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German Pages 372 Year 2014
Hyunseon Lee, Isabel Maurer Queipo (Hg.) Mörderinnen
Gender Studies
Hyunseon Lee, Isabel Maurer Queipo (Hg.)
Mörderinnen Künstlerische und mediale Inszenierungen weiblicher Verbrechen
Das Mörderinnen-Projekt wurde vom GeStu_S: Zentrum für Gender Studies Siegen großzügig finanziert und freundlich unterstützt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Frontispiz: Archangelus mortis – Isabella Dumancic 2013, mit freundlicher Genehmigung Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2358-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Archangelus mortis © Isabella Dumancic, 2013
Inhalt
Einleitung | 11
Hyunseon Lee/Isabel Maurer Queipo Vorspann I: Mörderinnen – von der Gatten- bis zur Serientötung | 17
Stephan Harbort Vorspann II: Alles für die Liebe: Der Fall Violette Nozière | 39
Peter Hiess/Christian Lunzer
MORDSZENARIEN IN DER LITERATUR Heroinen, Giftmischerinnen und verzweifelt Liebende. Eine kleine Typologie mordender Frauen in Literatur und Film von der Antike bis zur Gegenwart | 51
Heinz-Peter Preußer Vor Gericht. Kindsmord im Sturm und Drang und Heinrich Leopold Wagners Drama Die Kindermörderin (1776) | 89
Hyunseon Lee Maskerade des Begehrens: Lust- und Sexualmörderinnen in der deutschen Gegenwartsliteratur | 111
Irina Gradinari Vergewaltigung und Vergeltung: Mord als gewaltsame Genese des weiblichen Subjektes – André Brink, Karen Duve, Libuše Moníková | 135
Urania Milevski
WEIBLICHE VERBRECHEN IM FILM Ist ein weiblicher Hannibal Lecter denkbar? Die mediale Inszenierung von (realen) Serienmörderinnen | 161
Ruth Neubauer-Petzoldt Lady Snowblood (Shurayukihime, ಟ⨶㞷ጲ ) und Lone Wolf and Cub (Kozure Ôkami, Ꮚ㐃僲⊋ ). Ein Vergleich zwischen weiblicher und männlicher Rache im Manga und in der Filmadaption | 197
Andreas Becker Whatever Happened to Bette Davis? Die zweite Karriere der Hollywood-Diven im Psychothriller der 1960er Jahre | 219
Marcus Stiglegger
UNDOING MEN? MÖRDERINNEN IN DER O PER Die mordende Frau auf der Opernbühne – ein Rollenprofil im Spannungsfeld von Ästhetik und Moral | 235
Kadja Grönke Für eine Philosophie des Mordes. Mit Analysen zum Medea-Komplex im zeitgenössischen Musiktheater | 249
Michael Bastian Weiß
(KINDS-)MÖRDERINNEN UND MASSENMEDIEN „Erst die Kinder, nur zur Qual“: Der Fall Monika Weimar | 291
Peter Hiess/Christian Lunzer Kindsmord als Phänomen Ostdeutschlands? – Eine Analyse medialer Diskursverschiebungen | 305
Kathleen Heft
Die gute Mutter im Mörderinnendiskurs: Experten, Leute und Medien über Frieda Schulze und andere Fälle | 329
Eva Tolasch Abspann: „Die zarte Hand des Todes. Wenn Frauen morden…“ | 359
Peter Hiess/Christian Lunzer Kurzbiographien | 365
Einleitung H YUNSEON L EE /I SABEL M AURER Q UEIPO
‚Verbrecherinnen werden nicht als Verbrecherinnen geboren, sondern dazu gemacht. ދSo könnte man – frei nach Simone de Beauvoir – argumentieren, wenn es um die mediale Konstruktion und Repräsentation von Frauen geht, die töten. Weibliche Verbrechen werden nicht allein als Normverletzungen im ethischen, juristischen oder humanitären Sinne wahrgenommen – sondern auch und vor allem als Verstöße gegen Gendernormen. Unter dieser Prämisse fand am 13.-14. Oktober 2011 eine interdisziplinäre Tagung zum Thema Mörderinnen: Verbrechen – Körper – Inszenierung an der Universität Siegen statt. Die interdisziplinäre Konferenz nahm sich eines Themas an, das erst seit kurzem auf stärkere Beachtung stößt: Frauen und Verbrechen. Frauen sind lange Zeit in den feministisch orientierten Kulturwissenschaften vor allem als Opfer von Verbrechen thematisiert worden (Bronfen 1994, Birch 1993, Dane 2005). Die Tagung hat hingegen Frauen selbst als Täterinnen in den Blick genommen. Im Zentrum stand die Beobachtung ihrer sozialen Wahrnehmung, der diskursiven Kategorisierungen, der kulturellen und historischen Deutungsmuster und der medialen Inszenierungen ihrer Körper. Es wurde danach gefragt, wie sich Geschlechterkonzepte in den Kriminalgenres – sowohl hochelaborierten Inszenierungsformen wie auch populären Genres ausdrücken, welche Körperkonzepte dort zum Ausdruck gebracht werden und welche Einsichten die Diskussion um die ‚kriminellen Körper ދfür aktuelle Genderdiskurse, insbesondere ihre Körperkonzepte bietet. In der vorliegenden Publikation liegen die Ergebnisse nun vor, die durch über den Tagungsrahmen hinausgehend entwickelte Forschungsinteressen und durch neue Beiträge erweitert und ergänzt wurden. Die einzelnen Beiträge fokussieren ‚Grenzfälle‘ gängiger Gender-Schemata und analysieren stärker als bereits vorliegende Arbeiten die soziokulturelle und mediale Inszenierung von mordenden Frauen in Relation zu entsprechenden Ent-
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würfen des Männlichen. Es werden die wechselsseitige Konstituierung von Geschlecht, Körper, Inszenierung und Verbrechen präsentiert und damit an die neuere Geschlechterforschung (vor allem seit Judith Butler) angeknüpft. Gleichzeitig werden kulturelle und soziale Formen untersucht, die Weiblichkeit und Männlichkeit in Relation zueinander definieren, implementieren und immer wieder neu performativ affirmieren. In interessanter Weise werden diese Formen und Prozesse der Geschlechterkonstituierung dort sichtbar, wo ihre vermeintlich selbstverständlichen Spielregeln durchbrochen und Konventionen und Normen außer Kraft gesetzt werden. Gerade das Phänomen des Verbrechens (und dessen extreme Form ‚Mord‘) eignet sich besonders gut, um diese Konstellationen herauszuarbeiten. Das Thema Mord ist sowohl in der Populärkultur als auch in der ‚hohen‘ Kunst beheimatet und bietet daher die Chance, Analysemodelle für high und low culture im Hinblick auf die Fragen der Geschlechter zusammenzubringen. Das Repertoire im vorliegenden Band reicht von der Kinder- über die Giftbis hin zur Lust- und Serienmörderin. Im Rahmen dieser kultur- und medienwissenschaftlich ausgerichteten Studien sind daher die Reaktualisierungen und Modifizierungen kulturell tradierter Schemata, aber auch fiktionaler Verbrecher- und Verbrecherinnenfiguren von besonderer Bedeutung, um weibliche Gewalt zu erklären und um tatsächliche Verbrechen plausibel darzustellen (z.B. Medea, Judith, Salome, Elektra, Lady Mcbeth). In der Forschung sind zudem fast ausschließlich wirkliche und fiktive Mörderinnen und ihre Wahrnehmung in öffentlichen Diskursen und Narrativen erforscht worden, während eine deutlichere Öffnung dieses Fokus‘ hin zu einer vergleichenden Perspektive, die auch zeitgleiche Codierungen von männlicher Gewalt mit berücksichtigt, bisher fehlte. Neben einem Panorama von der Gatten- bis zur Serienmörderin und Einblicken in die antiken, mythologischen und biblischen Modelle böser Frauen, umfassen die Beiträge u.a. einen Zeitraum von der Mitte des 18. Jahrhunderts mit dem Fall der Kindermörderin Eva Humbrecht bis zur Gegenwart, um entscheidende Phasen der Verschiebung von Geschlechtervorstellungen abzudecken. Das späte 19. Jahrhundert ist aufgrund der Tendenzen zur Normalisierung (Foucault 1989, Link 2006) und zur Naturalisierung von Gender als wichtiger Einschnitt in der Geschichte westlicher Gesellschaften anzusprechen. Im Zuge der beschleunigten sozioökonomischen Modernisierung im Gefolge der Industrialisierung sind einerseits Tendenzen zur Entdifferenzierung von Geschlechterrollen zu beobachten, die z.B. zur verstärkten Einbindung von Frauen in Bildungsinstitutionen und Erwerbsarbeit und zu ihrer Anerkennung als politische Subjekte führen (Reckwitz 2006). Aber es erweitern sich auch die Spielräume für die Gestaltung von Männlichkeit (etwa in der Figur des fin de siècle-Dandy, Bedeutung emoti-
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onaler Kompetenzen im Arbeitsleben). Einerseits werden Gender-Zuschreibungen als provisorische kulturelle Formen behandelt, die im Sinne von Jürgen Links ‚flexibler Normalisierung‘ verhandelt werden können. Es kommt aber auch zu Phasen der Reaffirmation von Geschlechterdifferenzen, wie sie sich etwa in der Naturalisierung von Gender und von Verbrechen (z.B. bei Cesare Lombroso), im Faschismus (vgl. die Forschungen zu männlicher Gewalt von Klaus Theweleit), in den 1950er Jahren und in der Gegenwart (Genetik, Neurowissenschaften) manifestieren. Es zeichnet sich generell keine lineare historische Entwicklung von Genderkonzepten für VerbrecherInnen mehr ab, sondern vielmehr Neuansätze, Innovationen, aber auch Rückfällen in längst obsolet geglaubte Muster (Neroni 2005). Die sprachlich-begriffliche Fassung und die audiovisuelle Inszenierung von Kriminalität und Gewalt konturieren historische Verschiebungen und gesellschaftliche Reaktionen darauf besonders scharf. Daher beleuchten die Beiträge solche konkreten Manifestationen von de- und regendering in unterschiedlichen historischen Kontexten. Des Weiteren gewinnt der Körper als vermeintlich unhintergehbarer biologischer Gegenstand für Geschlechtsidentität an Gewicht (Butler 1993) und bleibt in diesem ambivalenten Status Hauptelement der Genderforschung (Fausto-Sterling 2000). Die Repräsentationsformen von Geschlechtern – sowohl von Weiblichkeit als auch Männlichkeit – sind zwar im historischen Kontext v.a. der Entwicklung des Nationalismus schon in früheren Jahrzehnten weitgehend untersucht worden (Bovenschen 1979, Theweleit 1977, Mosse 1997). Die Visualisierungsformen und die Präsentation von Körpern und Handlungen gewinnen jedoch durch die kulturelle Dominanz neuer audiovisueller Medien an aktueller Bedeutung, weshalb sich der den Fokus von rein literarischen oder diskursiven Gewaltdarstellungen (Morris 1990, Knelman 1998, Barnett 2006, Kord 2009) auch auf die visuelle Präsentationen richtet. Der Ansatz audiovisueller Repräsentationsformen der Geschlechter in der Männlichkeitsforschung – insbesondere im Anschluss an das Maskeraden-Konzept – ist vor allem im internationalen Kontext diskutiert worden ist (Benthien/Stephan 2003). Diese Aspekte werden daher im vorliegenden Band auch für ein deutschsprachiges Publikum unter anderem an Beispielen wie den japanischen Animes und USamerikanischen Psychothrillern untersucht. Im Zuge des performative turn sind andererseits künstlerische Inszenierungen und Körperkonzepte – etwa weiblicher Körper und/als Performanz, sei es Cindy Sherman, Madonna oder Lady Gaga u.a. – bereits erörtert worden (Funk/Brink 1999). Bereits vorliegende Studien zu audiovisuellen Inszenierungsformen von Gender sind in der Regel bisher nicht pointiert auf ‚VerbrecherInnenkörper‘ bezogen, selten liegen bisher Untersuchungen zum ‚kriminellen ދKörper vor. Diese Lücke möchte mit diesem Band
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geschlossen werden. Es wird zudem gezeigt, dass die bewussten Auseinandersetzungen mit der Konstruktion von Körper und Gender auf globale populärkulturelle Phänomene übertragbar sind. Andere ForscherInnen haben ihre besondere Aufmerksamkeit darauf gelegt, dass Verbrechen von Frauen nicht nur im juristischen und ethischen Sinne als Normverstoß gewertet werden, sondern auch als Abweichung vom Weiblichen schlechthin gelten (Schurmann/Kauflin 2000, Seal 2010, Hart 1994, Arnot/Usborne 1999). In öffentlichen Diskussionen in den Massenmedien (Presse, TVBerichterstattung, Dokumentationen) erscheinen juristisch-ethische Kategorien also keineswegs neutral, sondern sind durch immer mitlaufende Gendernormen geprägt. Implizite Vorstellungen von ‚richtigen‘ Geschlechterverhältnissen und Geschlechtsidentitäten werden dann besonders sichtbar, wenn männliche Gewalt selbstverständlich erscheint, weibliche Gewalt aber zum Skandalon wird. Dies schlägt sich auch in geschlechtsspezifischen (Selbst-)Zuschreibungen nieder: aktive kriminelle Handlungsmacht, die vorrangig Männern zugeschrieben wird, und die Zurückweisung solcher Handlungsmacht bei/von Frauen (Birch 1993, kritisch: Morrissey 2003). Hinzu kommt, dass auch für Normverstöße krimineller Art kulturelle und genderspezifisch codierte Muster bereitliegen und diese wiederum genderspezifische Deutungsmuster hervorrufen (vgl. zum Typus der Giftmörderin Weiler 1998, der Kindsmörderin Barnett 2006, des traumatisierten Opfers, das zur Täterin wird, Boyle 2005) wie auch die hier vorliegenden Präsentationen der Mörderinnen Violette Nozière und Monika Weimar anschaulich zeigen. Eine Herausforderung für eine feministisch orientierte Genderforschung stellen daher Frauen(figuren) dar, die auch diese Muster und Erklärungsansätze sprengen, z.B. Frauen, die foltern – wie z.B. die US-Soldatin Lynndie England in Abu Ghraib – oder vergewaltigen und töten wie das ‚Monsterǥ Aileen Wuornos, ohne in das Schema traumatisierte Opfer-Täterin zu fallen (vgl. Morrissey 2006 über die kanadische Mörderin K. Homolka). Die Relation von Gender und Verbrechen bzw. Mord und ihre Inszenierung in unterschiedlichen Medien ist bislang vor allem in der englischsprachigen Forschung untersucht worden (Arnot/Usborne 1999, Schurmann/Kauflin 2000, Neroni 2005, Burfoot/Lord 2006, Seal 2010) und die deutsche Diskussion weist vorwiegend Publikationen aus den 1990er Jahren auf, die auf den neuesten Stand zu bringen wären (Weiler 1998, Frink 1998, Hacker 1998, Henschel 1998). Der vorliegende Band möchte mit den Beiträgen von SchriftstellerInnen und WissenschaftlerInnen aus unterschiedlichen Disziplinen – den Kultur-, Literatur-, Medien- und Musikwissenschaften, der Kriminologie, der Philosophie und Soziologie – zu Repräsentationen von Mörderinnen in Bild, Film, Literatur, Drama, Oper und Massenmedien auch dazu beitragen.
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Die Herausgeberinnen möchten sich bei allen, die an diesem Band mitgearbeitet haben, ganz herzlich bedanken. Ein ganz besonderer Dank gilt dem Kriminalhauptkommissar Stephan Harbort und dem Autorenduo Peter Hiess und Christian Lunzer für ihre anregenden Beiträge, Nikola Glaubitz für die mit Hyunseon Lee Konzipierung und Veranstaltung der Tagung und schließlich dem GeStu_S: Zentrum für Gender Studies Siegen für die großzügige (finanzielle) Unterstützung bei der Ermöglichung dieser Projekte.
L ITERATUR Arnot, Margaret L./Usborne, Cornelie (Hgg.): Gender and Crime in Modern Europe, London 1999. Barnett, Barbara: „Medea in the media. Narrative and myth in newspaper coverage of women who kill their children“, in: Journalism 7(4) (2006), S. 411432. Benthien, Claudia/Stephan, Inge (Hgg.): Männlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2003. Birch, Helen: Moving targets. Women, murder and representation, London 1993. Beauvoir, Simone de: Le Deuxième Sexe, Paris 1949. Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit, Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt a.M. 1979. Bronfen, Elisabeth: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München 1994. Burfoot, Annette/Lord, Susan (Hgg.): Killing women: the visual culture of gender and violence, Waterloo/Ontario 2006. Dane, Gesa: ,Zeter und Mordioұ. Vergewaltigung in Literatur und Recht, Göttingen 2005. Dinges, Martin (Hg.): Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute, Frankfurt a.M./New York 2005. Fausto-Sterling, Anne: Sexing the body. Gender politics and the construction of sexuality, New York 2000. Foucault, Michel [1983]: Sexualität und Wahrheit 1-3, Frankfurt a.M. 1989. Frink, Alexandra: Die starken schönen Bösen – Mörderinnen im Film, Alfeld/Leine 1998.
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Hacker, Hanna: Gewalt ist: keine Frau. Der Akteurin oder eine Geschichte der Transgression, Königstein/Taunus 1998. Funk, Julika/Brueck Cornelia (Hgg.): Fremd-Körper. Körper-Konzepte, Tübingen 1999. Hart, Lynda: Fatal Women: Lesbian Sexuality and the Mark of Aggression, Oxford/New York 1994. Henschel, Petra: Hexenjagd: weibliche Kriminalität in den Medien, Frankfurt a.M. 1998. Knelman, Judith: Twisting in the wind. The murderess and the English press, Toronto 1998. Kord, Susanne: Murderesses in German Writing. Heroines of Horror, Cambridge 2009. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen 2006. Moi, Toril: Sex, Gender and the Body. The student edition of WHAT IS A WOMAN, Oxford 2005. Morris, Virginia B.: Double jeopardy. Women who kill in Victorian fiction, Lexington 1990. Morrissey, Belinda: „,Dealing with the Devil: Karla Homolka and the Absence of Feminist Criticism“, in: Burfoot, Annette/Lord Susan (Hgg.): Killing Women. The Visual Culture of Gender and Violence, Waterloo/Ontario 2006, S. 83-103. Dies.: Morrissey, Belinda: When women kill: questions of agency and subjectivity, London 2003. Mosse, George: Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit, Frankfurt a.M. 1997. Neroni, Hilary: The Violent Woman. Femininity, Narrative, and Violence in Contemporary American Cinema, New York 2005. Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne bis zur Postmoderne, Weilerswist 2006. Schurman-Kauflin, Deborah (2000): The new predator: women who kill Seal, Lizzie: Women, murder, and femininity. Gender representations of women who kill, New York 2010. Steffen, Therese (Hg.): Masculinities – Maskulinitäten. Mythos – Realität –Repräsentation – Rollendruck, Stuttgart/Weimar 2002. Theweleit, Klaus: Männerphantasien, Reinbek 1977 Weiler, Inge: Giftmordwissen und Giftmörderinnen : eine diskursgeschichtliche Studie, Tübingen 1998. Weissberg, Liliane (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt a.M. 1994.
Vorspann I: Mörderinnen – von der Gatten- bis zur Serientötung S TEPHAN H ARBORT
„Wenn Grausamkeit und Blutdurst den Mann entehren, ihm den allgemeinen Absehen Preis geben, und mit dem Fluch der beleidigten Menschheit brandmarken; so findet die Sprache keinen Ausdruck, die Gefühle der empörten Natur, zu bezeichnen, wenn ein Weib diesen unnatürlichen Trieben frönt.“ [Aloys Freyherr von Mednyansky]1
I. E INFÜHRUNG Wenn ein Tötungsdelikt verübt wird, ist das vornehmlich Männersache. Die Kriminalgeschichte kennt beispielsweise keine bzw. wenige Amokläuferinnen, Serienmörderinnen, Massenmörderinnen, Sexualmörderinnen oder Raubmörderinnen. Das Bundeskriminalamt bemerkt in seinen amtlichen Zahlenkolonnen zur Tötungskriminalität in Deutschland seit Jahrzehnten unverändert: „Die ermittelten Tatverdächtigen bei Mord und Totschlag sind in der Regel männliche Erwachsene.“ In konkreten Zahlen heißt das für das Berichtsjahr 20112: Nur 13,4
1
Aloys Freyherr von Mednyansky: Elisabeth Báthory. Eine wahre Geschichte, 1812.
2
Bundeskriminalamt: Polizeiliche Kriminalstatistik Bundesrepublik Deutschland, Berichtsjahr 2011, Wiesbaden 2012, S. 148.
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Prozent der bei ,Mordǥ überführten Täter sind Frauen, bei den Delikten ,Totschlagǥ und ,Tötung auf Verlangenǥ sind es 12,9 Prozent. Dass wesentlich mehr Männer als Frauen tödliche Gewalt anwenden, ist keine neue kriminologische Erkenntnis – sie gilt seit Jahrhunderten für alle Kulturen und Länder. So kommen auch Daly und Wilson3 bei dem Vergleich von 35 Untersuchungen zur Tötungskriminalität, die in unterschiedlichen Kultur- und Zeitepochen durchgeführt wurden, zu einem ähnlichen Ergebnis: 91 Prozent der Täter waren Männer. Dass Frauen auch besonders häufig zu Opfern männlicher Gewalt werden – so wird es jedenfalls immer wieder einmal in populären Medien verbreitet –, stimmt indes nicht. Laut BKA-Statistik sind bei Tötungsdelikten nur 37 Prozent der Opfer weiblich. Es gibt einige Merkmale, die im Zuge wissenschaftlicher Untersuchungen allgemein bei Mörderinnen und Totschlägerinnen gehäuft festgestellt werden: Die Frauen sind jünger als 40 Jahre, verheiratet oder leben in einer festen Beziehung, stammen aus ungünstigen Familienverhältnissen, haben ein geringes bis durchschnittliches Intelligenz- und Bildungsniveau, gehen einer nicht-privilegierten beruflichen Tätigkeit nach, leiden unter Minderwertigkeitsgefühlen und Beziehungsstörungen, werden als unreife Persönlichkeiten beschrieben, kennen das Opfer persönlich und begehen die Tat im häuslichen Milieu. Allerdings sind diese Erkenntnisse nur bedingt geeignet, um die Ursache für weibliche Tötungsdelinquenz herzuleiten, denn viele Frauen entsprechen genau dieser Beschreibung, ohne jemals kriminell zu werden. Weil wir noch so wenig über die Täterinnen wissen und sie uns mit ihren regelmäßig unerwarteten Taten irritieren, bisweilen sogar verstören, sind diese Frauen aber auch besonders interessant. Die gemeine Mörderin wird deshalb mitunter besonders lustvoll angeprangert und öffentlich vorgeführt, ihre Lebensgeschichte medial unbarmherzig ausgeschlachtet. Der Fall Monika Böttcher (besser bekannt als Monika Weimar) beispielsweise hielt diese Republik zwanzig Jahre lang in Atem: Am 7. August 1986 werden Melanie und Karola gefunden, ihre 5- und 7-jährigen Töchter sind erwürgt bzw. erstickt worden. Erst gerät der Vater in Verdacht, dann die Mutter, schließlich wieder der Vater, letztlich doch die Mutter. Monika Böttcher wird verhaftet, und es beginnt ein juristischer Verhandlungsmarathon, keine Instanz bleibt ausgespart, bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht. Ein ganzes Land diskutiert diesen Fall und seine möglichen Hintergründe über viele Jahre hinweg, immer wieder angestachelt von den Medien: War sie es? Oder doch der Vater? Oder vielleicht beide? Und welche Rolle spielt der Geliebte von Monika Böttcher, ein amerikanischer Stationierungssol-
3
Martin Daly/Margo Wilson: Homicid, New York 1988, S. 19.
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dat? Erst am 22. Dezember 1999 wird das letzte Urteil gesprochen, an diesem Tag endet eines der spektakulärsten Justizdramen der Bundesrepublik: 15 Jahre Haft für Monika Böttcher. Hätte es sich um einen Mann als Täter gehandelt, wäre dieser Fall, wie viele vergleichbare auch, lediglich eine Fußnote in der deutschen Kriminalgeschichte.
II. T ÖTUNG DES I NTIMPARTNERS Wenn Frauen töten, dann am häufigsten den Ehemann, Lebenspartner oder Geliebten. Auch diese kriminologische Erkenntnis zum „Intimizid“4 ist zumindest in den vergangenen 200 Jahren unverändert geblieben. Schon 1923 schrieb beispielsweise Erich Wulffen: In diesem Kapitel der gewaltsam mordenden Frauen ähneln sich die Fälle in auffälliger Weise. Die Ausführungsart erscheint beinahe stereotyp. Immer handelt es sich um eine Ehe, die durch mehr oder minder große Mitschuld der Ehefrau missraten ist. Aber auch die Schuld des Mannes fehlt nie; er ist brutal und misshandelt die Frau, er ist Trinker und ausschweifend, er missachtet die Frau usw. Die Frau hat den Mann schon oft ohne jede Neigung, aus rein äußerlichen und zufälligen Gründen, geheiratet; sie sieht sich in der Ehe enttäuscht, vereinsamt, unterdrückt, ihr Geschlechtstrieb sucht anderweit Befriedigung; ein verführender oder verführter Liebhaber findet sich, der beim Morde meist als Mittäter auftritt. Beim Giftmord wird sie häufig ganz allein tätig. […] Ursprüngliche geringe Neigung oder Gleichgültigkeit werden bei der von guten und schlechten Instinkten geleiteten Frau schnell zur Abneigung und zum Hass gegen den Ehemann.5
Wissenschaftliche Untersuchungen jüngeren Datums belegen, dass es den meisten Täterinnen tatsächlich darum geht, sich in erster Linie gegen männliche Dominanz oder Gewalt zu verteidigen, um sich selbst zu schützen, die eigenen Kinder oder andere Familienangehörige6. In vielen Fällen finden sich biographische
4
Der Begriff „Intimizid“ stammt von dem Gerichtspsychiater Andreas Marneros, der ihn in seinem gleichnamigen Buch so definiert: „Als Intimizid bezeichnen wir die Tötung des Intimpartners. Als Intimpartner wird der Sexualpartner bezeichnet, unabhängig von der Dauer und Art der intimen Beziehung.“ Ders.: Intimizid. Die Tötung des Intimpartners, Stuttgart 2008, S. 1.
