung Ludwigs XV. an Campredon v. 19. Juli 1725, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 58, Sankt-Peterburg 1887, 446. ˇ erkasov, Dvuglavyj orel i Korolevskie lilii: Stanovlenie russko-francuzskich 673 Vgl. P.P. C otnosˇenii v XVIII v., 1700–1785, Moskva 1995, 23–24. 674 Vgl. Brikner, Diplomaty, 534; Leitsch, Wandel, 74–75. 675 Vgl. dazu auch: Steppan, Gesandte, 36.
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gleichzeitig vom Kaiser abzuwenden. Da Letzterer inzwischen einen möglichen Beitritt zum im Jahre 1724 geschlossenen russisch-schwedischen Bündnis »sehr betrieben« habe, um damit den »zarischen Hof beizubehalten«, wurden von Seiten Russlands und Schwedens noch ernstere »Temperamenta wegen der Titulatur getrieben«. In diesem Zusammenhang habe die Reichskanzlei jedoch auf die Hauptprobleme hinsichtlich der Anerkennung des russischen Kaisertitels aufmerksam gemacht: So könne es erstens nur einen christlichen Kaiser in ganz Europa geben – dieses Argument kennen wir bereits aus früheren Schriftstücken. Zweitens – und damit nahmen sie Bezug auf die weiteren Ereignisse nach der Titelannahme – gelte das Argument der Anerkennung des Titels durch andere »Potenzen« nicht, da keine Krone unter diesen Umständen dazu gezwungen wäre, auf etwas zu verzichten. Lediglich der Kaiser und mit ihm das Reich, die dieses Prädikat bislang alleine besaßen, müssten in diesem Fall ihre »Hoheit und Praecipium gleichsam teilen und hinweg geben.« Auf diese Argumente hin sei vom russischen Gesandten ein Kompromissvorschlag ausgearbeitet worden, der im Zentrum des Ministerialgutachtens stand.676 Der Kompromiss sah vor, dass der Kaiser seine Schreiben fürderhin »titulo minori« anstelle des bislang gepflegten »titulo maiori« an die Zarin richten und formal an die Schreibart der Korrespondenz mit anderen europäischen Kronen anpassen sollte – kaiserliche Handschreiben statt der bislang gebrauchten großen Pergamentbriefe mit goldenen Buchstaben.677 Als Gegenleistung garantierte ihm die russische Herrscherin, dass weder sie noch ihre Nachfolger den Imperatorentitel gegenüber dem Kaiser führen oder beanspruchen würden. Die Begründung der Konferenzräte bzw. des Kaisers für die Zustimmung zu diesem Gutachten liefert einen tiefen Einblick in die Bedeutung dieser Schriftstücke für die zwischenstaatlichen Beziehungen. Demnach bestünde kein erwähnenswerter Unterschied zwischen der bisher gepflegten Lang- und der nunmehr eingerichteten Kurzform des Titels, da der Kaiser dadurch auch weiterhin in seinem ganzen Wesen repräsentiert würde und die Zarin ohnehin kein großes Gepränge um ihre Titulatur machen wolle. Außerdem habe man ein familiäres Handschreiben als höchste und gründlichste Form der kaiserlichen Korrespondenz der russischen Herrscherin ohnedies schon zugestanden. So kam auch Karl VI. zu dem Schluss, dass durch diesen Vergleich dem Reich kein Schaden zukomme und einige Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt werden könnten. Im selben Atemzug kündigt er Hochholzer seinen Entschluss an, einen Gesandten als 676 Vgl. Gutachten der Reichshofkanzlei v. 13. August 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 43r–43v sowie 45r–46r. 677 »Titulo maiori« bezeichnet den großen oder langen Titel des Herrschers, der im Gegensatz zum »titulo minori«, dem kleinen oder kurzen Titel des Souveräns, bei besonders feierlichen Expeditionsformen Verwendung fand. Vgl. Michael Hochedlinger, Aktenkunde. Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit, Wien-München 2009, 135–136.
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Zeichen der besonderen Ehrerbietung gegenüber der Zarin sowie des guten Einvernehmens beider Höfe abzusenden.678 Leitsch erwähnt diese formalen Details lediglich in einer Fußnote, was auf den untergeordneten Stellenwert von Fragen der symbolischen Kommunikation in der traditionellen Historiographie hindeutet.679 Dabei dient gerade dieser Kompromiss als anschauliches Beispiel für die Wichtigkeit des barocken Briefzeremoniells im diplomatischen Diskurs der Frühen Neuzeit. So stellten Titel und Anrede sowie Schriftbild, Papierwahl, Brieffaltung, Versiegelung und dergleichen mehr keineswegs nur reine Formalitäten dar, sondern waren für die Zeitgenossen klare Indizien für das Verhältnis zwischen den Korrespondierenden. Auch die symbolische Bedeutung der Eigenhändigkeit des Herrschers, die im diplomatischen Kontext vor allem als Kennzeichen der Nähe, Freundschaft, Gunst und Ehre interpretiert wurde, spiegelt sich in diesem Kompromiss deutlich wider.680 Ein Blick auf Lünigs »Europäisches Kanzleizeremoniell« zeigt überdies, dass die Verwendung der Kurztitel in der Korrespondenz mit den übrigen Herrschern in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts bereits üblich gewesen sein muss. So wird aus den angeführten Musterbriefen aus der Ära Leopolds I. deutlich, dass sich der Kaiser – abgesehen von minimalen begrifflichen Abweichungen – an die Könige von England, Frankreich, Polen und Spanien mit seinem Kurztitel richtete. Lediglich das abgedruckte Schreiben an den schwedischen Souverän beinhaltete den Langtitel des Kaisers. Genauere Angaben über die Korrespondenz mit dem Zaren können dem Werk Lünigs nicht entnommen werden, da hinsichtlich der Anrede nur die Vorgabe »Leopoldus etc.« zu finden ist.681 Es ist jedoch zu vermuten, dass sich Leopold I. ebenso wie sein Nachfolger bis zu diesem Vergleich noch »titulo maiori« an die russischen Herrscher wandten. Die von der traditionellen Historiographie völlig unterschätzte Bedeutung dieses Kompromisses wird vor allem dadurch deutlich, dass die Konferenzminister diesen zum Anlass für weitere Vorschläge hinsichtlich der Annäherung an den russischen Hof nahmen. So erstellten sie am Tag ihrer Zustimmung zum 678 Vgl. Gutachten der Reichshofkanzlei v. 13. August 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 43v–59r ; Weisung Karls VI. an Hochholzer v. 19. September 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 134v–135r. Vgl. dazu auch: Steppan, Gesandte, 36–37. 679 Vgl. Leitsch, Wandel, 75. 680 Vgl. Carmen Furger, Das Medium Brief im 17. und frühen 18. Jahrhundert, Köln-WeimarWien 2010, 101–134; Heinz Noflatscher, Zur Eigenhändigkeit des Herrschers in der politischen Kommunikation des Ancien R¦gime (16. bis 18. Jahrhundert), in: Christina Antenhofer/Mario Müller (Hgg.), Briefe in politischer Kommunikation vom alten Orient bis ins 20. Jahrhundert, Göttingen 2008, 141–162. Vgl. dazu auch: Steppan, Gesandte, 37. 681 Vgl. Lünig, Theatrum, Band 2, 56–58.
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Gutachten von Schönborn sogleich eine weitere Expertise, in der sie laut und deutlich über die Absendung eines hochrangigen Diplomaten nach Russland nachdachten. Darin kamen sie zu dem Schluss, dass eine »öffentliche Beschickung« des russischen Hofs einen »weit besseren Influxu in das Publikum«, ein »größeres Ansehen des Kaisers« sowie ein »furchtbarlicheres Nachdenken bei anderen Mächten« mit sich bringen würde. Als mögliche Kandidaten handelten sie neben dem aus dem heutigen Italien stammenden Graf Gerolamo Caimo die bereits russlanderfahrenen Grafen Wilczeck und Kinsky, wobei sie die letzten beiden aufgrund ihrer »Deutschstämmigkeit« bevorzugten. Diese Argumentation ist deshalb umso erstaunlicher, da deren Entsendung nach Russland in der bislang erschienenen Literatur vielfach mit ihrer »slawischen Herkunft« begründet wurde.682 Gerade Kinsky habe bislang noch keinen Abschied vom russischen Hof genommen und habe überdies »seine Sachen dorten geschickt und wohl getan«. Diese Einschätzung der kaiserlichen Minister ist ein weiterer Beweis dafür, dass die außenpolitischen Verantwortlichen Wiens keineswegs unzufrieden mit seiner Mission gewesen sein dürften, wie es von Florovskij dargestellt wurde. Vor seiner Entsendung wollten sie sich jedoch über dessen Gesundheitszustand erkundigen und baten den Kaiser gleichzeitig, über mögliche Instruktionen in sachpolitischen Fragen nachzudenken.683 Dieses Gutachten zeigt nicht nur, wie ernst die Annäherung an Russland gemeint war, sondern spiegelt auch den Wunsch der Minister wider, dass diese möglichst rasch zu erfolgen habe. Dabei stellte vor allem eine »Partei« des russischen Hofes den notwendigen Motor in Richtung einer weiterführenden Einigung mit der Zarin dar – die Holsteiner. Das zeigt ein Schauplatzwechsel an den Hof Katharinas I., wo sich der französische Gesandte Campredon mit einer immer stärker werdenden kaiserlichholsteinischen Achse konfrontiert sah. So berichtete er etwa zum selben Zeitpunkt nach Frankreich, dass die Gespräche über ein Bündnis mit dem englischen König erfolglos verlaufen würden, da sich die Zarin und ihre Minister sehr auf die holsteinische Frage konzentrierten. Vor allem Bassewitz sei dafür verantwortlich, dass Russland dem im Projekt vorgesehenen Artikel über den Herzog von Holstein nicht zustimmen wolle. Konkret forderte Russland in dieser Sache, dass der Herzog von Holstein eine ebenbürtige Entschädigung für den Verlust Schleswigs bekomme und Frankreich nichts gegen die Erreichung dieses Ziels unternehme. Doch England und Frankreich wollten ihm lediglich irgendeine Wiedergutmachung zukommen lassen, um in diesem Fall nicht ihr 682 Vgl. Florovskij, Otnosˇenija, 30; Walter Leitsch, Die ersten 300 Jahre in den Beziehungen Russlands zu Österreich, in: 200 Jahre Russisches Außenministerium (Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs, Bd. 50), Innsbruck u. a. 2003, 65–77. 683 Vgl. Ministerialgutachten an Karl VI. v. 17. August 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 142v–145r.
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Wort gegenüber Dänemark zu brechen, dem sie zuvor eine Garantie für Schleswig erteilt hatten. Diese Haltung der verbündeten Mächte machte die holsteinischen Vertreter daher zu den Hauptgegnern einer Annäherung Russlands an England und Frankreich. Bassewitz – so Campredon weiter – intrigiere indessen mit dem Sekretär des Kaisers am russischen Hof – gemeint war damit natürlich Hochholzer, der in den Berichten Campredons wenn dann nur unter dieser Bezeichnung Erwähnung findet. So würde ihn der holsteinische Minister über alle dortigen Vorgänge unterrichten und ihn ganz besonders in seine Pläne einweihen. Gerade darin sehe der Wiener Hof ein Mittel, einen Anschluss Russlands an das nordische Bündnis zu verhindern. Diese Überlegungen ebenso wie die Vorteile, die sich der Kaiser für seinen Neffen, den Großfürsten, erhoffe, seien für Wien Grund genug, die holsteinischen Anliegen zu unterstützen.684 Der von Campredon dargestellte Schulterschluss Hochholzers mit den holsteinischen Vertretern spiegelt sich vor allem in der Frage der Absendung eines hochrangigen kaiserlichen Gesandten an den russischen Hof wider. Gleich Anfang Oktober 1725 einigten sich die kaiserlichen Konferenzräte darüber, wer an den russischen Hof geschickt werden sollte. Sie entschieden sich für den bereits mehrfach erwähnten Amadeus Graf Rabutin, der bis dahin bekanntlich als kaiserlicher Vertreter am preußischen Hof tätig gewesen war und bereits seit Anfang des Jahres 1725 in Briefkontakt mit Hochholzer gestanden hatte. Die Wahl der kaiserlichen Minister fiel deswegen auf ihn, da Kinsky dieses Anliegen »depreziert« habe und Caimo lieber an einen »wälschen« Hof zu gehen gewillt gewesen sei. Rabutin hingegen habe sich selbst »anerboten«, was von den Konferenzräten sehr gelobt wurde. Diese wiederum erachteten ihre Entscheidung als die »anständigste«, da der bislang in Berlin stationierte Gesandte nicht ohne Nachteil des »kaiserlichen Ansehens« und »seines Charakters« am »wunderlichen« preußischen Hof »bestehen« werde können. Damit spielten sie offensichtlich auf die sich durch den Zusammenschluss der »Herrenhausener Allianz« verschlechternden Beziehungen mit Preußen an. Nichtsdestotrotz wollten sie diesen keinesfalls brüskieren, weshalb Rabutin nach dem Abschicken seiner »Bagage« nach St. Petersburg dort vermelden möge, dass er für einige Tage nach Wien zurückberufen werde. Während er in Berlin also noch keinen offiziellen Abschied nehmen und die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr zum Ausdruck bringen sollte, wollte man ihm bei seinem Zwischenstopp am heimischen Hof bereits die Instruktionen für seine neue Mission übergeben.685 Die diesbezüglich im Gutachten geäußerten Vorschläge ließen keinen Zweifel mehr 684 Vgl. Bericht Campredons an Morville v. 4. September 1725, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 58, Sankt-Peterburg 1887, 536–537; Solov’ev, Istorija, Bd. X, 22–24. 685 Vgl. Gutachten der Konferenzräte v. 2. Oktober 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 205r–206r ; Vgl. dazu auch: Steppan, Gesandte, 38.
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an der Entschlossenheit der Konferenzminister. So hielten sie abschließend hinsichtlich der »quaestio an« fest, dass auf längere Sicht nicht »[…] ohne allianc wohlzubestehen seye […]«686. Hochholzer, der aufgrund der langen Postwege zu diesem Zeitpunkt noch nichts über die Absendung Rabutins wissen konnte, ließ inzwischen ganz bewusst den in St. Petersburg kursierenden Gerüchten über eine abermalige Entsendung des Grafen Kinsky freien Lauf und hielt den Anfragenden gegenüber diesbezüglich fest, dass die enge Freundschaft zwischen dem Kaiser und der Zarin auch ein guter Grund für eine solche Gesandtschaft wäre. Außerdem hätten die russischen Minister ihm gegenüber mit »großer Tendresse« und »unvorbehaltlichen Terminis« das Interesse der Zarin an der »perpetuierlich hohen Freundschaft« des Kaisers bekundet.687 Hochholzers Taktik gegenüber dem russischen Hof und den dort befindlichen ausländischen Gesandten ging ebenso auf wie jene der in Wien befindlichen Konferenzminister, die mit der Absendung eines Ambassadeurs unter anderem ein »furchtbarlicheres Nachdenken« bei den anderen Mächten erzielen wollten. Das spiegelt sich in den darauffolgenden Berichten Campredons wider. So bestätigt er darin die Gerüchte über die Rückkehr Kinskys nach St. Petersburg, welche den französischen Gesandten allem Anschein nach tatsächlich unruhig werden ließen. So vermutete er hinter dieser bevorstehenden Entsendung den Wunsch zur Fortsetzung von Verhandlungen, welche in Wien bereits angefangen worden waren und für seine Unterredungen mit dem russischen Hof eine zusätzliche »neue Störung« zu sein schienen. Als Voraussetzung für die Wiederbelebung der Beziehungen zwischen Wien und St. Petersburg/Moskau betrachtete Campredon den Kompromiss in der Titelfrage. So habe die Zarin einen Ausgleich mit dem Kaiser bezüglich des Zeremoniells getroffen, der die Aufnahme von Verhandlungen ohne Berücksichtigung von Fragen dieser Art vorsah. Darüber hinaus bestätigte er die von Hochholzer angesprochene Haltungsänderung der russischen Minister gegenüber dem Wiener Hof. So zeigte er sich überaus verwundert darüber, dass ausgerechnet Graf Tolstoj seine Warnungen vor dem kaiserlichen Vorgehen offensichtlich gleichgültig zur Kenntnis nahm. So habe Campredon denselben in einem Gespräch darauf aufmerksam gemacht, dass der Kaiser die Zarin vorerst mit Versprechungen um den Finger wickeln wolle, ehe er sein eigentliches Ziel der Verringerung ihrer Macht in Angriff nehme. Tolstoj habe darauf lediglich geantwortet, dass er diesbezüglich völlig unbesorgt sein könne, da die Herrscherin keine Vorschläge berücksich686 Gutachten der Konferenzräte v. 2. Oktober 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 208r. 687 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 6. Oktober 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 176r–177r ; Vgl. dazu auch: Steppan, Gesandte, 38.
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tigen werde, die ihr auch nur den geringsten Schaden bringen könnten. Ein gemeinsames Bündnis mit England und Frankreich, so Tolstoj weiter, hänge nunmehr von deren Haltung in der holsteinischen Frage ab. Konkret gehe es darum, ob die beiden Mächte eine Garantie für die Rückgabe Schlesiens abgeben würden oder dem Herzog eben nur irgendeine Wiedergutmachung zugestehen wollten.688 Mit fortschreitender Zeit, in der sich die Gerüchte über eine Absendung Kinskys nur noch erhärteten, schien sich laut Campredon am russischen Hof alles zu Gunsten der kaiserlichen Partei zu wenden. So berichtete er wenig später, dass sich der an Einfluss gewinnende Jaguzˇinskij gemeinsam mit Golovkin, Ostermann und anderen zu einer Gruppierung zusammengeschlossen hätte, die die Macht Tolstojs, Mensˇikovs und der Holsteiner eingrenzen wollte. Ihr Ziel sei die Überredung der Zarin zu einem Bündnis mit dem Kaiser unter dem Vorwand der daraus erwachsenden Vorteile für ihre Familie. Tatsächliche stecke hinter Jaguzˇinskijs Vorhaben die Festlegung des Großfürsten zum Nachfolger Katharinas und die Verheiratung ihrer Tochter Elisabeth mit irgendeinem ausländischen Prinzen. Überdies baue der Herzog von Holstein sehr auf die Versprechungen des Kaisers. So erhoffe er sich nach dem Zustandekommen der von Wien ersehnten Allianz mit St. Petersburg auch eine kaiserliche Unterstützung hinsichtlich seiner eigenen Interessen. Diese Entwicklungen führten Campredon schließlich zur Voraussage einer Krise: die Zarin werde sich früher oder später zur Festlegung der Nachfolge des Großfürsten überreden lassen. Der spanische Gesandte in Wien werde den dort befindlichen russischen Residenten einstweilen vom Vorteil eines Beitritts zu einem gegen England und Frankreich gerichteten Bündnis überzeugen, indem er die Anerkennung der Beschlüsse der Allianz zwischen Wien und St. Petersburg in Aussicht stellen werde. Gleichzeitig mache der Kaiser der Zarin viele Versprechungen, die sie sich bei einem Zusammenschluss mit dem englischen und französischen König nicht erwarten könne. Sollte Kinsky also vor einem solchen in St. Petersburg eintreffen, so sei zu befürchten, dass seine Ankunft der Vorbote eines Bündnisses sein werde, dessen Bedingungen zuvor in Wien ausgehandelt worden seien.689 Während Campredon ernsthaft um das Zustandekommen einer Allianz mit Russland besorgt war, beauftragte Karl VI. seinen Vertreter am russischen Hof mit der Übergabe des mehrfach erwähnten Notifikationsschreibens über den Tod Peters I. und den Regierungsantritt Katharinas I. Diese war – wie wir bereits 688 Vgl. Bericht Campredons an Morville v. 9. Oktober 1725, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 8–13. 689 Vgl. Bericht Campredons an Morville v. 16. Oktober 1725, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 16–19 sowie 22–24.
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von mehreren Seiten gehört haben – jedoch erst durch den Kompromiss in der Titelfrage möglich geworden. Bei diesem Akt sollte Hochholzer neben den kaiserlichen Beileids- und Glückwunschbekundungen auch die aufgrund der »kaiserlichen wahren Freundschaft« zu erkennende Bereitschaft für ein Bündnis mit Russland und Schweden zum Ausdruck bringen. Hinsichtlich konkreter politischer Sachfragen wollte der Kaiser seinen guten Willen durch eine mögliche Garantie der europäischen Grenzen Russlands sowie der Restitution Schleswigs hervorheben.690 Nach der offiziellen Ankündigung der Gesandtschaft Rabutins wurde Hochholzer im Laufe des Oktobers 1725 mit Bestätigungen über deren gute Wirkung am russischen Hof förmlich überhäuft. Die Vertreter Holsteins und Schwedens ließen ihn wissen, dass die russischen Minister nunmehr auf ein Bündnis mit dem Kaiser hinarbeiten würden. Mit wahren Gefühlsstürmen reagierten der holsteinische Minister Bassewitz sowie der Herzog von Holstein selbst auf die Ankündigung der Absendung des Grafen Rabutin, indem sie Hochholzer »embrassiret, geküsset, und für diese allerwichtigste bottschaft freundlichst gedancket«691 haben sollen. Aus einem Gespräch mit dem schwedischen Minister konnte er überdies in Erfahrung bringen, dass die beiden nach einer gemeinsamen Sitzung mit Sˇafirov und Tolstoj sofort zur Zarin gefahren seien, um sie von der englisch-französischen Partei zu lösen. Diese hatte von der Entsendung Rabutins offensichtlich über Tolstoj erfahren, den Hochholzer zuvor in italienischer Sprache davon in Kenntnis gesetzt hatte.692 Gerade der zuletzt angesprochene, dem kaiserlichen Hof seit der »Causa Aleksej« feindlich gesinnte Berater der Zarin änderte daraufhin sein Verhalten gegenüber dem Legationssekretär offenbar gänzlich. So habe er in einer angeregten Unterhaltung die Freude der Herrscherin hinsichtlich der durch die kaiserliche Gesandtschaft zum Ausdruck gebrachten Ehre gegenüber dem russischen Hof betont. Bezüglich des scheinbar völlig veränderten russischen Ministers hielt Hochholzer sichtlich verwundert fest, dass der »[…] geheime rath Tolstoy, welcher sonsten unter allen der gefährlichste russische minister gegen E[uer] Kay[serliche] May[estät] interesse gewesen ist, ganz geänderet seye, wie er dan sehr freundlich in ein und andere mit mir discourriret, wo er mich vorhero fast nicht angesehen und von mir allerdings abstrahiret hat.«693
690 Vgl. Weisung Karls VI. an Hochholzer v. 7. Oktober 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 165r–166r ; Vgl. dazu auch: Steppan, Gesandte, 38. 691 Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 30. Oktober 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 236v ; Brikner, Diplomaty, 539. 692 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 30. Oktober 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 236r–239r. Vgl. dazu auch: Steppan, Gesandte, 38. 693 Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 30. Oktober 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 239r–239v.
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Katharina selbst bedachte Hochholzer nach der Ankündigung der Gesandtschaft Rabutins mit einem besonders seltenen Geschenk als Zeichen ihrer Dankbarkeit – Melonen aus Astrachan, die sie ihm über einen Hofbediensteten unmittelbar danach überbringen ließ.694 Diese offensichtlichen Annäherungsgesten konnten nicht unbemerkt an den übrigen politischen Beobachtern am russischen Hof vorübergehen. So hielt Hochholzer bereits kurz zuvor in einem Bericht fest, dass ihm der holsteinische Minister Bassewitz anvertraut habe, »[…] wie sehr der hier subsistierende französische minister von Campredon über die nachricht der verglichenen titulatur und der anhero kommen sollenden kay[serlichen] gesandschaft niedergeschlagen worden […]«695sei. Diese Niedergeschlagenheit spiegelt sich tatsächlich in den Berichten des französischen Gesandten wider. Unmittelbar nach der offiziellen Ankündigung der kaiserlichen Gesandtschaft durch Hochholzer setzte er seinen Hof davon in Kenntnis, dass der Kaiser eine wichtige Persönlichkeit in der Funktion eines Ministers nach Russland senden wolle. Darüber hinaus machte Campredon vom weiteren Anwachsen der kaiserlichen Partei unter den russischen Ministern Notiz, wobei er diese Entwicklung vor allem mit dem steigenden Einfluss des dem Wiener Hof »hörigen« Jaguzˇinskijs in Verbindung brachte. So schloss er Ende Oktober 1725 bereits nicht mehr aus, dass sich der den wachsenden Einfluss der kaiserlichen Partei bemerkende Tolstoj noch länger von ihr fernhalten werde.696 Wenige Tage später berichtete er nach Paris, dass Graf Rabutin als neuer kaiserlicher Minister nach Petersburg geschickt werde und diesem Feldmarschall Graf Jakob Heinrich von Flemming (1667–1728) in der Funktion eines hochrangigen Vertreters des polnischen Königs nach Russland folgen solle. Diese beiden seien zur Schaffung eines gegen die Pforte gerichteten Bündnisses zwischen dem Wiener, dem sächsischen und dem russischen Hof entsandt worden und sollten die Zarin durch weitgehende Versprechungen hinsichtlich ihrer Besitzungen und der holsteinischen Frage für diesen Zusammenschluss gewinnen. Die Zarin sei indessen bereits von der Idee eines Bündnisses mit England und Frankreich abgebracht worden, indem man ihr versichert habe, dass diese nicht zu einer Änderung des Artikels bezüglich ihres Schwiegersohnes, des Herzogs von Holstein, bereit seien.697 Nach Über694 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 30. Oktober 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 239v ; Brikner, Diplomaty, 508–509; Vgl. dazu auch: Steppan, Gesandte, 38–39. 695 Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 20. Oktober 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 217v. 696 Vgl. Bericht Campredons an Morville v. 30. Oktober 1725, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 40. 697 Vgl. Bericht Campredons an Morville v. 3. November 1725, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 51–54.
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mittlung der schlechten Nachrichten setzte Campredon seinen Hof schließlich davon in Kenntnis, dass Hochholzer an die Zarin adressierte Briefe des Kaisers erhalten habe. Diese seien die Antwort auf das Notifikationsschreiben der Zarin, welches von Karl VI. zuvor angenommen worden war. Darin unterrichte er die Zarin nicht nur über die Absendung Rabutins, sondern auch über die Ergebnisse der ersten Verhandlungen mit Lanczinski in Wien.698
Abb. 11: Ein Brief als international wahrgenommenes Signal für die Annäherung zwischen Wien und St. Petersburg – die Antwort Karls VI. auf das Notifikationsschreiben von Katharina I.699
Paris wertete die Ereignisse ähnlich wie dessen Gesandter in St. Petersburg, wenngleich der französische Staatssekretär, Charles Jean-Baptiste Fleuriau de Morville (1686–1732), in seiner Antwort die Gefahr der kaiserlichen Gesandtschaft etwas relativierte und gleichzeitig alle Möglichkeiten für ein Bündnis mit der Zarin offen ließ. So vermutete auch er, dass die Benennung eines kaiserlichen Ministers für Russland, egal ob er nun Kinsky oder Rabutin heiße, die Anhänger Wiens am russischen Hofe stärken werde. Hinsichtlich der für eine Allianz mit 698 Vgl. Bericht Campredons an Morville v. 6. November 1725, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 60. 699 Antwortschreiben Karls VI. an Katharina I. v. 10. Oktober 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 170r sowie 171r.
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der Zarin alles entscheidenden holsteinischen Frage hielt er jedoch fest, dass der Kaiser entweder nur seine Vermittlertätigkeit in dieser Sache anbieten könne oder ansonsten ein Offensivbündnis mit einer Garantie der Restitution Schleswigs eingehen und damit den europäischen Frieden zerstören müsse. Im Falle einer Annahme dieser Vorschläge durch Katharina, würde sich endgültig zeigen, dass der russische Hof nur auf Zeit gespielt habe. Unter diesen Umständen müsse man den Ereignissen ihren Lauf lassen. Die abschließende Zukunftsperspektive Morvilles weist jedoch eindeutig auf seine Skepsis bezüglich einer baldigen Allianz mit Russland hin: So werde die Zarin vielleicht zu jenen zurückkehren, von denen sie sich nun abwendet – es sei nur zu hoffen, dass dann eine Rückkehr noch möglich sein wird.700 Noch skeptischer gestaltete sich die Reaktion des Verbündeten Frankreichs, Friedrich Wilhelms I. (1713–1740), auf den Abgang Rabutins von Berlin nach St. Petersburg, die er bereits Ende September 1725 an seinen Gesandten, Gustav Freiherr von Mardefeld (1664–1729),701 schickte. Demzufolge werde der kaiserliche Gesandte mit dem Befehl und der Vollmacht zur Schließung einer Allianz mit der Zarin ausgestattet werden: »Bei sogestalten Sachen aber, und da zwischen der Kaiserin und dem Wien[er]ischen Hofe sich die Sachen so zu einer grossen Vertraulichkeit und naherzu Zusammensetzung anlassen, werden Wir zu dem Schluss unserer mit der Kaiserin so aufrichtig gesuchten Allianz und zu einiger Avantage in der kurländischen Affaire Uns wohl wenig Hoffnung zu machen haben.«702
Diese Reaktionen auf die Gesandtschaft Rabutins lässt also keinen Zweifel mehr an der bereits an mehreren Stellen betonten Aussagekraft der Absendung eines hochrangigen Gesandten an einen fremden Hof. Das internationale Echo auf die Entsendung des Grafen als Ambassadeur nach St. Petersburg ist also ein guter Beweise für den von Duchhardt in Hinblick auf einen diplomatischen Außenposten so treffend formulierten Grundsatz, wonach »[…] die Existenz und die im Rang seines Leiters zum Ausdruck kommende Wertigkeit eines diplomatischen Außenpostens immer auch ein Seismograph für die bilateralen politischen Beziehungen […]«703 sei. Das durch die Ankündigung der Absendung Rabutins ersichtlich werdende gute Verhältnis zwischen Wien und St. Petersburg wollte der russische Hof gegenüber dem kaiserlichen Legationssekretär bereits vor dessen Ankunft öffentlich zur Schau stellen. Das wird anhand seiner Audienz 700 Vgl. Weisung Morvilles an Campredon v. 8. November 1725, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 66–68. 701 Gustav Freiherr von Mardefeld war in den Jahren 1717 bis 1728 Gesandter Preußens am russischen Hof. Vgl. Mardefeld, Gustav von, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 20: Maaß–Maximilian II., München-Leipzig 1884, 308–310; Hausmann, Repertorium, 303. 702 Weisung Friedrich Wilhelms I. an Mardefeld v. 23. September 1725, A. A. Polovcov (Hg.), SIRIO, Tom 15, Sankt-Peterburg 1875, 292. 703 Duchhardt, Balance, 21–22.
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anlässlich der Übergabe des kaiserlichen Notifikationsschreibens an die russische Herrscherin deutlich, in deren Vorfeld er sich mit dem russischen Hof über die öffentliche Inszenierung derselben austauschte. So berichtet Hochholzer Anfang November 1725 nach Wien, dass er bereits vorab die Anrede an die Zarin für den Empfang verfasst habe. Der Inhalt seiner Rede sei nämlich die Grundlage dafür, ob sich die Zarin für eine private oder öffentliche Audienz entscheiden werde. Aus diesem Grund habe er sich zunächst an den Herzog von Holstein gewandt, der »eine vertrauliche Kommunikation« mit der Zarin halte, um der russischen Herrscherin den Inhalt seiner Anrede zu übermitteln und ihre weitere Entscheidung abzuwarten. Die Zarin habe ihm bislang jedoch keine eindeutige Antwort geben können und ihm ausrichten lassen, dass er bei einer im Kreise der geheimen Konferenzminister stattfindenden Privataudienz den Inhalt seiner Rede vor allem in Hinblick auf die Staatsgeschäfte unverändert lassen könne. Im Falle eines öffentlichen Empfanges solle er jedoch nur »in gar generalibus terminis« über seine »Kommission« sprechen und eine Ministerkonferenz beantragen.704 Drei Tage später ließ ihm die Zarin über den Herzog ausrichten, dass sie sich für eine öffentliche Audienz mit »allgemeinen terminis« entschieden habe. Hochholzer solle vor Ablauf derselben die Notifikationsschreiben an Staatskanzler Golovkin und den Vizekanzler übermitteln lassen.705 Diese Abstimmungen zwischen dem Legationssekretär und dem russischen Hof über die Form der Audienz spricht bei näherer Betrachtung der normativen Grundlagen Bände über die neue Qualität der Beziehungen zwischen Wien und St. Petersburg. So zeigte Klaus Müller anhand der Analyse von Instruktionen der kaiserlichen Gesandten für diese Anlässe, dass öffentliche Empfänge in erster Linie zur Inszenierung des (guten) bilateralen Verhältnisses bestimmt waren. Die Ansprachen stellten demnach nicht nur den Höhepunkt der Audienz dar, sondern dienten auch als Gradmesser für die zwischenstaatlichen Beziehungen. Die Gesandten sollten sich daher vor allem bei öffentlichen Audienzen in »decentibus terminis« an den fremden Souverän wenden, dabei den Zweck ihrer Mission in allgemeinen Wendungen ansprechen und die wohlmeinenden Absichten des Kaisers gepaart mit Freundschaftsbekundungen – falls dies die politischen Rahmenumstände zuließen – zum Ausdruck bringen. Insgesamt waren die Diplomaten dazu angehalten, eben nicht von den Geschäften zu sprechen und sich der von Hochholzer angesprochenen »terminis generalibus« zu bedienen.706 Diese normativen Richtlinien deuten darauf hin, dass es der 704 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 7. November 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 9r–10r. 705 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 10. November 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 13r–14r. 706 Vgl. Müller, Gesandtschaftswesen, 130–131.
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Zarin bei dieser Audienz offensichtlich darum ging, das gute Verhältnis zum Kaiser vor der gesamten höfischen Welt zur Schau zu stellen. Überdies spiegelt sich diese positive Haltung gegenüber Wien und seinem Vertreter in einigen weiteren möglichen Hintergründen für die Entscheidung der Zarin wider. So können wir etwa bei Stieve hinsichtlich des Empfangszeremoniells lesen, dass dieses den formalen Unterschied zwischen Ambassadeuren und Envoy¦s markiere, weshalb Erstere besonders auf dessen Einhaltung bedacht seien. Zu dem »aus dem Charakter des Ambassadeurs herfließenden Zeremoniell« gehörten unter anderem dessen Vorrechte auf einen öffentlichen Einzug und die Abholung zur Audienz.707 Daraus geht also hervor, dass öffentliche Empfangsrituale den Gesandten des ersten und zweiten Ranges vorbehalten waren. Das spiegelt sich auch in der Analyse Müllers wider, der in diesem Zusammenhang vor allem die Probleme der zweitrangigen Gesandten des Wiener Hofes herausstreicht, die diese bei der Beanspruchung der vom Kaiser eingeforderten Vorrechte hatten, welche üblicherweise nur Diplomaten erster Klasse zugestanden wurden.708 Angesichts dieser Tatsache ist es umso bemerkenswerter, dass Hochholzer, der zu diesem Zeitpunkt als Legationssekretär mit Residentengehalt am russischen Hof verweilte und erst Ende 1727 zum kaiserlichen Residenten und damit Gesandten zweiter Klasse ernannt wurde, eine öffentliche Audienz bei der Zarin erhielt.709 Schließlich zeigt uns ein Blick auf das Werk von Rohr sowie das Gesandtschaftszeremoniell-Projekt des russischen Hofes, dass Gesandte zunächst ihre Credentialien oder Beglaubigungsschreiben am fremden Hof legitimieren lassen mussten, um in weiterer Folge als öffentlich akkreditierte Minister die Empfangsrituale empfangen zu können.710 Hinter diesem Grundsatz steckte der Wunsch des empfangenden Hofes, die Schriftstücke auf ihre formale Richtigkeit hin zu überprüfen. Dies wird auch im konkreten Fall Hochholzers deutlich. So wissen wir zwar, dass dieser aufgrund der Titelstreitigkeiten schon über Jahre ohne entsprechende Credentialien am russischen Hof verweilte, um mögliche Konflikte mit den Gastgebern in dieser Sache zu vermeiden. So brauchte er ebenso wie sein russisches Pendant in Wien nun auch kein Beglaubigungsschreiben mehr. Das Notifikationsschreiben, das vor dem Empfang an Staatsund Vizekanzler zur Überprüfung abgeschickt werden musste, kann in diesem Fall jedoch als Äquivalent für das Creditiv angesehen werden. So machten die Übermittlung des kaiserlichen Schriftstücks und der darin getroffene Kompromiss bezüglich der Titulatur einen öffentlichen Empfang erst möglich. All die 707 708 709 710
Vgl. Stieve, Hof-Ceremoniel, 272–285. Vgl. Müller, Gesandtschaftswesen, 132–134. Vgl. Bantysˇ-Kamenskij, Obzor, 54; Müller, Gesandtschaftswesen, 122–123. Vgl. RGADA, f. 15, op. 1, d. 78, 8v–9r ; Rohr, Einleitung, 397.
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soeben skizzierten formalen Voraussetzungen und normativen Hintergründe für eine solche Audienz beweisen, dass Wien mit der Absendung des Notifikationsschreibens und der darin angekündigten Gesandtschaft Rabutins sowie St. Petersburg mit der Ausrichtung einer öffentlichen Audienz für Hochholzer eine neue Ära der zwischenstaatlichen Beziehungen einläuten wollten. Das wird aus dem genauen Ablauf des öffentlichen Empfangs sowie anderen Annäherungsgesten zwischen beiden Höfen vor und nach dem Bündnisschluss von 1726 deutlich, die im folgenden Abschnitt unter die Lupe genommen werden sollen.
3.1.2. Das Bemühen um den (potenziellen) Bündnispartner – Kommunikationsstrategien im Rahmen der Intensivierung zwischenstaatlicher Beziehungen Die Bedeutung des soeben ausführlich dargestellten Vergleichs in der Titelfrage wurde auch in den einschlägigen, ereignisgeschichtlich ausgerichteten Werken der letzten Jahrzehnte hervorgehoben, ohne dabei jedoch auf die kulturgeschichtlichen Hintergründe dieses Kompromisses und die daraus ersichtlich werdende Relevanz für die zwischenstaatlichen Beziehungen einzugehen. Die bereits zitierte »Niedergeschlagenheit« Campredons aufgreifend, hielt Leitsch fest, dass das Einlenken der Zarin in der Titelfrage für alle europäischen Höfen ein deutliches Zeichen dafür gewesen sei, dass in Petersburg die »questio an« bereits entschieden worden war.711 Nelipovicˇ schlug in dieselbe Kerbe, indem er den Brief Karls VI. als Motor für den Beginn von Bündnisgesprächen darstellte.712 Wenngleich in den angesprochenen Arbeiten die Details des Titelvergleichs ausgelassen werden, so liefern sie uns doch das notwendige Hintergrundwissen über jene »großen« Ereignisse, die die politischen Akteure zu diesem entscheidenden Schritt führten. Da diese ereignisgeschichtlichen Entwicklungen bislang nur am Rande erwähnt wurden, wollen wir zunächst einen genaueren Blick auf die sachpolitische Ausgangslage im Herbst 1725 werfen, um die Interaktion der beiden Höfe entlang der weiteren Entwicklung der Bündnisverhandlungen verfolgen zu können. Neben dem bereits erwähnten und international völlig unerwarteten Zusammenschluss zwischen dem Kaiser und dem spanischen König im Mai 1725 und der sich im September daraus ergebenden »Herrenhausener Allianz« zwischen England, Frankreich und Preußen bestimmte ein weiteres, bereits existierendes Bündnis den Annäherungsprozess zwischen Wien und St. Petersburg/ Moskau: die im Februar 1724 geschlossene Defensivallianz zwischen Russland 711 Vgl. Leitsch, Wandel, 76. 712 Vgl. Nelipovicˇ, Sojuz, 21.
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und Schweden. So spielte die Frage des wechselseitigen Beitritts des Kaisers bzw. der Zarin zu den bereits bestehenden Bündnissen eine zentrale Rolle bei den bisherigen und künftigen Verhandlungen zwischen beiden Höfen. Lanczinski hatte bereits vor der Unterzeichnung der Wiener Verträge im Mai 1725 eine Akzession Karls VI. zum russisch-schwedischen Bündnis vorgeschlagen, welche von Wien aufgrund der parallel stattfindenden Verhandlungen zwischen Frankreich und Russland sowie der Unsicherheit über den Ausgang der Unterredungen mit Spanien abgelehnt wurde. Nachdem die französisch-russischen Gespräche bis zum Sommer 1725 vor allem aufgrund der Frage der Restitution Schleswigs sowie wegen des Problems einer aktiven Unterstützung Russlands gegen die Pforte an einem toten Punkt angelangt waren, wurden bis Herbst desselben Jahres sowohl in St. Petersburg als auch in Wien die Stimmen nach einer Annäherung beider Höfe immer lauter. Während Schönborn unter den kaiserlichen Ministern einen pro-russischen Kurs durch das In-Aussicht-Stellen eines möglichen Zusammenwirkens gegen die Pforte voranzutreiben versuchte, bediente sich Ostermann ebenfalls dieser Perspektive, um unter den Beratern der russischen Herrscherin eine pro-kaiserliche Haltung zu verbreiten. Unterstützt wurde er dabei von den holsteinischen Vertretern, die bei Katharina I. die Restitution Schleswigs als Bedingung für die Wahl eines möglichen Bündnispartners und den Wiener Hof als sichersten Garanten für dieses Vorhaben darstellten.713 In diesem Zusammenhang sollten die diplomatischen Vertreter Schwedens in St. Petersburg und in Wien eine wichtige Vermittlerrolle spielen. So dominierte im schwedischen Reichstag seit 1723 die holsteinische Partei, der nicht nur die Restitution Schleswigs an den Herzog von Holstein ein zentrales Anliegen war, sondern die sich auch durch ein Bündnis mit dem Kaiser eine starke Rückendeckung gegenüber dem gefürchteten Russland erwartete. Der im Juli 1725 zum Ausloten der Möglichkeiten als Botschafter nach Russland geschickte Baron Josias von Cederhielm (1673–1729) konnte nach seiner Ankunft die holsteinischen Vertreter möglichst rasch von Frankreich abbringen und mit ihnen gemeinsam am russischen Hof Stimmung für die Annäherung an den Kaiser machen – das gelang ihm vor allem durch das In-Aussicht-Stellen einer möglichen Annahme des russischen Kaisertitels sowie einer Garantie der russischen Besitzungen von Seiten Karls VI. und durch den Vorschlag der Einarbeitung eines holsteinischen Geheimartikels in die Beitrittserklärung des Kaisers zum russisch-schwedischen Bündnis. Über Daniel Niklas Freiherr von Höpken (1669–1741), den schwedischen Gesandten in Wien, der in Abstimmung mit Lanczinski die Interessen Russlands in den direkten Verhandlungen mit dem 713 Vgl. Kliwar, Bündnisvertrag, 22–29; Leitsch, Wandel, 63–67; Nekrasov, Rol’, 82–87 ˇ erkasov, Orel, 24–25. sowie 97–100; Nelipovicˇ, Sojuz, 14–20; C
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Wiener Hof vertreten sollte, erfuhr man überdies über die prinzipielle Bereitschaft der Zarin hinsichtlich einer Annäherung an den Kaiser. Der vor allem auch durch die schwedischen Vertreter vorangetriebene Titelausgleich bot schließlich die Grundlage für die Entscheidung der Wiener Minister, ab Oktober 1725 direkt in Verhandlungen mit dem russischen Gesandten zu treten – wie es im vorigen Abschnitt bereits angesprochen wurde.714 Dies stellte die ereignisgeschichtliche Ausgangslage dar, auf deren Basis nunmehr offene Verhandlungen zwischen den beiden Höfen geführt werden konnten. Den Startschuss für diese Gespräche markierte die bereits erwähnte öffentliche Audienz Hochholzers bei der Zarin. Anhand vieler Details dieses Empfangs spiegelt sich die eben skizzierte Bereitschaft Russlands für ein politisches Zusammenwirken mit dem Wiener Hof wider. Das zeigt sich bereits in Hochholzers Beschreibungen über die Anreise zum Sommerhaus der russischen Herrscherin, wo die Audienz am 9. November 1725 über die Bühne ging. So habe man dem Legationssekretär erlaubt, durch die Allee direkt bis zum Palais der Zarin vorzufahren, was laut Angaben des kaiserlichen Vertreters sonst nicht »permittiret« würde. Im Gegensatz zu der vorangegangen Kondolenz-Audienz anlässlich des Ablebens Peters I. haben ihn die Truppen mit präsentierten Gewehren erwartet, worauf er in Begleitung eines Kammerjunkers in die Gemächer der Zarin geführt worden sei.715 Ein Blick auf die normative zeitgenössische Literatur zeigt, dass das Präsentieren des Gewehrs durch die Wachen vom Schlossplatz bzw. -tor bis hin zum Audienzzimmer gängige Praxis bei öffentlichen Audienzen darstellte.716 Hochholzer, der sich höchstwahrscheinlich an den Wiener Maßstäben orientierte, dürfte sich dadurch zweifelsohne geehrt gefühlt haben. So schildert Lünig dieselbe Vorgangsweise als gängige Praxis bei Diplomatenempfängen am Wiener Hof, wobei er ergänzend festhält, dass die Wachen immer zur Präsentation des Gewehres angehalten seien, wenn Ambassadeure, päpstliche Nuntii oder wirkliche kaiserliche Minister dieselben passieren.717 Wie die öffentliche Audienz im Allgemeinen stellte auch dieses zeremonielle Detail eine Ehrenbezeugung dar, die man einem drittrangigen Legationssekretär üblicherweise nicht entgegenbrachte. Während Hochholzer im April 1725 noch direkt ins Empfangszimmer gebracht worden war, so wurde er nunmehr im Antichambre von russischen Ministern und Kammerherren erwartet – wie wir bereits wissen, entsprach diese
714 Vgl. Kliwar, Bündnisvertrag, 27–29 sowie 39; Leitsch, Wandel, 67–72; Nekrasov, Rol’, 86. 715 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 10. November 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 14r. 716 Vgl. RGADA, f. 15, op. 1, d. 78, 20r ; Rohr, Einleitung, 402. 717 Vgl. Lünig, Theatrum, 448.
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Vorgehensweise den normativen Richtlinien einer offiziellen Audienz.718 Nach Betreten des Audienzzimmers bot sich dem Legationssekretär ein ähnlicher Anblick wie beim vorangegangenen Empfang bei der Zarin. Diesmal habe jedoch gleich rechts neben der in der Mitte des Saales an einer »kleinen Tafel« befindlichen Herrscherin der Herzog von Holstein gestanden – gefolgt von Fürst Mensˇikov, Graf Golovkin, Baron Ostermann, Graf Jakob Daniel Bruce (1669–1735), General-Leutnant Jaguzˇinskij, Ober-Kammerherr Graf Nils Bonde (1685–1760) sowie den mit ihm eingetretenen Herrn Bestuzˇev und Baron Reinhold Gustav Löwenwolde (1693–1758)719. Diese Veränderung in der Aufstellung der Berater und Minister neben der Herrscherin macht auf einen Blick den zunehmenden und offensichtlicher werdenden Einfluss des Herzogs von Holstein deutlich – so war dessen Platzierung direkt neben der Souveränin, wo wenige Monate zuvor noch der Vizekanzler gestanden hatte, zweifelsohne kein Zufall. Nachdem Hochholzer den soeben angeführten Personen sowie den wie immer links neben der Zarin stehenden Hofdamen in der Mitte des Saales die üblichen französischen Referenzen dargebracht hatte, begann er mit seiner Ansprache an die Herrscherin, der er gleichzeitig das Notifikationsschreiben übergab. Dieses wurde von Katharina schließlich an Kanzler Golovkin weitergereicht, wobei Ostermann nach den Worten des Legationssekretärs mit der Antwort an den kaiserlichen Vertreter beauftragt wurde. Dies sei mit »kurzen«, aber »sehr ehrerbietigen Terminis« gegenüber dem Kaiser geschehen. Demnach erfreue sich die Zarin über das vom Kaiser »zu geben beliebte angenehme Zeichen« und über die Versicherung seiner »wahren Freundschaft«. Sie würde bei allen Gelegenheiten nicht »entstehen« und alles dazu beitragen, was zu »beiderseitigen Reichen gemeinsamen Besten ersprießlich« sein könnte.720 Dem fügte der Legationssekretär noch verschlüsselt hinzu, dass ihn die Herrscherin auf ihre Minister verwiesen habe, um ihnen die kaiserlichen Propositionen zu eröffnen und – nach erfolgtem Vortrag – in weiterer Folge darauf antworten zu können.721 Die allgemein gehaltene Antwort der Zarin sowie der 718 Vgl. RGADA, f. 15, op. 1, d. 78, 21v–22r ; Lünig, Theatrum, 448; Rohr, Einleitung, 402; Stieve, Hof-Ceremoniel, 284. 719 Reinhold Gustav Löwenwolde war bereits zu Lebzeiten Peters I. Kammerjunker von Ekaterina Alekseevna. Nach der Thronbesteigung Katharinas I. im Jahre 1725 wurde er zum Kammerherrn ernannt. Ein Jahr später wurde er gemeinsam mit seinem Bruder Karl Gustav in den Grafenstand erhoben. Nach dem Tod Katharinas I. lebte er auf seinen Gütern in Liefland und kehrte erst unter Anna Ivanovna an den russischen Hof zurück, wo er in den folgenden Jahren weiter die höfische Karriereleiter emporstieg. Vgl. Levenvol’de, Reingol’d-Gustav, in: Russkij Biograficˇeskij Slovar, Tom X: Labzina–Ljasˇenko, Sankt-Peterburg 1914, 133–134. 720 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 10. November 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 14r–14v. 721 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 10. November 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 12r sowie 14v.
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verschlüsselte Zusatz Hochholzers zeigen, dass die Audienz lediglich den Zweck einer öffentlichen Zurschaustellung des Annäherungskurses zwischen den Höfen verfolgte, wobei man beiderseits keine Details über den Inhalt der bevorstehenden Gespräche an die Öffentlichkeit dringen lassen konnte und wollte. Dies gelang jedoch nicht lange. Bereits drei Tage nach Hochholzers Audienz berichtete Campredon an seinen Hof darüber, dass die Zarin, die im dabei übergebenen Notifikationsschreiben lediglich als »Serenitas« bezeichnet worden sei, Hochholzer um eine Konferenz mit den russischen Ministern gebeten habe und Rabutin bereits ein Haus für seine in eineinhalb Monaten zu erwartende Ankunft suchen würde. Es ist bezeichnend, dass Campredon den kaiserlichen Legationssekretär in diesem Bericht erstmals namentlich erwähnt.722 Offensichtlich war Hochholzer damit von einem Berichterstatter zu einem ernst zu nehmenden politischen Konkurrenten geworden, den man eben auch beim Namen nennt. Eine merkbare Veränderung des Verhältnisses der Zarin zum kaiserlichen Vertreter lässt sich im Vergleich mit der vorangegangenen Audienz an folgender Abschiedsgeste der russischen Herrscherin festmachen. So habe Hochholzer »wie beim ersten Mal« noch einige Sekunden verweilt, worauf die Zarin »aus eigenem Trieb den Handschuh abgezogen« habe, um den abschließenden Handkuss entgegenzunehmen.723 Nur wenige Monate zuvor, bei der von Hochholzer angesprochenen ersten Audienz fand der Empfang bei Katharina hingegen folgendes Ende: »Weil um Ihro May[estät] die Czarin nach vollendung dieses ceremoniels mir die hand zu küssen von selbsten nicht praesentiret hatte, wiewohln ich ein gar augenblick hiernach gesehen habe, so bin ich auch nach abgelegter gebührlichen reverence aus dem audienz-zimer getretten […].«724
Die in Hochholzers Bericht deutlich werdende Betonung dieses Unterschiedes bei seiner Verabschiedung zeigt, dass derartige zeremonielle Feinheiten von den politischen Akteuren wahrgenommen und positiv interpretiert wurden. Dazu hatten sie auch allen Grund: So stellte das Küssen der Herrscherhand nicht nur ein klassisches Signal dar, um die soziale Hierarchie der Interagierenden zum Ausdruck zu bringen. Nachdem diese aussagekräftige Verabschiedung in der Spätantike und im Mittelalter vor allem im byzantinischen Kaiserzeremoniell verwendet worden war, fand sie ab dem 16. Jahrhundert auch Eingang in die 722 Vgl. Bericht Campredons an Morville v. 13. Oktober 1725, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 74–75. 723 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 10. November 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 12r. 724 Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 10. April 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 29, Russica 1724–1725 V, 173r–173v.
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Traditionen der westeuropäischen Höfe. Bis ins 18. Jahrhundert wurde der Handkuss als Geste von großen Herren bezeichnet, die diese einem Geringeren als Kennzeichen der Gnaden-Beziehung erwiesen. Im konkreten Fall Russlands stellte diese Grußform zum gegebenen Zeitpunkt außerdem eine exklusive Ehrerbietungsgeste gegenüber der Zarin dar.725 Es ist mehr als nur bezeichnend, dass Katharina die Audienz zur Ankündigung der Wiederbelebung der bilateralen Beziehungen dazu nutzte, um Hochholzer dieses Kennzeichen der Gnaden-Beziehung darzubringen. Die ereignisgeschichtliche Realität fand also einen deutlichen Niederschlag im gewählten Zeremoniell. Der symbolischen Geste folgten sogleich eindeutige politische Taten: Lanczinski erhielt am 17. November eine von Seiten Wiens längst geforderte Vollmacht zur Aufnahme von Verhandlungen mit den Konferenzministern. Diese Bevollmächtigung zeigt jedoch, dass beide Seiten zu diesem Zeitpunkt trotz der eindeutigen Annäherungsgesten noch große Vorsicht gegenüber dem möglichen Partner walten ließen. So erhielt Lanczinski darin lediglich das Pouvoir zur Aufnahme von Gesprächen, jedoch nicht zum Abschluss eines Bündnisses. Dies hatte wiederum zur Folge, dass die offiziellen Gespräche in Wien auf Drängen der russlandkritischen Minister bis zum Eintreffen weitreichender Vollmachten angehalten wurden. Bis dahin sollten daher nur inoffizielle Konsultationen zwischen Lanczinski und den pro-russischen Ministern – Schönborn und Prinz Eugen – stattfinden.726 Zum selben Zeitpunkt wurde die Annäherung zwischen beiden Höfen nicht nur der russischen, sondern überdies der international besetzten Hofgesellschaft St. Petersburgs vor Augen geführt. So veranstaltete Hochholzer auf Anraten des Herzogs von Holstein abermals ein Fest anlässlich des Namenstags Karls VI., wozu er neben dem Herzog, dem Fürsten Mensˇikov und dem schwedischen Gesandten auch alle anderen in- und ausländischen Minister einlud. Diese seien ebenso wie Vizekanzler Ostermann der Einladung des Legationssekretärs gefolgt, weshalb er gleich zwei Tafeln für die Festgesellschaft in seinem Hause vorbereiten habe lassen, wo das »Traktament« durch ihn und seine Leute erfolgt sei. Trotz dieser scheinbar bescheidenen Rahmenbedingungen sei dieses Fest das »aufsehentlichste« dieser Art gewesen – was ihm die Gäste in ihren Komplimenten auch bestätigt hätten. Während Hochholzer beim zuletzt im Jahre 1723 stattgefundenen Namenstagsfest noch die reine Anwesenheit des Herzogs von Holstein als besondere Ehre bezeichnet hatte, so übernahm dieser nunmehr sogar die Rolle des Gastwirts. So habe er mit dem Trinkspruch auf die Gesundheit des Kaisers angefangen und Hochholzer darauf zu seinem Marschall gemacht, der die fröhliche Gesellschaft bis zehn Uhr abends 725 Vgl. Zakharine, Angesicht, 496–498. 726 Vgl. Kliwar, Bündnisvertrag, 39–41; Nelipovicˇ, Sojuz, 22–25.
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bedient habe. Als besonderes Qualitätsmerkmal für das Gelingen des Fests hob der Legationssekretär die Tatsache hervor, dass dabei sein ganzer Vorrat an Tokajer-Weinen verbraucht worden sei und »die ganze hohe Gesellschaft durch ihre Fröhlichkeit« die »Devotion« für den Kaiser »noch besser bezeigen« habe können.727 Die hervorragende Stellung des Herzogs von Holstein im Rahmen dieses Festes wurde auch von Campredon betont, um anhand dieses Anlasses zu zeigen, dass dem Herzog die öffentliche Bezeigung seiner Geneigtheit gegenüber dem Kaiser großes Vergnügen bereitete. So hielt er hinsichtlich der Ankündigung des bevorstehenden »Mittagessens« fest, dass sich der Herzog bereits seit einer Woche darauf »gestürzt« habe und damit seine immer schon gehegte Ergebenheit gegenüber dem Wiener Hof zum Ausdruck bringen habe wollen.728 Ein bislang nicht genanntes Detail des Fests erregte jedoch aufgrund seiner Eindeutigkeit hinsichtlich des Annäherungskurses zwischen Wien und St. Petersburg internationale Aufmerksamkeit. So berichtete Hochholzer, dass Jaguzˇinskij noch vor Aufhebung der Tafel erschienen sei, um selbst sein Kompliment zu überbringen und sich im Namen der nicht erschienenen russischen Minister für deren Fernbleiben zu entschuldigen – diese hätten zur selben Zeit über die von Hochholzer überbrachten Vorschläge des Kaisers beraten. Überdies habe er berichtet, dass sich die Zarin an das Fest bei Hochholzer erinnert und selbst auf die »allerhöchste Gesundheit« des Kaisers getrunken habe sowie dies von der gesamten Tafelgesellschaft »aufmerksam habe promovieren« lassen.729 Es ist verwunderlich, dass Hochholzer in diesem Zusammenhang ein weiteres Detail des Auftritts von Jaguzˇinskij unerwähnt ließ, das Campredon kurz darauf, im Zuge der Beschreibung der immer öffentlicher werdenden Hinwendung zum Kaiser und Abwendung von Frankreich hervorhob. So habe Jaguzˇinskij beim Namenstagsfest des Kaisers verkündet, dass die Zarin mit dem Kaiser ein Bündnis schließen wolle und alles, ja sogar einen bewaffneten Konflikt mit Dänemark in Kauf nehmen werde, um eine Zufriedenstellung des Herzogs von Holstein zu erreichen.730 So eindeutig habe sich die Zarin in ihrer Antwort an Hochholzer jedoch nicht gegeben, wie Leitsch in seiner Untersuchung festhielt. Diese sei nach einer ersten Sitzung des Legationssekretärs mit den russischen Ministern erfolgt, in der er ohne genaue Vorgaben ein mögliches Vorgehen gegen die Pforte in Aussicht 727 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 17. November 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 47r–48r ; Brikner, Diplomaty, 542. 728 Vgl. Bericht Campredons an Morville v. 13. November 1725, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 68–69. 729 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 17. November 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 47r–48v ; Brikner, Diplomaty, 542. 730 Vgl. Bericht Campredons an Morville v. 20. November 1725, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 82–83.
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stellte und damit den Vorstellungen Schönborns und Sinzendorfs, nicht jedoch jenen des Prinzen Eugen entsprach. Die Antwort der Zarin sei sehr allgemein gehalten gewesen und habe lediglich den Wunsch nach einem Beitritt des Kaisers zum Stockholmer Bündnis sowie nach der Aufnahme von Bündnisverhandlungen beinhaltet. Mit diesen allgemeinen Worten habe die Zarin, so Leitsch, einer präzisen Stellungnahme aus dem Weg gehen wollen.731 Diese Einschätzung bestätigt also die bereits erwähnte Vorsicht der beiden Höfe, wobei die allgemeine Zurückhaltung nicht über die Bedeutung und Signalwirkung der vorangegangenen Ereignisse hinwegtäuschen darf. So zeigt eine nähere Betrachtung der Antwort Katharinas an Hochholzer, dass es darin zu einer wahren Flut von Freundschaftsbekundungen kam: Das kaiserliche Schreiben, die Audienz und die anschließende Konferenz habe ihr »nicht anders als angenehm sein können«, da sie dadurch von »der wahren Freundschaft« und den »aufrichtig wohlwollenden Sentiments auf eine solch oblegante Art versichert« worden sei. Beim Empfang Hochholzers habe sie selbst »ihre Hochachtung« gegenüber der »kaiserlichen Freundschaft« zum Ausdruck gebracht, weshalb sie diese »mit Sorgfalt kultivieren« und »ihrer Orts nichts unterlassen« wolle, was »zu mehrerer und unauflöslicher Befestigung derselben dienen« könne. Sie selbst verspüre die »aufrichtige Begierde« und das »aufrichtige Verlangen«, sich mit dem Kaiser auf »das festeste und genaueste zu verbinden«, und habe die vom Kaiser und vom Herzog von Holstein »geneigte Disposition« für diese »anzugehende genaue Verbindung« mit dem »größten Vergnügen vernommen«. Die aus dieser »Zusammensetzung« beider Länder zu erwartende »Wohlfahrt und Ruhe für die Untertranen« habe sie schließlich dazu veranlasst, die Bevollmächtigung zur Aushandlung und zum Abschluss eines Bündnisses an ihren Minister auszustellen.732 Diese Worte konnten von den politischen Akteuren des Wiener Hofs nach einer langjährigen Periode ohne jegliche Freundschaftsbekundungen nicht anders als eine feste Absicht der Zarin zur Aushandlung eines Bündnisses betrachtet werden. So zeigt dieses Beispiel den Mehrwert einer Untersuchung der in der diplomatischen Korrespondenz verwendeten Schlüsselbegriffe und die sich daraus ergebenden Konkretisierungen der bislang erarbeiteten Forschungsergebnisse. Trotz des wortgewaltigen Startschusses der zwischenstaatlichen Annäherung verliefen die Verhandlungen in den ersten Monaten äußerst zögerlich. Das lag vor allem an der unklaren Position Schwedens. So waren sich die Minister in Wien zwar der Notwendigkeit von Zugeständnissen an Russland in der holsteinischen Frage bewusst und daher auch zu Bündnisverhandlungen mit 731 Vgl. Leitsch, Wandel, 79–80. 732 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 1. Dezember 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 82r–83r.
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Lanczinski bereit. Diese konnten jedoch nicht begonnen werden, so lange beide Seiten im Unklaren über die Position Schwedens waren. Dort war inzwischen der Einfluss der »Herrenhausener Allianz« gestiegen, indem England und Frankreich vor allem den Präsidenten des schwedischen Kanzleikollegiums, Arvid Bernhard Horn (1664–1742), durch den Gedanken einer »Teilung Russlands« und durch die damit verbundene Möglichkeit der Rückgabe einiger baltischer Gebiete an Schweden für sich gewinnen konnten. Horn spielte also insgeheim mit dem Gedanken des dafür geforderten Beitritts Schwedens zur »Herrenhausener Allianz«, wollte Russland jedoch nicht verärgern und setzte daher auf den Faktor Zeit. Der Beginn von Verhandlungen über einen möglichen Bündnisbeitritt wurde daher unter anderem durch den Austausch des schwedischen Unterhändlers in Wien bis Mitte Dezember hinausgezögert – Höpken wurde im Oktober 1725 abberufen und sollte durch Karl Gustav Tessin (1695–1770) ersetzt werden. Die Wiener Minister versuchten unterdessen vergeblich, den instruktionslosen Lanczinski zu einem Bündnis ohne Schweden zu bewegen und stattdessen Polen in eine gemeinsame Allianz zu integrieren. Letzteres war für Russland jedoch reine Zeitverschwendung, da dies zunächst der Herbeiführung eines Friedens zwischen den seit dem Nordischen Krieg verfeindeten Mächten Russland und Schweden einerseits und Polen andererseits bedurft hätte. Darüber hinaus zeigten sich die Konferenzminister gegenüber Lanczinski zu keinen klaren Zugeständnissen bezüglich einer gemeinsamen Türkeipolitik bereit. Nichtsdestotrotz trieben die für Russland gefährlichen Aktivitäten Englands und Frankreichs die Zarin in die Arme des Kaisers, weshalb sie dem Abschluss einer Defensivallianz mit Wien zustimmte, welche durch die Wiederaufnahme von direkten bilateralen Verhandlungen in Wien im Oktober 1725 herbeigeführt werden sollte.733 Diese ungeklärten Rahmenbedingungen führten zu wenig aussagekräftigen Berichten der übrigen politischen Beobachter, wie die Relationen Campredons vom Ende des Jahres 1725 zeigen. Der über die offensichtliche Annäherung Russlands an den Kaiser sichtlich enttäuschte französische Gesandte konnte seinen Hof daher auch nur über offensichtliche Tatsachen informieren: So schrieb er Ende November 1725, dass neben der eindeutigen Orientierung des russischen Hofes in Richtung Wien lediglich die Notwendigkeit einer gemeinsamen Türkeipolitik mit Sicherheit als Grundlage für ein Bündnis angenommen werden könne.734 Wesentlich interessanter als diese verständlicherweise wenig aufschlussreichen Darstellungen stellten sich Campredons Einschätzungen über die möglichen Auswirkungen einer solchen Allianz für die Zarin dar. So ver733 Vgl. Leitsch, Wandel, 80–83; Nekrasov, Rol’, 87–89. 734 Vgl. Bericht Campredons an Ludwig XV. v. 20. November 1725, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 92–95.
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mutete er hinter dem Annäherungskurs des russischen Ministeriums an den Wiener Hof eine Intrige gegen Katharina I., da deren Berater zum Großteil hinter dem Großfürsten stehen würden.735 So kam er zu dem drastischen Schluss, »[…] que la Czarine ne pouvait jamais Þtre plus mal conseill¦e que d’attirer, pour ainsi dire, le loup dans la bergerie, en admettant sa cour un ministre de l’empereur.«736 Hinter dieser Einschätzung verbirgt sich wohl auch die Verbitterung des Gesandten darüber, den diplomatischen Kampf um die Gunst des russischen Hofes verloren zu haben. Derartige Befindlichkeiten müssen hinsichtlich der Beurteilungen der Diplomaten stets mit berücksichtigt werden, stellten deren Berichte doch vor allem auch Medien der Selbstdarstellung dar. Mit diesen und anderen Darstellungen erreichte der Gesandte offensichtlich auch die gewünschte Reaktion von Seiten des heimischen Hofes. So versicherte ihm zunächst Morville Mitte Dezember 1725, dass der Gesandte alle ihm zur Verfügung stehenden Kräfte eingesetzt habe und daher keine Schuld am Scheitern der Verhandlungen trage. Gleichzeitig wies er Campredon an, dass angesichts der Ereignisse die Grenze einer weiteren Kompromissbereitschaft überschritten worden sei und Campredon nichts mehr in Sachen eines Bündnisses unternehmen solle.737 Schließlich bekam er zwei Wochen später die Bestätigung seines Souveräns, wonach die Könige von England und Frankreich genug von der Unentschlossenheit der russischen Minister hätten, weshalb Campredon in den Gesprächen mit dem schwedischen Gesandten betonen solle, dass die beiden Herrscher mit ihnen nicht mehr verhandeln wollten.738 In dieser Verzögerungsphase fand Hochholzer offensichtlich genug Zeit, die notwendigen logistischen Vorbereitungen der Gesandtschaft Rabutins zu treffen. Dabei stand er vor bereits bekannten Problemen. Wie schon im Falle Kinskys war St. Petersburg zum gegebenen Zeitpunkt im Aufbau befindlich, weshalb Hochholzer erneut mit Schwierigkeiten bei der Beschaffung einer Wohnung für Rabutin konfrontiert war. So konnte er auch in diesem Fall nur ein Holzhaus für den stolzen Preis von 1.000 Rubel ausfindig machen. Die Gründe für die teuren Wohnungspreise eröffnen erstaunliche Parallelen zum Wohnungsmarkt in den russischen Zentren unserer Tage. So hielt Hochholzer fest, dass die Hausbesitzer ihre Häuser entweder selbst bewohnen würden oder be735 Vgl. Bericht Campredons an Morville v. 27. November 1725, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 104–105. 736 Bericht Campredons an Morville v. 27. November 1725, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 105. 737 Vgl. Weisung Morvilles an Campredon v. 13. Dezember 1725, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 148–149. 738 Vgl. Weisung Ludwigs XV. an Campredon v. 30. Dezember 1725, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 171.