5
Erich Wulffen: Das Weib als Sexualverbrecherin, Berlin 1923
6
Vgl. nur die Übersichten bei Joachim Burgheim: „Besonderheiten weiblicher Tötungsverbrechen“, in: MschrKrim 77 (1994), S. 232-237, hier S. 232, 234; Peter
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Hinweise auf frühe Gewalterfahrungen wie Misshandlung, Vernachlässigung und sexueller Missbrauch in der Herkunftsfamilie der Täterinnen.7 Auch wenn überzeugend nachgewiesen worden ist, dass die Täterinnen überwiegend aus sozial schwachen Strukturen stammen und auch zur Tatzeit in einem solchen sozialen Umfeld leben, so kann doch prinzipiell jede Frau eine Partnertötung begehen, unabhängig von ihrem Intelligenzniveau, der sozialen Position oder ihrer Herkunftsfamilie. Denn: In jedem Fall ist der männliche Partner aus Sicht der Täterin zu einer Bedrohung geworden, von der sie glaubt, sich ihr durch sozialübliche Abnabelungen wie Trennung oder Scheidung nicht ausreichend erwehren und entziehen zu können. Aus dem ursprünglich Täterin und Opfer verbindenden Band der Vernunft oder Liebe ist eine Demarkationslinie geworden, die das Opfer immer wieder missachtet und überschreitet und darum getötet wird, meistens im engen zeitlichen Zusammenhang mit einer aktuell erlittenen Kränkung oder Erniedrigung der Täterin. Es gibt deutliche Hinweise, die nahe legen, dass eine kausale Beziehung besteht zwischen der weiblichen Tötungsdelinquenz und den besonderen Konflikten, mit denen Frauen im Zuge ihrer geschlechtsspezifischen sozialen Einengung und Benachteiligung konfrontiert werden. So berichtet etwa die US-amerikanische Soziologin Vickie Jensen8, Studien zum Thema Emanzipation von Frauen und Tötungsdelikten zeigten, dass mit der Gleichstellung von Mann und Frau eine erhebliche Abnahme von Tötungsdelikten zu beobachten ist, die von Frauen verübt werden. Unbestritten: Der weibliche ,Intimizid ދist in der Mehrzahl der Fälle das Endresultat von teilweise langjährigem körperlichem, sexuellem und/oder emotiona-
Steck: „Merkmalscluster bei Mordhandlungen“, in: MschrKrim 73 (1990), S. 384398, hier S. 384, 393; Günter Weiler/Manfred Riße: „Tötungsdelikte durch Frauen. Kriminologische Aspekte“, in: Wolfgang Klose/Manfred Oehmichen (Hgg.): Rechtsmedizinische Forschungsergebnisse. Festschrift zum 70. Lebensjahr für Prof. Otto Pribilla, Lübeck 1990, S. 302-306, hier S. 302f; Ines-Sabine Becker/Hans Thomas Haffner/Hans Joachim Mallach: „Täter-Opfer-Interaktion bei Tötungsdelikten im Rahmen von Partnerschftskonflikten“, in: Hans-Jürgen Kener/Günter Kaiser (Hg.): Kriminalität. Persönlichkeit, Lebensgeschichte und Verhalten, Berlin 1990, S. 253263, hier S. 253, 255. 7
Vgl. nur Marneros 2008; Elisabeth Müller-Luckmann: „Weibliche Tötungskriminalität“, in: Rudolf Egg (Hg.): Tötungsdelikte – mediale Wahrnehmung, kriminologische Erkenntnisse, juristische Aufarbeitung, Kriminologische Zentralstelle, Wiesbaden 2002, S. 129-138, hier S. 127ff.
8
Vicky Jensen: Why women kill: Homicide and gender equality, Boulder 2001.
V ORSPANN I: M ÖRDERINNEN
| 21
lem Missbrauch der Frau. Allerdings liegt die Ursache für die Tötung des Intimpartners mitunter auch in einem falschen Verständnis von Ehe und Partnerschaft oder einem regelrechten Missbrauch dieser begründet, solche Beziehungen werden nämlich von den Täterinnen mitunter bewusst als Zufluchtsorte zweckentfremdet, um sich lediglich sozial abzusichern. Und diese von den Täterinnen kalkuliert und von den Opfern unwissentlich begründeten Zweckgemeinschaften drohen immer dann in eine Sachgassensituation zu münden, wenn der Partner, den die Täterin nur aus Vernunftgründen ausgewählt hat, einer neuen Beziehung oder der eigenen Lebensausrichtung im Wege steht. Die Analyse von einschlägigen Studien zu tödlich endenden Beziehungskonflikten zeigt auch, dass Gewalt meist schon in der ersten Zeit einer Partnerschaft als Verhaltensregulativ angewendet wird, und zwar von Männern wie Frauen mit etwa gleicher Häufigkeit und Intensität. Nur während die Frau mit einer Trennung droht oder mit Worten verletzt, droht der Mann mit Gewalt, falls die Partnerin nicht bei ihm bleiben sollte, oder er schlägt tatsächlich zu. Es wäre jedoch falsch, anzunehmen, den Mann bei einer Partnertötung ausschließlich als affektgeleiteten Spontantäter und die Frau als kaltblütig planende und handelnde Täterin darzustellen. Denn viele Taten von Frauen werden von einem hohen Konfliktniveau begleitet und angestoßen, das affektiv wirksame Moment wird bei der Täterin also eher im Vorfeld der Tat zu suchen sein. Die spätere Tötung des männlichen Opfers ist immer auch auf ein Versagen oder Aufhören der partnerschaftlichen Kommunikation zurückzuführen. Statistisch gesehen tritt der Beziehungs-Super-GAU durchschnittlich nach fünf Jahren ein, wenn die Frau beschließt, das Problem Mann gewaltsam aus der Welt zu schaffen. Die Tötung des weiblichen Intimpartners hingegen geschieht häufig unter umgekehrten Vorzeichen. Der Täter vollzieht nämlich nur die totale Unterwerfung des Opfers, die ihm zuvor mit anderen Mitteln nicht gelungen ist. Männer töten in diesem Kontext eher aus Verlustängsten heraus, weil sie glauben oder befürchten, ihre Partnerin fortan nicht mehr beherrschen zu können und andernfalls endgültig zu verlieren: Wenn ich dich nicht haben kann, dann soll dich auch niemand anderes haben, dann sollst du eben sterben. Es ist häufig ein Akt der tiefen Verzweiflung, der untaugliche Versuch, das eigene verpfuschte Leben vielleicht doch noch in den Griff zu bekommen. Der renommierte Psychiater Andreas Marneros9 will die Ursachen für die partnerschaftsbezogene Tötung von Mann durch Frau nicht auf typische Frauenproblematiken beschränkt wissen. „Es scheint aber so“, schreibt der Gerichtsgutachter,
9
Vgl. Marneros 2008.
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„dass […] zusätzlich zur geschlechtsspezifischen auch individuelle und geschlechtsunabhängige Konstellationen eine wichtige Rolle spielen, etwa die ubiquitäre Konstellation einer narzisstischen Kränkung.“
In der Mehrzahl der Fälle liegt bei den Täterinnen allerdings keine narzisstische Persönlichkeitsstörung im Sinne klinischer Diagnostik10 vor, jedoch werden die Taten durchweg von narzisstischen Persönlichkeitsmerkmalen der tötenden Frauen geprägt, die lediglich akzentuiert erscheinen, also noch keinen Krankheitswert haben – einer tiefer liegenden Frustration, einer unangemessenen Geringschätzung des Opfers und einer Überbewertung der eigenen Person und Bedürfnisse.
III. T ÖTUNG DES
EIGENEN
K INDES
Zu den bisher kaum erforschten Deliktsbereichen gehört auch die Tötung von Neugeborenen durch die Mutter11. Es vergeht mittlerweile keine Woche, in der nicht über den Fund einer Babyleiche berichtet oder eine ganze Serie von Kindestötungen aufgedeckt wird. Jedes Mal sind Entsetzen und Empörung besonders groß, verständlicherweise, berechtigterweise. Die Vorstellung, dass die Mutter, der man sein Leben verdankt, dieses auch böswillig auslöschen kann, dass sie sich an wimmernden und wehrlosen kleinen Menschenwesen vergreift und qualvoll tötet, widerspricht unseren Erwartungen und unserer Lebenserfah-
10 Bei einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung handelt es sich um eine Störung der Selbstwertregulation, die in eine Beziehungsunfähigkeit münden kann. Die Betroffenen wollen überdies ohne Gegenleistung als bedeutend angesehen werden, entwickeln Phantasien unbegrenzten Erfolgs oder Macht, sind überzeugt einmalig zu sein, wollen übermäßig bewundert werden, nutzen zwischenmenschliche Beziehungen aus, sind wenig empathisch, neiden anderen Menschen deren Erfolg und fallen durch arrogantes Verhalten auf. Narzissten leiden unter einer häufig vorhandenen inneren Anspannung zwischen dem Pol der Minderwertigkeitsgefühle und Selbstunsicherheit und dem Pol des überzogenen Selbstgefühls und der Arroganz. 11 Zu historischen, juristischen und literarischen Aspekten vgl. Velinka Grozdanic/Ute Karlavaris-Bremer: „Motive für Kindsmord im deutschen und kroatischen Strafrecht“, in: MschrKrim 3 (1998), S. 198-197, hier S. 189ff.; Klaus Kastner: „Der Kindsmord: Historische, rechtliche und literarische Aspekte“, in: Neue Juristische Wochenschrift 1991, S. 1443-1455, hier S. 1443ff.
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rung so deutlich und erschüttert unser mütterliches Urvertrauen so heftig, dass das Bedürfnis nach Aufklärung besonders groß ist. Die Tötung der eigenen Nachkommen durch die Mutter, den Vater oder beide ist kein Phänomen der Neuzeit, sie scheint so alt zu sein wie die Menschheit selbst. In manchen Kulturen (z. B. bei bestimmten Eskimo-Stämmen oder Nomadenvölkern) galt die Kindestötung sogar weder ethisch noch juristisch als verwerflich. Über die Familiengröße bestimmte über Jahrhunderte hinweg in vielen Kulturen der Familienvater. Er entschied, ob er das Kind annahm, es tötete oder töten ließ. Der Staat sanktionierte diese Form der Gewalt nicht, die Täter hatten keine Bestrafung zu befürchten. Die Neugeborenentötung wurde vielmehr als probates Mittel zur Regulierung des Bevölkerungswachstums eingesetzt, insbesondere dann, wenn die Nahrung knapp war oder ein Engpass drohte. Häufig traf es weibliche Säuglinge (vornehmlich in China und Indien), weil sie weniger zur Sicherung des Überlebens der Familie beitragen konnten als männliche und deshalb angeblich „weniger wertvoll“ waren. Bis zum 19. Jahrhundert war es auch in einigen deutschen Regionen durchaus üblich, Babys ,himmeln ދzu lassen, wenn vielfache Eltern in Not lebten und die finanziellen Mittel fehlten, um noch ein Kind durchzufüttern. In Preußen soll mehr als die Hälfte aller vorsätzlichen Tötungen an Neugeborenen begangen worden sein. Für das Delikt der Kindestötung (,Neonatizid )ދexistiert keine Legaldefinition. Die am häufigsten gebrauchte Begriffsbestimmung stammt von Resnick12. Er beschreibt diesen Tatbestand als die Tötung eines Kindes durch Mutter und/oder Vater binnen 24 Stunden nach der Geburt. Von diesem eng gefassten Deliktsbereich grenzt Resnick die Tötung eines Kindes im Alter von einem Tag bis zu einem Jahr ab (,Infantizid)ދ, sowie den gewaltsamen Tod eines Kleinkindes, das älter als ein Jahr ist (,Filizid)ދ. Diese Definitionen wurden in zahlreichen Studien zum Thema ,Tötung der eigenen Kinder ދübernommen, allerdings existieren auch Untersuchungen, in denen diese Fachbegriffe anders umschrieben oder wie Synonyme verwendet werden. Dies führt regelmäßig zu Problemen, will man einzelne Studien miteinander vergleichen. Verlässliche Zahlen zur Verbreitung der Kindestötung in Deutschland gibt es nicht. Seit Abschaffung des § 217 StGB werden entdeckte Neonatizide in der Polizeilichen Kriminalstatistik nicht mehr gesondert erfasst – diese Delikte verstecken sich nun in den Zahlen von Mord und Totschlag. Entgegen anders lautenden Medienberichten gehen die Fallzahlen bei der Tötung von Kindern allgemein zurück. So wurden im Jahr 2006 insgesamt 202 Kinder Opfer von Tö-
12 Phillip Resnick: American Journal of Psychiatry, 1970, S. 325ff.
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tungsdelikten, das waren 88 weniger als im Jahr 2000. Anke Rohde13 hat zur Häufigkeit von Neonatiziden eigene Untersuchungen angestellt. Sie rechnet mit einer Häufigkeit von 1 zu 25.000 Geburten. Das wären 2006 bei 672.724 Geburten 27 Kindestötungen gewesen. Von einer darüber hinausgehenden Dunkelziffer ist auszugehen, da nicht alle getöteten Säuglinge gefunden werden. Die Wissenschaft hat den Bereich der Kindestötung bisher eher stiefmütterlich behandelt; vermutlich deshalb, weil dieses Delikt sehr selten passiert und die Täterinnen sich auch im Rahmen von Studien selten offenbaren wollen. Folgendes soziographisches Wissen scheint gesichert:14 Etwa 70 bis 80 Prozent der Frauen sind ledig. In der Mehrzahl der Fälle sind es erstgebärende Mütter. Das Intelligenz- und Bildungsniveau der Täterinnen unterscheidet sich nicht wesentlich von dem nicht-krimineller Frauen. Das Alter der Mütter zum Zeitpunkt der Tötung liegt zwischen 14 und 42 Jahren und umfasst somit die gesamte Bandbreite der Fruchtbarkeit. Das Durchschnittsalter beträgt Anfang/Mitte 20. Bei jeder dritten bis fünften Täterin wird die Beziehung zum Kindesvater auch nach der Tötung des Neugeborenen fortgesetzt. Eine ärztliche Kontrolle oder Geburtsvorbereitung wird nur selten in Anspruch genommen. Allerdings werden die meisten Schwangerschaften von einem Arzt diagnostiziert. Das Persönlichkeitsprofil der Täterinnen variiert. Häufig wird jedoch von Frauen mit einer unreifen Persönlichkeit berichtet, die zum Einzelgängertum neigen, die sich mehr mit sich beschäftigen als mit äußeren Dingen und die kaum oder gar nicht in der Lage sind, Problemlösungsstrategien zu entwickeln und durchzusetzen. Nach außen können die Frauen sich im Einzelfall jedoch durchaus kontaktfreudig und selbstbewusst geben. Allerdings sind diese Charakterisierungen so vage, dass sie kaum kriminal- oder sozialpolitische Relevanz beanspruchen dürfen und auch nicht geeignet erscheinen, ein typisches Persönlichkeitsprofil der Kindestöterin zu generieren. Denn viele Frauen weisen eben diese Merkmale auf, ohne dass sie ihre ungewollten Babys töten oder dies auch nur in Erwägung ziehen. Fasst man die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu sozialen Hintergründen und Motiven der Täterinnen zusammen, so kristallisieren sich im Wesentlichen drei Gruppen heraus: Da sind zunächst Frauen, die den Tod des Säuglings bereits vor der Geburt planen und das Kind aussetzen oder töten. Zu diesen Täterinnen liegen kaum Erkenntnisse vor, weil die Offenbarung dieser Motivation mit gravierenden juristischen Konsequenzen einhergehen würde und wohlweislich verschwiegen wird. Daneben gibt es eine große Fraktion von Frau-
13 http://www.femina.uni-bonn.de/pdf/veroeffentl/MS_M%C3%BCtter_die_t%C3%B6ten_Bonn_2003_DGPFG_2.pdf. 14 Zit. nach Christine Swientek: Der Kriminalist 36 (2004), S. 189-193.
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en, die abwarten, die Schwangerschaft verheimlichen, sie in der Hoffnung aussitzen, jemand werde helfen – in erster Linie der Kindesvater. Bleibt die erhoffte Anteilnahme und Unterstützung jedoch aus, wird das Problemkind kurzerhand getötet. Die dritte Gruppe Frauen negiert beziehungsweise verdrängt die Schwangerschaft und wird von der Geburt regelrecht überrascht. Der Säugling wird schließlich in einer psychischen Ausnahmesituation zu Tode gebracht, die Tat trägt Züge eines affektiv eingefärbten Geschehens. Allerdings besteht ein Streit in der Wissenschaft darüber, wie diese Fachbegriffe zu verstehen und anzuwenden sind. Marneros bemüht sich um Begriffsklarheit, wenn er schreibt: Neonatizid hat viele Ursachen, eine davon ist die ‚verdrängte‘ bzw. ‚negierte‘ Schwangerschaft. Das Phänomen der ‚verdrängten‘ Schwangerschaft ist von psychologischer Seite her ein faszinierendes, obgleich rätselhaftes Phänomen, das sich nach Schätzungen in etwa 400 klinischen Fällen (bezogen auf das Gebiet der Bundesrepublik) niederschlägt. Falls es jedoch mit der Kindestötung endet, ist das Phänomen von forensischer Seite her höchst problematisch. Der Begriff ‚verdrängte‘ Schwangerschaft selbst kann irreführend sein, da er Assoziationen mit tiefenpsychologischen Vorgängen für alle Formen ‚negierter‘ Schwangerschaften suggeriert, was falsch ist. Man muss davon ausgehen, dass das Phänomen der ‚verdrängten‘ Schwangerschaft eine Untergruppe der ‚negierten‘ Schwangerschaft ist, und dass Überlappungen zwischen ‚verdrängter‘ und ‚verheimlichter‘ Schwangerschaft vorhanden sind. Eine ‚verdrängte‘ Schwangerschaft ist wahrscheinlich anzunehmen bei Vorliegen folgender Merkmale:
1. subjektive Gewissheit der Schwangeren, nicht schwanger zu sein; 2. Fehlen von Schwangerschaftszeichen oder subjektiv hinreichende Umdeu-
tungen von vorhandenen Schwangerschaftszeichen; 3. Unbefangenheit in sozialen Situationen, die zur Aufdeckung führen könnten; 4. unverändertes Sexualverhalten; 5. Verkennung der einsetzenden Wehen und Überraschtwerden von der Geburt.15 Wir gehen davon aus, dass bei einer ‚verheimlichten‘ Schwangerschaft irgendwann während des Schwangerschaftsverlaufes die Schwangere den neuen Zustand wahrnimmt, bzw. ihn ahnt. Im Falle der ‚Ahnung‘ unternimmt sie jedoch keine aktive Maßnahme zur Klärung ihres Zustandes, sie wehrt sich dagegen.
15 Andreas Marneros: „Kindestötung: Zur Frage der Schuldfähigkeit nach ,negierterދ Schwangerschaft“, in: MschrKrim 81 (1998), S. 173-179, hier S. 175, 177.
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Die Ahnung wird zum ‚Nicht-Wahrhaben-Wollen‘. Im Falles des Wahrnehmens der Schwangerschaft handelt es sich offensichtlich um ein bewusstes ‚NichtBekannt-Machen-Wollen‘.“ Bei diesen Problemgruppen liegen die verursachenden Faktoren in der Regel in der Beziehung zum Kindesvater und/oder im familiären Umfeld. Die Zeit der Schwangerschaft wird vor allem angstbesetzt erlebt: Angst vor den mutmaßlichen Reaktionen des sozialen Umfelds auf das uneheliche Kind, Angst vor dem eigenen Vater und dem Erzeuger, Angst vor der Mutter. Angst vor der (öffentlichen) Blamage, ungewollt schwanger geworden zu sein. Angst vor dem Tag der Geburt, wenn alles herauskommt. Angst vor der immensen Verantwortung. Angst vor der drohenden Überforderung. Überhaupt Angst vor der Zukunft. Das Konfliktfeld ,ungewollte Schwangerschaft ދist für die späteren Täterinnen zu facettenreich und zu komplex, um sich damit rational-planend zu befassen. Es wird abgewehrt und zurückgewiesen. Das Verhalten der Frauen ist paradox: Weil es nach außen kein Problem geben darf, muss das Kind nach innen konsequenterweise abgelehnt und schließlich getötet werden, damit es künftig nach innen und außen kein Problem sein kann. Typisch in solchen Fällen ist, dass die Täterinnen nach der Tötung keine oder keine plausible Begründung für ihr lebensverneinendes Handeln angeben können. Gemeinhin wird in der Mutterliebe die Ursache dafür erblickt, dass die Gebärende all ihre Zeit, Kraft und Fürsorge für das Neugeborene aufbringt und in dem Zusammenspiel mit dem Baby mütterliche Fähigkeiten entwickelt. In der Wissenschaft ist die Existenz der Mutter-Kind-Bindung, die eine Reihe von teils unbewussten mütterlichen (wie auch väterlichen) Kompetenzen aktiviert, unstrittig. Man bezeichnet dieses Verhaltensphänomen als „Bonding“16. Und genau in diesem Kontext gilt es zu fragen: Warum haben Kindestöterinnen nicht dieses Gefühl, dass der Säugling ganz zu einem gehört und zum unverzichtbaren Teil des eigenen Daseins geworden ist oder werden wird? Weshalb empfinden diese Frauen keine oder keine ausreichend starke Mutterliebe, die sie vor dem Töten des eigenen Kindes zurückschrecken lassen müsste? Das Mysterium der mütterlichen Liebe und der kindlichen Anhänglichkeit hat verschiedene wissenschaftliche Disziplinen (z. B. die Biologie oder die Psychoanalyse) des 20. Jahrhunderts beschäftigt und eine Vielzahl von Theorien hervorgebracht, die mittlerweile jedoch obsolet erscheinen. Denn in einer Vielzahl von Untersuchungen der jüngeren Vergangenheit wird übereinstimmend berichtet, dass für die Mehrzahl der Mütter folgende Faktoren wesentlich gewesen seien für die Entstehung der engen Bindung an das eigene Kind: der Augen-
16 Vgl. http://www.asklepios.com/harburg/html/fachabt/gyn/kreissaal/bonding.asp.
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kontakt am Ende des ersten Lebensmonats; das erste Mal, als das Kind die Mutter bewusst anlächelte; das Unterscheiden des Kindes zwischen der Mutter und anderen Personen im Alter von etwa neun Wochen.17 Demnach scheint es keinen psychologischen oder genetischen Code ,Mutterliebe ދzu geben, der bereits während der Zeit der Schwangerschaft unbeeinflusst und automatisch zu wirken beginnt – eine Mutter-Kind-Bindung muss vielmehr zu großen Teilen erst erfahren und erarbeitet werden, es findet eine Entwicklung statt, die sich über mehrere Wochen vollzieht und positiv wie negativ beeinflusst werden kann. Als besonders negativer Einfluss wird allgemein anerkannt, wenn das Kind ungewollt ist. „Gefährdet in dieser Hinsicht sind Mütter“, schreibt Hellgard Rauh, die ihr Kind eigentlich (noch) nicht wollten, die selbst als Persönlichkeiten noch nicht ausgereift sind, die als Kinder zu wenig elterliche Zuwendung erfuhren und sich von ihrem Partner nicht unterstützt fühlen.18
Diese Charakterisierung trifft im Wesentlichen auch auf viele Kindestöterinnen zu und könnte erklären, warum es den Täterinnen möglich war, die Opfer nach eigenem Bekunden lediglich als ,Gegenstandދ, ,Sache ދoder ,Ding ދzu betrachten – Objekte eben, die ,entsorgt ދwerden oder einfach ,weg ދmussten. Frauen, die eine Schwangerschaft verdrängen, verleugnen und verheimlichen, verhindern somit auch zum Zeitpunkt der Geburt ihre mütterlichen Gefühle und sind fähig, das Neugeborene als unspezifisch und unliebsam zu empfinden. Und aus dieser überaus zwiespältigen Gefühlslage der Mutter können sich für das Kind tödliche Konsequenzen ergeben. Die Möglichkeiten, der Kindestötung wirksam vorzubeugen, sind allgemein sehr begrenzt. Dies gilt besonders für solche Frauen, die ihre Schwangerschaft verdrängen. Von Angeboten wie Babyklappe oder anonyme Geburt können sie nicht profitieren, da diese Hilfsangebote einfach nicht wahrgenommen oder tunnelblickartig ignoriert werden. Selbst aufgeschlossene und loyale Lebenspartner oder Eltern werden nicht ins Vertrauen gezogen. Und den Gesundheitsbehörden sind die Hände gebunden, weil sie nahezu ausnahmslos nicht informiert werden. Die Kindestötung ist das einzige Verbrechen, bei der Frauen in der Polizeilichen Kriminalstatistik als Täterinnen weitaus dominieren. Das liegt gewiss in erster Linie an der Natur der Sache, schließlich ist es die Frau, die eine Schwangerschaft verschweigt, das Kind zur Welt bringt und es tötet. Allerdings wäre es
17 Rauh zit nach http://www.gesundheit.de/familie/baby-kleinkind/bonding/index.html. 18 Vgl. ebda.
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grundfalsch, die Täterinnen allein für diese Tragödien verantwortlich machen zu wollen, losgelöst von ihren sozialen Bezügen. Auch der Erzeuger einer ungewollten Schwangerschaft handelt verwerflich, wenn er sich nicht um die werdende Mutter und ihre häufig nicht zu übersehenden Probleme kümmert. Diese Väter wider Willen, deren Einstellungen und Entscheidungen häufig materiellem Zweckdenken geschuldet sind, die sich vornehmlich dem finanziellen Auskommen der Familie verpflichtet sehen und der Ehefrau aus diesem Grund ein striktes und an drastische Konsequenzen geknüpftes Gebärverbot erteilen, verhalten sich im Falle einer ungewollten Schwangerschaft nicht anders als die Täterinnen selbst: schweigen, aussitzen, verschweigen. In den meisten Fällen können sie juristisch nicht belangt werden, weil sie sich hinter ihrem Aussageverweigerungsrecht verschanzen und ihnen eine Mittäterschaft beziehungsweise Mitwisserschaft nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden kann. Die volle Härte des Gesetzes trifft in der Regel nur die Frau. Es gilt also auch danach zu fragen, ob es zu Kindestötungen überhaupt kommen kann, wenn der werdende Vater sich nicht einfach nur ahnungslos gibt, sondern seine Frau auf den anschwellenden Bauch nur einmal anspricht, fragt, hilft. Vielleicht ist das Kernproblem gar nicht die Frau, sondern der Mann, der sich gerne als unnachgiebiger Patriarch geriert, nur im Ernstfall von der Verantwortung für sein Handeln nichts wissen will. Aber es sind nicht die selbstvergessenen biologischen Erzeuger allein, die mitschuldig werden. Genauso undenkbar sind diese Taten ohne ein familiäres und berufliches Umfeld, das sich immer wieder abwendet, wegschaut, weghört – und vor allem schweigt, obwohl Mütter, Väter, Geschwister, Freunde, Bekannte oder Arbeitskollegen der Täterinnen etwas ahnen oder gar wissen. Das Ablehnen dieser sozialen Verantwortung ist sicher auch ein Verbrechen, allerdings ein moralisches.
IV. T ÖTUNG EINES P ATIENTEN Besonders verwerflich und irritierend sind Tötungsverbrechen, wenn sie in Krankenhäusern oder Pflegeheimen passieren, Orten, an denen man sich besonders sicher und geborgen glaubt, wo kranke Menschen geheilt und ältere Menschen gepflegt werden sollen. Die meisten Täterinnen sind ausgesprochen selbstunsichere Persönlichkeiten. Bewusst haben sie einen Beruf im Gesundheitswesen gewählt, weil sie sich dort Dankbarkeit und Anerkennung erhoffen, insbesondere von jenen Menschen, die sie zu betreuen oder zu pflegen haben. Bleibt dann aber diese positive Rückmeldung aus, etwa weil der Gesundheitszustand der Patienten nicht zu bessern ist oder weil diese mitunter gleichgültig oder so-
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gar aggressiv reagieren, und kommen ungelöste private und berufliche Konflikte hinzu, kann dies schließlich in eine körperliche und seelische Überforderungssituation hineinführen – es wird nicht mehr zwischen dem eigenen Leiden und dem der Patienten unterschieden. Die Täterinnen sehen dann in den Patienten die vermeintliche Ursache für die eigene desolate Lebenssituation und töten sie in dem Glauben, auf diese Weise ihr eigenes Leiden beenden zu können. Fast alle ,Todesengel ދsprechen in ihren polizeilichen Vernehmungen oder vor Gericht von eben diesem diffusen Mitleid mit den Pflegebedürftigen, wenn sie nach einem Motiv für die Tötungen gefragt werden. Allerdings würde dies eine tiefergehende emotionale Beziehung zwischen Täterin und Opfer voraussetzen, die jedoch in den meisten Fällen gar nicht existiert. Und nur wenige Patienten bitten tatsächlich und ausdrücklich um Sterbehilfe. Das Tat-Motiv ist sicherlich in der Person der Täterin zu suchen, das tatauslösende Moment indes in der Befindlichkeit des Patienten, seiner eingeschränkten Lebenstüchtigkeit, seiner Gebrechlichkeit. Erst wenn die Täterin in diesem Sinne auf das Opfer überempfindlich und negativ reagiert, nimmt das Drama seinen Lauf. In vielen Fällen wird im Nachhinein über Verhaltensweisen der Täterinnen vor ihrem mörderischen Tun berichtet, die als Frühwarnzeichen für drohende Patiententötungen gelten dürfen: Die Pflegebedürftigen werden angeherrscht, beschimpft, verunglimpft oder geschlagen. Und irgendwann getötet. Aus gutem Grund sind es in vielen Fällen Krankenschwestern und Pflegerinnen einer Intensivstation, die Patienten in Serie töten. Die surreale Szenerie solcher Lebenserhaltungseinrichtungen, noch vor vier Jahrzehnten in nur wenigen medizinischen Hochburgen zu finden, erzeugt im verzweifelten Abwehrkampf gegen den Tod ein fremdartiges Klima von höchster innerer wie äußerer Anspannung und Alarmbereitschaft. Die amerikanischen Mediziner Hay und Oken schildern eindrucksvoll die emotionsgeladenen Sinneseindrücke, denen sich die High-Tech-Lebensretter permanent ausgesetzt sehen und vergleichen eine Intensivstation mit „einem militärischen Befehlsstand während einer Krisensituation“. Ferner schreiben sie: Hoffnungslos Kranke, verletzte, verstümmelte Menschen liegen da. Das Röcheln der Sterbenden mischt sich mit Geräuschen der Maschinen. Der Anblick von Blut, Erbrochenem und Exkrementen attackiert die Sinne, von unverhüllt bloßliegenden Genitalien und hilflos dahindämmernden Körpern, halbnackt und entstellt durch Schläuche und Verbände – ein Anblick, der das fundamentale Selbstverständnis von menschlicher Integrität verletzt.19
19 Donald Hay/Donald Oken: Psychosomatic Medicine (1972), S. 109ff..
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Tatsächlich drängt sich hier und da der Eindruck auf, als würde bei Intensivbehandlungen nicht das Leben, sondern das Sterben verlängert, als solle der Tod abgeschafft werden. Moralisch und sozial anstößig handeln alle Ärzte und Kollegen der Täterinnen, die den sichtbar und merklich überforderten Krankenschwestern und Pflegerinnen nicht geholfen haben, Konflikte zu lösen und Ängste zu beseitigen. Auf die moralische Anklagebank gehört aber auch eine Sozialgemeinschaft, die zulässt, dass gerade das Personal von Intensivstationen oder Pflegeheimen mit Aufgaben und Patienten überfrachtet und vielerorts überfordert wird. Nicht mehr die Pflegerinnen und Patienten stehen im Vordergrund, sondern ein starres und profitorientiertes System, das um jeden Preis am Leben erhalten werden soll. So gesehen ist es immer nur eine Frage der Zeit und der besonderen Umstände, bis wieder einmal eine professionelle Helferin zur Täterin wird.
V. T ÖTUNG IN S ERIE Dass Frauen seriell morden, stellt fraglos ein sehr seltenes Ereignis dar. Eigene Nachforschungen und Erhebungen belegen, dass es seit Ende des Zweiten Weltkriegs in der Bundesrepublik Deutschland lediglich 25 Serienmörderinnen gegeben hat, die verurteilt werden konnten.20 Auch wenn von einem beträchtlichen Dunkelfeld ausgegangen werden muss, sind es ausgesprochen geringe Fallzahlen. Dies wird auch deutlich, wenn man die Geschlechterverteilung beim Serienmord betrachtet: Nur 15 Prozent der Täter sind Frauen. Legt man allerdings die Fallzahlen der vergangenen zehn Jahre zugrunde, so beträgt der Frauenanteil bereits ein Viertel. Der Serienmord nimmt im Bereich der weiblichen Tötungsdelinquenz fraglos eine besondere Stellung ein, schon die spezifischen Tatsituationen und wiederholungen rechtfertigen diese Annahme. Insofern ist zu vermuten, dass Frauen, die in ihrem Leben nur einmal töten, sich von Serientäterinnen grundlegend unterscheiden – sonst wäre eine typologische Differenzierung entbehrlich, alle Täterinnen könnten unter dem Sammelbegriff „Mörderin“ erfasst werden. Elisabeth Trube-Becker hat bereits 1974 eine viel beachtete Untersuchung vorgelegt. Die Autorin schreibt in ihren Vorbemerkungen über die Gruppe der Täterinnen:
20 Vgl. Stephan Harbort: Wenn Frauen morden, Frankfurt a.M. 2008.
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Bei (den) Töterinnen – es wird absichtlich dieser rechtlich irrelevante Ausdruck verwendet – handelt es sich um 41 wegen Mordes zu lebenslangem Freiheitsentzug und um 45 wegen anderer Tötungsdelikte zu begrenzten Haftstrafen verurteilte Frauen.21
Diesen 86 Einmal-Mörderinnen wurden vom Mitteiler im Rahmen einer Replikationsstudie 22 Serienmörderinnen gegenüberstegstellt und anhand von 13 ausgesuchten Items miteinander verglichen. (Tabelle) Tabelle: Synopse Einmal-Mörderinnen vs. Serienmörderinnen (Prozentwerte wurden gerundet) Item Alter bei 1. Tat < 35 J. verheiratet leibliche(s) Kind(er) von Beruf Hausfrau Kindheit konfliktbelastet Haupt-/Realschule besucht Vorstrafe(n) Täter-Opfer-Beziehung Opfer männlich Motiv Beziehungskonflikt Alleintäterin Tatort Wohnung Tötungsart Vergiften
Einmal-Mörderin % (n = 86) 69 56 82 67 80 92 34 76 67 78 58 88 22
Serienmörderin % (n = 22) 73 46 59 27 68 77 32 84 55 45 83 94 58
Bei dieser vergleichenden Betrachtung ergeben sich einige Übereinstimmungen: Alle Täterinnen waren zum Zeitpunkt der ersten Tat überwiegend jünger als 35 Jahre und häufig verheiratet, erlebten die eigene Kindheit konfliktbeladen oder freudlos, hatten wenigstens die Haupt- oder Realschule besucht, waren selten vorbestraft, töteten überwiegend männliche Opfer, die sie kannten, und zwar im häuslichen Milieu. Es sind allerdings auch Abweichungen erkennbar, die nicht im Bereich einer normalen statistischen Schwankung liegen, sondern als signifikant bezeichnet werden dürfen. Serienmörderinnen hatten seltener leibliche Kinder als Einmal-Täterinnen, waren häufiger berufstätig, sahen ihr Motiv weniger in der Beseitigung von Beziehungskonflikten, und verübten ihre Verbrechen in
21 Elisabeth Trube-Becker: Frauen als Mörder, München 1974.
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der Regel ohne Mittäter, wenn sie den Opfern tödlich wirkende Fremdsubstanzen verabreichten. Die beschriebenen Unterschiede sind jedoch nur sehr bedingt geeignet, um die Gruppe der Serienmörderinnen spezifisch zu charakterisieren. Die geringere Zahl von leiblichen Kindern bei Serientäterinnen ist dadurch zu erklären, dass einige Frauen die Neugeborenen töteten, um keine Kinder haben und sie nicht aufziehen zu müssen. Dass die Einmal-Täterinnen häufiger Hausfrauen gewesen sind, hängt mit der sozialen Rolle zusammen, der sie entfliehen wollten, und dem häufig verhassten Lebenspartner, der auf dieser Rolle beharrte. Dass Serienmörderinnen ihre Taten wesentlich häufiger allein verübten und dabei die Opfer vergifteten oder Überdosen Medikamente verabreichten, hängt in erster Linie damit zusammen, dass diese Verbrechen von vornherein auf Vertuschung und Wiederholung angelegt waren. Und genau an diesem Punkt wird deutlich, worin der Hauptunterschied besteht. Um diese beachtliche Abweichung zu erkennen, sollte man sich von einzelnen Persönlichkeits- und Verhaltensmerkmalen der Täterinnen lösen und ein Tötungsdelikt unvoreingenommen als Problemlösungsversuch betrachten: Der Einmal-Mörderin gelingt es nämlich, ihr Problem durch die Tat loszuwerden, weil die Belastungs- oder Mangelsituation durch das Opfer ausgelöst worden ist. Und weil das Problem beseitigt werden konnte, besteht zunächst kein Grund, eine weitere Tat zu begehen. Serienmörderinnen indes versuchen zwar ebenfalls, schon über die erste Tat das Problem zu lösen, nur ist in diesen Fällen nicht das Opfer das Problem, sondern die Täterin selbst oder der männliche Mittäter. Der Problemlösungsversuch muss demnach misslingen, weil die zu den Taten führende Grundproblematik (psycho-soziale Defizite der Täterin oder des Mittäters) letztlich ungelöst bleibt und fortwährend neue Tatanreize produzieren kann und wird. Die Täterinnen töten mit etwa gleicher Häufigkeit Kinder sowie lebensältere Frauen und Männer, mit denen sie in acht von zehn Fällen verwandt, befreundet oder bekannt sind oder die ihnen als Patienten anvertraut wurden. Die ganz überwiegend kaltblütig und heimtückisch vorgetragenen Taten werden zu 95 Prozent im häuslichen Milieu verübt. Die meisten Opfer sterben durch eine Überdosis Medikamente oder Gift oder werden erstickt. Habgier als Motiv für die Tötung spielt nur eine untergeordnete Rolle. In der Regel geht es den Täterinnen um die radikale Beseitigung von Berufs- oder Beziehungskonflikten. Sie befinden oder wähnen sich in einer privaten und/oder berufsbedingten Sackgassensituation, die extrem belastend ist, aus der sie keinen Ausweg sehen und machen die späteren Opfer für das eigene Leid verantwortlich. Das Verlangen, sich
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aus diesem seelischen Vakuum zu befreien, generiert schließlich den Tötungsimpuls. Das Persönlichkeitsprofil einer Serienmörderin wird naturgemäß geprägt von negativen beziehungsweise pathologisch eingefärbten Charaktermerkmalen. Durch den Mitteiler wurden unter diesem Aspekt die Gerichtsakten und psychiatrischen Gutachten von 22 verurteilten Täterinnen ausgewertet. Demnach existieren im Wesentlichen zwei typische Charakteranomalien, die jedoch nur selten Krankheitswert haben. Mit 59 Prozent wurde am häufigsten eine ungelöste Selbstwertproblematik festgestellt. Das positive Selbstempfinden dieser Frauen ist nur schwach ausgeprägt, Gedanken und Vorstellungen der eigenen Minderwertigkeit und Unzulänglichkeit dominieren die Vorstellungswelt und das soziale Verhalten. Dem Selbsterleben fehlt die rechte Lebendigkeit, das Selbstkonzept gleicht eher einem flächigen Bild ohne Risse und Reliefs. Diese Frauen sind keine Einzelgängerinnen, die kaum jemand an sich heranlassen und am Rand der Gesellschaft verharren; sie lassen Sozialkontakte durchaus zu, gelten mitunter auch als umgänglich, nur bleiben die Beziehungen meistens recht oberflächlich und stumpf. Sie verhalten sich bewusst opportunistisch, um anderen zu gefallen oder zu imponieren, um nicht anzuecken, um nicht selbst Stellung beziehen zu müssen. Vor ihren Taten leben diese Frauen im Regelfall zu großen Teilen ein fremdbestimmtes Leben, zeigen kaum Initiative, wirken antriebsschwach, und obwohl reichlich Konfliktstoff vorhanden ist, wird Problemen lieber aus dem Weg gegangen. Kennzeichnend für diesen Tätertypus ist ebenfalls, dass die Tötungen häufig gemeinschaftlich verübt werden und die Initiative für die Begehung der Tat und die Tötung des Opfers vom männlichen Mittäter ausgeht. Der andere Typ Serienmörderin lässt deutliche egoistischegozentrische Tendenzen erkennen, ist latent aggressiv, rücksichtslos, unnachgiebig, rechthaberisch und ausgesprochen gefühlskalt. Nicht selten sind es Frauen, die glauben, im Leben zu kurz gekommen zu sein, oder befürchten, es könne so kommen. Auch wenn bei Serienmörderinnen bestimmte Merkmalshäufigkeiten festzustellen sind (die allerdings auch nur bei 16 von 22 Täterinnen charakteristisch waren und einer Gruppe zugeordnet werden konnten), lässt sich kein idealtypisches Charakterbild herausfiltern. Deshalb wäre es gewiss vermessen, bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen eine verbrechensrelevante Kausalität zuschreiben zu wollen, zumal lediglich bei zwei Täterinnen die Charakteranomalien gravierend waren im Sinne einer klinischen Diagnostik und pathologische Relevanz hatten. Was unterscheidet weibliche von männlichen Serienmördern? Während Männer in der Regel ihnen vollkommen fremde Opfer attackieren, töten Frauen
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ganz überwiegend Kinder, Frauen und Männer, mit denen sie verwandt sind, die ihnen nahe stehen, die sie kennen, für die sie sorgen sollen. Frauen sind überdies seltener vorbestraft als Männer, kommen häufiger aus intakten Familienverhältnissen, sind sozial besser integriert, öfter verheiratet und bei ihrer ersten Tat mit etwa 32 Jahren deutlich älter. Frauen gelingt es zudem wesentlich besser, sich dem Zugriff der Ermittlungsbehörden auf Dauer zu entziehen – die Serienmörderin wird durchschnittlich erst nach sechseinhalb Jahren gefasst, der Serienmörder bereits nach zweieinhalb Jahren. Und während der Täter in der Mehrzahl der Fälle seine Opfer erwürgt, erdrosselt, erschlägt oder erschießt, werden Opfer von Täterinnen ganz überwiegend vergiftet oder erstickt. Die wohl bedeutsamste Abweichung ergibt sich jedoch aus der jeweiligen Motivlage. Während Männer größtenteils morden, um ihre Opfer auf unterschiedlichste Art und Weise zu beherrschen und zu vernichten, töten Frauen, um sich nicht beherrschen zu lassen. Während der männliche Serientäter Grenzen überschreitet, versucht sein weibliches Pendant Grenzen zu ziehen oder zu erhalten. Der Täterin geht es demnach vornehmlich um bestimmte Tatziele: Selbstschutz, Selbstachtung, Selbsterhaltung. Serienmörderinnen agieren und töten – im Gegensatz zu männlichen Tätern, die vornehmlich sexualisierte Gewalt ausüben und Bereicherungstaten begehen – aus der Not heraus, allerdings nicht aus Notwehr. Das Abgleiten in die Serialität des Mordens ist die zwangsläufige Folge einer fortschreitenden Werteverschiebung und eines schleichenden Realitätsverlustes. Eigene Bedürfnisse werden überbewertet, Rechte anderer Menschen geringgeschätzt. Begünstigt wird jeder neue Tatentschluss durch ein fortschreitendes Maß an Tötungsgewöhnung. Die Opfer werden nicht mehr in einer konkreten Tatsituation entrechtet, sondern generell entmachtet: Objekte. Wenn sich die Täterin an das Töten gewöhnt und vielleicht sogar Gefallen daran gefunden hat, bedarf es keinerlei Rechtfertigung mehr, um auch weiterhin Tötungsdelikte zu begehen, es genügt schon ein Bedürfnis, gleich welcher Art. Und Gefühle wie Reue oder Scham verkümmern bis zur Bedeutungslosigkeit, es wird vornehmlich in Opfer- und Nichtopfer-Kategorien gedacht und gelebt. Irgendwann geht jedes Maß verloren. Doch das innere oder äußere Spannungsverhältnis, die Diskrepanz zwischen dem So-sein-Müssen und dem Anders-seinWollen ist nicht aufzulösen, Mord bleibt ein untaugliches Mittel. Auch wenn die Täterin sich durch ihre Taten immer wieder über alle und alles hinwegsetzt, so kann sie sich doch ihrer eigenen psycho-sozialen Beeinträchtigung nicht entziehen.
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Wenn Frauen töten, dann hat das immer auch etwas mit Männern zu tun: Entweder spielt der Mann eine vordergründige Rolle als Opfer, Mittäter, Anstifter, oder aber er wirkt im Hintergrund tatbereitend, wenn beispielsweise Väter ihre Töchter vernachlässigen, sexuell missbrauchen oder sonst Gewalt antun und die späteren Täterinnen diese frühen Gewalterfahrungen auf eigene Beziehungen übertragen, oder wenn Ehemänner ihre Frauen zur Tötung der eigenen Babys bestimmen, animieren, nötigen oder sich wissentlich aus der Verantwortung stehlen und Unwissenheit vorschützen. Frauen töten selten, um sich einen finanziellen oder sonstigen Vorteil zu verschaffen. Ihre Taten basieren häufig auf zwischenmenschlichen Konflikten, die gravierend sind oder als gravierend empfunden werden und mit einer Fremdbestimmung durch den männlichen Partner einhergehen. In der Mehrzahl der Fälle sollen durch die Tat Beziehungen verhindert oder beendet oder ermöglicht werden. Die meisten Taten werden demzufolge im häuslichen Milieu verübt, und das Opfer ist dann ein Familienangehöriger, überwiegend der tyrannisch und gewalttätig erlebte Ehemann oder Lebenspartner. Vielen Täterinnen geht es um ihr Selbstbestimmungsrecht, ihre emotionale und soziale Eigenständigkeit, die sie entweder nie besessen hat oder die ihr genommen worden ist. Wenn Frauen töten, dann ist dies auch ein seltenes Ereignis. Dieser signifikante statistische Unterschied zwischen Frau und Mann ist bis heute nicht überzeugend erklärt worden. Sind Frauen wirklich weniger kriminell, weil sie anders gebaut sind, anders fühlen, anders denken und auch eine andere Sexualität haben? Töten Frauen nur deshalb seltener, weil ihnen bei der Anwendung von Gewalt natürliche Grenzen gesetzt sind? Sind Frauen eventuell von Natur aus weniger aggressiv? Oder hat die Feministin Simone de Beauvoir Recht, wenn sie in ihrem Buch „Das andere Geschlecht“ schreibt: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht.“22 Werden Frauen in soziale Handlungsspielräume hineingezwängt und dort von ihren sozialen Pflichten als Ehefrau und Mutter gebunden und so von kriminellem Tun abgehalten? Oder lassen ihnen die engen Strukturen in der Familie kaum kriminelle Entfaltungsmöglichkeiten, weil sie einer stärkeren Sozialkontrolle unterworfen sind? Werden Frauen auch in ihrer Kriminalität von Männern unterdrückt? Manifestiert sich das im Gegensatz zum Mann eher passive weibliche Sozialverhalten und das (angeblich) weniger ausgeprägte Verlangen nach Selbstverwirklichung in geringer ausgeprägter krimi-
22 Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht: Sitte und Sexus der Frau, Reinbek 2000.
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neller Energie? Oder neigen Frauen weniger zu tödlicher Gewalt, weil sie Zurückweisungen, Enttäuschungen, Entbehrungen, tägliche Quälerien und Misshandlungen mit größerem Gleichmut ertragen als Männer? Sind Frauen einfach nur leidensfähiger und deshalb weniger delinquent? Alle diese Fragen zielen auf Teilbereiche weiblicher Tötungsverbrechen ab, ohne sie in ihrer Vielschichtigkeit und Vielgesichtigkeit vollends erklären zu können. Wahrscheinlich sind diese monokausalen Erklärungsversuche von vornherein falsch angelegt, tödliche Frauengewalt lässt sich gewiss nicht auf eine Bedingung oder Ursache zurückführen, man bekommt es vielmehr mit einem Bedingungs- und Ursachengeflecht zu tun, das eine insbesondere an individuelle Besonderheiten der Täterinnen und an spezifische Tatsituationen anknüpfende Differenzierung notwendig macht. Wenn Frauen töten, dann ist das schnell auch ein ,Skandalދ, eigentlich ein Unding – weil die Täterinnen nicht nur Moral und Gesetz missachten, sondern auch aus ihrer gesellschaftlichen Rolle ausbrechen. Die Frau ist deshalb der soziale Gegenentwurf zum Mann, weil sie gut, häuslich und mütterlich sein soll, und er die Rolle des wilden Mannes spielen muss, der die Familie beschützt, Krieg führt oder eben Gewalttaten begeht, auch mordet.23 Bei der Subsumption weiblicher Tötungsverbrechen ergibt sich mitunter auch eine juristische Schieflage, weil die Frau, die ihren Mann nach einem Streit ,heimtückisch ދtötet, im Einzelfall wesentlich härter bestraft werden kann und wird, als der Mann, der seine Frau nach einem Streit unmittelbar und affektiv eingefärbt tötet und deshalb mildernde Umstände für sich reklamieren darf. Obwohl bei beiden Konstellationen übereinstimmende Motive vorliegen und als Beziehungskonflikte und taten mit tödlichem Ausgang zu qualifizieren sind, wird der Mann privilegiert und die Frau diskriminiert. Es erscheint in diesem Kontext sachgerecht, über ein Frauenstrafrecht nachzudenken, zumindest in Teilbereichen. Vielleicht ist dies längst überfällig. Das vielfach immer noch vorherrschende Unverständnis für weibliche Tötungsdelinquenz hat sicher auch etwas damit zu tun, dass diesem ,Phänomen ދin unserem Sozialgefüge bisher (noch) kein Platz zugewiesen worden ist, es fehlt die Anerkennung. Wenn Frauen töten, dann wird (zu) häufig nicht danach gefragt, warum Frauen solche Taten begehen, sondern warum sie es seltener tun als Männer. Dem Mann wird per se das Gewaltmonopol zugebilligt, männliche Gewalt ist der Maßstab, mit dem weibliche Gewalt gemessen wird. Demnach müssten je-
23 Vgl. Wolfgang Stangl: „Die Schrecknisse der abweichenden Abweichung. Oder: Die Angst der Männer vor mörderischen Frauen“, in: Krim. Journal 7 (1999), S. 113-122, hier S. 113, 121.
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doch insbesondere die Entstehungs- und Erscheinungsformen weiblicher und männlicher Tötungsdelinquenz identisch sein. Mittlerweile wissen wir wenigstens das: sie sind es nicht. Zugegeben: Es macht wenig Sinn, Mörderinnen unabhängig von männlicher Kriminalität betrachten und erklären zu wollen, es gibt bedeutsame Verflechtungen und Übereinstimmungen. Jedoch existieren auch typische Genesen weiblicher Gewalt, die auch eine spezifische Dynamik entwickeln. Weibliche Gewalt ist kein bloßes Anhängsel männlicher Gewalt oder ein Teil von ihr, sie steht ihr vielfach entgegen und hat einen eigenständigen Charakter. Man kann die Geschichte der Täterinnen eben nicht erzählen, indem man bloß auf die lebensgeschichtliche Entwicklung männlicher Täter verweist. Wenn es gelänge, in weiblicher Tötungskriminalität nicht nur ein individuelles Versagen zu erblicken, sondern die Täterinnen in ihren deformierten sozialen Bezügen zu betrachten und ihre Taten auch als (un)mittelbare Folge und Menetekel weiblicher Benachteiligung, Überforderung und Unterdrückung in unserer Sozialgemeinschaft gelten zu lassen, dann wäre dies ein erster Schritt, um solchen Verbrechen vorzubeugen.
L ITERATUR Becker, Ines-Sabine/Haffner, Hans Thomas/Mallach, Hans Joachim: „TäterOpfer-Interaktion bei Tötungsdelikten im Rahmen von Partnerschftskonflikten“, in: Hans-Jürgen Kener/Günter Kaiser (Hg.): Kriminalität. Persönlichkeit, Lebensgeschichte und Verhalten, Berlin 1990, S. 253-263. Burgheim, Joachim: „Besonderheiten weiblicher Tötungsverbrechen“, in: MschrKrim 77 (1994), S. 232-237. Daly, Martin/Wilson, Margo: Homicid, New York 1988. Grozdanic, Velinka/Karlavaris-Bremer, Ute: „Motive für Kindsmord im deutschen und kroatischen Strafrecht“, in: MschrKrim 3 (1998), S. 198-197. Harbort, Stephan: Wenn Frauen morden, Frankfurt a.M. 2008. Hay, Donald/Oken, Donald: Psychosomatic Medicine, 1972. Jensen, Vicky: Why women kill: Homicide and gender equality, Boulder 2001. Kastner, Klaus: „Der Kindsmord: Historische, rechtliche und literarische Aspekte“, in: Neue Juristische Wochenschrift 1991, S. 1443-1455. Maisch, Herbert: Patiententötungen – dem Sterben nachgeholfen, München 1997. Marneros, Andreas: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform (1998).
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Vorspann II: Alles für die Liebe: Der Fall Violette Nozière
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Zu behaupten, Violette Nozière wäre von ihren Eltern verzogen worden, ist wahrscheinlich noch untertrieben. Ihr Vater Baptiste war Lokomotivführer bei der Eisenbahngesellschaft Paris-Lyon-Méditerranée; er hatte sich dort vom Mechaniker und Heizer zu einem verantwortungsvolleren Posten emporgearbeitet und war unter anderem mit der Aufgabe betraut, den Zug mit dem Präsidenten der Republik zu führen. Die Mutter, Germaine, stammte aus Neuvy-sur-Loire. Baptiste war ihr zweiter Mann, nachdem eine frühe Ehe mit einem Jugendfreund wegen dessen Trunksucht schnell beendet worden war. Die Familie wohnte in einer kleinen, aber sehr sorgfältig und bürgerlich eingerichteten Wohnung im Hinterhof von Nr. 9, Rue Madagascar im 12. Pariser Arrondissement, gleich hinter der Arbeitsstätte von Baptiste, dem Gare du Lyon. Violette, am 22. Jänner 1915 geboren, war das einzige Kind des Ehepaars. Das hübsche und intelligente Mädchen, das immer wieder von Kinderkrankheiten heimgesuchte wurde, war stets von den Eltern verzärtelt worden und bekam so gut wie jeden Wunsch erfüllt. Sie sollte es einmal besser haben und die Chance
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Wir danken den Autoren ganz herzlich für die freundliche Genehmigung des Wiederabdrucks dieses Kapitels zu Violette Nozière aus Die zarte Hand des Todes. Wenn Frauen morden… (Wien 2002). Das Hörbuch (ungekürzte Lesung mit einer Titelmusik, gesprochen von Claus Vester) ist beim Verlag Steinbach Sprechende Bücher erhältlich. Drei weitere True-Crime-Bücher (Jahrhundertmorde, Mord-Express, Mordschwestern) der Autoren erscheinen im Herbst 2013 als E-Books im Verlag EVOLVER BOOKS (www.evolver-books.at).