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reits auf Jahre hinaus vermietet hätten. Aus diesem Grund sei ein Haus nur sehr schwer, und wenn, dann nur für einen unverschämten Preis zu bekommen. Um derartige Schwierigkeiten zukünftig zu vermeiden, riet er dem Kaiser an, ein steinernes Haus für den neuen Ambassadeur anzuschaffen. Der passende Anlass für einen solchen Kauf wäre durch die »anscheinende langwierige Freundschaft« ohnehin gegeben und die Anschaffung würde vom russischen Hof selbst gerne gesehen werden.739 Das sich anbahnende gute Verhältnis sollte sich durch die Installation einer »fixen kaiserlichen Botschaft« also auch architektonisch im Stadtbild niederschlagen. In den ersten Monaten des Jahres 1726 standen die Zeichen weiterhin auf Verzögerung. Grund dafür war der zunehmende Druck von außen, der die beiden Höfe in ihrer Entschlussfähigkeit lähmte. So blieben einerseits die spanischen Unterstützungen der Ostende-Kompanie gegen die immer heftiger werdenden Angriffe von Seiten Englands und der Niederlande aus. Russland stand andererseits vor einem möglichen Krieg mit der Pforte. Überdies verzögerten sich die Verhandlungen mit Schweden vor dem Hintergrund des bemerkbarer werdenden Parteienkampfes am schwedischen Hof. Die schwedischen Vertreter in Wien, die der holsteinischen Partei angehörten, mussten Ende 1725 den erschwerenden Umstand zur Kenntnis nehmen, dass die kaiserlichen Konferenzminister im Gegenzug zur Akzession des Kaisers zum russischschwedischen Bündnis einen Beitritt Schwedens zur Allianz mit Spanien voraussetzten. Ein derartiges Szenario versuchte vor allem Frankreich mit dem am dortigen Hof befindlichen schwedischen Vertreter zu verhindern. Trotz des Widerstandes von Russland unterstützte Horn dessen Pläne und setzte weiterhin auf Zeit, da Tessin hierfür ohnehin keine Instruktionen hatte. Dabei kam ihm auch der Umstand zugute, dass die im November 1725 ausgestellte Vollmacht des schwedischen Gesandten aufgrund des darin verwendeten russischen Kaisertitels unbrauchbar war. Deshalb legte er bei der Anfertigung eines neuen Schreibens keine Eile an den Tag.740 Gerade der französische Beobachter Campredon befürchtete hinter der Absendung Tessins einen möglichen Beitritt Schwedens zum Wiener Bündnis. Umso erleichterter zeigte er sich, als er aufgrund der zurückhaltenden Position Schwedens im Februar 1726 erste wohlwollende Notiz von den Verzögerungen der Verhandlungen nahm.741 Vorerst konnte er seinen Hof mit keinen weiteren aufschlussreichen Neuigkeiten bezüglich des Bündnisses versorgen, weshalb er sich darauf beschränkte, die mögliche Allianz abermals als Stärkung des 739 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 25. Dezember 1725, ÖStA, HHStA, StA, RU I, Kt. 30, Russica 1725 VI–XII, 90r–91r. 740 Vgl. Leitsch, Wandel, 83–84; Nekrasov, Rol’, 94–95. 741 Vgl. Bericht Campredons an Ludwig XV. v. 19. Februar 1726, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 247; Nekrasov, Rol’, 95.
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Großfürsten darzustellen.742 Die scheinbare Ergebenheit der Zarin und ihrer Minister gegenüber dem Wiener Hof führten ihn Ende Januar 1726 sogar zu dem Trugschluss, wonach die Artikel des Vertrages bereits ausgearbeitet und Rabutin zum Abschluss der Angelegenheiten übergeben worden wären.743 Ein letztes Fünkchen Hoffnung über eine mögliche Annäherung Russlands an Frankreich flackerte bei Campredon im Rahmen der Gründung des Obersten Geheimen Rates auf. Die bisherige Forschung lieferte zwei unterschiedliche Lesarten über die Hintergründe des am 8. Februar 1726 geschaffenen Gremiums. Einige stellten den Obersten Geheimen Rat als Mittel zur Machteinschränkung Mensˇikovs dar, während andere hingegen diesen als Schutzschild für die uneingeschränkte Machtausübung des Fürsten charakterisierten. Anisimov etwa versuchte Ersteres zu entkräften, indem er durch eine Analyse der Privatkorrespondenz Mensˇikovs zu zeigen trachtete, dass Aleksandr Danilovicˇ unmittelbar vor der Gründung des Rates intensiven Kontakt mit dessen Gründungsmitgliedern hatte und im Falle möglicher Zweifel sicherlich dagegen etwas unternommen hätte. Pavlenko hingegen stellte die Machteinschränkung Mensˇikovs als Hauptmotivation für den Initiator des neuen Gremiums, Graf Tolstoj, dar, hielt jedoch gleichzeitig fest, dass Mensˇikov selbst darin ein Mittel für eine uneingeschränkte Einflussnahme gesehen haben könnte und daher nicht gegen dessen Gründung vorging.744 Jenseits dieser historiographischen Meinungsverschiedenheit sind sich beide Seiten jedoch darin einig, dass die personelle Zusammensetzung des Obersten Geheimen Rates ein deutlicher Beweis für die damit anvisierte Forcierung der Partei der Zarin war. So stammten mit General-Admiral Apraksin, Kanzler Golovkin, Fürst Mensˇikov, Graf Tolstoj und Vizekanzler Ostermann gleich fünf Mitglieder aus der Anhängerschaft Katharinas, während mit Fürst Golicyn lediglich ein Vertreter aus der russischen Aristokratie und dem Kreis der Befürworter des Großfürsten in das Gremium berufen wurde. Die Übermacht der Partei der Zarin wurde überdies durch die Aufnahme des Herzogs von Holstein in den Rat – am 17. Februar 1726 – nur noch bestätigt. Der damit verbundene Einflussgewinn ihrer Anhänger war keineswegs gering, da die kollegial strukturierte Beratungsinstanz der Herrscherin den Senat als oberstes Regierungsgremium ablöste, keineswegs jedoch im selben Moment abschaffte. Wenngleich der Oberste Geheime Rat keine klar definierten Aufgabenbereiche erhielt, so sollten darin doch die wichtigsten und heikelsten Staatsangelegenheit unter 742 Vgl. Bericht Campredons an Ludwig XV. v. 3. Januar 1726, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 186–187; Bericht Campredons an Ludwig XV. v. 15. Januar 1726, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 199–200. 743 Vgl. Bericht Campredons an Ludwig XV. v. 26. Januar 1726, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 209. 744 Vgl. Anisimov, Kuda, 102–105; Pavlenko, Ekaterina I, 76–77.
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Ausschluss einer größeren Öffentlichkeit besprochen und beschlossen werden.745 Dementsprechend hielt das »Wienerische Diarium« hinsichtlich seiner Aufgaben relativ vage fest, dass von diesem höchsten Rat alle importanten Entscheidungen im Bereich der inneren und auswärtigen Affären »dependieren« würden.746 Die »Europäische Fama« brachte diese Ereignisse wie so oft in einen größeren Zusammenhang und erkannte die dahinter steckende neue Machtverteilung. Entsprechend ihren allgemeinen Einschätzungen, wonach die Zarin der »Regierungskunst« ihres verstorbenen Mannes in »allen Stücken« folgen würde, betrachtete sie auch diese Maßnahme als eine im Sinne Peters I. stehende Entscheidung. Damit habe es die Herrscherin geschafft, nicht mehr »alle geheimen Handlungen« dem Senat anvertrauen zu müssen und diesen lediglich zu einer ersten Instanz unter den Reichskollegien zu machen, die dem Kabinettsrat Rechenschaft schuldig sei.747 Symbolisch manifestierte sich die soeben angesprochene neue Gewichtung der Gremien im Titel des Senats: So verwandelte Katharina I. den bislang »regierenden« Senat per Dekret vom 14. März 1726 in einen fortan nur noch »hohen« Senat.748 Campredon sah in dieser Umgestaltung eine letzte Möglichkeit für eine Umorientierung des außenpolitischen Kurses Russlands, da nunmehr klar sei, an wen er sich zu wenden habe, um Erfolg zu erzielen. Aus diesem Grund könnte die projektierte Verbindung Russlands mit dem Wiener Hof noch unterbrochen werden.749 Doch der französische Gesandte wurde schon bald von der politischen Realität eingeholt. So trat der Oberste Geheime Rat noch in seinem Gründungsmonat mit Hochholzer zusammen, um sein Missfallen über die Verzögerung der Verhandlungen zum Ausdruck zu bringen. Der Legationssekretär erklärte den Aufschub mit den noch fehlenden Vollmachten des schwedischen Vertreters in Wien. Ungeachtet dessen legte der Rat den Kurs für ein Bündnis mit Wien fest und übermittelte Lanczinski am 23. Februar zwei Vollmachten zur Aushandlung eines solchen.750 Beinahe zeitgleich sah sich nunmehr auch der Wiener Hof zum Handeln gezwungen und legte eine bislang unbekannte Eile bei der Absendung Rabutins an den Tag. Grund dafür war das Bekanntwerden der Tätigkeit der englischen Diplomatie in Konstantinopel, die 745 Vgl. Anisimov, Kuda, 105–107; Pavlenko, Ekaterina I, 77–78. 746 Vgl. Wienerisches Diarium v. 3. April 1726, Nr. 27, [1]. 747 Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 300 (1727), 975 sowie 1025–1026. 748 Vgl. RGADA, f. 197, op. 1, portfel’ 8 1696–1725, d. 34 [O tituljach Senata so vremeni ucˇrezˇdenija onago pri imperatore Petre Velikom], 1r. 749 Vgl. Bericht Campredons an Morville v. 23. Februar 1726, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 253–260. 750 Vgl. Nelipovicˇ, Sojuz, 26.
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Frankreich bei der Bildung einer gegen den Kaiser und die Zarin gerichteten »Barriere im Osten« unterstützte und die Pforte in einen bewaffneten Konflikt mit den beiden Mächten verwickeln wollte. Die Konferenzminister rieten Karl VI. zu einer Beschleunigung der Verhandlungen, wodurch der am 31. Dezember beschlossene Verzögerungskurs ad acta gelegt wurde. Am 30. Januar erhielt Rabutin sein Beglaubigungsschreiben. Zwei Tage später folgte die Erweiterung seiner Instruktionen. Von der schnellen Abfertigung des Gesandten erwartete sich der Wiener Hof Zugeständnisse von Seiten Russlands, auf die man zunächst einfach warten wollte.751 Die Instruktionen Rabutins sahen die Aushandlung eines gegen die »Herrenhausener Allianz« gerichteten Bündnisses mit Russland vor. Voraussetzung von Seiten des Wiener Hofes war der wechselseitige Beitritt beider Mächte zum Wiener Frieden zwischen dem Kaiser und Spanien von 1725 sowie zum Frieden von Nystad von 1721 und zum Stockholmer Vertrag zwischen Russland und Schweden von 1724. Gleichzeitig sollte der Gesandte die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion sowie die russische Gefolgschaft in Konflikten der Ostendischen Handelskompanie durchsetzen und Russland zur Vermittlung in der Frage des Beitritts Schwedens zum Wiener Handelsvertrag bewegen.752 Darüber hinaus erreichten Rabutin in den darauffolgenden Wochen weitere Verhaltensrichtlinien, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Bündnisverhandlungen standen. So wies der Kaiser seinen Gesandten etwa hinsichtlich seines Verhaltens gegenüber dem Großfürsten zu äußerster Vorsicht an – dementsprechend sollte er sich in Rücksicht auf die Zarin und den Herzog von Holstein hinsichtlich einer möglichen Visite bei Petr Alekseevicˇ zunächst unmerklich und vorsichtig beim holsteinischen Hof erkundigen und sich überdies am Verhalten der übrigen Minister orientieren.753 Zwei Tage darauf wurde Hochholzer davon in Kenntnis gesetzt, dass Rabutin als »außerordentlicher Abgesandter« für den russischen Hof beglaubigt worden war. Hochholzer habe ihm daher als Legationssekretär beizustehen sowie ihm alles zu eröffnen und Gehorsam zu leisten.754 Aus den vorangegangenen Ausführungen wissen wir, dass Rabutins Aufenthalt in Russland – entsprechend dem zeitgenössischen Verständnis eines außerordentlichen Gesandten – eigentlich nur für kurze Zeit vorgesehen war, um eben einen bestimmten Auftrag am fremden Hof zu erfüllen. Wenngleich dieses Prädikat in der damaligen Diplomatie immer inflationärer gebraucht wurde, um einem ordentlichen Ver751 Vgl. Leitsch, Wandel, 84–85; Nekrasov, Rol’, 89–90. 752 Vgl. Kliwar, Bündnisvertrag, 40–41. 753 Vgl. Weisung Karls VI. an Rabutin v. 14. Februar 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 112, Weisungen 1726, 9v sowie 11v. 754 Vgl. Weisung Karls VI. an Hochholzer v. 16. Februar 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 112, Weisungen 1726, 13r.
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treter die bereits angesprochenen Sonderrechte eines außerordentlichen Repräsentanten zu sichern, so hielt sich der Wiener Hof in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts doch an die sachgerechte Vergabe der Prädikate.755 Es ist also davon auszugehen, dass Rabutins Aufenthalt zunächst nur als »ad-hoc Mission« gedacht war, um die Bündnisverhandlungen am russischen Hof zu koordinieren. Doch noch bevor Rabutin seine Reise nach Russland antrat, überschlugen sich die Ereignisse. Informationen über die Unterstützung der russischen Diplomatie durch den französischen Gesandten am russischen Hof ließen Wien über einen gesonderten Abschluss des Beitritts zur Stockholmer Allianz nachdenken, um Schweden bei der Stange zu halten. Am 16. März wurde Rabutin instruiert, Schweden vom Beitritt zur »Herrenhausener Allianz« abzuhalten. Am 19. März drängte der Kaiser die Konferenzminister, sich mit dem Beitritt zum Bündnis zu beeilen. Tags darauf kündigte Lanczinski an, dass Russland zu einer Akzession zum Wiener Frieden bereit wäre, ohne dabei Rücksicht auf Schweden zu nehmen. Noch am selben Tag erreichte Wien der Bericht Hochholzers, dass Russland an einem gemeinsamen Vorgehen gegen die Pforte interessiert sei. Vor diesem Hintergrund war Karl VI. förmlich dazu gezwungen, seinen Beitritt zum russisch-schwedischen Bündnis noch vor Rabutins Ankunft in St. Petersburg in die Wege zu leiten. Dieser Entschluss trieb auch die schwedischen Vertreter in Wien voran, die Mitte April 1726 nach dem Eintreffen der neuen Vollmachten einen bereits ausgearbeiteten Beitrittstext zur Unterzeichnung bringen konnten.756 Vor der Unterzeichnung musste jedoch eine Lösung hinsichtlich der Vermeidung des russischen Kaisertitels in den schwedischen Vollmachten gefunden werden. Die Konferenzminister widmeten diesem Thema am 26. März eine eigene Sitzung, was abermals die Bedeutung des Briefzeremoniells für die zwischenstaatliche Kommunikation der Frühen Neuzeit deutlich werden lässt. So hielten die Minister zunächst fest, dass die »Auslassung der kaiserlichen Titulatur« in den Vollmachten »glimpflich zu veranlassen« sei, um die beiden Mächte Russland und Schweden von einem Beitritt zur »Herrenhausener Allianz« abzuhalten und insgesamt beizubehalten. Dabei griffen sie einen von Cederhielm und Ostermann ausgearbeiteten und von Hochholzer nach Wien übermittelten Lösungsvorschlag auf, wonach Titel und Name der Zarin in den Vollmachten durch die Worte »Russiae« sowie »Aula« bzw. »Corona russica« ersetzt werden sollten. Die Konferenzminister erachteten dies als gangbaren Kompromiss, erklärten die kaiserliche Bereitschaft zur Aufnahme der in Wien stattfindenden 755 Vgl. Lünig, Theatrum, 368; Müller, Gesandtschaftswesen, 120–121; Pecquet, Discours, 137; Stieve, Hof-Ceremoniel, 308–315. 756 Vgl. Leitsch, Wandel, 85–88.
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Beitrittsverhandlungen und ließen den beiden Ideengebern über Hochholzer bzw. Rabutin die kaiserliche »Wohlmeinung« und »Danknehmigkeit« für deren »rühmlichen Eifer« ausrichten.757 Wie heikel die Frage der Verwendung des Titels in den Verhandlungen mit den russischen Ministern für den Wiener Hof war, zeigt eine drei Tage zuvor abgeschickte Relation Hochholzers. Darin berichtet er über die Stellungnahme Ostermanns bezüglich eines nach Wien abgeschickten Protokolls über eine Konferenz mit dem Legationssekretär, in der es um den Kompromiss in der Titelfrage ging. Der russische Vizekanzler ging davon aus, dass es sich dabei lediglich um die Verschriftlichung einer mündlichen Antwort gegenüber Hochholzer handelte, weshalb er keine Bedenken bei der Verwendung des russischen Kaisertitels sah und den Gebrauch des Titels in Unterredungen mit den Vertretern Wiens generell als nicht anstößig betrachtete.758 Die Abreise Rabutins verzögerte sich jedoch nicht nur wegen der eben geschilderten langwierigen Kompromissaushandlung zwischen den beiden Herrschern, sondern auch aufgrund von Problemen, die in noch höherer Gewalt lagen. So wurde er aufgrund der schlechten Wetterlage für vier Wochen lang in Warschau festgehalten und konnte seinen Weg erst am 16. März fortsetzen, nachdem der Frost wieder angezogen hatte. Der lange Aufenthalt in Polen brannte überdies ein großes Loch in sein Reisebudget und ließ seine Mission gleich mit Geldproblemen beginnen.759 Zu gegebener Zeit, genauer gesagt am 10. April, als Hochholzer den Ambassadeur in Riga vermutete, reiste der Legationssekretär seinem Vorgesetzten entgegen, um ihn bei Narva in Empfang nehmen zu können – wie er es schon Jahre zuvor im Falle von Kinsky gemacht hatte.760 Dieses Entgegenkommen Hochholzers wurde von den übrigen politischen Beobachtern als Vorbote einer baldigen Ankunft des kaiserlichen Gesandten gedeutet. So berichtete auch Campredon über das bevorstehende Treffen in Narva und erwartete Rabutin in der darauffolgenden Woche in St. Petersburg. Zuvor hatte er bereits Notiz von der Ankunft des Gepäcks des kaiserlichen Gesandten gemacht und dessen baldige Ankunft in Aussicht gestellt.761
757 Vgl. Konferenzprotokoll des Ministerrats v. 26. März 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 112, Weisungen 1726, 177r–184r ; Brikner, Diplomaty, 535; Leitsch, Wandel, 84. 758 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 23. März 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 1, Berichte 1726 I–VI, 91v–93r. 759 Vgl. Bericht Rabutins v. 16. März 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 1, Berichte 1726 I–VI, 83r–84v. 760 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 10. April 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 1, Berichte 1726 I–VI, 102v–103r. 761 Vgl. Bericht Campredons an Morville v. 7. April 1726, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 327; Bericht Campredons an Morville v. 20. April 1726, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 343.
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Diese Notizen Campredons beweisen, dass der französische Gesandte der Anwesenheit Rabutins keineswegs gelassen entgegenblickte. Gelassenheit war genau jene Eigenschaft, die der kaiserliche Ambassadeur auf seinem Weg nach Russland benötigte. Abgesehen von seinen Geldproblemen berichtete er etwa darüber, dass sein Empfang in Riga zwar »glücklich«, aber gleichzeitig auch »sehr beschwerlich« verlaufen sei. Konkret quälte Rabutin dabei die Frage der ersten Visite durch bzw. beim dortigen Gouverneur, Fürst Repnin. Da er bereits vorab gehört hätte, dass es sich dabei »um einen schwermütigen Mann handle, der sich viel auf seinen russischen Fürstentitel einbilde«, habe er sich zu einer Vorgangweise entschieden, die ihm keine schlechte Nachrede beim Betreten des russischen Reichs einbringen sollte. In Anlehnung an die in seinen Instruktionen vorgegebene Verhaltensweise gegenüber dem Herzog von Holstein und Graf Golovkin wollte er auch Fürst Repnin den ersten Besuch abstatten. Nach voriger Absprache mit dem kurländischen Hofmeister Petr Michajlovicˇ Bestuzˇev (1664–1743) in Mitau wurde er in dieser Entscheidung nur noch bestärkt, als er bei der Einfahrt in Riga bemerken musste, dass niemand zu seiner »Bewillkommnung« abgestellt worden war. Nachdem Rabutin sich daraufhin vom Stadtmagistrat zum Schloss des Gouverneurs habe bringen lassen, sei er dort sogleich auf den Fürsten getroffen. Repnin habe sich zunächst völlig unwissend gestellt, dem kaiserlichen Gesandten jedoch im Anschluss die nötigen Ehrerweisungen entgegengebracht. Wenngleich sich der Gouverneur nicht zu einer Gegenvisite herabgelassen habe, so hätten ihm daraufhin doch zumindest der dortige Untergouverneur, der vornehmste Offizier der Garnison sowie die Vertreter des Landadels und des Stadtmagistrats die nötige Ehre erwiesen und sogar eine Ehrenwache vor seiner Pension aufstellen lassen. Der über diese freie Auslegung seiner Instruktionen besorgte Rabutin dürfte mit diesem Verhalten genau den Geschmack seines Hofes getroffen haben.762 So habe dieses nicht nur die »Genehmhaltung« des Kaisers gefunden, sondern dieser habe den Vorfall auch zum Anlass genommen, dieselbe Vorgehensweise im Falle von Problemen im Rahmen der Visiten bei Golovkin und Mensˇikov vorzuschreiben.763 Es ist bemerkenswert, dass neben den Darstellungen Rabutins offensichtlich noch eine zweite Version über die Ereignisse in Riga existiert, die in völligem Gegensatz zu den Darstellungen des kaiserlichen Gesandten steht. So erreichte das »Wienerische Diarium« Mitte April ein am 31. März verfasster Bericht aus Hamburg, wonach Rabutin unter größten Ehrenbezei762 Vgl. Bericht Rabutins an Karl VI. v. 15. April 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 1, Berichte 1726 I–VI, 111v–118r ; Brikner, Diplomaty, 510. 763 Vgl. Weisung an Rabutin v. 8. Mai 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 112, Weisungen 1726, 90r.
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gungen sowie Abfeuern der Kanonen in Riga willkommen geheißen und im Palast des zu diesem Zeitpunkt scheinbar in Petersburg befindlichen Fürsten Repnins einquartiert worden sei. Vor dessen Behausung sei der kaiserliche Gesandte von einem Hauptmann und 100 Mann mit »fliegenden Fahnen« erwartet worden und habe am darauffolgenden Tag Riga unter Aufführung desselben Spektakels verlassen.764 Ein derartiger Verlauf der Dinge wäre Rabutin wohl sicherlich lieber gewesen, da er sich im Fall eines solchen Szenarios vor dem heimischen Hof nicht für sein Verhalten hätte rechtfertigen müssen. Es spricht daher vieles dafür, dass diese Nachricht in die Kategorie von Zeitungsenten eingeordnet werden muss. Rabutins Ankunft in Russland erregte also öffentliches Aufsehen. So berichtete Campredon am 30. April 1726, dass dieser am vorangegangenen Sonntag angekommen sei und die anderen Minister bereits davon in Kenntnis gesetzt habe. Er selbst habe bereits eine höfliche Begrüßung durch den kaiserlichen Ambassadeur erhalten, auf die er vor der am darauffolgenden Tag stattfindenden Begegnung ebenso höflich geantwortet habe.765 Damit entsprach der französische Vertreter voll und ganz seinen Instruktionen. So hatte ihm sein Hof bereits Anfang März 1726 vorgeschrieben, sich gegenüber dem kaiserlichen Gesandten so »höflich« und »freundlich« wie möglich zu bezeigen, da man ein ebensolches Verhalten von Rabutin erwartete. Campredon sollte in weiterer Folge die ersten Schritte des Neuankömmlings beobachten. Dafür wurde von Morville folgende Losung ausgegeben: »Schauen sie nur und lassen sie sich keine Unruhe anmerken.«766 Diese verständlicherweise besorgte Reaktion auf die Ankunft Rabutins von französischer Seite zeigt, dass seine Mission natürlich Gegenstand öffentlicher Diskussionen war. So trat mit der Ankunft des hochrangigen Ambassadeurs in St. Petersburg auch die Tätigkeit der kaiserlichen Gesandtschaft in Russland wieder vermehrt ins Licht der öffentlichen Berichterstattung. Das »Wienerische Diarium« erreichte die erste Nachricht über die Ankunft Rabutins in St. Petersburg über einen Bericht aus Hamburg. In der darauffolgenden Ausgabe zeigten sich die Herausgeber bereits in freudvoller Erwartung, Näheres über die »aufhabenden wichtigen Kommissionen dieses Gesandten« zu erfahren.767 Auch die »Europäische Fama« berichtete über die Ankunft Rabutins in der russischen Residenzstadt und brachte diese Neuigkeit gleich in einen größeren Zusammenhang. 764 Vgl. Wienerisches Diarium v. 13. April 1726, Nr. 30, [6]. 765 Vgl. Bericht Campredons an Morville v. 30. April 1726, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 348–349. 766 Vgl. Weisung Morvilles an Campredon v. 7. März 1726, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 266. 767 Vgl. Wienerisches Diarium v. 20. April 1726, Nr. 32, [4]; Wienerisches Diarium v. 24. April 1726, Nr. 34, [2].
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So sahen die Herausgeber dieses Ereignis als möglichen Anlass dafür, dass sich die bislang verborgenen Gründe für die Verzögerungen seiner Absendung wohl bald klären würden.768 Die Berichterstattung der »Fama« beweist überdies, dass die zeitgenössischen Beobachter die Reisetätigkeit der Gesandten genau beobachteten, dabei jedoch zum Teil auf unzuverlässige Informationen zurückgreifen mussten. So berichtete man in einer der darauffolgenden Ausgaben, dass Rabutins Ankunft in den öffentlichen Zeitungen zunächst mit Ende März festgelegt worden sei, während in späteren Berichten der 17. und 27. April als Daten seines Eintreffens genannt worden seien.769 Diese Angaben dienen als weiteres Beispiel für die Tatsache, dass die historisch-politischen Zeitschriften vor allem auch die Ereignisberichte der Hofgazetten als Wissensbasis für ihre Kommentare und Spekulationen heranzogen. Mit der Präsenz Rabutins ging die Ära Hochholzers als alleiniger Vertreter des Kaisers am russischen Hofe zu Ende, die er entsprechend seinen weiteren Verhaltensrichtlinien zum »kaiserlichen Wohlgefallen vollführet« habe.770 Doch noch vor Ankunft seines neuen Vorgesetzten trat der Legationssekretär gemeinsam mit dem holsteinischen Minister Bassewitz noch einmal als aktiver politischer Akteur in Erscheinung. Auf Basis eines vom Holsteiner ausgearbeiteten Projekts wollten die beiden der Zarin den Vorschlag einer Vermählung zwischen dem Großfürsten und Prinzessin Elisabeth unterbreiten. Darin bestätigt er auch, dass bereits Graf Kinsky einen Vorschlag in diese Richtung gemacht habe, wobei dessen »glimpflich geschehener Vortrag« wegen der engen Blutsverwandtschaft des Großfürsten und der mittlerweile bereits verstorbenen Prinzessin Natal’ja (1718–1725) – die jüngste Tochter Peters I. aus seiner Ehe mit Ekaterina Alekseevna – abgelehnt worden sei. Diesmal erwarteten sich die beiden aufgrund der Versicherung Jaguzˇinskijs, wonach im Falle einer Zustimmung der Zarin und des Herzogs von Holstein die Gültigkeit einer solchen Verbindung nicht angezweifelt werden würde, mehr Erfolg für ein solches Projekt.771 Die Wiener Minister betrachteten die Vorschläge von Bassewitz »als sehr wohl angedacht« und glaubten, dass das Projekt »ins Werk gerichtet« werden könnte. Sie wiesen Hochholzer jedoch gleichzeitig dazu an, dafür zu sorgen, dass sich Bassewitz zunächst der vollkommenen Unterstützung des Herzogs von Holstein versichere und sich aufgrund der »Heikligkeit« der Frage 768 Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 291 (1726), 209–210. 769 Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 293 (1726), 426. 770 Vgl. Weisung Karls VI. an Hochholzer v. 16. Februar 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 112, Weisungen 1726, 13r. 771 Vgl. Bericht Hochholzers v. 11. Mai 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 1, Berichte 1726 I–VI, 183r.
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nicht gegenüber der Zarin äußere, ehe man sich nicht deren »vollkommenen Neigung« in dieser Sache sicher sei.772 Durch dieses Zusammenwirken mit dem holsteinischen Minister legte Hochholzer den Grundstein für eine der ersten angenehmen »Amtshandlungen« Rabutins am russischen Hof. So hatte Hochholzer zuvor die Erhöhung Bassewitzs in den Reichsgrafenstand beim Kaiser erwirken können und diesem schon das kaiserliche Einverständnis in dieser Sache verkündet. Der holsteinische Minister habe dies jedoch nicht als eine »Vergeltung« für seine aus »Schuldigkeit bezeigenden Dienste«, sondern vielmehr als eine »sonderbare kaiserliche Gnade« betrachtet und sogleich nachgefragt, wann der Kaiser ihm diese offerieren wolle.773 Dies geschah dann unmittelbar nach der Ankunft Rabutins, der nach Erhalt des Herrscherbriefs über die Erhöhung Bassewitz in den Reichgrafenstand das Geburtstagsfest des Herzogs von Holstein als Anlass wählte, um dies vor der höfischen Welt kundzutun.774 So konnte etwa auch die »Europäische Fama« darüber berichten, die die Erhebung von Bassewitz wohl völlig zu Recht als Vergeltung seiner dem »Hause Österreich erwiesenen Dienste« betrachtete.775 Damit wurde das gute Verhältnis zwischen den holsteinischen und den kaiserlichen Vertretern durch diesen Schritt weiter öffentlich in Szene gesetzt. Davon machten natürlich auch andere politische Beobachter Notiz. So hielt Campredon fest, dass Rabutin die Gelegenheit des Geburtstagsfests nicht nur genutzt habe, um Bassewitz vor den Augen der Öffentlichkeit das Patent zu übergeben, sondern gleichzeitig auch einen vom polnischen König mitgeschickten, mit Brillanten besetzten Weißen-Adler-Orden an die Zarin überreichte.776 Als Überbringer der freudigen »indexikalischen« Nachricht hinterließ der kaiserliche Gesandte damit zweifelsohne einen positiven ersten Eindruck bei der Herrscherin. Seine ersten Begegnungen mit Katharina sowie den wichtigsten Ministern des russischen Hofes verliefen insgesamt sehr harmonisch. Rabutin konnte dabei offensichtlich auf der Erfahrung seines Vorgängers Kinsky aufbauen. Während dieser aufgrund seiner Unwissenheit über die Usancen am russischen Hof noch Probleme bei den Visiten der russischen Minister hatte, hielt Rabutin nach seiner Ankunft diesbezüglich in aller Kürze fest, dass die ersten Begegnungen 772 Vgl. Protokoll des Ministerrats v. 26. März 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 112, Weisungen 1726, 189v–190r sowie 194r. 773 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 29. Januar 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 1, Berichte 1726 I–VI, 24r–25v sowie 27r–27v. 774 Vgl. Bericht Rabutins an Karl VI. v. 4. Mai 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 1, Berichte 1726 I–VI, 169r. 775 Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 293 (1726), 434. 776 Vgl. Bericht Campredons an Morville v. 7. Mai 1726, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 354.
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mit den russischen Ministern sowie dem Herzog von Holstein und dem Fürsten Mensˇikov bereits über die Bühne gegangen seien und er sich dabei um eine möglichst baldige Audienz bei der Zarin bemüht habe.777 Keine Rede also von den bisherigen Problemen der Visiten, bei denen es stets darum ging, wem die Ehre des ersten Besucht-Werdens gebührt. Im Gegenteil, aus den Berichten Campredons geht hervor, dass die russischen Würdenträger dem kaiserlichen Vertreter ein bislang keinem Gesandten entgegengebrachtes Verhalten an den Tag legten, indem Mensˇikov, Golovkin, Ostermann und Tolstoj ihn aus freien Stücken als Erste aufsuchten. Davon wollte sich der sichtlich verwunderte Franzose jedoch nicht entmutigen lassen, da er vor allem aufgrund von Rabutins scheinbarem Hauptinteresse – der Thronfolge des Großfürsten – noch zu viele Trennungsmomente bei der Annäherung der beiden Mächte vermutete:778 »Je ne t¦moigne pas la moindre inqui¦tude de toutes ces distinctions affect¦es«779 – so seine Verhaltensstrategie gegenüber den übrigen politischen Akteuren. Dieses Faktum wurde auch von anderen politischen Beobachtern als bemerkenswert hervorgehoben. So berichtete das »Wienerische Diarium« ebenso wie die »Europäische Fama«, dass Ostermann von der russischen Herrscherin dazu beauftragt worden sei, Rabutin von sich aus die Ehre zu erweisen.780 Zu den von Campredon angesprochenen Distinktionen zählte dieser auch die Tatsache, dass Rabutin einen Tag nach seiner abendlichen Ankunft bereits mit dem schwedischen Gesandten bei Bassewitz zum Mittagessen eingeladen wurde und daraufhin den ganzen Abend beim Herzog von Holstein verbrachte. Schon tags darauf wurde er von der Zarin zur Audienz gebeten – ein Eifer, der laut Campredon bislang wahrscheinlich noch keinem ausländischen Gesandten in Russland entgegengebracht worden sei.781 Wir sehen also, dass auch die Schnelligkeit des ersten Empfangs als Gradmesser für die zwischenstaatlichen Beziehungen herangezogen wurde. Ansonsten verlief die Audienz bei der Zarin unspektakulär, weshalb Rabutin dieser Begegnung auch nur wenige Zeilen widmete. So spielte sich das Treffen bei näherer Betrachtung nach den bereits bekannten Standards am russischen Hof ab. Rabutin begab sich, wie bei privaten 777 Vgl. Bericht Rabutins an Karl VI. v. 30. April 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 1, Berichte 1726 I–VI, 123r–126r. 778 Vgl. Bericht Campredons an Morville v. 7. Mai 1726, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 351–353. 779 Bericht Campredons an Morville v. 7. Mai 1726, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 353. 780 Vgl. Wienerisches Diarium v. 20. April 1726, Nr. 32, [4]; Wienerisches Diarium v. 24. April 1726, Nr. 34, [2]; Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 292 (1726), 232–233. 781 Vgl. Bericht Campredons an Morville v. 30. April 1726, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 348.
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Audienzen üblich, gemeinsam mit Legationssekretär Hochholzer zum Winterpalast der Zarin, wo sie von einem Kammerjunker bei der Treppe empfangen wurden. Dieser führte sie ins Vorzimmer des Empfangsraumes, wo Rabutin die Tür zum Audienzsaal von einem Hofmarschall geöffnet wurde. Die bei einem Tisch stehende Herrscherin sei dem Ambassadeur nach dessen erfolgter Referenz entgegengekommen, woraufhin seine Anrede und die Übergabe der Credentialien stattgefunden habe. Nachdem Katharina Großkanzler Golovkin das Schreiben übergeben hatte, ließ sie über den neben ihr stehenden Vizekanzler Ostermann ihre russische Antwort übersetzen, in der sie die »ganz besondere Hochachtung nebst der aufrichtigen Neigung zur engeren Zusammensetzung« zum Ausdruck gebracht habe. Daraufhin entfernte sich Rabutin mit demselben Zeremoniell aus dem Audienzzimmer und fuhr in seinem Wagen nach Hause.782 Diesen standardisierten Empfang haben sich jedoch nicht alle politischen Beobachter erwartet. So war das »Wienerische Diarium« offensichtlich davon überzeugt, dass Rabutin eine öffentliche Audienz erhalten würde. Demzufolge kündigte die Zeitung ihren Lesern an, dass der kaiserliche Gesandte unter Beteiligung der Garderegimenter, der Staatsminister sowie des Senats empfangen werden solle.783 Die Gazette stützte sich dabei – wahrscheinlich aus Mangel an offiziellen Informationen des Wiener Hofes – offensichtlich auf eine Fehlmeldung und war damit verständlicherweise schlechter informiert als die russischen Blätter vor Ort. In den »Vedomosti« wurde nach erfolgtem Empfang kurz und bündig festgehalten, dass die Zarin den kaiserlichen Vertreter bei einer Privataudienz im Winterpalast empfangen habe.784 Dem schnellen privaten Empfang durch die Zarin folgten sogleich weitere Ehrenbezeugungen im Rahmen der ersten Feste Rabutins am russischen Hof. So wurde das bereits angesprochene Geburtstagfest des Herzogs von Holstein auch dazu genutzt, um dem kaiserlichen Gesandten besondere Ehrenbezeugungen entgegenzubringen. Das machte er unter anderem daran fest, dass er als Erster zur Rechten des Jubilars sitzen durfte und nach ihm alle anderen ausländischen Vertreter folgten. Besonders merkbar seien die Distinktionen für den Kaiser zu spüren gewesen, als die Zarin nach ihrem ersten Tost auf den Herzog von Holstein gleich als Zweites auf die Gesundheit des Kaisers getrunken habe. Während sie Rabutin einen »Pokal zugebracht« habe, seien gleichzeitig die Kanonen gelöst worden. Ebenso seien »die Stücke gelöst« worden, als er darauf den Zutrunk erwiderte. Darüber hinaus habe die Zarin noch weitere »partikulare und öffentliche Kennzeichen« ihrer großen Distinktion gegenüber dem Kaiser darge782 Vgl. Bericht Rabutins an Karl VI. v. 30. April 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 1, Berichte 1726 I–VI, 126r–127r. 783 Vgl. Wienerisches Diarium v. 4. Mai 1726, Nr. 36, [3]. 784 Vgl. Sankt Peterburgskie Vedomosti v. 23. April 1726, Nr. 18, [1].
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bracht.785 Dieses Beispiel zeigt ganz deutlich, dass die Akteure aus ihrem großen symbolischen Wortschatz vor allem derartige Mikroriten auswählten, um die ersten öffentlichen Freundschaftsbekundungen gegenüber dem fremden Diplomaten UND seinem Herrscher zum Ausdruck zu bringen. Der mit Freundlichkeiten überhäufte Rabutin fand es daraufhin gar nicht mehr notwendig, die noch folgenden Ehrenbekundungen einzeln aufzulisten. So hielt er über das kurz darauf stattfindende Fest anlässlich des Jahrtages der Krönung Katharinas fest, dass er beim gemeinsamen Festmahl mit allen anderen in- und ausländischen Vertretern »abermals ganz sondere Bezeugung« von der Zarin »zu verspüren« bekommen habe.786 Der Wiener Hof zeigte sich über den guten Start seines Vertreters äußerst erfreut, weshalb Schönborn ihm im Namen des Kaisers zu den Ehren- und Freundschaftsbezeugungen im Rahmen des Geburtstagsfests des Herzogs gratulierte. Gleichzeitig bat er den Gesandten, der Zarin nicht nur den kaiserlichen Dank über diese Gesten, sondern auch dessen unbedingten Wunsch nach einem gemeinsamen Bündnis zu übermitteln.787 Andere zeigten sich angesichts dieser »honneurs excessifs« von Seiten der Zarin weit weniger erfreut. So hielt Campredon gegenüber seinem Hof fest, dass Rabutin bei allen Gastmählern demonstrativ einen Ehrenplatz zugewiesen bekäme. Dies sei auch der Grund dafür gewesen, warum er selbst beim vorangegangenen Fest zum Krönungsjahrtag der Zarin auch ausgeblieben sei. So habe er damit jenen Leuten seine Verachtung entgegenbringen wollen, die aufgrund ihres ungebührlichen Verhaltens keine andere Reaktion verdienen würden. Der hörbare Zorn des Gesandten über diese Zurücksetzung lässt sich überdies damit erklären, dass Rabutin im Unterschied zu allen anderen Gesandten gekrönter Häupter mit einer stärkeren Leibgarde distinguiert worden sei.788 Angesichts seiner bereits Ende April 1726 angeordneten Abberufung, um am französischen Hof einen mündlichen Bericht über die Lage im Norden abzugeben, konnte sich Campredon diese indirekten Frustrationsäußerungen auch leisten.789 Der französische Vertreter hatte offensichtlich nichts mehr zu verlieren, was aus seiner letzten Relation aus Russland hervorgeht. Darin kündigte er seine Abreise für den letzten Tag im Mai an. Obwohl er seine Abberufung bereits 785 Vgl. Bericht Rabutins an Karl VI. v. 4. Mai 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 1, Berichte 1726 I–VI, 143r–146r ; Brikner, Diplomaty, 543. 786 Vgl. Bericht Rabutins an Karl VI. v. 21. Mai 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 1, Berichte 1726 I–VI, 204v. 787 Vgl. Weisung Schönborns an Rabutin v. 29. Mai 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 112, Weisungen 1726, 92r–92v. 788 Vgl. Bericht Campredons an Morville v. 20. Mai 1726, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 361. 789 Vgl. Weisung Morvilles an Campredon v. 25. April 1726, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 364.
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eineinhalb Monate zuvor am russischen Hof angekündigt habe, hätten dessen Minister bei der Verabschiedung kein Wort über die Vergangenheit oder die Zukunft verloren. Jede Hoffnung, dass diese sich noch ändern würden, wäre daher ein Irrglaube.790 Der deutlich spürbare Frust Campredons ist angesichts der langen Vorgeschichte seiner erfolglosen Verhandlungen sowie der eben geschilderten Rahmenereignisse rund um seine Abreise nicht weiter verwunderlich.791 Für jene Beobachter, die keinen Einblick in die diplomatischen Berichte hatten, waren die Gründe für seinen Unmut nicht so offensichtlich. Ohne weitere Informationen zu haben, hielt die »Europäische Fama« angesichts der schnellen, abschiedslosen Abreise von Campredon fest, dass diese »einigem Verdruss« zuzuschreiben sei, den er am russischen Hofe empfangen haben soll.792 Überdies zeigen die Berichte Rabutins, dass dieser seinen Triumph sichtlich auskostete. So habe er als Zeichen des »gar merklichen Unterschieds« gegenüber den übrigen ausländischen Vertretern sowie der »scheinbaren Consideration« für seinen Charakter vom russischen Hof eine 24-köpfige Leibwache zur Verfügung gestellt bekommen, wie wir es bereits von Campredon gehört haben. Üblicherweise bestehe eine Leibwache nur aus fünf Personen, seine jedoch überträfe jene der anderen damit nicht nur zahlenmäßig um ein Vielfaches, sondern zeichne sich auch durch zwei Unteroffiziere, einen Tambour sowie eine »wohl equipierte Barque« und zehn Ruderleute aus. Die dadurch zum Ausdruck kommende Distinktion sei »umso ansehnlicher«, als etwa der schwedische Ambassadeur als Zeichen seiner hervorragenden Stellung zwar einen Leutnant, jedoch keine stärkere Leibwache zur Seite gestellt bekommen habe. Außerdem sei es schon seit langer Zeit nicht mehr üblich, ausländischen Ministern ein eigenes Fahrzeug anzuvertrauen. Auch wenn vor ihm bereits Kinsky ein halbgedecktes Schiff zur Verfügung gestellt bekommen habe, so sei die geschickte »Parsch« dennoch als ein Zeichen besonderer Distinktion zu betrachten.793 Doch die Betonung der Außergewöhnlichkeit dieser Geste ebenso wie deren nochmalige Hervorhebung in der privaten Korrespondenz mit dem Prinzen Eugen war gar nicht notwendig,794 um den heimischen Hof von seinem Erfolg zu überzeugen. Schönborn reagierte prompt, freute sich, Rabutin im Namen des 790 Vgl. Bericht Campredons an Morville v. 28. Mai 1726, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 362–364. 791 Vgl. Brikner, Diplomaty, 539–541. 792 Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 296 (1726), 680. 793 Vgl. Bericht Rabutins an Karl VI. v. 11. Mai 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 1, Berichte 1726 I–VI, 180r sowie 182/2r–182/3r ; Brikner, Diplomaty, 521. 794 Vgl. Bericht Rabutins an Prinz Eugen v. 21. Mai 1726, HHStA, Große Korrespondenz (GK), Prinz Eugen von Savoyen, Kt. 103 b/c, Rabutin aus Berlin und Russland, 95r–95v.
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Kaisers zu der »am dortigen Hof empfangenden so ansehnlichen Unterscheidung gratulieren zu können«, und ließ den russischen Ministern den kaiserlichen Dank dafür ausrichten.795 Unter dem starken Eindruck dieser Ehrenbezeugungen, die etwa auch in der »Europäischen Fama« hervorgehoben wurden,796 richtete die Weltöffentlichkeit ihren Blick auf die Verhandlungen des kaiserlichen Gesandten in St. Petersburg. Das zeigt eine Weisung Morvilles an den in Russland als Berichterstatter und ohne diplomatischen Charakter verbliebenen Sekretär Campredons, Jean Magnan, der den Gesprächen Rabutins seine volle Aufmerksamkeit schenken sollte.797 Liest man die in der bisherigen Forschungsliteratur vorgenommenen Rekonstruktionen dieser Verhandlungen, so entsteht auf den ersten Blick der Eindruck, als würden darin unterschiedliche Ereignisse beschrieben. So stützen sich die einzelnen, nationalgeschichtlich ausgerichteten Arbeiten auf die diplomatischen Korrespondenzen IHRES Hofes und legen daher unterschiedliche Schwerpunkte bei der inhaltlichen Zusammenfassung der Bündnisgespräche. Eine Zusammenführung dieser Werke lässt jedoch die wichtigsten Verhandlungsfragen sichtbar werden und ermöglicht damit eine Rekonstruktion der Ereignisse, in der die Interessen beider Seiten ausreichende Berücksichtigung finden. So dienen uns diese Werke als Lieferanten eines unabdingbaren Faktenwissens, auf dessen Basis in weiterer Folge die Rahmenhandlungen der Gespräche beleuchtet werden können. Zunächst lassen sich auf Basis dieser Darstellungen zwei große Verhandlungsetappen festmachen: Eine Unterredung zwischen Rabutin und Ostermann vom 25. Mai 1726, bei der die inhaltlichen Grundpfeiler auf Basis von im Februar und April von den Wiener Konferenzministern ausgearbeiteten Bündnisprojekten sowie nachfolgender zusätzlicher Instruktionen für Rabutin festgelegt wurden. Die daraus resultierenden, vorläufigen Ergebnisse wurden dann zur weiteren Ausverhandlungen nach Wien geschickt, wo Lanczinski Ende Juli mit den Konferenzministern zusammentraf. Die darin getroffenen Kompromisse dienten schließlich als Grundlage für die Allianz, welche im August 1726 in Wien unterzeichnet wurde. Den ersten Konfliktpunkt der Verhandlungsrunden stellten die Bedingungen des Beitritts Russland zum Bündnis des Kaisers mit Spanien dar. Die Wiener Minister wollten da wie dort auch eine Akzession der Zarin zum Handelsvertrag mit Spanien erreichen, um sich deren Unterstützung in 795 Vgl. Weisung Schönborns an Rabutin v. 5. Juni 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 112, Weisungen 1726, 94r–94v. 796 Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 292 (1726), 333. 797 Vgl. Weisung Morvilles an Campredon v. 20. Juni 1726, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 370; G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 75, Sankt-Peterburg 1891, XVII–XX.
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Angelegenheiten der Ostendischen Handelskompanie sicher zu sein. Für Russland war ein derartiger Schritt jedoch ausgeschlossen, da es dadurch nicht nur seine Handelsbeziehungen mit Großbritannien und den Niederlanden in Gefahr sah, sondern auch einen offenen Konflikt mit diesen Mächten befürchtete. Ostermann lehnte den Beitritt strikt ab und legte eine Streichung eines entsprechenden Handelsparagraphen als Bedingung fest, was schließlich auch von Lanczinski in Wien durchgesetzt werden konnte. Trotz dieser versöhnlichen Haltung gegenüber den Seemächten wurde der Bündnisschluss vor allem durch die damalige Politik Englands vorangetrieben. Nachdem London von den zu Gunsten des Herzogs von Holstein stattfindenden Kriegsvorbereitungen Russlands gegen Dänemark erfuhr, entschied es sich zu einer abschreckenden Machtdemonstration, indem es eine aus 20 Schiffen bestehende Flotte ins Baltikum auslaufen ließ.798 Ein weiterer Konfliktpunkt der parallel zu diesen Ereignissen stattfindenden Verhandlungen war die Frage der gegenseitigen Anerkennung der Besitzungen beider Mächte, die auch in unmittelbarem Zusammenhang mit einer gemeinsamen Politik gegenüber der Pforte stand. Die kaiserlichen Verhandler sträubten sich zunächst gegen eine Garantie der asiatischen Besitzungen Russlands, da dies für sie einer Offensivallianz gegen die Türkei gleichkam. Doch die russische Seite zeigte sich in diesem Fall nur wenig kompromissbereit und stimmte lediglich dem Abschluss eines Geheimartikels in dieser Frage zu. Darin sollte die Garantie der kaspischen Provinzen sowie eine militärische Hilfe des Kaisers im Falle eines Kriegs mit der Pforte festgelegt werden. Nach dem Durchdringen dieser Position zum Wiener Hof konnte Prinz Eugen in den Verhandlungen mit Lanczinski schließlich erreichen, dass sich der »casus foederis« auf Europa, Kazan’ und Astrachan’ beschränke und die Heerpflicht nur im Falle eines Angriffs von Seiten der Pforte bestehe. Nach außen hin garantierte der Kaiser durch die Abfassung dieses geheimen Zusatzartikels nur die europäischen und baltischen Provinzen Russlands und war überdies zu keiner Schützenhilfe im Falle einer russischen Offensive verpflichtet. Die Frage der Hilfstruppen sowie deren Verpflegung wurde im Sinne einer schnellen Einigung auf die lange Bank geschoben, indem man sich auf Separatverhandlungen einigte, welche von Rabutin in Russland durchgeführt werden sollten. Mit dem Faktor Zeit spielte man ebenso in der Frage der Restitution Schleswigs. In einem von Seiten Russlands eingeforderten Separatartikel wurde festgelegt, dass dieses Problem nach Ablauf eines Jahres mit militärischen Mitteln entschieden werden sollte, falls es bis dahin nicht zu einer friedlichen Lösung gekommen sei.799 798 Vgl. Kliwar, Bündnisvertrag, 41–47; Nekrasov, Rol’, 98–102; Nelipovicˇ, Sojuz, 29–30; A. Sokolov, Navstrecˇu drug drugu. Rossija i Anglija v XVI–XVIII vv., Jaroslavl’ 1992, 208–210. 799 Vgl. Kliwar, Bündnisvertrag, 47–58; A. Lappo-Danilevskij, Rossija i Golsˇtinija, in: Is-
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Angesichts dieser Kompromisse fühlte sich Kliwar ganz im Sinne einer nationalgeschichtlichen Betrachtung des Bündnisvertrages als Österreicher von Russland über den Tisch gezogen. So hält er am Ende seiner Arbeit fest, dass Österreich auf ganzer Linie nachgegeben habe. Darüber hinaus hebt er abschließend die scheinbar entgegengesetzten Interessen hervor, die die beiden Mächte zu diesem Schritt bewegt hätten, und bezeichnete die Allianz als relativ ziel- und folgenlos – mit Ausnahme der damit verbundenen Verhinderung eines französisch-russischen Bündnisses.800 Die jüngeren Forschungsarbeiten kommen jedoch zu einem ganz anderen Schluss und heben vielmehr die verbindenden als die trennenden Elemente der Partnerschaft hervor. So betont etwa Nekrasov, dass das Bündnis auf beidseitigen Interessen hinsichtlich der Politik gegenüber Polen, Schweden und der Türkei beruht habe und die Basis für ein gemeinsames außenpolitisches Vorgehen in den 1730er-Jahren gewesen sei.801 Nelipovicˇ schlug in dieselbe Kerbe, indem er die von der Nationalhistoriographie nicht beachtete Anerkennung des Nystädter Friedens durch eine der wichtigsten europäischen Mächte als Vorteil dieses Zusammenschlusses für Russland betonte und in der gegenseitigen Garantie der europäischen Grenzen sowie einer gemeinsamen Türkeipolitik die verbindenden Elemente dieser Allianz sah. Für ihn sollte das Bündnis zum Programm für die außenpolitischen Beziehungen beider Mächte werden, da es in weiterer Folge nicht nur zu einem friedensstiftenden Element in Europa, sondern auch zu einem Garant der außenpolitischen Interessen beider Mächte wurde.802 Damit decken sich die Einschätzungen der letztgenannten Autoren mit den Bewertungen des russischen Chefverhandlers Ostermann. In seinen für den russischen Hofarchivar Miller auf Deutsch verfassten Erinnerungen über den Bündnisschluss machte er keinen Hehl daraus, dass er diesen Zusammenschluss in Anbetracht der damaligen Umstände als »großes und nützliches Werk« betrachtete. So sei die Zusammensetzung mit dem »österreichischen Hause« als eine für beide Mächte sehr »vorteilhafte Sache« angesehen worden, da sie gemeinsame Interessen in der Politik gegenüber der Pforte, Polen und Schweden gehabt hätten und wegen der fehlenden Grenzen zwischen beiden Reichen dazu geneigt gewesen seien, sich einander »alles Gute zu gönnen«.803 Auch aus den Relationen des als Beobachter der Verhandlungen abgestellten Magnans geht hervor, dass dieser aufgrund der verbindenden Elemente zwi-
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toricˇeskij Archiv 1 (1919), 255–282, hier : 267; Nekrasov, Rol’, 102–103; Nelipovicˇ, Sojuz, 30–31. Vgl. Kliwar, Bündnisvertrag, 58–65. Vgl. Nekrasov, Rol’, 104. Vgl. Nelipovicˇ, Sojuz, 32–33. Vgl. RGADA, f. 199, op. 1, 7 244, cˇ.1 [Bumagi, kasajusˇcˇiesja grafa Ostermana], d. 8 [Izvestie grafa Ostermana o sojuze Rossijskogo dvora s Rimsko-imperatorskim], 1r–2r.
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schen beiden Höfen keinen Zweifel am Erfolg derselben hegte. Gleichzeitig wird aus seiner Berichterstattung deutlich, dass er über die neuralgischen Punkte der Gespräche Bescheid wusste. So schrieb er etwa Ende Juni 1726 an Morville, dass das einzige Hindernis für den Abschluss des Bündnisses die gegenseitige Garantie der jeweiligen Besitzungen in Italien und Persien sei. Darüber hinaus sprach er im darauffolgenden Monat auch die Tatsache an, dass ein als Antwort auf die Vorschläge Wiens verfasstes Konterprojekt der russischen Minister bereits auf dem Weg zum Kaiser sei und im Falle seiner Zustimmung in Wien unterschrieben werden solle. Darin sei nicht nur die gegenseitige Garantie der Besitzungen vorgesehen, sondern auch ein Separatartikel über den Herzog von Holstein zu finden. Schließlich berichtete er kurz vor Bekanntwerden der Bündnisunterzeichnung, dass Graf Rabutin sehr beunruhigt über die aktuell stattfindende Annährung Schwedens an die »Herrenhausener Allianz« sei, da dies einen Bündnisschluss mit Russland verzögern könnte. Das wertete Magnan fälschlicherweise als Indiz dafür, dass der Kaiser allem Anschein nach auf die Garantie der Ostende-Kompanie bestehen würde. Am 27. August 1726 informiert er Morville schließlich über das Eintreffen der Nachricht der Bündnisunterzeichnung und hält bezüglich der erwähnten Streitpunkte konkretisierend fest: Der Vertrag enthalte nicht nur die erwähnten Garantien der Besitzungen, sondern die Zarin verpflichte sich auch zu einer Militärhilfe im Fall eines Angriffs auf den Kaiser – wobei von einer Unterstützung auf dem Meer keine Rede sei. Außerdem würden sich beide Mächte zur Vermittlung in der Frage der Restitution Schleswigs verpflichten, wobei sie im Notfall auch zu den Waffen greifen und eine Entschädigung in vollem Umfang mit Gewalt durchsetzen würden.804 Die bilateralen Verhandlungen fanden auch Eingang in die öffentliche Berichterstattung, deren Ausführlichkeit jedoch stark vom jeweiligen Printmedium abhing. Das »Wienerische Diarium« hielt sich äußerst bedeckt und informierte nur über die im medialen Diskurs stehenden greifbaren Ergebnisse der Gespräche. Der Wiener Hof hatte offensichtlich kein großes Interesse an einem Durchdringen dieses aktuellen politischen Wissens zu einer breiten Öffentlichkeit. Dafür spricht unter anderem auch der Umstand, dass die Inhalte der Verhandlungen lediglich über die Nachrichtenhochburgen Hamburg und Den Haag durchsickerten. So berichtete das »Wienerisches Diarium« im Mai lediglich über das Einsetzen von eifrigen Verhandlungen zwischen den russischen 804 Vgl. Bericht Magnans an Morville v. 29. Juni 1726, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 377; Bericht Magnans an Morville v. 20. Juli 1726, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 383; Bericht Magnans an Morville v. 24. August 1726, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt Peterburg 1888, 399; Bericht Magnans an Morville v. 27. August 1726, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, SanktPeterburg 1888, 399–400.
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und einigen fremden Ministern.805 Anfang Juni drang schließlich die Nachricht über die bereits im April erfolgten Beitritte der beiden Höfe zu den bestehenden Bündnissen an die Öffentlichkeit. Eine wichtige Begebenheit, durch die sich aus Sicht der Herausgeber die »Systemata« der verschiedenen Höfe verrücken würden.806 Mit dieser zielsicheren Prognose endete allerdings die Berichterstattung über die Bündnisgespräche in der Wiener Hofgazette. Im Gegensatz dazu tat sich die »Europäische Fama« durch eine äußerst aktive Kommentierung der aktuellen Ereignisse und eifrige Spekulationen über deren möglichen Ausgang hervor, wodurch abermals der qualitative Unterschied zwischen den von oben gesteuerten Tageszeitungen und den von unten kommenden Zeitschriften zu Tage tritt. Während des gesamten Jahres 1726 dreht sich die Berichterstattung der »Europäischen Fama« um die politische Lage in Europa, wobei die dem scheinbaren Endzweck der Ruhe am Kontinent dienende Umwerbung der Allianzlosen und die sich daraus ergebenden möglichen Bündnisse die Ausgangsfragen der Herausgeber darstellten. Angesichts der Verschlossenheit der Gesandten ungebundener Höfe war man jedoch zum Spekulieren gezwungen, wobei die gegenseitigen Beitritte Wiens und St. Petersburgs zu den bereits bestehenden Bündnissen im April 1726 einen ersten Anhaltspunkt für die weitere Entwicklung der Ereignisse darstellten. Wenngleich die »Fama« im Gegensatz zu den beobachtenden Diplomaten nichts über die neuralgischen Punkte der Verhandlungen in Erfahrung bringen konnte, so konstatierte sie trotz der offensichtlichen Annäherung eine Unentschlossenheit am russischen Hof, die sie vor allem an angeblichen Meinungsverschiedenheiten über die Wahl des Bündnispartners zwischen dem Senat und dem Obersten Geheimen Rat festmachte. Die bereits genannten Beschleunigungsfaktoren für den Bündnisabschluss – das Auftreten der englischen Flotte in der Ostsee sowie die gegen die Höfe in Wien und St. Petersburg/Moskau gerichtete Diplomatie Englands am türkischen Hof – blieben jedoch auch der historisch-politischen Zeitschrift nicht verborgen und wurden eifrig kommentiert. Auch die Anliegen des Herzogs von Holstein sowie den Einfluss seiner Vertreter stellten sie als entscheidend für die Allianz dar. Es ist überdies bezeichnend für die Qualität der Berichterstattung in der »Fama«, dass sie die Verhandlungen auch in Zusammenhang mit der Titelfrage brachte. Ohne Genaueres zu wissen, vermutete sie völlig richtig, dass der Absendung Rabutins und den darauffolgenden Gesprächen ein Vergleich in der Titelfrage vorangegangen sein musste. Hinsichtlich der Ratifikation der Beitrittsverträge hielt sie fest, dass bis dahin nichts über den
805 Vgl. Wienerisches Diarium v. 11. Mai 1726, Nr. 38, [5]; Wienerisches Diarium v. 18. Mai 1726, Nr. 40, [3]. 806 Vgl. Wienerisches Diarium v. 1. Juni 1726, Nr. 44, [6–7].
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darin verwendeten Titel der Zarin in Erfahrung gebracht habe werden können.807 So betont die Zeitschrift in ihrer ersten Ausgabe des Jahres 1727 hinsichtlich der geschlossenen Allianz, dass die Zarin darin »nicht anders als Majestät von ganz Russland« genannt würde. Daraufhin folgt die inhaltliche Zusammenfassung aller 14 offiziellen Vertragspunkte. Dieser Umstand zeigt, dass etwa auch einige »einleitende« Artikel, welche in der bisherigen Forschungsliteratur kaum oder nur am Rande Erwähnung fanden, für die Zeitgenossen von größter Bedeutung waren.808 Ein näherer Blick auf den Bündnisvertrag zeigt, dass die beiden Herrscher im Artikel eins einander – auch im Namen ihrer Nachfolger – »aufrichtige, ewige und beständige Freundschaft« versprachen (»vera perpetuaque constans amicitia« / »istinnaja vecˇnaja i postojannaja druzˇba«). Entsprechend Artikel vier des Bündnisses gelte diese nicht nur für die beiden Souveräne, sondern auch für ihre Vertreter an den auswärtigen Höfen, die sich dort nicht nur mit »freundschaftlichen Ratschlägen« (»consilia amice« / »druzˇeskie sovety«) begegnen, sondern sich auch gegenseitig mit vereinten Kräften in den Geschäften unterstützen sollten.809 Diese, wie wir wissen, keineswegs leeren oder unbedacht ausgesprochenen Worte ebenso wie die vorangegangenen Bewertungen der zeitgenössischen Akteure und Beobachter lassen keinen Zweifel daran, wie sehr den beiden Höfen an der Schaffung einer Allianz gelegen war. Auch die kommunikativen Rahmenhandlungen der Gespräche zeigen, wie sehr gerade der Wiener Hof an einem erfolgreichen Bündnisschluss interessiert war und mit welchem Einsatz sich sein Vertreter in Russland darum bemühte. Bereits Mitte Mai 1726 wandte sich Rabutin mit einer großen Bitte an Schönborn, um die Zarin und Mensˇikov – als den aus seiner Sicht mächtigsten Mann am russischen Hof – außerhalb der Verhandlungen für den Wiener Hof gewinnen zu können. So sei der Fürst über einen seiner Bediensteten an den kaiserlichen Vertreter herangetreten, um über ihn am Kaiserhof »ein paar schöne Wägen nach der Wienerischen neuesten FaÅon« für die Zarin und Aleksandr Danilovicˇ selbst zu bestellen. Wenngleich der Sekretär Mensˇikovs bei dieser Gelegenheit nicht nur genaue Pläne für die Kutschen, sondern auch die Ankündigung einer Bezahlung im Vorhinein gleich mit 807 Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 292 (1726), 321–323, 330–333 sowie 337; Theil 293 (1726), 425–426 sowie 433; Theil 295 (1726), 567–568; Theil 296 (1726), 678–680; Theil 300 (1727), 997–1000 sowie 1007–1008. 808 Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 300 (1727), 1038–1042. 809 Vgl. F. Martens, Sobranie Traktatov i Konvencij zakljucˇennych Rossiej s inostrannymi derzˇavami, Tom 1: Traktaty s Avstriej. 1648–1762 g. / Recueil Trait¦s et Conventions conclus par La Russie avec les Puissances ÊtrangÀres, Tome 1: Trait¦s avec l’Autriche. 1648–1762, Sankt-Peterburg 1874, 36 sowie 38.
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sich brachte, so sah Rabutin dies als »besonders gute Gelegenheit«, die Zarin und den Fürsten »ohngemein verbündlich und danknehmig« zu machen, wenn man die Wägen »auf eigene Kosten verfertigen« und sie »zum Präsent herein schicken könnte«. Der kaiserliche Gesandte bat Schönborn daher um Fürsprache in dieser Sache beim Kaiser, gab jedoch gleich zu bedenken, dass die entsprechend den Plänen über dem russischen Wappen angebrachten drei Kaiserkronen einigen Anstoß und Bedenken erregen könnten. Nichtsdestotrotz war Rabutin der Meinung, dass das Geschenk »hundertfaltige Zeichen und Nutzen nach sich ziehen« würde, wenn man darüber hinwegsehen und die Übergabe irgendwie bewerkstelligen könnte.810 Der Wiener Hof kümmerte sich vorerst nicht um diese Details und reagierte auf die Bitte seines Gesandten ungewöhnlich schnell mit Taten. Gleich nach Erhalt des Berichts von Rabutin kündigte Schönborn an, die Meinung des Kaisers in dieser Sache einholen zu wollen.811 Bereits Ende Juli gab Prinz Eugen seinem Korrespondenzpartner die Zusage, wonach die Angelegenheit in der Konferenz bereits besprochen worden sei und diese »die Sache auf die ein oder andere Weise« in die Wege leiten werde.812 Das Tätigwerden Eugens deutet darauf hin, dass Rabutin alle Hebel und Kanäle in Bewegung setzte, um in dieser Sache zu reüssieren. So hatte er sich zuvor auch an ihn mit der Bitte um Unterstützung gewandt, um die Zarin und den allmächtigen Fürsten durch die Geschenke »personellement« mit dem Wiener Hof »zu verbinden«. Aus diesem Bericht geht auch hervor, dass Katharina zur ursprünglichen Idee eines möglichen Ankaufs solcher Wägen durch die schönen Kutschen des kaiserlichen Gesandten angeregt worden war.813 Prinz Eugen stand zu seinem Wort und konnte seinen großen Einfluss bei Karl VI. geltend machen. Kurz vor Abschluss des Bündnisvertrags setzte Schönborn Rabutin davon in Kenntnis, dass sich der Kaiser dazu entschlossen habe, die Karossen nach Unterfertigung des Traktats auf eigene Kosten anfertigen zu lassen.814 Nach der Unterzeichnung folgte schließlich die knappe persönliche Zusage Karls VI. Die von Rabutin vorge-
810 Vgl. Bericht Rabutins an Karl VI. v. 14. Mai 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 1, Berichte 1726 I–VI, 180r sowie 196r–198v ; Brikner, Diplomaty, 522 sowie 535. Vgl. dazu auch: Döberl, Wägen, 301–302. 811 Vgl. Weisung Schönborns an Rabutin v. 5. Juni 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 112, Weisungen 1726, 95r. 812 Vgl. Brief Prinz Eugens an Rabutin v. 24. Juli 1726, HHStA, GK, Prinz Eugen von Savoyen, Kt. 103 b/c, Rabutin aus Berlin und Russland, 131v. 813 Vgl. Bericht Rabutins an Prinz Eugen v. 29. Juni 1726, HHStA, GK, Prinz Eugen von Savoyen, Kt. 103 b/c, Rabutin aus Berlin und Russland, 109r–110r. 814 Vgl. Weisung Schönborns an Rabutin v. 3. August 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 112, Weisungen 1726, 128r–128v ; Döberl, Wägen, 302.
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schlagenen Geschenke würden folgen, wobei sich Sinzendorf mit ihm darüber näher in Verbindung setzen werde.815 Der Kaiser nahm dabei Bezug auf einen weiter reichenden Plan Rabutins, der bereits zuvor von ihm ausgearbeitet worden war. Ziel dieses Entwurfs war neben der hauptsächlichen »Gewinnung der Gemüter«, von denen ein guter Teil des Engagements für den Kaiser am russischen Hof abhänge, auch die Möglichkeit, »ohnvermerkt« und »ohne Befürchtung einer Anstößigkeit« für den Großfürsten zu wirken. Dieser Plan sah einen mit Diamanten besetzten Degen sowie ein kaiserliches Handschreiben für Mensˇikov vor, der nach Ansicht Rabutins in seiner Funktion als Reichsfürst und General der russischen Armee damit am »besten vergnüget werde«. Die Mitglieder des Obersten Geheimen Rates – Apraksin, Golovkin, Tolstoj und Ostermann – erachtete er durch ein mit Diamanten besetztes Portrait des Kaisers am »annehmlichsten zu considerieren«, wobei er für Ostermann und Tolstoj eine geheime Partikulargratifikation vorsah. Ersterer habe nämlich den größten Einfluss in den auswärtigen Staatsgeschäften, während Zweiterer insgesamt »ziemlichen Credit« besitze. Durch eine besondere kaiserliche Zuwendung könnte Tolstoj überdies dazu gebracht werden, dass »an das Vorige nicht mehr gedacht werde«. Gemeint waren damit natürlich die seit der »Causa Aleksej« bestehenden Spannungen zwischen Tolstoj und dem Wiener Hof. Schließlich sah er für Bassewitz aufgrund seiner Verdienste um das bereits angesprochene Heiratsprojekt eine »eklatante Bezeigung der kaiserlichen Gnade« vor.816 Um ein Bündnis mit dem russischen Hof zu erreichen, war Karl VI. nicht nur zu dieser großzügigen Geschenkspolitik bereit. Sogar in der vom Kaiser sonst so kompromisslos betrachteten Titelfrage war er gewillt, ein wenig nachzugeben. So hatte Ostermann im Juli 1726 über Rabutin beim Kaiserhof nachfragen lassen, ob man in den künftigen Briefen des Wiener Hofs nicht von der »Majestät aller Reußen« anstelle der »Zarin« sprechen könne. Ohne dabei den getroffenen Kompromiss beeinträchtigen bzw. die Titulatur verändern zu wollen, hegte Ostermann die Hoffnung, dass Karl VI. gewillt sei, Katharina I. als »Freundin und künftiger Alliierten« diese »Gefälligkeit zu gönnen«.817 Der Kaiser zeigte sich tatsächlich gönnerhaft und ließ Rabutin nach der Unterzeichnung des Vertrages wissen, dass in den Schriftstücken seiner Minister und der Kanzlei sowie in mündlichen Unterredungen die Ansprache »Majestät von allen Reu815 Vgl. Weisung Karls VI. an Rabutin v. 7. August 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 112, Weisungen 1726, 147v ; Döberl, Wägen, 302. 816 Vgl. Plan Rabutins über die Geschenke für den russischen Hof nach erfolgtem Bündnisschluss o.D., ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 112, Weisungen 1726, 348r–349v ; Brikner, Diplomaty, 522–523 sowie 527–528. 817 Vgl. Bericht Rabutins an Schönborn v. 9. Juli 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 2, Berichte 1726 VII–XII, 301/10v–301/11r.