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erhalten, dem kleinbürgerlichen Milieu zu entkommen. Die Eltern beschlossen, dass ihre Tochter das Gymnasium besuchen würde und schrieben sie 1927 ins Lycée Sophie Germain im vierten Arrondissement ein. Aber Violette erkrankte neuerlich und wurde zwecks Erholung zur Großmutter in Neuvy geschickt. Sie war knapp dreizehn Jahre alt, sah aber wie sechzehn aus. Groß und schlank, mit schmalen Hüften, kleinen Brüsten und einem süßen, eher pikanten als schönen Gesicht entsprach sie genau dem Schönheitsideal ihrer Zeit. Es war kein Wunder, dass sie der männlichen Dorfjugend von Neuvy und den Sommerfrischlern aus Paris auffiel. Violette ließ sich bewundern, spielte gern bei den Flirts mit und war auf allen Sommerfesten zu finden, wo sie sich bis in die frühen Morgenstunden amüsierte. Dass sie dabei ihre Großmutter und die Eltern, wenn letztere zu Besuch kamen, täuschen musste, gehörte mit zum Spiel. Sie hatte offiziell nur bis Mitternacht Ausgang und musste, wenn sie länger ausbleiben wollte, durchs Fenster ihres ebenerdigen Zimmers ins Haus einsteigen. Als sie wieder in Paris war, setzte sie das angenehme Spiel in der Großstadt fort und verdrehte den beiden Knabengymnasien in der Nähe ihrer Schule kollektiv die Köpfe. Zahlreiche Liebesbriefe wurden ausgetauscht, die natürlich prompt den Lehrern in die Hände fielen. Als sich die Direktorin bei den Eltern beschwerte, redete sich Violette gekonnt heraus. Für sie war das alles noch ein Spiel, das erst ernster wurde, als ihre ältere Freundin Madeleine Debizes ihr von den Freuden der körperlichen Liebe vorschwärmte. Violettes erster Versuch mit dem Jugendfreund aus Neuvy verlief jedoch alles andere als erfreulich. Madeleine riet dennoch zum Weitermachen, und Violette suchte sich einen neuen Partner, den Nachbarssohn aus der Rue Madagascar, Raymond Rierciadelli. Doch auch mit ihm stellten sich das versprochene Glück und die ersehnte Befriedigung nicht ein. Immerhin wusste sie jetzt genau, was die Männer wollten, und sie lernte sehr schnell, was sie dafür zu geben bereit waren. Die Schule interessierte sie nicht mehr, viel wichtiger war es, die neuen Erfahrungen in die Tat umzusetzen. Natürlich wussten die Eltern nichts davon, da Violettes Arsenal an Ausreden und Entschuldigungen dementsprechend perfekt war. Als sie im Sommer 1931 aus der Schule geworfen wurde – im Abgangszeugnis stand „faul, hinterhältig und schamlos“ –, verstand sie es, ihren naiven Eltern ein Komplott der Lehrer einzureden, das entstanden sei, weil sie dem Mathematikprofessor nicht zu Willen gewesen wäre. Daraufhin wechselte sie die Schule und besuchte fortan das Fenelon-Gymnasium in St. Germain de Près. Dieses Quartier Latin der dreißiger Jahre war für Violette das ideale Einsatzgebiet. Es wäre sicher falsch gewesen, sie als Prostituierte zu bezeichnen, doch sie verwendete sich selbst und zahlungswillige Män-
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ner, um sich all das leisten zu können, was sie – oder man – damals für notwendig hielt, um ein gutes Leben zu führen. Die Eltern glaubten nach wie vor an den Schulbesuch ihrer Tochter. Ihre Mutter holte Violette jeden Tag ab, wobei es dem Mädchen gelang, sich unter ihre Kolleginnen zu schmuggeln, die gerade die Schule verließen, obwohl sie vorher den ganzen Tag auf den Boulevards oder in Kaffeehäusern verbracht hatte. Das ganze Viertel wusste um ihr Treiben, und als es endlich doch auch ihren Eltern zu Ohren kam, wurde Violette mit Fernunterricht und Hausarrest bestraft. Daher erfand sie eine Freundin, Jeanette Déron, die angebliche Schwester ihres Hausarztes. Mit ihrer Hilfe schaffte sie es immer wieder, der engen Häuslichkeit zu entfliehen. Dabei war Violettes körperlicher Zustand gar nicht gut und sie konnte einen Arzt tatsächlich gut gebrauchen. Sie litt unter Kopfschmerzen, Fieberanfällen und – besonders schrecklich – an schwerem Haarausfall. Dr. Déron dachte an Tuberkulose und ließ Blutproben untersuchen. Über das Ergebnis erschrak selbst er: Syphilis. Violette konnte ihn dazu überreden, die notwendige Mitteilung an die Eltern so unverfänglich wie möglich zu halten. Der Arzt attestierte ihr eine unverletzte Jungfernschaft und behauptete, dass die Syphilis ererbt sei und wahrscheinlich eine Generation übersprungen habe. Auch wenn man ihr zu Hause glaubte und Dérons Zeugnis für die Wahrheit nahm – das alte, ungebrochene blinde Vertrauen der Eltern in ihr Kind war zerbrochen. *** Violette wusste, dass sie ihr bisher so leichtes und spielerisches Leben wohl nicht mehr auf diese Art fortsetzen würde können. Ihr Vater hatte ihr strengste Überwachung angedroht, und solche Maßnahmen passten ihr ganz und gar nicht ins Konzept. Am 23. März 1933 erwarb sie in der Apotheke Laurent in der Avenue Deaumesnil das Schlafmittel Soménal, ein Röhrchen mit 30 Tabletten. Soménal war eigentlich das beliebte Präparat Veronal, nur unter einem anderen Namen und damals rezeptfrei erhältlich. Die Pillen zerstieß Violette zu einem Pulver, das sie in zwei kleine Papiertütchen füllte. Am Abend legte sie das Mittelchen zu Hause den Eltern vor. Sie behauptete, dass Dr. Déron ihnen das Medikament verschrieben habe. Sie müssten es nach dem Essen einnehmen, um eine Ansteckung mit der Syphilis zu verhindern. Beide schluckten das scheußlich schmeckende Pulver brav und fielen fast sofort in Tiefschlaf – die Dosis war ja reichlich genug bemessen. Violette küsste ihre Eltern, und die Nachbarin Mme. May-
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eul hörte noch, wie sie sagte: „Mama, Papa, schlaft ihr?“ Dann verließ sie Wohnung und Haus. Um zwei Uhr morgens wurde Monsieur Mayeul aus dem Schlaf gerissen. Violettes panische Stimme war aus der Nebenwohnung zu vernehmen: „Hilfe, Papa, es brennt, es brennt!“ Der Nachbar eilte auf den Gang hinaus, doch seltsamerweise war mittlerweile alles wieder ruhig. Mayeul legte sich also wieder ins Bett. Zehn Minuten später ertönte ein trommelndes Klopfen an seiner Wohnungstür. Draußen stand eine verstörte Violette im Nachthemd und sagte: „Kommen sie bitte, Hilfe, Mama atmet nicht mehr!“ In der Wohnung brannte der Vorhang, der das Vorzimmer vom Schlafzimmer der Eltern trennte. Baptiste Nozière lag mit dem Gesicht nach unten vor dem Vorhang. Offenbar hatte er versucht, ihn wegzureißen, bevor er das Bewusstsein verloren hatte. Seine Frau lag, offenbar ebenfalls bewusstlos, angezogen auf dem Bett. „Ein Kurzschluss, ein Kurzschluss“, stammelte Violette. Mayeul löschte das Feuer und holte Feuerwehr und Rettung. Baptiste kam bald wieder zu sich, doch Germaine musste, immer noch ohnmächtig, ins Krankenhaus eingeliefert werden. Diagnose: schwere Rauchgasvergiftung. Eine kurze Untersuchung durch die Feuerwehr und den Nachbarn, der Elektriker war, konnte keine Ursache für einen Kurzschluss feststellen, doch weiter nachgeforscht wurde nicht. Germaine wurde am 4. April aus dem Spital entlassen. Die Familie bedankte sich mit einer Flasche Wein beim Ehepaar Mayeul, aber vom Genuss des Roten wurde allen schlecht – nur Violette nicht, die keinen Schluck zu sich genommen hatte. Nach einem kurzen Genesungsaufenthalt, den Violette mit ihrer Mutter auf dem Lande verbrachte, kehrte sie wieder in ihre gewohnten Jagdgründe, die Bars und Cafés von Montparnasse und St. Germain zurück, wo sie ihrer einzigen und wahren Liebe begegnete: Jean Dabin. Der junge Mann war Student der Rechtswissenschaften, groß, schlank und ganz nach der neuesten Mode gekleidet. Er trug Zweireiher mit breiten Schultern, übergroßen Revers und schmaler Taille, Krawatte und Stecktuch, dazu die gerade modischen breiten Schuhe mit dicker Kreppsohle. Dabin kam offenbar aus wohlhabendem Haus, hatte gute Manieren und war charmant, verkörperte also all das, was Violette so gefiel und was sie selber gern sein wollte. Sie hatte bei ihren Ausflügen schon bisher mit einer fiktiven Biographie gearbeitet, und diese baute sie nun für ihren Jean noch weiter aus. Ihr Vater avancierte darin zum Chefingenieur der Eisenbahn, die Mutter zur Direktrice des Modesalons Paquin, und sie selbst war dort als Designerin tätig. Eine Woche nach dem ersten Rendezvous erfuhr sie, dass ihre Syphilis ausgeheilt war; in einem Hotelzimmer liebten sie und Jean sich daraufhin zum ers-
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ten Mal. Violette war glücklich. Der Mann, den sie liebte, hatte es auch geschafft, ihr erstmals körperliche Befriedigung zu schenken. Sie wusste, dass sie ihn nie mehr verlieren wollte, selbst dann nicht, als sich herausstellte, dass es mit der Wohlhabenheit des Jus-Studenten nicht so weit her war und seine Biographie ebenso wie die ihre erfunden war. Auch sein Vater war als Stationsvorstand des Vorortebahnhofs Ivry nur ein kleiner Eisenbahnbeamter, und das Taschengeld von 200 Francs reichte bei weitem nicht für modische Kleidung, Bars und Hotelbesuche. Violette wusste Abhilfe. Sie beschaffte das notwendige Geld auf gewohnte Weise und verdiente mit ihrem Körper jeden Tag zwanzig, dreißig Francs, die sie Jean Dabin gab. Der beglich damit die gemeinsamen Rechnungen, benutzte das Geld aber auch bald für seine eigenen Bedürfnisse. Als Baptiste einen Unfall hatte und ins Krankenhaus musste, durchsuchte Violette die elterliche Wohnung, fand aber nur wenig Bargeld, das sie gerade jetzt so dringend nötig gehabt hätte. Sie und ihr Liebster wollten nämlich in die Ferien fahren, doch dazu war laut Jean ein Wagen nötig, und zwar ein Bugatti, der selbst gebraucht mindestens zehntausend Francs kostete. „Die bringe ich dir“, versprach Violette, „weil ich dich liebe.“ *** Es herrschte Sommer in Paris, und die reichen älteren Herren waren auf Sommerfrische gefahren. Einer ihrer Kunden gab Violette 200 Francs für das Begräbnis ihres Vaters, für das sie angeblich dringend Geld brauchte. Zu Hause entdeckte sie das Geldversteck von Baptiste, der in Wahrheit immer noch im Krankenhaus lag. Sie musste den Schlafzimmerschrank aufbrechen, um an die Finanzreserve zu kommen, und brachte die vierhundert Francs sofort zu Jean. Aber damit war der Bugatti noch lange nicht finanziert – und die Zeit drängte, da ihr Freund in wenigen Tagen mit seinen Eltern in die Bretagne musste. Violette versprach, ihm zu schreiben und poste restante Geld zu schicken. Dann würden sie beide in die Ferien fahren können, im Luxusauto, wie sich das gehört, direkt an die Cote d’Azur. Im Elternhaus gab es jedoch mittlerweile ernsthafte Probleme. Baptiste war aus dem Spital zurückgekehrt, hatte den Diebstahl entdeckt und Jeans Briefe aus der Bretagne abgefangen. Wegen des aufgebrochenen Schranks hatte Violette eine großartige Ausrede parat: Sie hätte das Geld gebraucht, um ihre Visiten bei Dr. Déron zu bezahlen, und Papa sei ja nicht da gewesen. Und Jean, na ja, der sei halt ein Studienkollege, der unsterblich verliebt in sie sei. Aber für sie sei das
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nichts Ernstes. Damit gelang es ihr wieder einmal, ihre naiven Eltern zu beruhigen. Am 21. August frühstückte die Familie zusammen. Violette spielte mit ihrem Vater bis nach Mittag Karten, dann verließ sie das Haus, um mit ihrer alten Freundin Jeanette, der fiktiven Schwester Dr. Dérons, auszugehen. Dagegen hatten die Eltern nichts einzuwenden, und dass sie sich aus der geheimen Kasse im Schrank wieder einmal mit 100 Francs bedient hatte, merkten sie erst, als Violette schon längst weggegangen war. In der ihr schon vertrauten Apotheke kaufte sie neuerlich Soménal, diesmal gleich zwei Röhrchen, und in einer anderen Apotheke noch eine Portion, dazu ein Fläschchen mit Bittersalz. Dann setzte sie sich in ein Café in der Rue de Charenton und zerdrückte wie einige Monate vorher die Pillen zu Pulver, das sie in zwei mitgebrachte Säckchen füllte. In ein drittes, aus anderem Papier, füllte sie nur Bittersalz, zeichnete ein Kreuz darauf und schrieb sodann einen langen, glühenden Liebesbrief an Jean. Für einen zweiten Brief verstellte sie ihre Schrift: „Sehr geehrte Frau Nozière! Verzeihen Sie bitte, dass ich Ihnen bisher nicht geschrieben habe. Ich war mir über das, was sie mir bezüglich ihres Gatten geschrieben haben, nicht im klaren; aber ich schicke Ihnen drei Päckchen. Den Inhalt dieser Päckchen müssen Sie vor dem Schlafengehen einnehmen. Mein Freund, den ich in Sables d’Olonne getroffen habe, ist Professor Lacassé aus Lille; er ist sehr berühmt als Professor für Kopfschmerzen. Ich schicke Ihnen diese Medikamente gratis, und es wird Sie überhaupt nichts kosten. Wenn Sie diese Päckchen nicht nehmen, wird das schwere Folgen haben. Mein Freund und ich werden alles tun, um bei ihrem Gatten eine Besserung herbeizuführen. Vor allem sehen Sie zu, dass Violette das Päckchen mit dem Kreuz darauf nimmt, denn ihre Stirnhöhlen sind in einem sehr schlechten Zustand. Sehr herzlich, Ihr Dr. Henri Dénon.“ Mit dem Brief und den Päckchen in der Tasche – die Dose, in der sich das Bittersalz befunden hatte, war in der Toilette des Cafés zurückgeblieben – kam Violette um halb sieben nach Hause in die Rue Madagascar zurück. Dort war die Stimmung nicht gerade sehr gut. „Setz dich, dein Vater hat mit dir zu reden.“ Die Begrüßung war nicht besonders freundlich. Baptiste fragte nach den fehlenden hundert Francs. „Ja, Papa, die habe ich genommen“, sagte Violette. Leugnen war ohnehin sinnlos. „Als Honorar für Dr. Dénon“, brachte sie ihre alte, schon bewährte Ausrede vor. „Und was ist das?“ Baptiste legte ihr den letzten der abgefangenen, glühenden Liebesbriefe Jean Dabins vor. „Jean ist mein Freund, eigentlich mein Verlobter. Wir wollen heiraten.“ Und dann schilderte Violette ihren Auserwählten mit so beredter Begeisterung, wie sie ihn wahrscheinlich selbst sehen wollte – als Sohn aus wohlhaben-
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dem Hause und erfolgreichen Studenten mit besten Aussichten. Die Eltern glaubten ihr. Baptiste verlangte nur noch, dass sie einen Brief an Jean schreiben sollte, in dem er um eine schriftliche Erklärung gebeten wurde, welche Absichten er ihr gegenüber habe und wann er bei ihren Eltern vorstellig werden wolle. Das Abendessen verlief beinahe wieder harmonisch. Man freute sich über die strahlende Zukunft Violettes, und die Mutter erzählte ihr, man habe gut für sie vorgesorgt – eine Mitgift von fünftausend Francs stehe bereit. Doch da lag immer noch der Brief von Dr. Dénon auf dem Tisch. Die Eltern lasen ihn, hatten jedoch berechtigte Zweifel an seinem Inhalt. Der Vater wollte das Pulver von einem Apotheker untersuchen lassen, und Violette musste diesem Vorschlag wohl oder übel zustimmen. Aber das Schicksal meinte es nicht gut mit Baptiste: Auf dem Weg zur Apotheke traf er einen alten Freund, unterhielt sich etwas zu lange mit ihm und stand dann vor einer verschlossenen Ladentür. Als er wieder zu Hause war, nahmen also alle drei die Pulver in den Säckchen zu sich – Germaine allerdings nur wenig, da es gar zu scheußlich schmeckte. Das Schlafmittel wirkte ziemlich langsam. Baptiste erzählte Violette gerade von seiner Ehe, als seine Worte immer schwerfälliger wurden, bis er schließlich am Tisch zusammensank. „Mama, komm!“ sagte Violette. „Papa ist schlecht.“ Gemeinsam gelang es den Frauen noch, Baptiste ins Bett zu bringen, dann wurde auch der Mutter übel und sie musste sich hinlegen. Violette behauptete ebenfalls, todmüde zu sein. Doch sie wartete geduldig ab, bis ihre Eltern das Bewusstsein verloren hatten. Dann nahm sie ihrer Mutter die Geldbörse mit eintausend Francs ab, stöberte im Schrank und fand das Lohnsäckchen des Vaters, das noch einmal zweitausend Francs enthielt. Als sie mit ihren Erledigungen fertig war, zog sie den Vorhang vor die Tür, damit niemand von draußen das Röcheln hören konnte, und verließ das Haus. Um drei Uhr morgens nahm sie sich ein Zimmer im Hotel de la Sorbonne, wo sie ihre erste Liebesnacht mit Jean verbracht hatte. *** Wenige Stunden später, um acht Uhr früh, war Violette schon wieder auf den Beinen. Sie brachte ihrer Freundin Madeleine sieben geliehene Francs zurück, verabredete sich für den Abend mit ihr und schrieb einen Rohrpostbrief an die Eltern, in dem sie ankündigte, dass sie mit Jeanette zu Abend essen würde. Dann ging sie einkaufen und erwarb um fast tausend Francs Kleider und Schmuck. Seltsamerweise schrieb sie nicht an Dabin und schickte ihm auch kein Geld.
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Mit Madeleine besuchte sie abends das Palais de Café und dann das Coupole. Am Boulevard Montparnasse wurden die beiden Mädchen von zwei flotten jungen Herren, angeblich Diplomaten, zu einem Ausflug in den Bois de Boulogne und anschließend ins Tabarin eingeladen. Schon um ein Uhr wollte Violette aber – ganz anders als sonst – nach Hause und ließ sich mit dem Auto hinfahren. Als sie das elterliche Schlafzimmer betrat, erschrak sie. Die Körper ihrer Eltern hatten sich nach ihrem Abgang letzte Nacht offensichtlich bewegt. Die Mutter lag jetzt vor dem Bett, die Arme nach ihrem Mann ausgestreckt, als wollte sie ihm zu Hilfe kommen. Baptiste atmete nicht mehr und war eindeutig tot, wohingegen Germaine noch schwach Luft holte. Sollte ein gemeinsamer Erstickungstod glaubhaft wirken, so musste Violette beide in ihre Betten ins Schlafzimmer bringen. Mit der Mutter hatte sie keine Probleme, doch der Vater war zu schwer, weshalb sie ihn auf der Liege in der Küche liegen ließ. Der Polster und der obere Teil der Decke waren blutgetränkt. Als sie ihr grausames Werk verrichtet hatte, riss die treusorgende Tochter den Gasschlauch heraus, öffnete den Hahn und verließ die Wohnung. Um genau zwei Uhr morgens klopfte es heftig an die Tür von Monsieur Mayeul. Wieder stand Violette draußen, verzweifelt und im Nachthemd. „Hilfe, kommen sie bitte schnell“, rief sie. „Es riecht so nach Gas bei uns.“ Mayeul folgte Violette. Beim Betreten der Wohnung machte er kein Licht, da der Funke eine Explosion auslösen hätte können. Er drehte den Gashahn zu und sah im Schein der Hoflampe den leblosen Körper Madame Nozières. Als Feuerwehr und Rettung eintrafen, fanden sie im Esszimmer die Leiche Baptistes; für Germaine bestanden noch Überlebenschancen. Sie wurde ins Krankenhaus gebracht, wie schon vor einigen Monaten. Der Polizei wurde bald klar, dass es sich hier weder um eine Gasvergiftung noch um gemeinsamen Selbstmord der Eheleute handelte. Wie man am Zähler ablesen konnte, wäre die ausgetretene Gasmenge viel zu gering gewesen; zudem fanden sich im Blut der bewusstlosen Frau kaum Spuren von Kohlendioxid. Die Ärzten stellten fest, dass es sich um eine andere Art von schwerer Vergiftung handeln musste, und Baptistes Autopsie erbrachte Klarheit: Veronal. Das Schlafmittel fand sich auch in den kleinen Tüten, die in der Wohnung sichergestellt wurden. Als Frau Nozière zum ersten Mal wieder das Bewusstsein erlangte, war sie nicht fähig, die Ereignisse zu erklären. Und Violette sprach nur vom Selbstmord ihrer armen Eltern. Noch bevor Germaine gegen ihre Tochter aussagen konnte, entfloh diese in einem unbewachten Augenblick. Sie wusste, dass man sie im Quartier Latin suchen würde, und begab sich daher ans andere Seine-Ufer. Nachdem ein Rendezvous mit einem der beiden Diplomaten fehlgeschlagen war, verbrachte sie die
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erste Nacht auswärts bei einem Jazz-Schlagzeuger. Der Mann finanzierte ihr zwei Nächte in einer Pension und schenkte ihr noch 15 Francs. Am nächsten Tag lernte sie in einem Kaffeehaus Monsieur Alfred Roland kennen – Gewinn: 100 Francs. Die Nacht vom 27. auf den 28. August brachte ihr noch einmal dieselbe Summe ein. Beim Flanieren auf den Champs-Élysées ließ sie sich von einem sehr elegant gekleideten, sichtlich wohlhabenden jungen Mann – also genau ihrem Typ – ansprechen und vereinbarte mit ihm ein abendliches Treffen. Da der betreffende Herr aber Zeitung gelesen hatte, das Gesicht seiner Verabredung ihm irgendwie bekannt vorkam und sein Vater den Polizeipräsidenten gut kannte, benachrichtigte er diesen direkt. Violette wurde verhaftet, als sie am vereinbarten Ort, in der Brasserie de la Bière Brune in der Avenue de la Motte Picquet, eintraf. *** In der Untersuchunghaft verfasste Violette Nozière eine längere schriftliche Beschreibung ihrer Tat, die sich nicht in allen Punkten mit den erhobenen Tatsachen deckte, und machte mysteriöse Andeutungen über einen fremden Willen, der sie bei ihrem Tun beherrscht und dazu getrieben habe. Weiters behauptete sie, sie hätte nur ihren Vater töten wollen, nicht aber die Mutter. Eine Gegenüberstellung mit Germaine im Krankenhaus verlief so dramatisch, dass der Staatsanwalt sie abbrechen musste. Am 6. September wollte Violette den Untersuchungsrichter sprechen und präzisierte vor ihm, warum sie ihren Vater umbringen hatte wollen. Sie habe ihn nicht nur wegen seiner strengen Vorschriften gehasst, sondern aus einem viel schwerwiegenderen Grund: Schon seit ihrem zwölften Lebensjahr sei sie laufend von ihm missbraucht worden. Die Mutter stritt dies natürlich empört ab. Violettes Behauptung war zwar nicht beweisbar, blieb aber im Gedächtnis der Öffentlichkeit, die den anschließenden Prozess gierig verfolgte, hängen und wurde auch geglaubt. Ein so hübsches, unschuldig wirkendes Mädchen aus gutbürgerlichem Hause konnte doch unmöglich derart böse Dinge getan, sich Männern gegen Geld angeboten und sogar die eigenen Eltern ermordet haben. Was nicht sein kann, darf nicht sein – diese Haltung tritt bei Verfahren gegen Frauen, vor allem besonders hübsche oder besonders mütterlich wirkende, oft zutage. Bemerkenswert war, dass sich auch die intellektuelle Elite Frankreichs – wie schon bei den Schwestern Papin – des Falles annahm. Besonders die Surrealisten ergriffen Partei für das Mädchen, und im belgischen Verlag Nicolas Flamel erschien im Dezember 1933 ein Gedichtband, für den unter anderem André Breton, Paul Eluard und René Char Textbeiträge geschrieben und Salvador Dali,
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René Magritte und Max Ernst Illustrationen beigesteuert hatten. Sie alle glaubten Violette Nozière und sahen in ihr die Personifikation der von spießbürgerlichen Eltern unterdrückten Jugend, die ihre Freiheit sucht. Im Gedicht Benjamin Perets heißt es zum Beispiel: Lass mich vergessen, den Papa, das Papachen, Das mir Gewalt antat… Und all die schwarzen Spürhunde des Aases All die Väter, die Richter im roten Ornat Jagen und hetzen sie Die wie der erste blühende Kastanienbaum ist Wie das erste Wehen des Frühlings, Das Winter-Unrat hinwegfegt.
Die Psychiater, die Violette im Auftrag des Gerichts untersuchten, waren nicht so leicht zu beeindrucken. Sie attestierten ihr volle Schuldfähigkeit. Ihre Lügen seien Zwecklügen, keine pathologische Erscheinung, und Geisteskrankheit könne keine diagnostiziert werden – im Gegenteil, sie sei intelligent, rational, aber außergewöhnlich ichbezogen. Um dem verhassten Milieu zu entkommen, würde sie alles tun und auch vor Mord nicht zurückschrecken, meinten die Experten. Und die Geschichte mit der Ferneinwirkung durch Hypnose sei purer Unsinn. Am 10. Oktober 1934 begann der Prozess in Paris. Er endete mit einem Schuldspruch und der Verurteilung zum Tode. Dem Verteidiger gelang es, das Urteil in lebenslängliche Kerkerhaft umwandeln zu lassen, indem er an den Präsidenten der Republik, Albert Lebrun, appellierte – denselben Politiker, den der ermordete Vater so oft im Staatszug gefahren hatte. Violette hatte sich in der Zwischenzeit mit ihrer Mutter ausgesöhnt, nahm die Vorwürfe gegen den Vater jedoch erst in einem Brief vom Oktober 1938 zurück. Sie habe alles erfunden, um weniger schuldig zu erscheinen. Ihre Haftstrafe verbrachte sie im Gefängnis von Rennes, aus dem sie bereits am 29. August 1945 bedingt und mit Aufenthaltsverbot für eine Reihe französischer Städte entlassen wurde. Als sie wieder in Freiheit war, wurde Violette prompt von genau dem kleinbürgerlichen Leben eingeholt, dem sie zu entfliehen versucht hatte. Sie heiratete den Koch Pierre Garnier, den sie im Gefängnis kennengelernt hatte. Mit ihm führte sie eine kleine Pension mit angeschlossenem Restaurant, und das glückliche Paar hatte fünf Kinder. Am 18. November 1966 starb Violette Nozière an Krebs.
Mordszenarien in der Literatur
„Die Marquise de Brinvilliers vergiftet ihren Vater“ Buchillustration zu Albert Smith: The marchioness of Brinvilliers, 1846
Heroinen, Giftmischerinnen und verzweifelt Liebende Eine kleine Typologie mordender Frauen in Literatur und Film von der Antike bis zur Gegenwart∗ H EINZ -P ETER P REUSSER
H EROINEN
DER
ANTIKE – D IE AMAZONEN
Heldinnen, kämpfende Heroinen in der Antike gibt es durchaus, wenngleich ihre Einschätzung als tötende oder gar mordende Frauen nicht eben einfach ist. Eine ambivalent positive Zeichnung dieser Heroinen findet sich zunächst in den Amazonen, jenem mythischen Frauenvolk und -Reich, das sich aller Männer gewaltsam entledigt hat, nur zur Reproduktion Männer aufsucht und selbst die Kinder männlichen Geschlechts tötet. Kenntnis haben wir von ihnen durch Diodor, von Herodot, von Strabo, vor allem aber durch Kompilationen – wie schon
∗
Der nachfolgende Beitrag übernimmt größere Textteile aus drei Publikationen des Autors: „Der Mythos der Amazonen. Eine männliche Konstruktion und ihre feministischen Fehldeutungen“, in: Udo Franke-Penski/Heinz-Peter Preußer (Hgg.): Amazonen – Kriegerische Frauen, Würzburg 2010, S. 35-48. „‚Die Männer sind ein Gift auf der Welt‘. Kapitalverbrechen als weibliche Notwehr und als Antidot in Elfriede Czurdas ‚Die Giftmörderinnen‘“, in: Klaus Kastberger/Kurt Neumann (Hgg.): Grundbücher der österreichischen Literatur seit 1945 (Zweite Lieferung), Wien 2013, im Druck. „Den Liebsten verspeisen. Anthropophagie als Reflex von Eros und Individualisierung bei Heinrich von Kleist, Elfriede Czurda und Peter Greenaway“, in: Jutta Schlich/Sandra Mehrfort (Hgg.): Individualität als Herausforderung. Identitätskonstruktionen in der Literatur der Moderne (1770-2006), Heidelberg 2006, S. 149-180.
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diejenige der Bibliothek des Apollodoros.1 Die bekannteste, ebenfalls aus dem Altertum, stammt von Plutarch. Es sind wenige Seiten aus der Doppelbiografie der Großen Griechen und Römer, hier aus dem ersten Teil, dem Theseus. Das Epos, das den Anschluss an die Ilias herstellt, die Aithiopis, ist nicht mehr erhalten, war aber der Fundus, aus dem sich die Autoren der Antike noch bedienen konnten. Es berichtete vom Kampfeinsatz der Amazonen auf Seiten der Trojaner, von der Begegnung Penthesileas mit dem Griechenhelden Achill, also von jenem tödlichen Aufeinandertreffen,2 das uns Kleists Drama dargestellt hat.3 Populäre Nacherzählungen der Amazonenmythen, auch in heutiger Zeit noch vielfach gelesen, stammen von Karl Kerényi und Robert von Ranke-Graves.4 Sie sammeln Fragmente zu einem Strauß teils widersprüchlicher Narrationen aus diversen Sagenkreisen. Drei Amazonenköniginnen prägen die Mythen. Die schon genannte Penthesilea (gegen Achill), Hippolyte (gegen Herakles) und Antiope (gegen Theseus).5 Für Herakles war es die neunte Aufgabe, den ‚Gürtel‘ der Hippolyte zu gewinnen, sich also ihres Wehrgehänges oder der gesamten Rüstung zu bemächtigen. Von Theseus wird berichtet, wie er Antiope raubt.6 Daraufhin ziehen die Amazonen vor die Tore Athens, belagern die Stadt und wollen ihre Königin freipres-
1
Vgl. Vollmers Wörterbuch der Mythologie aller Völker. Neu bearbeitet von W. Binder, 3. Aufl. Stuttgart 1874, S. 32-34, hier S. 32f. Fernand Comte: Mythen der Welt [2004]. Übers. aus d. Frz. von Helmut Schareika, Darmstadt 2008, S. 74f. Apollodoros 2, 98 u.a. nach der Ausgabe Apollodoros: Götter und Helden der Griechen. Hg. und übers. aus d. Gr. von Kai Brodersen, Darmstadt 2010, S. 62f.
2
Vgl. Konrat Ziegler/Walther Sontheimer (Hgg.): Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden. Auf der Grundlage von Pauly’s Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter bearb. und hg., München 1979, Bd. 1, Sp. 291-293. Siehe auch: Carl Andersen u. a. (Hgg.): Lexikon der Alten Welt, Düsseldorf 2001, Bd. 1, Sp. 133.
3
Siehe Heinrich von Kleist: Werke und Briefe in vier Bänden. Hg. von Siegfried Streller u.a. 3. Aufl., Berlin/Weimar 1993, hier Bd. 2: Dramen. Penthesilea, S. 5-120, S. 445-543 [Frühfassung], S. 544-576 [Phöbus-Fragment].
4
Karl Kerényi: Die Mythologie der Griechen [1966]. Bd. 1: Die Götter- und Menschheitsgeschichten. Bd. 2: Die Heroengeschichten, 14. Aufl. München 1992 resp. 12. Aufl. 1994, hier Bd. 2, S. 130-133, S. 192-194, S. 272-274. Robert von Ranke-Graves: Griechische Mythologie. Quellen und Deutung [1955]. Übers. aus d. Engl. von Hugo Seinfeld, Reinbek 1985, Kap. 100, S. 320-323.
5
Vgl. Andersen u.a., Bd. 1, Sp. 133.
6
Vgl. Ziegler/Sontheimer, Bd. 1, Sp. 292.
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sen. Auch hier triumphiert der Mann, wenngleich sich, nach Plutarch, der Friede durch Vermittlung einstellt, nicht durch überlegene Gewalt.7 Zudem begegnen die Argonauten den Amazonen selbst und einem weiteren Frauenstamm, der alle Männer ermordet, ja auch die männlichen Kinder beseitigt hat. Bis auf die Erzählung von Penthesilea sind alle diese Mythologeme Heldenfahrten ins Unbekannte. Die Heroen fungieren strukturell als Zivilisationspioniere und Kolonisatoren, die neues Land erschließen und sich zu eigen machen. Dafür tun sie sich den Selbstzwang an, den die Fahrt über das Meer darstellt. Heiner Müller hat das bebildert,8 im treuen Rekurs auf den Grundtext der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno.9 Sie setzen ihr Leben ein, um entlohnt zu werden durch Unsterblichkeit. Die Helden versagen sich ihre Triebe, damit sie im Raub umso klarer zu ihrem Recht kommen. Herakles arbeitet daran, sagt Stefan Schütz, ein Gott zu werden.10 Dafür lohnt jeder Einsatz. Selbst wenn Jason seine Hypsipyle durch Liebe gewinnt, bleibt das Muster doch gleich. Sein Verhältnis zur Amazone ist vom Nutzen diktiert, kurz: zweckinstrumentell. Er wird sie, für das Ziel der Argonautenfahrt, verlassen wie später seine Medea.11 Theseus verrät aus dem nämlichen Grund seine Ariadne.12 Und Theseus wird auch seine Antiope opfern für die Zwecke des Machterhalts, um Phaidra zu heiraten.13 Nach manchen Berichten soll sogar Herakles die Königin Hippolyte für sich eingenommen haben: eine Variante, die bei dem Raubein einigermaßen befremdlich wirkt. So zöge er denn als Beschenkter, nicht als Räuber davon.14 Den Frauen bleibt nur die vergebliche Klage
7
Vgl. Plutarch: Große Griechen und Römer. Mit Illustrationen aus einer englischen Ausg. von 1676. Übers. aus d. Gr. von Konrat Ziegler und Walter Wuhrmann. Text nach der Ausg. Zürich/München, Bde. 1-6, 1954-1965, Ottobrunn bei München 1984, hier Theseus Kap. 27, S. 23f.
8
Heiner Müller: „Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten“ [1983], in: Ders.: Herzstück, Berlin 1983, S. 91-101, hier insb. S. 98f.
9
Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1944/1947], Frankfurt a.M. 1986. Hier insb. die Kap.: „Begriff der Aufklärung“, S. 9-49, und „Odysseus oder Mythos und Aufklärung“, S. 50-87.
10 Stefan Schütz, „Die Amazonen“, in: Ders.: Wer von euch. Stücke nach der Antike, Frankfurt a.M. 1992, S. 67-121, hier S. 69: „Zwölf Taten, und ich bin ein Gott“. 11 Ovid: Heroiden-Briefe. Die Erotischen Dichtungen. Deutsche Gesamtausgabe. Übers. aus d. Lat. von Viktor von Marnitz, Stuttgart 1967, S. 100, S. 102-104, S. 126-132. 12 Vgl. Plutarch, Theseus 19, S. 16. 13 Vgl. Ranke-Graves, S. 322f. 14 Vgl. Kerényi, Bd. 2, S. 131f.
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der Verlassenen – wie die der Hypsipyle in den Heroiden-Briefen des Ovid – oder die Rache der Enttäuschten und Verratenen, wie diejenige Medeas, die Euripides oder Seneca so erbarmungslos in den Schlussbildern ihrer Tragödien schildern.15
Z UR R ECHTSPOSITION G RIECHENLAND
DER
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IM ANTIKEN
In allen Amazonenmythen unterliegen also die kriegerischen Frauen, sei es durch Liebe, sei es im direkten Kräftemessen auf dem Feld, sei es in einer Kombination aus beiden Anteilen. Sie werden ernst genommen, nur um die Fallhöhe zu vergrößern. Die männlichen Helden strahlen dann umso kräftiger. Das muss seinen Sinn haben. Und der erweist sich in der Legitimation, die solche Mythologeme leisten. Demnach wären die Amazonen nicht primär ein Nachhall einstiger Matriarchate. Selbst wenn sie verdeckt Zeugnis ablegten von früher Frauenherrschaft, würde sich doch das vordergründige Interesse der patriarchalen Gesellschaften über sie legen, sie bis zur Unkenntlichkeit verändern. Denn faktisch beglaubigen die Erzählungen von den Amazonen, das gut sei, was geworden ist: die Herrschaft der Männer über die Frauen, die wirksam ist spätestens seit Beginn der dorischen Wanderung um 1200 v. Chr.16 Ausgeschlossen vom öffentlichen Leben, gebannt in den engen Kreis der häuslichen Reproduktion, haben Frauen, vor allem im klassischen Athen des fünften Jahrhunderts, kaum eine Rechtsposition.17 Medea beklagt dementsprechend das Los der Frauen in ihrem
15 Ovid, Heroiden-Briefe. Euripides: Sämtliche Tragödien. Übers. aus d. Gr. von J[ohann] J[akob] Donner, bearb. von Richard Kannicht, 2 Bde., Stuttgart 1984. Darin Medea, Bd. 2, S. 185-233. Seneca [Lucius Annaeus Seneca, der Jüngere]: Sämtliche Tragödien. Lat. u. dt., übers. und erläutert von Theodor Thomann, 2 Bde. 2., durchges. Aufl., Zürich 1978. Darin Medea, Bd. 1, S. 239-311. 16 Ranke-Graves, S. 18. Vgl. Herodot: Geschichten und Geschichte [Das Geschichtswerk des Herodotos von Harlikarnassos], Bd. 1, Buch 1-4. Übers. aus d. Gr. von Walter Marg; Bd. 2, Buch 5-9, übers. aus d. Gr. von Walter Marg, bearb. von Gisela Strasburger, hier Bd. 2, Zürich/München 1983, S. 171. 17 Zur weiblichen Rechtsunmündigkeit im klassischen Athen siehe Carola Reinsberg: Ehe, Hetärentum und Knabenliebe im antiken Griechenland, München 1989, S. 2879, insb. S. 36-46. Vgl. auch Hubert Ortkemper: Medea in Athen. Die Uraufführung und ihre Zuschauer. Mit einer Neuübers. der „Medea“ des Euripides, Frankfurt a.M./Leipzig 2001, S. 87-97, insb. S. 87-90. Außerdem Julia Iwersen: Die Frau im
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großen Eingangsmonolog bei Euripides, 431 v. Chr. uraufgeführt bei den attischen Dionysien.18 Und eben darin kritisiert seine Tragödie die vorgefundenen Verhältnisse. Euripides hat erst, wie Christa Wolf sagt, Medea zur Mörderin ihrer Kinder gemacht.19 Aber in der Tat wird sie groß; das verkennt die wohlmeinende, mit der Figur Medea sympathisierende, sie ‚rehabilitierende‘ Deutung. Theseus gilt als Gründer Athens. Er war es, der die Dörfer von Attika zum Stadtstaat zusammenschloss, auch dies eine zivilisatorische Pioniertat.20 Auf ihn gehen die Panathenäen zurück, die Gemeinschaftsfeste der attischen Städte.21 Wie Herakles, wie Jason ist er zugleich ein Bezwinger der alten chthonischen Gottheiten. Er tötet den Minotauros, Frucht der maßlosen sexuellen Gier der zauberkundigen Pasiphaë, die sich von einem Stier begatten ließ.22 Theseus unterwirft also, was den Männern Furcht bereiten könnte. Seine Mythologeme ver-
Alten Griechenland. Religion, Kultur, Gesellschaft, Düsseldorf/Zürich 2002, S. 110115, sowie Uwe Wesel: Der Mythos vom Matriarchat. Über Bachofens „Mutterrecht“ und die Stellung von Frauen in frühen Gesellschaften vor der Entstehung staatlicher Herrschaft, Frankfurt a.M. 1980, S. 54-65. Dagegen betont Beate Wagner-Hasel das komplementäre Konzept der getrennten Räume von Männern und Frauen, das nicht gleich zu setzen sei mit Herrschaftsstrukturen. Nicht immer markierten die Sphären zugleich Unterordnungsverhältnisse. Siehe Wagner-Hasel: „Das Diktum der Philosophen: Der Ausschluss der Frauen aus der Politik und die Furcht vor der Frauenherrschaft“, in: Thomas Späth/Dies. (Hgg.): Frauenwelten in der Antike. Geschlechterordnung und weibliche Lebenspraxis, Stuttgart/Weimar 2000, S. 198-217, hier S. 203f. insb. 18 Ortkemper, S. 39-64. Euripides, Medea, Verse 96-203. 19 Vgl. Marianne Hochgeschurz (Hg.): Christa Wolfs „Medea“. Voraussetzungen zu einem Text. Mythos und Bild, Berlin 1998, hier Äußerungen Wolfs selbst, z.B. S. 15f., S. 19, S. 23f., S. 40f., S. 47f. Siehe auch meine Beiträge: „Medea fiam! Rezeption, Korrektur und Widerlegung eines Mythos. Von Euripides über Apollonios Rhodios bis Tom Lanoye“, in: Ortrun Niethammer/Heinz-Peter Preußer/Françoise Rétif: Mythen der sexuellen Differenz. Mythes de la différence sexuelle. Übersetzungen – Überschreibungen – Übermalungen, Heidelberg 2007, S. 199-214, sowie: „Medea – Kassandra/Kassandra – Medea. Apokalyptik und Identitätssehnsucht bei Christa Wolf“, in: Literatur für Leser 28 (2005), Heft 3. Sonderband Mythos und Antike in der Literatur des 20. Jahrhunderts, hg. von Carsten Jakobi, S. 241-262. 20 Vgl. Kerényi, Bd. 2, S. 192f. Plutarch, Theseus 2, S. 4. 21 Vgl. Ortkemper, S. 14. 22 Vgl. Ranke-Graves, S. 265f., S. 306.
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sichern, die maternalen Göttinnen, ihre Zauberinnen und deren ungeheure Ausgeburten seien ausgerottet wie das Gespenst der unersättlichen Frau. Dagegen bekräftigen sie zugleich, eben über die Figur des Theseus, dass der männliche Triebimpuls sich nach allen Seiten entfalten dürfe. Diese unhinterfragbare Vormachtstellung des griechischen Mannes in der Antike ist allerdings prekärer, als es diese kurze Skizze erwarten lässt. Das Vaterrecht musste durchgesetzt werden gegen egalitäre Gemeinschaftsvorstellungen. Und eben in den Mythologemen der Amazonen wie in den Narrativen des Matriarchats wurde diese Transformation bewältigt im Interesse der Männer. Zu Recht vermerkt Uwe Wesel, Johann Jakob Bachofen sei nicht der Entdecker des Matriarchats gewesen, denn das habe es nie gegeben. „Es gab Matriarchatsmythen. Die hat er entdeckt.“23 In ihnen wird ausgedeutet, wie gefährlich eine Herrschaft der Frauen sein könnte, würden denen nicht Zügel angelegt wie etwa im klassischen Athen.
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DEUTET
AISCHYLOS ʼ O RESTIE
Eine der großen Leistungen und Verkennungen von Bachofen ist die Interpretation der Orestie des Aischylos, insbesondere deren erster und letzter Teil, also der Agamemnon und die Eumeniden. Klytaimnestra ist eine Frau wie Medea, die sich nicht abfindet mit dem Status der Entrechteten und blutige Rache übt. Der Mann Agamemnon, für zehn Jahre in den Krieg vor Troja gezogen, lässt sie aus eitlen Gründen der Ehre um den gehörnten Bruder Menelaos allein zurück, nimmt selbst Beuteweiber und erwartet eheliche Treue von der Zurückgelassenen. Die aber hält sich einen Geliebten und sinnt auf Vergeltung, weil Agamemnon, um günstige Winde für die griechische Flotte zu erwirken, sogar ihrer beider Tochter Iphigenie opfert. Also tötet Klytaimnestra den untreuen, in ihren Augen zudem feigen Gatten hinterlistig im Bad, schlachtet ihn ab und verteidigt sich voller Stolz noch vor dem entsetzten Chor.24 Als Orest, ihrer beider Sohn, den Vater rächen will, hält sie ihm die Mutterbrust entgegen, erinnert ihn im Bildkern an die Gabe der Mutter und die Pflicht
23 Wesel, S. 64. 24 Aischylos: Tragödien und Fragmente. Übers. aus d. Gr. von Johann Gustav Droysen, bearb. und teilw. neu übers. von Franz Stoeßl, Zürich/München 1952 [Lizenzausgabe, Frankfurt a.M. u.a. o.J.]. Darin: Orestie, S. 265-399, hier S. 312-322 [Schluss des Agamemnon, Teil 1 der Orestie].
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des Sohnes.25 Aber der, gelernter Mann, erkennt nur das höhere Gesetz des Vaters an und durchstößt der Mutter die Brust, die ihn einst säugte, mit dem Schwert. Er verneint damit die Naturzyklik und setzt auf Geschichte und Fortschritt. So zeigt es uns Peter Stein in seiner epochalen Inszenierung der Orestie.26 Orest erweist sich damit als getreuer Erbe der Tatheroen und Zivilisationspioniere Herakles und Theseus, Jason und Odysseus. Die Erinyen, Rachegeister des alten Muttertums, setzen nur ihm nach und lassen die Gattenmörderin Klytaimnestra unbehelligt.27 Die Entscheidung erzwingt zudem Pallas Athene, die jungfräuliche, Kopfgeburt des Vaters Zeus und damit keiner Mutter Rechenschaft schuldig.28 Sie votiert für Orest, wohl wissend, dass die alten matriarchalen Göttinnen besänftigt und eingehegt werden müssen, um deren Kraft nutzbar zu machen für das Land und das Gedeihen aller.29 Denn immer noch verbürgen sie, die alten Verwandten der Mutter Erde und des Mondes, den Nahrungsreichtum, der aus dem Land kommt und alles Leben erhält.30 Bachofen ist ein großer Verführer; vor allem verführt er dazu, ihn zu missverstehen und zu vereinnahmen für eigene Ziele. Eigentlich hätte es für diesen Patrizier nie eine Karriere geben können in feministischen Diskursen. 31 Aber genau das passierte noch in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts. Bachofen gibt den alten Mutterkulten die Auszeichnung des Mutterrechts, adelt diese frühe Form als Gynaikokratie, also Frauenherrschaft, was dann gerne als Matriarchat, Herrschaft des Muttertums übersetzt wurde.32 Andererseits aber beschreibt er, in unsäglicher Redundanz – und damit nicht zu übersehen –, den Aufstieg aus der finsteren Sumpfvegetation des Erdreiches zum hellen Licht der Geistigkeit. 33 Für die erste Form steht das Mutterrecht, für die zweite das Vaterrecht. Die Wertung
25 Aischylos, Orestie, S. 355f. [Schluss der Opfernden, Teil 2 der Orestie]. 26 Die Orestie des Aischylos. D 1980. Regie: Peter Stein. Theateraufzeichnung der Schaubühne Berlin. 27 Vgl. Johann Jakob Bachofen: Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur [1861]. Ausw. hg. von Hans-Jürgen Heinrichs, Frankfurt a.M. 1975, S. 144f. 28 Aischylos, Orestie, S. 389 [Schluss der Eumeniden, Teil 3 der Orestie]. 29 Ebda., S. 391-394. 30 Ebda., S. 394-396. 31 Vgl. dazu Hélène Laffont: La réception du mythe matriarcal de Bachofen dans le cercle de George. Une transposition dangereuse, in: Niethammer u.a., S. 135-150. 32 Wesel, S. 9-18. Siehe auch Beate Wagner-Hasel: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Matriarchatstheorien der Altertumswissenschaft, Darmstadt 1992, S. 1-13, insb. S. 4, S. 6. 33 Bachofen, S. 48f., S. 52-54.
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ergibt sich aus den Attributionen. Der weibliche Mond, die „Mondin“ wurde besiegt von der männlichen Sonne, auch wenn die Artikel im Deutschen in die Irre führen. Bachofen unterhält, streng genommen, sogar drei konkurrierende Theoriemodelle, die sich wechselseitig ausschließen. Das Dekadenzmodell, vom Feminismus beerbt, deutet den Sieg des Patriarchats als Verfall alter Werte. Das Strukturbeschreibungsmodell gibt sich neutral in der Interpretation konkurrierender Mythologeme. Das Fortschrittsmodell, von Bachofen selbst deutlich präferiert, erkennt im Untergang der Mutterreiche eine Naturnotwendigkeit und feiert das neue Vaterprinzip, das erst den Raum der Geschichte eröffne.34 Es sind aber die berühmten Passagen seiner Einleitung ins Mutterrecht, die das Bild Bachofens als zitierfähigen Begründer der Matriarchatsforschungen ausmachen, sein metaphysisch-spekulativer Naturalismus, nicht der zutiefst protestantische Idealismus einer Höherentwicklung des Menschengeschlechts zu patriarchaler Vergeistigung. Es ist der Bachofen, der vom „Zauber des Muttertums“ spricht, „der inmitten eines gewalterfüllten Lebens als das göttliche Prinzip der Liebe, der Einigung, des Friedens wirksam wird“.35 In den Augen Bachofens ist der gynaikokratische Staat gekennzeichnet durch die „Abwesenheit innerer Zwietracht“ und die „Abneigung gegen Unfrieden“. Es herrscht ein „Zug milder Humanität“ vor.36 Die „Gynaikokratie [...] fühlt [...] lebendiger als spätere Geschlechter die Unität alles Lebens, die Harmonie des Alls“.37 Die Frau ist zum „ganzen Dasein[..]“ „von der Natur selbst praefiguriert“.38 Bachofen geht sogar so weit, die „gynaikokratische Weltperiode“ als „die Poesie der Geschichte“ aufzufassen und eine Analogie – bewusst romantisch – zur „ritterliche[n] Erhabenheit der germanischen Welt“ zu sehen.39 In solchen Äußerungen liegt der Kern des utopisch-romantischen Missverständnisses der Bachofen-Rezeption.
34 Ebda., S. 48f. Vgl. Heinz-Peter Preusser: Mythos als Sinnkonstruktion. Die Antikenprojekte von Christa Wolf, Heiner Müller, Stefan Schütz und Volker Braun, Köln/Weimar/Wien 2000, insb. S. 48f., auch S. 17f. 35 Bachofen, S. 12, vgl. S. 13. 36 Ebda., S. 14, vgl. S. 20. 37 Ebda., S. 27. 38 Ebda., S. 23. 39 Ebda., S. 17, siehe auch S. 23.
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Abbildung 1: Michelangelo Merisi da Caravaggio: Giuditta e Oloferne, um 1598
Nach diesem Interpretationsschema wird aber zugleich das Handeln von Frauen verständlich, die sich gegen den Verlust der einstigen Unität stemmen. Man kann sich dann erklären, weshalb Klytaimnestra ihren Mann, weshalb Medea ihre beiden Kinder ermordet hat. Es ist die Rache der erniedrigten Frau, die eine Vermännlichung der Verhaltensweisen nach sich zieht. Das Mutterrecht wird nun, quasi paradox, verteidigt durch den Wechsel der Geschlechtsstereotype. Die Harmonie wurde einseitig aufgekündigt: Dann geht frau eben mit dem Messer in das Schlafzimmer. Damit war schon Judith gegen Holofernes erfolgreich.40 (Abb. 1)
40 Vgl. den apokryphen Text: „Das Buch Judith“, in: Die Andere Bibel mit Altem und Neuem Testament. Ediert und bearb. von Alfred Pfabigan, Frankfurt a.M. 1991, Kap. 13, S. 99-121, hier S. 116. Ebenso unzählige Gemälde nach diesem Motiv, etwa das berühmte von Caravaggio (Giuditta e Oloferne, um 1598, Abb. 1). Siehe dazu Bettina Uppenkamp: Judith und Holofernes in der italienischen Malerei des Barock. Berlin 2004. Ebenfalls einschlägig Elfriede Wiltschnigg: „Judith – von der Volksheldin zur
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Und das ist noch das Muster der großen Kriegerinnen des Mainstream-Kinos der Gegenwart. Bei den genannten antiken Figuren Klytaimnestra und Medea ist es die Kränkung oder Zerstörung ihres Muttertums oder eine Versündigung am Geschlecht selbst, die Frauen zu Kriegerinnen umprogrammiert. In Kill Bill (Abb. I) wird die Protagonistin, schwanger und kurz vor der Trauung, beinahe umgebracht von einer Mördergang, der sie selbst angehörte. Sie glaubt, nach Monaten im Koma, ihr Kind verloren, wird zudem als Bewusstlose Opfer einer systematischen Vergewaltigung, die ein Pfleger im Krankenhaus gegen Geld betreibt, wenn er sich nicht selbst an der Scheintoten befriedigt. Im Erwachen erkennt sie diese äußerste Erniedrigung, reagiert in der Szene sofort und mit aller Härte und scheint geeicht für das Kommende. Übermotivierter kann man sich kaum einen Rachefeldzug denken, wenn der dann auch – zugegeben – alle Grenzen sprengt.41 Die Beispiele ließen sich zahllos – und über alle Genrezuordnungen hinweg – verlängern. Der Anblick einer Vergewaltigung von Verwandten, Schwestern zumeist, von der noch minderjährigen, in Sicherheit gebrachten Heldin begründet deren Entscheidung zum Kampf: ob das nun Jeanne d’Arc (Abb. 2 ) in der Fassung von Luc Besson ist42 oder die Heroine des Gothic-Horror, Selene (Abb. 3) aus dem Film Underworld: Awakening.43 Die heißt auch noch, als gelte es nach wie vor, Bachofen zu belegen, nach der antiken Mondgöttin. Die Frau, selbst wenn sie wie Selene ein Vampir ist, gibt sich nicht grundlos der Aggression hin. Ein Hannibal Lecter, der mit Lust und Kultur dem Kannibalismus frönt,44 wäre im Reich der Kriegerinnen kaum denkbar. „Achill das Vieh“ aus Christa Wolfs Kassandra könnte unmöglich von einer Frau gedoubelt werden.45
Femme fatale“, in: Antje Hilbig/Claudia Kajatin/Ingried Miethe (Hgg.): Frauen und Gewalt. Interdisziplinäre Untersuchungen zu geschlechtsgebundener Gewalt in Theorie und Praxis, Würzburg 2003, S. 61-75. 41 Kill Bill Vol. 1. Hieraus die Anfangsszene. Die Auflösung in Kill Bill Vol. 2. Beide Filme USA 2003, 2004. Regie: Quentin Tarantino. 42 Johanna von Orleans. USA, F 1999. Regie: Luc Besson. 43 Underworld: Awakening. USA 2003. Regie: Måns Mårlind, Björn Stein. 44 The Silence of the Lambs. USA 1990. Regie: Jonathan Demme. Hannibal. USA 2001. Regie: Ridley Scott. Vgl. Michaela Krützen: „‚I’m having an old friend for dinner‘. Ein Menschenfresser im klassischen Hollywoodkino“, in: Daniel Fulda/Walter Pape (Hgg.): Das andere Essen. Kannibalismus als Motiv und Metapher in der Literatur, Freiburg/Br. 2001, S. 483-531, hier S. 503f., S. 511f. 45 Christa Wolf: Kassandra. Erzählung, Darmstadt/Neuwied 1983, S. 30f., S. 66, S. 8486, S. 91, S. 95, S. 123, S. 126, S. 128f., S. 137, S. 142f. und passim.