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ßen« bzw. »totius Russiae Majestas« verwendet werden könne. In seinen eigenen Handschreiben sei dies jedoch nicht möglich, da ihm selbst dieses »allerhöchste Ehrenwort« in der Korrespondenz mit auswärtigen Höfen zustehe und er keinem König die Majestät zuschreibe.818 Dieses, angesichts seiner bisherigen Haltung bemerkenswerte Entgegenkommen in der Titelfrage blieb von der bisherigen Forschung völlig unbeachtet und wurde lediglich von Nelipovicˇ als Forderung von russischer Seite für das Bündnis hervorgehoben.819 Ansonsten blieb der Kaiser trotz der Annäherung in der Titelfrage jedoch knallhart. Das zeigen die Instruktionen für seinen Vertreter anlässlich der im August stattfindenden Reise des russischen Hofes nach Kronstadt und Peterhof. Nachdem Rabutin diesbezüglich um Verhaltensvorgaben gebeten hatte, wies ihn Karl VI. dazu an, wie schon vor ihm Kinsky daran teilzunehmen, da er bei den herrschenden Umständen überall dort nötig und nützlich sein werde, wo sich das dortige Hoflager befinde. Von möglichen »öffentlichen Geprängen der anmaßlichen Kaiserwürde wegen« habe er sich jedoch »auf natürliche Art zu enthalten«, schärfte ihm der Kaiser vorsichtshalber nochmals ein.820 Die von Rabutin als Spazierfahrt bezeichnete Exkursion nach Kronstadt und Peterhof nutzte der Gesandte auch dazu, seinen Hof über die Bedeutung des Flottenhafens zu informieren. Sich unter anderem auf das Urteil eines mitreisenden und erfahrenen schwedischen Offiziers berufend, stellte er den Hafen vor allem wegen seiner günstigen Lage und der guten Befestigung als »nirgendwo accesible« dar und bezeichnete die russischen Flottenschiffe als unglaublich »gut beschaffen«.821 Der Anblick des Sommerpalasts Peterhof, der von seinen Vorgängern noch ausführlich beschrieben worden war, war in Wien offensichtlich bereits bekannt, weshalb Rabutin nur sehr knapp festhielt, dass die schönen Wasserfälle im Garten das Bemerkenswerteste seien. Die Kürze ist nicht weiter verwunderlich, schließlich kam es während seines Aufenthaltes in Peterhof zu wichtigeren Ereignissen. Als Rabutin mit der gesamten Reisegesellschaft an der Tafel Platz genommen hatte, erhielt der Gesandte die Nachricht des Kaisers, wonach das Bündnis mit dem russischen Hof am 6. August 1726 in Wien unterzeichnet worden sei. Der Herzog von Holstein sowie Mensˇikov hätten diese Neuigkeit »mit großer Freude aufgenommen«. Die Zarin zeigte sich angesichts der Nachricht »desto mehrer vergnüget«, da sie nunmehr »ein unzweifelbares Ver818 Vgl. Weisung Karls VI. an Rabutin v. 7. August 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 112, Weisungen 1726, 129r sowie 135r ; Brikner, Diplomaty, 535. 819 Vgl. Nelipovicˇ, Sojuz, 30. 820 Vgl. Weisung Karls VI. an Rabutin v. 10. August 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 112, Weisungen 1726, 112r–112v. 821 Vgl. Bericht Rabutins an Schönborn v. 31. August 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 2, Berichte 1726 VII–XII, 183r–183v.
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trauen auf die Freundschaft« setzen könne. Jetzt würde an der »beidseitigen festen Zusammenhaltung niemals zu zweifeln sein«, so die Herrscherin in ihrer ersten Reaktion weiter. Rabutin sei daraufhin zum sichtlichen Missfallen der übrigen mitgereisten Gesandten weiterhin mit vorzüglichem Unterschied und Ehrenbezeugungen behandelt worden. Das führte ihn zu dem Schluss, dass einem Minister nicht mehr Ehre erwiesen werden könne, weshalb er sich im selben Atemzug die Frage stellte, wie das »Werk« weiterhin in »gleichem Ansehen« zu erhalten sein würde.822 Von der angesprochenen Freude machte sogar der ohne diplomatischen Charakter in St. Petersburg befindliche und daher nicht mitgereiste französische Berichterstatter Magnan Notiz. So schrieb er an Morville, dass der russische und der holsteinische Hof so offen ihre Begeisterung über das Bündnis zur Schau stellen würden, da sie sich allem Anschein nach große Vorteile von dem Zusammenschluss erwarten würden.823 Um die Freude des alliierten Hofes aufrechtzuerhalten, wurde gleich nach dem Bündnisschluss mit den Arbeiten an den erwähnten Geschenkswägen begonnen. Nichtsdestotrotz musste Sinzendorf Rabutin Ende August 1726 darüber informieren, dass diese wohl nicht vor Frühling des darauffolgenden Jahres nach St. Petersburg gebracht werden könnten.824 Der kaiserliche Gesandte konnte jedoch offensichtlich nicht so lange warten. So berichtete er etwa zwei Monate später nach Wien, dass die »gegenteiligen Kronen« – gemeint war damit vor allem England und seine Annäherungsversuche an Mensikov – ihren »Betrieb« um den russischen Hof nicht »sinken« lassen würden, weshalb er es als notwendig erachtete, die vorgeschlagenen Geschenke zu »beschleunigen«.825 Doch diesem Wunsch konnten die Verantwortlichen des Kaiserhofes nur bedingt entsprechen, obwohl Schönborn Rabutin Anfang November versicherte, dass man »auf das Emsigste« mit der Anfertigung der Präsente beschäftigt sei. Die dabei anzuwendende Feinarbeit könne die Dauer bis zur Fertigstellung derselben daher bis zu einem Jahr verzögern. Zumindest konnte der Reichsvizekanzler Rabutin dahingehend vertrösten, dass ein Schreiben des Kaisers für den Fürsten Mensˇikov demnächst folgen und er sich beim Souverän über ein mögliches zweites Geschenk für ihn erkundigen werde. Außerdem denke man augen-
822 Vgl. Bericht Rabutins an Schönborn v. 31. August 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 2, Berichte 1726 VII–XII, 183v–184v ; Brikner, Diplomaty, 512. 823 Vgl. Bericht Magnans an Morville v. 31. August 1726, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 401. 824 Vgl. Weisung Sinzendorfs an Rabutin v. 31. August 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 112, Weisungen 1726, 264v ; Döberl, Wägen, 302. 825 Vgl. Bericht Rabutins an Schönborn v. 22. Oktober 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 2, Berichte 1726 VII–XII, 95r.
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blicklich darüber nach, wie man Bassewitz angesichts seiner Verdienste vergnüglich belohnen könne.826 Bassewitz war einer der ersten Akteure am russischen Hofe, dem der Kaiser seine Bemühungen um das Zustandekommen der Allianz im wahrsten Sinne des Wortes abgelten wollte. Karl VI. nannte es ein »Gnaden-Gedächtnis in der Stille«, als er Rabutin kurz vor Schönborn über das Resultat des erwähnten Nachdenkprozesses informierte, wonach er Bassewitz 30.000 Gulden und dem Favoriten der Zarin, Kammerherr Reinhold Gustav Löwenwolde, 2.000 Gulden zukommen lassen wolle.827 Diese Entscheidung resultierte aus den vorangegangenen Bemühungen Rabutins, der den Kaiser und den Prinzen Eugen noch vor dem Bündnisschluss über die Wichtigkeit der Gewinnung des für die Interessen Wiens agierenden Holsteiners sowie des Kammerherrn und gleichzeitig engen Vertrauten der Herrscherin informierte.828 Ersterer zeigte sich gegenüber Rabutin für die stille Dankesbekundung äußerst dankbar, indem er ihn nach Erhalt der Nachricht auch weiterhin seiner »unsterblichen Treue« und seines »verpflichtetsten Eifers« für den kaiserlichen Dienst versichert habe.829 Seine Hände im Spiel hatte der kaiserliche Vertreter nach eigenen Angaben auch bei einer wesentlich publikumswirksameren Geste, die etwa zum selben Zeitpunkt über die Bühne gehen sollte. So konnte Rabutin mit der Unterstützung des Herzogs von Holstein beim Obersten Geheimen Rat die Erhöhung Lanczinskis zum Envoy¦ durchsetzen, wogegen sich zunächst scheinbar Ostermann ausgesprochen hatte. Besonders hellhörig macht das Argument Rabutins, womit er dieser Sache Vorschub geleistet haben soll. So bezeichnete er diese »Consideration« für Lanczinski gegenüber dem russischen Hof als ein »laut redendes Zeichen« für das »Publico«, an dem man die Zufriedenheit über die durch den russischen Gesandten »eingegangene« und »geschlossene« Allianz messen könne. Die Wortwahl Rabutins ist also ein deutlicher Beweis für die Aussagekraft, die mit der Erhöhung eines diplomatischen Vertreters am fremden Hof einherging.830 Daher waren solche Gesten auch nicht folgenlos und zeigten Wirkung. Der Kaiser habe darüber sein »allergnädigstes Vergnügen bezeiget«, so 826 Vgl. Weisung Schönborns an Rabutin v. 2. November 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 112, Weisungen 1726, 293r–293v ; Döberl, Wägen, 302. 827 Vgl. Weisung Karls VI. an Rabutin v. 19. Oktober 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 112, Weisungen 1726, 285v. 828 Vgl. Bericht Rabutins an Prinz Eugen v. 30. Juli 1726, HHStA, GK, Prinz Eugen von Savoyen, Kt. 103 b/c, Rabutin aus Berlin und Russland, 133r–133v ; Bericht Rabutins an Karl VI. v. 8. Juni 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 1, Berichte 1726 I–VI, 180r sowie 28r ; Brikner, Diplomaty, 525–527 sowie 529–530. 829 Vgl. Bericht Rabutins an Schönborn v. 19. November 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 2, Berichte 1726 VII–XII, 133r–134r. 830 Vgl. Bericht Rabutins an Karl VI. v. 6. Oktober 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 2, Berichte 1726 VII–XII, 23r–23v sowie 26r.
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Schönborn über dessen erste Reaktion, da er um den Eifer Lanczinskis für den Dienst an seiner Souveränin und dessen Wohlmeinung für das »gemeinsame Wesen« Bescheid wisse.831 Für den Betroffenen bedeutete die Ernennung zum außerordentlichen Gesandten (»cˇrezvycˇajnyj poslannik«) nicht nur eine Rangerhöhung, sondern gleichzeitig auch einen sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg. So wurde dem im Jahre 1717 zum Botschaftssekretär ernannten Lanczinski nach seiner Berufung zum Kammerjunker und Minister im Jahre 1721 und einer darauffolgenden Erhöhung zum Kammerherrn im Jahre 1724 nunmehr der Titel eines Wirklichen Kammerherrn verliehen. Das war im diplomatischen Dienst Russlands gängige Praxis, da jenen russischen Vertretern im Ausland, die keinen Staats- oder Militärrang besaßen, per Petrinischem Dekret aus dem Jahre 1722 das Hofamt eines Kammerjunkers verliehen wurde. Lanczinski erhielt durch den weiteren Aufstieg in der Hofämterhierarchie nunmehr ein Gehalt von 6.000 Rubel, das dem des Vizekanzlers Ostermann gleichkam.832 Nach diesem öffentlichkeitswirksamen Vorspann der Zurschaustellung des guten zwischenstaatlichen Verhältnisses nahm Rabutin das traditionelle Namenstagsfest des Kaisers zum Anlass, um die bilaterale Hochblüte im ganz großen Stil zu inszenieren. Bereits Ende Oktober kündigte er Schönborn an, dieses Fest angesichts der »gegenwärtigen Konjunkturen mit etwelcher größerer Solemnität« zelebrieren zu wollen, weshalb er die »Russländische Majestät« mit ihren gesamten Herrschaften zu sich eingeladen habe.833 Dafür verwandelte er sein Palais in einen Festpalast, indem er es nach eigenen Angaben außen mit 6.000 Lampen sowie innen mit ein paar tausend Wachslichtern schmücken und die Gemächer und Tafeln auf das Prächtigste herrichten ließ. So habe er etwa die Tafel der Zarin zu Ehren des Jubilars in Form eines »C« aufstellen und mit 50 Gedecken ausstatten lassen, während alle anderen Tische mit 30 Gedecken versehen worden seien. Um die offensichtlich stattliche Gästeanzahl bedienen zu können, habe Rabutin unter Berufung auf die »freundschaftliche Kommunikation« mit den anderen Gesandten nicht nur auf seine eigenen Diener, sondern auch auf jene der übrigen Diplomaten zurückgegriffen. Trotz dieser intensiven Vorbereitung machte es eine plötzliche Erkrankung dem Gastgeber nicht möglich, selbst die Funktion des Wirts beim Fest zu übernehmen. So schlüpfte 831 Vgl. Weisung Schönborns an Rabutin v. 2. November 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 112, Weisungen 1726, 293r. 832 Vgl. Ageeva, Ceremonial, 35; Bantysˇ-Kamenskij, Obzor, 47, 50, 51 sowie 53; Polnoe Sobranie Zakonov Rossijskoj Imperii (PSZRI), s 1649 goda. Bd. 6: 1720–1722, Moskva 1830, 7 3969, 656; RGADA, f. 199, op. 2, 7. 389, cˇ.1, d. 4 [Skol’ko polucˇali zˇalovanija upravljavsˇie ministerstvom inostrannych del v carstvovanie Petra I i Anny Ioannovny], 1r. 833 Vgl. Bericht Rabutins an Schönborn v. 22. Oktober 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 2, Berichte 1726 VII–XII, 95r–95v.
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der diesbezüglich bereits geübte Herzog von Holstein für ihn in diese Rolle, der bei der Bedienung scheinbar hervorragend von Hochholzer unterstützt wurde.834 Ungeachtet dieser unglücklichen Umstände erschien Katharina I. mitsamt den Prinzessinnen sowie dem Großfürsten beim Fest und habe alles getan, um die »Würde des Fests« zu erheben. Dazu zählte Rabutin unter anderem die Tatsache, dass für diesen Tag ein allgemeiner Feiertag anbefohlen und alle Geschäfte geschlossen wurden. Überdies haben der Herzog sowie die Zarin voll beflaggte Jagdschiffe vor sein an der Neva gelegenes Haus schicken lassen, von denen aus – ebenso wie von der Peter und Pauls Festung und der Admiralität – Kanonen abgefeuert worden seien. Schließlich haben der Herzog von Holstein sowie Fürst Mensˇikov ihre Palais anlässlich des Fests illuminieren lassen. Als besonders bemerkenswert erachtete Rabutin jedoch die Tatsache, dass sich die russische Herrscherin erstmals seit dem Ableben Peters I. »in reicher Kleidung habe sehen lassen«, einen polnischen Tanz mit dem Herzog gemacht sowie unter genauer Observation der Herrschaften auf den Kaiser und die Kaiserin getrunken habe und schließlich mit größtem Vergnügen bis nach Mitternacht geblieben sei.835 Gerade die eben geschilderte Anwesenheit der fremden Herrscherin sowie die sonstigen Bezeigungen ihrer »vorzüglichsten Hochachtung« für den Kaiser erachtete Rabutin als besonders bemerkenswert, da die Zarin üblicherweise eben nicht bei den Festen ausländischer Minister erscheinen würde. Ganz generell habe das Fest nicht nur »gegenwärtig«, sondern auch »zukünftig« einen »unvergleichlichen Effekt« am russischen Hof erzielt. So habe die dadurch zum Ausdruck gebrachte Ehrenbezeigung bei der russischen Nation einen besonderen Eindruck hinterlassen und würde diese mit »Mut« und »Vertrauen« in Richtung des Kaisers blicken lassen.836 Aus diesen Einschätzungen Rabutins wird die Aussagekraft von Festen im Allgemeinen deutlich. So zeigt das Beispiel des Namenstagsfests Karls VI., dass derartige Anlässe auch zur Abbildung sozialer Verhältnisse zwischen den Herrschern genutzt wurden. Durch die be834 Vgl. Bericht Rabutins an Karl VI. v. 9. November 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 2, Berichte 1726 VII–XII, 110r–110v sowie 112r–113r ; Bericht Rabutins an Prinz Eugen v. 9. November 1726, HHStA, GK, Prinz Eugen von Savoyen, Kt. 103 b/c, Rabutin aus Berlin und Russland, 147v–148r ; Brikner, Diplomaty, 511. 835 Vgl. Bericht Rabutins an Karl VI. v. 5. November 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 2, Berichte 1726 VII–XII, 106r–107r ; Bericht Rabutins an Karl VI. v. 9. November 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 2, Berichte 1726 VII–XII, 110v–112r sowie 113r ; Bericht Rabutins an Schönborn v. 9. November 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 2, Berichte 1726 VII–XII, 122v–124r ; Brikner, Diplomaty, 511 sowie 544. 836 Vgl. Bericht Rabutins an Karl VI. v. 5. November 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 2, Berichte 1726 VII–XII, 107r–107v ; Bericht Rabutins an Karl VI. v. 9. November 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 2, Berichte 1726 VII–XII, 113r–113v.
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wusste Einbindung der fremden Herrscherin im Rahmen des Fests wurde auch ihre Aufnahme in den Kreis der Freunde des Kaisers zum Ausdruck gebracht. Der Wunsch Katharinas nach Integration in bzw. Teilhabe an dieser Gesellschaft zeigte sich wiederum anhand der aktiven Teilnahme derselben. Und mit ihr gliederten sich nicht nur die Souveränin selbst, sondern auch die ganze russische Nation und das Volk in die Reihe der Freunde des Wiener Hofes ein. Das spiegelt sich nicht nur in der regen Beteiligung der russischen Hofelite, sondern auch in der Ausrufung eines öffentlichen Feiertages und der damit verbundenen Ladenschließung wider.837 Anhand der Gegenüberstellung mit den bereits geschilderten Namenstagsfesten Karls VI. in den Vorjahren lässt sich gerade auch am Beispiel dieses Ereignisses im Jahre 1726 die Annäherung der beiden Höfe ablesen. Diese pompöse Inszenierung des guten Verhältnisses fand daher auch ihren Widerhall in den Berichten anderer politischer Beobachter. So druckte das »Wienerische Diarium« gleich zwei Berichte ab, die sich inhaltlich im Wesentlichen mit den Darstellungen Rabutins decken. So wird auch darin vor allem die durch die Anwesenheit und das Verhalten Katharinas I. zum Ausdruck kommende »Freundschaft« und »Hochschätzung« der Herrscherin für den Jubilar akzentuiert.838 Nicht nur Lobeshymnen über die gute Wirkung des Fests finden wir hingegen in den diesbezüglichen Berichten Magnans. So bezeichnete er es zwar als »magnifique festin« und betonte ebenfalls die Anwesenheit des gesamten russischen Hofes und der Zarin sowie deren Feierstimmung, wies gleichzeitig jedoch auch auf die keineswegs zufällige Abwesenheit von Vertretern des russischen Hofs hin. So habe sich Rabutin vor allem über das unverhaltene Misstrauen des Grafen Tolstoj gegenüber dem Kaiserhof geärgert, da dieser in Absprache mit seinem Freund und Verwandten, dem Grafen Apraksin, bewusst ausgeblieben sei.839 Diese Randnotiz Magnans macht erneut den Mehrwert der Gegenüberstellung der verschiedenen diplomatischen Korrespondenzen deutlich und zeigt überdies die Nachhaltigkeit des langjährigen persönlichen Konflikts zwischen Tolstoj und dem Wiener Hof sowie seiner Vertreter, der auch nach dem Bündnisschluss nicht vergessen werden konnte. Abgesehen davon erfreute sich Rabutin am russischen Hof größten Ansehens, was wenige Wochen später durch die Verleihung des Andreasordens an ihn 837 Vgl. dazu etwa die Beiträge von Michael Maurer: »Prolegomena zu einer Theorie des Fests« sowie »Systematik des Fests« in: Michael Maurer (Hg.), Das Fest. Beiträge zu seiner Theorie und Systematik, Köln 2004, 44–47 sowie 74–80. 838 Vgl. Wienerisches Diarium v. 27. November 1726, Nr. 95, [2]; Wienerisches Diarium v. 11. Dezember 1726, Nr. 99, [1]. 839 Vgl. Bericht Magnans an Morville v. 9. November 1726, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 447; Bericht Magnans an Morville v. 19. November 1726, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 450–451.
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öffentlich manifestiert werden sollte. Vermutungen darüber hatte der Ambassadeur gegenüber Sinzendorf bereits im Oktober geäußert. Dabei zeigte er sich jedoch überaus bescheiden und hielt nach der Bitte um diesbezügliche Verhaltensanweisungen fest, dass er selbst nicht lange über eine Ablehnung abwägen würde, wenn diese Entscheidung sich nur nach ihm richtete.840 Die weiteren Ereignisse zeigen jedoch, dass Rabutin in dieser Sache sogar indirekten Druck auf den russischen Hof ausübte. Dabei nutzte er die damals umstrittene Frage der Verleihung des Andreasordens an den Großfürsten auch für sich. So hatte Katharina im Laufe der Monate Oktober und November gemeinsam mit dem Herzog von Holstein ein Heiratsprojekt für ihre von unterschiedlichen Seiten umworbene Tochter ausgehandelt, in dem sich die beiden auf die Hochzeit zwischen Prinzessin Elisabeth sowie dem Cousin des Herzogs und Bischof von Lübeck, Karl August von Holstein (1706–1727), einigten. Nachdem alles unter Dach und Fach zu sein schien, entschloss sich die Herrscherin, ihren künftigen Schwiegersohn sogleich mit dem Andreasorden auszuzeichnen.841 Rabutin nutzte diese Entscheidung nach eigenen Angaben dazu, um sich für den Großfürsten stark zu machen. Da er über die kritische Haltung des russischen Hofs hinsichtlich der Verleihung an Petr Alekseevicˇ informiert war, habe er den einflussreichen Bassewitz davon überzeugen können, dass eine Übergehung desselben angesichts der Verleihung an den Bischof nicht ratsam wäre und eine solche ein »gefälliges Ansehen« von Seiten der hiesigen Nation bekommen würde.842 Will man den diesbezüglichen Darstellungen Magnans Glauben schenken, so handelte es sich dabei nur um die halbe Wahrheit. So habe sich Rabutin in der angesprochenen Sitzung zunächst darüber echauffiert, dass der russische Hof seine bereits getätigten Versprechungen mit dem Argument rückgängig habe machen wollen, dass der Andreasorden nur an Träger des Alexanderordens verliehen werden könne. Dies sei vom kaiserlichen Vertreter als besonders ungebührlich wahrgenommen worden, da diese Regel bei Bassewitz und Mardefeld noch nicht gegolten habe, die das blaue Ordensband bereits zuvor erhalten hatten. Als man schließlich dieses Argument auch in Hinblick auf den Großfürsten eingebracht hatte, habe Rabutin seinen Unmut geäußert und seinen Willen in der Sitzung mit Bassewitz durchsetzen können.843 840 Vgl. Bericht Rabutins an Sinzendorf v. 6. Oktober 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 2, Berichte 1726 VII–XII, 34r. 841 Vgl. Evgenij Anisimov, Afrodita u vlasti. Carstvovanie Elizavety Petrovny, Moskva 2010, 73–74; Fransina Dominik Lisˇtenan, Elizaveta Petrovna, Imperatrica ne pochozˇaja na drugich [Übersetzung des französischen Werks von Francine-Dominique Lichtenhan: Eisabeth Ire de Russie. L’autre imp¦ratrice, Paris 2007], Moskva 2012, 43–48. 842 Vgl. Bericht Rabutins an Karl VI. v. 3. Dezember 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 2, Berichte 1726 VII–XII, 181r. 843 Vgl. Bericht Magnans an Morville v. 10. Dezember 1726, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom
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Wie auch immer der kaiserliche Vertreter in diese Sache verwickelt gewesen sein mag, so gab er sich gegenüber dem heimischen Hof bezüglich der Verleihung äußerst überrascht. Es ist von besonderem Vorteil für die Bewertung der Ereignisse, dass Rabutin zu diesem Zeitpunkt noch keine genauen Verhaltensvorgaben seines Hofes hatte. So musste er seine Entscheidung vor der Annahme des Ordens in einem Bericht rechtfertigen, der uns weiteren Aufschluss über die Funktion derartiger Auszeichnungen in der frühneuzeitlichen Diplomatie bietet. Rabutin wusste über die Notwendigkeit einer Zustimmung des Kaisers hinsichtlich der Annahme der Auszeichnung einer fremden Macht Bescheid, weshalb er seine Entscheidung zunächst damit rechtfertigte, dass er im Falle möglicher Einsprüche bereits eine eindeutige Antwort auf seine Vermutung im Oktober bekommen hätte. In seiner weiteren Argumentation schiebt er das Ansehen des Großfürsten und des Kaisers als Begründung für seine weiteren Handlungen vor. So ermangele es ihm bei der Ablehnung des Ordens an einer »gültigen Ausrede«, da er selbst zuvor die Auszeichnung für den kaiserlichen Neffen vorangetrieben habe. Dies habe dazu geführt, dass die beiden gemeinsam mit dem Fürsten von Lübeck als Einzige am diesjährigen Ordensfest das Ordensband überreicht bekommen sollten, während andere Vornehme des Reiches zurückgesetzt worden seien. Überdies müsse der Orden als weiteres Zeichen des Anstiegs der »Consideration« und des »Vertrauens« für den Kaiser gedeutet werden. Dadurch könnten alle auswärtigen Kronen erkennen, dass es keinen Grund für die viel gehegte Annahme einer Uneinigkeit an und mit dem russischen Hof gäbe und die Herrscherin mit dem Großfürsten durch »vereinigte consilia« verbunden sei. Schließlich – und das dürfte für den Kaiser wohl besonders wichtig gewesen sein – versicherte Rabutin, dass bei der Übergabe kein Schwur abgelegt und keine zweifelhafte, bedenkliche oder anstößige Zeremonie durchgeführt werden müsse.844 Darüber hinaus bediente er am Ende seiner Rechtfertigung den bereits bei seiner Anfrage an Sinzendorf durchklingenden Bescheidenheitsgestus. So werde der Kaiser aus seiner Relation erkennen, dass er sich nicht aus »Leichtsinnigkeit« oder »eitlem Ehrgeiz« auf die Sache eingelassen habe. Wenngleich er über den »Wert« und die »Ehre« solcher Dinge Bescheid wisse, so sei er von Natur aus nicht sehr stark davon eingenommen und hätte dem allem nicht zugestimmt, wenn diese Entscheidung nicht in völliger Übereinstimmung mit dem kaiserlichen Dienst stehen würde. Seinen Entschluss habe er schließlich vom Rat des Herzogs von Holstein abhängig gemacht, an den er sich gemäß seiner Hauptinstruktion in schwierigen Fragen wenden solle. Dieser habe ihm versichert, 64, Sankt-Peterburg 1888, 447; Bericht Magnans an Morville v. 19. November 1726, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 470. 844 Vgl. Bericht Rabutins an Karl VI. v. 10. Dezember 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 2, Berichte 1726 VII–XII, 192r–192v.
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dass der Herrscherin eine Ablehnung »höchst missliebig« sein würde und er durch eine Annahme in jedem Fall zum Besten für den kaiserlichen Dienst handeln würde.845 Abgesehen von diesen abschließenden selbstdarstellerischen Elementen zeigt die Argumentation Rabutins, dass derartige Ordensverleihungen als Symbol für die guten zwischenstaatlichen Beziehungen eine große Rolle in der frühneuzeitlichen Diplomatie spielten. Diese kommunikative Funktion wurde sogar im Statut des Andreasordens festgehalten, wonach Ausländer, die sich der Dynastie wohlwollend gegenüber bezeigt oder sich in deren Dienst gestellt haben, mit dieser hohen Auszeichnung bedacht werden konnten.846 Daraus kann also geschlossen werden, dass die russische Herrscherin damit auch ihre Zufriedenheit mit dem bisherigen Agieren Rabutins und dem positiven Ausgang der Bündnisverhandlungen zum Ausdruck bringen wollte. Gleichzeitig zeigen die vorangegangenen Ausführungen, dass der russische Hof zu diesem Zeitpunkt noch keine klaren Regeln für die Ordensübergabe an ausländische Minister etabliert hatte. Dies ist nicht weiter verwunderlich. So geht aus den Aufzeichnungen des russischen Hofarchivs hervor, dass Rabutin zu den ersten sechs ausländischen Diplomaten seit der Ordensgründung im Jahre 1698 gehörte, die diese Ehrung im relativ kurzen Zeitabstand von 1725 bis 1726 erhalten haben.847 Der von Magnan angesprochene Rückzugsversuch des Versprechens gegenüber Rabutin dürfte daher nicht nur eine Folge politischen Kalküls, sondern auch ein Ergebnis fehlender normativer Richtlinien gewesen sein. Im Laufe der darauffolgenden Jahre und Jahrzehnte etablierte sich ein klar festgelegtes Zeremoniell für die Ordensübergabe an fremde Diplomaten, die eine Überreichung im Paradezimmer des Palasts, ohne Teilnahme der höfischen Öffentlichkeit vorsah.848 So bekam etwa Rabutins Nachfolger, Graf Wratislaw, im Jahre 1730 den Andreasorden fast unter den eben genannten Umständen verliehen – allerdings im Beisein der übrigen in- und ausländischen Minister.849 Wenngleich nicht alle Aufzeichnungen des russischen Hofes Rabutin als Ritter des Andreasordens führen und er selbst auch keinen Bericht über die Verleihung nach Wien schickte,850 so lassen die Berichte anderer politischer 845 Vgl. Bericht Rabutins an Karl VI. v. 10. Dezember 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 2, Berichte 1726 VII–XII, 191v sowie 194r–194v. 846 Vgl. Andrej Leonidevicˇ Chazin, Stanovlenie nagradnoj sistemy Rossii v konce XVII–XVIII vv., Phil. Diss. Moskva 2008, 74–75. 847 Vgl. RGADA, f. 199, op. 1, 7. 150, cˇ.9 [Stat’i i izvestija istorii Rossii], d. 8 [O rossijskich ordenach], 4r–4v. 848 Vgl. Ageeva, Ceremonial, 711–712. 849 Vgl. Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 29. Mai 1730, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 6, Berichte 1730 IV–XII, 182r–183v. 850 In einer Ende des 18. Jahrhunderts verfassten Liste des Kollegiums für Quswärtige Angelegenheiten scheint Rabutin nicht als Kavalier des Andreasordens auf. Vgl. RGADA, f. 164 [Posol’skij prikaz i kollegija inostrannych del »Dela o rossijskich kavalerijskich orde-
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Beobachter keinen Zweifel daran, dass ihm der Orden tatsächlich überreicht wurde – allerdings nicht im Palast, sondern im Rahmen des orthodoxen Gottesdienstes anlässlich des Ritterfests. Davon zeugt etwa ein Bericht Magnans, wonach Rabutin im Rahmen des alljährlichen Ordensfests der Orden aus der Hand der Zarin überreicht worden sei.851 Die »Vedomosti« und das »Wienerische Diarium« hielten diesbezüglich konkretisierend fest, dass die Herrscherin anlässlich des Fests zunächst den Gottesdienst in der Dreifaltigkeits-Kathedrale gefeiert habe, wo sie den Orden zunächst an den Großfürsten, dann an den Bischof von Lübeck und schließlich an den Grafen von Rabutin übergeben habe.852 Die in den darauffolgenden Jahren stattfindende Änderung des Überreichungsortes dürfte wohl auch damit zusammenhängen, dass die nicht-orthodoxen Gesandten bereits zur Zeit Peters, vor allem aber unter seinen Nachfolgern höchst selten zu den orthodoxen Gottesdiensten geladen wurden.853
3.1.3. Zusammenfassung: Die Kommunikationsstrategien der außenpolitischen Akteure und deren Widerhall in den verwendeten Schlüsselbegriffen ihrer Interaktion In Anknüpfung an die am Ende der vorangegangenen Großkapitel stehenden Zusammenfassungen 2.2.3. und 2.3.4. wollen wir die Ereignisse dieser intensiven diplomatischen Annäherungsphase mit Blick auf die von den Akteuren verwendeten Schlüsselbegriffe nochmals Revue passieren lassen. Eine Kategorisierung der in Frage kommenden Termini sowie ihrer in Abhängigkeit von den jeweils aktuellen bilateralen Beziehungen stehenden situativen Gebrauchszusammenhänge wurde darin bereits begonnen und soll nunmehr durch die Ergebnisse der vorangegangenen Abschnitte ergänzt werden. Schon der erste Leseeindruck der im Zentrum der folgenden Analyse stehenden Ausführungen dürfte gezeigt haben, dass die diplomatischen Ereignisse der Jahre 1725 bis 1726 aufgrund der inflationären Verwendung des Schlüsselwortes »Freundschaft« auch eine Konkretisierung und Erweiterung des Begriffsfeldes dieses vielschichtigen Terminus ermöglichen. So lassen diese Betrachtungen erneut die konkreten politischen Intentionen und Wirkungen der Kommunikation unter den Akteuren beider Höfe noch deutlicher sichtbar werden. nach«], op. 1, d. 2a [Spiski zˇalovannym s Kavalery 1) Sv. Andreja i 2) Sv. Aleksandra – prislannye (1794 goda) iz kollegii 1700–1744], 33r–33v. 851 Vgl. Bericht Magnans an Morville v. 17. Dezember 1726, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 474; Vgl. dazu auch: Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 300 (1727), 1013. 852 Vgl. Wienerisches Diarium v. 29. Jänner 1727, Nr. 9, [9–10]; Sankt Peterburgskie Vedomosti v. 3. Dezember 1726, [13–14]. 853 Vgl. Ageeva, Ceremonial, 713–714.
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Bereits Hochholzers Interaktion mit dem russischen Hof sowie die parallel dazu verlaufenden Ereignisse in Wien wiesen auf die zunehmend freundschaftlichen Beziehungen zwischen Wien und St. Petersburg/Moskau nach dem Regierungsantritt Katharinas I. hin. Entsprechend den normativen Vorgaben des frühneuzeitlichen (diplomatischen) Briefzeremoniells, wonach »gute Freunde« einander über wichtige (persönliche) Ereignisse notifizieren, benachrichtigte die neue russische Herrscherin ihren »freundlich geliebten Bruder« Karl VI. über den Tod Peters I. und ihre Thronfolge. Der aufgrund der aktuellen europäischen Bündniskonstellationen an einer Annäherung an das ungebundene Russland interessierte römisch-deutsche Kaiser brachte dieses Interesse zum Ausdruck, indem er unter Bezugnahme auf die vorangegangene diplomatische Eiszeit zwischen den beiden Höfen seine Hoffnung auf eine »Fortsetzung der Freundschaft« gegenüber dem russischen Vertreter Lanczinski betonte. Damit nahm er nach mehrjährigem Schweigen erstmals wieder diesen Schlüsselbegriff in den Mund und ließ durch Hochholzer sein Beileid an dem Verlust eines »bewährten«, »beständigen« und »guten Freundes« überbringen. Gleichzeitig brachte der Legationssekretär die Hoffnung des Kaisers zum Ausdruck, in Katharina eine ebenso »gute Freundin« zu finden, um auch weiterhin eine »Erhaltung« des »guten Verständnisses« und »Ruhestandes« zwischen beiden Reichen zu gewährleisten. Die russische Herrscherin bestärkte diese Hoffnung des Kaisers, indem sie ihre »beständige Freundschaft« versicherte sowie den Wunsch zur »Befestigung dieser beharrlichen Freundschaft« äußerte. Für den von beiden Seiten angesteuerten Annäherungskurs stellte jedoch der ausführlich beschriebene Kompromiss in der Titelfrage eine unabdingbare Grundlage dar, da dieser durch die Festlegung der gegenseitigen Ansprache und des Briefwechsels nicht nur die Wiederaufnahme der direkten Kommunikation auf höchster Ebene ermöglichte, sondern gleichzeitig auch die damit zum Ausdruck gebrachte Nähe und Freundschaft zwischen den beiden Höfen symbolisch manifestierte. Diese Einigung war auch die formale Voraussetzung für die Absendung eines hochrangigen kaiserlichen Ambassadeurs nach Russland. Die Reaktionen auf die Ankündigung dieser Gesandtschaft zeigten erneut, dass der Rang oder Charakter eines Diplomaten von den politischen Akteuren und Beobachtern als Seismograph für die Beziehungen der austauschenden Herrscher wahrgenommen wurde. So ließ Hochholzer etwa ganz bewusst Gerüchten über die Rückkehr Kinskys freien Lauf und bestärkte diese durch den Beisatz, dass die »enge Freundschaft« zwischen den beiden Höfen ein guter Grund für eine solche Gesandtschaft sei. Die russischen Minister bestätigten ihm daraufhin das Interesse Katharinas an der »perpetuierlich hohen Freundschaft« Karls VI., wobei das unerwartet »freundliche« Verhalten des kaiserkritischen Grafen Tolstoj gegenüber dem Legationssekretär besondere Erwähnung fand. Unter dem Eindruck dieser wohlwollenden Reaktionen, die aus Sicht des Legations-
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sekretärs auf die Anbahnung einer »langwierigen Freundschaft« hindeuteten, riet er dem Kaiser schließlich auch die Anschaffung eines fixen Botschaftsgebäudes in St. Petersburg an, um das gute Verhältnis sozusagen auch architektonisch zu manifestieren. Politische Gegner wie der preußische König betrachteten die Gesandtschaft hingegen als ein ungewünschtes Indiz für eine »große Vertraulichkeit« und »enge Zusammensetzung« zwischen Wien und St. Petersburg/Moskau. Dieser semantische Streifzug durch die Anfangsphase der zwischenstaatlichen Annäherung lässt abermals jene Aufladungen und Synonyme der Freundschaft zum Vorschein kommen, die bereits in vorangegangenen Zeitabschnitten zur Herstellung eines guten zwischenstaatlichen Klimas verwendet worden waren. Mit der Übergabe des kaiserlichen Notifikationsschreibens und der Aufnahme von Bündnisverhandlungen im Rahmen der öffentlichen Audienz Hochholzers wurde jedoch eine neue und bislang nie da gewesene Qualität der zwischenstaatlichen Freundschaft performativ dargestellt und verbal zum Ausdruck gebracht. So bediente sich Katharina im Rahmen der Audienz und im darauffolgenden Antwortschreiben über die Aufnahme der Bündnisverhandlungen einer ungewohnt eindeutigen Sprache. Die beim Empfang ersichtlich werdende »wahre Freundschaft« und die »aufrichtigen Sentiments« des Kaisers führten sie unter anderem dazu, alles für das »gemeinsame Beste« tun, »die kaiserliche Freundschaft mit Sorgfalt kultivieren« und sich für eine »mehrere und unauflöslichere Befestigung« derselben einsetzen zu wollen. Während bislang der Wille zur Herstellung der Freundschaft durch eine adjektivische Aufladung mit den Worten »angenehm«, »heilsam«, »lieb« und »teuer« betont wurde, so ließ die russische Herrscherin an ihrer Entschlossenheit nur noch wenig Zweifel, indem sie von einer »aufrichtigen Begierde« und einem ebensolchen »Verlangen« sprach, sich mit dem Kaiser »auf das festeste und genaueste zu verbinden«. Motivation für dieses Anliegen waren die bereits an anderer Stelle betonten Ziele der »Wohlfahrt« und »Ruhe«, die durch diese »Zusammensetzung« erreicht werden sollten. »Verbinden« und »Zusammensetzen« waren die geflügelten Worte bei der Anbahnung des Bündnisses nach der Ankunft Rabutins am russischen Hof. So wurde damit jener Annäherungsprozess beschrieben, der letztlich in die vielfach angesprochene Befestigung und Herstellung einer wahren Freundschaft münden sollte. Dementsprechend brachte Katharina I. bei der Audienz Rabutins »ihre aufrichtige Neigung zur engeren Zusammensetzung« zum Ausdruck. Dieser Wunsch wurde durch die anschließenden Ehrenbezeugungen für den Botschafter und das Verhalten gegenüber dem kaiserlichen Vertreter im Rahmen der offiziellen Veranstaltungen bei Hofe offen zur Schau gestellt, sodass der französische Gesandte Campredon angesichts dieser »distinctions affect¦es« in sichtliche Unruhe geriet. Rabutin hingegen wollte den Annäherungsprozess
Wiederaufnahme der diplomatischen Kommunikation auf höchstem Niveau
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durch eine großzügige Geschenkspolitik gegenüber dem russischen Hof vorantreiben und nützte dabei alle möglichen Informationskanäle nach Wien. Gegenüber dem Kaiser und dem Prinzen Eugen pries er zum Beispiel die Kutschen für die Zarin und den mächtigen Fürsten Mensˇikov als geeignetes Mittel an, um die beiden »ohngemeiniglich verbindlich« zu machen bzw. diese mit dem Wiener Hof »personellement« zu »verbinden«. Durch die genaue Betrachtung dieser von beiden Seiten sichtlich ernst gemeinten Annäherungspolitik konnte schließlich gezeigt werden, dass die durch den Abschluss des Allianzvertrags geglückte »Zusammensetzung« von den unterzeichnenden Höfen als »großes« und »nützliches Werk« und eine »vorteilhafte Sache« betrachtet wurde, wie es der russische Chefverhandler Ostermann in der Retrospektive formulierte. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass das am Ende dieses Verbindungsprozesses stehende Bündnistraktat an erster Stelle die Beschwörung einer »aufrichtigen«, »ewigen« und »beständigen Freundschaft« der Vertragspartner enthält. Ein Umstand, der von der bisherigen Historiographie als vertragsrhetorische Belanglosigkeit bei Seite gelassen wurde. Ebenso wenig Erwähnung fand darin die Tatsache, dass der Wiener Kaiser zu seriösen Zugeständnissen in der Titelfrage bereit war, um die Partnerschaft zustande zu bringen. So erklärte sich Karl VI. vor Abschluss der Allianz dazu bereit, seiner »Freundin« und »künftigen Alliierten« – ungeachtet des bereits getroffenen Kompromisses um die Anrede – die Bezeichnung »Majestät aller Reussen« zuzugestehen. Nach Abschluss des Bündnisses konnte die viel beschworene Freundschaft erstmals auch vor den Augen der Weltöffentlichkeit in den Mund genommen werden. In diesem Zusammenhang wollen wir uns etwa die Reaktion Katharinas I. auf das Bekanntwerden der Vertragsunterzeichnung in Erinnerung rufen. So brachte sie ihre Freude über die erfolgte Zusammensetzung in Peterhof vor den anwesenden auswärtigen Diplomaten mit den Worten zum Ausdruck, dass sie nunmehr ein »unzweifelbares Vertrauen auf die Freundschaft« des Kaisers setzen könne. Dieses »Vertrauen« gegenüber Karl VI. unterstrich sie in der Interpretation Rabutins sogleich durch die Verleihung des Andreasordens an den kaiserlichen Ambassadeur. Das Bild der wahren Freunde wurde im Anschluss durch die hofnahe Presse auch an eine breitere Öffentlichkeit transportiert. So hielt etwa das »Wienerische Diarium« hinsichtlich des ausführlich beschriebenen Auftretens Katharinas im Rahmen des Namenstagfests Karls VI. fest, dass darin die »Freundschaft« und »Hochachtung« der Herrscherin gegenüber dem Kaiser ihren Niederschlag gefunden habe.
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3.2. Durch politische und verwandtschaftliche Bande verbunden – eine Hochblüte bilateraler Kommunikation zwischen den Höfen Karls VI. und Peters II. (1727–1730)?
Abb. 12: Ein Portrait von Großfürst Petr Alekseevicˇ aus dem Fundus des Wiener Hofes – »Peter Alexiewitz des verstorbenen Caarewitzen Alexii Petrowitz hinterlassener eintziger Sohn«854
Die Besteigung des russischen Throns durch den Großfürsten Petr Alekseevicˇ, dem Neffen Kaiser Karls VI., im Mai 1727 führte aufgrund der engen politischen und verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Höfen zunächst zu einer Hochblüte der bilateralen Kommunikation. Dem ging allerdings ein monatelanges Ringen um die Sukzession Peters II. voraus, in das neben den russischen Hofparteien auch die kaiserlichen Gesandten involviert waren. Diese Phase stellt daher den Ausgangspunkt der Betrachtungen des Teilkapitels dar. Nachdem schließlich – auch durch die indirekte Einflussnahme des kaiserlichen Vertreters am russischen Hof – die Nachfolge Peters II. gesichert werden konnte, schienen die Beziehungen zwischen Wien und St. Petersburg/Moskau ihren Zenit erreicht zu haben. Der völlig unerwartete Tod des am russischen Hof und 854 Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv Austria, Digitale Sammlungen, Portraitsammlung, PORT_00033457_01.
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vor allem beim Zaren äußerst beliebten Grafen Rabutin veranlasste den Kaiser dazu, einen neuen hochrangigen Ambassadeur nach Russland zu schicken – Franz Carl Graf Wratislaw. Dieser musste zunächst das Vertrauen im fremden Machtzentrum erlangen, was unter anderem wegen seiner auf die Kaiserkrönung Peters II. zurückzuführenden späten Ankunft in Russland erschwert wurde. So sollen in diesem Abschnitt jene Kommunikationsstrategien betrachtet werden, die Wratislaw zur Brechung des Eises heranzog. Schließlich stellen die Mechanismen bei der weiteren Elitenbindung der außenpolitischen Akteure den Abschluss dieses Kapitels dar. Vor dem Hintergrund der sich immer weiter zuspitzenden internationalen Lage versuchten der Wiener Hof und seine Gesandten in einem Wettstreit mit den Vertretern der verfeindeten Machtblöcke, nicht nur den russischen Bündnispartner gewogen zu halten und die mit dem Herrscherwechsel einhergehenden neuen Eliten für sich zu gewinnen, sondern gleichzeitig auch auf innerrussische Angelegenheiten Einfluss zu nehmen: Das reichte etwa von der Erziehung des jungen Zaren, über seine Verheiratung bis hin zur Rückführung des unter Peter II. nach Moskau verlegten Hofes nach St. Petersburg.
3.2.1. Der Kaiser und sein Neffe, der Großfürst – Kommunikationsstrategien im innerrussischen Konflikt um die Thronfolge Peters II. Wie wir bereits aus dem vorigen Abschnitt erfahren haben, brachte die russische Herrscherin ihre Freude über die Freundschaft und Zusammensetzung mit dem Kaiser unter anderem durch eine ausgelassene Feierstimmung im Rahmen des Namenstagsfestes Karls VI. zum Ausdruck. Daraufhin erwartete sich Katharina offensichtlich ein reziprokes Verhalten von Seiten des Kaisers, wie aus den Berichten Rabutins Anfang des Jahres 1727 hervorgeht. Demzufolge habe sich Katharina eine »Gegenerweisung« anlässlich ihres Namenstages im Dezember 1726 erwartet. Das schloss Rabutin aus der Reaktion des russischen Hofes auf die entsprechenden Berichte Lanczinskis aus Wien. So habe man ihm daraufhin nicht nur zu verstehen gegeben, dass dies von russischer Seite als Geringschätzung des Kaisers gegenüber den veranstalteten Ehrenbezeugungen wahrgenommen worden sei, sondern gleichzeitig auch eine merkbare »Kaltsinnigkeit« entgegengebracht. Aus diesem Grund legte er seinem Souverän nahe, dass der im April stattfindende Geburtstag der russischen Herrscherin ein willkommener Anlass wäre, um die erwartete »äußerliche Demonstration« nachzuholen. Damit könne man nicht nur einer »persönlichen Abneigung« Katharinas und einem Schwinden des »Vertrauens« des russischen Ministeriums
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vorbeugen, sondern gleichzeitig auch dem Großfürsten etwas »zu Gute« kommen lassen.855 Der von Rabutin eingeforderte Handlungsbedarf erübrigte sich jedoch, da sich der Gesundheitszustand der russischen Herrscherin bis zu deren Geburtstag im April erheblich verschlechtern und sich der russische Hof zu diesem Zeitpunkt bereits mitten im Konflikt um die Nachfolge Katharinas befinden sollte. Aus den Berichten Magnans erfahren wir etwa, dass der letzte Geburtstag Katharinas I. im April 1727 tatsächlich ohne die üblichen Festivitäten begangen wurde.856 Ein weiterer Blick auf die Relationen von ihm und den übrigen auswärtigen Diplomaten zeigt außerdem, dass die beim Namenstag des Kaisers an den Tag gelegte Feierstimmung der Zarin per se keine allzu große Exklusivität besaß. So berichtete Magnan einige Wochen nach dem Fest beim kaiserlichen Vertreter, dass sich Katharina bei einem Ball des Bischofs von Lübeck bis in die frühen Morgenstunden vergnügt habe. Während sie bei Rabutin noch getanzt habe, so sei ihr dieses Mal jedoch eine deutlich merkbare Schwellung der Beine dabei ein Hindernis gewesen.857 Dieses Detail der Relation des französischen Berichterstatters deutet auf einen Umstand hin, der in Diplomatenkreisen zu diesem Zeitpunkt bereits seit einigen Monaten bekannt war. So berichtete Rabutin bereits im August 1726 nach Wien, dass ein am russischen Hof befindlicher preußischer Leibarzt die russische Herrscherin und später auch Rabutin untersucht habe. Bei dieser Gelegenheit habe er dem kaiserlichen Vertreter anvertraut, dass Katharina I. aufgrund ihres Gesundheitszustandes und Lebenswandels wohl kein langes Lebens mehr führen werde.858 Aus den Berichten Magnans erfahren wir mehr über diesen viel beachteten Lebenswandel der russischen Herrscherin. Demzufolge würde sich die Zarin nicht früher als um vier oder fünf Uhr morgens zur Ruhe begeben. Ende Dezember schilderte er, dass sich Katharina soeben erst von einer zehntägigen Krankheit erholt und sogleich ein Geburtstagsfest für ihre Tochter Elisabeth ausgerichtet habe. Obwohl sie selbst daran nicht teilgenommen habe, sei sie nach wie vor bei bester Laune, trinke und esse wie eh und je und lege sich erst in den frühen Morgenstunden schlafen. Die scheinbare Gleichgültigkeit der 855 Vgl. Bericht Rabutins an Karl VI. v. 14. Januar 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 3, Berichte 1727 I–VI, 39r–41r ; Brikner, Diplomaty, 544–545. 856 Vgl. Bericht Magnans an Morville v. 19. April 1727, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 548. 857 Vgl. Bericht Magnans an Morville v. 3. Dezember 1726, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 460. 858 Vgl. Bericht Rabutins an Sinzendorf v. 17. August 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 2, Berichte 1726 VII–XII, 168r ; Vgl. darüber hinaus zur Kenntnis der Diplomaten über Katharinas Gesundheitszustand: Anisimov, Kuda, 91–92; Bericht des kursächsischen bzw. polnischen Gesandten Le Fort an August II. v. 31 Dezember 1727, A.N. Popov/A. A. Polovcov (Hgg.), SIRIO, Tom 3, Sankt-Peterburg 1868, 456.
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Herrscherin und des russischen Hofes hinsichtlich ihres Gesundheitszustandes schilderte Magnan Anfang Jänner 1727: Demnach würde sich nach der Genesung der Zarin niemand dafür interessieren, ob sie sich eine Infektion zugezogen habe und dem Tode bereits nahe sei.859 Während sich der französische Berichterstatter für die Gesundheit anderer interessierte, war Rabutin zum selben Zeitpunkt vor allem um sein eigenes Wohlbefinden besorgt. So wissen wir bereits aus den Schilderungen des Namenstagsfests, dass der kaiserliche Gesandte selbst wegen einer akuten Erkrankung nicht daran teilnehmen konnte. Seine Berichte aus diesen Tagen und den darauffolgenden Monaten zeigen deutlich, dass es sich dabei um ernst zu nehmende, chronische Gesundheitsprobleme handelte. Knapp zwei Wochen nach dem Namenstagsfest war der Gesandte immer noch bettlägerig und fürchtete, aufgrund der einbrechenden Winterkälte das Haus weiterhin nicht verlassen zu können. Das angesprochene raue russische Klima war genau jener Umstand, der Rabutin zu schaffen machte. So berichtete er Ende 1726 und in den Folgemonaten gleich mehrfach darüber, dass die Kälte verstärkte Symptome seiner Gichterkrankung (»Podagra«) hervorrufen würde, die ihn aufgrund der damit verbundenen starken Schmerzen zum Teil mehrere Tage ans Bett fesseln und seinen Körper insgesamt schwächen würden. Wie ernst der Zustand Rabutins war, zeigt der Umstand, dass Schönborn Anfang Dezember 1726 im Namen des Kaisers und des gesamten Ministeriums ein Genesungsschreiben verfasste und darin auch Gerüchte über die »gefährlichen Umstände« von Rabutins Unpässlichkeit ansprach.860 Ungeachtet dieser starken gesundheitlichen Beeinträchtigungen konnte der Ambassadeur trotzdem seine Pflichten am fremden Hof erfüllen, da ihn die Krankheit zwar immer wieder sehr heftig, jedoch »nur« in Form von mehrtägigen Schüben befiel. Das schilderte er etwa Ende Februar 1727 besonders drastisch: »Meine schmerzen haben erst verwichene nacht angefangen nachzulaßen nachdeme sie bey 5 täge und nächte mit der größten heftigkeit unaufhörlich angehalten und ich die plagen an arm und bein zugleich gehabt, die zeit über habe weder speis noch tranck genießen können daß also die nachwehe d[er] kraftlosigkeit noch einige zeit emp859 Berichte Magnans an Morville v. 3. und 31. Dezember 1726 sowie 7. Jänner 1727, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 460, 481 sowie 485. 860 Vgl. Bericht Rabutins an Sinzendorf v. 16. November 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 2, Berichte 1726 VII–XII, 135r ; Weisung Schönborns an Rabutin v. 4. Dezember 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 112, Weisungen 1726, 293r ; Bericht Rabutins an Prinz Eugen v. 7. Dezember 1726, HHStA, GK, Prinz Eugen von Savoyen, Kt. 103 b/c, Rabutin aus Berlin und Russland, 152r ; Bericht Rabutins an Schönborn v. 28. Dezember 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 2, Berichte 1726 VII–XII, 340r ; Bericht Rabutins an Sinzendorf v. 22. Februar 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 3, Berichte 1727 I–VI, 120r–120v ; Brikner, Diplomaty, 514.
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funden werde, diese harte[n] anfälle muß ich der wiedrig[en] luft allhier zuschreiben, warumb auch sogar inländer [die] mit dem Podagra behaftet seye[n] stärker als anderwerts leiden müßen.«861
Dieser Auszug lässt wohl zu Recht vermuten, dass diese Attacken ein Mitgrund für den noch im selben Jahr erfolgten plötzlichen Tod Rabutins waren. Darüber hinaus deutet er darauf hin, dass sich mit Hilfe der Gesandtschaftsberichte auch die privaten Lebensumstände der frühneuzeitlichen Gesandten rekonstruieren lassen – eine Facette, die leider nicht für alle im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehenden Akteure berücksichtigt werden kann. Dies würde zu weit von den untersuchungsleitenden Fragen der Studie wegführen und den Rahmen der Dissertation sprengen. Krankheit war also ein zentrales Thema der diplomatischen Berichterstattung. Im Fall von offensichtlichen Gesundheitsproblemen des gastgebenden Souveräns wurde dieses Thema vielfach auch zum Politikum und stand im Zentrum der Aufmerksamkeit der ausländischen Vertreter. Das zeigen die weiteren Spekulationen rund um das Schicksal Katharinas I., deren Krankheit von Rabutin als drohende Gefahr für das Land dargestellt wurde.862 Der allseits bekannte Zustand der Herrscherin war also ein willkommener Anlass, um sich Gedanken über die umstrittene und konfliktbeladene Nachfolgefrage zu machen. Aus diesem Grund arbeitete der holsteinische Vertreter Bassewitz in Abstimmung mit Rabutin bereits Anfang Dezember 1726 ein Projekt aus, das nicht nur die Sukzession in Russland regeln, sondern gleichzeitig auch die unterschiedlichen Familienzweige der Dynastie zufrieden stellen sollte. Das geht klar und deutlich aus den einleitenden Paragraphen des Plans hervor, den der kaiserliche Vertreter mit einigen zusätzlichen Kommentaren an den heimischen Hof sandte. Konkret sollte dieser den »Wohlstand« und die »Einigkeit« der Familie sowie eine Versorgung der Kinder Katharinas gewährleisten. Demzufolge decke sich der Entwurf auch mit den Interessen der Herrscherin, da sie nicht an der Bildung von Parteien interessiert sein könne und von allen als »eine Mutter« verehrt werden wolle. Schließlich sei damit auch dem gesamten Reich und der Nation Genüge getan, die mit Hilfe des Projekts zur »Conservation« der »Macht« und »Ruhe« beitragen könnten.863 Angesichts der fehlenden Sukzessionsregelung scheinen diese Ziele auf den ersten Blick als sehr hoch gesteckt und verleiten dazu, sie als eine Art »Schmuckrhetorik« unbeachtet zu lassen.
861 Bericht Rabutins an Sinzendorf v. 25. Februar 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 3, Berichte 1727 I–VI, 133v. 862 Vgl. Melamud, Anteilnahme, 47–52. 863 Vgl. Bericht Rabutins an Karl VI. v. 3. Dezember 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 2, Berichte 1726 VII–XII, 166r–166v.
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Damit würde man jedoch jene Argumente übergehen, die der Autor in Hinblick auf die gewünschte Zustimmung der Herrscher beider Höfe einsetzte. Der Kaiser in Wien sollte natürlich durch das In-Aussicht-Stellen einer politischen und verwandtschaftlichen Verbindung mit dem künftigen russischen Herrscher gewonnen werden. In diesem Zusammenhang wurde jedoch zunächst festgehalten, dass der bereits vor einigen Jahren unter anderem von Graf Kinsky geschmiedete Plan einer Hochzeit zwischen dem Großfürsten und einer russischen Prinzessin aufgrund ihrer engen Anverwandtschaft nur sehr schwer umsetzbar sei. Da die Allianz mit dem Kaiser für den russischen Hof die »allernützlichste« sei und Karl VI. diesem aufgrund der fehlenden gemeinsamen Grenzen »die Vermehrung seiner Macht gerne gönnen« würde, könne durch die Nachfolge seines Neffen die Macht und Ruhe im russischen Reich am ehesten erhalten werden. Nachdem nunmehr die älteste Tochter Katharinas durch die Hochzeit mit dem Herzog von Holstein und ihre jüngere Schwester durch die geplante Vermählung mit dem Bischof von Lübeck versorgt worden seien, müsse Katharina nur noch dem Großfürsten die Nachfolge unter folgenden Auflagen zusichern, um den Erhalt des »Systema« zu gewährleisten. Peter solle eine holsteinische Prinzessin ehelichen. Katharina könne bis zu ihrem Lebensende regieren, wie es ihr beliebe. Im Falle eines Ablebens des Großfürsten ginge die Thronfolge entsprechend der üblichen Ordnung weiter : Prinzessin Anna, Prinzessin Elisabeth, Großfürstin Natal’ja. Schließlich sollten die erstgenannten Töchter Katharinas nicht nur standesgemäße Provinzen im Reiche bekommen, sondern auch die Fortführung der schwedischen Krone übernehmen. Es komme daher alles darauf an, so Rabutin in seinem Bericht über das Projekt von Bassewitz, wie die beiden Holsteiner und ihre Prinzessinnen mit Hilfe des Kaisers im Reich versorgt werden könnten.864 Es stellte sich jedoch sehr schnell heraus, dass dieser Plan eine Wunschvorstellung bleiben sollte. Noch im selben Monat benachrichtigte Rabutin seinen Hof darüber, dass das Projekt in abgeänderter Form der Zarin bereits übergeben worden sei. So habe der Herzog von Holstein die Sukzession des Großfürsten zwar herausgenommen, gleichzeitig jedoch die Garantie abgegeben, dass die holsteinischen Vertreter über die vereinbarte Hochzeit zwischen dem Bischof von Lübeck und der Prinzessin Elisabeth die Interessen des kaiserlichen Neffen vorantreiben würden. Das stimmte Rabutin offensichtlich ein wenig misstrauisch, weshalb er Bassewitz angesichts der neuen Ausgangslage geraten habe, dass der Herzog dem Kaiser selbst einen Brief in dieser Sache schreiben möge. Dadurch werde sich, so die Hoffnung des kaiserlichen Vertreters, die »innere An-
864 Vgl. Bericht Rabutins an Karl VI. v. 3. Dezember 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 2, Berichte 1726 VII–XII, 166v–169r ; Brikner, Diplomaty, 556.
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sicht« des Holsteiners bald zeigen.865 Schon diese Abänderung des Nachfolgeprojekts deutet darauf hin, dass die von Bassewitz angestrebte Vermeidung der Bildung von Hofparteien eine Illusion darstellte, da diese sich schon längst formiert hatten und sich in einem hinter vorgehaltener Hand ausgetragenen Interessenskonflikt befanden. Diese These bestätigt sich durch ein bereits zuvor von Ostermann ausgearbeitetes Projekt, auf das Bassewitz offensichtlich auch indirekt Bezug nahm. Der Vizekanzler reagierte damit auf im Umlauf befindliche anonyme Briefe aus einflussreichen Adelskreisen, die sich vehement für eine Nachfolge des Großfürsten aussprachen. In seinem Projekt griff er auf den bereits Jahre zuvor geschmiedeten Nachfolgeplan von Graf Kinsky zurück, um damit ebenso das Ziel eines Interessensausgleiches zwischen den einzelnen Hofparteien zu erreichen. Dabei war er sich der Probleme bewusst, die mit der Verheiratung zwischen dem Großfürsten und seiner Tante, Prinzessin Elisabeth, verbunden waren. Diese bestanden nicht nur in der für die Orthodoxie unzulässigen engen Blutsverwandtschaft der beiden potenziellen Eheleute, sondern waren auch durch die Schwierigkeit einer Gewährleistung der Interessen von Prinzessin Elisabeth gegeben. So wäre es für Petr Alekseevicˇ ein Leichtes gewesen, seine Ehefrau nach der Machterlangung handlungsunfähig zu machen. Um dies zu vermeiden, garantierte Ostermann Elisabeth in seinem Projekt die baltischen Provinzen als Ausgleich für den Verzicht auf die Thronfolge zu Gunsten des Großfürsten. Sollten die beiden keinen rechtmäßigen Nachfolger hervorbringen oder kinderlos sterben, sah der Plan den Übergang der Provinzen auf die Nachfolger ihrer Schwester, Anna Petrovna, vor. Die Sicherung der Herrschaft Elisabeths im Baltikum wollte der Vizekanzler nicht nur durch eine Vereidigung der ansässigen Untertanen sowie der dort befindlichen russischen Regimenter auf die Prinzessin, sondern auch durch einen entsprechenden Schwur des gesamten Volkes und des Großfürsten erreichen. Diese Regelung sollte schließlich durch eine Garantie Schwedens und des Wiener Hofes abgesichert werden, wobei Letzterer durch eine entsprechende Nachfolgeregelung der Erzherzogin Maria Elisabeth (1680–1741) als Ideengeber für das Projekt Ostermanns fungierte. Durch diese Verbindung wollte der Vizekanzler die Parteien befrieden, die Ruhe im Volk wiederherstellen und das Ansehen Russlands bei den übrigen Mächten stärken.866 Dies erinnert stark an die Ziele und Inhalte des Ursprungsprojekts von Bassewitz vor seiner Abänderung durch den Herzog von Holstein. Dessen Minister knüpfte in seinem an Rabutin übergebenen Vorschlag offensichtlich an 865 Vgl. Bericht Rabutins an Karl VI. v. 28. Dezember 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 2, Berichte 1726 VII–XII, 342r. 866 Vgl. Anisimov, Kuda, 154; Solov’ev, Istorija, Bd. X, 84–87.
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die Überlegungen Ostermanns an, weshalb er zunächst das Zustandebringen einer Hochzeit zwischen dem Großfürsten und der Prinzessin Elisabeth als unrealistisch ad acta legte, die Sukzessionsregelung zu Gunsten seines Herrn umänderte und auch den Gedanken einer Entschädigung der Prinzessin durch den Zuspruch von Provinzen aufgriff. Wenngleich den beiden Plänen unterschiedliche persönliche und politische Interessen zugrunde lagen, so deuten die genannten Projekte doch darauf hin, dass die einflussreichsten Personen am russischen Hof nicht daran glaubten, den Großfürsten bei der Nachfolge noch einmal übergehen zu können. Das zeigt auch das Beispiel des wohl einflussreichsten Mannes am russischen Hof, Aleksandr Danilovicˇ Mensˇikov, der in den ersten Monaten des Jahres 1727 eine Hundertachtzig-Grad-Wende vom Anhänger Katharinas und ihrer Töchter zum Parteigänger des Großfürsten vollzog. Ostermann versuchte sich zunächst für Petr Alekseevicˇ stark zu machen, indem er einen möglichen Aufstand des Volkes zu Gunsten des kaiserlichen Neffen in Aussicht stellte. Die Wahrscheinlichkeit dafür war jedoch nicht allzu groß, da das Militär aller Voraussicht nach nicht nur hinter Katharina, sondern auch hinter ihren Töchtern stehen würde. Wie wir bereits aus den Ereignissen rund um die Ausrufung Katharinas I. wissen, befand sich die Stimmung der Garderegimenter in großer Abhängigkeit vom wichtigsten militärischen Anführer des Landes – Feldmarschall Mensˇikov. Aus diesem Grund war die Gewinnung des Fürsten für beide Parteien von großer Bedeutung. Stellt sich nur die Frage, wie der wohl wichtigste Mann gewonnen werden konnte und welche Rolle dabei die auswärtigen Diplomaten spielten.867 Anisimov hält in diesem Zusammenhang fest, dass die ausländischen Gesandten den Gesinnungswandel Mensˇikovs beschleunigt haben könnten, wobei eine Verknüpfung der Interessen des Fürsten mit der Partei des Großfürsten nur durch das Zustandebringen einer Hochzeit zwischen Petr Alekseevicˇ und einer Tochter von Aleksandr Danilovicˇ möglich gewesen wäre. Um den Einfluss der ausländischen Vertreter abschätzen zu können, stützt sich Anisimov auf die Erinnerungen des dänischen Gesandten Hans Georg von Westfalen, der Rabutin dazu animiert habe, sich beim Kaiser für eine Verbindung zwischen dem Großfürsten und einer Mensˇikovtochter stark zu machen und eine dementsprechende Garantie Karls VI. in Form eines Handschreibens an den Fürsten zu erbitten. Der kaiserliche Vertreter sei diesem Rat gefolgt und habe aus Wien tatsächlich einen derartigen Brief sowie eine entsprechende Geldsumme zur »Belebung« Mensˇikovs erhalten. Anisimov fügt dem hinzu, dass der dänische Diplomat sich das wohl kaum zusammengereimt habe, wobei dessen Aussagen
867 Vgl. Anisimov, Kuda, 154; Solov’ev, Istorija, Bd. X, 89–92.
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durch das Studium der Gesandtschaftsakten in Wien und Kopenhagen überprüft werden könnten.868 In diesem Fall hätte der russische Bestseller-Autor dem dänischen Gesandten jedoch nicht einfach Glauben schenken, sondern seine These besser selbst durch den Gang ins Archiv absichern sollen. Ohne die Quellen entsprechend zu prüfen, griff Anisimov damit nämlich ein verzerrtes Geschichtsbild auf, das in den Gesandtschaftsberichten des 18. Jahrhunderts seinen Ursprung gefunden hatte und über die Historiographie des 19. und 20. Jahrhundert bis ins 21. Jahrhundert weitertransportiert wurde. So hielt lange vor ihm Solov’ev über die Zeit nach dem erfolgten Gesinnungswandel von Aleksandr Danilovicˇ fest, dass »[…] Mensˇikov, Golicyn, Ostermann und der österreichische Gesandte Rabutin nunmehr einen geheimen Rat [bildeten], in dem sie über die Zukunft Russlands berieten […].«869 Ein genauer Blick auf die von Anisimov angesprochenen Wiener Archivmaterialien zeigt jedoch, dass Rabutins Einfluss auf die Haltung des Fürsten und die Thronfolge Peters II. ganz anders aussah. Das erwähnte Handschreiben des Kaisers für Mensˇikov wurde von Rabutin bereits im Juni 1726 – also kurz vor Abschluss der Bündnisverhandlungen mit Russland – in einem Brief an den Prinzen Eugen ins Spiel gebracht. Darin wiederholte er gegenüber dem kaiserlichen Berater nochmals die Wichtigkeit der Umsetzung des bereits erwähnten Geschenksplanes und hielt diesbezüglich fest, dass man am besten mit Mensˇikov beginnen möge, um die Nation zufrieden zu stimmen und dem Großfürsten etwas Gutes zu tun, ohne dabei jedoch jeglichen Verdacht zu erregen. Der Fürst solle deshalb einen mit Diamanten besetzten Degen sowie einen Brief des Kaisers erhalten, in dem neben einigen Affektbezeugungen auch die gemeinsamen Interessen der beiden in den kurländischen Angelegenheiten zur Sprache gebracht werden könnten.870 Mit der Bitte um Umsetzung seines Planes wandte er sich Ende Dezember nochmals an Schönborn, um in diesen zweifelhaften Zeiten einen Nutzen für den kaiserlichen Dienst zu erzielen.871 Im Falle des Fürsten Mensˇikov legte er dem Reichsvizekanzler nahe, »[…] daß von einer unvergleichlichen guten würckung seyn wird, von ihro Kay[serlichen] M[ajestät] an den Fürsten Menzikoff nebst der für ihne destinirten carosse noch
868 Vgl. Anisimov, Kuda, 154–155. 869 Solov’ev, Istorija, Bd. X, 94. 870 Vgl. Bericht Rabutins an Prinz Eugen v. 29. Juni 1726, ÖStA, HHStA, GK, Prinz Eugen von Savoyen, Kt. 103 b/c, Rabutin aus Berlin und Russland, 111r–111v. 871 Vgl. Bericht Rabutins an Karl VI. v. 28. Dezember 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 2, Berichte 1726 VII–XII, 340r–341r ; Siehe dazu auch: Steppan, Kaiser, 135.
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einen mit diamenten besezten degen sambt einem allerg[nä]d[i]gsten kay[serlichen] handbrief anhero zu schicken geruhen würden.«872
Zu diesem Zeitpunkt konnte Rabutin noch nicht ahnen, dass seine Bitte Anfang des Monats in Wien bereits erhört worden war : »[…] Dem Fürsten Menzikoff seynd ihre Kay[serliche] M[ajestät] gewillet«, so der Reichsvizekanzler in seiner diesbezüglichen Weisung, »mittels eines gnädigsten handbriefels der danck nehmigkeit einsweilen, bis die für ihme in der arbeit stehende carossen wird zum stand gebracht seyn, zu erkennen zu geben […].«873 Diese Zeilen weisen auf die symbolische Bedeutung eines derartigen Schriftstücks hin, welche auch von der jüngeren Forschung hervorgehoben wurde. So griffen frühneuzeitliche Herrscher im Allgemeinen eher selten zur Feder. Wenn Souveräne diese zur Hand nahmen, so wollten sie damit etwas zum Ausdruck bringen. Im diplomatischen Diskurs beschränkte sich die Eigenhändigkeit meist auf die Unterschrift des Herrschers. Ein derartiges Handschreiben brachte eine gewisse Nähe des Verfassers zum Ausdruck und konnte sozusagen als Alter Ego in die Welt geschickt werden, weshalb es auch persönlich übereicht wurde. So verringerte sich mit einem derartigen Schreiben die physische Distanz zum Absender, was dem darin formulierten Inhalt einen nachhaltigeren Charakter verlieh. Gerade im diplomatischen Diskurs wurde das Handschreiben häufig als Medium der emotionalen Elitenbindung eingesetzt. Während es gegenüber Gleichrangigen ein Zeichen der Freundschaft darstellte, fungierte es gegenüber Niedrigeren als Symbol der Anerkennung. Dementsprechend konnte der »schreibende Souverän« nicht nur mit Hilfe von Beschreibart und -stoff, sondern auch durch eine bestimmte Wortwahl den Grad der Ehrbezeugung zum Ausdruck bringen.874 Überdies spiegelt sich in der Weisung Schönborns deutlich wider, dass der angesprochene Degen und das Handschreiben eigentlich den Charakter von Überbrückungsgesten hatten, die Mensˇikov bis zur Ankunft der in Anfertigung befindlichen Kutschen aus Wien der Dankbarkeit des Kaisers für seine Verdienst versichern sollten. Ein ähnliches Geschenk ließ der Wiener Hof Rabutin zur Vertröstung der Zarin zukommen. So benachrichtigte Schönborn den kaiserlichen Gesandten eine Woche zuvor darüber, dass der Instruktion ein mit Diamanten besetzter »Dankpfennig« für die russische Herrscherin beigefügt worden sei, der die kaiserliche »Wohlmeinung« und »Freundschaft« zum Ausdruck bringen sollte, solange sich die Kutschen und alle übrigen Geschenke im Ver872 Bericht Rabutins an Karl VI. v. 28. Dezember 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 2, Berichte 1726 VII–XII, 341r. 873 Weisung Schönborns an Rabutin v. 4. Dezember 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 112, Weisungen 1726, 302v. 874 Vgl. Furger, Briefsteller, 101–134; Noflatscher, Eigenhändigkeit, 141–167; Siehe dazu auch: Steppan, Kaiser, 135–136.
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fertigungsprozess befänden. In dieser Weisung belobigte der Reichsvizekanzler Rabutin im Namen des Kaisers auch für sein geschicktes Verhalten und seine schlauen Antworten hinsichtlich der heiklen Hochzeitsangelegenheiten.875 Der Inhalt des kaiserlichen Schreibens an Mensˇikovs vom 28. Dezember beweist schließlich, dass Karl VI. darin keinerlei Garantie für eine mögliche Hochzeit abgab, sondern lediglich seinen Dank für die bisherigen Verdienste Mensˇikovs um beide Höfe würdigte. Dem fügte der Kaiser noch die erfreuliche Aussicht an, »[…] daß wir d[eine]r l[ie]bd[en] grossen dienste, und verdienste umb das gemeine weesen in besonderer achtung halten, auch derselben unser k[a]y[ser]l[ichen] gnad des mehrers werden erweisen können, womit wie vorhin d[eine]r l[ie]bd[en] wohlgewogen bleiben.«876 Die Korrespondenz zwischen Rabutin und dem Wiener Hof über das Handschreiben deutet bereits darauf hin, dass sich der Wiener Hof der Brisanz der Sukzessionsfrage des Großfürsten bewusst war und keinen direkten Einfluss darauf nehmen wollte. So gab Karl VI. bereits Anfang 1726 die Verhaltensrichtlinie an Rabutin aus, er möge sich in dieser heiklen Sache äußerst vorsichtig gegenüber allen in- und ausländischen Vertretern verhalten.877 Diese Vorgabe ist nicht weiter verwunderlich – schließlich riet die zeitgenössische völker- und gesandtschaftsrechtliche Ratgeberliteratur von einer Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Gastgeberlandes ab.878 Die Einhaltung derselben erscheint zweifelsohne als keine leichte Aufgabe, wenn man in Betracht zieht, dass sich die unterschiedlichen Interessensgruppen Ende des Jahres 1726 in dieser delikaten Angelegenheit an den kaiserlichen Vertreter wandten. So berichtete Rabutin bereits im November 1726 darüber, dass sich Mensˇikov und Baron Ostermann bei ihm »in sehr favorablen Terminis« über den Großfürsten geäußert hätten. Der Botschafter habe jedoch jeglichen Verdacht einer Parteilichkeit von sich lenken wollen und daraufhin zurückhaltend reagiert, indem er die Entscheidung über die Sukzession als eine ausschließlich in den Händen der Zarin liegende Angelegenheit bezeichnet und sich gleichzeitig bei den beiden um einen Erzieher für den möglichen Thronfolger bemüht habe. In diesem Bericht über die offensichtlichen Aushorchversuche Mensˇikovs und Ostermanns machte Rabutin seinen Hof gleichzeitig auf das in Entstehung befindliche
875 Vgl. Weisung Schönborns an Rabutin v. 4. Dezember 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 112, Weisungen 1726, 331v. 876 Kopie des Handschreibens Karls VI. an Mensˇikov v. 21. Dezember 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 112, Weisungen 1726, 330r. 877 Vgl. Weisung Karls VI. an Rabutin v. 14. Februar 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 112, Weisungen 1726, 9v–11v. 878 Vgl. Callières, ManiÀre, 104–108; Duchardt, Balance, 25–26; Müller, Gesandtschaftswesen, 299–300; Wicquefort, L’Ambassadeur, 725–741.
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Projekt von Bassewitz aufmerksam.879 Wie wir wissen, sollte der holsteinische Vertreter dieses wenige Tage später an den kaiserlichen Gesandten übergeben. Damit sind bereits einige der führenden Köpfe der unterschiedlichen Hofparteien genannt. Die bislang erschienene Forschungsliteratur sprach von einem Schulterschluss zwischen Ostermann und Mensˇikov, die durch Ausarbeitung des Heiratsprojekts zwischen dem Großfürsten und einer Tochter des Fürsten die Sukzession von Petr Alekseevicˇ vorantreiben wollten. Demgegenüber stand nicht nur der Herzog von Holstein mit seinen persönlichen Hoffnungen auf den russischen Thron, sondern auch der Graf Tolstoj, die beide eine Tochter von Katharina als Nachfolgerin favorisierten. Letzterer war dabei nicht nur an einer Einschränkung der Macht Mensˇikovs interessiert, sondern fürchtete aufgrund seiner führenden Rolle im Rahmen der Verurteilung von Aleksej Pertovicˇ sowie bei der Verhinderung der Sukzession des Großfürsten im Rahmen der Thronbesteigung Katharinas um sein eigenes Schicksal.880 Doch wie positionierte sich Rabutin zwischen diesen beiden Gruppierungen? Nahm er tatsächlich einen direkten Einfluss auf die Ausarbeitung des alles entscheidenden Hochzeitsprojekts zwischen der Mensˇikov-Tochter und dem Großfürsten? Eine derartige Lesart finden wir bei Anisimov, der ein im März zwischen Rabutin und dem Fürsten stattfindendes Treffen als ausschlaggebendes Ereignis für die eindeutige Positionierung von Aleksandr Danilovicˇ darstellte, da er bei dieser Unterredung der Unterstützung des Kaisers versichert und damit zu einem solchen Verhalten ermutigt worden wäre.881 Oder verhielt sich der kaiserliche Gesandte neutral gegenüber den Parteien, wie es Brikner konstatierte, der die Gesandtschaftskorrespondenz des Wiener Hofes kannte. Demzufolge seien die Gespräche zwischen Rabutin, Ostermann und Mensˇikov weitergegangen, wobei der kaiserliche Vertreter keinen großen Einfluss darauf genommen haben soll, um eben nicht zwischen die einzelnen Interessensgruppen zu geraten. Mit dieser Politik habe er einerseits sein Naheverhältnis zum Großfürsten nicht gefährden sowie andererseits nicht die Missgunst des Fürsten auf sich ziehen wollen.882 Die Darstellungen aus den Berichten Rabutins lassen eine eindeutige Tendenz in Richtung der Version von Brikner erkennen. So spiegeln seine Relationen eine äußerst passive und neutrale Haltung des Gesandten gegenüber der Tätigkeit der Hofparteien wider. In diesem Zusammenhang dienen uns Rabutins Berichte vom 18. und 23. März 1727 als Schlüsseldokumente, um dessen offizielle Positionierung 879 Vgl. Bericht Rabutins an Schönborn v. 26. November 1726, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 2, Berichte 1726 VII–XII, 138r–139v. 880 Melamud, Anteilnahme, 12–46; Anisimov, Samoderzˇavie, 53–61; Pavlenko, Ekaterina I, 75–142; Solov’ev, Istorija, Bd. X, 5–104. Siehe dazu auch: Steppan, Kaiser, 129 sowie 131. 881 Vgl. Anisimov, Kuda, 154–155. 882 Vgl. Brikner, Diplomaty, 511–514.
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zwischen den Hofparteien rekonstruieren zu können. Zunächst setzte er Sinzendorf in einer aufgrund des brisanten Inhalts zur Gänze chiffrierten Relation davon in Kenntnis, dass sich Bassewitz angesichts der zunehmenden Animositäten zwischen dem Herzog von Holstein und dem Fürsten Mensˇikov mit einem neuen Projekt an ihn gewandt habe, um die verfeindeten Hofparteien wieder zu befrieden. Dieses sei Prinzessin Elisabeth bereits vorgelegt worden, habe deren Zustimmung erhalten und solle nunmehr vom kaiserlichen Gesandten begutachtet werden. Der Plan sah den Verzicht Elisabeths auf die Nachfolge zu Gunsten des Großfürsten vor, wobei die Entschädigung der Kinder aus der zweiten Ehe Peters I. folgendermaßen erzielt werden sollte. Nach Aushandlung eines Vergleiches mit Dänemark möge Karl Friedrich das Herzogtum Holstein an den Bischof von Eutin abtreten, welcher zur Erhaltung des Standes der Prinzessin mit Elisabeth verheiratet werden könnte. Der Herzog erhalte im Gegenzug zur endgültigen Abtretung Schleswigs an Dänemark die Reichsterritorien Bremen und Verden sowie die Grafschaften Oldenburg und Dekenhorst ebenso wie die Provinzen Liefland und Estland. Rabutin konnte natürlich die Brisanz und Problematik dieser Vorschläge absehen, weshalb er, wie er selbst festhielt, »ganz ohne Eifer« lediglich zwei Fragen in den Raum stellte. So erinnerte er daran, dass der Herzog eine Verzichtserklärung auf die russischen Provinzen abgegeben habe. Außerdem fragte er Bassewitz, wie er dieses Projekt gegenüber der russischen Nation rechtfertigen wolle, die diese Gebiete mit ihrem »eigenen Gut und Blut« erworben hätten. Der Holsteiner wollte die angesprochenen Russen jedoch übergehen und den Plan einfach durch einen Erlass der Herrscherin erwirken, welcher nach einem gemeinsamen Gesuch des Herzogs und der gesamten Familie erzielt werden sollte.883 Diesen brisanten Zeilen schloss Rabutin noch ein Postskriptum über ein weiteres Gespräch mit Bassewitz an, in dem er offensichtlich erstmals von dem möglichen Zustandekommen des Heiratsprojekts zwischen dem Großfürsten und der Mensˇikovtochter in Kenntnis gesetzt wurde. Der holsteinische Vertreter stützte sich dabei auf die Aussagen des bisherigen Verlobten von Maria Mensˇikova (1711–1729) und Favoriten Katharinas I., Graf Piotr Sapieha (1701–1771, in russischen Quellen meist: Sapega), der Bassewitz über die Zustimmung der Zarin zum neuen Heiratsprojekt von Mensˇikov informiert und gleichzeitig um eine Aussöhnung zwischen dem Herzog und dem Fürsten gebeten habe. Wenngleich Bassewitz seinen Herrn unter Rücksichtnahme auf sein zuvor geschildertes Projekt zunächst von seinem Widerstand abbringen wollte, so habe er bald feststellen müssen, dass dieser ebenso wie seine Frau und die Prinzessin Elisabeth der Hochzeit unter keinen Umständen zustimmen wollten. Angesichts 883 Vgl. Bericht Rabutins an Sinzendorf v. 18. März 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 3, Berichte 1727 I–VI, 173r–178v.
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dieser Ausgangslage prophezeite Rabutin in seinem Bericht den weiteren Verlauf der Dinge: Der Konflikt werde sich durch die Einflussnahme des Herzogs und seiner Familie auf die Herrscherin verschärfen, wobei Mensˇikov gleichzeitig an Macht gewinnen würde. Rabutins daraus resultierende Verhaltensstrategien lassen keine Zweifel mehr über seine offizielle Neutralität zwischen den Parteien offen. Da er das von Bassewitz vorgeschlagene Projekt als völlig undurchsetzbar betrachtete, wolle er sich nicht in die Angelegenheit einmischen, sondern den Sachen ihren eigenen Lauf lassen. Dem Herzog werde er sich bei seinem Vorhaben jedoch keinesfalls in den Weg stellen und ihm stets aufs Neue die bereits gegenüber Bassewitz getätigte Antwort geben: Dem Kaiser sei alles angenehm und lieb, was zum Nutzen des Herzogs gereiche, er selbst werde sich jedoch nicht in innerrussische Angelegenheiten einmischen.884 Seine Unparteilichkeit geht schließlich auch aus folgender Devise Rabutins hervor, die er für sein weiteres Verhalten ausgab: »Quarto bin ich insonderheit wohl bedacht, meinen hiesigen betrag überhaubt allezeit dahin einzurichten, damit der gute credit bey jedweder parthey, welche hernach triumphiren wird, erhalten werden möge.«885 Wenige Tage nach diesem ersten umfangreichen Bericht über die innerrussische »Krise« – wie Rabutin die Ereignisse selbst bezeichnete – wandte er sich mit einer Relation über deren weiteren Verlauf an Schönborn. Nachdem der Gesandte diesen zunächst auf den Wissensstand von Sinzendorf gebracht hatte, konstatierte er, dass die Animosität zwischen den Parteien zwischenzeitlich enorm zugenommen habe. So seien der Herzog und seine Anverwandten mittlerweile direkt an die Zarin herangetreten, um die geplante Heirat zu verhindern und das Projekt von Bassewitz durchzusetzen – ein Umstand, der von der bisher erschienenen Forschungsliteratur bereits ausführlich beschrieben wurde.886 Im Anschluss daran habe der holsteinische Minister sich abermals bemüht, Rabutin in die Angelegenheit zu verstricken. Er sei ihm diesbezüglich mit der bereits bekannten Antwort ausgewichen, wonach der Kaiser dem Herzog alles Gute gönne, sich jedoch nicht in die »hiesigen Haussachen« und das »Internum« einmischen wolle. Gleichzeitig habe er versucht, Bassewitz damit zu besänftigen, dass die Holsteiner in der Restitutionsfrage auf die Unterstützung Wiens bauen könnten und es bis zur Hochzeit des Großfürsten noch einige Zeit dauern werde. Darüber hinaus hielt Rabutin fest, dass Mensˇikov mit seinem Projekt habe reüssieren können, da er darin die Sukzession mit keinem Wort erwähnt habe. Für ihn war auf jeden Fall klar, dass er trotz des jungen Alters des 884 Vgl. Bericht Rabutins an Sinzendorf v. 18. März 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 3, Berichte 1727 I–VI, 179r–183r. 885 Bericht Rabutins an Sinzendorf v. 18. März 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 3, Berichte 1727 I–VI, 183r–183v. 886 Vgl dazu etwa: Anisimov, Kuda, 156–157; Kurukin, Epocha, 122; Solov’ev, Istorija, Bd. X, 93–94.
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Großfürsten sowie der Ungleichheit des Standes nichts gegen die geplante Verbindung unternehmen werde, da die gesamte russische Nation diese als geeignetes Mittel zur Durchsetzung der Nachfolge von Petr Alekseevicˇ betrachte.887 Diesen »hard facts« über die Krise fügte Rabutin ein Postskriptum hinzu, um das Ausmaß derselben noch deutlicher zu machen. So habe er in diesen kritischen Tagen eine bereits ausgestandene Unpässlichkeit als Vorwand genutzt, um das Haus nicht verlassen zu müssen. Das habe er getan, um einerseits bei keiner Partei durch seinen Ausgang einen »Argwohn« zu erzeugen sowie andererseits die Geschäfte noch aufmerksamer verfolgen zu können. Dabei sei ihm jedoch der Fürst zuvorgekommen, indem er ihn auf eigene Faust am Vortag besucht habe. Rabutins Ausführungen über die ungewöhnliche Visite des Fürsten zeigen, dass Anisimov die Hintergründe des Gesprächs völlig falsch einschätzte. So habe Mensˇikov dem Gesandten darin die ganze Beschaffenheit dieser Begebenheit in »ganz natürlichem und gutem Vertrauen« verraten. Demnach habe die Zarin die Hochzeit ein für alle Mal abgesegnet und dulde keinen Widerspruch mehr. Außerdem denke sie nicht daran, dem Herzog die Provinzen abzutreten, und wolle ihre Kinder auf andere Art und Weise versorgen. Rabutin schloss aus diesem Gespräch mit dem Fürsten und aus dessen guter Laune, dass er mit der Zarin in gutem Verständnis stehe und den besten Credit besitze. Das Wichtigste für ihn war jedoch, dass damit alle Zeichen auf eine mögliche Nachfolge des Großfürsten hindeuteten: Mensˇikov habe ihm nämlich versichert, dass alle Großen des Reiches – in Bedachtnahme der Sukzession von Petr Alekseevicˇ – dem Fürsten dazu gratuliert hätten und die Zarin dem kaiserlichen Neffen eine besondere Erziehung und Hofstatt zugesichert hätte.888 Unter diesen Umständen nützten auch die letzten Versuche der holsteinischen Partei nichts mehr, den offiziell unparteiischen Rabutin auf ihre Seite zu ziehen. Auch wenn ihr dabei der preußische Gesandte Mardefeld zur Hilfe kam. Der kaiserliche Gesandte blieb standhaft und hielt allen Anfragenden immer wieder dasselbe entgegen: Er gönne dem einen Teil, was er von der Zarin bekomme, und wolle dem anderen Teil zu nichts verhelfen, wozu nicht auch die Herrscherin bereit wäre. Überdies berichtete Rabutin nach Wien, dass Mensˇikov durch die Durchsetzung seines Projekts immer stärker werde, der Großfürst sich täglich in seinem Haus befinde und nur von dessen Vertrauten umgeben werde. All das veranlasste den kaiserlichen Gesandten dazu, seinem Hof bei Zeiten ein Signal der Zustimmung zu dieser Heirat anzuraten. Den Herzog könne man durch das Versprechen gewogen halten, dass sich der Kaiser für die anderen 887 Vgl. Bericht Rabutins an Schönborn v. 23. März 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 3, Berichte 1727 I–VI, 204v–209v. 888 Vgl. Bericht Rabutins an Schönborn v. 23. März 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 3, Berichte 1727 I–VI, 209v–211v.
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»Convenienzen« des Holsteiners einsetzen werde. Als Fazit nach der Krise hielt Rabutin schließlich fest, dass es einerseits um die Nachfolge des Großfürsten gut bestellt sei und sich der kaiserliche Hof aufgrund seines Verhaltens in keinem »verfänglichen Engagement« befinde – für den Fall, dass sich die Angelegenheiten wider Erwarten ändern sollten.889 Die Selbstdarstellungen Rabutins über sein vorsichtiges Verhalten decken sich weitgehend auch mit den Beschreibungen eines völlig unbeteiligten Beobachters der umwälzenden Ereignisse. So hielt der französische Berichterstatter Magnan Anfang des Jahres 1727 gleich mehrfach fest, dass der kaiserliche Gesandte zwar die Partei des Großfürsten stärken möchte, dabei jedoch äußerst vorsichtig vorginge. Grund dafür sei dessen Unsicherheit darüber, welche Entscheidung die Zarin bezüglich der Nachfolge treffen werde.890 Mitte März machte er seinen Hof auch auf das von Bassewitz und Rabutin gemeinsam ausgearbeitete Projekt aufmerksam. Der Kaiser sei diesen Vorschlägen gegenüber prinzipiell nicht abgeneigt, wenngleich zuvor sichergestellt werden müsse, dass der Herzog einen derartigen Plan bei der Zarin auch durchsetzen könne. Da der Einfluss Tolstojs auf den Herzog jedoch ebenso groß sei wie jener auf die Zarin, rechnete er dem Holsteiner keine großen Erfolgschancen aus. Dem stand aus Sicht des Franzosen überdies ein Umstand entgegen, auf den er seinen Hof bereits zuvor Aufmerksam gemacht hatte. So habe der Herzog eine mögliche Fürsprache für den Großfürsten nur zum Schein abgegeben, um den Wiener Hof zu besänftigen.891 Im selben Monat drangen an Magnan auch die ersten Gerüchte über das Heiratsprojekt Mensˇikovs durch, der über den kurz zuvor zum Erzieher des Großfürsten bestimmten Ostermann versuche, Petr Alekseevicˇ eine Heirat mit seiner Tochter schmackhaft zu machen. Dieser Plan des Fürsten habe die Feindschaft mit dem Herzog verstärkt, weshalb ein Ausgleich zwischen den beiden kaum zu erwarten sei.892 Diese Ausführung Magnans zeigen also deutlich, dass sich der Wiener Hof und sein Gesandter in der Nachfolgefrage äußerst zurückhielten und der Kampf zwischen den Parteien hinter vorgehaltener Hand stattfand. Das änderte sich offensichtlich auch nicht allzu sehr nach der Zustimmung der Zarin zur Hochzeit zwischen Maria Mensˇikova und dem Großfürsten. Auch wenn diese unerwartete Nachricht bei den russischen Ministern für große 889 Vgl. Bericht Rabutins an Schönborn v. 25. März 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 3, Berichte 1727 I–VI, 221r–223r. 890 Vgl. Berichte Magnans an Morville v. 4. Februar und 4. März 1727, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 460, 503 sowie 514. 891 Vgl. Berichte Magnans an Morville v. 11. Februar und 11. März 1727, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 460, 507 sowie 516–518. 892 Vgl. Berichte Magnans an Morville v. 11. und 18. März 1727, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 460, 518 sowie 522.
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Überraschung gesorgt und den Herzog sowie die beiden Töchter Katharinas sehr beunruhigt hätte, so habe Letzteres Rabutin nicht daran gehindert, sofort einen Kurier mit der Meldung über das für den Großfürsten erfreuliche Ereignis nach Wien zu schicken. Die Partei des kaiserlichen Neffen sei damit nämlich in einen derartigen Vorteil geraten, dass selbst die Zarin daran kaum etwas ändern könne. Die daraus ersichtlich werdende Überraschung des kaiserlichen Gesandten findet in jenem Abschnitt des Berichts von Magnan weitere Bestätigung, in dem er auf das von Anisimov angesprochene Treffen zwischen Mensˇikov und Rabutin zu sprechen kommt. So hätten die beiden Töchter Elisabeths ebenso wie Graf Tolstoj versucht, die Zarin von der Zurücknahme ihrer Entscheidung zu überzeugen. Nachdem sich alle Überredungsversuche als fruchtlos herausgestellt hätten, sei der Fürst daraufhin sogleich zu Rabutin gefahren, um den kaiserlichen Vertreter davon zu benachrichtigen. Hauptziel des von ihm nach Wien abgeschickten Kuriers, vermutete Magnan weiter, sei also lediglich die Übermittlung der freudigen Nachricht an den Kaiser gewesen.893 All das bestätigt die Berichte Rabutins, wonach dieser keineswegs aktiv bei der Durchsetzung des Heiratsplans von Mensˇikov beteiligt gewesen war. Auch im Anschluss traten Rabutin und Aleksandr Danilovicˇ in den Relationen des französischen Gesandten keineswegs als »Parteikollegen« auf. So hielt Magnan im April 1727 lediglich fest, dass die durch diese Ereignisse stärker werdende Tätigkeit Tolstojs und der Holsteiner gegen Mensˇikov dazu führen würde, dass dieser sich mit dem kaiserlichen Gesandten wohl immer »familiärer« verbunden fühle.894 Wesentlich eindeutiger verhielt sich angesichts dieser Ereignisse der bereits angesprochene dänische Gesandte Westfalen. Dieser freue sich so offen, hielt Magnan in seinem Bericht über die Zustimmung der Zarin fest, dass man von dessen Vorbereitung der Intrige ausgehen könne.895 Diese offenen Kundgebungen der Begeisterung über die Niederlage der holsteinischen Partei waren nicht weiter verwunderlich, stellte doch die Anwesenheit des Herzogs am russischen Hof für Dänemark immer schon eine Bedrohung dar : Die dänischen Vertreter fürchteten natürlich, dass der Herzog mit Hilfe Russlands die im Jahre 1713 von Dänemark besetzten schleswigschen Gebiete zurückgewinnen könnte.896 Aus den weiteren Relationen Magnans geht hervor, dass Westfalen ihm
893 Vgl. Bericht Magnans an Morville v. 25. März 1727, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 528–530. 894 Vgl. Bericht Magnans an Morville v. 26. April 1727, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 554–555. 895 Vgl. Bericht Magnans an Morville v. 25. März 1727, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 530–531. 896 Vgl. Bagger, Otnosˇenija, 68–72.
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sogar anvertraut haben soll, mit Rabutin in der Heiratssache »in Konzert« gehandelt zu haben.897 In den bereits angesprochenen, aus dem Jahre 1730 stammenden Erinnerungen charakterisierte Westfalen ihre Vorgehensweise folgendermaßen. Demnach hätte die Herzogin von Holstein und Tochter Katharinas gute Chancen auf die Nachfolge gehabt, »[…] si on n’eut gagn¦ le prince Menzikow par la pas de cette alliance [Anm.: zwischen Petr Alekssevicˇ und der Mensˇikovtochter], affaire la quelle je me puis vanter d’avoir beaucoup de part conjointement avec feu le comte Rabbutin [sic], et qui a cot¦ bien cher a ma petit bourse.«898
Mit diesem Hinweis auf die damit verbundenen hohen Kosten deutet der dänische Gesandte auch auf die Art und Weise der Einflussnahme auf Mensˇikov hin. So versuchte er offensichtlich, den Fürsten mit materiellen Mitteln auf die Seite des Großfürsten zu ziehen. Diese Strategie verfolgte auch der Wiener Hof, was uns bereits aus den Relationen Rabutins bekannt ist: So erinnerte der kaiserliche Gesandte etwa Sinzendorf in seinem Krisenbericht vom 18. März 1727 daran, wie nützlich die Übergabe eines Lehens in Schlesien an den Fürsten wäre und welche »hundertfältigen Zeichen« es mit sich bringen würde. Gleichzeitig bat der Gesandte den Hofkanzler erneut um eine Summe von 30.000 Rubel für Bassewitz, um diesen für seine aufrichtige Berichterstattung zu entlohnen – auch wenn er aufgrund seines Dienstes manchmal auch andere Ziele als der Wiener Hof vertreten müsse.899 Eine wesentlich vereinfachtere Lesart finden wir bei Kurukin und Solov’ev über die Gründe für die Lehensübergabe. Demnach habe sich Westfalen mit diesem Vorschlag an Rabutin gewandt, um Mensˇikov über das Heiratsprojekt und das damit verbundene In-Aussicht-Stellen einer blühenden Zukunft unter Petr Alekseevicˇ auf die Seite des Großfürsten zu ziehen. Im Auftrag Karls VI. habe der kaiserliche Gesandte dem Fürsten daraufhin das als Nächstes frei werdende Lehen im Reich versprochen.900 Wie wir aus den obigen Ausführungen zum Teil wissen, handelt es sich bei dieser Verknüpfung der Ereignisse nicht nur um eine Fehleinschätzung des Einflusses von Rabutin auf das Heiratsprojekt, sondern auch um eine Missinterpretation der Funktion der kaiserlichen Zu897 Vgl. Bericht Magnans an Morville v. 12. April 1727, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 64, Sankt-Peterburg 1888, 460, 542. 898 Zit. nach: D.A. Korsakov, Vocarenie Imperatricy Anny Ioannovny. Istoricˇeskij etjud, Kazan’ 1880, Prilozˇenie 81. Siehe dazu auch die russische Übersetzung des Originals: V. Korsakov, Diplomaticˇeskie depesˇi datskogo poslannika pri Russkom Dvore, Vestfalena, o vocarenii imperatricy Anny Ioannovny, in: Russkaja Starina 40/2 (1909), 279–298, hier : 288. 899 Vgl. Bericht Rabutins an Sinzendorf v. 18. März 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 3, Berichte 1727 I–VI, 183v–185v ; Brikner, Diplomaty, 523 sowie 526–527. 900 Vgl. Kurukin, Epocha, 122; Solov’ev, Istorija, Bd. X, 93.
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wendung. Das Lehen war keineswegs eine Belohnung für ein ausgehandeltes Heiratsprojekt, sondern muss im Kontext anderer Präsentübergaben als ein Mittel betrachtet werden, das nach außen hin die Neutralität gegenüber den Hofparteien zum Ausdruck bringen sollte. Genau diese kommunikative Funktion von diplomatischen Präsenten wurde in der Forschungsliteratur bereits mehrfach betont. Dementsprechend hob Jeanette Falcke in ihrer Untersuchung über das diplomatische Geschenkwesen unter anderem als Vorteile der Präsente in der diplomatischen Kommunikation hervor, dass man durch die Symbole Positionen vermitteln konnte, ohne explizite Zugeständnisse machen zu müssen, bis man eben eine glaubhafte Bestätigung ihrer Akzeptanz bekam. »Erst die Interpretation des Rezipienten und seine Reaktion schufen die Voraussetzung der Anerkennung dieser zeichenvermittelten Botschaft und die Grundlage der weiteren politischen Verhandlungen. Das weite Assoziationsfeld möglicher Interpretation konnte dabei zugleich als Herausforderung des Deutungswillens der Rezipienten aufgefasst werden, sofern die casuell- oder kontextgebundene Interpretation nicht durch den überreichenden Diplomaten gewährleistet, oder durch Begleitschreiben sichergestellt war.«901
So eigneten sich Geschenke vor allem auch als Kommunikationsmittel in politisch heiklen Situationen, da ihre Vieldeutigkeit die außenpolitischen Akteure eben nicht zu eindeutigen Aussagen zwang.902 Genau diese Funktion von diplomatischen Präsenten wird durch die Geschenkspolitik des Wiener Hofes und seiner Gesandten deutlich.903 Nach Eintreffen der brisanten Berichte Rabutins belobigte Karl VI. dessen bisheriges Vorgehen. Er folgte überdies dem Rat seines Vertreters, stimmte der geplanten Hochzeit zu und gab weitere Anweisung, »[…] daß du auf dem nemblichen fuß in dieser sehr delicaten sache fürterhin wie bishero fortfahrest, und gegen den Herzog von Hollstein dich so afführen sollest, daß du andererseits den Fürst Menzikof, als allen ansehen nach in künftiger zeit die mächtigste parthey gegen uns auf alle weis gut geneiget beybehaltest […].«904
Angesichts der immer wahrscheinlicher werdenden Nachfolge des Großfürsten nahm der Kaiser sogar eine Begleiterscheinung in Kauf, die ihm eigentlich ein Dorn im Auge war – wie wir bereits aus den vorangegangenen Berichten Ra901 Falcke, Studien, 265. 902 Dieser Vorteil von diplomatischen Geschenken wird auch in der zeitgenössischen gesandtschafts- und zeremonialrechtlichen Literatur hervorgehoben: Callières, ManiÀre, 28 sowie 182–184; Lünig, Theatrum, 388; Rohr, Ceremoniel-Wissenschaft, 407–408; Wicquefort, L’Ambassadeur, 664–676 sowie 812–821. 903 Siehe dazu auch: Steppan, Kaiser, 133–134. 904 Weisung Karls VI. an Rabutin v. 19. April 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 113, Weisungen 1727, 115v.
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butins erahnen konnten. So erachtete er die Vermählung zwischen seinem Neffen und der Mensˇikovtochter als nicht standesgemäß und hätte sich an deren Stelle eine ausländische Prinzessin gewünscht. Das geht unter anderem aus einem Schreiben des Reichsvizekanzlers Schönborn an Rabutin hervor, in dem er trotz aller Bedenken festhielt, »[…] daß es rathsamber scheine den lauf der sachen mit gelassenheit nach zu sehen, als sich zu wider sezen, und dadurch vielleicht zu schädlicheren anderen bewegung[en] anlaß zu geben […]«.905 An dieser Überzeugung änderten auch die darauffolgenden kleineren Adaptionen der Nachfolgeregelung und des damit verbundenen Heiratsprojekts nichts. Dementsprechend riet Rabutin seinem Hofe an, die in den anschließenden Wochen vom Obersten Geheimen Rat und der Zarin festgelegte Sukzessionsordnung anzuerkennen.906 Die Strategie Rabutins und des Wiener Hofes bezüglich der nicht gerne gesehenen Heirat mit der Mensˇikov-Tochter kristallisierte sich vor allem nach der Ausrufung des Großfürsten zum neuen Herrscher heraus. Dieser wandte sich gemeinsam mit seiner Schwester nämlich vertrauensvoll an Rabutin, um ihn hinsichtlich einer Verhinderung der von Petr Alekseevicˇ keineswegs gewünschten Heirat um Rat zu fragen. Der kaiserliche Gesandte gab der Nichte und dem Neffen des Kaisers jedoch ganz vorsichtig zu verstehen, dass man in dieser Sache auf Zeit spielen müsse. So solle Peter die Verlobung vorerst über sich ergehen lassen, da bis zur eigentlichen Hochzeit noch einige Jahre vergehen würden, in denen sich die beiden entweder näher kommen könnten, oder die ganze Angelegenheit anders geregelt werden könnte. In der Zwischenzeit wollte sich der kaiserliche Gesandte um das Zustandebringen einer Verbindung zwischen dem Neffen des Kaisers und einer der österreichischen Erzherzoginnen bemühen, wie er gegenüber seinem Hof festhielt. Das Risiko einer Verhinderung der Verlobung wollte er jedoch nicht eingehen.907 Diese Haltung der kaiserlichen Diplomatie vor und nach der Ausrufung Peters II. lässt es nicht weiter verwunderlich erscheinen, dass Karl VI. im April 1727 die Vermählung zwischen seinem Neffen und einer Mensˇikovtochter guthieß. Darüber hinaus stellte er seinem Gesandten hinsichtlich des immer mächtiger werdenden Mensˇikovs als weitere Strategie in Aussicht, »[…] denselben durch das verlangende lehen oder auf andere weise enger an uns zu binden 905 Weisung Schönborns an Rabutin v. 23. April 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 113, Weisungen 1727, 144r. 906 Vgl. Bericht Rabutins an Schönborn v. 29. April 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 3, Berichte 1727 I–VI, 81r–85r ; Bericht Rabutins an Kaiser Karl VI. v. 29. April 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 3, Berichte 1727 I–VI, 111r–114v ; Bericht Rabutins an Sinzendorf v. 7. Mai 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 3, Berichte 1727 I–VI, 118r–121v ; Bericht Rabutins an Kaiser Karl VI. v. 17. Mai 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 3, Berichte 1727 I–VI, 173r–174v. Siehe dazu auch: Steppan, Kaiser, 132. 907 Vgl. Brikner, Dvor (Teil 1), 117–120.
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[…]«.908 Wenige Tage später folgte schließlich die entsprechende Weisung: Zur Erleichterung seines Hauswesens übermittelte ihm der Kaiser 20.000 Gulden in Anbetracht seiner bisherigen Verdienste und der wichtigen anstehenden Geschäfte. Weitere 5.000 Gulden sollten wie folgt verteilt werden: 2.000 für Baron von Ostermann, 2.000 für Graf von Löwenwolde und 1.000 für den holsteinischen Kanzler Stambke. Überdies übermittelte Karl VI. für Graf von Bassewitz ein mit Diamanten besetztes kaiserliches Portrait, was im 18. Jahrhundert ein beliebtes Mittel zur Gewinnung von Würdenträgern des fremden Hofes darstellte.909 Hinsichtlich der Gratifikationen für Mensˇikov vertröstete er Rabutin auf weitere Instruktionen.910 Diese Geschenkspolitik macht deutlich, dass es sich der Wiener Hof trotz des vorläufigen Triumphs von Mensˇikov mit keiner der russischen Hofparteien verscherzen wollte. Das wollte man auch offen zur Schau stellen: »[…] Wir verhoffen hiemit deinen in sachen öfters gethanen unterthänigsten erinnerungen, und was von uns dießfals könnte verlanget werden, ein gnügen gethan zu haben. Dir aber liget ob zu veranlaßen, daß es also aller arthen angesehen werde[…].«911 Der kaiserliche Gesandte, der aufgrund der längeren Postwege noch nichts davon wusste, war in der Zwischenzeit mit einer weiteren Herausforderung konfrontiert. Auch diese Episode spiegelt die Strategie Rabutins wider, sich mit allen Parteien arrangieren zu wollen. So ereilte ihn einstweilen die Nachricht, dass die mittlerweile schwer erkrankte Zarin ihren lebensbedrohlichen Zustand überwunden hätte und auf dem Weg der Besserung sei. Sofort riet er Reichsvizekanzler Schönborn, den Kaiser davon zu überzeugen, »[…] daß diesfals ein trefflicher effect zu hoffen seye, wann etwa ihro Kay[serliche] M[ajestät] die über dero genesung geschöpften freude zu erkennen zu geben, und solchen hand brief ebenfals durch einen eigenen courier anhero zu schicken, und der verhoffte gute effect würde sicherlich desto volkommener werden, wann ihro M[ajestät] die Kayserin allergnädigst belieben solten, durch eben dieses couriers ihro Ruß[ischen] M[ajestät] ein etwa auf ihre krankheit sich gleichsamb als eine medicin rapportirendes praesent zu schicken. […]«912
908 Weisung Karls VI. an Rabutin v. 19. April 1727, HHStA, StA, RU II, Kt. 113, Weisungen 1727, 115v. 909 Vgl. Heinz Duchhardt, Das diplomatische Abschiedsgeschenk, in: Archiv für Kulturgeschichte 57 (1975), 345–362, hier : 349–352; Falcke, Studien, 265–272; Winkler, Bildnis, 201–217. 910 Vgl. Weisung Karls VI. an Rabutin v. 26. April 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 113, Weisungen 1727, 146r–146v. 911 Weisung Karls VI. an Rabutin v. 26. April 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 113, Weisungen 1727, 146v. Siehe dazu auch: Steppan, Kaiser, 136–137. 912 Bericht Rabutins an Schönborn v. 3. Mai 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 3, Berichte 1727 I–VI, 92v–93r.
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Daran anschließend bat er Schönborn, sich für die Absendung der geforderten Geschenke einzusetzen, um die Sache des Großfürsten vorantreiben zu können.913 Diese Bitte wiederholte er vier Tage später in einer Relation an Sinzendorf und fügte ihr den Vorschlag an, allen Mitgliedern des Obersten Geheimen Rates eine ansehnliche Geldsumme zu schenken, da Baron Ostermann als einziger Empfänger ein derartiges Geschenk nicht annehmen würde.914 Die geforderten Genesungswünsche sowie die Medizin aus Wien sollten jedoch zu spät in St. Petersburg eintreffen.915 Die unerwartete Genesung der Herrscherin war nämlich nur ein letztes Aufbäumen vor dem Tod Katharinas, wie wir aus den Aufzeichnungen ihres Leibarztes vom 18. Mai 1727 erfahren: »Era gi molto tempo che la Maest […] provava qualche incomodo al petto, senquando, 3 in 4 settimane sono, soppragiuntale una gagliarda fibre con cattivi indizi, molto sÀ dubitare di sua salute; ma calmatasi di lÀ alquanti giorni considerablimente, gi si faceva fuori di pericolo, quando tornata tutt a’un tratto con piu forti sintomi e difficolt si spirito. Se riconobbe al fine che se l’era formata nel polmone un’appostema, quale scopiý anche internamente la sera dal di 16ma: doppo aver infettato il polmone cosi, che abbenche la Maest Sua spurgasse fuori molta material, agravata sempre pi¾ dal male, alle ore 8 34 della sera dal di 17. cessopoi affatto di vivere con molta rassegnazione, doppo aver fatto testament, stato letto in questa matina nella gran sala da palazzo alla presenza di tutti li principali Signori Russivi adunati, sicome di Sua Eccellenza il Sign. Generale conte Rabutin, ambasciatore del Imperatore stato vi capressamente inviato.«916
Unmittelbar nach diesen im Beisein Rabutins erfolgten Ereignissen setzte Mensˇikov den Kaiser vom Ableben Katharinas I. in Kenntnis und überbrachte ihm gleichzeitig als Erster die Freudennachricht der Ausrufung seines Neffen: »[…] Da es ihre[r] Kayserl[ichen] Ma[jestät] höchst seel[igen] andenckens gefallen unseren nunmehro allergnädigsten Kayser Petrum II zu einem succesore zu denominiren. Worzu denn Eu[er] Kayserl[ichen] und Königl[ichen] Maj[estät] gantz unterthänigst gratulire […].«917 Nachdem die Nachricht beim Kaiser angekommen war, berichtete auch das »Wienerische Diarium« über die umwälzenden Ereignisse am russischen Hof. Im Gegensatz zur Berichterstattung über den Tod Peters I. stellt dieser Artikel insofern eine Ausnahme dar, als dass der 913 Vgl. Bericht Rabutins an Schönborn v. 3. Mai 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 3, Berichte 1727 I–VI, 93r–94r ; Brikner, Diplomaty, 524. 914 Vgl. Bericht Rabutins an Sinzendorf v. 7. Mai 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 3, Berichte 1727 I–VI, 130r–130v. Siehe dazu auch: Steppan, Kaiser, 137. 915 Vgl. Weisung Karls VI. an Rabutin v. 27. Mai 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 113, Weisungen 1727, 190v–219r. 916 RGADA, f. 197, op. 1, portfel’ 9 1725–1762, d. 8 [Opisanie na ital’janskom jazyke nacˇalo bolezni i potom koncˇine Imperatricy Ekateriny I.], 1r–1v. 917 Notifikationsschreiben Mensˇikovs an Karl VI. v. 8. Mai 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 113, Weisungen 1727, 285r–286r.
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Autor ausführlich auf den Krankheitsverlauf vor dem Tod der Zarin einging. Die damit verbundene und konfliktbeladene Nachfolgefrage wurde jedoch nur äußerst vorsichtig angesprochen. So zeigte sich nicht nur das »Wienerische Diarium«, sondern auch die »Europäische Fama« darüber verwundert, dass die Ausrufung Peters II. »in Ordnung« und »ohne Widerspruch« erfolgt sei, ohne dabei jedoch die vorangegangenen innerrussischen Auseinandersetzungen zu thematisieren. Die Rolle des kaiserlichen Gesandten im Zuge der Thronbesteigung des Zaren spielte in den angesprochenen Printmedien jedoch gar keine Rolle, da diese allem Anschein nach nicht über das nötige Wissen für eine entsprechende Berichterstattung verfügten.918 Die von Rabutin mehrfach verlangten Geschenke dürften gerade rechtzeitig in St. Petersburg eingetroffen sein. So fügte er seinem Bericht über die erfolgte Ausrufung Peters II. an, dass es unabdingbar gewesen sei, den Anhängern der Nachfolge des Großfürsten einige ansehnliche Versprechungen zu machen, um die Freundschaft des russischen Hofes in Gegenwart und Zukunft zu sichern. Demnach würden Zuwendungen für Mensˇikov, Ostermann, Bassewitz und Stambke einen besonders großen Nutzen für den kaiserlichen Dienst bringen. Rabutin vertraute diesen Plan dem kaiserlichen Legationssekretär Hochholzer an, den er mit einem persönlichen Bericht über die umwälzenden Ereignisse in Russland nach Wien schickte. Die weitere Vorgehensweise des kaiserlichen Vertreters bei der Austeilung der übermittelten Geschenke illustriert einerseits den politischen Handlungsspielraum der Diplomaten sowie andererseits die Wirkung der Präsente. So änderte er den Verteilungsplan seines Souveräns kurzerhand um und verteilte die Zuwendungen wie folgt. Der Kammerherr der verstorbenen Zarin, Baron Löwenwolde, erhielt 2.000 Dukaten, da er in Rabutins Augen auch weiterhin einen großen Einfluss auf den Großfürsten sowie Mensˇikov und Ostermann haben würde. Die dem holsteinischen Minister zugedachte Summe von 1.000 Dukaten erhöhte er auf 1.500, um seine Loyalität gegenüber dem Kaiser auch weiterhin zu sichern. Die übrig gebliebenen 1.500 verteilte er auf Mitglieder der herzoglich holsteinischen Kanzlei. Ostermann berücksichtigte er dabei nicht, sondern sah für ihn eine andere symbolische Geste vor, welche in dem an Hochholzer übergebenen Plan nach Wien erwähnt werden sollte. Entsprechend den kaiserlichen Vorgaben übergab er das mit Diamanten besetzte Portrait Karls VI. an Graf Bassewitz. Diesen musste er vorerst jedoch um Verschwiegenheit bitten, um unter den bisher noch nicht bedachten russischen Ministern weder Eifersucht noch Missvergnügen hervorzurufen.919 918 Vgl. Wienerisches Diarium v. 21. Juni 1727, Nr. 50, [2]; Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 314 (1728), 105. 919 Vgl. Bericht Rabutins an Karl VI. v. 20. Mai 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 3, Berichte 1727 I–VI, 192r–199v ; Brikner, Diplomaty, 527–528. Siehe dazu auch: Steppan, Kaiser, 137–138.
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Mit der Ausrufung von Zar Peter II. kam es zu einer wahren Flut von Annäherungsgesten in den Beziehungen zwischen Wien und St. Petersburg/Moskau – und das von beiden Seiten. Die erste Geste von russischer Seite erfolgte bereits im Rahmen der Verkündigung des Testaments der verstorbenen Herrscherin, wie wir bereits aus dem Bericht ihres Leibarztes erfahren haben. Rabutin berichtete seinem Souverän darüber mit sichtlichem Stolz, »[…] daß man mich unter allen anderen hier anwesenden ministris ganz allein von seiten des hiesigen Hohen Conseil fruhe morgens umb sieben uhr zur assistirung dieser function invitiren lassen hat […]«.920 Diese offensichtliche Sonderstellung des kaiserlichen Gesandten wurde auch von anderen politischen Beobachtern bemerkt. So etwa von Magnan, der an seinen Hof berichtete: »Le comte Rabutin fut le seul des ministres ¦trangers appel¦ la proclamation du Grand-Duc, et il reÅut de ce jeune Prince toutes sortes de caresses et de t¦moignages d’affection […].«921 Das stellte allerdings nur den Anfang der offenen Zurschaustellung des guten Verhältnisses zwischen St. Petersburg/Moskau und Wien dar. So berichtete Rabutin noch im Mai 1727, dass er freien Zugang zum Zaren und seiner Schwester, der Großfürstin, sowie Prinzessin Elisabeth habe, die seit der Proklamation im Mensˇikov-Palast leben würden. Sie hätten ihn sogar gebeten, in ihre unmittelbare Nähe zu übersiedeln, was er aufgrund möglicher Eifersüchteleien von in- und ausländischen Ministern jedoch nicht in Betracht ziehe. Mit diesem Umzug hatte der Fürst vorerst den Kampf um die Vormachtstellung am russischen Hof für sich gewonnen, was in den Relationen der unterschiedlichen ausländischen Diplomaten am russischen Hof betont wurde.922 Auch aus den noch folgenden Schilderungen Rabutins wird deutlich hervorgehen, dass es Mensˇikov gut verstand, die Wohngemeinschaft mit Peter II. zu nutzen, um das Leben des neuen Herrschers und seiner Umgebung von früh bis spät zu kontrollieren. Der Palast des Fürsten auf der Vasil’evskij-Insel – in dem Aleksandr Danilovicˇ zuvor noch seinen ehemaligen Schwiegersohn, Graf Sapieha, untergebracht hatte – eignete sich dafür auch hervorragend.923 Gleichzeitig war er auch Schauplatz der ersten Konflikte zwischen Mensˇikov und Peter II., die den Beginn des Untergangs des wohl mächtigsten Russen einleiten sollten. Dazu jedoch etwas später. 920 Bericht Rabutins an Kaiser Karl VI. v. 20. Mai 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 3, Berichte 1727 I–VI, 191r ; Brikner, Diplomaty, 513. 921 Bericht Magnans an Morville v. 24. Mai 1727, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 75, SanktPeterburg 1891, 11. 922 Vgl. Bericht Rabutins an Karl VI. v. 31. Mai 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 3, Berichte 1727 I–VI, 218v–223r ; Brikner, Dvor (Teil 1), 115–117. Siehe dazu auch: Steppan, Kaiser, 139–140. ˇ ast’ 2, Sankt923 Vgl. N.V. Kaljazina/E.A. Kaljazin, Aleksandr Mensˇikov – stroitel’ Rossii. C Peterburg 2006, 313.
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Abb. 13: Ein Portrait von Peter II. aus dem Fundus des Wiener Hofes – »Der jetzt regierende Kayser von Rußland Peter Alexiewitz II.«924
Ehe der Kaiser seine Freude gegenüber seinem soeben an die Macht gekommenen Neffen (symbolisch) zum Ausdruck bringen konnte, mussten zunächst die Formalitäten der diplomatischen Kommunikation geklärt werden. Der Regierungswechsel erforderte die offizielle Beglaubigung Rabutins, damit er die Tätigkeit als kaiserlicher Vertreter am Hof Peters II. fortsetzen konnte. Wie wir bereits wissen, erfolgte dieser Formalakt über die Absendung eines Kreditivs des Kaisers. Nach einer entsprechenden Erinnerung durch den Gesandten im Juni 1727 wurde im Folgemonat sogleich das Beglaubigungsschreiben abgeschickt.925 Zu diesem Zeitpunkt, als die offiziellen Schriftstücke noch auf dem Weg von Wien nach St. Petersburg waren, beschäftigte sich Rabutin jedoch bereits damit, eine wesentlich intimere Form der Kommunikation zwischen den beiden Höfen zu installieren. Dieser Plan wurde bereits im Mai 1727 von den russischen Ministern initiiert, die die »große Ehrerbietigkeit« des neuen Herr924 Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv Austria, Digitale Sammlungen, Portraitsammlung, PORT_00033459_01. 925 Vgl. Bericht Rabutins an Karl VI. v. 25. Februar 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 3, Berichte 1727 I–VI, 29v ; Weisung Karls VI. an Rabutin v. 19. Juli 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 113, Weisungen 1727, 303r–303v.
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schers für den Kaiser als willkommenen Anlass sahen, Rabutin um ein Handschrieben des Onkels für den Neffen zu bitten.926 Während der kaiserliche Gesandte auf eine entsprechende Reaktion aus Wien wartete, machte er gleich mehrfach auf den Nutzen aufmerksam, den sich der russische Hof und er selbst von der Etablierung eines solchen Briefwechsels erwarteten. So würde eine derartige Korrespondenz nicht nur eine kaum zu übertreffende »Hochschätzung« und »Freude« beim russischen Herrscher auslösen, sondern böte gleichzeitig die Möglichkeit, von kaiserlicher Seite Einfluss auf die Erziehung des jungen Monarchen zu nehmen. Die Vornehmsten am russischen Hofe – gemeint waren damit vor allem Ostermann und Mensˇikov – sahen darin also ein geeignetes Instrument, um dem kaiserlichen Neffen »die anständigsten Insinuationes« beizubringen und ihn darüber »nachfolglich reflektieren zu lassen«. Gleichzeitig sah Rabutin darin eine gute Gelegenheit, die »Verbindlichkeit« des Kaisers gegenüber den zwei genannten Ministern zum Ausdruck zu bringen, welche in Zukunft einen großen Einfluss auf ihn ausüben würden.927 Diese Gründe bewegten Karl VI. dazu, »selbst« die Feder in die Hand zu nehmen, um zumindest seine Unterschrift unter die Handbriefe zu setzen. Wie wir bereits aus den Schilderungen über den Brief an Mensˇikov erfahren haben, stellte diese Geste ein Zeichen der besonderen Freundschaft unter den gleichrangigen Korrespondenzpartnern dar. Dementsprechend positiv fielen die Reaktionen darauf aus: »Der Fürst Menzikoff ebenso nicht weniger als der Baron von Ostermann haben mir, da sie immittels besuchet, sehr hoch angerühmet, wie ungemein Se[ine] Rußl[ändische] May[estät] und dero frau schwester über ihro May[estäten] des Kaysers und der Kayserin leztens mit gelegenheit des Cap[itaine] Albrechts an sie gekommene über die maßen verbindliche und zärtliche schreiben erfreuet worden und in angenehmer empfindung beständig deswegen wären.«928
Das Kaiserpaar hatte sich also dazu entschieden, mit Peter II. und dessen Schwester, der Großfürsten Natal’ja, in eine vertrauliche Korrespondenz zu treten. Aus diesem Grund richteten daraufhin beide Empfänger eine Antwort an ihre Verwandten am Wiener Hof. Während die Großfürstin ihren Brief in französischer Sprache an ihre Tante schrieb, bedachte der russische Monarch Tante und Onkel mit einer Antwort in deutscher Sprache.
926 Vgl. Bericht Rabutins an Sinzendorf v. 31. Mai 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 3, Berichte 1727 I–VI, 227r ; Brikner, Diplomaty, 545. 927 Vgl. Berichte Rabutins an Karl VI. v. 19. Juli und 2. August 1727, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 157v sowie 6v–7r. 928 Bericht Rabutins an Sinzendorf v. 16. August 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 40r.
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Abb. 14: Die vertrauliche Korrespondenz des Wiener Kaiserpaares mit Peter II. und Großfürstin Natal’ja als Zeichen der besonderen Freundschaft zwischen den verwandten Bündnispartnern – Brief Peters II. an Karl VI. (links) sowie Schreiben Natal’jas an Kaiserin Elisabeth Christine (rechts).929
Der folgende Auszug aus dem Brief Peters II. an Karl VI. beweist die durch diese Korrespondenz zum Ausdruck gebrachte besondere Freundschaft zwischen den beiden Herrschern: »Daß E[uer] Kayserl[iche] May[estät] mich von dehro höchstgeschätzten freundschaft und gewogenheit selbst haben eygenhändig auf eine so obligeante art versehern [sic] wollen, solches erkenne ich mit verbundenstem danke. E[uer] Kay[serliche] M[ajestät] werden mir hoffentlich die iustice thun und glauben, daß ich so wohl wegen der nahen anverwandschaft, worinnen ich die ehre habe mit deroselben zu stehen, als auch des gemeinsahmen nutzens wegen, welcher unsere[n] reichen und unterthanen daraus zufließen muß, mir beständig und absonderlich angelegen seyn lassen werde, E[uer] Kay[serlicher] May[estät] freundschaft aufs sorgfältigste zu cultiviren, die mit deroselben habende alliantz unverbrüchlich zu unterhalten, und bey aller gelegenheit alles dasjenige zu thun, was E[uer] Kay[serliche] 929 Brief von Natal’ja Alekseevna an Elisabeth Christine v. 20. August 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 54r ; Brief von Peter II. an Karl VI. v. 23. August 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 56r.
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May[estät] [von] einem wahren alliirten und aufrichtig ergebensten bruder immer erwarten können.«930
Diese Worte spiegeln den überaus positiven Effekt des Handschreibens wider – ein Erfolg, den Rabutin im Begleitschreiben der Antwortbriefe für sich verbuchte. Es ist jedoch interessant, dass er darin auch auf die potenziellen Gefahren einer solchen Korrespondenz hinwies. So bat er den Kaiser, ihm in Zukunft alle Briefe zukommen zu lassen, da es die langen Kommunikationswege eventuell notwendig machen würden, dem Inhalt der Briefe vor der Übergabe eine mündliche Erklärung beizufügen. Grund dafür war die Tatsache, dass sich die politischen »Umstände« während der Anlieferung der Schriftstücke mitunter ändern konnten. Aus den Ereignissen rund um die Etablierung der vertraulichen Korrespondenz geht deutlich hervor, dass dem Wiener Hof die Erziehung von Peter II. und Großfürstin Natal’ja ein besonderes Anliegen war. Nach der Thronbesteigung des jungen Monarchen nützte Rabutin den Informationskanal zum Prinzen Eugen, um sich für eine Einflussnahme des Kaisers in dieser Angelegenheit stark zu machen. Angeregt durch die Gespräche mit den russischen Ministern machte er darauf aufmerksam, dass die Erziehung Peters II. absolute Priorität habe. Es sei die Aufgabe Ostermanns, den er als besten Kenner der Angelegenheiten am russischen Hof bezeichnete, dem Souverän eine gute Erziehung angedeihen zu lassen und die Angelegenheiten im Obersten Geheimen Rat zu kontrollieren. Rabutin selbst würde mit Sorgfalt verfolgen, was für die Ausbildung der russischen Majestät getan werde. In seinen Ausführungen lobte der Gesandte den Charakter, die Eigenschaften und Fähigkeiten Peters II. in höchsten Tönen, weshalb er ebenso wie Ostermann und Mensˇikov alles für dessen Erziehung tun wolle. Wohl nicht ohne jegliches Kalkül ließ er Eugen daraufhin wissen, dass seine Bemühungen vor allem darin bestünden, den Kaiser in dessen Verbundenheit und Consideration zu Peter II. zu bekräftigen.931 In seinen Ausführungen spiegelt sich erneut der Vorteil der Informationsvermittlung über den Prinzen wider, da er derartige Aufforderungen wohl kaum an den Kaiser selbst hätte richten können. Doch allzu großer Überredungskunst bedurfte es nicht, um den Kaiser zum Handeln zu bewegen. Nur zehn Tage später sprach Karl VI. dem Gesandten gegenüber sein Wohlwollen darüber aus, dass er durch Hochholzer über Rabutins Bemühungen erfahren habe, die »guten Gaben, Intentiones und Absichten« Peters II. »auf alle Art und Weise« kultivieren zu wollen. Der Kaiser 930 Brief von Peter II. an Karl VI. v. 23. August 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 56r. 931 Vgl. Bericht Rabutins an Prinz Eugen v. 20. Juni 1727, HHStA, GK, Prinz Eugen von Savoyen, Kt. 103 b/c, Rabutin aus Berlin und Russland, 234r–234v.
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seinerseits wolle die in Anfertigung befindlichen Wägen nunmehr dem neuen Herrscher übergeben und ihm überdies einen Bereiter und einige Pferde zur »Unterrichtung« und zum »Gebrauch« zukommen lassen.932 Diese großzügige Ankündigung veranlasste Rabutin offensichtlich dazu, sich mit weiteren Vorschlägen bezüglich der Erziehung des Monarchen an Karl VI. zu wenden. Kurz nach Empfang der Weisung ließ er seinen Herrn wissen, dass Ostermann und Mensˇikov mit der Bitte an ihn herangetreten seien, drei deutsche Kavaliere für den Hofstaat Peters II. sowie eine Oberkämmerin und zwei Fräulein »von gutem Geschlecht« für die Großfürstin nach Russland zu schicken. Diesen Wunsch hätte im Übrigen Letztere selbst geäußert, die sich nichts »Besseres« und »Anständigeres« von der Obsorge des Kaisers und der Kaiserin erwarten könne. Wenngleich sich Rabutin der Schwierigkeit einer solchen Auswahl bewusst sei, so sehe er vor allem einen großen Nutzen dahinter. Einerseits hätte man damit Personen an »beiden hohen Orten«, die sich in »Achtung« und »Vertrauen« derselben bringen könnten. Andererseits würde man dadurch einen großen Eindruck »in publico« hinterlassen. So wäre dies nicht nur ein Kennzeichen des »befestigten Ansehens« des Kaisers am russischen Hof, sondern würde auch die »unbeweglich intime Freundschaft« zum Zaren und die »Autorität« des Kaisers gegenüber dem russischen Hof zum Ausdruck bringen. Wenngleich Rabutin dem Kaiser durch seine Antwort an Ostermann und Mensˇikov alle Optionen offengelassen habe, so betonte er abschließend die aus diesem Anliegen ersichtlich werdende »fortwährende Aufrichtigkeit« des russischen Hofes und das »immer mehr zunehmende Vertrauen« der beiden Minister.933 Während Karl VI. und Rabutin zeitgleich über Geschenke für die Erziehung des jungen Souveräns und seiner Schwester nachdachten, schritt die Kaiserin diesbezüglich gleich zur Tat. So schickte sie gemeinsam mit den Handbriefen Geschenke für Natal’ja an den russischen Hof, bei deren Übergabe jedoch einiges schief gehen sollte. Aus den Berichten Rabutins erfahren wir, dass der Kurier entsprechend seinen Anweisungen zur Übergabe der Schriftstücke direkt zum Palais von Mensˇikov gefahren sei und im Gepäck auch eine große Kiste gehabt habe, in der sich die Präsente der Kaiserin für die Großfürstin befunden hätten. Da der Fürst im Beisein Peters II. und Natal’jas die Ankunft des Boten vom Fenster aus beobachtet habe, sei diesem nichts anderes übrig geblieben, als die Neugierde der hohen Personen zu befriedigen und nach entsprechender Aufforderung die Kiste zu öffnen. Wenngleich den Kurier aus Sicht Rabutins
932 Vgl. Weisung Karls VI. an Rabutin v. 30. Juni 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 113, Weisungen 1727, 262r. 933 Vgl. Bericht Rabutins an Sinzendorf v. 12. August 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 20r–21v.
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keine Schuld traf, raubte er dem Gesandten offensichtlich die Möglichkeit, die Überreichung der Geschenke entsprechend zu inszenieren.934 Trotz der verpatzten Übergabe der Präsente verfehlten diese keineswegs ihre gute Wirkung. Eine Woche nach diesem Vorfall berichtete Rabutin nach Wien, dass ihm die Großfürstin im Rahmen einer gemeinsamen Jagdgesellschaft mit Peter II. verraten habe, wie sehr sie sich über die Aufmerksamkeiten der Kaiserin gefreut habe. Diese Schilderungen ermöglichen es überdies, unsere eigene Neugierde hinsichtlich des Inhalts der geöffneten Kiste zu stillen. So habe Natal’ja Rabutin bei dieser Gelegenheit anvertraut, dass sie im Rahmen ihres unmittelbar bevorstehenden Geburtstagsfests »[…] ihren ganzen aufpuz von deme machen würde, womit ihro Kay[serliche] May[estät] die Röm[ische] Kayserin sie also schön hätten beschencken wollen«.935 Aus dem kurz zuvor verfassten Schreiben Natal’jas an die Kaiserin geht hervor, dass sie sich für diese Geschenke mit Portraits von ihrem Bruder und sich bedanken wollte, um die ihre Tante zuvor gebeten hatte.936 Die Ausführungen Rabutins über die Reaktionen der Großfürstin auf die Geschenke weisen auch darauf hin, dass der Gesandte einen intensiven privaten Kontakt mit den hohen Herrschaften pflegte. Das geht auch aus der Berichterstattung des »Wienerischen Diariums« hervor, das im Laufe der Sommermonate gleich mehrfach berichtete, dass Rabutin abseits der offiziellen Hofveranstaltungen an der Tafel Peters II. Platz nehmen durfte.937 Die vom kaiserlichen Vertreter angesprochene Jagdgesellschaft stellte eine der Gegeneinladungen von Seiten des Gesandten dar. Natal’ja vertraute ihm ihre Freude über die Präsente sozusagen im vertrauten Rahmen einer von Rabutin veranstalteten »Jagdlustbarkeit« an, zu der die Verwandten Karls VI., wie schon einige Male zuvor, erschienen, um im Anschluss daran auch das Abendessen mit ihm einzunehmen. Überdies geht aus den Schilderungen hervor, dass sich der Ambassadeur zu diesem Zeitpunkt bereits eine Art »Dacˇa« angeschafft hatte. So fand die Einladung im »Gartenhaus« Rabutins statt, das sich der Gesandte »zu behülfs besserer Gesundheit« gleich außerhalb der Stadt habe herrichten lassen.938 Aus den nachfolgenden Gesandtschaftsberichten wissen wir nicht nur, dass das Haus ein Geschenk Peters II. an Rabutin war, sondern sie liefern uns auch eine Ab934 Vgl. Bericht Rabutins an Sinzendorf v. 16. August 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 40; Brikner, Dvor (Teil 1), 125. 935 Bericht Rabutins an Karl VI. v. 23. August 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 47r. 936 Vgl. Brief von Natal’ja Alekseevna an Elisabeth Christine v. 20. August 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 54v. 937 Vgl. Wienerisches Diarium v. 2. Juli 1727, Nr. 53, [2]; Wienerisches Diarium v. 27. September 1727, Nr. 78, [1]. 938 Vgl. Bericht Rabutins an Karl VI. v. 23. August 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 47v ; Brikner, Diplomaty, 513.