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Abbildung 2: Screenshot aus Luc Besson: Johanna von Orleans, USA, F 1999
Abbildung 3: Screenshot aus Måns Mårlind/Björn Stein: Underworld: Awakening, USA 2012
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Böse ohne Selbstlegitimation sind nur die Hexen der Märchenstoffe oder ihre Artverwandten aus der Fantasy. Aber auch dann steht häufig eine männliche Inkarnation der Zerstörung über ihnen: ein böser „Geist der stets verneint“.46 Wie oft hingegen „werden Weiber zu Hyänen“,47 wenn sie ihr Kind zu verteidigen haben. Die Alien-Saga ist arrangiert um die Idee des Muttertums.48 Die Befreiung zur Kriegerin wird also um den Preis einer einseitigen Rollenzuweisung erkauft. Die Frau als Mutter verlässt nur scheinbar die gesellschaftlichen Konventionen, wenn sie tötet. Sie tut es für ihr Kind. Stilbildend war hier etwa die Figur der Sarah Connor aus Terminator 2.49 Weil sie auf der Seite des Lebens steht, darf sie auch Leben nehmen. Säkularisiert rekapituliert sie damit die alten chthonischen Göttinnen, die für Lebenszyklik stehen und deshalb morden. Aus dem Verfall wird das Neue. Als dunkler Hintergrund schwingt das Erdreich mit, zu dem die Lebewesen zerfallen. Die hütende Mutter ist also eine implizite, aber uneingestandene Drohung mit dem Tode.50 Der männliche Krieger, der tötet, versucht in einem modernistischen Kraftakt, dem Lebenszyklus zu entrinnen,51 während die Frau als Mutter – gegen den offensichtlichen Nihilismus ihres Tuns – zur Anwältin des Lebens wird, selbst wenn sie tötet. Um hier nicht missverstanden zu werden: Das sind allesamt Mythen der sexuellen Differenz, die ihrerseits hoch ideologisch sind und eine Kritik der Onto-
46 Johann Wolfgang Goethe: Faust. Eine Tragödie. Teil 1, Studierzimmer, Vers 138, in: Ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Richter u. a. Bd. 6.1, Weimarer Klassik 1798-1806. Hg. von Victor Lange, München/Wien 1986, S. 534-673, hier S. 571. 47 Friedrich Schiller: „Das Lied von der Glocke“, in: Ders.: Sämtliche Werke. Aufgrund der Originaldrucke hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. Bde. 1-4, Darmstadt 1997, Bd. 1, Gedichte, Dramen, S. 429-442, hier S. 440, Vers 366. 48 Hierzu besonders einschlägig der zweite Film der Reihe: Aliens. USA 1986. Regie: James Cameron. Vgl. dazu Udo Franke-Penski: „‚Faster, Pussycat, Kill!‘. Amazonen im modernen Action-Film“, in: Udo Franke-Penski/Heinz-Peter Preußer (Hgg.): Amazonen – Kriegerische Frauen, Würzburg 2010, S. 103-123, hier insb. S. 114-117. 49 Terminator 2. USA 1991. Regie: James Cameron. 50 Dazu, mit Bezug auf die Rachegeister der Erinyen, Bachofen, S. 155, sowie Ludwig Klages: Vom kosmogonischen Eros [1922], 9. Aufl. Bonn 1988, S. 62f. 51 Als Beispiel Heiner Müller: „,Herakles 2 oder die Hydraǥ. Intermedium aus ,Zementǥ“ (nach Gladkow) [1972], in: Ders.: Geschichten aus der Produktion 2, Berlin 1979, S. 65-133, hier S. 100-103.
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logisierungen erfordern.52 Aber für gewöhnlich wird nicht einmal transparent, dass noch die Diskurse der Gegenwart auf diesen mythischen Zuschreibungen basieren. Man feiert als emanzipativen Akt, was einer Festschreibung des Geschlechterverhaltens gleichkommt. Waren noch in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts die Begleiterinnen von Abenteurern in erster Linie hysterisch kreischende Weiber, die den Helden eher behinderten, als ihm im Kampf gegen das Böse beizustehen,53 und deren Karrieren bestenfalls bis zum Bond-Girl führen konnten,54 so sah man nun die waffenstarrende Frau als Einlösung des Gleichberechtigungspostulats. Anarchische Figuren wie das Tank Girl kokettieren mit dem Punk,55 schlichte Charaktere wie Hundra hingegen bedienen alte Männerfantasien.56 Die Figur der Mattie Ross aus True Grit, erst 14 Jahre alt, verdient sich den im Titel des Westerns ausgesprochenen Schneid, weil sie persönlich die Rache an ihrem ermordeten Vater sucht und gegen alle Widerstände umsetzt. 57 Von der Zukunft der Postapokalypse bis zurück in die graue Vorzeit der Fantasy reicht der Bogen der streitbaren Kriegerinnen. Doch auch Hundra ist überdeterminiert, bezieht wiederum ihren Racheimpuls aus den mordenden und brandschatzenden Männerhorden, die ihr friedliebendes Dorf zerstört haben.58
52 Vgl. Heinz-Peter Preusser: „Kritik einer Ontologisierung des Weiblichen. Mythische Frauenfiguren als das Andere der kriegerisch-männlichen Rationalität“, in: Françoise Rétif/Ortrun Niethammer (Hgg.): Mythos und Geschlecht/Mythes et différences des sexes, Heidelberg 2005, S. 85-100. Siehe auch den Band Niethammer u.a., passim. 53 Illustrierte Beispiele für das Genre bietet unter der Kapitelüberschrift „Amazonen und Sirenen“ der Band von Dirk Manthey u.a. (Hgg.): Science Fiction. Androiden, Galaxien, Ufos und Apokalypsen [1989], 3. Aufl. Hamburg 2003, S. 165-169; vgl. S. 159, S. 171. 54 Zur Entwicklung der Bond-Girls im Sinne einer weiblichen Emanzipationsgeschichte vgl. den Dokumentarfilm Bond Girls are Forever, USA 2002, Regie: John Watkin. Gesendet in der ARD am 20. 1. 2007. 55 Tank Girl, USA 1995, Regie: Rachel Talalay, nach den Comics von Alan Martin und Jamie Hewlett. 56 Vgl. den Klassiker von Klaus Theweleit: Männerphantasien. Bd. 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte. Bd. 2: Männerkörper – zur Psychoanalyse des weißen Terrors [1977], Reinbek 1982, passim, aber auch die männlichen Angstbilder in Bd. 1, Unterkapitel „Die Frau als Aggressor und Flintenweiber, die kastrierende Frau“, S. 71-87. 57 True Grit, USA 2010, Regie: Ethan Coen und Joel Coen. 58 Hundra, USA 1983, Regie: Matt Cimber.
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D IE K ÄMPFERIN ALS ‚ SCHARFE B RAUT ʻ – R OMANZEN DER G EWALTTÄTIGKEIT Diese Motivationsstruktur ist nachhaltiger als die vordergründige Inszenierung als Sexidol, die wir auch von Red Sonja und Catwoman über Xena bis Lara Croft beschreiben könnten.59 Die Kämpferin als ‚scharfe Braut‘ hat schon die Helden der Antike gereizt. Sie steigert deren Ruhm: von Theseus bis Batman.60 Umso mehr gilt das, wenn es dem Heros gelingt, die selbständige Frau durch Liebe, nicht durch rohe Gewalt zu gewinnen. Wenigstens knistern muss es zwischen beiden, wenn die weibliche Heldin anerkannt werden soll. Apollonios Rhodios beschreibt diesen Sieg der Empfindungen in seinem Argonauten-Epos. Jason muss nicht mehr kämpfen – wie Achill oder Theseus –, sondern bezwingt Hypsipyle, die Königin von Lemnos, einem „Stern gleichend [...] mit seinem schönen rötlichen Leuchten“.61 Das scheint erstaunlich für eine Frauengemeinschaft, die alle ihre Männer zuvor ermordete. Als die Argonauten weiterziehen, werden ihnen Tränen der Rührung nachgeweint.62 Mit dem Segen der Götter entlassen die Lemnierinnen ihre Helden, die, streng genommen, ihre emotionalen Bindungen allesamt verraten. Der radikale Wechsel vom Amazonenstaat zur Romanze ist eine Zumutung für jede kritische, vor allem für die gendertheoretische Lektüre – und er zeigt doch nur in seiner Extremform an, wie fast alle mythischen Konzepte die Versöhnung der Geschlechterdifferenz denken. Ein Drittes komme hinzu, das die Bipolarität aufhebe zwischen Mann und Frau. Und dieses Dritte sei der Diskurs der emphatisch verstandenen Liebe. Christa Wolf lässt ihre Kassandra genau nach dem gleichen Konzept agieren. Ihr Aineias, auffallend androgyn gezeichnet, erkennt die Gleichwertigkeit der Geschlechter an, definiert sich selbst über die Bestätigung der Frau.63 Aber auch er wird wieder ein Held werden müssen, er wird Kassandra verlassen, um als Kolonisator in Latium Wegbereiter für die Gründung der Stadt Rom zu werden: ein zweiter Theseus also und wiederum
59 Red Sonja, USA 1985, Regie: Richard Fleischer. Xena. Warrior Princess. Das Finale, USA 2001, Regie: Rob Tapert. Lara Croft: Tomb Raider, USA/D/GB/J 2001, Regie: Simon West. 60 Hier insb. Batman Returns, USA 1992, Regie: Tim Burton und Catwoman, USA 2004, Regie: Jean-Christophe Comar. 61 Apollonios Rhodios: Das Argonauten-Epos. Hg., aus d. Gr. übers. und erl. von Reinhold Glei und Stefanie Natzel-Glei, Bde. 1 und 2, Darmstadt 1996, Bd. 1, S. 45. 62 Ebda., Bd. 1, S. 49, S. 51. 63 Wolf, S. 98f., S. 101, S. 131. Preußer 2000, S. 111-117, S. 182-186.
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Zivilisationspionier. Einen Helden aber will Kassandra nicht lieben müssen und zieht daher ihr tragisches Ende vor – so wie es Aischylos vorgezeichnet hat.64 Kleists Penthesilea hat sich gleichfalls für den Kampf entschieden und verliert erst durch die Waffen des Eros. Der Fehler Achills liegt darin, sie auf dem Feld siegen zu lassen, ihr, der Angebeteten, die eigene physische Unterlegenheit nur vorzuspielen, um Penthesileas Geliebter werden zu können. Die Amazone durchschaut die Inszenierung der Unterwerfung und gerät darüber außer sich: im wörtlichen Sinne. Unter ihren Hunden zerfleischt sie den Griechenheld, tatsächlich eine frühe Kannibalin, aber auch sie hat Gründe: die der maßlos getäuschten – und in dieser Täuschung in ihrem Selbstwertgefühl ausgelöschten Geliebten.65 Wenn uns Kleist seine Heldin so merkwürdig entrückt zeigt nach der Tat, dann kommt auch dies einer Entschuldung gleich – freilich eine, die nicht schlüssig aufgeht, die beunruhigend bleibt und letztlich rätselhaft. Was Penthesilea an den Diskurs ihrer Zeit bindet, ist die Idee der romantischen Liebe. Aber eben darin geht sie nicht auf. Die Tragödie untergräbt hier die versöhnende Funktion des Mythos. Es ist kein Zufall, dass Hans Neuenfels, in seiner Inszenierung der Penthesilea und insbesondere im danach realisierten Fernsehfilm,66 die Idee der Androgynie als Ausweg entwickelt – ein Ausweg auch aus den gesellschaftlichen Konstruktionen des Geschlechts, die seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts brüchig schienen und theoretisch, namentlich durch Judith Butler, für obsolet erklärt wurden.67 Jetzt wird es möglich, nicht nur vermännlichte Frauen als moderne Amazonen zu zeigen, sondern die Kämpferinnen auch in ihren weiblichen Zügen zu präsentieren. Megan Turner, die junge Polizistin aus Blue Steel, ist einerseits betont androgyn gehalten, legt sich die Uniform, gleich in der Eingangssequenz,
64 Wolf, S. 156. Preußer 2000, S. 66. 65 Kleist, S. 101, Verse 2567-2573. Vgl. Heinz-Peter Preußer: „Den Liebsten verspeisen. Anthropophagie als Reflex von Eros und Individualisierung bei Heinrich von Kleist, Elfriede Czurda und Peter Greenaway“, in: Jutta Schlich/Sandra Mehrfort (Hgg.): Individualität als Herausforderung. Identitätskonstruktionen in der Literatur der Moderne (1770-2006), Heidelberg 2006, S. 149-180, hier S. 160-166. 66 Heinrich Penthesilea von Kleist, D 1983, Regie: Hans Neuenfels. Siehe insbesondere das Schlussbild, welches die Darstellerin der Penthesilea, Elisabeth Trissenaar, als Heinrich von Kleist zeigt und so den Titel legitimiert. 67 Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter [1990]. Übers. aus d. am. Engl. von Kathrina Menke, Frankfurt a.M. 2003. Vgl. Dies.: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts [1993]. Übers. aus d. am. Engl. von Karin Wördemann, Frankfurt a.M. 1997.
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wie eine zweite Männerhaut an, und wird doch, mit dem kleinen Schleifchen ihres BH, eindeutig weiblich konnotiert:68 ein raffiniertes Crossover des Geschlechterdiskurses. Ähnliches gilt für Nikita, die Drogensüchtige, die zum Killer umprogrammiert wird durch den französischen Geheimdienst. Amande, dargestellt von Jeanne Moreau, zeigt ihr, welche Waffen eine Frau einsetzen kann. Genau das macht sie überlegen als kalte Killerin. Sie reizt beide Seiten aus und verfügt deshalb über eine breitere Auswahl an Mitteln, verglichen selbst mit dem an Coolness nicht zu schlagenden Victor, den Jean Reno spielt.69 Außerdem gibt es Frauen, die Gewalt verabscheuen, sie aber notgedrungen einsetzen wie die hochschwangere, wirklich tapfere Marge Gunderson aus Fargo70 oder Georgina Spica in Peter Greenaways Film Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber. In der Schlusssequenz zwingt sie ihren Mann, den vulgären und äußerst brutalen Albert Spica, den Penis ihres Geliebten zu verspeisen, den dieser zuvor bestialisch ermordet hat. Mit vorgehaltener Pistole probiert Albert tatsächlich von dem zubereiteten Leichnam, muss sich aber übergeben. Der Dieb, abgebrüht und roh bis zur Unerträglichkeit, erfährt die Erniedrigung, die er anderen zugefügt hatte, an der eigenen Person. Georgina hat Albert die Kulturgrenze aufgezwungen, die dieser meinte, ignorieren zu können.71 Das ist eine durchaus originelle Dekonstruktion der männlichen Zivilisationsmythen. Und dann erschießt sie Albert: wohl kalkuliert und mit einem triumphierenden Lächeln.
G IFTMISCHERINNEN – H EIMTÜCKE , L IST UND V ERSTELLUNG Ein anderes Kaliber, um im verwendeten Bild zu bleiben, sind Giftmischerinnen und verzweifelt Liebende, die ihren Partner ermorden. Auch diese zweite Hauptgruppe in unserer kleinen Typologie folgt einer impliziten Ontologie des Weiblichen, nun allerdings in ihrer weniger heroischen Ausprägung. Seit dem 19. Jahrhundert gibt es zunehmend Versuche, das verbrecherische Weib soziologisch und biologisch dingfest zu machen, die ihm zugeschriebene Passivität mit der aktiven Tat in ein stimmiges Theorem zu fügen. Auch hier ist der Mord erst einmal Ausnahme – was schon das Mythologem der Amazone und ihre Derivate
68 Blue Steel, USA 1990, Regie: Kathryn Bigelow. 69 Nikita, F, I 1989/1990, Regie: Luc Besson. 70 Fargo, USA 1996, Regie: Joel Cohen. 71 The Cook, the Thief, His Wife and Her Lover, GB 1989, Regie: Peter Greenaway. Vgl. Preußer, 2006, S. 171-176, insb. S. 175f.; außerdem S. 179f.
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in der Moderne auszeichnete. Die Natur der Täterin wird nun aber damit erklärt, dass die Unterlegenheit und Unterausstattung der Frau kompensiert werde durch die Verdecktheit der Tat, durch Heimtücke. List und Verstellung, Heuchelei und Unaufrichtigkeit charakterisieren dann die unmännliche Täterin –72 wie schon bei Judith oder Klytaimnestra. Dennoch wird die Übertretung des typologischen Geschlechtermusters auch in diesen Verwerfungsdiskursen anerkannt und zugleich abgewehrt. Dann ist die Tat ein partieller Wechsel der Muster. Wenn also solche ‚männlichen‘ Eigenschaften mit den abgelehnten ‚weiblichen‘, passivischen verschmelzen, ist ‚Gefahr im Verzug‘ – umso mehr, wenn die Verbrecherinnen durch Promiskuität oder gar Homosexualität ‚auffällig‘ geworden sind.73 Den Roman Elfriede Czurdas von 1991, Die Giftmörderinnen,74 könnte man als Reflex dieser Diskurse und zugleich als Reminiszenz verstehen an den militanten Feminismus der 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts. Er kann deshalb als Modell dienen für unsere Heuristik einer sozialpathologischen ‚Alternative‘ zu dem Typus der Heroine. Aber dieses zugleich beeindruckende und wunderliche Werk der Sprachartistin Czurda zeigt vor allem, wie sich Macht verdichtet im gedachten und ausgesprochenen Diskurs, wie sich Welt bildet in der radikalen Prägung unserer Protagonistin durch das Wort, über das sie selbst nicht verfügt – aber der Gesamttext in ganz einzigartiger Weise. Er rekurriert sicherlich auf die stereotype Konstruktion der Geschlechterrollen, verbleibt aber nicht in der Dichotomie, die zunächst suggeriert wird. Schon der Titel lässt am letalen Ausgang gescheiterter Paarbindungen von Anfang an keinen Zweifel. Was sich entwickelt, ist deshalb nicht auf Spannung hin erzählt, sondern von erschreckender Folgerichtigkeit. Die Erzählstimme verfügt allwissend über ihre Figuren, gibt aber auch, fast unmittelbar, Gedankeninhalte als Erlebte Rede, als Inneren Monolog und als Bewusstseinsstrom wieder: So lässt sich die Erzählposition nie klar fixieren. Der Roman changiert virtuos zwischen den Zeiten und den Redeoptionen, blendet Briefpassagen ein, modelliert – zumindest im Ansatz – die Stimmen der einzelnen Figuren. Aber anders als Alfred Döblin, der den realen Mordfall aus dem Jahr 1922 zunächst bearbeitet hatte, interessiert Czurda nicht der befremdliche historische Vorgang selbst oder die Sexualpathologie dahinter,
72 Dazu ausführlicher Karsten Uhl: „Die Gewaltverbrecherin im kriminologischen und literarischen Diskurs des 20. Jahrhunderts“, in: Hilbig u.a., S. 91-103, hier S. 91-95 insb. 73 Ebda., S. 97f. 74 Elfriede Czurda: Die Giftmörderinnen. Roman, Reinbek 1991. Im Folgenden als Sigle G, fortlaufend im Text mit anschließender Paginierung.
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sondern deren Verwobensein mit dem Sprachmaterial, in dem sie artikuliert werden.75 Rekurriert wird auf die authentische Ermordung des dreißigjährigen Tischlers Hans Link (jandlsch gewendet in Rink), den seine Frau Elli, dreiundzwanzig Jahre alt, und deren Freundin mit Arsen vergiftet hatten. Döblin brachte zwei Jahre nach dem Mord seine Erzählung mit dem Titel Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord heraus: im Gestus der Neuen Sachlichkeit und angelehnt an den Diskurs des Prozessberichts, aber literarisch ausgeschmückt mit ausführlicheren Rückgriffen zur Genese des Falls, mit Deutungen der Schuld, zu Möglichkeiten und zum Scheitern des Verstehens.76 Czurda hingegen überschreitet die Kategorien der sozialen Tragödie, die sich hier abgespielt haben mag, in ganz anderer Hinsicht. Erst im wilden Zertrümmern durchschaut ihre Heldin Else, die heilige Einfalt – welche die faktuale Elli fiktionalisiert –, das Gefängnis des Diskurses, in dem sie gefangen war. Und in der erschreckend materiellen Zelle, in der sie nun sitzt, erreicht sie, paradoxer Weise, wieder die Freiheit der Imagination und die Chance, von ihrem realen, fürchterlichen Leben absehen zu können. Die Giftmörderinnen beginnt folgerichtig auch gleich in der Gefängniszelle, in der Else Rink hockt, weil sie ihren Mann Hans umgebracht hat: über ihr nur noch ein kleiner Ausschnitt Blau, der vom Himmel übrig geblieben ist. Dies Bild von Unfreiheit und der grenzenlosen Sehnsucht ins Freie, Transzendierte, verbindet die Narration kunstvoll mit den verschiedenen Ebenen der Rückerinnerung. (Vgl. G 33) Aber er tut dies doch nicht im Sinne einer Rollenprosa, weil die Ebene der Verfügbarkeit über das Wort doch auch immer wieder einbricht, die Erzählung selbst als Konstrukt stattdessen hervortritt und den Figuren, hier vor allem der Giftmörderin Else, eine Sprachgewalt zuschreibt, die sie unmöglich haben kann. Durch die offenkundige Diskrepanz von stimmiger, einem Soziolekt vergleichbarer Figurenrede und dem narrativen Grundton entsteht so eine Irritation des Erzählflusses, der die vergleichsweise harmlose Verunsicherung des unzuverlässigen Erzählers deutlich überbietet – und dem Leser entsprechend
75 Vgl. Annette Brockhoff: „Gnadenlose Liebe“, in: die tageszeitung vom 13. 12. 1991. 76 Alfred Döblin: Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord [1924]. Mit einem Nachwort von Jochen Meyer und zwei Handschriftenproben, Düsseldorf 2007, passim und S. 100f. sowie das Nachwort, S. 110, S. 114f. Zuerst erschienen in der Reihe: Außenseiter der Gesellschaft. Die Verbrechen der Gegenwart, Berlin 1924. Döblin selbst hatte aus Gründen des Personenschutzes die Namen bereits geändert. Die Figuren Link und Bende gehen zum Beispiel auf Klein und Nebbe zurück. Siehe außerdem Uhl, S. 98-100.
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viel abverlangt. Erst durch die Konstellation von Figuren und Stimmanteilen gelingt es der Erzählung, jeweils relational, die Stimmlagen zu filtern und die Positionen zuzuweisen.
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ALS
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E RFAHRUNG
Der Plot ist deshalb nur scheinbar leicht zu durchschauen; die Kolportage, die ihm zugrunde liegt, wird in eine bodenlose Ambivalenz gerissen. Else lebt nicht in ihrem Körper; ihr graust vor dem, den sie hat. (Vgl. G 138) „Hannsderkanns“ (G 10) hat sie einst verführt unter dem Maibaum, (G 12) tanzend, vor allem aber mit Worten, seinen pseudodichterischen Flötereien, erinnert die Protagonistin: „Elsespatzschönbistdu wie ein Kolibri“, (G 11) „Elsespatzschönbistdu wie ein Meer“, (G 12, 48) so sagt er. Gegeben aber hat er ihr nur seinen Leib, vor dem die Angetraute nun Ekel empfindet – wie vor dem eigenen. (Vgl. G 8) Else ist gebrannt am ganzen Körper von einem fremden Fleisch. Gestanzt. Genagelt. Zugenäht. Wie Harpunen ist es in sie hineingeschossen. Wie Armbrust Pfeile hat es in ihr herum gewühlt. Hansderwolf. Hanshyäne. Als wollte er neue Öffnungen bohren in den Mantel ihrer Haut. Als wollte er den Mantel zerfetzen und selbst anziehn. (G 15)
Hans bedeutet für Else zunächst das Ziel, sehr schnell aber schon das Ende ihrer Wünsche; (vgl. G 20) sie hat zu funktionieren in einem kleinbürgerlichen Ehealltag und meistert das mit Selbstverleugnung. Im selben Haushalt lebt Frau Rinx, Hansens Mutter, und stichelt und intrigiert gegen die Schwiegertochter, die „Lotterschlampe“, wie sie sagt. (G 18, 22) Sie zwingt Else in die Rolle, die Hans allein vielleicht nicht durchsetzen würde: Die Selbstverleugnung, so erfährt man en passant, hat sie an sich selbst erfahren (vgl. G 20) und kann das Wunschlose Unglück, frei nach Handke, umso besser reproduzieren. Nachts ‚überrascht‘ Mutter Rink das Paar beim Sex – oder, wie man korrekt sagen müsste, bei der ehelichen Vergewaltigung – und präsentiert sich selbst nackt mit obszönen Gesten. Sie schwenkt ihr Becken. Ihre Bauch Falten schnellen. Sie räkelt die Zehen. Sie knickt die Knie. Sie reckt ihre Brüste. Tätschelt sie mit den Fingern. Sie spindelt die Brust Warzen. Trink, Hans Liebster Sohn. Sie renkt ihr Hand Gelenk. Sie streichelt die Schenkel, sie fingert die Lende. Sie kräuselt die Scham. Hans, hechelt sie aus dem Gekröse, Hans Liebster Sohn. (G 33f.)
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Hans regrediert, greift zu Windeln und Schnuller und „[n]uckelt an Mammas Mamilla. Das ist in Elses Gedächtnis das Inferno. Das ist eine Feuer Walze im Kopf, die alle Gedanken verbrennt.“ (G 35) Wie sehr auch die Szene ins Irreale überzeichnet und als (partielle) Imagination kenntlich gemacht ist; sie und andere irritierten die Kritik, die sich streckenweise nur noch mit dem Sarkasmus behalf, Österreich sei wohl tatsächlich so dekadent, wie man seit je vermutet habe. „Könnte das doch ein dokumentarischer Realismus sein?“, fragt Heinrich Detering böse in der Rezension des folgenden Romans, der Schläferin,77 und schlägt Parallelen zu Thomas Bernhard oder Josef Winkler. Aber nicht um die ‚kleinbürgerlich-normale Perversion‘ geht es Czurda primär; diese ist nur die Oberflächenerscheinung für tiefer sitzende Abhängigkeiten. Doch es kommt noch ärger. Ein Untergang ist das Kapitel in der Mitte des Buches betitelt. Anders als in der vorigen Szene, die auktorial – von einem extraund heterodiegetischen Erzähler – berichtet wird, sind wir hier ganz bei unserer Else, welche die Bedeutung eines Fotos, das ihr zufällig in die Hände gerät, zunächst gar nicht begreifen kann oder will: „eine Natur Aufnahme“ sieht sie darauf. Doch warum „brandet Hans“ (G 71)? „Kreide bricht ihm aus dem Gesicht.“ „Ganz wild wird Hans.“ (G 70) Weshalb nur war es hinter dem „Kühl Schrank Aggregat“ (G 72) versteckt, wenn man kaum etwas darauf erkennen kann? Else linst. Das ist ja. Else luchst. Das ist ja ein schreckliches. Es schießt durch Else wie ein Schuß. / Betreten verboten. / Else starrt auf das Stein graue Geschlecht einer alten Frau. Auf Blut leere Stock fleckige Schleim Häute. Auf einzeln stehende graue Stachel Draht Haare.“ (G 71)
Und sie erkennt, von wem das Foto genommen wurde: „Mutter ist glatt seziert“ (G 71). „Else hängt über einem Nichts, das ärger ist als ein Tod.“ (G 72) Der implizierte Inzest, den man mit der Kontextualisierung der vorigen Szene in Eheschlafzimmer unterstellen muss, leitet die Wende in der Erzählung ein, zur Mitte des Buches. Doch es geht nicht um die Wucht des gebrochenen Tabus, so irritierend der Vorfall selbst erscheint, sondern um die Demütigung, der unsere Heldin ausgeliefert ist – und die im Kampf gegen die alte Rivalin und Schwiegermutter Rinx (vgl. G 168-172) kulminiert. Die geht anschließend zur Polizei und denunziert die Schwiegertochter mit ihrem Verdacht: „Dann ist eine Else weg. […] Dann ist Ruh.“ (G 174)
77 Heinrich Detering: „Wagalaweia des Schreckens. Authentisch oder geträumt? Elfriede Czurda nimmt das Messer“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. 8. 1997.