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bildung desselben, welche sein Nachfolger Wratislaw anlässlich der Renovierung des Gebäudes im Jahre 1732 nach Wien schickte.939
Abb. 15: Grundriss von Rabutins Dacˇa in der Nähe von St. Petersburg – ein Geschenk Peters II. an den kaiserlichen Gesandten.940
Die angesprochenen kaiserlichen Zuwendungen für die Vertreter des russischen Hofes sorgten jedoch auch für unerwartete Spannungen. Konkret erregte das Ausbleiben des Diploms für Mensˇikov beim Ausgezeichneten einigen Unmut. Bereits Ende Juni 1727 hatte der Kaiser in seiner Antwort auf das Notifikationsschreiben seinen Dank gegenüber dem Fürsten angesichts seiner Verdienste um das Zustandekommen des Bündnisses folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: »[I]ch aber ebenfalls einen so mercklichen antheyl daran nimme, daß Euer L[ie]bd[en] sich zu mir alles dessen, was ich zu dero und deren ihrigen vergnügungen und aufnamb letz und inskünftig je beyzutragen vermag, von nun an gäntzlich versicheren können, und dessen vergwüßtet [sic] sein wollen, inmassen er Graf von Rabutin herüber sich des mehrern müssen eussern wird.«941 939 Vgl. Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 14. August 1732, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 8, Berichte 1732, 284r–284v. 940 Beilage zum Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 14. August 1732, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 8, Berichte 1732, 288v. 941 Antwort Karls VI. auf das Notifikationsschreiben von Mensˇikov v. 30. Juni 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 113, Weisungen 1727, 287r.
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Aus dem dazugehörigen Begleitschreiben für den kaiserlichen Vertreter geht deutlich hervor, wie wichtig es für den Wiener Hof war, den mächtigsten Mann am russischen Hof bei guter Laune zu halten. Dementsprechend schrieb Karl VI. an Rabutin, dass die »Beibehaltung« des Fürsten ein »unumgängliches Werk« darstelle. Deshalb habe er diesem nicht nur eine Antwort mit »ganz anständigen Terminis« übermittelt, sondern wolle auch die bereits mehrfach erwähnten Wägen für ihn verfertigen lassen. Außerdem habe er ihm das Lehen und die männliche Nachfolge in Kosel zugesprochen, welches der Kaiser noch mit einigen »Appartinentien« versehen wollte, um es noch ergiebiger zu machen.942 Karl VI. war offensichtlich davon überzeugt, Mensˇikov mit diesen Versprechungen für seine Verdienste Genüge zu tun. Die nachfolgenden Berichte Rabutins zeigen jedoch, dass diese Hoffnung nicht gänzlich in Erfüllung gehen sollte. Zunächst erzielte die Ankündigung über die Verleihung der Grafschaft allem Anschein nach die gewünschte Wirkung. So berichtete Rabutin Ende Juli 1727 nach Wien: »[…] Die freud und das vergnügen welche der Fürst [Mensˇikov] über […] die von mir schon etwas vorher eröffnete zulegung des herzogl[ichen] lehens in Schlesien bezeiget ist ungemein groß, als derselbe mir es, da heut ein ziemlich weile bey ihme gewesen bin nicht gnugsam hat aussprechen können. […]«943
Die positiven Folgen der Zuwendung an Mensˇikov wurden jedoch nicht nur von Rabutin selbst, sondern auch von anderen politischen Bobachtern bemerkt. Das »Wienerische Diarium« informierte seine Leser relativ nüchtern, dass »Seine Römisch Kaiserl[iche] Majestät denselben [Mensˇikov] mit dem Hertzogtum Kosel begnädiget, darinnen sonderlich die Stadt Kosel, samt ihrem festen Schlosse sehr considerabel ist«.944 Der französische Berichterstatter Magnan hingegen machte klare Angaben über die Wirkung dieser Geste: »Le comte Rabutin remit ces jours pass¦s au prince Menschikoff un diplúme de l’empereur par lequel S[a] M[ajest¦] I[mp¦riale] donne l’investiture du duch¦ de Kosel en Silesie qui rapporte 60 mille ¦cus par an. Le Czar en a d¦j t¦moign¦ sa gratitude au comte Rabutin par le don qu’il lui fit avant-hier d’une maison P¦tersbourg et par la promesse qu’il y a ajout¦e de lui donner l’le d’Oesel dont depuis quelques ann¦es m. le duc de Holstein jouissait des revenus, s’¦levant dix mille roubles.«945
942 Vgl. Weisung Karls VI. an Rabutin v. 30. Juni 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 113, Weisungen 1727, 262r–262v. 943 Bericht Rabutins an Sinzendorf v. 22. Juli 1727, HHStA, StA, RU II, Kt. 3, Berichte 1727 I–VI, 154r. 944 Wienerisches Diarium v. 30. August 1727, Nr. 70, [1]. 945 Bericht Magnans an Morville v. 24. Juli 1727, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 75, SanktPeterburg 1891, 52.
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Magnan bestätigt darin einerseits, dass es sich im Falle des bereits angesprochenen Hauses von Rabutin tatsächlich um ein Geschenk Peters II. handelte. Andererseits unterstreicht er in seinem Bericht auch die positive Wirkung der kaiserlichen Zuwendungen gegenüber Mensˇikov, indem er die »Übergabe« des Präsents an den kaiserlichen Ambassadeur als Antwort des russischen Herrschers auf die bereits erfolgten Großzügigkeiten Karls VI. bezeichnete. Den Ausführungen Magnans entsprechend genoss Rabutin unmittelbar nach der Thronbesteigung Peters II. am russischen Hof ein außergewöhnlich hohes Ansehen. Schon einige Wochen zuvor schrieb er an den französischen Hof: »[…] [L]e cr¦dit du comte Rabutin en cette cour diffÀre peu de celui d’un ministre du Czar. Ce jeune prince lui a t¦moign¦ sa gratitude depuis son avÀnement au trúne par un pr¦sent de 20 mille roubles.«946 Bei näherer Betrachtung weisen die sonst recht zuverlässigen Schilderungen Magnans jedoch eine kleine, aber folgenschwere Ungenauigkeit auf. So spricht er in seinem Bericht vom 24. Juli 1727 von der Übergabe eines Diploms an Mensˇikov, die zu diesem Zeitpunkt zweifelsohne noch nicht über die Bühne gegangen war. Denn genau das Ausbleiben des heiß ersehnten Schriftstücks erschwerte die Tätigkeit Rabutins in den drauffolgenden Monaten. So erinnerte der kaiserliche Vertreter ab August 1727 immer wieder an die Dringlichkeit der Absendung des Diploms. Den Kaiser ließ er diesbezüglich wissen, dass es der »unablässige Wunsch« des Fürsten sei, ehestens in den Besitz des Lehens zu gelangen.947 Etwas drastischer schilderte Rabutin die Lage gegenüber Sinzendorf. Demnach habe Mensˇikov bei der teilweise verpatzten Übergabe der Briefe und Geschenke des Kaiserpaares für Peter II. und seine Schwester zuerst nach dem ausstehenden Diplom des Kaisers gefragt. »Die nämliche Stimme«, so Rabutin in seinem Bericht weiter, habe er seitdem »alle Tage anzuhören«. Daraus sei also deutlich zu erkennen, »wie hoch notwendig« es sei, die »Ungeduld« des Fürsten »bald zu stillen«.948 Die Dringlichkeit der Übergabe des Diploms spiegelt sich in dem Umstand wider, dass Rabutin diesbezüglich sein Leid auch gegenüber anderen Vertretern am russischen Hof klagte. So erfahren wir aus den Berichten Stambkes, dass Rabutin dem holsteinischen Vertreter gegenüber angesichts der Genesung Mensˇikovs scherzend festhielt, er könne Wien nunmehr darüber informieren, dass der Fürst noch nicht tot sei. Diese Information sollte die kaiserlichen Minister aus Sicht des
946 Bericht Magnans an Morville v. 14. Juni 1727, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 75, SanktPeterburg 1891, 30. 947 Vgl. Bericht Rabutins an Karl VI. v. 2. August 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 7v. 948 Vgl. Bericht Rabutins an Sinzendorf v. 16. August 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 45r–45v ; Brikner, Diplomaty, 524.
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Holsteiners in Hinblick auf das Diplom und die damit verbundene Investitur wohl endgültig zum Handeln bewegen.949 Stambke spricht damit einen Umstand an, der in der bisherigen Forschungsliteratur als Hauptgrund für den unmittelbar bevorstehenden Untergang Mensˇikovs verantwortlich gemacht wurde – dessen schwere Krankheit, die es ihm ab Ende Juni 1727 unmöglich machte, für über einen Monat das Haus zu verlassen. Von dieser konnte er sich Anfang August wieder erholen, obwohl viele Zeitgenossen zuvor bereits das baldige Ableben des Fürsten prophezeit hatten. Die unterschiedlichen Darstellungen sind sich darüber einig, dass das kleine Zeitfenster von wenigen Wochen dafür ausreichte, um den jungen Monarchen gegen seinen bis dahin engsten Vertrauten aufzubringen. Bei diesem Vorhaben stießen die Gegner Mensˇikovs auf fruchtbaren Boden. So spiegelt sich in der bisherigen Forschungsliteratur die einhellige Meinung wider, dass der verdeckte Widerstand gegen den mächtigsten Mann groß war und es überdies kein allzu schweres Unterfangen darstellte, Peter II. aus der festen Umklammerung des Fürsten zu lösen. Während der faktischen Abwesenheit von Aleksandr Danilovicˇ erlebte der junge Monarch vor allem hinsichtlich seines Lebenswandels und seiner finanziellen Gebarung große Handlungsfreiheit und Selbstbestimmtheit, welche in der einschränkenden Isolierung des Mensˇikovpalasts nicht herrschten. Es ist also kaum verwunderlich, dass Peter II. und seine Schwester Natal’ja die Anwesenheit ihrer neuen Gefolgschaft außerordentlich schätzten. Dazu zählten neben dem bei beiden äußerst beliebten Erzieher Ostermann vor allem die Fürsten des Dolgorukij-Klans sowie Prinzessin Elisabeth. Gerade sie verkörperte das Gegenteil von Maria Mensˇikova, der Verlobten des Herrschers, die keineswegs die Wunschkandidatin Peters II. war. Neben Prinzessin Elisabeth und den Aristokraten aus dem Dolgorukij-Geschlecht, die Mensˇikov aus bereits bekannten Gründen ablehnten, hatten auch die meisten Mitglieder des Obersten Geheimen Rates gute Gründe für ihre Antipathie gegenüber dem Fürsten. So hatte dieser die Regierungsgeschäfte, welche laut Testament Katharinas dem gesamten Conseil übertragen worden waren, bis dahin in Eigenregie geführt. Zudem kamen bei einigen Ministern auch noch persönliche Gründe hinzu, die die Opposition zu Aleksandr Danilovicˇ nur noch stärker werden ließen. Deshalb war auch von dieser Seite kein ernst zu nehmender Widerstand gegen die Entmachtung Mensˇikovs zu erwarten.950 Mensˇikov glaubte, in Ostermann einen wahren Vertrauten zu haben. Dieser ließ zunächst jedoch die Entzweiung zwischen dem Monarchen und seinem 949 Vgl. Bericht Stambkes an Bassewitz v. 15. August 1727, Landesarchiv Schleswig-Holstein (LASH), Abteilung (Abt.) 8.1: Schleswig-Holstein-Gottorfisches (Großfürstliches) Geheimes Regierungs-Conseil zu Kiel (1720–1773), Nummer (Nr.) 1412, 9v–10r. 950 Vgl. Anisimov, Kuda, 171–172; Brikner, Dvor (Teil II), 560, 561–562 sowie 565; Pavlenko, Ekaterina I, 146–149 sowie 152–153; Solov’ev, Istorija, Bd. X, 140–145.
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künftigen Schwiegervater zumindest gewähren und war im weiteren Verlauf eifrig am Fall des Fürsten beteiligt. Der Entfremdungsprozess setzte während der Krankheit des Fürsten ein, indem die Visiten von Peter und Natal’ja beim kranken Fürsten immer seltener wurden. Der offizielle Bruch erfolgte jedoch erst im August 1727. Während Peter II. die Gesellschaft seiner neuen Umgebung in Peterhof genoss, befand sich Mensˇikov mit seiner Familie auf seinem Ansitz in Oranienbaum. Wenngleich Ostermann den Fürsten in dieser Zeit postalisch gleich zweimal über die Wertschätzung des Herrschers und seiner Schwester für seine Person informierte, so erwartete Aleksandr Danilovicˇ bei den nachfolgenden Treffen mit dem Monarchen doch ein völlig ausgewechselter Peter II. Ende August 1727 zeigte der junge Souverän seinem Schwiegervater und seiner Verlobten im Rahmen des Namenstags von Großfürstin Natal’ja im wahrsten Sinne des Wortes die kalte Schulter. Beim darauffolgenden Namenstag des Fürsten und der wenige Tage später stattfindenden Einweihung einer Kirche zu Ehren Peters II. in Oranienburg zog es der Herrscher vor, nicht zu erscheinen. Schließlich kehrte er Anfang September nicht in die Residenz von Mensˇikov nach Petersburg zurück, sondern bezog den dortigen Sommerpalast. Der Fürst war bereits einige Tage zuvor in die Hauptstadt gekommen, wo bereits der von Ostermann und dem Obersten Geheimen Rat vorbereitete Untergang auf ihn wartete. Am 8. September wurde der Hausarrest über Aleksandr Danilovicˇ verhängt, worauf dieser sich in letzter Verzweiflung an die Fürsten Golicyn mit der Bitte um Unterstützung wandte. Doch der kurz zuvor noch zum Generalissimus erklärte Mensˇikov hatte keine Anhänger mehr. Am 9. September erfolgte die Enthebung von allen Ämtern und Auszeichnungen. Tags darauf musste er mit seiner Familie die Stadt verlassen. Die Begnadigungsgesuche von Mensˇikov und seiner Familie blieben unbeantwortet, sein Hab und Gut wurde konfisziert. Die Entmachtung des für lange Zeit einflussreichsten Mannes am russischen Hof war besiegelt.951 Rabutin wusste über die steigende Opposition gegenüber dem Fürsten Bescheid, als er sich weiterhin um die schnelle Übermittlung des Diploms bemühte. Bereits Ende August bzw. Anfang September 1727 – und damit früher als alle anderen europäischen Gesandten – berichtete er nach Wien, dass sich eine einflussreiche Gruppe gegen Mensˇikov formiert habe, an deren Spitze Golovkin stehe, der Aleksandr Danilovicˇ die »Verbannung« seines Schwiegersohnes Jaguzˇinskij durch die Ernennung zum Gouverneur in Astrachan’ nicht verzeihen konnte. Seinen Unmut über den »Despotismus« habe er Ostermann anvertraut, welcher seinerseits das Gespräch mit Rabutin in dieser Sache gesucht habe. 951 Vgl. Anisimov, Kuda, 172 sowie 175–179; Brikner, Dvor (Teil II), 561 sowie 563–572; Kurukin, Epocha, 133–135; Pavlenko, Ekaterina I, 148–149 sowie 154–160; Solov’ev, Istorija, Bd. X, 145–155.
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Demzufolge würden sich alle ein Ende der Willkür- und Gewaltherrschaft des Fürsten wünschen, was nach Möglichkeit unter Vermeidung eines Skandals erreicht werden sollte, um die innere Ruhe nicht zu gefährden. Aus diesem Grund wolle man den jungen Herrscher für volljährig erklären, damit dieser wiederum alle Einzelheiten für eine formelle Beschwerde gegen Mensˇikov sammeln könne. Rabutin habe daraufhin gegenüber Ostermann auf eine derartige Handlungsweise bestanden. So wäre ein Vorgehen gegen den Fürsten ohne die entsprechende Volljährigkeitserklärung möglicherweise Wasser auf die Mühlen derjenigen, die eine Beschränkung der Macht des Monarchen herbeisehnten. Diese sei jedoch das einzige Mittel zum Erhalt der Kräfte in Russland. Weniger eindeutig gab sich der kaiserliche Gesandte bei der Einschätzung der weiteren Ereignisse gegenüber seinen Vorgesetzten. Man werde sehen, ob sich die Sache um den in großer Gefahr befindlichen Fürsten friedlich lösen werde. Ungeachtet seiner Habgier und seines nicht enden wollenden Ehrgeizes sei er vorerst für die Interessen des Wiener Hofes von Nöten, weshalb Rabutin sich um eine Beschwichtigung in dieser Sache bemühen wolle.952 Diese Strategie lässt es nicht verwunderlich erscheinen, dass Rabutin weiterhin um den Erhalt des immer noch mächtigsten Mannes bemüht war. So berichtete er unmittelbar danach an seinen Hof, dass das »Verlangen« Mensˇikovs nach dem Diplom »unaussprechlich« sei. Jedes Mal, wenn Rabutin zu ihm komme, frage er danach und füge dem noch hinzu, dass jetzt der beste Zeitpunkt für die Überreichung wäre, um andere Angebote noch kräftiger ausschlagen zu können. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Fürst offensichtlich noch keine schwerwiegenderen Probleme und fühlte sich in seiner Machtposition deutlich sicher. So hielt Rabutin weiter fest, dass Mensˇikov nach seiner ausgestandenen Krankheit erstmals wieder bei ihm zum Essen gewesen sei, wobei dem kaiserlichen Gesandten die Negotiationen aufgrund der »Ungeduld« und »Verdrießlichkeit« desselben schwer gefallen seien. Aus diesem Grund entschied er sich zu folgendem Schritt, um sich den Umgang mit Aleksandr Danilovicˇ zu erleichtern. Er habe General Mosˇkov aufgrund von dessen Naheverhältnis zum Generalissimus kurzerhand einen Teil von jenen Geldern übergeben, die der Kaiser eigentlich für die holsteinische Kanzlei nach Russland geschickt hatte. Überdies habe er der Schwester des Fürsten im Namen des Kaisers einen Ring geschenkt. Natürlich war sich Rabutin der Gefahr seines eigenständigen Handelns bewusst. Deshalb bat er am Ende seiner Relation bereits im Vorhinein um Nachsicht, da der Zeitmangel es nicht zugelassen hätte, eine Erlaubnis des Wiener Hofes
952 Vgl. Brikner, Dvor (Teil II), 561–562; Kurukin, Epocha, 134.
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einzuholen. Die Versicherung der beiden Personen sei zum damaligen Zeitpunkt jedoch absolut notwendig gewesen.953 Trotz der sich über Mensˇikov zusammenbrauenden Gewitterwolken wollte sich Rabutin offensichtlich in Sicherheit wiegen und auch die Partei des Fürsten für den Fall des Falles gewogen halten. Wie wir aus den Berichten anderer Diplomaten erfahren, sah das Verhalten des kaiserlichen Vertreters gegenüber dem Fürsten kurze Zeit später jedoch ganz anders aus. So berichtete Magnan Anfang September 1727, dass Rabutin im Gegenzug für die Grafschaft Kosel von Mensˇikov eine Geldsumme von 5.000 Rubel bekommen habe.954 Stambke hielt diesbezügliche wenige Wochen später fest: »Ich habe immer vergessen, zu vermelden, daß für [sic] einiger Zeit der Fürst M[ensˇikov] dem seel[igen] Grafen Rabutin für sein particulier eine gratification von 5/ m [5.000] Rubeln machen wollen, welche aber der Graf nicht angenommen, sondern den H[errn] Lieven obligirt, sie fein wieder zurück tragen zu lassen.«955
Diese Ausführungen liefern die Erklärung dafür, warum uns keine Begründungen aus erster Hand über die Rückgabe des Geldes vorliegen. Der plötzliche Tod Rabutins im September 1727 ersparte es dem kaiserlichen Vertreter, sich vor seinem Hof in dieser Angelegenheit rechtfertigen zu müssen. Es ist jedoch anzunehmen, dass dieser Schritt Rabutins als eine Vorsichtsmaßnahme angesichts des herannahenden Unterganges des Fürsten gedacht war. Wie wir wissen, war Rabutin über die immer heftiger werdenden Beschwerden über Mensˇikov informiert. Ebenso wie alle anderen europäischen Diplomaten wusste auch er darüber Bescheid, dass der offene Konflikt zwischen Mensˇikov und dem Herrscher dadurch ausgelöst worden war, dass sich der Fürst in die finanziellen Angelegenheiten Peters II. einmischte. Angesichts dieser allseits bekannten Auseinandersetzung, die in weiterer Folge als Vorwand für die Entmachtung herangezogen wurde, erachtete es Rabutin allem Anschein nach als keine gute Idee, ein Geldgeschenk vom Fürsten anzunehmen. Außerdem empfahl er dem Wiener Hof noch kurz vor seinem Tod, die Beendigung der Prozedur um die Lehensübergabe hinauszuzögern. Diese wäre nach damaligen Vorstellungen mit der Annahme des Geldgeschenkes endgültig besiegelt worden.956 Sicher ist, dass sowohl der Tod Rabutins als auch der Fall des wichtigsten Mannes am russischen Hof die kaiserliche Diplomatie vor ganz neue Herausforderungen stellte. So wurde damit die Frage der Nachfolge des am russischen 953 Vgl. Bericht Rabutins an Sinzendorf v. 23. August 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 46r ; Brikner, Diplomaty, 524–525. 954 Vgl. Bericht Magnans an Morville v. 2. September 1727, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 75, Sankt-Peterburg 1891, 72. 955 Bericht Stambkes an Bassewitz v. 16. September 1727, LASH, Abt. 8.1, Nr. 1412, 23v. 956 Vgl. Brikner, Diplomaty, 525; Brikner, Dvor (Teil II), 560.
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Hof äußerst beliebten Diplomaten aufgeworfen. Diese Funktion übernahm einstweilen Rabutins Privatsekretär, Lorenz von Caram¦,957 der den Wiener Hof auch über die letzten Ereignisse rund um den Fall Mensˇikovs auf dem Laufenden hielt.958 Mit dem unerwarteten Ableben Rabutins war auch das Problem der Annäherung an die nunmehr zum Teil ausgetauschte Elite des russischen Hofes verbunden. Die Kommunikationsstrategien des Wiener Hofes und seiner außenpolitischen Vertreter in dieser heiklen Lage sollen in den nunmehr folgenden Abschnitten näher betrachtet werden.
3.2.2. Unerwarteter Wechsel der außenpolitischen Akteure – der Tod Rabutins und die schwierige Annäherung von Franz Carl Graf Wratislaw an den Hof Peters II. Die bisherigen Ausführungen lassen erahnen, dass Rabutins Tod völlig unerwartet erfolgte. Am 2. September 1727 schrieb der Gesandte noch einen ausführlichen Bericht über die Lage in Russland, drei Tage später war er bereits verstorben – hielt Brikner diesbezüglich fest. Brikner, der die Wiener Gesandtschaftsakten kannte, vermutete einen Schlaganfall als Todesursache.959 Hintergrund dieser Spekulationen ist die Tatsache, dass Caram¦s Trauerbericht vom 8. September offensichtlich verloren gegangen war, da der Sekretär diesen in seinem darauffolgenden Schreiben an Sinzendorf erwähnt.960 Dieser Umstand zwingt uns dazu, Relationen anderer Diplomaten über die Todesursache zu Rate zu ziehen. Diesbezüglich liefern uns die Berichte Stambkes eine eindeutige Antwort, der sich darin nicht nur als enger Freund Rabutins darstellte, sondern auch die letzten Tage des kaiserlichen Gesandten beschrieb. Seine Beschreibungen lassen keinen Zweifel daran, dass Rabutin an einem Schlaganfall verstarb. Demzufolge 957 Lorenz von Caram¦ kam als Sekretär Rabutins im Jahre 1726 an den russischen Hof und fand nach dessen unerwartetem Tod in dieser Funktion auch unter seinem Nachfolger Wratislaw Verwendung. Kurz vor der Abberufung Wratislaws vom russischen Hof im Jahre 1733 legte Karl VI. die Entscheidung über die weitere Zukunft Caram¦s in die Hände seines abreisenden Vorgesetzten. Trotz des gespannten Verhältnisses zwischen Caram¦ und Hochholzer entschied sich Wratislaw offensichtlich für den Verbleib Caram¦s am russischen Hof. So erschien sein Nachfolger, Heinrich Karl Graf Ostein, in Begleitung von Hochholzer und Caram¦ bei seiner Antrittsaudienz am russischen Hof im September 1734. Vgl. Bantysˇ-Kamenskij, Obzor, 52; Nelipovicˇ, Sojuz, 139; Weisung Karls VI. an Wratislaw v. 28. September 1732, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 119, Weisungen 1732 VI–1733 III, 194r–194v. 958 Vgl. Brikner, Dvor (Teil II), 569, 571, 572 sowie 575. 959 Vgl. Brikner, Diplomaty, 514. 960 Vgl. Bericht Caram¦s an Sinzendorf v. 9. September 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 93r.
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habe alles mit einem starken Krampf im rechten Bein begonnen, als sich die beiden gerade in guter Gesellschaft zu Tisch begeben wollten. In den darauffolgenden Tagen sei eine Verschlechterung in Form einer Lähmung der Zunge und anderer Anfälle eingetreten. Dies habe Anlass dazu gegeben, Rabutin die letzte Ölung zu spenden, bei der sich der Sterbende unter gemeinsamen Gebeten von Stambke verabschiedet haben soll. Obwohl sich daraufhin eine kurze Zeit der Besserung einstellte, musste Stambke dem mittlerweile abgereisten Bassewitz am 6. September um acht Uhr abends die traurige Nachricht übermitteln, dass mit einer »Wiederaufkunft« seines Freundes nicht mehr zu rechnen sei.961 Rabutins plötzlicher Tod sorgte nicht nur beim holsteinischen Vertreter für offensichtliche Bestürzung, sondern habe auch Peter II. und die Großfürstin »sehr betrübt« gestimmt, wie Stambke daraufhin berichtete. Es sei zu hoffen, so der Holsteiner weiter, dass sein Nachfolger den »gleichen Geist« besitzen werde, wobei dieser es schwer haben werde, so viel »Confiance« am russischen Hof zu erwerben.962 Diese Einschätzungen decken sich mit den weiteren Darstellungen Caram¦s über die ersten Reaktionen Ostermanns. Demzufolge hätte Rabutin durch seine Person und Qualitäten bei allen Vertretern des russischen Hofes »eine ganz eigene Estime erworben«. Ostermann habe daher gebeten, ihn so bald und so gut wie möglich zu ersetzen. Bei dieser Gelegenheit gab der Vizekanzler gleichzeitig seine Wünsche über die notwendigen Eigenschaften des Nachfolgers an die Wiener Konferenzminister weiter. So solle er nicht nur »von hoher Geburt« und »zur Geschäftsführung geschicklich«, sondern auch »redlich«, »aufrichtig« und »mit einer gewissen ungezwungenen Handlungsart ausgestattet« sein. Außerdem möge er es Rabutin gleich tun und in Kleinigkeiten nicht »anhäckeln« sowie auf das Zeremoniell »nicht gar zu versessen« sein. Ostermann gab also die Devise aus, keine Zeit zu verlieren, da dem russischen Hof an der »Wiederherkunft« eines Ministers sehr viel gelegen sei.963 Diese Bitte wiederholte er gegenüber Caram¦ bis Ende Oktober 1727 gleich dreimal.964 Diese Reaktionen unterstreichen das, was auch Brikner in seiner Untersuchung hervorgehoben hat: Der Tod Rabutins bedeutete einen erheblichen Verlust für die Interessen des Kaisers. So konnte sich der Wiener Hof durch das enge Verhältnis zwischen seinem Vertreter, Peter II. und der Großfürstin auch posi961 Vgl. Bericht Stambkes an Bassewitz v. 6. September 1727, LASH, Abteilung 8.1, Nr. 1412, 11r–12r. 962 Vgl. Berichte Stambkes an Bassewitz und Herzog Karl Friedrich v. 29. August 1727, LASH, Abteilung 8.1, Nr. 1412, 12v–13r sowie 14v–15r. 963 Vgl. Bericht Caram¦s an Sinzendorf v. 9. September 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 93r–96v. 964 Vgl. Berichte Caram¦s v. 30. September sowie 14. und 28. Oktober 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 110r–112v, 127r sowie 145r ; Brikner, Diplomaty, 516.
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tive Auswirkungen auf die diplomatischen Beziehungen mit Russland erwarten. Außerdem war der überaus erfahrene Hochholzer zu diesem Zeitpunkt noch nicht aus Wien zurückgekehrt, weshalb Caram¦ kurzfristig dessen Agenden übernehmen musste. Dabei fühlte er sich sichtlich unwohl, weshalb er Ende September 1727 aus gesundheitlichen Gründen um seine Abberufung bat.965 Die negativen Auswirkungen des plötzlichen Todes von Rabutin und die Unentschlossenheit Wiens bezüglich seiner Nachbesetzung wurden auch von anderen politischen Beobachtern wahrgenommen: So frohlockte Magnan über die sich dadurch in Zukunft erschwerenden Verhandlungen zwischen Wien und St. Petersburg/Moskau, während Stambke von der »Verlegenheit« bei der Suche nach einem geeigneten Nachfolger sprach.966 All diese Einschätzungen lassen bereits erstmals durchblicken, welch enormen Einfluss der »menschliche Faktor« auf die zwischenstaatlichen Beziehungen hatte. Aus diesem Grund wurde bis zur endgültigen Bekanntgabe des Nachfolgers eifrig weiter spekuliert. Stambke etwa konnte Mitte Oktober 1727 über den preußischen Gesandten Mardefeld in Erfahrung bringen, dass Otto Ferdinand Graf Thraun (1677–1748) zum neuen Vertreter des Kaisers am russischen Hof bestimmt worden sei.967 Magnan, der seinen Hof etwas später über Ostermanns festen Wunsch nach einer schleunigen Nachbesetzung Rabutins benachrichtigt hatte, wurde inzwischen von Paris angewiesen, Versailles genauestens über die weiteren Ereignisse in dieser Sache und den mit dem Tod Rabutins sowie dem Fall Mensˇikovs verbundenen Einflussverlust des Kaisers in Russland zu informieren.968 Caram¦ selbst benachrichtigte seinen Hof Anfang November 1727 über die ersten Reaktionen auf die mit Spannung erwartete Festlegung des Wiener Hofes. So habe er gleichzeitig mit der Ankündigung Sinzendorfs auch aus anderen Quellen erfahren, dass sich der Kaiser für Graf Wratislaw entschieden habe. Da Wratislaw selbst bereits mit ihm in Kontakt getreten sei, um Jaguzˇinskij um die abermalige Bereitstellung seines Palais zu bitten – in dem bereits Rabutin zu logieren pflegte – machte er aus den Neuigkeiten kein großes
965 Vgl. Berichte Caram¦s an Sinzendorf v. 30. September, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 117r ; Brikner, Diplomaty, 514–515. 966 Vgl. Berichte Magnans an Morville und Chauvelin v. 9. und 16. September 1727, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 75, Sankt-Peterburg 1891, 74–75 sowie 76–77; Bericht Stambkes an Bassewitz v. 7. Oktober 1727, LASH, Abteilung 8.1, Nr. 1412, 30r–30v. 967 Vgl. Bericht Stambkes an Bassewitz v. 14. September 1727, LASH, Abteilung 8.1, Nr. 1412, 36r. 968 Vgl. Bericht Magnans an Morville v. 31. Oktober 1727, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 75, Sankt-Peterburg 1891, 111; Weisung Chauvelins an Magnan v. 13. November 1727, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 75, Sankt-Peterburg 1891, 118–119.
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Geheimnis mehr. So habe er Ostermann bereits eine Privatnachricht über die Entscheidung des Wiener Hofes zukommen lassen.969 Ostermann habe sich darüber erfreut gezeigt und im selben Atemzug angekündigt, trotz Ermangelung einer persönlichen Bekanntschaft mit Wratislaw alles unternehmen zu wollen, um mit diesem zum »Zweck der unterhaltenden wahren Freundschaft zwischen beiden Höfen« zu arbeiten – wie er es schon mit Rabutin gemacht habe. Gleichzeitig hoffte der Vizekanzler, dass der Wiener Hof seinem Rat bei der Wahl des neuen Gesandten gefolgt sei. Caram¦ nutzte diese Gelegenheit, um gegenüber Ostermann den »besonders facilen und angenehmen Umgang« Wratislaws anzupreisen, da er ihn selbst in Warschau habe kennenlernen dürfen. Dieser persönliche Eindruck veranlasste ihn zu der Prognose, dass auch der russische Herrscher an ihm Gefallen finden werde.970 Die weiteren Ereignisse werden jedoch zeigen, dass Caram¦ mit dieser Einschätzung falsch lag und der Inhalt des Privatgesprächs mit Ostermann außerdem nicht lange vertraulich behandelt wurde. So berichtete Magnan Ende November 1727 nach Frankreich, dass sich Ostermann – entgegen den Darstellungen Caram¦s – keineswegs erfreut über die Festlegung des Wiener Hofes gezeigt habe. Der Vizekanzler habe nämlich nicht verbergen können, dass er Wratislaw als für den russischen Hof unpassend erachtete. Grund dafür sei Ostermanns Vermutung, dass er mit ihm nicht in »vollem Vertrauen« agieren könne. Bei dieser Einschätzung stützte er sich offensichtlich auf die Erfahrungen des Fürsten Golicyn, der sich Magnans Ausführungen zufolge über die Unzuverlässigkeit Wratislaws beschwert habe, die ihm in ihrer gemeinsamen Zeit am polnischen Hof aufgefallen sei. So habe er bzw. der Wiener Hof seine Versprechungen gegenüber Russland in Hinblick auf eine gemeinsame Polenpolitik nicht halten können.971 Wratislaw eilten also offensichtlich keine Vorschusslorbeeren an den russischen Hof voraus. Diese Haltung der russischen Minister machte die Rückkehr des zum damaligen Zeitpunkt bedeutendsten Russlandkenners im Kreise der kaiserlichen Diplomaten nicht einfacher. Hochholzer erreichte auf seinem Rückweg nach St. Petersburg die Nachricht über die Bestellung Wratislaws. Gleichzeitig wurde er instruiert, sich nicht ohne dessen Wissen auf irgendwelche Geschäfte einzulassen und ihn in allen »Dienstsachen« unverzüglich zu informieren. Dem folgte die Erinnerung an seine Gehorsamspflicht gegenüber dem vom Kaiser bevollmächtigten Minister, was Karl VI. Anfang des Jahres 1728 in 969 Vgl. Bericht Caram¦s an Sinzendorf v. 4. November 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 149v–150r. 970 Vgl. Bericht Caram¦s an Sinzendorf v. 4. November 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 150r–151r. 971 Vgl. Bericht Magnans an Chauvelin v. 22. November 1727, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 75, Sankt-Peterburg 1891, 130–131.
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einer gesonderten Weisung nochmals wiederholte.972 Obwohl diese Erinnerung an die Gehorsamspflicht gegenüber dem Vorgesetzten zu den Standardfloskeln der diplomatischen Korrespondenz gehörte (wie wir das bereits im Falle der Entsendung Rabutins nach Russland gesehen haben), so ist das zweimalige Betonen des Kaisers in diesem konkreten Fall bemerkenswert. Es war ein Ergebnis der internen Machtverhältnisse am Wiener Hof, über die Karl VI. zweifelsohne Bescheid wusste. Hochholzer, der zum engen Vertrautenkreis Schönborns zählte, sah sich nunmehr Wratislaw als einem Parteigänger Eugens gegenüber und fürchtete daher einen Ausschluss von den Geschäften. Wratislaw hingegen, der neben Eugens Wohlwollen auch jenes des Reichsvizekanzlers genoss, wollte eine Weitergabe von Geheimnissen an Schönborn verhindern und zog daher weiterhin Caram¦ als persönlichen Sekretär heran.973 Wenngleich diese internen Spannungen in weiterer Folge das Arbeitsklima der kaiserlichen Gesandtschaft belasten sollten, so hatte Hochholzer zunächst andere Sorgen. Anfang Dezember 1727 informierte er seinen Hof über seine Ankunft in St. Petersburg. Nachdem er zuvor auch alle in- und ausländischen Minister von seinem Eintreffen in Kenntnis gesetzt hatte, wollte er nunmehr abwarten, wie ihm der russische Hof zeremoniell begegnen würde.974 Dabei ergab sich nämlich ein Problem, das sich aus einem Bericht des »Wienerischen Diariums« über die Rückkehr Hochholzers erschließen lässt. So berichtete die Zeitung Ende 1727 über bemerkenswerte Veränderungen des diplomatischen Corps am russischen Hof: Auf den spanischen außerordentlichen Botschafter Jacobo Francisco duque de Liria (1695–1734)975 folgte Hochholzer als kaiserlicher Resident, während der preußische Minister Mardefeld nach Berlin zurückberufen wurde und der schwedische Gesandte neue Beglaubigungsschreiben erhielt.976 Diese Nachricht weist auf die Erhöhung Hochholzers zum kaiserlichen Residenten hin, der sich im Gegensatz zum einfachen Privatsekretär Caram¦ natürlich eine Audienz erwarten durfte.977 Nun ergab sich das Problem, dass der spanische Ambassadeur zum Zeitpunkt der Ankunft des kaiserlichen Residenten vom russischen Hof noch nicht offiziell empfangen worden war. Es stellte sich nicht nur die Frage über das Zeremoniell 972 Vgl. Weisung Karls VI. an Hochholzer v. 30. November 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 113, Weisungen 1727, 386r ; Weisung Karls VI. an Hochholzer v. 6. Januar 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 114, Weisungen 1728, 1r. 973 Vgl. Brikner, Diplomaty, 516; Müller, Gesandtschaftswesen, 100. 974 Vgl. Bericht Hochholzers an Sinzendorf v. 2. Dezember 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 150r–151r. 975 Jacobo Francisco duque de Liria war in den Jahren 1727 bis 1730 Ambassadeur und bevollmächtigter Minister Spaniens am russischen Hof. Vgl. Hausmann, Repertorium, 392; Zapiski djuka Lirijskogo, in: Russkij Archiv 7/3 (1909), 337–338. 976 Vgl. Wienerisches Diarium v. 10. Januar 1728, Nr. 3, [1]. 977 Vgl. Brikner, Diplomaty, 515.
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für den hohen spanischen Vertreter, sondern auch jene über die Reihenfolge der noch ausstehenden Audienzen. Hinsichtlich des Zeremoniells für de Liria orientierte sich der russische Hof an den Richtlinien des Empfangs für Rabutin, weshalb sich der spanische Ambassadeur vorab auch bei Caram¦ über den zu erwartenden Ablauf erkundigte.978 Die Reihenfolge der Empfänge handelte Hochholzer schließlich im Rahmen der offiziellen Visite bei Ostermann aus, welche Anfang Jänner 1728 im Rahmen der obligatorischen Besuche bei den russischen Ministern stattfand. Dabei brachte der Resident gegenüber dem Vizekanzler und Obersthofmeister des Zaren die Hoffnung und das Vertrauen des Kaiserpaares zum Ausdruck, welche es in Ostermann hinsichtlich der Erziehung seines Neffen setzte. Im Gegenzug für seine Leistungen könne er sich künftig stets der »Gnad und Protektion« des Wiener Hofes sicher sein. Außerdem habe Hochholzer den Vizekanzler darum gebeten, zumindest am selben Tag wie der spanische Vertreter empfangen zu werden. Die freiwillige Inanspruchnahme des zweiten Empfanges rechtfertigte Hochholzer damit, dass er dabei nicht nur dem Wunsch de Lirias (als höherrangiger Diplomat) entsprochen, sondern auch dessen hohes Ansehen am Wiener Hof berücksichtigt habe.979 So kam es schließlich dazu, dass de Liria sich am 30. Dezember 1727 um 14.00 Uhr zum Hof begab, wohin ihm Hochholzer um 15.00 Uhr folgte. Die Audienz des spanischen Botschafters verlief tatsächlich nach dem Muster des Empfangs von Rabutin, wenngleich die spanische Anrede de Lirias sowie die russische Antwort Ostermanns zu Verständnisschwierigkeiten führten, die man vorab durch die Verwendung des Lateinischen in den schriftlichen Ausführungen auszugleichen versuchte. Was das Zeremoniell Hochholzers betraf, so sei es zu keinen Unterschieden zu seinen vorigen Audienzen gekommen. Ostermann habe sich bei der Übersetzung der Antwort des Zaren offensichtlich bereits bekannter Termini bedient, die uns als Indikatoren für die guten bilateralen Beziehungen dienen. So sei dem Dank für den »freund-brüderlichen Gruß« des Kaisers die Versicherung der »einander beständig zu kultivierenden Freundschaft« und der »vertraulichen Verständnis« gefolgt. Der Zar habe sich überdies über die Willensbekundungen Karls VI. gefreut, wonach sich dieser allem widersetzen wolle, »was nicht allein diese aufrichtig mutuelle Freundschaft beständig erhalten könnte«, und alles zum »Besten der gemeinsamen Sache« beitragen werde. Bemerkenswert ist überdies die Tatsache, dass Hochholzer es offensichtlich für notwendig erachtete, dem Zaren aufgrund der engen Ver-
978 Vgl. Bericht Caram¦s v. 23. November 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 160r–162r ; Bericht Hochholzers an Sinzendorf v. 30. Dezember 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 194r–194v sowie 197r. 979 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 9. Januar 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 2r–3v.
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wandtschaft mit dem Kaiser zum Abschied die Hand zu küssen.980 Dies eröffnet uns eine weitere Bedeutungsebene des Handkusses in der diplomatischen Kommunikation, der nicht nur als Geste der besonderen Gnade diente, sondern offensichtlich auch ein besonders enges (familiäres) Verhältnis der austauschenden Monarchen zum Ausdruck bringen sollte. Parallel zu den Ereignissen rund um die Nachfolge Rabutins und der daraus resultierenden kurzfristigen Unterrepräsentation des Kaisers ging das (politische) Leben am russischen Hof natürlich auch nach dem Tod des kaiserlichen Gesandten weiter. So hatte sich Caram¦ kurz nach dem Ableben seines Herrn zunächst um die Altlasten der Geschenkspolitik des Grafen zu kümmern. Ende September 1727 berichtete er an Sinzendorf, dass es Rabutin vor seinem Tode noch geschafft habe, den russischen Ministern Golovkin, Apraksin, Golicyn und Ostermann je ein mit Diamanten besetztes Portrait des Kaisers zu übergeben. Entgegen seinem ursprünglichen Plan habe er auch den Vizekanzler mit einem solchen Präsent bedacht, da dieser als Einziger den für ihn vorgesehenen Ring wahrscheinlich nicht angenommen hätte. Die Geschenksübergaben, so Caram¦ weiter, seien insofern von Erfolg gekrönt gewesen, als dass die bedachten Minister ihre »vollkommenen Sincerationes« und »große Ergebenheit« gegenüber dem Kaiser zum Ausdruck gebracht hätten, und dass aus dieser Haltung heraus ein Nutzen für den neuen Minister zu erwarten sei. Von den aus Wien abgeschickten Geldern seien nach Abzug der Ausgaben für die bereits erwähnten Vertrauten Mensˇikovs 12.000 Rubel übrig geblieben, da Graf Wolkov [sic!] seinen Anteil vor dem gemeinsamen Fall mit dem Fürsten noch nicht erhalten hätte und dieser somit nicht ausgezahlt worden wäre. Nachdem Rabutin davon vor seinem Ableben noch 4.000 Rubel ausgegeben habe, würden nunmehr nur noch die versprochenen Zahlungen für Stepanov sowie die russische und holsteinische Kanzlei ausstehen. Diese wollte Caram¦ vorerst nicht begleichen, da er das übrig gebliebene Geld für die Versorgung von Rabutins großer Suite benötigte. Das sollte er jedoch einen Monat später nachholen, nachdem aus Wien die entsprechende finanzielle Unterstützung angekommen war, um die er zuvor gebeten hatte.981 Zum selben Zeitpunkt richtete sich Caram¦ an Karl VI., um diesen an die Absendung der bereits versprochenen Pferde und der dazugehörigen Bereiter zu erinnern, da er in der Zwischenzeit gleich von mehreren Seiten darauf angesprochen worden sei. Dem folgte wenige Wochen später die Bitte, die Pferde und den Bereiter gemeinsam mit den in Anfertigung befindlichen Wägen nach 980 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 9. Januar 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 6r–6v. 981 Vgl. Berichte Caram¦s an Sinzendorf v. 30. September und 24. Oktober 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 116r–119v sowie 143r.
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Russland abzuschicken. So habe er aus zuverlässiger Quelle erfahren, dass die Krönung des Zaren die beste Möglichkeit wäre, diese wertvollen Präsente in ihrem »ganzen und großen Wert« erscheinen zu lassen.982 An diese Anfragen knüpfte Hochholzer nach seiner Rückkehr nach St. Petersburg an und bat sogleich um die Absendung der versprochenen Hofdame(n) für die Großfürstin. Dies erachtete er als besonders dringlich, da die beiden Verwandten des Kaisers mit dem Aufstieg von Ivan Alekseevicˇ Dolgorukov (1708–1739)983 zum Favoriten des Zaren und mit Löwenwoldes Promotion zum Obersthofmeister Natal’jas in eine schlechte Umgebung geraten seien. Diese würden Peter II. durch ihre Lustbarkeiten verderben und einen schlechten Einfluss auf ihn und seine Schwester ausüben. Hochholzer war der festen Hoffnung, dass die deutsche Hofdame Ordnung in das unzüchtige russische Hofleben bringen könnte, wenngleich er Bedenken äußerte, dass diese von den Hofleuten deshalb angefeindet werden könnte. Aus diesem Grund gab er in weiterer Folge auch eine Empfehlung ab, was bei der Auswahl der Kandidatin berücksichtigt werden müsste: So sollte die Gouvernante nicht gar zu empfindlich sein und sich mit einer gewissen Nachsicht in die hiesige Hoflebensart einfügen. Aus diesem Grund sollte sie nicht aus zu gutem Hause stammen, sodass durch ihre vernünftige Moderation »viel gute Wirkung« beim »sehr irregulären Hofleben« erzielt werden könnte.984 Damit spricht Hochholzer einen Umstand an, der von der bisherigen Forschung bereits ausführlich beschrieben wurde: der unstete Lebenswandel Peter II. und dessen mangelnde Erziehung. Die meisten Autoren machen dafür einerseits den um acht Jahre älteren Favoriten Peters verantwortlich, der den jugendlichen Zaren nur allzu früh in die Vergnügungen der erwachsenen Höflinge einweihte, wodurch dessen Lerneifer deutlich zurückging. Andererseits werden in diesen Werken Ostermann und dessen Doppelfunktion als Minister und Erzieher dafür verantwortlich gemacht. Das Bemühen des Vizekanzlers um 982 Vgl. Berichte Caram¦s an Karl VI. und Sinzendorf v. 30. September und 16. Oktober 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 110r sowie 135r–136v ; Döberl, Wägen, 303–304. 983 Ivan Alekseevicˇ Dolgorukov wurde im Jahre 1726 zum Hofjunker von Großfürst Petr Alekseevicˇ ernannt und war einer der engsten Vertrauten von Peter II. Nach dem Fall Mensˇikovs wurde der Favorit zum Ober-Kammerherrn und Major des PreobrazˇenskijGarderegiments ernannt. Als engster Vertrauter des jungen Monarchen war Dolgorukov einer jener Emporkömmlinge der Regierungszeit Peters II., dessen Vertrauen auch von den kaiserlichen Diplomaten gewonnen werden sollte. Deren Strategien bei der Gewinnung des Favoriten werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit ausführlich betrachtet. Nach dem Regierungsantritt Anna Ivanovnas im Jahre 1730 wurde Dolgorukov mit seiner Familie nach Berezov verbannt. Vgl. Dolgorukovy, in: Enciklopedicˇeskij Slovar’ Brokgauza i Efrona, Tom Xa: Desmurgija–Domician, Sankt-Peterburg 1893, 923–924. 984 Vgl. Berichte Hochholzers an Sinzendorf v. 9. und 12. Dezember 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 176r–179v sowie 185r und 187v.
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die Gunst des Herrschers machte es ihm nicht möglich, den nötigen Druck auf seinen Schüler auszuüben – wenngleich er einen äußerst ambitionierten Lehrplan nach »westlichem« Vorbild für ihn ausarbeitete. Schon zu Lebzeiten Rabutins blieben dessen hohe Erwartungen in Ostermann und sein Unterrichtsprogramm aufgrund der fehlenden Lernbereitschaft unerfüllt. Nach ihm musste nunmehr auch Hochholzer von der mangelnden Erziehung Peters II. Notiz machen. Brikner hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass der Resident Anfang 1728 über Ostermann ein Treffen mit den kaiserlichen Verwandten arrangiert habe, bei dem er zunächst dem jungen Monarchen einen gesünderen Lebensstil ans Herz gelegt und anschließend die Großfürstin über seine Sorgen um die Erziehung ihres Bruders informiert habe.985 Das angesprochene Treffen Hochholzers mit Peter II. und der Großfürstin – genauer gesagt die vorab mit Jaguzˇinskij und Ostermann abgestimmten Privataudienzen – verdienen jedoch nähere Betrachtung. So versuchte Hochholzer dabei in seiner Funktion als Sprachrohr der besorgten Tante, der römischen Kaiserin, an die Vernunft Peters und seiner Schwester zu appellieren. Als Vorwand zog Hochholzer die Übergabe von Handbriefen der Kaiserin heran, die diese Hochholzer auf die Rückreise nach St. Petersburg mitgegeben hatte. Bei dieser Gelegenheit las der kaiserliche Resident dem russischen Souverain am 3. Jänner 1728 äußerst vorsichtig die Leviten. Um dessen unsteten Lebenswandel zu kritisieren, richtete er im Namen der »freundschaftlich grüßenden« und »zärtlich liebenden« Tante aus, dass Peter auf seine Gesundheit achten sollte. Darüber hinaus versuchte er die Gottesfurcht des Zaren zu stärken, indem er den Wunsch der Kaiserin für eine lange Regentschaft zum Ausdruck brachte, was letztendlich jedoch nur in den Händen Gottes liegen würde. Nach dieser kurzen Ermahnung fügte er jedoch beschwichtigend hinzu, dass der Kaiser alles dazu beitragen würde, was der »Freude« und den »fürstlichen Divertisments« des Monarchen dienen könnte. Deshalb habe er bereits die versprochenen Pferde aussuchen und mit einem äußerst »habilen« Bereiter und zwei Gehilfen nach Russland schicken lassen. Dem sollten überdies die angekündigten Wägen bei nächster Gelegenheit folgen. Im Gegenzug dafür solle sich der Zar der »Sincerationen allezeit recht erinnern« und bei der »zum Besten beider Reiche errichteten Allianz fest verbleiben«. Dem folgte schließlich die Antwort des Zaren, welche von Hochholzer als Zeichen seiner mangelnden Erziehung gewertet wurde. Peter habe nämlich nicht selbst auf Deutsch geantwortet, sondern nur mit dem Kopf genickt und seine russischen Dankesworte von Ostermann 985 Vgl. Anisimov, Kuda, 181–182 sowie 186–188; Brikner, Dvor (Teil I), 103–111; Solov’ev, Istorija, Bd. X, 156–157. Vgl. ausführlich zum Lehrplan Peters II.: RGADA, f. 2 [Dela sobstvenno do lic imperatorskoj familii otnosjasˇcˇiesja], op. 1, d. 27 [Programma i raspisanie uchebnym zanjatijam imperatora Petra II. Iz bumag grafa Ostermana].
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übersetzen lassen.986 Es war genau dieses Verhalten, an dem er und später auch Wratislaw aufgrund des mangelnden Selbstvertrauens und der fehlenden Deutschkenntnisse von Peter II. Anstoß nahmen.987 Im Rahmen der anschließend ebenfalls im Beisein Ostermanns stattfindenden Privataudienz bei der Großfürstin appellierte Hochholzer vor allem an deren Vernunft. Auch in diesem Fall verband er die unangenehme Pflicht mit einer angenehmen Geste, indem er die mahnenden Worte im Zuge der Übergabe eines Handbriefs und eines Geschenks der Kaiserin aussprach – dabei handelte es sich allem Anschein nach um ein Portrait. Unter Berücksichtigung der aus Sicht des Residenten besseren Erziehung und Lebensart Natal’jas habe er sie im Namen ihrer Tante gebeten, sich um die Gesundheit des Großfürsten zu kümmern und ihr entsprechende Nachrichten über das Wohlergehen der beiden zukommen zu lassen. Überdies bat er die Großfürstin, die bevorstehende Reise zur Krönung nach Moskau möglichst kurzzuhalten, da die noch weitere Entfernung zum Wiener Hof der Kaiserin Sorgen bereiten würde.988 Vom baldigen Umzug des Hofes hatte Hochholzer den Wiener Hof bereits einen Monat zuvor in Kenntnis gesetzt. Grund dafür war die Krönung Peters II., an der der kaiserliche Resident zunächst teilnehmen wollte. So ging er davon aus, dass nach dem Vergleich in der Titulatur kein Hinderungsgrund mehr dafür bestehe, gemeinsam mit den anderen fremden Ministern zum zeremoniellen Akt in die alte Hauptstadt zu reisen.989 In diesem Fall lag Hochholzer mit seiner Einschätzung jedoch völlig falsch. Ende Februar 1728 musste er zu dem mittlerweile aus Wien eingetroffenen Teilnahmeverbot an der Krönung Stellung beziehen, welches ihm der Kaiser über Schönborn hatte aussprechen lassen. So habe er sich bislang weiterhin unter dem Vorwand in Moskau aufgehalten, dass er noch auf den Russlandunkundigen Grafen Wratislaw warten würde. Mit dieser Ausrede habe er, zumindest bis zu diesem Zeitpunkt, jeglichen »Argwohn« der in- und ausländischen Minister vermeiden können. Nichtsdestotrotz hätten ihm einige seiner Diplomatenkollegen bereits die unangenehme Frage gestellt, ob er im Falle eines über die Krönung hinausgehenden Ausbleibens Wratislaws überhaupt am zeremoniellen Akt teilnehmen wolle. Um einerseits keinen Verdacht zu erwecken und sich andererseits alle Optionen offenzuhalten, habe er diesen geantwortet, dass er seine Entscheidung vom endgültigen Eintreffen der Einladung abhängig 986 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 9. Januar 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 22r–25v ; Döberl, Wägen, 304. 987 Vgl. Brikner, Dvor (Teil I), 103–111. 988 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 9. Januar 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 26r–27v. 989 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 2. Dezember 1727, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 167v–168r.
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machen werde. Konkret nutzte der offensichtlich unter Druck stehende Resident den Umstand, dass sich der russische Hof noch nicht auf ein eindeutiges Krönungsdatum festgelegt hatte. Die Krönung sollte entweder noch vor oder gleich nach den großen Fasten über die Bühne gehen, die bereits zwei Wochen später anbrechen sollten. Bis dahin hatte er auf jeden Fall Schonfrist und konnte einstweilen auf ein möglichst schnelles Stattfinden der Krönung hoffen.990
Abb. 16: Das von Karl VI. ungern gesehene »Spiel mit der kaiserlichen Pracht« im Rahmen der Krönung Peters II. – Krönungsinsignien umrahmt von der Losung »Von dir, mit dir und zu deinem Ruhm« (aus den Materialien der Hofkommission zur Vorbereitung der Krönung)991
Diese Hoffnung blieb jedoch unerfüllt. Zunächst richtete sich der Kaiser Anfang März 1728 nochmals mit klaren Befehlen an seinen in Russland befindlichen Residenten und den auf dem Weg dorthin befindlichen Minister. Darin bezeichnete Karl VI. die Umstände der Krönung als »allzu bedenklich«, als dass die Diener des Kaisers daran teilnehmen könnten. So würde dabei mit viel »kaiserlicher Pracht gespielt«, weshalb die Anwesenheit eines kaiserlichen Vertreters der Zustimmung zu einer »Verkleinerung« der römischen Krone gleichkommen würde. Die beiden kaiserlichen Gesandten hätten daher wegen einer »angenommenen Unpässlichkeit« oder unter sonst einem Vorwand dem Krönungsakt fernzubleiben. Sollte dies nicht möglich sein, war der Kaiser sogar dazu bereit, Ostermann oder einem anderen wohlgesinnten Minister reinen Wein einzuschenken. Notfalls sollten Hochholzer oder Wratislaw erklären, dass 990 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 24. Februar 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 26r–27v ; Brikner, Diplomaty, 515–516 sowie 535–536. 991 RGADA, f. 1239 [Dvorcovyj Archiv], op. 3, cˇ. 78, 34746 [Komissija o koronacii Petra II], 146r.
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eine Teilnahme aufgrund der daraus für das Reich entstehenden »Anstößlichkeiten« unmöglich wäre, auch wenn Karl VI. persönlich sonst sehr gerne der Krönung »beitreten« würde. In allen »tunlichen Sachen« werde man es jedoch an nichts ermangeln lassen, um dem Zaren die notwendige und aus der nahen Anverwandtschaft resultierende »Affektion« zu erweisen. In der Krönungsfrage blieb er jedoch hart und wiederholte die Instruktionen, die er zuvor bereits an den Grafen Kinsky ausgegeben hatte: Seine Vertreter mögen weder »heimlich« noch »öffentlich« bei der Zeremonie in Erscheinung treten.992 Der Kaiser war also allem Anschein nach dazu bereit, die guten Beziehungen zu dem nunmehr auch anverwandten russischen Herrscher aufgrund der Titelfrage aufs Spiel zu setzen. Die Verzögerungsstrategie Wiens sorgte tatsächlich für einigen Unmut am befreundeten Hof, wie wir aus den Darstellungen anderer ausländischer Diplomaten erfahren. Der dem Kaiser prinzipiell wohlgesinnte Stambke etwa wollte bereits Anfang Februar 1728 an »gewissen Mienen abnehmen können«, dass das lange Ausbleiben Wratislaws »hier wahrhaft nichts Gutes« bewirken würde.993 Magnan berichtete kurz darauf, dass man ihn über den Unmut einiger Russen wegen des Aufschubs der Anreise Wratislaws informiert hätte. Anfang März 1728 erfuhr schließlich auch der französische Berichterstatter die genaueren Hintergründe für das Ausbleiben des kaiserlichen Ambassadeurs. Demnach hätten die russischen Minister Wratislaw zur Teilnahme an der Krönung eingeladen. Da der Kaiser jedoch keinen seiner Vertreter bei diesem Ereignis dabei haben wolle, sei dessen Abreise bis jetzt verschoben worden.994 Dies blieb natürlich auch Stambke nicht verborgen. Süffisant schrieb er nach der Krönung an Bassewitz: »Über die nach Wien hingekommene zeitung, was für capitulationes für der kayserl[liche] cröhnung hie [sic!] im reiche hätten angestellet werden wollen, haben wir miteinander brav gelachet.«995 Dem offensichtlichen Spott ebenso wie den mit dem Fernbleiben von der Krönung verbundenen Unannehmlichkeiten sah sich Hochholzer – wie schon bei der Krönung Katharinas I. – abermals allein gegenübergestellt. Da er diesbezüglich bereits auf einige Erfahrungen zurückgreifen konnte, fielen seine Berichte im Vergleich zum Jahre 1724 wesentlich unspektakulärer aus. Anfang April berichtete er bereits aus Moskau, dass er seine Anreise nicht länger hätte hinauszögern können, weshalb er sich bereits seit Mitte des vorangegangenen 992 Vgl. Weisung Karls VI. an Hochholzer und Wratislaw v. 6. März 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 114, Weisungen 1728, 7r–8r ; Brikner, Diplomaty, 535–536. 993 Vgl. Bericht Stambkes an Bassewitz v. 8. Februar 1728, LASH, Abteilung 8.1, Nr. 1412, 107v–108r. 994 Vgl. Berichte Magnans an Morville v. 23. Februar sowie 1. März 1728, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 75, Sankt-Peterburg 1891, 158 sowie 160. 995 Bericht Stambkes an Bassewitz v. 29. April 1728, LASH, Abteilung 8.1, Nr. 1412, 135r.
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Monats in der Stadt befinde. Aufgrund seiner instruktionsmäßigen Verspätung bei der Krönung konnte er verständlicherweise nur die essentiellsten Punkte der Zeremonie vom 7. März 1728 zusammenfassen. So berichtete er unter anderem, dass der Monarch sich im Gegensatz zu seinem Großvater Peter I. die Krone vom Novgoroder Erzbischof habe aufsetzen lassen. Hinsichtlich der Beteiligung der Zarenfamilie hielt er einerseits die Sitzordnung deren Mitglieder als bemerkenswert fest: die Großmutter des Gekrönten, die Großfürstin und dann erst Prinzessin Elisabeth sowie die Herzoginnen von Mecklenburg und Kurland. Damit unterstrich er die Tatsache, dass der junge Monarch die von Peter I. ins Kloster »verbannte« erste Frau seines Großvaters wieder in die Hofgesellschaft integriert habe. Schließlich führte Hochholzer als Besonderheit hinsichtlich der Beteiligung der ausländischen Minister an, dass man de Liria den von ihm beanspruchten ersten Platz auf der Bank der inländischen Minister zugesprochen habe.996 Diese offensichtliche Bevorzugung des spanischen Gesandten wurde auch in einem ausführlichen Bericht der »Europäischen Fama« über die Krönung hervorgehoben. Die Darstellungen der Zeitschrift gehen jedoch nicht über eine äußerst detaillierte Beschreibung des Ablaufs derselben hinaus, weshalb sich die Abwesenheit der kaiserlichen Vertreter auch nur indirekt daraus erschließen lässt – da diese nicht als Teilnehmer des zeremoniellen Akts selbst sowie der anschließenden Audienz aufgelistet werden.997 Dieses Faktum wird im vom kaiserlichen Hof gesteuerten »Wienerischen Diarium« auch nicht eigens hervorgehoben. So finden wir darin die offizielle Linie des Kaisers wieder, indem zunächst Hochholzers scheinbare Abreise zum Körnungsakt nach Moskau im Zusammenhang mit dem Aufbruch der übrigen ausländischen Gesandten aus St. Petersburg thematisiert wird. Der zeremonielle Ablauf des Ereignisses findet in der Hofgazette keine nähere Erwähnung, da man dem »Spiel« mit der »kaiserlichen Pracht« allem Anschein nach keinen Platz einräumen wollte bzw. durfte. Lediglich die Rahmenhandlungen der Feierlichkeiten kommen in der Tageszeitung zur Sprache. So wird darin zum Beispiel über die bevorzugte Behandlung von de Liria im Rahmen der Festlichkeiten berichtet.998 Dieses Faktum nutzte Hochholzer in seiner Relation dazu, um seinen scheinbar weniger gefragten Ereignisbericht über die Krönung abzuschließen und zu wichtigeren Dingen überzugehen. So habe es den Anschein, als würde Russland weiterhin bei dem mit dem Kaiser errichteten »Systemate« verbleiben 996 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 1. April 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 100r–102r. 997 Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 314 (1728), 111–120. 998 Vgl. Wienerisches Diarium v. 6. März 1728, Nr. 19, [2]; Wienerisches Diarium v. 17. April 1728, Nr. 31, [4–5].
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wollen. Das machte er unter anderem an den bereits erwähnten Ehrenbezeugungen gegenüber dem spanischen Minister fest, dessen Herrscher ja bekanntlich seit 1725 bzw. 1726 mit den beiden befreundeten Höfen verbunden war. So habe man de Liria nach der Krönung den Andreasorden als Zeichen der guten bilateralen Beziehungen mit Spanien verliehen.999 Außerdem seien seitdem die Hofparteien in ziemliche Bewegung geraten. Stein des Anstoßes sei unter anderem die Rückkehr des Hofes nach St. Petersburg gewesen. Wenngleich Ostermann in allem den Ton anzugeben scheine, haben die Favoriten Peters II. durch die Erweiterung des Obersten Geheimen Rates mit zwei Mitgliedern des Dolgorukij-Klans die Oberhand gewonnen. Es sei daher anzunehmen, dass sich der Zar den Sommer über in Moskau aufhalten und mit Jagden divertieren werde. Indessen werden Apraksin und Golovkin ihre Ämter altersbedingt wohl bald zurücklegen und auf eine Rückreise nach St. Petersburg verzichten, was die ohnehin schon dominierenden Dolgorukovs nur noch stärker machen würde.1000 Diese Einschätzungen machen einen kurzen Blick auf die Zusammensetzung der neuen Parteien notwendig, die sich in den ersten Monaten der Regierung Peters II. formiert hatten. In diesem Zusammenhang machte die bisherige Forschungsliteratur insgesamt drei Interessensgruppen fest, die sich auf die eine- oder andere Weise feindlich gegenüberstanden. Das waren zunächst die alten aristokratischen Familien, die um die Vormachtstellung am russischen Hof ritterten. Wie bereits von Hochholzer angedeutet, wurde dieser Kampf über die Gewinnung der Favoritenrolle entschieden, wobei sich die Dolgorukovs dabei gegenüber den mächtigen Golicyns durchsetzen konnten. Sich zwischen diesen beiden Machtblöcken befindend, schlossen sich die übrig gebliebenen russischen Minister sozusagen zwangsläufig zu einer dritten Interessensgruppe zusammen. Dazu zählte etwa Kanzler Golovkin, der sich angesichts einer von den Golicyns möglicherweise angestrebten Rehabilitierung Mensˇikovs und Sˇafirovs plötzlich in einem Boot mit Ostermann befand, wenngleich ihm der ausländische Minister seit jeher ein Dorn im Auge gewesen war. Eine Rückholung Mensˇikovs wurde jedoch ebenso wenig forciert wie etwa die Begnadigung Tolstojs, der vor dem Sturz des Fürsten von diesem zu Fall gebracht und verbannt worden war. Die Devise für die unterschiedlichen Gruppierungen lautete nämlich, keine weiteren Konkurrenten im Kampf um die Gunst Peters II. aufkommen zu lassen. Ostermann seinerseits hatte große Probleme mit den Dolgorukovs und diese mit ihm. So standen die Interessen des um die Aufrechterhaltung der Erziehung von Peter II. und des Staatswesens bemühten Ostermanns 999 Vgl. dazu ausführlich: Bericht de Lirias v. 17. März 1728, Russkij Archiv 7/3 (1909), 352–353; Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 314 (1728), 140–141. 1000 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 1. April 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 102r–103r.
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jenen der Fürstenfamilie gegenüber, die in Ostermann den Hauptgegner der Vereinnahmung des jungen Herrschers sahen und ihn daher von seinem Erzieher isolieren wollten. Die gegenseitige Ausschaltung der beiden Opponenten war nur deshalb nicht möglich, da Peter II. nicht dazu bereit war, einen Vertrauten für den anderen zu opfern. Nachdem Caram¦ dem Wiener Hof gleich nach dem Fall Mensˇikovs furchtbare Intrigen bei Hofe prophezeit hatte, informierte Hochholzer den Kaiser erstmals Anfang Jänner 1728 ausführlich über die Parteienzusammensetzung. Als Informationsquelle diente ihm der nach dem Untergang von Aleksandr Danilovicˇ aus der »ukrainischen Verbannung« zurückgekehrte Jaguzˇinskij, der sogleich nach seiner Wiederkehr zum General der Garde ernannt worden war.1001 Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht klar, dass Peter II. den nur mehr aus vier Mitgliedern bestehenden Obersten Geheimen Rat nach seiner Krönung um zwei Dolgorukovs erweitern würde. Unter den Mitgliedern Apraksin, Golicyn, Golovkin und Ostermann ortete der kaiserliche Resident, wie zuvor schon Rabutin, eine unverändert gute Haltung gegenüber dem Kaiser – wenngleich aufgrund der unvorhersehbaren Lage Misstrauen und Uneinigkeit zwischen ihnen herrschen würden. Es ist bemerkenswert, dass Jaguzˇinskij im Gespräch mit Hochholzer lediglich von zwei Interessensgruppen am russischen Hof berichtete: Das seien die Dolgorukovs, mit denen es fast alle Vornehmen des Reiches halten würden, auf der einen Seite sowie die Großfürstin, Ostermann und Löwenwolde auf der anderen. So hätte der unstete Lebenswandel Peters II. und des Favoriten nicht nur den Vizekanzler, sondern auch die Großfürstin aufgebracht, weshalb diese mit ihrem Bruder derzeit im Clinch lebe. Den Großen des Reiches würde diese Lebensart auch nicht zusagen, wobei sie vorerst damit beschäftigt wären, ihre Übersiedlung nach Moskau vorzubereiten. Dort werde es dann wohl zu einer Reform der Hofstatt und einer Erweiterung des Obersten Geheimen Rates kommen, was unmittelbar nach der Krönung dann tatsächlich eintraf. Jaguzˇinskij prognostizierte überdies, dass Ostermann den Parteienkampf zweifelsohne überleben und auf jeden Fall seine Stelle als Oberhofmeister behalten werde.1002 Angesichts dieser nur schwer voraussehbaren Verhältnisse am russischen Hof ist es kaum verwunderlich, dass die kaiserliche Diplomatie in den ersten Monaten des Jahres 1728 keine Schritte zur Annäherung an eine der Parteien wagte. Umso mehr Engagement zeigte sie jedoch bei dem Versuch, den russischen Herrscher bei guter Laune zu halten. Und das gelang Karl VI. und seinem Ver1001 Vgl. Anisimov, Kuda, 195; Brikner, Dvor (Teil III), 7–8; Kurukin, Epocha, 147–148; Melamud, Anteilnahme, 56; Solov’ev, Istorija, Bd. X, 155–159. 1002 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 9. Januar 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 15r–18v.
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treter in Russland zunächst relativ gut. So berichtete Hochholzer Ende März 1728 aus Moskau, dass er dem Zaren mittlerweile die aus Wien geschickten Pferde und Bereiter übergeben konnte. Die Überreichung wurde zunächst mit Jaguzˇinskij und Ostermann abgesprochen, die alles für den 23. März um 11 Uhr morgens vorbereiten ließen. Als sich Hochholzer mit dem Oberbereiter, Johann Jacob von Capitolo, und seinen zwei Gehilfen um die vereinbarte Zeit zum Hof begab, waren die lebenden Geschenke zur Präsentation bereits vorgeführt. Der Resident übermittelte Peter II. zunächst die Hoffnung des Kaisers, wonach die Präsente »zur Gefälligkeit«, »einstweiligen Unterhaltung«, »Freude« und »Ergötzlichkeit« des Zaren dienen sollten. Daraufhin wurden dem jungen Monarchen die acht Pferde von Capitolo präsentiert. Dabei wollte Hochholzer bemerkt haben, dass diese Pferderasse in Russland bislang kaum oder gar nicht bekannt gewesen wäre und der Zar »besondere Freude« und »Wohlgefallen« an diesen Pferden gefunden habe. Diese Freude wollte er schließlich dem Kaiser selbst in einem persönlichen Dankschreiben zum Ausdruck bringen.1003 Von dieser Übergabe machten natürlich auch andere politische Beobachter Notiz, wenngleich sie dabei auch zur Übertreibung neigten. So berichtete Magnan zum Beispiel, dass Peter II. vom Kaiser 20 Pferde erhalten haben soll und derzeit noch auf zwei prachtvolle Kutschen aus Wien warten würde.1004 Die Beschreibungen Hochholzers verdeutlichen das, was Jeanette Falcke in ihrer Untersuchung über das diplomatische Geschenkswesen unter dem Stichwort »Semantik des Materials« zusammenfasste. Demnach schenkten die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts lebendigen und leblosen Naturalien aus den jeweiligen Ländern der Diplomaten bzw. ihrer Souveräne besondere Aufmerksamkeit. Wie wir anhand der Reaktion Peters II. gesehen haben, wurden die Pferde in erster Linie nicht wegen ihres pekuniären Wertes, sondern vielmehr aufgrund jener Exklusivität geschätzt, die diesen ob ihrer Seltenheit im russischen Reich anhaftete. Das war jedoch nur eine von vielen Möglichkeiten, um die Besonderheit des Verhältnisses zwischen Sender und Empfänger symbolisch zum Ausdruck zu bringen. Eine wesentlich günstigere Variante, die Exklusivität der Beziehungen zwischen Schenker und Beschenktem zur Schau zu stellen, war die Verleihung von Orden. Diese wurden, wie wir bereits gesehen haben, nicht nur an fremde Diplomaten übergeben, sondern auch unter den Herrschern selbst ausgetauscht. Solche Akte hatten letztendlich dieselbe Aussagekraft und sollten den besonderen Stellenwert des Ausgezeichneten in Bezug auf die ihn umschließende gesellschaftliche Ordnung verdeutlichen. Egal ob auswärtiger 1003 Vgl. Bericht Hochholzers an Karl VI. v. 29. März 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 92r–95v ; Brikner, Diplomaty, 516; Döberl, Wägen, 305. 1004 Vgl. Bericht Magnans an Morville v. 23. März 1728, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 75, Sankt-Peterburg 1891, 172–173.
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Diplomat oder fremder Herrscher – der Orden symbolisierte dessen Exklusivität im Vergleich zu den übrigen Gesandten bzw. Souveränen.1005 Auch auf dieses Mittel wollten die Vertreter des Wiener Hofs in den ersten Monaten des Jahres 1728 zurückgreifen, wobei es diesbezüglich zu einigen Problemen kam. Angeregt durch Ostermann hatte sich Caram¦ mit der Bitte an den Kaiser gewandt, Peter II. den Orden des Goldenen Vlieses zu verleihen. Der Kaiser war diesem Ansinnen gegenüber keineswegs abgeneigt, sah jedoch einen einzigen Hinderungsgrund in den Ordensstatuten. Sie besagten, dass die Auszeichnung nur an Katholiken übergeben werden durfte. Diese Tradition hinderte Karl VI. also daran, seinem Neffen die hohe Auszeichnung zu überreichen. Diesbezüglich wollte er sich jedoch noch nicht eindeutig festlegen, sondern beauftragte Caram¦ damit, Ostermann vorsichtig über das Problem zu informieren.1006 Diese Position des Wiener Hofes gab er später auch Wratislaw als Verhaltensrichtlinie vor – allerdings mit dem Zusatz, dass er von selbst nicht darüber sprechen und im Falle des Falles auf die Notwendigkeit der Dispension aus Rom zur Änderung des Ordensstatuts hinweisen solle.1007 Zu dieser Ordensverleihung ist es letztendlich jedoch nicht gekommen. Während Hochholzer und Caram¦ im Auftrag des Kaisers die Gunst des Zaren erwerben wollten, befand sich Wratislaw auf der Anreise nach Russland. Aus Riga berichtete der hochrangige Diplomat über einen Empfang, den man seinem Vorgänger zwei Jahre zuvor noch nicht bereitet hatte. Wir erinnern uns, dass Rabutin die Probleme bei der Durchreise durch die baltische Stadt auf den schwierigen Charakter des damaligen Gouverneurs, Fürst Repnin, zurückführte. Dieser war jedoch mittlerweile verstorben und durch Graf Petr Petrovicˇ Lacy (1678–1751) ersetzt worden. Der Wechsel an der obersten Spitze der russischen Verwaltung war wohl der Hauptgrund für den ungewohnt ehrenvollen Empfang des kaiserlichen Botschafters. So berichtete Wratislaw, dass ihm in der Stadt von den Soldaten ein feierlicher Einzug bereitet worden sei. Nachdem er in einer von Edelmännern begleiteten Prachtkutsche zu seiner Unterkunft – dem ehemaligen Palais des Fürsten Mensˇikov – gebracht worden wäre, habe ihn der Gouverneur gleich mehrmals auf das Schloss zum Essen eingeladen. Dabei sei ihm zu Ehren sogar eine große Parade von Lacy und dem livländischen Adel veranstaltet worden. Obwohl Wratislaw den Befehl hatte, keine Parade zu veranstalten, rechtfertigte er dieses Verhalten damit, dass de Liria auch eine solche bekommen
1005 Vgl. Falcke, Studien, 244–254 sowie 265–272. 1006 Vgl. Weisung Karls VI. an Caram¦ v. 22. Mai 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 114, Weisungen 1728, 94r. 1007 Vgl. Weisung Karls VI. an Wratislaw v. 3. August 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 114, Weisungen 1728, 203r–203v.
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habe. Um das Ansehen des Kaisers nicht zu schmälern, habe er sich daher dazu entschlossen, diese in Anspruch zu nehmen.1008 Am selben Tag, als Wratislaw über den ehrenvollen Empfang in Riga berichtete, übersandte Karl VI. das Notifikationsschreiben über die Thronbesteigung Peters II. an den russischen Hof. Der Kaiser nutzte dieses offizielle Schriftstück auch dazu, um den russischen Herrscher von seinem Willen zur Fortsetzung des Bündnisses in Kenntnis zu setzen.1009 Das war keineswegs eine Selbstverständlichkeit. So stellte ein Herrscherwechsel auch immer eine potenzielle Möglichkeit für eine Veränderung der jeweils aktuellen Bündnislage dar. Das ist nicht weiter verwunderlich, da der Großteil aller in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts geschlossenen Allianzen sogenannte »Personenbündnisse« darstellten, die zwischen zwei Herrschern geschlossen wurden. Dazu zählte auch der 1726 zwischen Karl VI. und Katharina I. abgeschlossene Bündnisvertrag.1010 Diese kurzfristige Unklarheit hinsichtlich der Gebarung zwischen den beiden Herrschern veranlasste etwa Magnan und seinen Hof dazu, über die Zukunft der Allianz zwischen Wien und St. Petersburg/Moskau zu spekulieren. Demzufolge würden einige Russen dem Bündnis mit dem Kaiser nicht allzu sehr trauen, da dieses lediglich geschlossen worden sei, um dem jungen Zarevicˇ zum Thron zu verhelfen. Es spreche einiges dafür, so Magnan weiter, dass der alte Kanzler Golovkin, der bekanntlich eine Abscheu in Hinblick auf eine Festigung des Bündnisses hege, auch so denke. Diese Vermutung wurde schließlich von Paris bestätigt, das ebenfalls von der Unzufriedenheit der sogenannten altrussischen Partei mit dem verbündeten Wiener Hof gehört habe. Diese für Frankreich positiven Nachrichten führten zu einem erhöhten Informationsbedarf in Versailles, weshalb Magnan in dieser Sache vor allem »hören, beobachten und ganz wenig sprechen« sollte.1011 Die fortwährende Abwesenheit des kaiserlichen Ministers bot allem Anschein nach einigen Grund dafür, an dem guten Verhältnis zwischen Wien und St. Petersburg/Moskau zu zweifeln. Wenngleich andere, hochrangigere Diplomaten nicht so weit gingen wie Magnan, so sorgte das lange Ausbleiben Wratislaws doch bei allen für Verwunderung. Stambke etwa berichtete gleich zweimal über den Aufbruch des kaiserlichen Ambassadeurs von Petersburg nach Moskau. Dem fügte er unter anderem hinzu, dass das »überaus angenehme Wesen« des 1008 Vgl. Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 6. Mai 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 125r–128v. 1009 Vgl. Notifikationsschreiben Karls VI. an Peter II. v. 22. Mai 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 114, Weisungen 1728, 70r–70v. 1010 Vgl. Frehland-Wildeboer, Freunde, 55; Martens, Sobranie, 34. 1011 Vgl. Bericht Magnans an Morville v. 27. Mai 1728, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 75, Sankt-Peterburg 1891, 187–188; Weisung des Sekretärs im Außenministerium an Magnan v. 8. Juli 1728, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 75, Sankt-Peterburg 1891, 211–212.
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Grafen sehr gerühmt werde.1012 Der Preuße Mardefeld hielt diesbezüglich wesentlich nüchterner fest, dass Wratislaw seine Ankunft von einem auf das andere Mal verschiebe, was für nicht wenig Verwunderung sorge.1013 Dem fügte Magnan am darauffolgenden Tag noch hinzu, dass der Graf nichts gegen die vom Fürsten Dolgorukov gegen ihn aufgebrachten Vorurteile unternehmen und stattdessen fortwährend in St. Petersburg verbleiben würde.1014 Die Folgen des langen Ausbleibens von Wratislaw sollten sich bei den ersten Begegnungen des kaiserlichen Ministers mit den Vertretern des russischen Hofes noch nicht bemerkbar machen. So erhielt er trotz seiner späten Ankunft in Moskau, am 26. Juni 1728, relativ schnell eine Privataudienz beim russischen Herrscher. Dabei hatte es Wratislaw offensichtlich sehr eilig, weshalb er gleich nach seiner Ankunft eine unangekündigte Visite beim Großkanzler abstatten wollte. Da Golovkin zu diesem Zeitpunkt jedoch ahnungslos auf dem Land verweilte, musste Wratislaw mit Vizekanzler Ostermann Vorlieb nehmen, der ihm sogleich für den darauffolgenden Tag einen Empfang beim Zaren verschaffte. Der kaiserliche Minister erachtete die Schnelligkeit der offiziellen Aufnahme durch Peter II. zunächst als besondere Ehrenbezeigung, da dieser am Vorabend der Privataudienz erst spät am Abend vom Land zurückgekehrt war. Darüber hinaus konnte er keine zeremoniellen Abweichungen zum Empfang seines Vorgängers festmachen. Auch der erste offizielle Wortwechsel mit dem fremden Herrscher ließ beim kaiserlichen Vertreter keine Zweifel über sein Ansehen am fremden Hof aufkommen. Wratislaw versicherte Peter II. zunächst, dass ihn der Kaiser nach dem Tod Rabutins so »geschwind« wie möglich nach Russland habe abreisen lassen. Das sei geschehen, um die »Versicherung über die unabänderliche Festhaltung der zwischen beiden Höfen obwaltenden engen Verbündnis« abzulegen. Außerdem habe der Kaiser damit zeigen wollen, mit welcher »Hochachtung und zärtlichen Liebe« die Kaiserin und auch er weiterhin gegenüber dem russischen Monarchen »fortzuleben« gewillt seien. Nach der im Anschluss daran stattfindenden Übergabe des Beglaubigungsschreibens habe Ostermann schließlich die »teuerste Versicherung einer unzertrennlichen Zusammenhaltung seines Herrn mit dem Kaiser« abgegeben. Diesem standardmäßigen Empfang durch den Zaren folgte schließlich eine Audienz bei der Großfürstin, welche Wratislaw nicht nur in eigenen Worten, sondern auch auf
1012 Vgl. Berichte Stambkes an Bassewitz v. 23. Mai sowie 6. Juni 1728, LASH, Abteilung 8.1, Nr. 1412, 145r sowie 152r. 1013 Vgl. Bericht Mardefelds an Friedrich Wilhelm I. v. 10. Juni 1728, GStA PK, I. HA, Rep. 11 Geheimer Rat Auswärtige Beziehungen Akten, Nr. 6705, Berichte Mardefeld 1728 Mai–Dezember, 4v. 1014 Vgl. Bericht Magnans an Morville v. 11. Juni 1728, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 75, Sankt-Peterburg 1891, 193.
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Deutsch die Freude über dessen lang ersehnte Ankunft zum Ausdruck gebracht habe.1015 Trotz seiner späten Ankunft hatte es Wratislaw mit dem offiziellen Empfang bei Peter II. so eilig, da er sich noch am selben Tag bei einem Fest de Lirias blicken lassen wollte. Dieses wurde vom spanischen Ambassadeur anlässlich des Bündnisschlusses zwischen Spanien und Portugal veranstaltet. Wratislaw habe durch seine Teilnahme einerseits alle Vornehmen des Hofes und der Nation kennenlernen sowie andererseits das gute Verhältnis zwischen dem Kaiser und dem spanischen König »in publico« zur Schau stellen wollen. Das Fest, bei dem er einen Ehrenplatz direkt neben den Vertretern der Zarenfamilie bekommen habe, war offensichtlich der perfekte Anlass für den aus Sicht Wratislaws geglückten Einstand am russischen Hof.1016 Diese Selbsteinschätzungen des kaiserlichen Vertreters finden zunächst auch Bestätigung in den Berichten anderer »deutscher« Gesandter. So hielt etwa Mardefeld über den Neuankömmling fest, dass sich Wratislaw im Rahmen des Fests beim spanischen Minister aufgrund seiner Manieren in kurzer Zeit »universelle Approbation« erworben habe.1017 In dieselbe Kerbe schlug auch Stambke, wenngleich er dabei auch einige Skepsis durchblicken lässt. So berichtete er an Bassewitz, dass man mit Wratislaw einen sehr »conversablen Mann« hier habe und kein Zweifel daran bestehe, dass dieser »bon vivant alles mitmachen« werde. Stambke werde sich der »fröhlichen Gesellschaft« des Grafen nicht ganz entziehen können, wenngleich er noch nicht einzuschätzen vermöge, ob das »Herz auch dabei sein« werde.1018 De Liria selbst hielt bezüglich des ersten Auftritts des kaiserlichen Vertreters am russischen Hof nüchtern fest, dass dieser dasselbe Zeremoniell wie er einige Monate zuvor bekommen habe.1019 Wratislaw hatte insgesamt also allen Grund, sich gut aufgenommen zu fühlen. Daher fasste er gleich im Anschluss daran den Entschluss, dem russischen Monarchen näherzukommen. Anfang Juli 1728 berichtet er, dass er einen der seltenen Aufenthalte Peters II. in der Stadt genutzt habe, um sich bei ihm sehen
1015 Vgl. Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 28. Juni 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 155ar–158r. 1016 Vgl. Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 28. Juni 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 158r–159r. 1017 Vgl. Bericht Mardefelds an Friedrich Wilhelm I. v. 28. Juni 1728, GStA PK, I. HA, Rep. 11 Geheimer Rat Auswärtige Beziehungen Akten, Nr. 6705, Berichte Mardefeld 1728 Mai–Dezember, 15v. 1018 Vgl. Bericht Stambkes an Bassewitz v. 1. Juli 1728, LASH, Abteilung 8.1, Nr. 1412, 156r–156v. 1019 Vgl. Bericht de Lirias v. 5. Juli 1728, Petr Vartenevyj (Hg.), Osmnadcatyj Vek. Istoricˇeskij sbornik, Tom 2, Moskva 1869, 81–82.
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zu lassen.1020 Wahre Gefühlsstürme dürften ihm dabei jedoch nicht entgegengekommen sein, da er seine Ausführungen mit der Erwähnung dieses Faktums auf sich beruhen lässt. Der von vielen Seiten geäußerte anfängliche Optimismus schlug jedoch bald in Enttäuschung um. Bereits ab Mitte September 1728 häuften sich in den Diplomatenberichten die Beschwerden über Wratislaw. So habe etwa Stambke von Leuten gehört, die den kaiserlichen Vertreter gut zu kennen meinten, dass dieser es seinem Vorgänger »nicht nachtun« könne. Darüber hinaus habe der mit dem russischen Hof durch Heirat verbundene Herzog von Mecklenburg nicht nur dem Herzog von Holstein, sondern auch Ostermann mitgeteilt, dass es mit Wratislaw überhaupt nicht gehen würde.1021 Kurze Zeit zuvor sah sich der Graf selbst gezwungen, gegenüber seinem Hof eine Stellungnahme über sein bisheriges Verhalten abzugeben. Auf Nachfrage des Prinzen Eugen, was die Gründe für sein langes Ausbleiben gewesen seien, musste Wratislaw eingestehen, dass es prinzipiell nützlicher gewesen wäre, unmittelbar nach dem Tod Rabutins nach Petersburg zu reisen. Dort habe der junge russische Monarch nämlich noch viel Freiheit besessen, die ihm nunmehr aufgrund seiner neuen Umgebung scheinbar abhandengekommen sei. Trotz dieses Eingeständnisses erinnerte Wratislaw den Prinzen auch daran, dass er selbst nicht für die späte Ankunft verantwortlich sei. In den zwei bis drei Wochen, die er früher hätte in Moskau sein können – so der Graf weiter – sei an den Geschäften auf jeden Fall kein Schaden entstanden.1022 Zu der offensichtlichen Unzufriedenheit des russischen Hofes mit dem kaiserlichen Vertreter kam noch hinzu, dass sich Wratislaw in den ersten Monaten seines Moskauaufenthaltes kaum Freunde innerhalb des diplomatischen Corps machte. Und das ausgerechnet unter jenen Ministern, deren Freundschaft eigentlich nicht allzu schwer zu erlangen gewesen wäre. Konkret stimmte die Chemie zwischen ihm und dem spanischen Minister de Liria nicht. Das geht unter anderem aus den Berichten der übrigen diplomatischen Beobachter hervor. Magnan etwa berichtete nach Frankreich über de Lirias Verstimmung darüber, dass Wratislaw dessen Respektsbekundungen nicht ausreichend zu schätzen wisse.1023 Auch Mardefeld setzte seinen Hof ab August 1728 regelmäßig von der reziproken »Disharmonie« zwischen dem spanischen und dem kaiser1020 Vgl. Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 5. Juli 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 167r–167v. 1021 Vgl. Bericht Stambkes an Bassewitz v. 16. September 1728, LASH, Abteilung 8.1, Nr. 1412, 183v. 1022 Vgl. Bericht Wratislaws an Prinz Eugen v. 2. September 1728, HHStA, GK, Prinz Eugen von Savoyen, Kt. 151 Winand-Würzburg 1711–1735, Graf Wratislaw aus Warschau und Moskau, 137v–138r. 1023 Vgl. Bericht Magnans an Morville v. 13. September 1728, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 75, Sankt-Peterburg 1891, 236.
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lichen Vertreter in Kenntnis. Obwohl diese äußerlich sehr höflich miteinander umgehen würden – hielt Mardefeld Anfang Dezember 1728 fest – bestehe keine große Hoffnung darauf, dass die beiden noch Freunde werden könnten.1024 Was die beiden Betroffenen selbst anbelangt, so spiegelt sich die angesprochene Disharmonie hauptsächlich in den Berichten de Lirias wider. Will man seinen Ausführungen Glauben schenken, so ist dies nicht weiter verwunderlich, da der spanische Minister seine persönliche Antipathie gegenüber dem kaiserlichen Vertreter so gut wie möglich zu unterdrücken versuchte. In den Relationen an den heimischen Hof nahm er sich jedoch kein Blatt vor den Mund, was seine Haltung bezüglich Wratislaw anbelangte. Seine Klagen beginnen bereits im Juli 1728 und setzen sich in den darauffolgenden Monaten immer weiter fort. So kritisierte de Liria zunächst die offenen Freundschaftsbekundungen seines Kollegen gegenüber Ostermann und Löwenwolde, da er damit den Zorn des Favoriten auf sich ziehen würde. In den darauffolgenden Monaten richteten sich die Beschwerden des Spaniers vor allem gegen Wratislaws Charakter. Ende August 1728 bezeichnete er ihn als äußerst auffällig handelnden Menschen, der sich leicht zu Blödheiten verleiten lasse. Einen Monat später prangerte er überdies seine »Tollköpfigkeit« an. Am Ende dieser Beschwerden betonte de Liria jedoch immer wieder, dass er sich seine Unzufriedenheit nicht anmerken lasse und sich dem Grafen gegenüber vorbildlich verhalte, um jenen den Wind aus den Segeln zu nehmen, die Streit zwischen den beiden sähen wollten. Im Oktober 1728 schließlich konstatierte er, dass niemand mit dem Verhalten Wratislaws zufrieden sei. Sogar der blankenburgische bzw. BraunschweigWolfenbüttelsche Gesandte, Ludwig Hans von der Asseburg (1700–1764), der das größte Vertrauen des kaiserlichen Ministers genieße, habe ihm anvertraut, dass er den Interessen seines Herrn umso mehr schaden würde, je länger er am russischen Hof verweile.1025 Wenngleich die Einschätzungen de Lirias offensichtlich von einer starken persönlichen Antipathie gegenüber dem Vertreter des Kaisers geprägt waren, so spiegeln sich Wratislaws Startschwierigkeiten in abgeschwächter Form tatsächlich auch in den Berichten anderer »Freunde« wider. Der polnische Gesandte Jean Le Fort – der aufgrund Wratislaws erfolgreicher diplomatischer Tätigkeit an seinem Heimathof a priori wohl kaum etwas gegen ihn haben 1024 Vgl. Weisung Friedrich Wilhelms I. an Mardefeld v. 31. August 1728, GStA PK, I. HA, Rep. 11 Geheimer Rat Auswärtige Beziehungen Akten, Nr. 6705, Berichte Mardefeld 1728 Mai–Dezember, 48v ; Berichte Mardefelds an Friedrich Wilhelm I. v. 22. Oktober und 9. Dezember 1728, GStA PK, I. HA, Rep. 11 Geheimer Rat Auswärtige Beziehungen Akten, Nr. 6705, Berichte Mardefeld 1728 Mai–Dezember, 75v sowie 94r. 1025 Vgl. Berichte de Lirias vom 12. Juli, 30. August, 27. September sowie 18. Oktober 1728, Petr Vartenevyj (Hg.), Osmnadcatyj Vek. Istoricˇeskij sbornik, Tom 2, Moskva 1869, 83–84, 100, 105, sowie 108.
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konnte – äußerte im Dezember 1728 starke Zweifel daran, dass Wratislaw trotz seines guten Willens eine große Rolle in Russland spielen werde. Dafür seien nicht nur die Vorurteile gegenüber dem Grafen, sondern auch dessen Vorgehensweisen verantwortlich, die den Gebarungen des russischen Hofes nicht entsprechen würden.1026 Le Fort spricht damit etwas an, was von der kaum vorhandenen Sekundärliteratur über die Mission Wratislaws nicht beachtet wurde. Brikner, dessen Beurteilungen stark von den Ansichten eines westlich orientierten und liberalen Historikers des 19. Jahrhunderts geprägt waren, machte lediglich die äußeren politischen Umstände für die Startschwierigkeiten Wratislaws verantwortlich. So habe der russische Hof nach dessen Ankunft einerseits mit einer Annäherung an Preußen und England geliebäugelt. Andererseits habe dort eine zunehmend feindliche Haltung gegenüber Ausländern um sich gegriffen, die mit dem Erstarken der altrussischen Dolgorukij-Familie zu erklären sei. Diese ungünstigen äußeren Rahmenbedingungen haben Wratislaw daher eine Annäherung an Peter II. nach dem Vorbild Rabutins unmöglich gemacht.1027 Damit formulierte Brikner sozusagen die Antithese zur Meinung des Zeitgenossen de Liria. Doch nur eine Zusammenführung dieser beiden Positionen offenbart die vielschichtigen Gründe für die negative Haltung gegenüber Wratislaw am russischen Hof. Das wird die nunmehr folgende Betrachtung der von Le Fort angesprochenen Bemühungen des kaiserlichen Vertreters aus den unterschiedlichen Blickwinkeln zeigen. Dazu zählte unter anderem der Abschluss eines Projekts, das bereits von Rabutin begonnen wurde – die Übergabe der Geschenkswägen des Kaisers. Auf Anregung Ostermanns sollten die bereits in Russland befindlichen Wägen im Rahmen des Namenstagsfests von Peter II. übergeben werden, weshalb Wratislaw alles daran setzte, dass diese trotz der widrigen Lieferbedingungen rechtzeitig nach Moskau gebracht würden. Die den Transport erschwerende Wetterlage machte schließlich jedoch eine Übergabe zum gewünschten Termin unmöglich. Wratislaw war daher gezwungen, den russischen Monarchen – dem der Kaiser die Kutschen als Zeichen seiner »wahren Liebe und Freundschaft« eigentlich schon zur Krönung hätte übergeben wollen – erneut zu vertrösten.1028 All das legt die Vermutung nahe, dass man den Transport bewusst verzögert hatte, um nur nicht in irgendeiner Form bei den Krönungsfeierlichkeiten involviert zu sein. Döberl liefert in seiner Untersuchung über die kaiserlichen Kutschen wertvolle Hintergrundinformationen über die Anlieferung derselben, die zum Teil 1026 Vgl. Bericht Le Forts v. 9. Dezember 1728, A. A. Polovcov (Hg.), SIRIO, Tom 5, SanktPeterburg 1870, 319. 1027 Vgl. Brikner, Diplomaty, 516–517. 1028 Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 12. Juli 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 170r–171r.
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für eine Verzögerungstaktik des Wiener Hofes sprechen. Obwohl der Kaiser seiner Ansicht nach alles daran gesetzt habe, die Wägen bis zur Krönung nach Russland zu schicken, lag zwischen der Fertigstellung und dem Abtransport der Kutschen über ein Monat – genauer gesagt der Zeitraum vom 20. Jänner bis zum 26. Februar 1728. Für die Anlieferung benötigte man insgesamt 56 Zugpferde, die die wertvolle Last bis 14. März zur ersten Zwischenstation in Breslau bringen konnten. Dort entschloss sich der für den Transport verantwortliche Stallknecht Joseph Leopold Stubmer, anstelle der schnellen Route über Warschau und Smolensk nach Moskau den sicheren und gleichzeitig längeren Weg über Riga und St. Petersburg zu nehmen. In Riga stieß der Tross schließlich auf den anreisenden Wratislaw, der – im Glauben an eine baldige Rückkehr des Hofes in die neue Hauptstadt – die Kutschen zunächst nach St. Petersburg schicken ließ.1029 Die bereits zum Namenstag Peters II. in Moskau befindlichen Geschenke konnten aufgrund des schlechten Wetters jedoch erst anlässlich des kurz darauf stattfindenden Geburtstagsfestes der Großfürstin Natal’ja überreicht werden. Doch nachdem Wratislaw die Kutschen am 23. Juli 1728 mit den bereits überbrachten Pferden des Kaisers selbst zum Hof gebracht hatte, ließ der junge Monarch ihn und seine prachtvolle Suite zunächst einmal warten. Der kaiserliche Gesandte erklärte dieses Verhalten damit, dass der Zar an diesem Tag zur Tafel im »Gartenhaus« bzw. der Dacˇa des Favoriten geladen gewesen sei und aufgrund eines unerwarteten Schlechtwettereinbruchs nicht rechtzeitig zum Hof zurückkehren habe können. Nachdem Wratislaw nach dem Eintreffen Peters II. zum Empfang vorgeführt worden war, präsentierte er die mitgebrachten Geschenke als Zeichen der »besonderen Liebe und Consideration« des Kaisers, worauf der junge Monarch über Ostermann seine »große Erkenntlichkeit« zum Ausdruck gebracht habe. Im Anschluss habe er die Kutschen »mit merkbarem Wohlgefallen« begutachtet und einige Male im Hof umherfahren lassen. Die darauffolgenden Darstellungen Wratislaws über die scheinbare Freude Peters II. scheinen jedoch etwas an den Haaren herbeigezogen. So würde der Monarch aufgrund seiner Jugend prinzipiell nicht häufig »Freude anzeigen« und stets eine »ernstliche Miene führen«. Sein »gemeines Vergnügen« über die Geschenke würde sich jedoch darin widerspiegeln, dass Peter II. trotz des bis in die frühen Morgenstunden dauernden Geburtstagsfestes gleich am nächsten Morgen seinen Dankesbrief an den Kaiser verfasst habe.1030 Diese sichtlich verhaltene Reaktion scheint einem derart kostbaren Geschenk nicht gerecht zu werden, auf das der russische Hof so lange gewartet hatte. Wratislaw spricht das in seinen Berichten natürlich nicht an. Indirekt spiegelt 1029 Vgl. Döberl, Wägen, 304–306. 1030 Vgl. Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 26. Juli 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 194r–196v ; Döberl, Wägen, 306–307.
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sich das jedoch im bereits angesprochenen Vermeiden einer direkten Kommunikation mit dem kaiserlichen Vertreter von Seiten des russischen Herrschers wider. Schon in seinem Bericht über das Namenstagsfest Peters II. bemerkte Wratislaw, dass Peter II. weder direkt noch auf Deutsch mit ihm gesprochen habe. Dies bezog er jedoch nicht auf sich persönlich und wollte Ostermann Glauben schenken, der dieses Verhalten als »Blödigkeit des jungen Herren« abtat. Der kaiserliche Vertreter schenkte daraufhin den Ehrerweisungen, die er vom Zaren erhalten hatte, größere Aufmerksamkeit: So habe er beim Namenstag Peters noch vor de Liria an der Seite des Jubilars Platz nehmen dürfen, woraufhin dieser während des Festmahls auf die Gesundheit des Kaisers getrunken habe. Beim anschließenden Ball sei er von der Großfürstin Natal’ja sowie von der Prinzessin Elisabeth gleich mehrfach zum Tanz gebeten worden. Das Vermeiden einer direkten Ansprache im Rahmen der Geschenksübergabe, welche Wratislaw selbst als gute Gelegenheit für eine Kontaktaufnahme betrachtete, erklärte er abermals mit der »vorschützlichen Blödigkeit« sowie der mangelnden Fremdsprachenpraxis Peters II.1031 Wenn wir uns die intimen Gespräche zwischen dem jungen Zaren und Rabutin in Erinnerung rufen, so ist es nur schwer vorstellbar, dass dieses völlig veränderte Verhalten des russischen Herrschers nur mit dessen Schüchternheit gegenüber dem fremden Gesandten erklärt werden kann. Auch der schlechte Einfluss der »ausländerfeindlichen« und vor allem Wratislaw gegenüber übelgesinnten Dolgorukovs scheint nicht als Grund für die merkliche Zurückhaltung des Monarchen auszureichen. Zu all dem kommt wohl auch noch hinzu, dass Peter II. dem Wiener Hof das Ausbleiben Wratislaws und der kaiserlichen Geschenke bei der Krönung nicht verzeihen konnte. Mit absoluter Sicherheit lässt sich das jedoch nicht behaupten. So berichteten die übrigen ausländischen Gesandten teilweise darüber, dass die Geschenksübergabe nicht das gewünschte Resultat erzielt habe, führten dafür jedoch unterschiedliche Gründe an. Obwohl die Kutschen sehr »magnifique« seien, erfahren wir etwa aus dem Bericht Mardefelds, habe man nicht verspüren können, dass diese »außerordentlich angenehm« gewesen wären. Dies könnte damit in Zusammenhang stehen, so die Vermutung des preußischen Gesandten, dass keine Zugpferde für die Wägen mitgeschickt worden seien.1032 Magnan hielt diesbezüglich schlicht und ergreifend fest, dass der kaiserliche Minister nicht jene Dankbarkeitsbekundungen
1031 Vgl. Berichte Wratislaws an Karl VI. v. 12. und 26 Juli 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 171v–172r sowie 194r–194v. 1032 Vgl. Bericht Mardefelds an Friedrich Wilhelm I. v. 26. Juli 1728, GStA PK, I. HA, Rep. 11 Geheimer Rat Auswärtige Beziehungen Akten, Nr. 6705, Berichte Mardefeld 1728 Mai–Dezember, 27v.
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bekommen habe, die dem Wert des Geschenks entsprochen hätten.1033 Diese Vergleichsdarstellungen zeigen, dass die Unzufriedenheit des russischen Herrschers von den Beobachtern wahrgenommen wurde, wenngleich diese keine genauen Anhaltspunkte für die Hintergründe dieses Verhaltens hatten. Trotz der beschönigenden Ausschmückungen in den Berichten Wratislaws wurden dessen Darstellungen über das Verhalten Peters II. auch am Wiener Hof als Anzeichen für die relativ erfolglose Geschenksübergabe gewertet. Wenngleich Karl VI. auch sonst nicht zu Freudenausbrüchen neigte, so fiel seine Reaktion auf die Ereignisse doch äußerst verhalten aus. Sichtlich wenig zufrieden mit dem Resultat der Überreichung schrieb er an Wratislaw : »Aus eurer dem 26 t[e]n July innstehenden jahrs datirten relation habe des mehrern gerne vernommen, wie von euch die übergebung derer des Czaarn L[ie]bden verehrter wägen veranstalltet, und daß über dieses geschancknus ein besonders vegnügen bezeuget worden seye.«1034
Die sonst üblichen Belobigungen für den Überbringer der Geschenke fielen diesmal aus. Diese folgten auch nicht, als Wratislaw seinen Hof über die entsprechenden Gegengeschenke informierte. Demzufolge wolle der Zar das Eintreffen einer »chinesischen Caravane« abwarten und im Winter ein entsprechendes Gegengeschenk als Zeichen der »fortzupflanzen suchenden wahren Freundschaft« überreichen. Er selbst habe neben einem Kompliment Peters II. auch ein Zobelfutter bekommen, während der mit der Anlieferung der Kutschen beauftragte Stallknecht Stubmer vor seiner Rückkehr nach Wien ebenso reichlich beschenkt worden sei.1035 In den Berichten anderer Diplomaten wurde das offensichtlich unspektakuläre Gegengeschenk des Zaren an Wratislaw daher lediglich als Randnotiz vermerkt.1036 Neben diesen Problemen bei der Annäherung an Peter II. hatte der kaiserliche Vertreter auch Schwierigkeiten bei der Eroberung des immer mächtiger werdenden Dolgorukij-Klans. Mit der bereits erwähnten Ernennung von Vasilij Lukicˇ und Aleksej Grigor’evicˇ Dolgorukov († 1734)1037 zu Mitgliedern des 1033 Vgl. Bericht Magnans an Morville v. 29. Juli 1728, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 75, Sankt-Peterburg 1891, 220. 1034 Weisung Karls VI. an Wratislaw v. 29. August 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 114, Weisungen 1728, 152r. 1035 Vgl. Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 13. September 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 254r–254v. 1036 Vgl. Bericht Mardefelds an Friedrich Wilhelm I. v. 26. Juli 1728, GStA PK, I. HA, Rep. 11 Geheimer Rat Auswärtige Beziehungen Akten, Nr. 6705, Berichte Mardefeld 1728 Mai–Dezember, 54v ; Bericht de Lirias v. 13. September 1728, Petr Vartenevyj (Hg.), Osmnadcatyj Vek. Istoricˇeskij sbornik, Tom 2, Moskva 1869, 101. 1037 Aleksej Grigor’evicˇ Dolgorukov war der Vater des Favoriten von Peter II. Auf Betreiben Mensˇikovs wurde er im Jahre 1726 zum Hofmeister und zweiten Erzieher des Großfürsten Petr Alekseevicˇ ernannt. Nach dessen Regierungsantritt im Jahre 1727 gelang es Aleksej
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Obersten Geheimen Rates war nicht nur deren politischer Einfluss gestiegen, sondern es wurde auch die »altrussische« Strömung am Hof – vor allem durch die Person des Letztgenannten – gestärkt. Im Juli 1728 bemerkte Wratislaw einerseits erste Tendenzen einer von dieser Partei angestrebten Stagnation in der Außenpolitik Russlands, die direkt mit dem Unwillen der Rückkehr nach St. Petersburg einhergingen. Andererseits drangen zu diesem Zeitpunkt Gerüchte an den kaiserlichen Vertreter durch, wonach einige Mitglieder des Rates das Bündnis mit dem Kaiser durch eine Allianz mit Großbritannien ersetzen wollten und es diesbezüglich zu Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern des Wiener Hofes gekommen sei. Aus diesen Gründen hatte für Wratislaw die Gewinnung des einflussreichen Favoriten Ivan Alekseevicˇ sowie dessen Onkels, Vasilij Lukicˇ, der als Anhänger des Bündnisses mit dem Kaiser galt, oberste Priorität.1038 Mitte August 1728 wandte er sich daher mit der Bitte an den Kaiser, etwas »Schmeichelndes« für die Dolgorukovs zu finden, um diese »in Ergebenheit« des Wiener Hofes »zu bringen«. Aus den Akten Rabutins habe er erfahren, dass dieser allen Mitgliedern des Obersten Geheimen Rates ein kaiserliches Portrait verehren habe wollen. Neben den beiden Dolgorukovs im höchsten Regierungsgremium müssten jedoch auch der Favorit sowie der Feldmarschall Vasilij Vladimirovicˇ (1667–1746)1039 berücksichtigt werden. Da sich Wratislaw des finanziellen Aufwandes eines solchen Plans bewusst war, schlug er eine Ehrung, wie sie zuvor bereits Mensˇikov bekommen hatte, als mögliche Alternative für teure Geschenke vor. Etwa einen Monat später wiederholte er die Bitte um die Grigor’evicˇ, den jungen Monarchen in eine enge Verbindung mit dem Dolgorukij-Geschlecht zu bringen – worauf in dieser Arbeit noch ausführlich eingegangen wird. Nach dem Tod Peters II. war er das einzige Mitglied des Obersten Geheimen Rates, das gegen den Regierungsantritt Anna Ivanovnas stimmte. Er starb 1734 in der Verbannung. Vgl. Dolgorukovy, in: Enciklopedicˇeskij Slovar’ Brokgauza i Efrona, Tom Xa: Desmurgija–Domician, Sankt-Peterburg 1893, 922–923. 1038 Vgl. Anisimov, Kuda, 191–192; Brikner, Diplomaty, 546–547; Solov’ev, Istorija, Bd. X, 166. 1039 Vasilij Vladimirovicˇ Dolgorukov machte sich als Feldherr im Nordischen Krieg verdient und begleitete Peter I. auf seiner zweiten großen Europareise in den Jahren 1716/17. Er stand vielen Reformen Peters I. kritisch gegenüber und war ein Anhänger von Zarevicˇ Aleksej, weshalb er 1718 aller Ämter enthoben und verbannt wurde. Erst im Zuge der Krönung Katharinas I. wurde ihm die Rückkehr an den russischen Hof gestattet, wo er in den Folgejahren Karriere machte. Katharina ernannte ihn zum Oberkommandierenden im Kaukasus. Nach dem Regierungsantritt Peters II. wurde er an den russischen Hof zurückgeholt und 1728 nicht nur zum Mitglied des Obersten Geheimen Rates, sondern auch zum Feldmarschall ernannt. Nach dem frühen Tod des jungen Monarchen sprach er sich gegen die Bestrebungen zur Einschränkung der Alleinherrschaft Anna Ivanovnas aus, weshalb er nach deren Regierungsantritt als einziges Mitglied des Dolgorukij-Klans nicht verbannt wurde und seine Stellung behielt. Dolgorukovy, in: Enciklopedicˇeskij Slovar’ Brokgauza i Efrona, Tom Xa: Desmurgija–Domician, Sankt-Peterburg 1893, 921–922.
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Gewinnung der Dolgorukovs und versuchte, dieser umso mehr Nachdruck zu verleihen, indem er hinzufügte, dass ihm sogar Ostermann angesichts des steigenden Einflusses derselben dazu geraten habe. Außerdem herrsche akuter Handlungsbedarf, da die Verleihung des polnischen Weißen-Adler-Ordens an den Favoriten unmittelbar bevorstehe.1040 Bei dieser Gelegenheit konnte sich Wratislaw als Überbringer der freudigen Nachricht selbst positiv in Szene setzen, da er als Kavalier dieses Ritterordens vom polnischen König beauftragt wurde, Peter II. die Auszeichnung zu überreichen, welcher diese in weiterer Folge an den Favoriten übergeben sollte. Der kaiserliche Vertreter veranstaltete zu diesem Anlass ein Fest, in dessen Rahmen er durch die Ordensübergabe nicht nur die »Satisfaction« des Zaren vermehren, sondern von unterschiedlichen Seiten »einige Genehmung« erzielen habe können. Besondere Aufmerksamkeit richtete Wratislaw jedoch darauf, die Dolgorukovs »bestmöglich zu beleben«. Diese hätten daraufhin »viel Aufmerksamkeit und Contestation« gegenüber dem Kaiser bezeugt. Der Feldmarschall seinerseits sei persönlich an ihn herangetreten, um sein Bedauern zum Ausdruck zu bringen, dass er beim Bündnisschluss mit dem Wiener Hof aufgrund seiner Stationierung in Persien nicht zu Gunsten des Kaisers habe wirken können.1041 Die positive Wirkung der Ordensüberreichung und des dazugehörigen Fests spiegelt sich auch in anderen Diplomatenberichten wider. So fügte Mardefeld seinem ausführlichen Bericht über das Zeremoniell den Beisatz hinzu, dass Wratislaw einen kostbaren Brillanten und der polnische Gesandte Le Fort 1.000 Dukaten erhalten würden.1042 Deutliche Erleichterung über das positive Auftreten Wratislaws äußerte Stambke in seinem Bericht über das Fest und stellte darin abermals seine schriftstellerischen Fähigkeiten unter Beweis: »Die gesellschaft ward den nachmittag ziemlich weit in die tockayer-berge geführet, so daß einige, die sich zu sehr darin verstiegen kaum wieder heraus zu finden wusten, anderen aber die zeit, mit der post zu schreiben, darüber verstrichen war [Anm.: damit meinte er sich selbst]. Ich mag wol das vergnügen bezeugen, welches ich gehabt habe, zu beobachten, mit was admirablement prudentem wesen ein leicht zu errathender freund [Anm.: gemeint ist Wratislaw] gegen gewisse personen, mit welchen er am hofe 1040 Vgl. Berichte Wratislaws an Karl VI. v. 16. August sowie 27. September 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 232r–234v sowie 274r–279r ; Brikner, Diplomaty, 530–531. 1041 Vgl. Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 25. Oktober 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 307v–308v. 1042 Vgl. Bericht Mardefelds an Friedrich Wilhelm I. v. 18. Oktober 1728, GStA PK, I. HA, Rep. 11 Geheimer Rat Auswärtige Beziehungen Akten, Nr. 6705, Berichte Mardefeld 1728 Mai–Dezember, 189r–189v. Vgl. zum Ablauf auch: Bericht de Lirias v. 18. Oktober 1728, Petr Vartenevyj (Hg.), Osmnadcatyj Vek. Istoricˇeskij sbornik, Tom 2, Moskva 1869, 107–108.
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umzugehen hat, sich zu nehmen wuste, umb derosleben gemüther zu captiviren. Ich meyne auch, mich nicht zu betriegen [sic!], wann ich glaube wircklich genug gespühret zu haben, man finde wol, ein mutuelles gutes verstandnis sey der sicherste weg, zu allgemeinen zwecken zu gelangen.«1043
Doch die offensichtlich positive Wirkung des Fests sollte nicht allzu lange anhalten. Etwas mehr als einen Monat später schien es Wratislaw dem russischen Hof bei einem ähnlichen Anlass abermals nicht recht machen zu können. Ende November 1728 veranstaltete er das bereits traditionelle Fest zum Namenstag Karls VI. Dabei durfte er auch Peter II. begrüßen, der sich seiner Ansicht nach »zufrieden und ziemlich vergnügt« gezeigt habe. Außerdem sei er entgegen seinen üblichen Gewohnheiten nach Aufhebung der Tafel über Stunden am anschließenden Ball verblieben. Wenngleich der junge Monarch sich gegenüber Wratislaw »sehr gnädig« gegeben habe, habe er abermals nicht auf dessen Anrede reagiert und sei wie bereits zuvor nicht direkt mit ihm in Kontakt getreten.1044 Das ungewöhnlich fröhliche Verhalten des Zaren wird auch im Bericht Mardefelds hervorgehoben, wobei dies vor allem dem guten Zureden von Ostermann zu verdanken gewesen sei. Obwohl es dem Fest weder an »Magnificence« noch an »gutem Willen« gefehlt habe, sei es nicht so approbiert worden, wie etwa die einige Monate zuvor gegebene Veranstaltung bei de Liria. So habe vor allem der Favorit sein Missfallen über das Fest gezeigt, da Wratislaw diesen versehentlich nicht zur Tafel eingeladen hatte.1045 Der eben angesprochene spanische Minister machte ähnliche Beobachtungen. Im Gegensatz zu Wratislaw betonte de Liria, dass der Zar und die Prinzessin Elisabeth den Ball bereits um zehn Uhr abends verlassen hätten, obwohl dieser bis in die frühen Morgenstunden weiterging. Der kaiserliche Vertreter habe am folgenden Tag überdies alle Kaufleute mit ihren Frauen eingeladen und damit alles getan, damit der Feiertag dem Ansehen seines Herrn entspreche. Doch obwohl er insgesamt viel dafür ausgegeben habe, sei für ihn selbst wenig dabei herausgesprungen. So wären alle damit unzufrieden gewesen, da Wratislaw die hiesigen Gebräuche nicht kenne und es für nicht notwendig befunden habe, sich im Vorfeld darüber zu erkundigen.1046 All die soeben im Detail betrachteten Bemühungen Wratislaws, seinen Ein1043 Bericht Stambkes an Bassewitz v. 10. Oktober 1728, LASH, Abteilung 8.1, Nr. 1412, 189r–189v. 1044 Vgl. Berichte Wratislaws an Prinz Eugen v. 29. November 1728 sowie v. 24. Januar 1729, HHStA, GK, Prinz Eugen von Savoyen, Kt. 151 Winand-Würzburg 1711–1735, Graf Wratislaw aus Warschau und Moskau, 170v–171r sowie 198v. 1045 Vgl. Bericht Mardefelds an Friedrich Wilhelm I. v. 29. November 1728, GStA PK, I. HA, Rep. 11 Geheimer Rat Auswärtige Beziehungen Akten, Nr. 6705, Berichte Mardefeld 1728 Mai–Dezember, 87r–87v. 1046 Vgl. Bericht de Lirias v. 29. November 1728, Petr Vartenevyj (Hg.), Osmnadcatyj Vek. Istoricˇeskij sbornik, Tom 2, Moskau 1869, 115.
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fluss am russischen Hof geltend zu machen, haben vor Augen geführt, dass ihm dies trotz des mehrfach betonten »guten Willens« nicht gelungen war. Brikner hält also völlig zu Recht fest, dass der unerwartete Wechsel der diplomatischen Akteure einen erheblichen Rückschlag für die Stellung des Kaisers und seiner Vertreter am russischen Hof bedeutete. Während Rabutin noch zu den einflussreichsten Männern und wichtigsten Mitgliedern des diplomatischen Corps gehört hatte und im engen Vertrauen mit dem Zaren und seiner Schwester gestanden war, konnte sich Wratislaw in den ersten Monaten seines Moskauaufenthaltes nicht eine derartige Stellung am Hof Peters II. erarbeiten.1047 Wie wir gesehen haben, waren die Gründe dafür vielschichtig. Neben den schwierigen äußeren Rahmenbedingungen der Mission, die unter anderem mit dem Aufstieg der Dolgorukovs und der verordneten Abwesenheit bei der Krönung Peters II. verbunden waren, stellten charakterliche Eigenschaften des Botschafters die Hauptgründe für dessen Startschwierigkeiten dar. Gerade das teilweise ungeschickte Verhalten des kaiserlichen Vertreters, das von Freund und Feind angeprangert wurde, muss bei der Bewertung seiner Arbeit daher auch berücksichtigt werden. Die nunmehr folgenden Ausführungen werden zeigen, ob Wratislaws Bemühungen hinsichtlich der Gewinnung des russischen Hofs im dritten und letzten Regierungsjahr des jungen Monarchen Früchte trugen.
3.2.3. Stagnation in der Freundschaft der beiden Bündnispartner? Wratislaws Ringen um die Gunst des Hofes von Peter II. In der bisherigen Forschungsliteratur wurde die kurze Regierungszeit Peters II. vielfach als Phase der Stagnation in der russischen Politik charakterisiert. Der Umzug des Hofes nach Moskau hat aus Sicht der meisten Autoren eine neue Epoche eingeleitet, bei deren Beschreibung vielfach die berühmte Metapher Le Forts von Russland als »führerloses Schiff« bemüht wurde. Grund für dieses Geschichtsbild über die Regierungszeit Peters II. ist mitunter die Tatsache, dass der junge Monarch selbst nicht gewillt war, sich mit den Regierungsgeschäften zu befassen und die Sitzungen des Obersten Geheimen Rates entweder nur selten oder gar nicht besuchte. Der die Staatsangelegenheiten fest in seinen Händen haltende Ostermann auf der einen Seite und die Dolgorukovs als ständige Begleiter des Zaren auf seinen vielen außerhalb Moskaus stattfindenden Jagdlustbarkeiten auf der anderen Seite nahmen daher eine Vermittlerfunktion zwischen dem Herrscher und dem obersten Regierungsgremium ein. Unter diesen Rahmenbedingungen kam es daher zwangsläufig zu einer Vernachläs1047 Vgl. Brikner, Diplomaty, 557–558.
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sigung der unterschiedlichen politischen Agenden, die sich außenpolitisch vor allem am sukzessiven Niedergang der russischen Armee und Flotte bemerkbar machte.1048 Genau dieses Faktum prangerte auch Wratislaw in seinen Berichten über die innenpolitische Lage in Russland an. Der kaiserliche Gesandte deutete den langen Aufenthalt in Moskau und die damit verbundene Vernachlässigung von Armee und Flotte als ein Ergebnis der Anstrengungen der »altrussischen« Kräfte, welche aus seiner Sicht noch viel weitergehen wollten. Diese seien vor allem an einer Änderung des Staatssystems in Form einer Einschränkung der souveränen Macht des Herrschers interessiert. Moskau, so Wratislaw in seinen Analysen, würde sich für ein derartiges Vorhaben besonders gut eignen, da dort nicht nur die Militärpräsenz besonders gering sei, sondern auch die ansässigen Macht- und Würdenträger diesem Ziel einiges abgewinnen könnten. Diese Schilderungen über die innenpolitische Lage Russlands setzten natürlich auch den Wiener Hof in Alarmbereitschaft, der seinen Minister bereits in den ersten vor dessen Abreise formulierten Instruktionen angewiesen hatte, eine schnelle Rückkehr nach St. Petersburg voranzutreiben.1049 Für die Außenpolitik des Wiener Hofes war der Erhalt der russischen Armee und Flotte von höchster Bedeutung, da vor allem im Jahre 1727 mit Hilfe der russischen Hilfstruppen im Baltikum bewaffnete Übergriffe der um die Mitglieder Schweden und Dänemark erstarkten »Herrenhausener Allianz« verhindert werden konnten. Das zu zeigen gelang Nelipovicˇ in seiner stark militärgeschichtlich ausgerichteten Studie hervorragend. Darin charakterisierte er das auf den Streitkräften der beiden Mächte basierende Militärbündnis zwischen Wien und St. Petersburg/Moskau als friedenssicherndes Instrument, das eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen den in einem »kalten Krieg« befindlichen Machtblöcken im Jahre 1727 verhindern konnte. Russland stellte damit seine wichtige militärische Stellung im System des europäischen Gleichgewichts erstmals deutlich unter Beweis.1050 Angesichts dieser außenpolitischen Rahmenbedingungen ist es nicht weiter verwunderlich, dass Wratislaw seine Bemühungen rund um die Rückführung des Hofes nach St. Petersburg gleich nach seiner Ankunft in Moskau startete. Wie wir bereits aus den unterschiedlichsten Quellen erfahren haben, stand diese Frage in engem Zusammenhang mit dem Lebenswandel des Zaren. Darüber beklagte sich Wratislaws erstmals im Juli 1728. Demnach sei Ostermann der Einzige, der sich den Verleitungen des Zaren entgegensetzen könne. Voller Sorge 1048 Vgl. Anisimov, Kuda, 194; Solov’ev, Istorija, Bd. X, 180–183 sowie 191–193; Bericht Le Forts v. 25. November 1728, A. A. Polovcov (Hg.), SIRIO, Tom 5, Sankt-Peterburg 1870, 315–317. 1049 Vgl. Brikner, Diplomaty, 517; Brikner, Dvor (Teil 2), 585–586. 1050 Vgl. dazu ausführlich: Nelipovicˇ, Sojuz, 46–64.
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um die Gesundheit Peters II. schildert er, dass der junge Monarch am Vorabend bis acht Uhr morgens an einem Fest anlässlich der Taufe eines Sohnes von Jaguzˇinskij teilgenommen habe und derartige Ausschweifungen keineswegs eine Seltenheit darstellen würden. Diesem besorgniserregenden Lebenswandel wollte Wratislaw gemeinsam mit Ostermann auch durch die Suche einer Braut für den Zaren ein Ende setzen. Doch aus einem der nachfolgenden Berichte des Gesandten geht hervor, wie schlecht es um die Einflussnahme auf Peter II. bestellt war. So habe ihm der Vizekanzler im äußersten Vertrauen mitgeteilt, dass er diese Frage nicht aufs Tapet bringen möchte, da der russische Souverän derzeit von schlechten Leuten umgeben sei.1051 Diese Darstellungen bereiteten dem Wiener Hof allem Anschein nach große Sorgen, weshalb sich Karl VI. in den darauffolgenden Wochen in ungewohnter Ausführlichkeit an seinen Gesandten wandte. Mitte August 1728 reagierte der Kaiser zunächst auf die Zustände am russischen Hof. Demnach sollte sich Wratislaw zunächst bei Ostermann für jene Ehrenbezeugungen bedanken, die er etwa beim geschilderten Namenstagsfest des Zaren erhalten habe. Gleichzeitig möge er jedoch auch darauf hinarbeiten, dass der junge Monarch nicht nur über seinen Minister, sondern auch selbst mit ihm zu sprechen beginne, da er der deutschen Sprache mächtig sei. Ostermanns Verhalten gegenüber den Dolgorukovs könne nicht hoch genug geschätzt werden, weshalb sich Wratislaw dessen Vertrauen versichern und den Vizekanzler immer stärken solle. Gleichzeitig sei dieser »anzufrischen«, alles »zur Beschleunigung der Rückkehr nach St. Petersburg anzuwenden«. Ostermann werde nämlich selbst erkennen, so der Kaiser weiter, wie viel den übrigen Höfen an der Rückreise und dem damit verbundenen Erhalt des Ansehens des russischen Reiches gelegen sei.1052 Nur vier Tage später liefert Karl VI. in einer ausführlichen Weisung die Hintergründe dafür, warum Russlands internationale Stellung in direktem Zusammenhang mit der Verlegung des Hofes nach St. Petersburg stand. So stellte die Erhaltung der russischen Flotte aus Sicht des Wiener Hofes den größten Nutzen der Allianz mit dem Zaren dar. Aus diesem Grund sei alles erdenklich Mögliche für die Rückkehr anzuwenden, da davon nicht nur die Sicherheit des Zarenreiches, sondern eben auch das Ansehen Russlands bei den übrigen Mächten abhinge. Wratislaw solle daher bei aller angedachten Behutsamkeit nicht so lange warten, bis alles zu spät sei. Man müsse also über Mittel nachdenken, die zur Beseitigung dieses Unheils – gemeint ist der Aufenthalt in Moskau – als Ursprung allen Übels angewendet werden könnten. Der von 1051 Vgl. Berichte Wratislaws an Karl VI. v. 7. Juli und 2. August 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 168r–168v sowie 203r–206v ; Brikner, Dvor (Teil 3), 14. 1052 Vgl. Weisung Karls VI. an Wratislaw v. 15. August 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 114, Weisungen 1728, 224r–224v.
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Wratislaw gemachte Vorschlag, wonach zunächst der Favorit des Zaren entweder mit Hilfe de Lirias oder durch große Verheißungen gewonnen werden müsse, sei ein gangbarer Weg. Diesbezüglich warf der Kaiser jedoch die Frage auf, wie viel damit tatsächlich »zu richten sein dürfte«. So wäre es am besten, den jungen Monarchen und seinen Günstling zu entzweien, da das Schicksal des russischen Reiches nicht von einem »jungen, unerfahrenen und Gott weiß wie gesinnten Menschen« abhängen dürfe. Wie dies zu bewerkstelligen sei, konnte Karl VI. seinem Vertreter jedoch nicht sagen. Er dachte jedoch laut über das Schmieden eines Geheimplans mit der Großfürstin nach, von deren Vernunft, Reife und Einfluss er jedoch auch nicht gänzlich überzeugt war. Inzwischen solle Wratislaw daher das völlige Vertrauen Ostermanns gewinnen, um in weiterer Folge zu Gunsten des Zaren und der Alliierten Russlands agieren zu können. Auch die »Kultivierung« des Favoriten und der Prinzessin sowie des offensichtlich vernünftigen Feldmarschalls sei voranzutreiben, wobei der Kaiser auch seine Bereitschaft zu entsprechenden Geschenken bekundete. In diesem Zusammenhang sollte sich Wratislaw wie bisher offen mit de Liria austauschen, dessen gutes Verhältnis zu Ivan Dolgorukov bei der Rückkehr des Hofes auf jeden Fall nutzbar gemacht werden müsse. Doch da das freundschaftliche Verhältnis mit Spanien nicht für immer in Stein gemeißelt sei, möge Wratislaw nicht ausschließlich über dessen Vermittlung agieren, sondern den russischen Hof selbst und in aller Vorsicht an die Notwendigkeit der Rückkehr erinnern.1053 Weniger als einen Monat später folgte schließlich ein ausführliches Heiratsprojekt des Kaisers für den russischen Hof. Auch hierfür sollte Wratislaw den überaus geschätzten Ostermann im Sinne der Interessen Wiens einspannen. So habe der Kaiser aus dem Bericht über die erwähnte Besprechung mit dem Vizekanzler entnommen, dass die Verheiratung der Prinzessin Elisabeth oberste Priorität habe. Gleichzeitig verstehe er jedoch nicht, warum an den Zaren selbst bislang gar nicht gedacht worden sei – schließlich ginge es darum, eine ausländische Partie für ihn zu finden und damit eine Verbindung mit den Dolgorukovs zu vermeiden. Um entsprechend vorsichtig zu agieren, solle Wratislaw daher in Abstimmung mit Ostermann handeln, diesen über die kaiserlichen Pläne informieren und umgehend über dessen mögliche Einwände berichten. Konkret sah das Projekt für den Zaren und seine Schwester eine Prinzessin bzw. einen Prinzen aus Bevern vor, da diese zu den vornehmsten »Parteien« im deutschen Reiche zählen würden. Für Prinzessin Elisabeth unterbreitete er gleich mehrere Vorschläge: den verwitweten Herzog von Holstein (dessen Frau,
1053 Vgl. Weisung Karls VI. an Wratislaw v. 19. August 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 114, Weisungen 1728, 232r–237v.
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Anna Petrovna, im März 1728 verstorben war), den Bischof von Eutin oder den verwitweten Prinzen von Sulzbach.1054 Doch für Wratislaw hatte die Rückkehr des Zaren nach St. Petersburg absoluten Vorrang. Diesbezüglich bediente sich der Wiener Hof und sein Vertreter aller möglichen Kanäle und Argumente. Ein Weg verlief über die Großfürstin, welche mittlerweile ernsthaft an Brustfieber erkrankt war. Ihr überreichte Wratislaw kurz vor deren Tod ein Genesungsschreiben der Kaiserin, das er zuvor im Beisein Ostermanns geöffnet und dessen ursprünglichen Inhalt er in Abstimmung mit dem Vizekanzler erweitert hatte. Diese Ergänzung umfasste die Hoffnung der Kaiserin, wonach die Petersburger Luft der »beständigeren Gesundheit« ihrer Nichte »vorträglich sein könnte«. Auch beim Zaren würde diese besser als jene in Moskau anschlagen, da dies das seit frühester Kindheit »angewohnte« Klima der beiden darstelle. Wratislaw richtete diesen Bericht wohl bewusst an den Prinzen Eugen, in der Hoffnung, dass dieser den Kaiser über sein eigenständiges Handeln im Namen der Kaiserin informieren würde. Ungewiss über den Effekt des Schreibens, wollte er zumindest alles ausprobiert haben. Erst zwei Wochen später berichtete Wratislaw an den Kaiser, dass die Rückkehr nach Petersburg unter der Hand vorbereitet werde und der Favorit dabei eingespannt werden solle. Dieser sei dem Plan gegenüber keineswegs abgeneigt, wenngleich das Vorhaben vor allem von seinem Vater geheim gehalten werden müsste. Auf Anregung Ostermanns erinnerte er den heimatlichen Hof daran, dass die Erhebung der Dolgorukovs in den Reichsfürstenstand und die Verleihung des Lehens, das man zuvor Mensˇikov versprochen hatte, diesbezüglich besonders nützlich sein könnten. Sollten diese Zuwendungen »zu viel ins Auge fallen«, so wäre es vorerst wohl auch mit einem »Stück Geld« getan, weshalb Wratislaw um einen Kreditbrief in der Höhe von 20.000 Gulden bat.1055 Die angesprochene Vermittlung über den Favoriten sollte natürlich durch de Liria erfolgen, der, wie wir bereits wissen, das Vertrauen von Ivan Alekseevicˇ genoss.1056 Seine Vergleichsdarstellungen liefern uns jedoch eine etwas ausführlichere Darstellung der Ereignisse, die zugleich auch die näheren Hintergründe für die Antipathie des spanischen Vertreters gegenüber Wratislaw eröffnet. Will man seinen Ausführungen Glauben schenken, so fungierte der kaiserliche Vertreter in dieser Sache lediglich als Spielball zwischen ihm und 1054 Vgl. Weisung Karls VI. an Wratislaw v. 14. September 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 114, Weisungen 1728, 275r–284r ; Brikner, Dvor (Teil 2), 588. 1055 Vgl. Berichte Wratislaws an Prinz Eugen v. 2. Dezember 1728 sowie v. 24. Januar 1729, HHStA, GK, Prinz Eugen von Savoyen, Kt. 151 Winand-Würzburg 1711–1735, Graf Wratislaw aus Warschau und Moskau, 172r–173v ; Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 16. Dezember 1728, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 343r–345v ; Brikner, Diplomaty, 531; Brikner, Dvor (Teil 2), 588–589. 1056 Vgl. Brikner, Diplomaty, 547–548.
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Ostermann. Tagebuchartig hält de Liria die Ereignisse rund um die Gewinnung des Favoriten für ihren Plan fest. Sein »Diarium« setzt am 1. Dezember 1728 mit der Beschreibung der Öffnung des Briefs der Kaiserin ein, bei der nicht nur Ostermann, sondern auch der spanische Minister anwesend gewesen sei. Da das offizielle Schreiben lediglich die üblichen Höflichkeiten beinhaltet habe, sei Wratislaw auf einen zur selben Zeit eingegangenen Brief Eugens ausgewichen, in dem die Rückkehr nach St. Petersburg mit dem Argument der besseren Luft dringend angeraten wurde. Damit erklärt sich auch, warum Wratislaw seinen Bericht über die Übergabe des Schreibens mit dem erwähnten Zusatz an Eugen richtete. Dieses habe Wratislaw nach Angaben de Lirias gleich am nächsten Tag an Natal’ja übergeben, welche dessen Inhalt noch vor ihrem Tod am 3. Dezember an Peter II. weitergeben konnte. Daraufhin seien Ostermann und der Spanier erst wieder am 5. Dezember aufeinander getroffen, wobei sich der Vizekanzler äußerst besorgt über die Rückkehr nach St. Petersburg gezeigt habe. Er habe den Wunsch geäußert, dass Wratislaw den Inhalt des Briefes von Eugen direkt an den Zaren weitergebe. Da beide jedoch kein Vertrauen in die »Beredsamkeit« Wratislaw gesetzt hätten, seien sie zu folgendem Schluss gekommen: Der kaiserliche Vertreter solle von ihnen eine Art »Spickzettel« bekommen, dessen Inhalt zunächst über de Liria mit dem Favoriten abgestimmt werden solle.1057 Daraufhin habe Wratislaw den gefassten Plan beinahe durch sein ungeschicktes Verhalten zunichte gemacht, da dieser sich nach Angaben Ostermanns in der Zwischenzeit beim Onkel des Favoriten, Sergej Dolgorukov, über die unzureichende Aufmerksamkeit von dessen Neffen gegenüber seiner Person beschwert habe. Damit habe der kaiserliche Gesandte Ivan Alekseevicˇ, der von seinem Verwandten sofort darüber informiert worden sei, nunmehr einen wahren Grund für dessen Antipathie geliefert, die sich bislang nur aus kleinen Unzulänglichkeiten im Verhalten Wratislaws speiste. Zudem sah de Liria seinen Plan deshalb in Gefahr, da ihn der nichtsahnende Wratislaw am 7. Dezember davon in Kenntnis setzte, dass er für denselben Tag wie der Spanier ein Treffen mit dem Favoriten vereinbart habe. Über Ostermann ließ de Liria dem kaiserlichen Gesandten angeblich ausrichten, dass er vorerst nichts ohne den entsprechenden Befehl des Vizekanzlers unternehmen solle, weshalb er am 8. Dezember sein Vorhaben ungestört mit Ivan Alekseevicˇ habe abstimmen können. Nachdem der spanische Minister diesem die Idee des »Spickzettels« für Wratislaw und die bereits bekannten Argumente für die Rückkehr nach St. Petersburg unterbreitet hätte, sei von dessen Seite nicht nur eine sofortige Zustimmung sondern auch eine Beschwerde über den kaiserlichen Gesandten erfolgt. Dolgorukov habe ihm verraten, dass er die Verleihung des Andreasordens an 1057 Vgl. Bericht de Lirias v. 13. Dezember 1728, Petr Vartenevyj (Hg.), Osmnadcatyj Vek. Istoricˇeskij sbornik, Tom 2, Moskva 1869, 117–118.
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Wratislaw um jeden Preis verhindern wolle.1058 Bei diesem Vorhaben dürfte der Favorit erfolgreich gewesen sein, da Wratislaw die Auszeichnung bekanntlich erst unter Anna Ivanovna bekommen sollte.1059 Doch zurück zum 8. Dezember 1728. Tags darauf sei de Liria nochmals mit Ostermann zusammengetroffen, um sich neben dem Wortlaut des »Spickzettels« auch über entsprechende Versprechungen des Kaisers zu beratschlagen. Mit der Erinnerungshilfe für Wratislaw im Gepäck habe er sich noch am selben Tag zum Favoriten begeben, um Ivan Dolgorukov nicht nur dessen Inhalt zu präsentieren, sondern ihn auch über die Bereitschaft des Wiener Hofs zur Verleihung des Fürstentitels bzw. eines Lehens an die Dolgorukovs zu informieren – wie er es zuvor vom kaiserlichen Minister erfahren habe. Der Günstling Peters II. habe sich daraufhin mit beiden Anliegen einverstanden erklärt, wobei er die Zuwendungen des Kaisers nicht über Vermittlung Wratislaws bekommen wollte. Daraufhin sei Ivan Alekseevicˇ selbst an Ostermann herangetreten, um diesen über seine Bemühungen bezüglich der Rückkehr zu informieren, während der Vizekanzler am 10. Dezember den gemeinsam formulierten »Spickzettel« an den Grafen übergeben habe. Dieser sei daraufhin sogleich zu de Liria gefahren, um ihn in den »geheimen Plan« einzuweihen, dem Zaren den kaiserlichen Wunsch über die Rückreise nach St. Petersburg im Rahmen einer Audienz schriftlich zu übergeben. De Liria, der sich gleich mehrfach über die scheinbare Einfältigkeit Wratislaw amüsierte, habe daraufhin seinem »geheimen Plan« zugestimmt und ihm angeboten, bei der Formulierung des Schriftstücks behilflich zu sein. Noch am selben Tag sei der kaiserliche Minister mit dem vom Spanier formulierten Schreiben zu Ostermann gefahren, um das scheinbar seinem Geist entsprungene Werk wie vereinbart vom Vizekanzler ins Russische übersetzen zu lassen.1060 Bei aller Überheblichkeit und Abneigung gegenüber Wratislaw, die aus den Worten de Lirias hervorgehen, muss festgehalten werden, dass der vom Spanier als sein Geisteswerk angepriesene Plan nicht die erwünschte Wirkung zeigte. Nach dem Zusammentreffen zwischen dem kaiserlichen Vertreter und dem Zaren berichtete Wratislaw im Jänner 1729 an Eugen, dass man sich bezüglich der Rückkehr nach Petersburg noch nicht herausgelassen habe und er stattdessen täglich nur als Zuschauer eines immer unordentlicher werdenden Hofwesens agieren könne. Den Kaiser informierte er am selben Tag darüber, dass Peter II. im Rahmen der bereits vollzogenen Neujahrsfeierlichkeiten nicht am besten und gesündesten ausgesehen habe und er noch nicht über den Tod seiner 1058 Bericht de Lirias v. 13. Dezember 1728, Petr Vartenevyj (Hg.), Osmnadcatyj Vek. Istoricˇeskij sbornik, Tom 2, Moskva 1869, 119–120. 1059 Vgl. Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 29. Mai 1730, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 6, Berichte 1730 IV–XII, 182r–185v. 1060 Vgl. Bericht de Lirias v. 13. Dezember 1728, Petr Vartenevyj (Hg.), Osmnadcatyj Vek. Istoricˇeskij sbornik, Tom 2, Moskva 1869, 121–123.