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D ER M EISTERDISKURS – S PRACHE ALS Z WANG „Immer hat jemand oder etwas Else im Besitz“ (G 38) – lautet der summarische Befund über der gesamten Narration. Das gilt sicherlich für den Ehemann Hans, seine Mutter und selbst noch für Erika, zu der Else eine heimliche Liebesbeziehung unterhält und die sie schließlich zum Giftmord anstiften wird. Ganz anders als die Einfältige, der „Hirnspatz Else“, (G 47) ist Erika eine Meisterin der Rede, (vgl. G 78 f.) eine briefstellernde Frau. „So schön schreibt Erika. Das kann Else im Leben nicht.“ (G 78) Sie dirigiert ihre „Elselfee“ (G 15) nicht weniger als Hans oder die „Mamma“ Rinx, nur feinfühliger, verliebter, sehnsüchtiger. Mit der Position der Geranie im Fenster hat Else zu signalisieren und zu bestätigen, was Erika ihr vorschreibt: auch ihre große Liebe. (Vgl. G 16, 51) Aber Else ist nicht so frei, wie Erika gerne will. Fliegen kann sie nur auf dem Kettenkarussell, nicht im Leben. (Vgl. G 36 f.) Kaum reißt sie aus, entflieht einmal der Enge ihrer Doppelbindung, da kehrt sie auch schon wieder heim. Hans geht zur Arbeit, sie hat die Hausarbeit. „Else vergißt nicht, daß sie zum privaten Haus Rat des Ehe Gatten Hans Rinx gehört. Zu seinen beweglichen Gütern.“ (G 57) Der Gatte aber betrinkt sich bald unmäßig und wird endgültig zum lallenden, verachteten Ekel: „Wo dieser Mensch versteckt war früher. Else weiß auch nicht. In Hans drin muß er schon da gewesen sein. Unter den Mai Baum Bändern ist er da gewesen mit Else. Und Else hat ihn nicht bemerkt.“ (G 100) Nun aber fällt auf gläubigen Boden, was Erika deklamiert: „Die Männer sind ein Gift auf der Welt“; „man müßte ein Gegen Gift geben“. Else sagt ja zu allem. Erika artikuliert, Else bestätigt: Ja! – und immer wieder: Ja! (G 103-109) Hans Rinx und Karl Runk, Erikas Mann, sollen Rattengift in ihr Essen erhalten, damit auch die beiden Frauen „Ruhe“ haben und „frei“ sind. (G 103-105) Und so geschieht es. Hans windet sich, gepflegt von der giftverabreichenden Ehefrau, noch einige Zeit, krümmt sich in Schmerzen (vgl. G 120), stöhnt und schreit (vgl. G 124); aber der Arzt findet die Ursache nicht. „Lebens Mittel Vergiftung steht im Toten Schein.“ (G 160) Anschließend will Erika „ihre Früchte ernten“: „Elsefee Engel du Eden auf Erden!“, „Elsefee du silberne Süße meiner Lebenserwartung, zirpt Erika.“ (G 161) Gegen diesen neuerlichen Besitzanspruch flüchtet Else in die Raserei, zertrümmert das Mobiliar, zerhackt mit dem „Klein Holz Beil“ den „Ehe Bett Rahmen“, sperrt die Schwiegermutter aus und gilt gemeinhin als verrückt. Aber nur als Rasende, Tobende kommen der Heldin Erkenntnisse, die sie lange nicht denken konnte: von sich, von Hans, aber auch über Erika, die Geliebte: „Gerede. Das ist alles was in einer Erika drin steckt. Alles was eine Erika sucht ist ein Ziel
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in das ihr Rede Strom mündet. [...] Eine Else ist so blöd zu glauben, daß Wörter irgend wie kleine Mirakel sind oder so. Daß sie etwas wirken können oder so. So ein Idiot ist eine Else Rinx!“ (G 164) Erika hat, wie ihre historische Entsprechung und die Figur Döblins, Margarete Bende, die Tat an ihrem Ehemann Karl nicht vollzogen,78 hat zu gering dosiert und letztlich kapituliert. „Erika kann Wörter machen. Keine Tat. Bröselt ein Mal eine Messer Spitze Ratten Gift ihrem Gatten in den Tee. Macht daraus ein Wort reiches Drama. In dem eine Erika die Haupt Rolle spielt natürlich.“ (G 163) „Während die Phrasen, die Befehle, die Klischees der ‚Wörter Macher‘ zu Megawörtern zusammenschießen, [...] zerfallen die abgeschliffenen Komposita, [...] um selbständige Bedeutung wiederzugewinnen.“ Das ist, meint Ludger Lütkehaus, die „[a]ugenfälligste Spracheigentümlichkeit“ des Romans.79 Von Elsefee bis Elsespatzschönbistdu wollen die zusammengezurrten Liebeslockworte doch nur den Besitz manifestieren. Vom „Klein Holz Beil“ bis zu dem „Ehe Bett Rahmen“ zerfällt die Sprache der ‚Besessenen‘ zur Kenntlichkeit, die sie selbst gar nicht hinlänglich artikulieren kann. Wie sehr das Klischee bedient wird, zeigt aber auch die häufige (und die Norm ignorierende) Verwendung des unbestimmten Artikels an; gerade dann, wenn konkrete, bestimmte Personen bezeichnet werden sollen: „So ein Idiot ist eine Else Rinx“, sagte die Protagonistin zu und über sich. Else und Erika, Hans und Karl, Mutter Rinx und Mutter Runk sind nicht Selbst, nicht Subjekt in ihrem Handeln und Sagen. Auch die Vornamen markieren das. Anders als in der betont kunstvollen Namengebung der frühen Prosa – bei Signora Julia und Diotima –, führt Czurda hier nicht Ambitioniertheit vor, sondern die schiere Durchschnittlichkeit. Nur in diesem eingeschränkten Sinne ist sie sprechend.80 Der Selbstmord, den Else, unsere giftmordende Heldin verübt, soll ihr die Projektionen löschen, die sie sonst nicht aus dem Kopf bekommt –81 und die sie, immer noch und schon wieder, mit ihrem Hans verbindet. Die Szene einer Selbstbefriedigung in der Gefängniszelle, nur assoziativ zu erschließen, (vgl. G 133 f.) schlägt denn auch passend in den Selbsthass auf den eigenen Körper um:
78 Döblin, S. 53, S. 76. 79 Ludger Lütkehaus: „Gift und Gegengift“, in: Die Zeit vom 8. 11. 1991. 80 Elfriede Czurda: Diotima oder Die Differenz des Glücks. Prosa, Reinbek 1982. Dies.: Signora Julia. Prosa, Reinbek 1985. 81 Vgl. Lisa Spalt: „Körper Gegenstand Sprechen. Ansätze zu Elfriede Czurdas Die Giftmörderinnen“, in: Die Rampe [Hefte für Literatur] 32 (2006), Heft 3. Porträt Elfriede Czurda, S. 110-116, hier insb. S. 110.
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diese „Wüste aus Neigungen und Beugungen“, dieser „Haut Sack“ (G 164). Mit einer „Zink Gabel“ sticht Else wiederholt in ihre „Puls Ader“ (G 135): Es entspringt kein richtiger Blut Quell. Tut scheußlich weh jetzt. Hat aber keinen Zweck. Es will und will nicht der Mensch aus Else weichen. Nicht eine Seele oder so. Nicht ein Gedanke tritt aus dem Grübeln weg. Ist so sinnlos, das Zink Besteck in einem Gefängnis. Hat keinen Sinn. (G 135)
Die Katastrophe ist, wie im Kerner und der Schläferin, eine in Permanenz. Der Austritt aus diesem Zwangszusammenhang kann, wie bei Walter Benjamin,82 nur als kairetischer Moment und dezisionistischer Gewaltakt gedacht werden – gegen den Anderen wie gegen das Selbst. Doch der Roman lässt auch diesen Ausweg scheitern. Er ist, in diesem Sinne, gnadenlos. Die Ehefrau rächt sich brutal an dem zugefügten Elend einer fürchterlichen Normalität – aber daraus resultiert nicht die erhoffte Befreiung. Ein Ende ist erst erreicht, als der Himmel keine Projektion mehr abgibt, „kein Fleisch mehr“ hat. „Sind Fransen da. Schweifen ausgebleicht in der Luft. Erinnern Else an nichts.“ (G 174) Und mit dem Verlöschen der Erinnerung, mit der Selbstaufgabe – statt mit der Selbstauslöschung –, ist auch der Kampf zu Ende, den die Protagonistin führen musste.
D AS S EMIOTISCHE – S PRACHE ALS S PIEL Die Sprache, in der dieses Scheitern transportiert wird, oszilliert zwischen zwei sich widersprechenden, ja sogar ausschließenden Konventionen poststrukturalistischer Theorie, auf die Czurda bewusst rekurriert und die ihr Werk insgesamt charakterisieren. Zum einen zeigt sie die Befangenheit im Diskurs, die Unmöglichkeit der Übersteigung diskursiver Regularien; zum anderen perpetuiert sie den Spielcharakter, das lustbetonte Wechseln und Gleiten von Signifikanten.
82 Die Formel „Katastrophe in Permanenz“ findet sich im Prosastück „Zentralpark“. Walter Benjamin: Illuminationen. [Von Siegfried Unseld] Ausgewählte Schriften, Frankfurt a.M. 1977, S. 230-250, hier insb. S. 132, auch S. 246. Der Angelus Novus, identifiziert als „Engel der Geschichte“, sieht, statt einer „Kette von Begebenheiten“ bekanntlich nur „eine einzige Katastrophe“. Der kairetische Augenblick, der diese Kontinuität zerschlagen würde, wäre eine „von Jetztzeit erfüllte“, die revolutionäre Zeit. Vgl. Ders: „Über den Begriff der Geschichte“ [1940/42], insb. Thesen IX, XIV, XV, ebda., S. 251-261, hier S. 255, S. 258f. insb.
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Roland Barthes wie Michel Foucault haben beides illustriert. Die Zwänge der Kombinatorik von Phonemen, Wörtern und syntaktischen Wendungen in der Aktualisierung der langue als parole; die Regeln, Unterdrückungen, Verdrängungen im Bereich des Diskurses, auf dem Feld der „Redegewohnheitsnotwendigkeiten“ einerseits und das große Andere, Das semiologische Abenteuer der Literatur andererseits.83 Julia Kristeva hat diesen spielerischen, materialen Anteil der Poesie – ihr Reales – das Semiotische genannt und gegen die symbolische Ordnung profiliert, die, nach Jacques Lacan, zum gesellschaftlichen Rahmen der patriarchalen Gesellschaft gehört. Für den Michel Foucault von Les mots et les choses geriet die moderne Literatur generell zum Gegendiskurs, zur machtkritischen radikalen Andersheit, die „von der repräsentativen oder bedeutenden Funktion der Sprache zu jenem rohen Sein zurückging, das seit dem sechzehnten Jahrhundert vergessen war“.84 Gezeigt wird in den Giftmörderinnen eben dieser Doppelcharakter der Zeichenstruktur, die Differenz im Signifikationsprozess und die Supplementarität von Sinn. Wenn aber Sinn erst nachträglich, kontextuell zugewiesen wird, der Roman diese Zuweisung auch noch nach Kräften erschwert, thematisiert er zugleich deren potenzielle Dekonstruktion. Czurda bedient sich hier gezielt der Grundmechanismen, die schon eine strukturale Linguistik – Roman Jakobsons etwa oder Louis Hjelmslevs – zur Verfügung stellt. Sie überführt die Axialität der Rede in die scheinbar reine syntagmatische Verkettung von Signifikanten. Der Selektionsmechanismus des Paradigmas, die Auswahl zwischen Phonemen und Bedeutungsoptionen wird vorgeführt, benutzt, aber zugleich integriert in komplexe Satzstrukturen, die man sogar als narrativ auffassen kann. Denn die syntagmatische Verkettung von Substituten löst zwar nicht eine konkrete Präsenz des Vorgestellten – im Sinne der Rezeptionstheorie Wolfgang Isers85 – aus, wohl aber einen Sog, der den Lektüreprozess vorantreibt. Phonemoppositionen, die in unterschiedlichen Kombinationen, meist parataktisch hintereinander gereiht erscheinen, irritieren die Syntax nicht prinzipiell, indem sie den Rezipienten ins Paradigma hinausführen und zu assoziativen Vergleichen anstiften. Die
83 Kurt Röttgers: „Diskursive Sinnstabilisation durch Macht“, in: Jürgen Fohrmann/Harro Müller: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1988, S. 114-133, hier S. 124. Vgl. Roland Barthes: Das semiologische Abenteuer [1985]. Übers. aus d. Frz. von Dieter Hornig, Frankfurt a.M. 1988, passim. 84 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften [1966]. Übers. aus d. Frz. von Ulrich Köppen, Frankfurt a.M. 1974, S. 76. 85 Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung [1976], 2. Aufl. München 1984, insb. S. 219–256.
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Signifikanten können, anders gesagt, gerade deshalb syntagmatisch gleiten, weil sich Signifikate um sie drängen, die nah beieinander liegen. Stabreim, Binnenreim, Assonanz und metrische Rede, asyndetische Reihungen und rhetorische Tropen binden sich ein in das differierende Sprachspiel distinktiver Merkmale (auf Ausdrucks- wie auf Inhaltsebene), statt die Narration zu blockieren durch Rückübertragungen und der Suche nach dem nun ‚eigentlich‘ Gemeinten. Ein Gesumm von hauptsächlich Haupt Wörtern treibt da sein undurchsichtiges Spiel. Es schwirrt nur so. Ein Laub Wipfel knospt im Kelch Blatt oder so. Es ist wie unter dem Laub Dach des bebänderten Mai Baums oder so ähnlich. Else ist ziemlich froh. Es singt aus Else aus dem Kopf heraus. Else kann kaum die Stimme in sich drinnen behalten. Ein Staub ein Faden in der Verästelung von Halm und Schaft und Schößling und so, schießt es aus Else heraus. Das ist Else noch nie passiert. (G 90)
Mit Erika im Bett sind Else solche Worte zugefallen, die sie jetzt fortspinnt, ‚gemunkelt‘ zuvor unter der Bettdecke: „Apfel Blüte“ oder „Honig Flöte“, „Agaven Wipfel“ oder „Hopfen Waffel“, „Aorten Harfe“ oder „Hortensien Haube“ (G 88) – „So munkeln Erika und Else fort. So und anders.“ (G 89) Das freie Spiel der Leiber und Wörter – eine Sprache der Liebe im Sinne Roland Barthes’ – setzt sich aber nicht durch, ist keine wirkliche Alternative, nach der sich eine Zweisamkeit der beiden Frauen ausrichten und diese gestalten könnte. Dem Pandämonium ihrer Alltagserfahrungen können die wirklichen Heldinnen Czurdas, fast notgedrungen, nur die exzessive Gewalt entgegensetzen: Deren primäre Sprachnot ist ein indirektes Plädoyer für das Rattengift – oder für das Messer in der Schläferin. Anders als in der Plotstruktur für moderne Amazonen im Kino – ich denke wiederum an Filme von Peter Greenaway oder Quentin Tarantino – wird hier aber keine Kausalität konstruiert, die Protagonistin Else eben nicht moralisch entlastet von ihrem mörderischen Tun. Die Härte verschwindet auch nie unter dem Sprachspiel und dem Wortwitz der Narration; allerdings mildert die satirische Übertreibung den Pessimismus, mit dem die Geschichte grundiert ist. Satire und Ironie lassen aber auch erkennen, wie wenig Czurda an dem sozialkritischen Impetus des 19. Jahrhunderts liegt, in das ihre Sujets, als unzeitgemäß, kurzerhand verwiesen wurden.86 Wendelin Schmidt-Dengler hingegen sieht „die Stärke“ des Romans Die Schläferin gerade darin,
86 Albrecht Classen: „Elfriede Czurda“, in: Kritisches Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, KLG. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München, 60. Nlg. Oktober 1998, S. 1-7, A-D.
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daß die Autorin die Ursachen des Unglücks nicht mit einer griffigen Erklärung plausibel machen will, sondern diese durch das raffinierte Changieren ernster und komischer Momente mit einer Lakonie beschwört, die dem, der darüber reden will, den Atem nimmt.87
Man könnte denselben Befund auch für Die Giftmörderinnen gelten lassen. Das Lachen ist dann keines der Befreiung: nicht für die Heldin – und nicht für den Leser.88 Es meint nicht den Karneval im Sinne Michail Bachtins. Sondern es ist eines, das auf direktem Weg in die Katastrophe führt: Else kichert und gluckst. Else lacht und gackert und kiekst. Else sprudelt und plappert und quirlt und feixt. Hans stützt Else. Else soll nicht umfallen vor Vergnügen. Else soll nicht sterben vor Spaß. Hans drainiert eine bodenlose Else. Seine grundlose Else braucht eine Befestigung. […] Gleich ist es getan. Gleich ist eine Lach Frau in eine bleigraue Bewahrung geschafft. Gleich ist eine Kicher Büchse wieder einsortiert in die straffen Ordnungs Muster. In die schütteren Gänge der Zucht. (G 67)
Das entspricht dann doch recht eindeutig dem Rollenklischee: Der Mann weist der Frau den Rahmen der gesellschaftlichen Konvention, bindet sie ein in den Zwang der Selbstzucht. Und weil dieser kleine, kaum einmal ausgelebte Ausbruch aus den sozialen Mustern so rigide unterdrückt wird, bleibt unserer Else – in ihrer eigenen Logizität – nur das Kapitalverbrechen als weibliche Notwehr und als Antidot gegen die Männer, die ein Gift sind auf der Welt. Zur Katastrophengeschichte gehört auch, dass der Leser von Czurdas Giftmörderinnen dem nicht folgen kann oder soll. Er teilt die selbstzugewiesene Entlastung der Figur nicht, die auch ihn entlastet hätte.
87 Wendelin Schmidt-Dengler: „Doppelselbstmord, schön gerahmt. Scheidung, Leichen, Bulimie“, in: Die Presse vom 18. 10. 1997. Vgl. auch die Rezension von Robert Menasse: „Elfriede Czurda: ‚Die Schläferin‘“, in: Profil, Wien (1997), Nr. 3, S. 40. 88 Vgl. dagegen Görlacher, die Elses Lachen als ein „Aufbegehren gegen das Symbolische“ feiert. Evelyn Görlacher: Zwischen Ordnung und Chaos. Darstellung und Struktur des Lachens in zeitgenössischen Texten von Frauen, Hamburg 1997, darin das Kapitel: „Sprache, Lachen und Mord – Elfriede Czurdas Die Giftmörderinnen“, S. 163189, hier S. 173-175 insb. zit. S. 173.
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Der konzeptionell hier anschließende Roman Elfriede Czurdas, Die Schläferin von 1997,89 treibt die Fantasie, den Liebsten zu verspeisen, den das Drama Kleists schon bis zur Unerträglichkeit ausreizte, einerseits entschieden weiter, andererseits mindert er den Konflikt und zieht ihn auf die Ebene des Alltags herab. Er verbindet die ‚Passivität‘ und ‚Heimtücke‘ der Giftmischerin mit dem grandiosen Gestus der verzweifelt Liebenden. Was in Penthesilea mit dem Effekt des Erhabenen kalkulierte, wird hier zur hausfraulichen Sorgfaltspflicht depotenziert. Czurda zeigt eine Ökonomie des Kannibalismus im ursprünglichen Sinne. Der Geliebte wird nicht in einem dionysischen Rausch, gleich den Bakchen des Euripides (oder wie bei Kleists Penthesilea), zerrissen und verschlungen, sondern aufbewahrt. Der eigene Körper führt sich den anderen in eingeteilten Happen zu, ordentlich und sauber. Die (genuin romantische) Verschmelzung des Selbst mit dem Anderen könnte kaum trostloser ausfallen. Der Roman macht das bereits in der Exposition deutlich: „Ein Winter ist vorüber. [...] Ein Abend verdämmert“. (S 7) Und doch ist es ein ganz persönlicher Moment: Der Augenblick, bevor Magdalena, die Heldin des Romans, in den Tod springt, sich im Wasserwirbel ertränkt. Ein versackender Körper möchte sich noch immer nicht Magdalenas Willen fügen. Zuckend bäumt er sich auf. Japsend fährt er an eine Oberfläche zurück, ringt nach Luft. Schon verliert er eine Kontrolle von oben und unten. Ein Mund läßt Wasser ein statt Luft. Die Lungen füllen sich. Diesen letzten Krieg wird Magdalena gewinnen. (S 8)
Der Selbstmord, geschildert mit dem Pathos der Distanz, ist dem eigentlichen Roman als Prolog vorangestellt; in der Mitte des Buches wird die Szene als Intermedium fortgesetzt. (S 113) Die einzelnen Kapitel entwickeln dann als Retention, wie die Verzweiflungstat notwendig hat werden können. Der Epilog schließlich zeigt einen toten Körper, der, schon lange im Wasser treibend, nun geborgen wird.
89 Elfriede Czurda: Die Schläferin. Roman, Reinbek 1997. Im Folgenden als Sigle S im Text. Geplant war die Narration als Teil zwei einer Trilogie ‚Doppelleben‘; Teil drei steht noch aus. Zur Autorin vgl. Heinz-Peter Preußer: „Elfriede Czurda“, in: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, KLG. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 2004, S. 77. Neulieferung Juni 2004 [Neubearbeitung, vorige Fassung Albrecht Classen], S. 1-17, A-H.
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Vor dem Selbstmord steht ein Mord; davor eine frühere Gewalttat. Der Kern des Traumas ist eine Vergewaltigung an einem elfjährigen Mädchen. Magdalena versucht das Erlebte zu verdrängen: „Erinnerung zerreißt das Bewußtsein“, „Erinnerung tötet lebende Menschen“, (S 72) sagt sich die Protagonistin.90 Jakob, Magdalenas Ehemann, der seinerseits den Selbstmord seiner Eltern zu verkraften hat, aber eben das nicht kann, kommt auch gegen das Trauma der kindlichen Erfahrung Magdalenas nicht an, prallt ab und läuft leer in seinen Annäherungsversuchen; er kennt ohnehin nur eine „bereinigt[e]“ Version des Vorfalls und personifiziert den Stillstand, den Tod zu Lebzeiten: „Jakob kommt jetzt und geht. Jakob ißt jetzt und schläft. Jakob wandert durch seine Ehe, ohne eine Miene zu verziehen. [...] Das ist alles.“ (S 85) Aber Magdalena betreibt den utopischen Entwurf einer imaginierten Liebe, als sie Paul im Kaufhaus kennenlernt. (Vgl. S 82, 90) „Nun kommt ein Leben in einer Gestalt von Paul auf sie zu. Magdalena nimmt Paul an einer Hand und bei einem Wort.“ (S 95) Aber der will als Geliebter nicht einlösen, was sie auf ihn projiziert. Das Glück scheint flüchtig wie der Sommer. (Vgl. S 98f.) So ist das Verhängnis vorprogrammiert. Früh hat man bereits den Verdacht, das Messer der küchenflinken Hausfrau, ihr bester „Freund“, (S 23) könnte auch zu anderem genutzt werden. „Nichts macht Magdalena so gerne wie Schneidearbeiten. Ihrem scharfen Messer widersteht nichts. [...] ,Ihr Messer‘, sagen die Nachbarn, ‚ist wie ein Teil von Ihrem Arm. Es ist eine Kunst, wie sie ein Messer benutzen‘“. (S 18f.) Auch Vorräte zu bunkern hat sie gelernt, (vgl. S 19f.) seit Magdalena eine Hausfrau geworden ist: „Eine Hausherrin. Ein richtig bedeutender Mensch, der für einen Jakob einen Haushalt in Ordnung hält.“ (S 13) „Wie wichtig eine Ordnung ist! [...] Denn Ordnung und Sauberkeit ist nichts anderes als ein Wort für Haushalt und Frau. Hausordnung. Haussauberkeit. Hausfrau. Im Staatshaushalt ist es nicht anders“. (S 14) Das Regiment wird gestützt durch die Nachbarn, die sich an allen Stellen einmischen, hineindrängen, mitreden; die anmerken, loben und Noten verteilen, die kritisieren und ermahnen: eine Topologie der sozialen Kontakte, die selbst
90 Vgl. die thematische Entsprechung in Elfriede Czurda: Kerner. Ein Abenteuerroman, Reinbek: Rowohlt 1987, insb. S. 64. Siehe auch Heinz-Peter Preußer: „Dekonstruktion des Mannes im Klischee. Elfriede Czurdas Abenteuerroman ‚Kerner‘“, in: Bettina Gruber/Heinz-Peter Preußer: Weiblichkeit als politisches Programm? Sexualität, Macht und Mythos, Würzburg 2005, S. 139-152, hier S. 143. Zu Kerner vgl. ebenfalls Detlef Kremer: „Groteske Inversionen. Elfriede Jelineks und Elfriede Czurdas Vernichtung des phallischen Diskurses“, in: Markus Heilmann/Thomas Wägenbaur: Im Bann der Zeichen. Die Angst vor Verantwortung in Literatur und Literaturwissenschaft, Würzburg 1998, S. 75-88.
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Gutwillige um den Verstand bringen oder in die Neurose treiben könnten, Magdalena aber, die Sanftmütige, versinken lassen in einen Schlaf, der die Ungeheuer, wie bei Francisco de Goya (Abb. 4), erst hervorkommen lässt.91 Abbildung 4: Francisco de Goya: El sueño de la razón produce monstruos, 1799
91 Francisco de Goya: Caprichos [Serie von 80 Radierungen], hier Nr. 43: Der Schlaf [auch: der Traum] der Vernunft gebiert Ungeheuer, 1799. Zugleich Frontblatt der Serie.
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„Magdalena wird überwältigt von einem Schlaf. / Wenn die Nachbarn solche Reden führen, schläft Magdalena sofort ein. Ganz unwillkürlich. [...] So fängt es an.“ (S 34) Die Schläferin zieht sich im Schlaf zurück vor der Kleinheit und dem Schrecken (vgl. S 50) dieser Welt und findet auch dort nur Entsetzen: die Rückerinnerung ihres ursprünglichen Traumas. „,Schlafmarter‘ ist ein Wort, das Magdalena im Kopf hat.“ (S 78) Und die Ehe mit Jakob eskaliert: „,Es klingt aus ihren Fenstern wie ein Krieg, Frau Magdalena‘ [...], sagen die Nachbarn. [...] ,Wir reden hier natürlich von einem Schlachtfeld in übertragenem Sinn‘, schränken die freundlichen Nachbarn ein“. (S 46f.) Das Verstehen dieser stets Ungebetenen wird zur Tortur. (Vgl. S 91-94) „Dieses Kontrollgremium ist hartnäckig und kennt keine Hemmung“: (S 120) gegenüber Paul, dem Geliebten, erst recht nicht, der arbeitslos ist und nun von Magdalena ausgehalten wird. (Vgl. S 121) Und in seiner Bedeutungslosigkeit, unter der er leidet, bricht auch der Liebhaber zusammen. (Vgl. S 132) „Paul ist ein Schatten, der mit einem Schatten ficht.“ (S 143)
D IE Ö KONOMIE
DES
K ANNIBALISMUS
Jetzt erst treten Magdalenas Erinnerungen deutlich hervor, die verdrängt werden sollten: die alkoholkranke Mutter, der verwahrloste, verpfändete Hausstand, der abwesende Vater und der Vergewaltiger, der unechte „Onkel Fritz“. (S 147-151) Alle Krisen und Katastrophen stürzen nun ungefiltert und wechselseitig kontaminierend auf die Protagonistin ein, die sich nur noch in den Wahnsinn retten kann und ihren Paul in der Badewanne ertränkt. (Vgl. S 160) Mit dem Messer trennt sie den Kopf vom Rumpf, (vgl. S 162) zerlegt den Leichnam in kleine Stücke, passgerecht für den Kühlschrank, (vgl. S 169) oder sie friert ihn, portionsweise, als Vorrat ein. (Vgl. S 171)92 Denn die Ordnung gibt die im Wahn befangene Heldin auch nach dem Mord nicht auf. Nur nichts verkommen lassen! Alles schön sauber und ordentlich verpacken, in kleine Dosen: (vgl. S 169) einkochen und einfrieren, haltbar machen! (Vgl. S 170f.) Gespenstisch mutet die Sorge Magdalenas um den toten Leib des Geliebten an; und der Kannibalismus, das Inkorporieren des Fleisches passt genau in diesen Exzess eines verqueren Rationalismus, der mystisch überhöht wird. Magdalena nimmt Paul auf wie den Leib Christi, sie bewahrt und transzendiert ihn; (vgl. S 178) und sie geht mit ihm
92 Siehe die Parallele zum Fall Meiwes, der die Leichenteile des Geliebten gleichfalls eingefroren hatte und portionsgerecht verspeiste. Klaus Henseler/Nik Schumann: Vom Menschsein und vom Gefressenwerden. Eine illustrierte Geschichte des Kannibalismus, Hamburg 2003, S. 201.