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Schwester hinweggekommen sei. Ostermann wolle ihm daher auch die notwendige Ablenkung in Form von Jagden und dergleichen mehr zugestehen. Da im Moment also eine Veränderung der Lebensart des jungen Monarchen unmöglich sei, versuche Wratislaw inzwischen die anderen Großen des Reiches für die Allianz zu gewinnen und dabei vor allem den Feldmarschall Dolgorukov zu kultivieren. Dieser habe ihm nämlich versichert, dass jeder Russe mit nur etwas Verstand um die Notwendigkeit des Bündnisses mit dem Kaiser Bescheid wisse. Der Feldmarschall sei daraufhin sogar direkt an ihn mit der Bitte um eine kaiserliche Gnade herangetreten. Ihm schwebe ein Portrait des Kaisers vor, wie es bereits die übrigen Mitglieder des Obersten Geheimen Rates erhalten haben. Wratislaw machte Dolgorukov daraufhin Hoffnungen auf das Portrait und noch mehr, weshalb er den Kaiser sogleich um vier kaiserliche Konterfeis für den Favoriten Ivan, dessen Vater Aleksej sowie Vasilij Lukicˇ und den Feldmarschall bat. Wenngleich er sich des finanziellen Aufwandes dieses Anliegens bewusst war, so hielt er es doch für unausweichlich, da die Dolgorukovs nicht nur die Regierungsgewalt des jungen Monarchen, sondern auch dessen Kriegsmacht in ihren Händen halten würden.1061 Karl VI. erschien diese Argumentation offensichtlich nachvollziehbar und er zeigte auch erstmals Verständnis für die schwierige Lage Wratislaws. So belobigte er dessen Bemühungen bezüglich der Rückkehr nach St. Petersburg und betonte, dass er die Hindernisse, die diesem Vorhaben im Weg stehen würden, ebenfalls erkenne. Er sei jedoch derselben Meinung wie Ostermann, wonach die Rückkehr eine »Wohltat« für den Zaren und das russische Reich darstellen würde. Deshalb müsse man dem Aufbruch nach Petersburg über den Favoriten Vorschub leisten, wozu der Kaiser auch einiges beisteuern wollte. So gestand er Wratislaw die angeforderten 20.000 Gulden zu, welche jedoch ausschließlich zur Beförderung der Rückreise in die neue Hauptstadt verwendet werden sollten. Auf das Geld dürfe Wratislaw jedoch erst dann zurückgreifen, wenn er sich absolut sicher über die zu erwartende Wirkung sei. Sollte Gefahr im Verzug bestehen, könne der Graf den Dolgorukovs auch die Erhebung in den Grafenstand in Aussicht stellen, nicht jedoch die Verleihung des schlesischen Lehens. Hierfür müsse Wratislaw eine Sondergenehmigung des Kaisers einholen. Außerdem kündigte Karl VI. an, dass er dem Zaren, Ostermann und den übrigen
1061 Vgl. Bericht Wratislaws an Prinz Eugen v. 13. Januar 1729, HHStA, GK, Prinz Eugen von Savoyen, Kt. 151 Winand-Würzburg 1711–1735, Graf Wratislaw aus Warschau und Moskau, 195r–196v ; Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 13. Januar 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 6r–9v ; Brikner, Diplomaty, 531 sowie 547; Brikner, Dvor (Teil 3), 9.
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Mitgliedern des Obersten Geheimen Rates sowie dem Favoriten eine »Verehrung« in Form von ungarischen Weinen zukommen lassen wolle.1062 Doch während die guten Nachrichten aus Wien auf dem Weg in das beargwöhnte Moskau waren, konnten Wratislaw und de Liria nur wenig am russischen Hof ausrichten. Letzterer berichtete Ende Januar 1729, dass er sich fast täglich mit dem Favoriten wegen der Rückkehr nach Petersburg treffe. Wenngleich Ivan Alekseevicˇ für dieses Vorhaben zu gewinnen sei, setze sein Vater alles daran, um selbiges zu verhindern. Deshalb gehe der Favorit davon aus, dass vor dem Winter bestimmt nicht an eine Rückkehr zu denken sei, was vor allem dem Zaren und dessen Lebenswandel schlecht bekommen würde. Diesmal schob de Liria die Verantwortung für die ausweglose Situation auf den ungeliebten Wratislaw ab. Dieser könne nämlich als Minister des Onkels von Peter II. einiges ausrichten, wenn er auch nur ein bisschen Credit am russischen Hof besitzen würde. Stattdessen würde er mit jedem Tag unter den Russen nur noch mehr Hass auf sich ziehen.1063 Wratislaw hielt sich trotz der schwierigen Lage von derart abschätzigen Äußerungen über sein spanisches Pendant fern. Kurz darauf wiederholte er gegenüber dem Prinzen Eugen jene Fakten, die in Wien bereits bekannt waren. So würde er gemeinsam mit de Liria versuchen, den Zaren von seinem schlechten Lebensstil abzubringen, wobei Ostermann der einzige russische Minister sei, mit dessen Unterstützung man rechnen könne.1064 Die Erfolglosigkeit der beiden hochrangigen Diplomaten und deren interne Zwistigkeiten wurden auch von anderen Beobachtern bemerkt. Das spiegelt sich etwa in der Korrespondenz Magnans mit dem französischen Hof wider. Diese zeigt jedoch auch, dass Wratislaw keineswegs ein derart »offenes Buch« war, wie es von de Liria gerne dargestellt wurde. Anfang Jänner 1729 berichtete Magnan nach Paris, dass er von Westfalen über dessen Unterredung mit dem kaiserlichen Vertreter erfahren habe, in der der dänische Gesandte sich über den Hintergrund der ständigen Treffen zwischen dem Spanier und dem Favoriten erkundigte. Wratislaw hatte sich diesbezüglich offensichtlich ahnungslos gestellt und hinzugefügt, dass er generell in Übereinstimmung mit dem spanischen Minister agiere – wie es in seinen Instruktionen vorgegeben worden sei. Gleichzeitig habe sich der Graf bei dieser Gelegenheit darüber beklagt, dass de Liria ihm nicht das gewünschte Vertrauen entgegenbringen würde. Nur wenige Tage später glaubte Magnan, den Grund für die gleichzeitig stattfindenden Treffen zwischen dem 1062 Vgl. Weisung Karls VI. an Wratislaw v. 2. Februar 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 115, Weisungen 1729, 1r–1v sowie 4r–4v ; Brikner, Diplomaty, 531. 1063 Vgl. Bericht de Lirias v. 31. Januar 1729, Petr Vartenevyj (Hg.), Osmnadcatyj Vek. Istoricˇeskij sbornik, Tom 2, Moskva 1869, 142–143. 1064 Vgl. Bericht Wratislaws an Prinz Eugen v. 14. Februar 1729, HHStA, GK, Prinz Eugen von Savoyen, Kt. 151 Winand-Würzburg 1711–1735, Graf Wratislaw aus Warschau und Moskau, 206r–207r.
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spanischen Gesandten und dem Vizekanzler entdeckt zu haben. So würde de Liria Ostermann darin vor allem über die neuesten Intrigen am Hof informieren. Indessen zeigte sich der französische Hof wenig verwundert über die Bemühungen des kaiserlichen und des spanischen Ambassadeurs, die Rückkehr nach St. Petersburg voranzutreiben. Das sei hinlänglich bekannt, wobei Paris eine mögliche Verlegung des Hofes nicht etwa als Zeichen der Trauer des Zaren über den Tod der Großfürstin, sondern vielmehr als Indiz für den steigenden Einfluss Wiens am russischen Hof werten wollte. Als man in Versailles schließlich von der Unzufriedenheit Wratislaws mit de Liria erfuhr, hielt der zuständige Staatssekretär lediglich fest, dass dessen Beschwerden bekannt seien. Wenngleich de Liria aus seiner Sicht kein besonders talentierter Mensch sei, so schätze er Wratislaw als bedeutend ungeschickter ein. Magnan sollte diesen Unfrieden nutzen, um Näheres über deren Unterredungen zu erfahren, die, wie der französische Minister richtig vermutete, vor allem um die Rückkehr nach St. Petersburg gingen.1065 Diese dritte Perspektive über das Vorgehen der beiden hochrangigen Diplomaten zeigt, dass sich de Lirias überspitzte Selbstdarstellungen der Überlegenheit gegenüber Wratislaw in abgeschwächter Form auch in den Berichten anderer Beobachter widerspiegeln. Wenngleich sich die vielfach angeprangerte Ungeschicklichkeit des kaiserlichen Gesandten natürlich nicht mit eindeutiger Sicherheit nachweisen lässt, so kann ohne jeden Zweifel festgehalten werden, dass die Bemühungen beider diplomatischen Akteure nicht von Erfolg gekrönt waren. Obschon der die Schwierigkeit der Lage begreifende Kaiser seinen Vertreter im April 1729 nochmals dazu anspornte, die Rückkehr nach St. Petersburg voranzutreiben, um das Ansehen Russlands bei den europäischen Höfen zu stärken und das Prestige des Zaren und der ganzen Nation zu steigern, so konnte Wratislaw bis Anfang Mai nicht mehr berichten, als dass es diesbezüglich nichts Neues zu erzählen gebe. Die Hoffnung wollte er jedoch offensichtlich zuletzt sterben lassen, indem er darauf hinwies, dass die um sich greifenden Krankheiten unter den russischen Ministern eventuell zu einer schnelleren Abreise in die neue Hauptstadt führen könnten.1066 Diese vagen Aussichten stellten jedoch zweifelsohne nicht jene Nachrichten dar, die sich der Wiener Hof von seinem Gesandten erträumte. 1065 Vgl. Berichte Magnans an Morville v. 6 und 13. Januar 1729, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 75, Sankt-Peterburg 1891, 281 sowie 285; Weisungen des Staatssekretärs im Außenministerium an Magnan v. 23. Januar und 17. Februar 1729, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 75, Sankt-Peterburg 1891, 288–289 sowie 314. 1066 Vgl. Weisung Karls VI. an Wratislaw v. 13. April 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 115, Weisungen 1729, 64r–64v ; Bericht Wratislaws an Prinz Eugen v. 2. Mai 1729, HHStA, GK, Prinz Eugen von Savoyen, Kt. 151 Winand-Würzburg 1711–1735, Graf Wratislaw aus Warschau und Moskau, 230r.
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Mehr als Hoffen war in diesen ersten Monaten des Jahres 1729 auch nicht in Hinblick auf die Annäherung Wratislaws an den Zaren und seinen Favoriten angesagt. Nachdem der kaiserliche Botschafter Karl VI. Ende Januar ausführlich über den Ablauf des Begräbnisses seiner Nichte, der Großfürstin Natal’ja, informiert hatte, wollte Wratislaw den anschließenden Kondolenzbesuch bei Peter II. abermals dazu nutzen, um dem Zaren endlich näher zu kommen. Bei der Beschreibung dieses Vorhabens zeigte er sich ungewohnt selbstkritisch. Da nämlich das im November 1728 veranstaltete Namenstagsfest trotz seiner Aufwendigkeit »nicht recht« habe »anschlagen wollen«, überlege und denke er auf alle Art herum, wie man den Zutritt zum Monarchen »faciliren« könne. Ein Ergebnis dieses Reflexionsprozesses sei eben der Kondolenzbesuch bei Peter II. gewesen, bei dem Wratislaw in Abstimmung mit Ostermann das Mitgefühl des Wiener Kaiserpaares vorerst mündlich überbracht habe. Im Gegensatz zu den übrigen ausländischen Vertretern habe er bis zu diesem Zeitpunkt nämlich noch kein entsprechendes Schreiben seines Hofes erhalten. Doch auch bei diesem Anlass habe sich der Zar nicht dazu durchringen können, persönlich mit dem kaiserlichen Botschafter zu sprechen. Das Kondolenzschreiben seiner Tante ging schließlich erst Ende März aus Wien ab und beinhaltete neben Bekundungen der »zärtlichen Liebe« und »aufrichtigen Freundschaft« auch den Wunsch, Gott möge dem Monarchen jene Jahre vergelten, die seine Schwester zu wenig bekommen habe.1067 Wie wir wissen, sollte dies jedoch ein frommer Wunsch bleiben. Außerdem stellte die ungewöhnlich späte Absendung des Schreibens zweifelsohne keine Unterstützung Wratislaws bei seiner Annäherung an Peter II. dar. Dass dieses Vorhaben bislang nicht von Erfolg gekrönt war, hatte sich bis Mitte März 1729 auch zu Sinzendorf durchgesprochen. So erkundigte sich der Leiter der Hofkanzlei bei Wratislaw darüber, warum dieser mit dem Favoriten scheinbar nicht in »gar gutem Vertrauen« stünde. Konkret habe man gehört, dass der kaiserlichen Vertreter diesen habe eine Stunde lang in seinem Vorzimmer warten lassen und sich die beiden wegen einer Galanterie »zertragen« hätten. Wratislaws Reaktion auf die Anschuldigungen scheint die Vorwürfe seiner Kritiker am russischen Hof zu bestärken, wonach sich der Graf bei der Anpassung an die Usancen des russischen Hofes ungeschickt angestellt habe. Zunächst schilderte er, dass die Unzufriedenheit des Favoriten auf ihr erstes Zusammentreffen im Jahre 1728 zurückgehen würde. So habe Ivan Alekseevicˇ seinen ersten Besuch beim kaiserlichen Vertreter völlig unerwartet abgestattet. 1067 Vgl. Berichte Wratislaws an Karl VI. v. 31. Januar und 7. Februar 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 18v–19v sowie 34r–35v ; Kondolenzschreiben von Elisabeth Christine an Peter II. v. 23. März 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 115, Weisungen 1729, 62r.
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Da Wratislaw zu diesem Zeitpunkt aufgrund der Sommerhitze nicht angekleidet gewesen sei, habe es einige Zeit in Anspruch genommen, bis ihm Kleider und Perücke gereicht und angezogen wurden. Überdies hätte er selbst gleich mehrmals Gelegenheit gehabt, sich über den Favoriten zu beschweren, da dieser ihn bereits öfters habe unentschuldigt warten lassen und in der Zwischenzeit mit dem Zaren ausgefahren sei. Der Schlusssatz seiner Stellungnahme liefert allerdings mögliche Hintergründe dafür, warum sich der kaiserliche Vertreter bei der Anpassung an den russischen Hof schwer getan haben könnte. So habe er insgesamt am Umgang mit einigen Leuten erkennen müssen, dass diese vieles als »Unhöflichkeit aufnehmen« würden, was »andererseits höflich« sei und »vice versa«.1068 Diese Formulierung deutet also auf interkulturelle Verständigungsprobleme, die Wratislaw bei der Kommunikation mit den Vertretern des russischen Hofes zu schaffen gemacht haben dürften. All die geschilderten Unannehmlichkeiten hatten nicht nur negative Auswirkungen auf die zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern setzten auch der Gesundheit des Grafen zu. So berichtete Wratislaw im April 1729 an den Kaiser, dass er einen schweren Schlaganfall erlitten habe und daraufhin einige Zeit bewusstlos gewesen sei. Er befürchte daher, dass er in Zukunft noch stärkere Anfälle zu erwarten habe, da das russische Klima seit seinem Ankunftstag »übel« bei ihm »angeschlagen« habe. Diesen Ausführungen setzte er eine Bitte an Sinzendorf hinzu, wonach dieser angesichts der Umstände seine baldige Versetzung vorantreiben solle.1069 Es kann wohl als Ironie des Schicksals bezeichnet werden, dass ausgerechnet de Liria als Lebensretter Wratislaws in Erscheinung trat, als dieser seinen Schlaganfall erlitt. So erfahren wir aus den Berichten Mardefelds und des spanischen Gesandten selbst, dass der kaiserliche Gesandte Glück im Unglück hatte. Die lebensgefährliche Attacke ereilte ihn nämlich auf dem Nach-Hause-Weg vom Hof. De Liria, der sich zu diesem Zweitpunkt in der Kutsche hinter Wratislaw befand, konnte ihm sozusagen erste Hilfe leisten, indem er ihn sofort in ein benachbartes Haus brachte, wo dieser über eine Stunde bewusstlos darniederlag und von einem Chirurgen erstversorgt wurde. Doch es sollte nicht viel länger als eine Woche dauern, bis der kaiserliche Gesandte seine Geschäfte wieder aufnahm. Diese Neuigkeiten stimmten den Wiener Hof, der bereits einen Vertreter in Russland verloren hatte, offensichtlich besorgt. So erfahren wir aus einem späteren Bericht von Mardefeld, dass der
1068 Vgl. Weisung Sinzendorfs an Wratislaw v. 16. März 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 115, Weisungen 1729, 60r–60v ; Bericht Wratislaws an Sinzendorf v. 11. April 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 19r–20v. 1069 Vgl. Berichte Wratislaws an Karl VI. und Sinzendorf v. 7. April 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 6v–7r sowie 9r–9v ; Brikner, Diplomaty, 519.
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Kaiser einen Kurier nach Moskau geschickt habe, um sich über diesen vom Gesundheitszustand Wratislaws zu überzeugen.1070 Die Kette der unerfreulichen Ereignisse wollte jedoch auch in den Frühlingsund Frühsommermonaten des Jahres 1729 nicht abreißen. Wratislaw sah sich in dieser Phase gleich in zwei diplomatische Skandale verwickelt. Der erste Vorfall, der in weiterer Folge die gesamte Gemeinschaft der ausländischen Gesandten am russischen Hof beschäftigen sollte, kann als mehr oder weniger unverschuldet bezeichnet werden. Konkret war nicht Wratislaw selbst, sondern dessen Gesandtschaftskavalier und Schwager, Graf Millesimo, Auslöser der unerfreulichen Ereignisse. Während der Rekonvaleszenz des Gesandtschaftsoberhaupts begab sich dieser gemeinsam mit einigen anderen Mitgliedern des Wratislawschen Gefolges zu Hochholzers Dacˇa, um auf Meerschwalben-Jagd zu gehen. Das Vergnügen endete jedoch damit, dass Millesimo nach Abgabe mehrerer Schüsse von zwei dadurch allarmierten und von Hof-Oberjäger Aleksej Dolgorukov abgeschickten Grenadieren mit Gewalt seiner Waffe entledigt, verhaftet und zum benachbarten Gartenhaus des Fürsten gebracht wurde. Nachdem die pflichtbewussten Soldaten die in böhmischer Sprache vorgebrachten Erklärungsversuche Millesimos ignoriert hatten und dieser von den beiden berittenen Grenadieren zu Fuß abgeführt worden war, zeigte Fürst Dolgorukov bei der Gegenüberstellung mit dem kaiserlichen Gesandtschaftsmitglied nur wenig Bedauern über den Vorfall. Den Grafen erkennend, entschuldigte er sich für die Unwissenheit seiner Soldaten in Hinblick auf seine Zugehörigkeit zum Gefolge von Wratislaw und erklärte das strenge Vorgehen mit dem kurz zuvor vom Zaren verordneten Jagdverbot. Alle weiteren Erklärungsversuche Millesimos, wonach er davon nichts gewusst und sich auf die ein Jahr zuvor ausgesprochene Jagderlaubnis seines Herrn berufen habe, wurden von Dolgorukov jedoch nicht weiter angehört. Nach der Freilassung des Grafen ließ er diesen den Rückweg auch wieder zu Fuß antreten.1071 Dieses Vorgehen wurde von Wratislaw als Verletzung der Immunität seiner Gesandtschaft gewertet, weshalb er de Liria um Vermittlung bei Ostermann in dieser Sache bat. Daraufhin kam es zu einem mehrere Tage andauernden Schlagabtausch zwischen Wratislaw und de Liria auf der einen und Ostermann und dem russischen Hof auf der anderen Seite. Nachdem der spanische Gesandte 1070 Vgl. Bericht Wratislaws an Sinzendorf v. 11. April 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 14v ; Bericht de Lirias v. 11. April 1729, Petr Vartenevyj (Hg.), Osmnadcatyj Vek. Istoricˇeskij sbornik, Tom 2, Moskva 1869, 155; Berichte Mardefelds an Friedrich Wilhelm I. v. 3. April sowie 16. Juni 1729, GStA PK, I. HA, Rep. 11 Geheimer Rat Auswärtige Beziehungen Akten, Nr. 6706, Berichte Mardefeld 1729, 35v–36r sowie 83v. 1071 Vgl. Bericht Caram¦s an Karl VI. v. 11. April 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 26v–27r ; Bericht de Lirias v. 18. April 1729, Petr Vartenevyj (Hg.), Osmnadcatyj Vek. Istoricˇeskij sbornik, Tom 2, Moskva 1869, 155–156.
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Ostermann und Ivan Dolgorukov zunächst freundschaftlich um eine Genugtuung für Wratislaw gebeten hatte, erfolgte zunächst eine Entschuldigung von Seiten Ivan Dolgorukovs, der sein Bedauern über den Vorfall überbringen ließ und den kaiserlichen Vertreter von der bereits erfolgten Abstrafung der Grenadiere in Kenntnis setzte. Wratislaw zeigte sich damit zufrieden und ließ sich durch Millesimo persönlich bei Ivan Alekseevicˇ für die Wiedergutmachung bedanken. Die offizielle Entschuldigung Ostermanns bzw. des russischen Hofes wollte er jedoch nicht einfach so annehmen. Konkret stieß sich Wratislaw daran, dass der Vizekanzler lediglich einen Sekretär der Reichskanzlei mit einer Entschuldigung des Zaren abgeschickt hatte. Durch den niederen Rang des Überbringers der Nachricht, so der kaiserliche Vertreter in seiner Erklärung, würde nicht hervorgehen, ob es sich tatsächlich um eine offizielle Wiedergutmachung des russischen Hofes handle. Eine von einem Kammerjunker überbrachte Botschaft sei demnach eine Mindestanforderung, wobei man sich eigentlich die Entsendung des Oberzeremonienmeisters bzw. von Oberhof-Jägermeister Dolgorukov selbst erwartet habe. Dies brachte wiederum de Liria auf den Plan, der sich abermals bei Ostermann um entsprechende Vermittlung bemühte. Dabei kam es offensichtlich zu einem keineswegs mehr freundlichen Wortwechsel, an dessen Ende Ostermann den Spanier vor die Tatsache stellte, dass sich die beiden Diplomaten mit dieser Entschuldigung zufrieden geben müssten.1072 Die gespannte Situation erlangte schließlich damit ihren Höhepunkt, dass der bislang nicht zufrieden gestellte und um das Ansehen des Kaisers und seiner Person besorgte kaiserliche Minister alle ausländischen Gesandten zu einer Sitzung in seinem Wohnhaus versammelte. Dabei trat vor allem de Liria, der sich allem Anschein nach durch das vorangegangene Verhalten Ostermanns angegriffen fühlte, als Scharfmacher auf. Gemeinsam einigten sich die Vertreter des diplomatischen Corps darauf, bis zum Erhalt einer zufrieden stellenden Satisfaktion unisono zu agieren und eine entsprechende gemeinsame Erklärung abzugeben. Dies brachte Ostermann schließlich zum Einlenken. In vorheriger Absprache mit Wratislaw einigten sich die beiden darauf, einen Hofintendanten im Range eines Brigadiers mit einer offiziellen Entschuldigung des Zaren sowie des Fürsten Aleksej Dolgorukov zum kaiserlichen Gesandten zu schicken. Dieser Vertreter des russischen Hofes, der gleichzeitig Leiter jenes Distrikts war, in dem sich der Vorfall ereignet hatte, überbrachte die Stellungnahme in einer Hofkutsche und im Beisein des gesamten Gefolges von Wratislaw, worauf dieser die
1072 Vgl. Bericht Caram¦s an Karl VI. v. 11. April 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 29r–30r ; Bericht de Lirias v. 18. April 1729, Petr Vartenevyj (Hg.), Osmnadcatyj Vek. Istoricˇeskij sbornik, Tom 2, Moskva 1869, 157–159.
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Wiedergutmachung annahm und überdies seine Hoffnung zum Ausdruck brachte, dass sich ein derartiger Vorfall nicht wiederholen werde.1073 Die Ereignisse dieses Skandals lassen sich so detailgetreu rekonstruieren, weil wir über beinahe deckungsgleiche Berichte von Caram¦ und de Liria verfügen. Sie sind also ein hervorragendes Beispiel dafür, wie hoch bereits im 18. Jahrhundert das Prinzip der diplomatischen Immunität von den außenpolitischen Akteuren geachtet wurde. Eine Verletzung derselben reichte dazu aus, um die vielfach im persönlichen Clinch liegenden Diplomaten an einem Strang ziehen zu lassen. Dieses Verhalten ist nach einem klärenden Blick auf die normative gesandtschaftsrechtliche und zeremonialwissenschaftliche Ratgeberliteratur nicht weiter verwunderlich. So hielt etwa Rohr fest, dass Gesandte ebenso wie ihre Domestiquen und ihre übrige Suite nach dem Recht der »moralisierten Völker« als »inviolabel« angesehen werden müssten. Widerfährt einem auswärtigen Diplomaten ein Unrecht, so sei dieser selbst dafür verantwortlich, eine entsprechende Reparation und Satisfaktion zu erwirken. Im Falle einer Beleidigung habe der Betroffene nach eigenem Ermessen die gewünschte Genugtuung oder auch Repressalien festzulegen.1074 Diese Richtlinie erklärt also, warum Wratislaw sich mit der unabgesprochenen ersten Entschuldigung Ostermanns nicht zufrieden gegeben hatte und in weiterer Folge auch eine entsprechende zeremonielle Wiedergutmachung von Seiten des russischen Hofes verlangte. Aus Pecquets Arbeit, die – wie wir bereits im ersten Teil erfahren haben – insgesamt den Corpsgeist unter den auswärtigen Diplomaten stark macht, finden wir eine Erklärung für das gemeinsame Vorgehen der ausländischen Vertreter nach dem Jagdvorfall. Trotz aller unterschiedlichen Interessen seien die Gesandten demnach durch eine Gemeinsamkeit der Privilegien verbunden. Wenn einem aus ihrem Kreise ein Unrecht geschehe, so betreffe dies daher auch alle, da die Rechte eines jeden Souveräns damit in gleicher Weise geschädigt würden.1075 Dieses Hintergrundwissen zeigt, dass Wratislaws Antwort auf den Affront in Einklang mit den normativen Richtlinien des zeitgenössischen Völkerrechts stand. Diese Behauptung kann anschließend durch eine Gegenüberstellung mit den Reaktionen von anderen außenpolitischen Akteuren überprüft werden. Entsprechend den Ausführungen Magnans seien sich alle Gesandten ausnahmslos darüber einig, dass die Genugtuung nicht ausreichend gewesen sei und Wratislaw diese bis zum Eintreffen einer entsprechenden Order aus Wien nicht annehmen hätte sollen. Keiner, auch nicht seine Freunde, würden ihm daher die Schwäche und Vorsicht in dieser Sache verzeihen, die er zur Rettung 1073 Vgl. Bericht Caram¦s an Karl VI. v. 11. April 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 30r–32v ; Bericht de Lirias v. 18. April 1729, Petr Vartenevyj (Hg.), Osmnadcatyj Vek. Istoricˇeskij sbornik, Tom 2, Moskva 1869, 159–160. 1074 Vgl. Rohr, Einleitung, 411–413. 1075 Vgl. Pecquet, Discours, 134.
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der guten bilateralen Beziehung habe walten lassen. Nach erfolgter Annahme der Entschuldigung müssten nunmehr alle fremden Diplomaten ihre Beschwerdebriefe zurückziehen. Das verärgere de Liria wohl am meisten, so die Vermutung Magnans, da dieser im Rahmen des Treffens bei Wratislaw als Scharfmacher aufgetreten sei. Überdies würden viele den Verdacht hegen, dass der Vorfall in voller Absicht und in Reaktion darauf geschehen sei, dass sich der kaiserliche Vertreter gegen eine Verbindung zwischen dem Zaren und der Tochter des Fürsten Dolgorukov ausgesprochen habe.1076 Der englische Vertreter Rondeau bestätigt in etwas abgeschwächter Form die Sichtweise seines französischen Kollegen. Demnach habe er aus sicherer Quelle erfahren, dass Ostermann keinerlei Wertschätzung gegenüber Wratislaw habe, da dieser sich mit der unbedeutenden Satisfaktion zufrieden gegeben habe. Diese stehe nämlich in gar keinem Verhältnis zu der erfolgten Beleidigung gegenüber Millesimo. Rondeaus Darstellungen lassen jedoch auch einen ganz anderen Grund für die Unzufriedenheit im diplomatischen Corps zum Vorschein kommen. So wären alle damit einverstanden gewesen, sich bis zum Erhalt einer entsprechenden Entschuldigung am Land zu erholen.1077 Der angebliche Ärger von de Liria spiegelt sich in dessen Bericht nicht wider. Das wäre auch etwas verwunderlich, da er nach eigenen und fremden Angaben selbst massiv an der Streitschlichtung und an der Suche nach einer passenden Genugtuung beteiligt war.1078 Der Kaiser selbst zeigte sich jedoch auch nicht begeistert von der Wiedergutmachung. Nach Erhalt der entsprechenden Berichte aus Moskau, ließ er seinen Vertreter wissen, dass er es mit der erfolgten Satisfaktion durch Fürst Dolgorukov auf sich bewenden lasse und dass überdies auch Lanczinski sein Leidwesen über den Vorfall im Namen des russischen Hofes zum Ausdruck gebracht habe. Wratislaw solle jedoch zu verstehen geben, dass sich der Kaiser nur aus »Consideration« für den Zaren damit zufrieden gebe und wegen des »obwaltenden ganz vertraulichen Vernehmens« zwischen den beiden Höfen auf keine weiteren Schritte beharre. An anderen Höfen sei es nämlich üblich, eine Person »höheren Charakters« mit der Überbringung der Entschuldigung zu betrauen. Er erinnerte Wratislaw in diesem Zusammenhang daran, dass in Wien der Oberst-Hofmarschall mit derartigen Aufgaben betraut werde. Wratislaw solle diese Einwände jedoch nicht als Beschwerde vorbringen, sondern anhand dieser Nachsicht Karls VI. die aus der Anverwandtschaft re1076 Vgl. Bericht Magnans an Morville v. 18. April 1729, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 75, Sankt-Peterburg 1891, 334–337. 1077 Vgl. Bericht Rondeaus an Townshend v. 30. Mai 1729, NSA, Secretaries of State: State Papers Foreign, Russia, SP91/10, July 1728–December 1729, 104v ; Siehe dazu auch: A. A. Polovcov (Hg.), SIRIO, Tom 66, Sankt-Peterburg 1889, 46. 1078 Vgl. Bericht de Lirias v. 18. April 1729, Petr Vartenevyj (Hg.), Osmnadcatyj Vek. Istoricˇeskij sbornik, Tom 2, Moskva 1869, 159–160.
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sultierende »zärtliche Neigung« des Kaisers für den Zaren zum Ausdruck bringen. Ende Juni setzte Wratislaw den Wiener Hof davon in Kenntnis, dass er die Botschaft entsprechend seinen Vorgaben übermittelt habe. Ostermann, der inzwischen seine Meinung offensichtlich gänzlich geändert hatte, habe ihn jedoch gebeten, die Gründe für die Nachsicht seines Herrn bekannt zu machen, da de Liria einstweilen ein ähnlich »beleidigender Casus« zugestoßen sei.1079 Doch Wratislaw sollte auch nach der offiziellen Beilegung des Konflikts nicht zur Ruhe kommen und schlitterte sogleich in einen weiteren, dieses Mal jedoch selbst verschuldeten Skandal. Dieses Beispiel weist abermals auf die Wichtigkeit der Einbeziehung von Vergleichsdarstellungen anderer Diplomaten hin. Denn in den Berichten Wratislaws und de Lirias findet sich keine Zeile darüber, obwohl diese maßgeblich in die aufsehenerregenden Ereignisse verwickelt waren. Die Lücken in ihren Relationen sind nicht weiter verwunderlich, da sie im Falle einer Informierung ihrer Höfe über die nun folgende Geschichte wohl mit einer anständigen Rüge zu rechnen gehabt hätten. Aus den Berichten Rondeaus und Magnans geht nämlich hervor, dass de Liria und Wratislaw den polnischen Gesandten Le Fort maßgeblich bei einem rechtswidrigen Einsatz seiner Leibgarde unterstützt haben. Sehr detailliert beschreibt der englische Vertreter die Vorgänge, wonach die drei angesprochenen ausländischen Vertreter im Rahmen eines feuchtfröhlichen Abends im Hause Le Forts eine Racheaktion gegenüber einem Händler aus Dresden geplant hätten. Dieser habe sich geweigert, dem polnischen Gesandten eigens für ihn angelieferte Stoffe vor deren Bezahlung zu übergeben. Damit sei der Abschluss eines halblegalen Geschäfts verhindert worden, das bereits zuvor für einige Schwierigkeiten gesorgt habe. Der darüber offensichtlich frustrierte Le Fort habe nach Absprache mit de Liria und Wratislaw den Händler durch seine Leibgarde mit Gewalt zu sich bringen lassen, wo er von den drei Diplomaten bis zum nächsten Morgen festgehalten worden sei und unter verschiedensten Androhungen zur Auslieferung der Waren gebracht werden sollte. Nachdem Ostermann daraufhin über den missbräuchlichen Einsatz der lediglich zum Schutz des Gesandten zur Verfügung gestellten Soldaten erfahren habe, hätten sich sowohl Wratislaw und de Liria über den Vorfall reumütig gezeigt. Aus den Darstellungen Magnans erfahren wir überdies, dass Wratislaw im Nachhinein versucht habe, alles auf de Liria abzuschieben, was aus Sicht des Franzosen nicht gerade zu einer Verbesserung ihres Verhältnisses beigetragen habe. Der kaiserliche Gesandte bedauere den Vorfall deswegen so sehr, da dieser unmittelbar vor einem gemeinsamen Jagdausflug mit dem Zaren erfolgt sei, auf den Wratislaw schon lange gepocht hätte. Der kaiserliche Ver1079 Vgl. Weisung Karls VI. an Wratislaw v. 27. Mai 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 115, Weisungen 1729, 163r–164r ; Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 27. Juni 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 136v–137r.
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treter habe dabei jedoch nicht das gewünschte Ergebnis erzielt. Anstelle einer persönlichen Unterhaltung mit Peter II. auf Deutsch, sei es nur zu indirekten Gesprächen auf Russisch, noch dazu im Beisein des Favoriten gekommen.1080 Magnans kurze Darstellungen über die misslige Lage Wratislaws scheinen den Nagel auf den Kopf zu treffen. So zeigen die Berichte des kaiserlichen Vertreters, dass er die von Ostermann eingefädelten gemeinsamen Jagden mit dem Zaren im Sommer 1729 tatsächlich dazu nutzen wollte, um endlich mit Peter II. in direkten Kontakt zu treten. Schon nach der ersten Einladung durch den Oberjäger Dolgorukov im Juli 1729 äußerte er seinem Hof gegenüber den Wunsch, bei dieser Gelegenheit in das bisher »so sorgfältig beworbene persönliche Vertrauen etwas näher zu gelangen«. In dieser Hoffnung wurde Wratislaw dadurch bestärkt, dass der Zar in der vorangegangenen Zeit begonnen habe, mit einigen deutschen Jägern in deren Sprache zu sprechen. Doch all seine Erwartungen blieben enttäuscht. Im Rahmen der gemeinsamen Jagdgesellschaft in »Colomniza« (»Kolomenskoe«, heute ein Park innerhalb der Stadtgrenzen Moskaus) sei zwar auf das Wohl des Kaisers und der Kaiserin getrunken worden und Wratislaw habe dem Zaren auch seine Erfahrungen und Eindrücke über die Jagd mitteilen können. Dieser habe jedoch nur aufmerksam zugehört und allenfalls Repliken auf Russisch abgegeben. Ansonsten sei er jedoch vom Fürsten Dolgorukov »sehr gnädig aufgenommen« sowie »gut bewirtet« und überdies zur nächsten Jagdgesellschaft eingeladen worden. Doch auch bei den nachfolgenden Jagden erreichte Wratislaw nicht das gewünschte Ziel – eine direkte Unterhaltung mit Peter II. Wie bereits zuvor machte er das sich scheinbar bessernde Verhältnis zum Zaren sowie zum Fürsten Dolgorukov lediglich an Kleinigkeiten fest. Etwa daran, dass Peter II. ihm selbst bei einem der gemeinsamen Ausflüge das Jagdschloss »Ismailovo« präsentierte habe. Der Fürst habe sich bei all diesen Aufeinandertreffen sehr zuvorkommend gezeigt und ihn stets aufs Neue zu den bevorstehenden Jagden eingeladen.1081 Es ist wohl kein Zufall, dass in diese Tauphase der Beziehungen zwischen Wratislaw und dem russischen Hof auch der erste öffentliche Gebrauch der kaiserlichen Geschenkswägen durch Peter II. fiel. Anlässlich des Namenstags des Zaren im Juli 1729 wurde der Entschluss gefasst, dass der Monarch den ganzen Weg von seiner Sommerresidenz zu der im Stadtzentrum gelegenen Kirche in 1080 Vgl. Bericht Rondeaus an Townshend v. 24. Juli 1729, NSA, Secretaries of State: State Papers Foreign, Russia, SP91/10, July 1728–December 1729, 132r–134r ; Siehe dazu auch: A. A. Polovcov (Hg.), SIRIO, Tom 66, Sankt-Peterburg 1889, 59–63; Bericht Magnans an Morville v. 4. August 1729, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 75, Sankt-Peterburg 1891, 364–365. 1081 Vgl. Berichte Wratislaws an Karl VI. v. 25. Juli, v. 1., 11. und 15. August sowie v. 19. September 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 51r–51v, 56r–57v, 67v, 69r–69v sowie 71v, 117r–118r ; Brikner, Diplomaty, 518.
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einer der kaiserlichen Kutschen zurücklegen sollte. Dieser Plan sei jedoch kurzerhand abgeändert worden, so Wratislaw in seinem Bericht, da die Anfahrt aufgrund der schwer passierbaren Kurven, Brücken und Stadtpforte sehr unbequem gewesen sei. Aus diesem Grund habe man die größere der beiden Kutschen – die kleinere war zuvor der verstorbenen Großfürstin überlassen worden – mit entsprechender »Zeit« und »Behutsamkeit« innerhalb der Stadtmauern geparkt. Den Weg dorthin habe Peter II. zu Pferde zurückgelegt, von wo er dann unter »Zulauf einer unglaublichen Volkesmenge« zum Gottesdienst gefahren sei. Nachdem der Zar auch den Rückweg im Prunkwagen aus Wien zurückgelegt hatte, habe Ostermann den kaiserlichen Vertreter beim anschließenden Festessen auf die Verwendung der Kutschen direkt angesprochen. Wratislaw, der sich mit seiner Antwort bewusst an Peter II. wandte, brachte dabei seine Hoffnung zum Ausdruck, dass der erste Gebrauch mit »viel Satisfaction« des Zaren geschehen sei, da der Kaiser genau das durch die Übergabe des Geschenks beabsichtigt habe. Doch auch dieses Mal habe der junge Monarch die Frage des kaiserlichen Vertreters nur mit einer freundlichen Miene bestätigt, so der Graf am Ende seiner Ausführungen.1082 Es sollte noch einige Monate dauern, bis Wratislaw endlich der heiß ersehnte persönliche Durchbruch zum Zaren gelang. Bis dahin musste er jedoch einige weitere Enttäuschungen in Hinblick auf die Annäherung an den jungen Monarchen hinnehmen. So erfahren wir aus den Berichten von Wratislaw und anderen Gesandten, dass Peter II. es vorzog, die vom kaiserlichen Gesandten ausgerichteten Feste anlässlich des Geburtstags der Kaiserin sowie des Namenstages des Kaisers nicht zu besuchen. Wie so oft befand sich Peter II. zu diesem Zeitpunkt zur Jagd auf dem Land und erachtete es offensichtlich nicht für notwendig, anlässlich der Einladungen Wratislaws nach Moskau zurückzukehren.1083 Ein Umstand, der ohne jeglichen weiteren Kommentar, übrigens auch im »Wienerischen Diarium« angesprochen wurde.1084 Erst kurz nach der Abhaltung des alljährlichen Namenstagsfests im November 1729 konnte sich der Zar – nach einer über eineinhalbjährigen Phase der indirekten Kommunikation mit dem kaiserlichen Vertreter – erstmals dazu durchringen, mit diesem direkt zu
1082 Vgl. Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 11. Juli 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 26r–27v ; Döberl, Wägen, 308–309. 1083 Vgl. Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 29. August 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 85v–86r ; Bericht Magnans an den Minister für auswärtige Angelegenheiten v. 17. November 1729, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 75, Sankt-Peterburg 1891, 415; Bericht Mardefelds an Friedrich Wilhelm I. v. 17. November 1729, GStA PK, I. HA, Rep. 11 Geheimer Rat Auswärtige Beziehungen Akten, Nr. 6706, Berichte Mardefeld 1729, 134v–135r. 1084 Vgl. Wienerisches Diarium v. 14. Dezember 1729, Nr. 100, [4–5].
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sprechen. Dieses lang erhoffte Ereignis schien jedoch völlig ungeplant und en passant vonstattengegangen zu sein. So berichtete Wratislaw darüber : »Als S[ein]e May[estät] vorgestren in des obrist cammerern zimmer bey hof angetroffen, endlich doch einmahl für gut finden wollen, mit mir teutsch zu reden, solches recht gut und deutlich aussprechend, erwiese sich hieybey nicht nur gegen mich sehr gnädig, sondern gabe mir auch ausdrückl[ich] auf, an E[uer] Kay[serliche] May[estät] und ihro May[estät] die Kayserin seine allerhöchste empfehlung zu melden [Anm.: doppelt unterstrichen]: Und als dem herrn bezeugete, wie wohl May[estäten] nach dero zärtlichen liebe für ihme gewißstellet großes vergnügen empfinden würden, wann sie derselben in teutscher sprach also gut reden höreten, erwiderte er mir abermahls: Ich dancke sehr für die gnad, welche ihro May[estäten] der Kayser und die Kayserin für mich allezeit haben wollen. [Anm.: doppelt unterstrichen] Inmaßen ich nun dieses lang erwünschten anfangs mich erfreue.«1085
Doch ergab sich dieser vorläufige Höhepunkt in der persönlichen Beziehung zwischen Wratislaw und Peter II. tatsächlich nur aus einer Laune des Zaren heraus – wie es der Bericht des kaiserlichen Vertreters vorzugeben scheint? Oder war dieser ein Ergebnis der vorangegangenen Annäherungsversuche des kaiserlichen Vertreters an den fremden Monarchen? Wratislaws Berichte über den Austausch mit dem russischen Hof zeigen deutlich, dass die geschilderte Verbesserung der persönlichen Beziehungen zur russischen Hofelite tatsächlich ein Resultat seiner mühevollen Arbeit war, das sich jedoch erst ab der zweiten Hälfte des Jahres 1729 allmählich einstellen sollte. Bei seiner Tätigkeit stand ihm jedenfalls nicht nur seine eigene Unzulänglichkeit, sondern auch jene der Wiener Bürokratie im Weg. Wie viele andere ausländische Gesandte erkannte auch er, dass die Gunst des Zaren nur über dessen Jagdleidenschaft erlangt werden konnte. Daher wollte er die Annäherung an den Souverän zunächst durch seine Vermittlertätigkeit bei der Beschaffung von seltenen Utensilien für die Lieblingsbeschäftigung Peters II. aus Wien vorantreiben. Ab Anfang des Jahres 1729 wandte er sich wiederholt mit der Bitte an den heimischen Hof, 50 für die Hasenjagd geeignete Hunde als Geschenk für den kaiserlichen Neffen nach Russland zu schicken. Darunter sollten sich auch einige Hündinnen befinden, um die Tiere in weiterer Folge am russischen Hof züchten zu können. Wratislaw stützte sich bei diesem Ansinnen nicht nur auf entsprechende Anregungen Ostermanns, sondern auch auf Aussagen von Aleksej Dolgorukov, »[…] welcher sich hiebey der expression bedienet, daß damit seinem herrn ein größeres [sic] gefallen, als wann ihme ein halbes könig-reich geschäncket würde, beschehen könte.«1086 Von diesen vielverspre1085 Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 24. November 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 173r–174r. Vgl. dazu auch: Kurukin, Epocha, 149. 1086 Bericht Wratislaws an Sinzendorf v. 10. Februar 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 51v.
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chenden Worten angetrieben, bot Wratislaw sogar an, einen Teil der Hunde von seinen böhmischen Gütern abschicken zu lassen. Auch der Kaiser in Wien ortete angesichts des dringlichen Wunsches seines Neffen Handlungsbedarf und zeigte sich zunächst großzügig, indem er die Geschenke nicht nur genehmigte, sondern die Hunde von Wratislaw auf seine Kosten nach Moskau bringen lassen wollte.1087 Doch wie bereits einige Male zuvor scheiterte das Projekt an der Behäbigkeit des Wiener Hofs, der sich mit dem Abschicken der heiß ersehnten Geschenke Zeit ließ. Das veranlasste Wratislaw im Zuge seiner Berichterstattung über die gemeinsamen Jagden mit dem Zaren und den Dolgorukovs, den Kaiser gleich mehrfach an die Hunde zu erinnern. So machte er etwa im Juli 1729 auf die Dringlichkeit der Entsendung der Tiere aufmerksam, da diese aufgrund des in Russland früh einbrechenden Winters ansonsten bis zum Jahresende nicht mehr zum Einsatz kommen könnten.1088 Dieses Argument schien den Wiener Hof jedoch nicht zum Handeln zu bewegen. Durch das lange Zögern erübrigte sich die Angelegenheit schließlich von selbst, da der Zar die nächste Jagdsaison aufgrund seines unerwartet frühen Todes Anfang 1730 nicht mehr erleben sollte. Bis zu diesem unglücklichen Ereignis setzte der Kaiser bei der Gewinnung seines Neffen im wahrsten Sinne des Wortes auf ein anderes Pferd, ohne dabei die eigentlichen und von Wratislaw mehrfach geäußerten Wünsche Peters II. zu berücksichtigen. Über seinen Vertreter am russischen Hof ließ Karl VI. für den Zaren eine Reitschule in Moskau erbauen. Bei deren Planung und Aufbau sollten die zuvor mit den Pferden des Kaisers nach Russland geschickten Bereiter aus Wien behilflich sein und das Projekt mit ihrem fachmännischen Rat unterstützen. Einige Monate vor der Fertigstellung der Reitschule berichtete Wratislaw an den heimischen Hof, dass er hoffe, Peter II. vor allem über den Favoriten zum Reitunterricht motivieren zu können – Letzterer habe nämlich kurz zuvor zwei der aus Wien angelieferten Pferde vom jungen Monarchen geschenkt bekommen. Außerdem habe er Ivan Dolgorukov die baldige Anlieferung von einigen Schulpferden aus Wien in Aussicht gestellt. Aus den Worten Wratislaws lässt sich erschließen, dass Karl VI. den russischen Souverän durch dieses Geschenk von seiner übertriebenen Jagdleidenschaft und dem damit verbundenen unsteten Lebenswandel abbringen und zu anderen höfischen Betätigungen anregen 1087 Vgl. Bericht Wratislaws an Sinzendorf v. 10. Februar 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 51v–52v ; Weisung Karls VI. an Wratislaw v. 13. April 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 115, Weisungen 1729, 83r ; Brikner, Diplomaty, 517–518; Brikner, Dvor (Teil 3), 15–16. Vgl. dazu auch: Sˇteppan, Politika. 1088 Vgl. Berichte Wratislaws an Karl VI. v. 18. Juli sowie 19. September 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 38r–38v sowie 124v. Vgl. dazu auch: Sˇteppan, Politika.
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wollte. Dabei sollte der bereits mehrfach erwähnte Capitolo als Reitlehrer eingesetzt werden und Peter II. in dieser Königsdisziplin unterrichten. Doch das Projekt scheiterte. Nachdem die Reitschule im Juni 1729 fertiggestellt worden war, wollte sich der Zar nicht in die Reitkunst einführen lassen. Dies hatte zur Folge, dass Capitolo den russischen Hof nach dem Tode Peters II. sozusagen unverrichteter Dinge wieder verlassen sollte.1089 Der vom Kaiser angestrebte Plan, über die Förderung der Erziehung seines Neffen in dessen Vertrauen zu gelangen, erwies sich somit erneut als erfolglos. Diese fehlende Empathie des Wiener Hofes bei der Gewinnung des Zaren wirft die Frage auf, warum es Wratislaw trotzdem gelungen ist, allmählich in die Gunst des fremden Herrschers zu gelangen. Es spricht vieles dafür, dass er dies über die Annäherung an die mächtigen Dogorukovs erreichte. Dabei war er nämlich wesentlich erfolgreicher, wenngleich es auch bei diesem Vorhaben an der nachhaltigen Unterstützung Wiens fehlte. So ließ sich der Kaiser auch bei der Übermittlung der von Wratislaw bereits mehrfach angeforderten Portraits für die Favoritenfamilie Zeit. Diese zögerliche Haltung führte den kaiserlichen Vertreter dazu, Eigeninitiative zu ergreifen. Kurz vor der Fertigstellung der Reitschule berichtete Wratislaw nach Wien, dass er weiterhin um die Erlangung des Vertrauens von Peter II. bemüht sei. Aus diesem Grund habe er einstweilen versucht, sich dem Favoriten und seinem Vater während eines längeren Moskauaufenthaltes der beiden anzunähern. Im Rahmen mehrerer Treffen mit den Dolgorukovs habe Ivan Alekseevicˇ besonderen Gefallen an Wratislaws ParadeKutschen-Pferden gefunden und den Gesandten immer wieder daran erinnert. Um die Disposition des Favoriten vermehren zu können, habe ihm Wratislaw ein ganzes Gespann seiner eigenen Pferde geschenkt. Diese Präsente seien von Dolgorukov nicht nur mit Freude angenommen worden, sondern er habe sie am darauffolgenden Tag auch sogleich dem Zaren präsentiert. Die positive Wirkung des großzügigen Geschenks machte Wratislaw vor allem an der Reaktion von Fürst Aleksej fest. Dieser habe sich bei einem der darauffolgenden Treffen über die Maßen freundlich gezeigt und den kaiserlichen Vertreter auf eine bevorstehende Falkenjagd mit dem Zaren eingeladen. Dies erachtete Wratislaw als die perfekte Gelegenheit, um den »rechten Zutritt beim Herrn zu gewinnen«.1090 Wir sehen also, dass die großzügigen Zuwendungen in direktem Zusammenhang mit der Auflockerung der Beziehungen zwischen Wratislaws und den Dolgorukovs bzw. dem Zaren standen und auch Mitgründe für die Einladungen zu den Jagden im Sommer 1729 darstellten. Dies ist nicht weiter verwunderlich, so wurde die 1089 Vgl. Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 7. Februar 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 33v–34r ; Brikner, Diplomaty, 517; Döberl, Wägen, 305. 1090 Vgl. Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 7. Februar 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 91r–93r.
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Exklusivität der Geschenke auch von anderen Beobachtern erkannt. Mardefeld etwa schreibt darüber an seinen Hof: »Der Graf Wratislaw hat sein schönstes gespann pferde dem favoriten geschencket.«1091 Wratislaw wollte diese positive Stimmung in weiterer Folge offensichtlich ausnutzen und erinnerte den Wiener Hof im Rahmen seiner Berichterstattung über die gemeinsamen Jagden gleich mehrfach an die Absendung der gewünschten Portraits – allerdings vergeblich. Seine Argumente für ein schnelles Handeln schienen den Kaiser und seine außenpolitischen Berater nicht zu überzeugen. So äußerte Wratislaw auf verschiedene Art und Weise immer wieder dieselbe, wohl richtige Vermutung, wonach nunmehr der richtige Zeitpunkt gekommen sei, um die Favoriten-Familie endgültig für sich zu gewinnen. Dazu sei allerdings, wie er im Juli 1729 festhielt, eine »rechte Demonstration« notwendig. Noch im selben Monat wiederholte er dem Kaiser gegenüber seine Bitte um die Portraits für die »auf so gutem Weg scheinenden« Dolgorukovs. Im September 1729 betonte er nochmals die Notwendigkeit der Geschenke für die Mitglieder des Fürstengeschlechts, da diese seit einiger Zeit »Zeichen einer guten Gesinnung von sich geben« würden und deren »Credit« beim Zaren äußerst nützlich sein könnte.1092 Diese Worte beeindruckten den Kaiser, dem der steigende Einfluss der Dolgorukovs bekanntlich ein Dorn im Auge war, jedoch kaum. Er hoffte allem Anschein nach darauf, dass der endgültige Aufstieg derselben möglicherweise noch verhindert werden könnte. Das spiegelt sich eindeutig in seiner Korrespondenz mit Wratislaw über die Verheiratung Peters II. wider. Bereits im April 1729, nachdem Wratislaw erste Vermutungen über eine mögliche Verheiratung Peters II. mit einer Dolgorukij-Tochter gegenüber seinem Hof geäußert hatte, fand der Kaiser ganz klare Worte in dieser Sache. Sein Vertreter solle »auf alle Weise« danach »trachten«, die Heirat zu »hintertreiben«. Das dürfe jedoch nur »auf verdeckte Weise« und mit entsprechender »Behutsamkeit« geschehen, sodass die Dolgorukovs nicht »abwendig« gemacht werden würden. Der Kaiser war nämlich davon überzeugt, dass »eine deutsche Prinzessin« für seinen Neffen »viel anständiger« sei als eine »inländische Partie«. Die Hoffnungen Karls VI. hinsichtlich der Durchsetzbarkeit eines solchen Projekts basierten auf Gesprächen mit Ostermann im Jahre 1728, wonach dieser aufgrund der damaligen Umstände zwar eine Vertagung dieser Frage angeraten, gleichzeitig jedoch eine Vermählung mit einer kursächsischen Prinzessin in Aussicht
1091 Bericht Mardefelds an Friedrich Wilhelm I. v. 30. Mai 1729, GStA PK, I. HA, Rep. 11 Geheimer Rat Auswärtige Beziehungen Akten, Nr. 6706, Berichte Mardefeld 1729, 68v. Vgl. dazu auch: Sˇteppan, Politika. 1092 Vgl. Berichte Wratislaws an Karl VI. v. 18. und 25. Juli sowie 19. September 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 38v, 47v sowie 124v.
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gestellt habe. Dies bestärkte den Wiener Hof also in dem Glauben, dass in dieser Sache noch einiges möglich sei.1093 Wie wir bereits wissen, gelang Wratislaw die Geheimhaltung der tatsächlichen Position des Kaisers in dieser Frage jedoch nicht. So erinnern wir uns etwa an den Bericht Magnans, wonach einige ausländische Beobachter den skandalösen Jagdzwischenfall mit den Kavalieren des kaiserlichen Gesandten als Antwort der Dolgorukovs auf die ablehnende Haltung des Wiener Hofes gegenüber dem Heiratsprojekt gewertet haben sollen. Als die Gerüchteküche über eine mögliche Vermählung zwischen Peter II. und der Dolgorukij-Tochter im Oktober 1729 erneut zu brodeln begann, berichtete der Franzose nach Paris, dass Wratislaw darüber sehr beunruhigt sei, da der Kaiser selbst Pläne für die Verheiratung seines Neffen schmieden würde.1094 De Liria wies ebenso auf die Abneigung des Kaisers gegenüber einem solchen Projekt hin, sagte jedoch völlig richtig voraus, dass der Wiener Hof dies aufgrund der Freundschaft mit dem Zaren schweigend zur Kenntnis nehmen werde.1095 Tatsächlich reagierte Karl VI. auf die Neuigkeiten aus Russland lediglich mit einer Wiederholung seiner bisherigen Vorgaben, wonach Wratislaw die Heiratspläne weiterhin diskret zu durchkreuzen versuchen sollte.1096 Zu diesem Zeitpunkt orteten die außenpolitischen Akteure des Wiener Hofes offensichtlich noch keine Gefahr im Verzug. Dies wird dadurch bestätigt, dass Wratislaw die Nachricht über die Verlobung Peters II. mit der ältesten Tochter von Fürst Aleksej Dolgorukov, Ekaterina Alekseevna (1712–1745), völlig unerwartet traf. Die Überraschung spiegelt sich auch in anderen Diplomatenberichten wider, welche allesamt nicht mit der plötzlichen Entscheidung Peters II. gerechnet hatten. Rondeau und Magnan hoben in Hinblick auf Wratislaw hervor, dass dieser angesichts der Ereignisse nicht nur völlig verwundert sei, sondern gleichzeitig am Wort Ostermanns zweifle, der einen derartigen Verlauf der Dinge kurz davor noch kategorisch ausgeschlossen habe.1097 Auch in der Berichter1093 Vgl. Berichte Wratislaws an Karl VI. v. 7. und 11. April 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 8r–8v sowie 12v–14v ; Bericht Mardefelds an Friedrich Wilhelm I. v. 18. April 1729, GStA PK, I. HA, Rep. 11 Geheimer Rat Auswärtige Beziehungen Akten, Nr. 6706, Berichte Mardefeld 1729, 40r ; Weisungen Karls VI. an Wratislaw v. 9. und 27. Mai 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 115, Weisungen 1729, 90r–91v sowie 164r–165r. 1094 Vgl. Bericht Magnans an den Minister für auswärtige Angelegenheiten v. 20. Oktober 1729, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 75, Sankt-Peterburg 1891, 404–405. 1095 Vgl. Bericht de Lirias v. 24. Oktober 1729, Petr Vartenevyj (Hg.), Osmnadcatyj Vek. Istoricˇeskij sbornik, Tom 2, Moskva 1869, 183. 1096 Vgl. Weisung Karls VI. an Wratislaw v. 26. Oktober 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 115, Weisungen 1729, 244r–245v. 1097 Vgl. Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 1. Dezember 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 198r–204v ; Bericht de Lirias v. 1. Dezember 1729, Petr Vartenevyj (Hg.), Osmnadcatyj Vek. Istoricˇeskij sbornik, Tom 2, Moskva 1869, 185–186; Bericht Rondeaus an Townshend v. 1. Dezember 1729, NSA, Secretaries of State: State Papers
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stattung der »Europäischen Fama« spiegelt sich die Unvorhersehbarkeit dieses Ereignisses wider. In einem äußerst ausführlichen und in Tagebuchform verfassten Artikel über die Verlobung des Zaren deuten die Autoren darauf hin, dass Peter II. den gesamten russischen Hof mit seiner unerwarteten Entscheidung vor vollendete Tatsachen gestellt habe. Ihren Ausführungen zufolge seien sogar der Brautvater und dessen Tochter vom Antrag des Zaren völlig überrascht worden.1098 Angesichts dieser unerwarteten Ereignisse war Wratislaw zu selbstständigem Handeln gezwungen. Sein Bericht über den Ablauf der darauffolgenden Audienz beim Zaren zeigt einmal mehr, wie groß die offiziell unausgesprochene Ablehnung des Kaisers hinsichtlich der Verbindung seines Neffen mit dem Dolgorukij-Klan gewesen sein muss. Wratislaw habe sich der an alle in- und ausländischen Minister gerichteten Einladung durch den Zeremonienmeister »nicht entziehen können«, leitet der Gesandte das Rechtfertigungsschreiben über sein Verhalten bei der Überbringung der Glückwünsche an Peter II. ein. Entsprechend seinen Instruktionen habe er sich dabei nicht anmerken lassen, dass diese Verbindung gegen den Willen Karls VI. geschlossen werde. Aus diesem Grund sei es ihm notwendig erschienen, sich in seinen »äußeren Bezeigungen in nichts von den anderen fremden Ministris zu unterscheiden«. Um jeden Verdacht von sich abzuweisen, wollte Wratislaw, der sich des großen Interesses für seine Reaktion bewusst war, aus der Not eine Tugend machen. Er habe deshalb sein Glückwunschkompliment so eingerichtet, dass es besonders gut aufgenommen worden sei. Das machte er vor allem an der Reaktion des Brautvaters, Aleksej Dolgorukov, fest, der seine »Danknehmigkeit« und »Ergebenheit« gegenüber dem Kaiser daraufhin in einer fast einstündigen Unterhaltung zum Ausdruck gebracht habe. Auch der Favorit und Feldmarschall Dolgorukov hätten ihre »Erkenntlichkeit« für die dargebrachten Glückwünsche bezeigt. Sein Verhalten betrachtete Wratislaw in seinem »Schlussplädoyer« als eine logische Zusammenführung seiner bisherigen Richtlinien. So habe ihm der Kaiser einerseits vorgegeben, im Falle des Falles den Umständen entsprechend vernünftig zu handeln – also keine offensichtliche Einmischung in die innerrussischen Angelegenheiten. Andererseits sei ihm die gegenüber Graf Rabutin ausgesprochene Genehmigung der Hochzeit zwischen Peter II. und der Mensˇikov-Tochter eine wertvolle Orientierungshilfe bei der Entscheidungsfindung gewesen, da diese im Vergleich mit der neuen Zarenbraut von viel geringerer Foreign, Russia, SP91/10, July 1728–December 1729, 206r–207r ; Siehe dazu auch: A. A. Polovcov (Hg.), SIRIO, Tom 66, Sankt-Peterburg 1889, 112–113; Bericht Magnans an den Minister für auswärtige Angelegenheiten v. 8. Dezember 1729, G.F. Sˇtendman (Hg.), SIRIO, Tom 75, Sankt-Peterburg 1891, 426–430. 1098 Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 326 (1729), 171–173.
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Herkunft gewesen sei. Nähere Reflexionen über dieses, aus seiner Sicht der unerwarteten Situation entsprechende Verhalten wolle er jedoch in einem ausführlichen Abschlussbericht genauer darlegen.1099 Dieses Schreiben lieferte schließlich Hochholzer nach, nachdem die offizielle Verlobungszeremonie bereits über die Bühne gegangen war. Es kann wohl als Fahrlässigkeit Wratislaws bezeichnet werden, dass er ausgerechnet den kaiserlichen Residenten, seinen internen Gegner, mit dieser Aufgabe betraute. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich zwischen den Zeilen seines Berichts zum Teil auch indirekte Kritik am Missionschef herauslesen lässt. So zeigte sich Hochholzer vor allem erstaunt darüber, dass man weder Ostermann noch Wratislaw gegenüber im Vorhinein eine Eröffnung über die Verlobung gemacht habe, wie es zu Zeiten Rabutins noch der Fall gewesen sei. Mit diesem Vergleich etwa wollte der Resident die schlechte Stellung des kaiserlichen Ministers am russischen Hof zur Sprache bringen. Abgesehen davon wies er darauf hin, dass die Geschäfte nunmehr noch viel mehr von den Dolgorukovs abhängen würden. Ostermann, als wichtigster Vertrauter der kaiserlichen Vertreter, werde sich wohl halten können, wenngleich sich dieser nunmehr endgültig mit den Favoriten des Zaren arrangieren müsse. Wenn der Wiener Hof weiterhin an einer Allianz mit Russland interessiert sei, müsse dieser die »Disposition« und den »guten Willen« der Dolgorukovs gewinnen, wie man es bereits im Falle Mensˇikovs gemacht habe. Neben den bereits angedachten Mitteln für die Mitglieder der Fürstenfamilie hänge jedoch auch viel davon ab, wie Wratislaw es mit ihnen »zu nehmen wissen« werde. Überdies könne durch eine offizielle Bekundung der »Zufriedenheit« des Kaisers über die erfolgte Verbindung zwischen Peter II. und Ekaterina Dolgorukova und durch andere Offerte die gesamte Familie für den Wiener Hof gewonnen werden. Bei dieser Prognose stützt sich Hochholzer auf seinen bisherigen Erfahrungsschatz: So hätten die Dolgorukovs auch eine ganz »andere Idee« von Wratislaw bekommen, nachdem man »zu einem rechten Systema« mit dem Favoriten und seinem Vater gefunden habe. Am Ende seines Berichts lässt Hochholzer jedoch nochmals seine Unzufriedenheit mit der aktuellen Lage zum Vorschein kommen. Nachdem er kaum Einfluss auf die Geschäfte nehmen könne und ein schriftlicher Bericht nicht ausreiche, um die Ereignisse in aller Ausführlichkeit zu beleuchten, bat er Sinzendorf um eine baldige Abberufung, um eine mündliche Stellungnahme abgeben zu können.1100 Hochholzers Darstellungen umfassen – ebenso wie eine am darauffolgenden Tag von Wratislaw abgeschickte Relation – auch eine detaillierte Beschreibung 1099 Vgl. Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 5. Dezember 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 212r–214r. 1100 Vgl. Bericht Hochholzers an Sinzendorf v. 15. Dezember 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 217v–219r sowie 219v.
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des Ablaufs der Verlobung zwischen Peter II. und Ekaterina Alekseevna. Das große Interesse Wiens und seiner Vertreter an diesem Ereignis wird vor allem daran deutlich, dass Wratislaw sogar eine Handskizze über die Aufstellung des Festsaales und die Sitzordnung der eingeladenen Gäste mitlieferte (siehe Abbildung 17). Wie aus der Zeichnung und den dazu gehörigen Beschreibungen deutlich hervorgeht, fand der Austausch der Ringe direkt vor den Augen der ausländischen Gesandten, der Zarenfamilie, der russischen Minister, der Geistlichkeit sowie der männlichen und weiblichen Vertreter der vornehmsten Familien Russlands statt. Nachdem die beiden Verlobten die Zeremonie unter einem von sechs General-Majoren gehaltenen Baldachin und unter Anleitung des Erzbischofs von Novgorod absolviert hatten, wurde ein kurzer Ball veranstaltet, von dem der Zar seine Braut wieder in ihres Vaters Haus zurückbrachte und die Veranstaltung damit ihr Ende fand.1101 Im Rahmen dieser eher routinemäßigen Ereignisse kam es allerdings zu einem vielbeachteten Zwischenfall, in dessen Zentrum abermals der Schwager Wratislaws, Graf Millesimo, stand. Aus einer wohl wegen des anstößigen Inhalts an Sinzendorf gerichteten Beilage Wratislaws sowie aus dem bereits erwähnten Bericht Hochholzers erfahren wir, dass Graf Millesimo bald nach der Ankunft gemeinsam mit seinem Schwager Gelegenheit gefunden habe, sich bei der jetzigen Zarenbraut zu »insinuieren«. Ekaterina Dolgorukova habe ihn auch »recht wohl leiden« können, weshalb sie zunächst die Verheiratung mit dem Zaren allem Anschein nach verweigert habe. Das habe vor allem bei ihrem Vater, Fürst Aleksej, »Verbitterung« hervorgerufen, da sich dieser im Klaren darüber gewesen sei, dass Peter II. mehr »Affektion« für seine ältere Tochter als für deren jüngere Schwester aufbringen würde. Nachdem nunmehr die Verlobung zwischen dem Zaren und der älteren Dolgorukij-Tochter über die Bühne gegangen sei, habe es Wratislaw für notwendig befunden, Millesimo mit dem nächsten Kurier nach Hause zu schicken. Aus den ergänzenden Rechtfertigungen Wratislaws erfahren wir überdies, dass der Missionschef über die Treffen der beiden Bescheid gewusst habe, wobei diese nicht nur von den Eltern der umworbenen Fürstentochter, sondern auch von den vertrauten Ministern genehmigt worden seien. Aus diesem Grund hatte es der kaiserliche Vertreter offensichtlich nicht für notwendig befunden, etwas gegen die Abenteuer seines Schwagers zu unternehmen.1102
1101 Vgl. Bericht Hochholzers an Sinzendorf v. 15. Dezember 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 216r–217r ; Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 16. Dezember 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 250r–250v sowie 253r–253v. 1102 Vgl. Bericht Hochholzers an Sinzendorf v. 15. Dezember 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 219r–219v ; Bericht Wratislaws an Sinzendorf v. 16. Dezember 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 280r–281r.
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Abb. 17: Ein Beweis für das große Interesse der kaiserlichen Diplomatie an der von Karl VI. ungern gesehenen Verbindung zwischen Peter II. und Ekaterina Dolgorukova – Skizze des Verlobungssaales inklusive Beschreibung der Sitzordnung.1103
Diese anrüchige Geschichte brachte der kaiserlichen Gesandtschaft vor allem spöttische Bemerkungen von Seiten der übrigen auswärtigen Diplomaten ein. De Liria hielt diesbezüglich fest, dass sich der offensichtlich nicht ganz bei Trost seiende Millesimo in die zukünftige Zarin verliebt habe. Da alle über diese Liebe Bescheid wüssten, bilde sich Wratislaw ein, dass man das Verbleiben seines Schwagers als verächtlich ansehen würde, weshalb er ihn zu seinem eigenen Schutz nach Hause schicken werde.1104 Von Le Fort erfahren wir überdies, dass Millesimo nicht nur eine Geliebte in Russland zurückließ. Der Graf, so der sächsische Gesandte über den entlassenen Kavalier der kaiserlichen Gesandtschaft, hinterlasse hier ein nettes Souvenir von zwölftausend Rubel an Schul1103 Beilage zum Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 16. Dezember 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 251r. 1104 Vgl. Bericht de Lirias v. 12. Dezember 1729, Petr Vartenevyj (Hg.), Osmnadcatyj Vek. Istoricˇeskij sbornik, Tom 2, Moskva 1869, 188; Bericht de Lirias v. 17. Dezember 1729, Russkij Archiv 7/1 (1909), 374–375.
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den.1105 De Liria hielt diesbezüglich etwas später fest, dass Wratislaw eine Verhaftung Millesimos durch seine Kreditgeber nur mit Hilfe der Ausstellung von entsprechenden Wechseln habe verhindern können.1106 In der »Europäischen Fama« findet der von Millesimo verursachte Zwischenfall keine Erwähnung, obwohl derartige Sujets von der Zeitschrift üblicherweise gerne aufgegriffen und eifrig kommentiert wurden. Da sich die Autoren bei der Beschreibung der Verlobungsfeierlichkeiten auf einen offiziellen Bericht des russischen Hofes stützten, ist diese Lücke jedoch nicht weiter verwunderlich.1107 Es erscheint an dieser Stelle nahezu überflüssig zu erwähnen, dass das »Wienerische Diarium« in seinen Berichten über die Verlobung kein Sterbenswort über den Zwischenfall verlor.1108 Während die auswärtigen Diplomaten offensichtlich nur Spott und Hohn für Millesimo übrig hatten, sah die weibliche Perspektive auf die Liebesgeschichte ganz anders aus. Diese kann aus der Briefsammlung der späteren Frau des englischen Gesandten, Jane Ward bzw. Rondeau (1699–1783),1109 erschlossen werden, welche insgesamt 37 Schriftstücke über den russischen Hof der 1720erund 1730er-Jahre enthält.1110 Die als Lady Rondeau in der Geschichtsschreibung berühmt gewordene Autorin berichtete im November 1729 von ihrer Bekanntschaft mit Ekaterina Dolgorukova. In ihrem Brief preist sie die Sanftmut, Natur und Höflichkeit sowie den Geist der damals 18-jährigen Fürstentochter an, die den Schwager des deutschen Botschafters zu ihrem »heißgeliebten Objekt« auserkoren habe. Lady Rondeaus Ausführungen entsprechend sei zum damaligen Zeitpunkt bereits alles vereinbart gewesen und die beiden warteten nur noch auf die Erledigung einiger Formalitäten in des Grafen Heimat, um dort bald glücklich zu sein. Sie würden eine »starke Liebe« zueinander zeigen und Ekaterina selbst hege ein großes Verlangen, aus ihrem eigenen Land hinaus zu heiraten. Nachdem alles nach einem »Happy End« ausgesehen hatte, musste 1105 Vgl. Bericht Le Forts an August II. v. 15 Dezember 1729, A. A. Polovcov (Hg.), SIRIO, Tom 5, Sankt-Peterburg 1870, 336. 1106 Vgl. Bericht de Lirias v. 19. Dezember 1729, Petr Vartenevyj (Hg.), Osmnadcatyj Vek. Istoricˇeskij sbornik, Tom 2, Moskva 1869, 190. 1107 Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 326 (1729), 174–182. 1108 Vgl. Wienerisches Diarium v. 14. Januar 1730, Nr. 4, [4]; Wienerisches Diarium v. 28. Januar 1730, Nr. 8, [2]. 1109 Jane Ward bzw. Rondeau (geborene Goodwin) war die Tochter eines englischen Geistlichen und kam im Jahre 1728 als Frau des englischen Konsuls Thomas Ward nach Russland. Nach dessen Tod im Jahre 1731 heiratete sie Claudius Rondeau, den Nachfolger und ehemaligen Sekretär von Ward. Nach dem Tode Rondeaus im Jahre 1739 kehrte sie in Begleitung des Kaufmannes William Vigor nach England zurück, welchen sie dort heiratete. Vgl. Cross, Lands, 82. 1110 Vgl. dazu genauer : Leo Loewenson, Lady Rondeau’s Letters from Russia (1728–1739), in: The Slavonic and East European Review 35/85 (1957), 399–408.
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Lady Rondeau in ihrem nächsten Brief jedoch von der überraschenden Wendung in der Liebesgeschichte berichten. Den Entschluss des Zaren, die schöne Fürstentochter zur Frau zu nehmen, bezeichnete sie als eine schreckliche Enttäuschung für zwei Menschen, die mit ganzem Herzen ineinander verliebt gewesen seien. Doch dies zähle nicht in einem Land, wo kein Widerspruch geduldet werde.1111 Will man den weiteren Darstellungen von Lady Rondeau Glauben schenken, liefert sie damit eine äußerst interessante Ergänzung zu den Berichten Wratislaws und Hochholzers sowie den übrigen Gesandten, die ein interessantes Detail der Verlobung einfach aussparen. So enden etwa Wratislaws Beschreibungen über den Verlobungsakt damit, dass Peter II. und seine Braut »an ihre siz-pläze sich zuruck begeben, und die ienige, welche haben beygehen wollen, zum handkuß gelaßen«1112 hätten. An diesem Punkt setzen jedoch erst die dramatischen Darstellungen der englischen Dame ein, die gleichzeitig den tragischen Höhepunkt des Liebesdramas darstellen. So hätten sich bei der angesprochenen Beglückwünschung auch folgende Szenen ereignet, die aufgrund ihrer Dramatik im »O-Ton« wiedergegeben werden sollen: »They came to kiss their hand; the lover held her right hand in his, and gave it to every one as they came up, for all the company paid that compliment; at last, to the surprise of every body, came the unhappy forsaken swain: before, she had sat all the time with her eyes fixed on the floor, but now she started, snatched her hand out of the emperor’s, and gave it the other to kiss, having, at that instant, thousand different passions in her face. The young monarch blushed, but a crowd of others came to pay their devoirs, and the friends of the gentleman got him out, put him out of town as fast as possible. The thing was rash and imprudent to the last degree, and, I dare say, a surprise for her.«1113
Dieser Auszug aus dem Brief der Lady Rondeau macht deutlich, wie stark das bisherige Geschichtsbild dadurch geprägt wurde, dass zur Rekonstruktion der Ereignisse vorwiegend Quellen zur Verfügung standen, die die Sichtweise der männlichen Diplomaten wiedergeben. Anhand dieser Episode wird jedoch deutlich, wie groß der Mehrwert einer Einbeziehung der leider nur selten überlieferten Darstellungen der Diplomaten-Frauen bzw. von (adeligen) Frauen in diplomatischen Funktionen sein kann.1114 1111 Vgl. Briefe Wards bzw. Rondeaus v. 4. November und 20. Dezember [1729], Letters from Lady Rondeau, who resided some years in Russia, to her friend in England. With historical notes, London 17772, 18–19 sowie 22. 1112 Vgl. Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 16. Dezember 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 253r. 1113 Brief Wards bzw. Rondeaus v. 20. Dezember [1729], Letters from Lady Rondeau, who resided some years in Russia, to her friend in England. With historical notes, London 17772, 25–26. 1114 Vgl. mehr dazu: Katrin Keller, Frauen und Diplomatie in der höfischen Gesellschaft, in: Gunda Barth-Scalmani/Harriet Rudolph/Christian Steppan (Hgg.), Politische Kom-
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Wratislaw selbst schwieg in seinen Berichten über das weitere Schicksal seines Schwagers. Dies tat er wohl auch im eigenen Interesse, da die kaiserliche Gesandtschaft mit diesem Ereignis bereits den dritten Skandal am russischen Hof in nur einem Jahr verursacht hatte. Außerdem war er aufgrund der umwälzenden Ereignisse dazu gezwungen, möglichst schnell zur Tagesordnung überzugehen. Wie eilig er es mit der Gewinnung der Dolgorukovs hatte, geht aus seinem bereits erwähnten Bericht an Sinzendorf über die Verlobung hervor, in dem er dem Hofkanzler vorschlug, die vier bereits mehrfach angedachten Portraits bei einem in Russland befindlichen Juden namens Simon Michel in Auftrag zu geben. Dem fügte Wratislaw noch hinzu, dass man den nunmehr aus Polen zurückgekehrten Onkel der Zarenbraut, Fürst Vasilij, wohl auch mit einem solchen Geschenk berücksichtigen sollte.1115 Im beigelegten Schreiben an Karl VI. begründete dessen Vertreter den Handlungsbedarf noch ausführlicher. So sei aufgrund der erfolgten Verlobung vorauszusetzen, dass die Dolgorukovs in Politik und Militär einen »ungemein extendierten Einfluss« erhalten würden. Unter ihnen befänden sich nämlich genügend Leute, die in beiden Bereichen eingesetzt werden könnten. In diesem Zusammenhang bezeichnete Wratislaw den soeben zurückgekehrten Vasilij Dolgorukov sowie den Feldmarschall und dessen Bruder, zuletzt Gouverneur in Sibirien, als die fähigsten Köpfe des Fürstengeschlechts. Obwohl der Favorit noch sehr jung und dessen Vater nicht gerne »bei Geschäften« sei, besäßen sie die »Gunst« des Zaren und demzufolge entsprechenden Einfluss. Ausschließlich lobende Worte findet der Gesandte für die Braut des Zaren, Ekaterina Alekseevna: Sie besitze »viel Gutes« und sei »nicht uneben gebildet«, »sehr modest an Gebärden« sowie »begabt genug an Verstand in sittlicher und christlicher Wissenschaft«. Diese positiven Eigenschaften der Zarenbraut ließen Wratislaw hoffen, dass dem Kaiser die Wahl seines Neffen nicht allzu unangenehm erscheinen möge – auch wenn sich dieser entsprechend den alten Maximen der hiesigen Nation für eine Inländerin entschieden habe. In dieser Einschätzung wird abermals deutlich, dass die Verbindung mit einer russischen Adeligen vom Wiener Hof als ein Rückschritt zu den alten Vorpetrinischen Sitten betrachtet wurde – wie wir wissen, hatte Peter I. eine aktive Heiratspolitik mit den übrigen europäischen Höfen eingeleitet. Nichtsdestotrotz erachtete es Wratislaw zur Erreichung und Aufrechterhaltung eines »Vorschubs« des kaiserlichen Dienstes für ratsam, sich der Dolgorukovs durch eine eigene »Zuneigung« zu versichern. Als das »schätzbarste Mittel«, das die Fürsten wohl auch »verbündigst« machen würde, betrachtete er die Erhebung der Dolgorukovs in den Reichsfürstenstand. munikation zwischen Imperien. Der diplomatische Aktionsraum Südost- und Osteuropa (Innsbrucker Historische Studien, Bd. 29), Innsbruck-Wien-Bozen 2013, 30–39. 1115 Vgl. Bericht Wratislaws an Sinzendorf v. 16. Dezember 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 281v–282r.
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Wie man die besonderen Verdienste einzelner Familienmitglieder ansonsten noch abgelten könnte, wollte Wratislaw jedoch dem Kaiser überlassen. Ostermann als den wohl wichtigsten Vertrauten der kaiserlichen Diplomatie am russischen Hof sah er durch diese Ereignisse keineswegs in Gefahr – nach dem, wie er sich in seinem Amt und gegenüber dem Zaren verhalten hatte. Lediglich das Erlöschen seiner Stelle als Oberster Hofmeister mit der Vollendung der Volljährigkeit des Zaren stellte Wratislaw in Aussicht.1116 Damit deckten sich seine Einschätzungen über die Zukunft des Vizekanzlers mit jenen der übrigen Diplomaten. Diese prognostizierten überdies eine den Ausführungen Wratislaws entsprechende Handlungsstrategie des Wiener Hofes, noch ehe dieser Gelegenheit fand, auf die Vorschläge seines Gesandten zu antworten. Ihre Reaktion zeigt, wie offensichtlich der Handlungsbedarf des Kaisers für alle politischen Beobachter war. Nur über das Ausmaß seiner Zuwendungen waren sich die Diplomaten nicht einig. Mardefeld berichtete etwa, dass Karl VI. den Favoriten und seinen Vater in den Reichsfürstenstand erheben wolle. Etwas weiter ging der englische Gesandte Rondeau, der sich ziemlich sicher darüber war, dass der Wiener Hof dem Fürsten Aleksej das ursprünglich zur »Bestechung« des Fürsten Mensˇikov gedachte Lehen in Schlesien übergeben werde. Schließlich lieferte de Liria in seinem Bericht die scheinbare Bestätigung dieser These. Demzufolge sei gemeinsam mit Graf Millesimo ein zweiter Kavalier der kaiserlichen Gesandtschaft, Graf von Billenberg, nach Hause geschickt worden, um den Kaiser im Namen Wratislaws um die Verleihung des Reichsfürstenstands sowie des Lehens in Schlesien an die Dolgorukovs zu bitten. Das habe ihm Wratislaws selbst in einer Unterredung bestätigt.1117 Diese Prognosen der übrigen Diplomaten über die Verhaltensstrategien des Wiener Hofes trafen jedoch nur zum Teil zu. Die Antwort Karls VI. an Wratislaw zeigt, dass dieser – angesichts des nunmehr kaum noch aufhaltbaren Aufstieges der Dolgorukovs – zu einigen Zugeständnissen bereit war. Zunächst ließ er Wratslaw darin wissen, dass er dessen »Betrag in dieser so wichtigen Begebenheit genehm« heiße. Er solle nach eigenem Ermessen bei passender Gelegenheit zum Ausdruck bringen, wie »besonders lieb« dem Kaiser die »denkwürdigen Eigenschaften und großen Tugenden« der Braut Peters II. »zu vernehmen« gewesen seien. Er nehme »großen Anteil daran« und wolle dem Zaren aus »auf1116 Vgl. Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 16. Dezember 1729, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 284r–287r. 1117 Vgl. Bericht Mardefelds an Friedrich Wilhelm I. v. 15. Dezember 1729, GStA PK, I. HA, Rep. 11 Geheimer Rat Auswärtige Beziehungen Akten, Nr. 6706, Berichte Mardefeld 1729, 173r ; Bericht de Lirias v. 17. Dezember 1729, Russkij Archiv 7/1 (1909), 374; Bericht Rondeaus an Townshend v. 26. Dezember 1729, NSA, Secretaries of State: State Papers Foreign, Russia, SP91/10, July 1728–December 1729, 212r ; Siehe dazu auch: A. A. Polovcov (Hg.), SIRIO, Tom 66, Sankt-Peterburg 1889, 116.
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richtig wohlmeinendem Herzen allen Segen« für das »Vorhaben« wünschen. Was die weitere Vorgangsweise beträfe, sei es »unumgänglich erforderlich«, die Dolgorukovs für seine »Interessen zu gewinnen«. Gleichzeitig solle alles so eingeleitet werden, dass diese nichts gegen Ostermann unternehmen würden. Aus diesem Grund überschicke der Kaiser mit dieser Weisung das dem Favoriten gewidmete Portrait. Außerdem sei er noch zu weiteren »Kennzeichen« seiner Gnade bereit, wenn die Dolgorukovs die »Verknüpfung« zwischen ihm und dem Zaren auch weiterhin »zu unterstützen« bereit seien. Dazu zählte Karl VI. etwa die Möglichkeit, diese in den Reichsfürstenstand zu erheben. Was das dem Fürsten Mensˇikov zugedachte Lehen beträfe, wolle der Kaiser seinem Vertreter zu gegebener Zeit entsprechende Instruktionen zukommen lassen. Insgesamt habe Wratislaw gemeinsam mit Ostermann darauf hinzuarbeiten, dass der Zar eine Erklärung über die »fortdauernde Bündnis« abgebe, welche sich der Kaiser von einem durch so »nahe Anverwandtschaft« mit ihm »ganz eng verknüpften Bundesgenossen« erhoffe.1118 Das lange Warten Karls VI., das die Annäherung Wratislaws an die nunmehr am Zenit ihrer Macht stehenden Dolgorukovs über viele Monate erschwert hatte, sollte sich – wie schon im Fall Mensˇikovs – für den Wiener Hof jedoch auszahlen. So hatte der Kaiser keineswegs sein gesamtes Pulver an Zuwendungen verschossen, als es im Jänner 1730 zu einer völlig unerwarteten Wende am russischen Hof kam. In der Nacht vom 18. auf den 19. bzw. 29. auf 30. Januar 1730 erlag der erst 14-jährige Peter II. den Folgen seiner wenige Tage zuvor ausgebrochenen Pockenerkrankung. Hinsichtlich der Verbreitung der Nachricht über den Tod des Zaren lohnt sich vor allem ein Blick auf die zeitgenössische Presse. Wie schon im Fall Peters I. berichtete die »Europäische Fama« relativ ausführlich über die zum Ableben des Herrschers führende Krankheit, während das »Wienerische Diarium« lediglich die Todesursache »(Kinder-)Blattern« nennt. Das ist ein weiteres Indiz dafür, dass Krankheit eher ein Tabuthema für die Hofgazette darstellte. Ebenso schwieg die Zeitung über die genauen Rahmenhandlungen des Regierungsantritts der Nachfolgerin Peters II. Das traf allerdings auch auf die »Europäische Fama« zu und deutet erneut darauf hin, dass die innerrussischen Spannungen und Konflikte im Rahmen der Herrscherwechsel zu heiße Eisen für die Herausgeber der zeitgenössischen Printmedien waren.1119 Für Wratislaw änderte sich mit dem Tod Peters II. die Strategie gegenüber dem Zarenhof gänzlich. Als er seinen Hof im Februar 1730 über die Anreise der aus Kurland kommenden neuen Herrscherin, Anna Ivanovna, informierte, hielt 1118 Vgl. Weisung Karls VI. an Wratislaw v. 7. Januar 1730, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 116, Weisungen 1730 I–IX, 21r–22v. 1119 Vgl. Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Theil 326 (1729), 164–165; Wienerisches Diarium v. 25. Februar 1730, Nr. 16, [3]; Wienerisches Diarium v. 4. März 1730, Nr. 18, [3–4].
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er gleichzeitig fest, dass sich die Dolgorukovs zwar nicht mehr in ihrem »vorigen Stand« befänden, aber aufgrund ihrer drei Sitze im Obersten Geheimen Rat immer noch »sehr vermögend« seien. Diese und der Fürst Golicyn sollten angesichts der neuen Machtverhältnisse mit einer entsprechenden Gnadenbezeigung bedacht werden. Das vom Kaiser für den Favoriten des verstorbenen Zaren übersandte kostbare Portrait werde jedoch nicht mehr »am vorigen Ort« gebraucht. So schnell änderte sich also die Günstlingswirtschaft des Kaisers am russischen Hof. Da Wratislaw allerdings mit dem überschickten Portrait allein nichts anzufangen wusste, dachte er in seinem Bericht über die Anschaffung von drei weiteren kaiserlichen Konterfeis nach, um für alle genannten Mitglieder des Obersten Geheimen Rates eine Zuwendung zu haben. Nachdem der kaiserliche Gesandte angesichts der umwälzenden innerrussischen Lage keine Zeit zu verlieren hatte, unterbreitete er dem Kaiser unter anderem den bereits gegenüber Sinzendorf geäußerten Vorschlag, diese nach Zusendung einer Vorlage als Kopien in Moskau anfertigen zu lassen.1120 Karl VI. ließ Wratislaw in seiner Antwort zunächst wissen, dass er gegenüber Ostermann und Golicyn den ungebrochenen Willen Wiens zu einem Bündnis mit der neuen Zarin zu erkennen geben solle, da diese Allianz dem Kaiser als »anständig« und »nutzbar« erschien. Seinen Instruktionen fügte er auch drei weitere Portraits hinzu, deren Austeilung in Absprache mit Ostermann zu erfolgen habe. Der Kaiser war jedoch davon überzeugt, dass das bereits für den gefallenen Favoriten überbrachte Bildnis nunmehr am besten beim Fürsten Golicyn »angewendet sei«. Was die Dolgorukovs anbelange, solle Wratislaw diese nicht völlig unberücksichtigt lassen, da sie mit Hinblick auf den Feldmarschall nicht »gänzlich beiseite zu setzen« wären. Es dürfe nämlich nicht den Anschein erwecken, als wolle man diese aufgrund ihres »verringerten Credits« ganz außer Acht lassen.1121 Mit dieser Weisung war das lange und mit vielen Enttäuschungen verbundene Ringen Wratislaws um die Gunst der Dolgorukovs als nunmehr ehemalige Favoriten des verstorbenen russischen Herrschers ad acta gelegt. Mit dem Regierungsantritt Anna Ivanovnas wurden sozusagen die Karten am russischen Hof völlig neu gemischt. Der damit verbundene Wechsel der Hofeliten stellte Wratislaw abermals vor die Herausforderung, die neuen russischen Macht- und Würdenträger für sich und den Kaiser zu gewinnen. Wie er sich dabei anstellte, soll im abschließenden Ausblick auf Wratislaws Tätigkeit in den 1730er-Jahren angerissen werden, welche jedoch nicht mehr im Zentrum der vorliegenden Untersuchung steht. 1120 Vgl. Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 13. Februar 1730, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III, 99v–100v. 1121 Vgl. Weisung Karls VI. an Wratislaw v. 28. Februar 1730, ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 116, Weisungen 1730 I–IX, 80r–80v.
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3.2.4. Zusammenfassung: Die Kommunikationsstrategien der außenpolitischen Akteure und deren Widerhall in den verwendeten Schlüsselbegriffen ihrer Interaktion Die Ausführungen dieses Kapitels haben gezeigt, dass der Begriff der Freundschaft auch in der Phase des innerrussischen Konflikts um die Thronfolge Peters II. Hochkonjunktur hatte. So können die letzten Monate Rabutins als Vertreter des Kaisers am russischen Hof in der Retrospektive ohne jeden Zweifel als Hochblüte der bilateralen Kommunikation bezeichnet werden. Daran änderte sich auch nichts durch den Umstand, dass das Jahr 1727 mit einer Verstimmung in den Beziehungen zwischen Wien und St. Petersburg/Moskau begann. Wir erinnern uns daran, dass sich Katharina I. nach den publikumswirksamen Gesten im Rahmen des Namenstagsfests des Kaisers im Jahre 1726 eine entsprechende Gegenerweisung anlässlich ihres Namenstages erwartet hatte. Rabutin bediente sich starker Worte, um seinen Hof vor möglichen Folgen dieses Versäumnisses zu warnen. So berichtete er von einer ihm am russischen Hof entgegengebrachten »merkbaren Kaltsinnigkeit«, der wir bislang vor allem als Gegenbegriff zu der mühevoll errungenen Freundschaft der Zarin begegneten. Auch das »Vertrauen« der russischen Minister als Basis dieser Freundschaft sah der Gesandte im Schwinden befindlich, sollte der Wiener Hof nicht entsprechende Taten auf die Verstimmung Russlands folgen lassen. Schließlich stellte er sogar eine mögliche »persönliche Abneigung« Katharinas für den Fall in Aussicht, dass der Kaiser nicht die erwünschte »äußerliche Demonstration« anlässlich des Geburtstags der Zarin im April 1727 bezeigen wolle. Wie wir wissen erübrigte sich diese Frage durch die schwere Krankheit Katharinas von selbst. Deren Gesundheitszustand warf jedoch gleichzeitig die Frage der Nachfolge am russischen Thron auf und ließ Rabutin zwischen die Fronten der Hofparteien am Zarinnenhof geraten. Doch bevor es dazu kam, wollte sich der Gesandte jener Personen versichern, die ihm bei der im Jahre 1726 erfolgten Herstellung der Freundschaft behilflich waren. In diesem Zusammenhang begegneten wir in der Korrespondenz Rabutins mit dem Wiener Hof einem neuen Begriff in Hinblick auf die vorangegangenen bilateralen Beziehungen – der »Danknehmigkeit« für die Erlangung der Freundschaft. Als Überbrückungsgesten für die in Anfertigung befindlichen Kutschen, durch die der Kaiser seine Verbundenheit vor allem auch materiell zum Ausdruck bringen wollte, übermittelte Karl VI. vorerst einen persönlichen Brief als aussagekräftiges Zeichen seiner Dankbarkeit an Mensˇikov. Darin kündigte er dem Fürsten weitere Gnadenbezeigungen in besonderer Achtung seiner »großen Dienste und Verdienste um das gemeinsame Wesen« an. Kurz zuvor hatte er auch Katharina einen mit Diamanten besetzten »Dankpfennig« zukommen lassen, der als Zei-
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chen seiner »Wohlmeinung« und »Freundschaft« bis zum Eintreffen der bestellten Wägen dienen sollte. Doch noch ehe es dazu kam, sollte zunächst die konfliktbeladene Frage der Thronfolge Katharinas entschieden werden. Dieser gingen heftige Konflikte zwischen den russischen Hofparteien voraus, die Rabutin im wahrsten Sinne des Wortes »diplomatische Fähigkeiten« abverlangten. War es bislang der russische Hof in seiner Gesamtheit, um dessen Freundschaft sich der kaiserliche Vertreter erfolgreich bemüht hatte, so spaltete sich dieser nunmehr in zwei Interessensgruppen auf, zu denen er eine scheinbare Äquidistanz wahren sollte. Dies geschah deshalb unter erschwerten Bedingungen, da der Wunsch des Kaisers über die Nachfolge seines Neffen keineswegs ein Geheimnis war und Rabutin somit einen wichtigen Ansprechpartner für beide Parteien darstellte. Rabutins Vorgehen im Zuge der innerrussischen »Krise« hat jedoch gezeigt, dass dieser trotz der klaren Präferenzen des Wiener Hofes keine eindeutige Position für eine der Parteien in der Nachfolgefrage bezog. Diese Haltung schlug sich auch in der Wortwahl des kaiserlichen Botschafters nieder. So wollte Rabutin sein Verhalten prinzipiell dahingehend einrichten, dass der »gute Credit« bei jeder Partei erhalten werde. Als sich die Krise durch das Bekanntwerden der Zustimmung Katharinas zu einer Verbindung zwischen dem Großfürsten und Maria Mensˇikova zuspitzte, zog es Rabutin deshalb auch vor, unter Vortäuschung einer bereits auskurierten Unpässlichkeit zu Hause zu bleiben, um bei keiner der Parteien »Argwohn« hervorzurufen und die weiteren Ereignisse in Ruhe beobachten zu können. Genau in dieser Phase soll sich der Fürst Mensˇikov in »natürlichem und gutem Vertrauen« an ihn gewendet haben, um ihn vom Entschluss der Zarin in Kenntnis zu setzen. Es sind genau diese Darstellungen des Gesandten, mit deren Hilfe das bislang vorherrschende Bild der direkten Einflussnahme auf das erwähnte Heiratsprojekt und die Nachfolge Peters II. korrigiert werden konnte. In Abstimmung mit dem Wiener Hof verhielt sich Rabutin gegenüber den Hofparteien äußerst vorsichtig und zurückhaltend. Auf Anweisung des Kaisers sollte er während der innerrussischen Krise sein Benehmen gegenüber dem Herzog von Holstein als Hauptgegner der Verlobung zwischen Petr Alekseevicˇ und der Mensˇikov-Tochter so einrichten, dass er andererseits den Fürsten auf alle Weise »gut geneigt beibehalte«. Erst nach dem Bekanntwerden der Entscheidung Katharinas war Karl VI. zu eindeutigeren Schritten bereit und wollte Mensˇikov durch ein Lehen »enger« an sich »binden« – eine Ausdrucksweise, die uns bereits aus den Schilderungen über das Zustandekommen des Bündnisses bestens bekannt ist. Es waren also derartige Zuwendungen, mit denen sich Rabutin und der Wiener Hof auch nach der Ausrufung Peters II. die »Freundschaft« des russischen Hofes sichern wollten. Aus diesem Grund erwartete er sich von den »Versprechungen«, die er den Anhängern der Nachfolge des
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Großfürsten vor der Thronbesteigung gemacht hatte, »besonders großen Nutzen« für den kaiserlichen Dienst. Doch wie wir in diesem Kapitel gesehen haben, reichten »Versprechungen« alleine nicht immer dazu aus, um die Eliten des fremden Hofes an sich zu binden. So haben wir am Beispiel der »Ungeduld« und »Verdrießlichkeit« des Fürsten über das Ausbleiben des Lehensdiploms gesehen, dass Rabutin die vom Kaiser als »unumgänglich« bezeichnete »Beibehaltung« Mensˇikovs durch das zögerliche Verhalten des Wiener Hofes mitunter auch erschwert wurde. Das Abwarten bis zum letzten Moment machte sich in diesem Fall jedoch auch bezahlt: So war es den außenpolitischen Verantwortlichen Wiens damit gelungen, eine Belehnung des Fürsten vor dessen Untergang zu verhindern. Abgesehen von derartigen Unstimmigkeiten erlangte die Kommunikation zwischen den Höfen Karls VI. und Peters II. nach der Ausrufung des russischen Herrschers tatsächlich einen Höhepunkt. Das wurde unter anderem anhand der Einrichtung der persönlichen Korrespondenz zwischen den beiden Herrschern deutlich. So erinnern wir uns etwa daran, dass sich Peter II. in seinem ersten Antwortbrief an Karl VI. nicht nur für die zum Ausdruck gebrachte »Freundschaft« und »Gewogenheit« des Kaisers bedankte, sondern auch die aus der »nahen Anverwandtschaft« und dem »gemeinsamen Nutzen« für die beiden Reiche resultierende »Freundschaft sorgfältigst kultivieren« und die gemeinsame »Allianz unverbrüchlich unterhalten« wollte. Außerdem versprach er seinem Onkel, alles zu tun, was sich dieser von einem »wahren Alliierten« und einem »aufrichtig ergebenen Bruder« erwarte –Termini, die uns fast alle aus den Briefen von Katharina bereits bestens bekannt sind. Diese Begriffe wurden von Rabutin schließlich noch etwas stärker aufgeladen, als dieser den Kaiser darum bat, deutsche Kämmerer als Kennzeichen des »befestigten Ansehens« des Kaisers sowie der »unbeweglichen intimen Freundschaft« zwischen den beiden Herrschern nach Russland zu schicken. Damit wollte der Gesandte nicht nur einen großen Eindruck »in publico« hinterlassen, sondern auch auf die Erziehung des jungen Monarchen und seiner Schwester Einfluss nehmen, indem sich die aus Wien kommenden Hofbediensteten an »beiden hohen Orten« in »Achtung« und »Vertrauen« bringen sollten. Dieses von Rabutin erfolgreich erworbene persönliche »Vertrauen« Peters II. und der Großfürstin stand durch den unerwarteten Tod des kaiserlichen Gesandten plötzlich in Frage. Das spiegelte sich in der Begriffswahl der unterschiedlichen politischen Beobachter und Akteure in Hinblick auf das Ableben des kaiserlichen Ministers und dessen Folgen wider. So erinnern wir uns etwa an die Worte des holsteinischen Vertreters Stambke, der Bassewitz unmittelbar nach dem Tod Rabutins darüber informierte, dass es dessen Nachfolger wohl schwer fallen werde, so viel »Confiance« am russischen Hof zu erwerben wie der verstorbene Graf. Aus den Berichten des in Russland verbliebenen Gesandt-
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schaftssekretärs Caram¦ wissen wir überdies, dass der russische Vizekanzler Ostermann bei der Bitte um die schnelle Nachbesetzung Rabutins die »besondere Estime« hervorhob, welche dieser am fremden Hof erlangt hatte. »Hochachtung« und »Vertrauen« – Begriffe, die uns bislang vor allem als Grundvoraussetzung für die Freundschaft zwischen den beiden Herrschern und ihren Höfen begegneten – waren also auch abstrakte Ziele, die von den Gesandten als Vertreter ihrer Souveräne angestrebt und erreicht werden sollten. Da Rabutin das allem Anschein nach gelungen war, riet Ostermann dem Wiener Hof an, diesen als Vorbild bei der Festlegung eines Nachfolgers heranzuziehen. Doch nachdem die Wahl schließlich auf Graf Wratislaw gefallen war, mangelte es am russischen Hof vor allem am nötigen Vertrauen gegenüber dem neuen kaiserlichen Minister. Auch wenn Ostermann gegenüber Caram¦ versicherte, gemeinsam mit Wratislaw »zum Zweck der unterhaltenden wahren Freundschaft zwischen beiden Höfen« arbeiten zu wollen, so wissen wir etwa aus den Berichten Magnans, dass der Vizekanzler insgeheim daran zweifelte, mit dem Grafen in »vollem Vertrauen« agieren zu können. Doch bevor der neue Ambassadeur selbst seine vertrauensbildenden Maßnahmen am russischen Hof setzen konnte, kehrte Ende 1727 zunächst der russlanderfahrene Hochholzer in seiner neuen Funktion als kaiserlicher Resident nach Petersburg zurück. Seine Berichte über die Zusammentreffen mit den Vertretern des russischen Hofes haben gezeigt, dass der Kaiser vor allem um den Erhalt bzw. die Weiterführung der Freundschaft mit dem neuen russischen Herrscher besorgt war und einen möglichen Einflussverlust am befreundeten Hof fürchtete. Im Rahmen der ersten offiziellen Audienz Hochholzers bei Peter II. nach seiner Rückkehr nach St. Petersburg verwendete der Resident daher Begriffe, die bereits zuvor herangezogen wurden, um den Willen zur Herstellung eines Bündnisses sowie zur Fortsetzung der guten bilateralen Beziehungen auszudrücken. So überbrachte er bei dieser Gelegenheit neben dem »freundbrüderlichen Gruß« des Kaisers auch dessen Versicherung einer »beständig zu kultivierenden Freundschaft und guten Verständnis«. Außerdem zeigte sich Peter II. dabei über die Ankündigungen Karls VI. erfreut, alles zum »Besten der gemeinsamen Sache« beitragen zu wollen. Schließlich versprach er seinem Neffen, sich allem zu widersetzen, »was nicht alleine diese mutuelle Freundschaft beständig erhalten könne«. Auch in der darauffolgenden Privataudienz Hochholzers Anfang des Jahres 1728 spiegelte sich die Besorgnis des Wiener Hofes um die gemeinsame Allianz wider. Nachdem der Resident den Zaren dabei im Namen der »freundschaftlich grüßenden« und »zärtlich liebenden« Kaiserin an die Wichtigkeit eines gesunden Lebenswandels und eines möglichst kurzen Krönungsaufenthaltes in Moskau erinnert hatte, überbrachte er auch die freudige Nachricht des Kaisers über die Absendung von Pferden und Bereitern aus Wien, um die »fürstlichen
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Divertissements« Peters II. zu fördern. Der Zar sollte sich angesichts dieser »Sincerationen allezeit recht erinnern«, bei der »zum Besten beider Reiche errichteten Allianz fest verbleiben« zu wollen. Diese Privataudienz hatte also nicht nur einen politischen, sondern auch einen erzieherischen Charakter, da die Kaiserin und der Kaiser ihren Vertreter als Sprachrohr einsetzten, um deren Sorge für den Zaren als politischen Bündnispartner sowie ihre Besorgnis um Peter II. als nahen Anverwandten zum Ausdruck zu bringen. Einige Monate später brachte Karl VI. im Notifikationsschreiben über die Thronbesteigung Peters II. nochmals die Hoffnung über die Fortsetzung der Allianz zum Ausdruck. Die von Seiten des Wiener Hofes eingesetzten und hier auf einen Blick zusammengefassten Begriffe unterstreichen nochmals den Umstand, dass die im Jahre 1726 vertraglich festgelegte Freundschaft mit dem Regierungswechsel der Jahre 1727/28 neuerlich bestätigt werden musste. In diesem Zusammenhang war auch ein Ausstieg Peters II. aus dem zwischen Karl VI. und Katharina I. geschlossenen Bündnis kein völlig undenkbares Szenario, wie einerseits aus diesen Freundschaftserinnerungen des Kaisers hervorging. Andererseits zeigte sich dies auch in den Beobachtungen des französischen Hofes und seines Vertreters, wonach der Wille zur »Festigung des Bündnisses« nämlich nicht bei allen Vertretern des russischen Hofs gegeben war – gerade im »alten russischen Adel« orteten die französischen Vertreter eine »Unzufriedenheit« mit dem »verbündeten Wiener Hof«. Wie wir gesehen haben, war die Abneigung der russischen Aristokratie gegenüber dem ausländischen Einfluss zweifelsohne ein Mitgrund für die Stagnation bzw. Abkühlung in den Beziehungen zwischen Wien und St. Petersburg/ Moskau. Wenngleich in der bisherigen Forschungsliteratur vor allem dieser Umstand für die Schwierigkeiten der außenpolitischen Akteure Wiens im Umgang mit dem Zaren verantwortlich gemacht wurde, so war er bei Weitem nicht der Einzige. Auch das vom Kaiser verordnete Ausbleiben Wratislaws bei der Krönung Peters II. sowie dessen Anpassungsschwierigkeiten an den russischen Hof spielten dabei eine Rolle. Das fand mitunter in den Berichten Hochholzers Bestätigung, der seinen langen Aufschub der Abreise zur Krönung nach Moskau offiziell mit dem Abwarten auf die Ankunft Wratislaws rechtfertigte und damit das Aufkommen von »Argwohn« unter den in- und ausländischen Ministern verhindern wollte. Doch im Februar 1728 berichtete Stambke an Bassewitz, dass das lange Ausbleiben des kaiserlichen Ambassadeurs »nichts Gutes bewirken« würde. Auch wenn der russische Hof seine Unzufriedenheit Wratislaw gegenüber nicht direkt zum Ausdruck brachte, so kam es bald nach dessen Ankunft zu einer Stagnation in den unmittelbaren Freundschaftsbekundungen gegenüber dem kaiserlichen Vertreter. Zuvor wahrte man jedoch den Schein eines zufriedenen Bündnispartners und begegnete Wratislaw nicht nur im Zeremoniell, sondern auch in der Wortwahl mit den üblichen Freundschaftsbekundungen.
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Als der Graf in seiner Antrittsaudienz die scheinbar geschwinde Entsendung durch den Kaiser als Kennzeichen für dessen »unabänderlichen Festhaltung« an der zwischen beiden Höfen »obwaltenden engen Verbündnis« bezeichnete, versicherte ihm Ostermann die »unzertrennliche Zusammenhaltung seines Herrn mit dem Kaiser«. Wenn überhaupt wurden derartige Freundschaftsbekundungen von nun an ausschließlich durch den Vizekanzler zum Ausdruck gebracht – ein Umstand, den Wratislaw über eineinhalb Jahre ertragen musste. Erinnern wir uns etwa an die kühle Reaktion Peters II. im Rahmen der ausführlich beschriebenen Kutschenübergabe. Nachdem Wratislaw die Überreichung der als Zeichen der kaiserlichen »Freundschaft und Liebe« bereits nach Moskau gelieferten Wägen im Rahmen des Namenstagsfests des Zaren im Juli 1728 erneut verschieben musste, konnte er dies beim kurz darauffolgenden Geburtstagsfest der Großfürstin endlich nachholen. Peter II. ließ ihm dabei jedoch lediglich über Ostermann seine »große Erkenntlichkeit« ausrichten. Für die als Zeichen der »besonderen Liebe und Consideration« des Kaisers übergebenen Geschenke wollte er sich persönlich bei seinem Onkel bedanken. Auch wenn es daraufhin zu einigen Lichtblicken in den Beziehungen zwischen Wratislaw und dem Zaren kam, so waren gerade diese Momente ein Indiz für den fehlenden Draht zwischen den beiden. So hoffte der kaiserliche Vertreter etwa im Rahmen der Übergabe des polnischen Weißen-Adler-Ordens an Peter II. und dessen Favoriten im Oktober 1728, einige »Genehmung« des jungen Monarchen und »viel Aufmerksamkeit und Contestation« der Dolgorukij-Familie bekommen zu haben. Stambke wollte dabei gemerkt haben, dass man sich damit auf den »sichersten Weg« eines »mutuellen guten Verständnisses« geeinigt habe, um in weiterer Folge zu »allgemeinen Zwecken zu gelangen«. Doch mit dieser Einschätzung sollte sich der Holsteiner zu früh für seinen »leicht zu erratenden Freund« Wratislaw gefreut haben. Es sollte noch bis Mitte des Jahres 1729 dauern, ehe es zu einer sukzessiven Annäherung zwischen dem kaiserlichen Vertreter sowie dem Zaren und seinem Günstling kam. Bis dahin befanden sich Wratislaw und der Wiener Hof bei der Gewinnung der beiden eher auf dem Holzweg. Es ist bemerkenswert, dass im Laufe des Jahres 1729 der Schlüsselbegriff der Freundschaft fast gänzlich aus der Kommunikation mit dem fremden Hof verschwindet. Wie wir bereits mehrfach gehört haben, stellt gerade das plötzliche Verschwinden bzw. Auftauchen von derartigen Termini beinahe immer ein Indiz für einen politischen Wandel dar. Das kann am Beispiel der bilateralen Beziehungen in diesem Zeitraum deutlich herausgearbeitet werden. In den ersten Monaten des Moskauaufenthaltes von Wratislaw war sein Verhältnis zum russischen Hof auf einem derartigen Tiefpunkt angelangt, dass vom Vertrauen des Zaren selbst zunächst gar keine Rede war. Die außenpolitischen Akteure Wiens setzten eine Ebene tiefer an. So wies
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der Kaiser seinen Gesandten dazu an, dass »völlige Vertrauen« Ostermanns zu gewinnen, um in weiterer Folge zu Gunsten des Zaren und der Alliierten Russlands wirken zu können. Konkret hatte Karl VI. dabei vor allem die Verbesserung des Lebenswandels von seinem Neffen sowie dessen Rückkehr nach St. Petersburg im Sinn. Um diese Vorhaben umzusetzen, beauftragte er Wratislaw gleichzeitig damit, die »Kultivierung« des Favoriten voranzutreiben. Doch nachdem die Rückführung des Hofes nach St. Petersburg schwieriger als erwartet war, sah sich Wratislaw zunächst mit Schwierigkeiten bei der Gewinnung der Umgebung des Zaren für seine Pläne konfrontiert. Der spanische Gesandte de Liria begründete das Scheitern des Rückkehrplanes mit dem fehlenden »Credit« des kaiserlichen Vertreters am russischen Hof. Er ging sogar so weit, dass er von einem ständig steigenden »Hass« der Russen gegenüber Wratislaw sprach. Wie wir wissen, müssen diese Aussagen auch als ein Ergebnis der persönlichen Animositäten zwischen den beiden betrachtet und damit bis zu einem gewissen Grad relativiert werden. Ungeachtet dessen hatte sich das schlechte Verhältnis Wratislaws zum Favoriten Anfang 1729 sogar bis nach Wien durchgesprochen, weshalb Sinzendorf sich nach den Gründen erkundigte, warum der Gesandte mit diesem in keinem »gar guten Vertrauen« stehe. Die Rechtfertigung des Grafen bestätigte, dass diese Konflikte vor allem ein Ergebnis von kulturellen Missverständnissen und Anpassungsschwierigkeiten waren. So beklagte er sich darüber, dass in Russland vieles als unhöflich angesehen werde, was anderswo als höflich gelte. Synonyme der Freundschaft kamen in dieser Phase der zwischenstaatlichen Beziehungen nur dann zur Sprache, wenn es um die Beilegung von Konflikten zwischen Wratislaw und dem russischen Hof ging. So erinnern wir uns etwa an den Skandal rund um die von Aleksej Dogorukov verordnete völkerrechstwidrige Verhaftung des Gesandtschaftskavaliers Millesimo im Rahmen einer Jagd im April 1729. Auch wenn Wratislaw und sein Gefolge dabei keine Schuld traf, so erntete der Missionschef auch in diesem Fall keine Lorbeeren von den politischen Beobachtern. Aus Sicht vieler diplomatischer Vertreter lenkte Wratislaw in der Auseinandersetzung mit dem russischen Hof viel zu früh ein, nur um die Freundschaft mit diesem nicht weiter zu gefährden. Nachdem der Konflikt aufgrund der Verletzung der diplomatischen Immunität der kaiserlichen Gesandtschaft eine internationale Ebene erreicht hatte, wollten die auswärtigen Gesandten Geschlossenheit gegenüber den Gastgebern zeigen und sich nicht mit der Überbringung der Entschuldigung durch einen einfachen Hofkommissar an Wratislaw zufrieden geben. Doch der brüskierte kaiserliche Vertreter tat genau das und bekam dafür ein schlechtes Zeugnis von seinen Kollegen ausgestellt. Diese Kritik spiegelt sich auch in der Reaktion des Kaisers auf den Vorfall wider. So wollte er sich nur aufgrund seiner »Consideration« für den Zaren sowie des »obwaltenden ganz vertraulichen Vernehmens« der beiden Höfe mit dieser
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Form der Genugtuung zufrieden geben. Das war jedoch eine der seltenen Gelegenheiten für den Kaiser im Laufe des Jahres 1729, um auf die gemeinsame Freundschaft Bezug nehmen zu können. Auch wenn der Wiener Hof Wratislaw immer wieder dazu ermunterte, die Familie des Favoriten zu »kultivieren«, unterstützte er seinen Gesandten nur sehr zögerlich bei diesem Vorhaben. Als der kaiserliche Vertreter bemerkt hatte, dass der Weg zum Vertrauen des Zaren nur durch die vorige Gewinnung der Dolgorukovs begangen werden konnte, schritt er mangels ausreichender Unterstützung seines Hofes selbst zur Tat. Nachdem mehrfach angeforderte Präsente für den Favoriten ausblieben, beschenkte er dessen Vater mit einem ganzen Gespann seiner schönsten Parade-Pferde. Dieser zeigte sich fortan gegenüber Wratislaw über die Maßen »freundlich« und lud ihn zu den gemeinsamen Jagden mit Peter II. im Sommer 1729 ein. Genau diese Gelegenheiten wollte Wratislaw nutzen, um den »rechten Zutritt« des Zaren zu gewinnen bzw. »näher« in das »so sorgfältig beworbene Vertrauen« desselben zu gelangen. Dieser Prozess erfolgte jedoch sehr zögerlich, weshalb es dabei nur zu indirekten Unterhaltungen mit dem Monarchen und keinen direkten Gesprächen kam. Wie wir wissen, erfolgte die erste direkte Ansprache Wratislaws durch Peter II. erst im November 1729, als dieser sich völlig unerwartet beim kaiserlichen Gesandten auf Deutsch für die »Gnade« des Kaisers und der Kaiserin bedankte. Bis dahin versuchte Wratislaw, die aufgelockerte Stimmung zu nutzen und eine »rechte Demonstration« beim Kaiser für die »auf so gutem Weg scheinenden« Dogorukovs zu erwirken. Doch die vom Gesandten angepriesenen »Zeichen einer guten Gesinnung« des Fürstengeschlechts gegenüber dem Wiener Hof sowie dessen hoher »Credit« beim Zaren schienen Karl VI. nicht endgültig von einem derartigen Schritt zu überzeugen. Erst nach der völlig unerwarteten und vom Kaiser ursprünglich unerwünschten Verlobung zwischen Peter II. und Ekaterina Dolgorukova Ende 1729 war Karl VI. zum Handeln bereit. Unmittelbar nach diesem Ereignis betonten Wratislaw und Hochholzer die Notwendigkeit, die »Disposition« und den »guten Willen« des immer mächtiger werdenden Fürstengeschlechts zu gewinnen. Diesbezüglich betrachtete Ersterer die Erhebung der Dolgorukovs in den Reichsfürstenstand als das »schätzbarste Mittel«, um diese »verbündigst zu machen«. Nunmehr war auch Karl VI. davon überzeugt, die Familie des Favoriten und der Zarenbraut für seine »Interessen gewinnen« zu müssen und übermittelte Ivan Dolgorukov sofort ein wertvolles Portrait von sich selbst. Er war überdies zu weiteren Gnadenbezeigungen gegenüber den Dolgorukovs bereit, wenn diese seine »Verknüpfung« mit dem Zaren weiterhin »unterstützen wollten«. Konkret hatte er dabei die vorgeschlagene Erhebung in den Reichfürstenstand im Sinn. Gleichzeitig war der Kaiser immer noch um die Aufrechterhaltung der Allianz mit Russland besorgt und ordnete Wratislaw an, gemeinsam mit Ostermann eine offizielle Erklärung des
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Zaren über die »fortdauernde Bündnis« zu erreichen. Dies erwartete er sich von einem durch so »nahe Anverwandtschaft« mit ihm »ganz eng verknüpften Bundesgenossen«. Die Charme-Offensive des Wiener Hofes führte also offensichtlich wieder zu einem erhöhten Einsatz von Begriffen, die wir als Synonyme für die Freundschaft herausgearbeitet haben. Doch der plötzliche Tod Peters II. im Januar 1730 ließ es nicht mehr notwendig erscheinen, die Dolgorukovs »verbündig« zu machen. Wratislaw berichtete, dass das bereits übersandte Portrait »am vorigen Ort« nicht mehr gebraucht werde, und bat um die Übermittlung weiterer drei Konterfeis für alle Mitglieder des Obersten Geheimen Rates. Der Kaiser schickte diese angesichts der unvorhersehbaren Lage am russischen Hof sofort ab und wies seinen Gesandten dazu an, diese in Abstimmung mit Ostermann zu verteilen. Dabei sollte er die Dolgorukovs aufgrund ihres »verringerten Credits« nicht »gänzlich bei Seite lassen«. Diese Worte deuten darauf hin, dass nunmehr andere Minister des russischen Hofes kultiviert werden mussten. Das waren vor allem Ostermann und Golicyn, über die man den »ungebrochenen Willen« des Kaisers für das »Bündnis« mit der neuen Zarin kommunizieren wollte. Diese Allianz betrachtete der Kaiser nämlich trotz des Todes des anverwandten Zaren weiterhin als »anständig« und »nutzbar«. Für Wratislaw begann mit dem Regierungsantritt Anna Ivanovnas ein wesentlich erfolgreicherer Abschnitt seiner Tätigkeit in Russland. So erlangte der Ambassadeur hohen Einfluss am Hof der neuen Zarin. Der folgende Ausblick über sein diplomatisches Wirken am russischen Hof in den ersten Regierungsjahren Anna Ivanovnas stellt daher die Antithese zu seiner bisherigen Tätigkeit im fremden Machtzentrum dar.
3.3. Ausblick statt Rückblick: Wratislaws erfolgreiche Interaktion mit dem Hof Anna Ivanovnas Das Jahr 1730 setzte in mehrfacher Hinsicht neue Maßstäbe für die zwischenstaatlichen Beziehungen. So brachte das unerwartete Ableben Peters II. einen abermaligen Herrscherwechsel mit sich, der nach einer kurzen Phase heftiger innenpolitischer Instabilität im Regierungsantritt von Anna Ivanovna resultierte. Damit war Wratislaw abermals vor die Herausforderung gestellt, die wechselnden Eliten für sich und seinen Hof zu gewinnen. Die dabei herangezogenen Kommunikationsstrategien wurden auch in diesem Fall von der traditionellen Historiographie kaum in den Blick genommen – das, obwohl das Jahr 1730 gleichzeitig mit einer Veränderung der europäischen Großwetterlage verbunden war und die Karten zwischen den Bündnispartnern zum Teil neu ge-
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mischt werden mussten. In diesem Zusammenhang war es für den Wiener Hof und seine Gesandten von besonderem Interesse, die neue Herrscherin und deren Vertraute am russischen Hof für sich zu gewinnen. Der plötzliche Tod des jungen Zaren führte in den ersten Monaten dieses Jahres zu einem Machtvakuum am russischen Hof. Die daraus resultierenden Bestrebungen der unter der Regierung Peters II. erstarkten russischen Aristokratie, die Machtbefugnisse des Sukzessors einzuschränken, bekamen in der Historiographie teils das Prädikat »progressive Konstitutionsbewegung«, teils die Bezeichnung »Oligarchenrevolte« verliehen. Dafür machten sich die Hochadeligen auf die Suche nach einer scheinbar schwachen Nachfolgerin, die sie in der Frau des verstorbenen Herzogs Friedrich Wilhelm von Kurland (1692–1711) und der Tochter Ivans V. (1682–1696), Anna Ivanovna, zu finden glaubten. Diese Bestrebungen der sogenannten »Verchovniki« scheiterten allerdings am Widerstand einer Adelsopposition und der mächtigen Garderegimenter, weshalb Anna bereits am 25. Februar 1730 zur Alleinherrscherin ausgerufen wurde. Der gescheiterte Aufstand führte nicht nur zu einer Auswechslung eines Großteils der Elite am russischen Hof, sondern auch zu einer politischen Umstrukturierung des Landes durch die Wiedereinrichtung des Senats als oberstes Regierungsorgan und die Etablierung des Ministerkabinetts als persönliches Beratungsgremium der Herrscherin.1122 Neben diesen innerrussischen Umwälzungen war der kaiserliche Gesandte an der Schwelle der Jahre 1729/30 auch mit ersten Veränderungen der europäischen Bündnispolitik konfrontiert, die einen allmählichen Wandel der politischen Großwetterlage in den Jahren 1730 bis 1732 einleiten sollten. So wurde durch den Abschluss des Vertrages von Sevilla im November 1729 der Krieg zwischen England und Spanien beigelegt. Die beiden Mächte einigten sich darin auf die Zuerkennung der britischen Besitzungen in Gibraltar und Menorca sowie die Einrichtung der spanischen Sekundogenitur im heutigen Italien. In der Hoffnung, die turbulente innerrussische Lage auf internationaler Ebene ausnützen zu können, traten England, Frankreich und Spanien bereits im Jänner 1730 geschlossen an den Kaiser heran, um den Einzug spanischer Truppen in Parma und der Toskana durchzusetzen. Doch sowohl die aristokratische Übergangsregierung als auch die Zarin signalisierten dem Kaiser ihre Unterstützung und entschieden sich für einen Bluff: Entgegen allen Erwartungen wurden Hilfstruppen im Baltikum stationiert, ohne diese in weiterer Folge jedoch wirklich ins
1122 Siehe dazu pars pro toto die neuesten Werke der russischsprachigen Historiographie: I.V. Kurukin/A.V. Plotnikov, 19 janvarja-25 fevralja 1730 goda: sobytija, ljudi, dokumenty, Moskva 2010; N.N. Petruchincev, Carstvovanie Anny Ivanovny : Formirovanie vnutrepoliticˇeskogo kursa i sudby armii i flota 1730–1735 g., Sankt-Peterburg 2001.
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Reich überführen zu wollen. Die Machtdemonstration wirkte – die europäischen Mächte waren von deren Einsatzbereitschaft überzeugt.1123 Die Höfe in St. Petersburg/Moskau und Wien arbeiteten daraufhin gemeinsam auf eine gewaltlose Lösung des Konflikts hin und riefen dadurch Uneinigkeiten im »Sevillablock« hervor. Am Übergang der Jahre 1731/32 waren daher keine klaren Grenzen innerhalb und zwischen den alten Machtblöcken zu sehen. An allen Höfen wurden mögliche Pläne für eine Neuordnung des Bündnissystems geschmiedet, was schließlich auch zur Einrichtung eines Bündnisses zwischen England und dem Kaiser führte. Schließlich wurden im Juli 1731 auf friedlichem Wege Nägel mit Köpfen in der »questio an« gemacht: Spanien schloss sich der Achse London – Wien an und Don Carlos erhielt Parma und die Toskana als kaiserlicher Vasall. Auf diese Zerschlagung der »Herrenhausener Allianz« folgte der Ausbau des Bündnisses zwischen Wien und St. Petersburg/ Moskau durch die Wiederaufnahme der in den 1721 eingefrorenen britischrussischen Diplomatiebeziehung. Gleichzeitig bemühten sich Wien und St. Petersburg/Moskau um die Etablierung eines Bündnisses mit Dänemark. Beide Fragen waren mit der Entscheidung der Konflikte in »Deutschland« verbunden: Schleswig blieb gegen eine entsprechende Entschädigungszahlung an den Herzog von Holstein im Besitz Dänemarks, der Konflikt um Mecklenburg löste sich durch den Tod des Herzogs von selbst. Im Mai 1732 folgte der Abschluss eines Bündnisses zwischen Dänemark, dem Kaiser und Russland. Der Austausch diplomatischer Vertreter zwischen England und Russland mündete schließlich im Handelsabkommen von 1734. Die eben skizzierten innerrussischen und gesamteuropäischen Umwälzungen stellten die kaiserlichen Gesandten am russischen Hof vor neue Kommunikationsbedingungen.1124 Dachte man im Jänner und Februar 1729 noch über Portraits für die nach wie vor einflussreiche ehemalige Favoritenfamilie Dolgorukij nach, so führte die unumschränkte Machtergreifung Anna Ivanovnas und der damit verbundene Fall der Dolgorukovs zu einem sofortigen Strategiewechsel. Noch bis zur Krönung der Zarin im Mai 1730 versuchten die kaiserlichen Vertreter, sich allen Parteien gegenüber offen und unparteiisch zu verhalten. Das wollte man etwa durch die Überreichung von Porzellan und ungarischen Weinen an die Zarin sowie von kaiserlichen Portraits an die russischen Minister zur Schau stellen. Außerdem kam es in diesen Monaten auch zu einer ersten Tuchfühlung der neuen Herrscherin mit Wratislaw im Rahmen gemeinsamer Tischgesellschaften, bei denen auch vereinzelte Freundschaftsgesten ausgetauscht wurden. Die Stabilisierung der innenpolitischen Verhältnisse durch die Krönung Anna Ivanovnas, bei der erstmals auch die Vertreter des Kaisers anwesend waren (!), legte 1123 Siehe dazu ausführlich: Nelipovicˇ, Sojuz, 56–87. 1124 Siehe dazu ausführlich: Nelipovicˇ, Sojuz, 56–87.
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den Grundstein für erste große Annäherungsgesten von beiden Seiten. Wratislaw wurde im Mai 1730 der Andreasorden verliehen, worauf der Wiener Hof mit einer äquivalenten Ehrenbezeugung für den russischen Vertreter in Wien reagierte. Für die kaiserliche Außenpolitik war überdies die Gewinnung des neuen Favoriten und alten Vertrauten der Zarin aus kurländischen Tagen, Ernst Johann von Biron (1690–1772), von besonderer Bedeutung. Der einflussreichste Mann am Hof Anna Ivanovnas wurde bereits im Juni 1730 mit einem kaiserlichen Portrait beschenkt und in den Reichsgrafenstand erhoben. Trotz alledem lässt sich auch in dieser Phase noch eine gewisse Vorsichtigkeit der außenpolitischen Akteure gegenüber den neuen Eliten festmachen. Um den alten russischen Adel nicht zu verärgern, übergab Wratislaw dem späteren Kabinettsminister, Fürst ˇ erkasskij (1680–1742), ein ebensolches Portrait. GleichAleksej Michajlovicˇ C zeitig wurden die zwischenstaatlichen Beziehungen in den Monaten Juni bis August 1730 durch kleine diplomatische Spannungen belastet, die im weitesten Sinne mit der Titelfrage verbunden waren. Der russische Hof zeigte sich ein wenig verstimmt darüber, dass der Kaiser mit den neuen Credentialien für Wratislaw und Hochholzer nicht ein persönliches Notifikations-Handschreiben von ihm und der Kaiserin mitschickte, an die sich Anna Ivanovna zuvor gewandt hatte. Der Konflikt konnte allerdings durch die Verteilung weiterer Portraits aus der Welt geschaffen werden.1125 Die von Wien und seinem Vertreter zur Annäherung an die Zarin und ihren Favoriten sowie zur Lösung der zwischenstaatlichen Verspannung eingesetzten Gesten zeigten eine positive Wirkung. Ab Ende des Jahres 1730 nahm Wratislaw regelmäßig an gemeinsamen Kartenabenden mit Anna Ivanovna teil. Außerdem erwies die Herrscherin ihm und damit dem Kaiser besondere Ehrenbezeugungen im Rahmen eines pompösen Namenstagsfests Karls VI. im Hause Wratislaws, das der Gesandte in einem finanziellen Kraftakt veranstaltete. Beiderseits wurden dabei die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Höfen offen zur Schau gestellt. In den darauffolgenden Jahren des Wandels der europäischen Bündnispolitik 1731 bis 1732 wurden die russische Alleinherrscherin und ihr Favorit von vielen Seiten mit Freundschaftsgesten förmlich überhäuft. Es kam zu einem wahren Geschenkswettstreit, in dem sich die kaiserlichen sowie die preußischen Vertreter als Allianzpartner der Zarin und der französische Gesandte gegenüberstanden. Gerade das lange Ausbleiben des Grafendiploms für Biron und das kaiserliche Zögern hinsichtlich der Zusicherung des dazugehörigen Lehens machten dem französischen Hof Hoffnungen auf eine Gewinnung des einflussreichen Günstlings mit Hilfe von Konkurrenzgeschenken. In diese Frage mischte sich ab Mitte 1731 auch der englische Gesandte Rondeau als 1125 Siehe dazu die Berichte Wratislaws des Jahres 1730: ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 5, Berichte 1729–1730 III; ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 6, Berichte 1730 IV–XII.
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Aufblühen und Kultivierung der diplomatischen Beziehungen
soeben gewonnener Bündnispartner ein, der nach dem Allianzwechsel gemeinsam mit Wratislaw gegen die französische Einflussnahme am russischen Hof auftrat. Die Umwerbung Russlands durch die Franzosen zeigte jedoch nur wenig Wirkung, was sich in der weiteren Bestätigung der Bündnistreue durch Anna Ivanovna im Rahmen von Hoffesten und vor allem in der Erneuerung des Bündnisses mit dem Kaiser im August 1731 zeigte.1126 Das gute Einvernehmen dauerte im Laufe des Jahres 1732 an und konnte auch nicht dadurch gestört werden, dass Wratislaw im Oktober desselben Jahres nicht an der Audienz des dänischen Gesandten zur Anerkennung des russischen Kaisertitels teilnahm – trotz des kurz zuvor abgeschlossenen Bündnisses der Allianzpartner mit Dänemark. Ein weiterer Katalysator für die Annäherung des Kaisers und der Zarin war die lang ersehnte Umsiedlung des Hofes von Moskau nach St. Petersburg im Jänner 1732. Aufgrund der Erfahrungen aus der Ära Peters II. wurde von den kaiserlichen Vertretern wenig Einfluss darauf genommen, wie man sich generell bei der Einmischung in innere Angelegenheiten zurückhielt – mit Ausnahme von gescheiterten Versuchen der Errichtung von Heiratsprojekten mit dem russischen Hof. Hinsichtlich der innerrussischen Angelegenheiten fungierte Wratislaw daher eher als Nachrichtenübermittler. Somit hinterließ er interessante Berichte über die offizielle Einrichtung des Ministerkabinetts im November 1731, den Erlass der neuen Sukzessionsordnung Anna Ivanovnas im Dezember desselben Jahres sowie über das zunehmende außenpolitische Auseinanderdriften des kaiserfreundlichen Grafen Ostermann und des frankophilen Burkhard Christoph Graf Münnich (1683–1767) als einflussreichster Minister in den ersten Regierungsjahren Anna Ivanovnas.1127 Dieser Ausblick auf die Tätigkeiten Wratislaws in den ersten beiden Regierungsjahren der neuen Zarin hat gezeigt, dass es dem kaiserlichen Vertreter gelungen war, den russischen Hof in dieser Zeit für sich zu gewinnen. Symbolisch kam dies unter anderem dadurch zum Ausdruck, dass die Zarin dem Gesandten im Jänner 1733 vor seiner endgültigen Rückreise nach Wien ein mit Diamanten besetztes Portrait mit ihrem Konterfei überreichte. Über dieses wertvolle Abschiedsgeschenk erfahren wir aus den Berichten anderer auswärtiger Gesandter. Rondeau schrieb darüber an seinen Hof: »Her Majesty has made count Wratislau a present of her picture set with very fine diamonds valued at about ten thousand crowns.«1128 Auch Mardefeld berichtete über die Ge-
1126 Siehe dazu die Berichte Wratislaws des Jahres 1731: ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 7, Berichte 1731. 1127 Siehe dazu die Berichte Wratislaws der Jahre 1731 und 1732: ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 7, Berichte 1731; ÖStA, HHStA, StA, RU II, Kt. 8, Berichte 1732. 1128 Bericht Rondeaus an Townshend v. 20. Januar 1733, NSA, Secretaries of State: State Papers
Ausblick statt Rückblick
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schenksübergabe, die im Rahmen eines gemeinsamen Abendessens mit der Zarin erfolgt sein soll.1129 In einer seiner vorangehenden Relationen hielt er über die Abschiedsaudienz des kaiserlichen Ambassadeurs folgendes fest: »Der Graf von Wratislaw hat am verwichenen Dienstage seine abschieds-audientz gehabt, und gedencket in wenig tagen abzureisen. Er wird von allen, die ihn kennen, sehr regrettiret.«1130 Damit schließt sich gewissermaßen der Kreis zum Beginn dieser Ausführungen über die Tätigkeit Wratislaws am Hofe Anna Ivanovnas. So hatte er damals durch die Übergabe von kaiserlichen Portraits an ausgewählte Mitglieder der russischen Hofelite versucht, die Gunst der neuen personellen Umgebung der Herrscherin zu gewinnen. Damit war Wratislaw nach einigen Jahren der Erfolglosigkeit unter Peter II. der Durchbruch in Russland gelungen und er genoss allgemeines Ansehen im fremden Machtzentrum. Die unter anderem mit den kaiserlichen Portraits erworbene Gunst der russischen Herrscherin sowie der sie umgebenden Hofelite wurde am Ende seiner langjährigen Tätigkeit im fremden Machtzentrum durch den Einsatz von genau diesem Symbol zum Ausdruck gebracht – dem Abbild der gastgebenden Zarin. Was unter Anna Ivanovna möglich und scheinbar relativ selbstverständlich war, wäre wenige Jahre zuvor unter Peter II. noch völlig undenkbar gewesen. Die kurze Gegenüberstellung dieser beiden »Amtsperioden« Wratislaws hat also gezeigt, dass das persönliche Verhältnis zum gastgebenden Souverän eine nicht zu unterschätzende Rolle für den Erfolg der Kommunikation eines Gesandten am fremden Hof spielte. Diese vielfach unberechenbare persönliche Komponente muss also bei der Analyse der Tätigkeit frühneuzeitlicher Gesandter ins Kalkül gezogen werden, auch wenn die aktuelle Forschung vielfach dazu neigt, mit Hilfe der Formulierung von »allgemeingültigen« und »normativen« Richtlinien ein Erfolgsrezept für die Interaktion der Diplomaten zu präsentieren. Bei allen Vorteilen, die solche Vorhaben mit sich bringen, darf nicht vergessen werden, dass es auch zwischen den außenpolitischen Akteuren an den frühneuzeitlichen Höfen ganz einfach »menschelte«. Zwischenmenschliche Kommunikation war also zu keiner Zeit gänzlich kalkulier- und steuerbar. Das kann am Ende dieser Studie ohne jeden Zweifel festgehalten werden.
Foreign, Russia, SP91/14, January–August 1733, 10v ; Siehe dazu auch: A. A. Polovcov (Hg.), SIRIO, Tom 66, Sankt-Peterburg 1889, 546. 1129 Vgl. Bericht Mardefelds an Friedrich Wilhelm I. v. 31. Januar 1733, GStA PK, I. HA, Rep. 11 Geheimer Rat Auswärtige Beziehungen Akten, Nr. 6716, Berichte Mardefeld 1733, 29v. 1130 Bericht Mardefelds an Friedrich Wilhelm I. v. 11. Januar 1733, GStA PK, I. HA, Rep. 11 Geheimer Rat Auswärtige Beziehungen Akten, Nr. 6716, Berichte Mardefeld 1733, 9r.
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Gedruckte Archivalien und Quelleneditionen
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