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zusammen in den Tod – untrennbar fortan, ewig. „Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, bleibt in mir und ich in ihm“, versichert Jesus nach dem Evangelisten Johannes.93 Das wenigstens, die Perspektive des Unzertrennlichen, unterscheidet Magdalena von Armin M., dem Kannibalen aus Rotenburg, der sein Opfer verdaut hat.94 Magdalena ist nicht Selbst, kein Individuum, das spürt sie allenthalben. Erst mit dem Akt der Anthropophagie wird sie zu einer selbstbestimmten Figur. Erst in der Verschmelzung mit dem Geliebten durch das Einverleiben trennt sie sich von denen, die ihr ein eigenes Ich verweigern. Die Hausfrau lebte im unbestimmten Artikel. In der Auflösung, im Wechsel zur Kontinuität des Seins durch die Todeserfahrung, kommt sie, paradoxer Weise – und gleich der Penthesilea – zu sich selbst. „So soll ein Leben sein. So unberührbar wie ein Tod.“ (S 10) Magdalena hört auf, die Opferrolle zu geben.
E MPATHIE UND KLEINES F AZIT
ANALYTISCHE
D ISTANZ –
Wie entsteht Empathie? – könnte man abschließend fragen, mit solchen Mörderinnen, die nicht mehr mythisch überhöht werden, die keine Heroinen sind. Was bindet Leser oder auch Zuschauer generell an fiktionale Figuren, die an ihrer statt Qualen durchleiden, irren, fehlen, sich verrennen und letztlich scheitern – grandios oder auch kleinmütig? Seit Aristoteles denken wir in Kategorien der Einfühlung und Identifikation mit den Protagonisten, eruieren Sympathie und Antipathie, Momente der Steuerung unseres seelischen Involviertseins, um uns diese Frage zu beantworten. Mit Bertolt Brecht, mit Alexander Kluge hingegen halten wir die Emotionen in epischer Distanz, beobachten, registrieren und analysieren die Logik der Gefühle mehr, als dass wir ihnen nachgeben würden. Nach der antiken Tragödientheorie aber interessierte der Affekt auch nur, um
93 Johannes 6.56, Die Bibel. Die Heilige Schrift des Neuen Bundes. Deutsche Ausgabe mit den Erläuterungen der Jerusalemer Bibel. Hg. von Diego Arenhoevel, Alfons Deissler und Anton Vögtle, Freiburg/Br./Basel/Wien 1968, S. 153. 94 Das Kasseler Gericht, das die Tat als Totschlag bewertet hatte, konstatiert hingegen etwas ungenauer: „Mit dem Schlachten und Verspeisen habe Meiwes den Toten [...] nicht verächtlich machen wollen, im Gegenteil – die Phantasien des Täters hatten ein durchaus respektvolles Einverleiben des Schlachtopfers mit dem Ziel einer endgültigen, unauflösbaren Vereinigung mit dem Getöteten zum Gegenstand.“ So zit. n. Hans Holzhaider: „In den Niederungen der Beweggründe“, zur Wiederaufnahme des Verfahrens, in: Süddeutsche Zeitung vom 13.1.2006.
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anschließend bewältigt zu werden in der reinigenden Reflexion der Katharsis. Diese Form der seelischen Einbindung wird selbst heute noch fortgeführt in neueren Theaterstücken wie denen von Sarah Kane, Martin Grimp oder BernardMarie Koltès sowie in den Filmen etwa von Ken Loach – die lakonische und analytische Bestandsaufnahme eher in den Romanen von Roberto Bolaño. Einen dritten Weg, nach diesem grob skizzierten Model, beschreiten die sprachexperimentellen ,Sozialstudienǥ der Elfriede Czurda. Sie rücken uns in analytische Distanz, zeigen die Konstruiertheit und sprachliche Verfassung der Machtpositionen, die in ihnen verhandelt werden. Sie erlauben also keine direkte Anteilnahme an den Figuren selbst – aber sie generieren eine emotionale Grundhaltung, die beim Rezipienten Unbehagen auslöst und nachhaltig wirkt. Auch diese Haltung funktioniert als moralische Lektüre. Denn der Zwangscharakter, dem die Akteure allesamt unterliegen, wird als systemischer erkannt und als auswegloser erlebt. Das macht den tiefen Eindruck aus, den auch insbesondere Die Giftmörderinnen und Die Schläferin hinterlassen – und weswegen die mordenden Frauen von Czurda hier so exemplarisch herausgehoben wurden.
L ITERATUR Aischylos: Tragödien und Fragmente. Übers. aus d. Gr. von Johann Gustav Droysen, bearb. und teilw. neu übers. von Franz Stoeßl, Zürich/München 1952 [Lizenzausgabe, Frankfurt a.M. u. a. o. J.]. Andersen, Carl u. a. (Hgg.): Lexikon der Alten Welt, Düsseldorf 2001. Apollodoros: Götter und Helden der Griechen. Hg. und übers. aus d. Gr. von Kai Brodersen, Darmstadt 2010. Apollonios Rhodios: Das Argonauten-Epos. Hg., aus d. Gr. übers. und erl. von Reinhold Glei und Stefanie Natzel-Glei, Bde. 1 und 2, Darmstadt 1996. Bachofen, Johann Jakob: Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur [1861]. Ausw. hg. von Hans-Jürgen Heinrichs, Frankfurt a.M. 1975. Barthes, Roland: Das semiologische Abenteuer [1985]. Übers. aus d. Frz. von Dieter Hornig, Frankfurt a.M. 1988. Benjamin, Walter: „Zentralpark“ [1938/39] und „Über den Begriff der Geschichte“ [1940/42]. In: Ders.: Illuminationen. [Von Siegfried Unseld] Ausgewählte Schriften, Frankfurt a.M. 1977, S. 230-250, S. 251-261. Bibel, Die – Die Heilige Schrift des Neuen Bundes. Deutsche Ausgabe mit den Erläuterungen der Jerusalemer Bibel. Hg. von Diego Arenhoevel, Alfons Deissler und Anton Vögtle, Freiburg/Br./Basel/Wien 1968. Brockhoff, Annette: „Gnadenlose Liebe“, in: die tageszeitung vom 13. 12. 1991.
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Vor Gericht Kindsmord im Sturm und Drang und Heinrich Leopold Wagners Drama Die Kindermörderin (1776) H YUNSEON L EE
J OHANN W OLFGANG G OETHES G EDICHT V OR G ERICHT – E INLEITUNG Von wem ich es habe, das sag’ ich euch nicht, Das Kind in meinem Leib. „Pfui!“ speit ihr aus: „die Hure da!“ Bin doch ein ehrlich Weib. Mit wem ich mich traute, das sag’ ich euch nicht. Mein Schatz ist lieb und gut, Trägt er eine goldene Kett’ am Hals, Trägt er einen strohernen Hut. Soll Spott und Hohn getragen sein, Trag’ ich allein den Hohn. Ich kenn’ ihn wohl, er kennt mich wohl, Und Gott weiß auch davon. Herr Pfarrer und Herr Amtmann ihr, Ich bitte, laßt mich in Ruh’! Es ist mein Kind, es bleibt mein Kind; 1
Ihr gebt mir ja nichts dazu.
1
Johann Wolfgang Goethe: Vor Gericht, verfasst 1776, veröffentlicht 1815, zit. nach Bark, Joachim/Kopfermann, Thomas: Lyrik Aufklärung Sturm und Drang Klassik, Stuttgart/Leipzig 2011, S. 78.
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Dieses Gedicht ist dem Beitrag vorangestellt, weil es symptomatisch für die in der Sturm und Drang-Periode auffallend häufig erschienenen Kindsmorddichtungen und die darin auftretenden Verbrecherinnen steht. Auch wenn hier noch nicht explizit auf das Thema des Kindsmordes2 eingegangen wird – es geht hier um den außer- bzw. vorehelichen Geschlechtsakt – so verweist Goethes Gedicht subtil auf die Thematik der unehelichen Schwangerschaft, die einen Kindsmord zur Folge haben kann. In der Forschungsliteratur gilt der Kindsmord als „das Schlüsseldelikt aller strafrechtsreformerischen Bestrebungen des 18. Jahrhunderts“3. In Goethes juristischer Disputation 1771 findet sich die These: „Ob eine Frau, die ein soeben geborenes Kind umbringt, der Todesstrafe zu unterwerfen sei, ist eine Streitfrage unter den Doktoren.“4 Goethe, der Universalintellektuelle, welcher bereits früh auch mit der Gretchen-Figur im Urfaust besonderes Interesse an dem Thema zeigte,5 lässt das Gedicht Vor Gericht zunächst als eine literarische Verteidigungsrede einer ledigen Mutter erscheinen, spricht sich jedoch Jahre später als Geheimer Legationsrat des Herzogs Carl August für die Todesstrafe für die Kindermörderin Johanna Catharina Höhns (1783) aus.6 Als Jurist
2
Unter Kindsmord wurde im Jahr 1737 lexikalisch verstanden: „Kinder-Mord ist, wenn eine Mutter ihr unter den Hertzen getragenes Kind jämmerlich umbringet. Eine Anzeige eines Kinder-Mords ist, ein dick gewesener und wieder abgelegter Leib, ingleichen wenn eine Weibs-Person allein niedergekommen und spricht, sie habe ein todtes Kind zur Welt gebracht, und die Zeit so lange her ist, dass das Kind wohl hat leben können.“ Vgl. den Artikel „Kinder=Mord“, in: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexikon, reprogr. Nachdr. Graz 1961, Bd. 15 [1737], Sp. 650. Hier zitiert nach Matthias Luserke: Sturm und Drang, Autoren – Texte – Themen, Stuttgart 2006, S. 219.
3
Vgl. Thiemo Jeck: Die Anfänge der Kriminalpsychologie. Zur Verbindung der Schönen Literatur und der Kriminologie in der Romantik und dem Sturm und Drang, Berlin 2010, S. 74.
4 5
Vgl. ebda, S. 91. Goethe hatte die Hinrichtung der Dienstmagd Susanna Margaretha Brandt am 14. Januar 1772 in Frankfurt wohl als Augenzeuge erlebt und diesen Fall in seiner Gretchentragödie im Urfaust literarisch bearbeitet.
6
Er fungierte in ihrem Fall als Berater und Gutachter. Es heisst: „Da das Resultat meines unterthänigst eingereichten Aufsatzes mit beyden vorliegenden gründlichen Voti völlig übereinstimmt, so kann ich um so weniger zweifeln selbigen in allen Stücken beyzutreten, und zu erklären dass auch nach meiner Meinung räthlicher seyn mögte die Todesstrafe beyzubehalten.“ Zitiert nach Christoph Braendle: „Goethe und das
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und Politiker befürwortete er somit die Todesstrafe der Kindsmörderin, als Dichter zeigte er Verständnis für die Geschichte und die Situation einer unehelichen Mutter. Im Gedicht verteidigt sich also diese Mutter und genau hierin ließe sich die Brechung des kulturellen Musters des Frauenbildes im 18. Jahrhundert aufzeigen. Im Folgenden sei zuerst die These aufgestellt, dass der literarische Diskurs in Bezug auf die Kindermörderin im Sturm und Drang eine Äquivalenz zum juristischen Diskurs, und darüber hinaus einen Versuch darstellt, Gesetzeslücken auszufüllen bzw. die rückständige Gesetzeslage zu verbessern, was in der Zeit zu einem neuen kriminalpsychologischen Ansatz führt. Die zweite These betrifft die Abwesenheit der Frau: Die Kindermörderinnen rücken zwar ins Zentrum der humanistischen, aufklärerischen und kriminalpolitischen Debatten in der Literatur und im Rechtsdiskurs der Sturm und Drang Periode, doch wird die Frau nicht als solche thematisiert, schon gar nicht als Mensch. Sie selbst kann ihren Gedanken keinen Ausdruck geben und ihre Stimme wird nicht gehört. Die diskursive Kopplung von Justiz und Literatur lässt die Kindsmorddichtung des Sturm und Drang als einzigartig erscheinen. Hierbei wird ein Weiblichkeitsbild entworfen, das sowohl vom zeitgenössischen Ideal der Frau als auch vom Bild der typischen Sexualverbrecherin abweicht. Diese Entwicklung wird sich im Laufe der späteren Jahrhunderte verschärfen. Meine zwei Thesen lassen sich am Drama Die Kindermörderin von Heinrich Leopold Wagner exemplarisch diskutieren, da der Text mit einer modernen Dramaturgie ein Spannungsverhältnis zwischen diesen zwei Aspekten schafft. Die Rezeptionsgeschichte dieses Stückes wie auch die Forschungsliteratur zum Thema wird ebenfalls einbezogen und zum Teil kritisch betrachtet.
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Der Kindsmord erlebt nicht nur in den literarischen Schriften des 18. Jahrhunderts eine Hochkonjunktur. Am Thema Kindsmord entzündeten sich von der Mitte bis zum Ende des 18. Jahrhunderts heftige öffentliche Debatten, insbesondere in den Preis- und Streitschriften der Zeit. Diese Diskussionen weisen humanistische aufklärerische Reformgedanken auf. Und die Kindermörderin lässt sich als die wichtigste Figur des weiblichen Verbrechens im 18. Jahrhundert (etwa 1770er Jahre) in der deutschen Literatur ausmachen. Zentrale Belege hierfür sind
Thema Kindsmord“, in: Neue Zürcher Zeitung, Sonntagsbeilage vom 5./6. Dezember 1998.
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etwa J.W. Goethes Gestaltung der ‚Gretchen‘-Figur (1773-75 im Urfaust), Heinrich Leopold Wagners Drama Die Kindermörderin (1776), Jacob Michael Reinhold Lenz’ Erzählung Zerbin oder die neuere Philosophie (1776) oder Friedrich Schillers Gedicht Die Kindsmörderin (1781).7 Es ist augenfällig, dass in der Figur der Kindermörderin zwei Institutionen – Literatur und Justiz – in engerer Korrespondenz als je zuvor zusammenkommen, zumal die Autoren der Kindsmorddichtungen im Sturm und Drang in der Regel Juristen waren. Es liegt natürlich auch am strafrechtlichen Thema ‚Mordǥ selbst. Auffällig ist auch, dass die Literatur bereits eine interdiskursive Funktion bei der Thematisierung des Kindsmords übernimmt.8 Die Interdiskursivität des weiblichen Verbrechens wird dann in den Debatten speziell um die Giftmörderin intensiviert, deren Stereotyp – über die Pitavalgeschichten in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hinaus – seit dem (späten) 19. Jahrhundert verstärkt in die Massenmedien Eingang findet.9
7
Die Kindsmorddichtung enthält eine typische Handlungsstruktur: In der Form überwiegt die dramatische Darstellungsweise. Vollständig ausgebaute Dramen sind z.B. Heinrich Leopolds Trauerspiel Die Kindermörderin, Otto Heinrich von Gemmingens Schauspiel Der deutsche Hausvater. Daneben steht eine größere Anzahl an „Monologen“, alles pathetische Deklamationsstücke, tragische Stoffe in konzentriertester Form. Auch die Balladen und sonstigen Gattungen sind sehr dramatisch bewegt und voller Pathos. Als ein dramatisches Gebilde von ganz besonderer Art gilt Mariens Reden bei ihrer Trauung (1778) von Anton Matthias Sprickmann. Der Monolog und das Zwiegespräch waren damals eine sehr beliebte Stilart (z.B. wegen Beweisführung). Mit der Behandlung des Kindsmords haben sich auch andere Autoren an den Sturm und Drang angelehnt, ohne dazu zu gehören. Vgl. Ulrich Karthaus: Sturm und Drang. Epoche – Werke – Wirkung, München 2007. Weitere Beispiele zur Kindsmorddichtung im Anhang 1.
8
Luserkes Forschungsansätze deuten in diese Richtung hin. Vgl. wenn er schreibt, dass die Literatur hier vorwegnehme, „was sich in den jeweiligen Fachdiskursen der Juristen, Theologen und Mediziner nur schwer Gehör verschaffen konnte. Literatur erweist sich als der Ort, wo zuerst der Bruch der Frau mit der Tradition und ihren Handlungsund Rollenzuschreibungen erprobt wird“. Matthias Luserke: „Körper – Sprache – Tod. Wagners Kindermörderin als kulturelles Deutungsmuster“, in: Erika FischerLichte/Jörg Schönert (Hgg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache, Göttingen 1999, S. 203-212, hier S. 212.
9
Auch heute, Anfang des 21. Jahrhunderts nehmen Kindermörderin und Giftmörderin, jene zwei repräsentative Verbrecherinnentypen in der deutschsprachigen Kultur und
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Warum lag gerade der Kindsmord im Fokus der Diskussion? In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts herrschte in Westeuropa eine ungewöhnlich hohe Kriminalität, die drakonisch und brutal bestraft wurde. Der Kindesmord kam häufig vor. „Kindermörderinnen [sind] unzählige enthauptet worden“, schreibt Wagner in seinen Briefen über die Seylersche Schauspielergesellschaft.10 Zur Thematisierung des Kindsmords in der Literatur sind drei Ansätze zu nennen, welche mit einer wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und geistigen Modernisierungswelle bzw. Umbruchssituation zu tun haben: 1.
Die Literarisierung des Delikts fällt zusammen mit einem signifikanten Ansteigen der Häufigkeit des Kindsmords.11 Nach einer Statistik machten z.B. 1789 in der Provinz Preussen die Kindsmordprozesse 9,16% aller Kriminalprozesse aus; mit 48 Fällen lagen sie um die Hälfte höher als alle anderen Tötungsdelikte zusammen.12
Literatur, keineswegs einen unwichtigen Platz in der deutschen Kultur ein, wobei man von einer Verschiebung des ‚Schauplatzesǥ sprechen kann: nämlich von der Literatur zur Medienkultur. Kindsmord oder Kindstötung hat ebenso wenig auf internationaler Ebene an Aktualität verloren. In den nicht-literarischen Medienberichten sowie in den soziologischen, juristischen, kriminologischen wie auch medizinischen Kontexten wird das Thema nach wie vor heftig diskutiert und die Kriminelle erfährt keineswegs eine positive Resonanz wie Wagners Heldin Evchen Humbrecht. Siehe zu aktuellen Diskursen um die Kindstötung Beiträge von Kathleen Heft und Eva Tolasch in diesem Band. 10 Jan Mathies Rameckers: Der Kindesmord in der Literatur der Sturm-und-DrangPeriode. Ein Beitrag zur Kultur- und Literatur-Geschichte des 18. Jahrhunderts, Rotterdam 1926, S. 28f. 11 Siehe zur Häufigkeit des Kindsmordes und ihrer Entwicklung Otto Ulbricht: Kindsmord und Aufklärung in Deutschland, Oldenburg 1990, S. 174-208. 12 Zu tiefergreifenden sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen in den meisten deutschen Staaten zählen: Ein beispielloser demographischer Schub (Preussen hatte 1740 noch 3,2 Millionen Einwohner 1785 5,1 Millionen); erhöhte geographische soziale Mobilität bedingen bedeutende Ein- und Abwanderungsbewegungen, Lockerung des Zunftwesens so wie Auflösung des Ständestaates; Die Familie verliert ihre Bedeutung als Produktions- und Herrschaftsverband, und persönliche Beziehungen gewinnen eine neue Qualität: Freundschaftskultur, Innigkeit, romantische Liebe entstehen. Vgl. Germaine Goetzinger: „Männerphantasie und Frauenwirklichkeit. Kindermörderinnen in der Literatur des Sturm und Drang“, in: Annegret Pelz/Marianne
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2.
3.
Buchproduktion, Buchhandel und Schriftstellertum haben sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts entscheidend verändert. Belletristik wird zum ersten Mal als Novität gesehen. Es entsteht ein gewisser Zwang zur Innovation. Sensations- und Tabuthemen gewinnen an Bedeutung.13 Die umstrittene Strafrechtspflege, insbesondere die strenge Bestrafung des Kindsmordes. Strafe galt als eine Art Vergeltung für verübte Verbrechen, eine Art Rache und als Abschreckung für die Bevölkerung. An die Verbesserung des Verbrechers wurde nicht gedacht. 14
Universelle Humanisierungsansprüche, die in der Aufklärung wurzeln, kamen mit gesetzlichen Bestimmungen zusammen, die auf das Mittelalter und die frühe Neuzeit zurückgehen. Die „Peinliche Gerichtsordnung“ (Constitutio Criminalis Carolina; sogenannte Carolina) Kaiser Karls V. (1532), war das bis zum Ende des 18. Jahrhunderts vorherrschende Gesetzeswerk und die erste einheitliche Rechtsquelle, die den Kindsmord als ein besonderes Verbrechen behandelte. Hier wird dieser grausam und barbarisch betraft: nach Artikel 131 durch das Lebendig-Begrabenwerden, die Pfählung, das Säcken oder das Ertränken.15 Unter Kindsmord versteht dieser Artikel „die von Seiten einer unehelichen Mutter an ihrem neugeborenen nicht monströsen Kinde gewöhnlich heimlich begangene vorsätzliche Tötung ohne Berücksichtigung des Motivs der Täterin.“16 Derselbe Artikel erwähnt zwar Scham – also die „Frucht vor der Schande“ – als ein sehr wichtig angesehenes Motiv, aber es diente nur zur Begründung der Schärfung der Strafe. Die ‚innere Tatseiteǥ, der seelische Zustand und die Motiven der Täterin wurden nicht beachtet. Damit wurden die subjektiven Elemente der Tat ausgeklammert ebenso die Gründe, warum der Kindsmord als solch schwerwiegendes Delikt galt.
Schuller/Inge Stephan/Sigrid Weigel/Kerstin Wilhelms (Hgg.): Frauen, Literatur, Politik, Hamburg 1988, S. 263-286. 13 Götzinger, S. 264-267. 14 Vgl. Rameckers, S. 12, 28. 15 Als Täterin wurde explizit die Mutter des Kindes genannt („diernen“, „junckfraw“). Die Verheimlichung der Schwangerschaft und der Geburt sowie das Verstecken der Leiche galten als Indizien für die Vorsätzlichkeit der Tat (Art. 131). Siehe ausführliche Beschreibung Artikel 35, 36 und 131 der Carolina. Jeck 2010, S. 76ff. Erst unter Friedrich II. (am 31. Juli 1740) wurde die Todesstrafe vom Säcken zum Enthaupten umgewandelt und (am 29. Juni 1746) die Kirchenbusse aufgehoben. 16 Wehrlich, S. 23. Zit. nach Jeck, S. 78.
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Übersehen wurde auch, dass gerade die Frucht vor den überharten Unzuchtsstrafen häufig ein Grund für den Kindsmord war.17
K RIMINALPSYCHOLOGISCHER ANSATZ IN DER K INDERMÖRDERIN W AGNERS In der Kindermörderin hat der junge angehende Jurist Heinrich Leopold Wagner (1729-1779) gezielt die erwähnten zeitgenössischen Impulse – strafrechtliche, gesellschaftspolitische wie auch literarische – aber auch die aktuelle Debatte um den Fall der Kindermörderin Maria Sophia Leypold (1775) aufgegriffen und literarisch verarbeitet. „Der Schauplatz ist in Strassburg, die Handlung währt neun Monat“, so beginnt das Drama Wagners, dessen Handlung parallel zu den Schwangerschaftsmonaten der Protagonistin Evchen Humbrecht, der 18-jährigen Metzgerstochter, entwickelt wird.18 Dieses kluge und brave Mädchen wird vom adligen Offizier von Gröningseck verführt und zum Geschlechtsakt gezwungen und muss mit der nachfolgenden Schwangerschaft umgehen. Konfrontiert mit der rigiden biederen Moral der Bürgerklasse, vor allem verkörpert durch den Vater Martin Humbrecht, ist sie zutiefst verzweifelt und gerät in einen Zustand der Melancholie, obwohl Grönigseck ihr versprochen hat, sie in fünf Monaten zu heiraten. Doch Briefe seines Offiziersfreundes von Hasenpoth im Namen Gröningsecks lassen Evchen glauben, sie sei von diesem verlassen worden. Sie verlässt das Elterhaus, bringt im Hause der Lohnwäscherin Marthan das Kind zur Welt und tötet es in geistiger Verwirrung. Evchen wird verhaftet. Ein Schimmer von Hoffnung bleibt doch am Ende, denn Gröningseck will vom König, Gnade für sie erbitten. In der Kindermörderin wird die Grausamkeit des Strafsystems kritisiert, wenn ein fünfjähriger Junge vom Fiskal verprügelt wird, weil er etwas zum Essen gestohlen hat oder wenn Evchen in der Kirche die Predigt mitbekommt, in der unverheiratete Schwangere öffentlich bezichtigt bzw. lächerlich gemacht werden (Beispiel im 4. Akt). Am Ende sagt der Fiskal: „Es kommt viel auf die Umstände an!“ 19 und dieser Satz gewinnt hier eine wichtige Funktion, nicht nur
17 Vgl. Wilhelm Wächtershäuser: Das Verbrechen des Kindesmordes im Zeitalter der Aufklärung: Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung der dogmatischen, prozessualen und rechtssoziologischen Aspekte, Berlin 1973, S. 16. 18 Ausführliche Handlung von Die Kindermörderin siehe Anhang 2. 19 Heinrich Leopold Wagner (1776): Die Kindermörderin. Ein Trauerspiel. Hg. von Jörg-Ulrich Fechner, Stuttgart 1997, S. 85. Im Folgenden nur mit Seitenzahl zitiert.
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auf den dramatischen Text bezogen, sondern auch auf den damaligen juristischen und kriminalpsychologischen Diskurs. Denn hier wird das ‚Motivǥ eines Kindsmords ins Zentrum gerückt, also nicht die Mordtat selbst.20 Insgesamt werden die Tatmotiven in diesem Drama sehr komplex dargestellt: z.B. die Angst vor dem Vater, die Frucht vor der Strafe, das Schuldgefühl den Tod der Mutter verursacht zu haben – wie sie nennt als „Muttermörderin“ (S. 76) – und zuletzt der Affekt. Lernt man die Biographie der Kindermörderin und das Tatmotiv näher kennen, kann man die Täterin nicht mehr so harsch zum Tode durch das Schwert oder ‚Ertränkenǥ verurteilen, wie die damalige Gesetzgebung vorschrieb. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – innerhalb weniger Jahrzehnte – wurde das Delikt nun entgegen der Carolina unter dem Gesichtspunkt der psychischen und physischen Not der Täterin gesehen und das Motiv der Erhaltung der Geschlechtsehre trat in den Vordergrund.21 Der Gelehrte Augustin Leyser z.B. sah in der ‚Furcht vor Schandeǥ den Milderungsgrund. Der Anstoß zu dieser Sichtsweise kam aus der außerstrafrechtlichen Literatur, wie der Literatur des Sturm und Drang. Sie wurde aber in Lehre und Rechtsprechung positiv aufgenommen. Es waren also nicht die Juristen und Philosophen, die auf den Kindsmord zuerst aufmerksam wurden, sondern die Dichter, die die menschliche Tragödie und den zur Milde drängenden ‚subjektivenǥ Gesichtspunkt bedachten. Und die Kriminologen des 18. Jahrhunderts standen ebenfalls unter dem Einfluss der zeitgenössischen Literatur des Sturm und
20 Die Darlegung des Tatmotivs erfährt bei Wagner, Goethe und Schiller insgesamt eine Komplexitätssteigerung. Allerdings wird in den Gedichten von Schiller und Goethe (s.o.) dann kein Schuldbekenntnis mehr vorgetragen, vielmehr ein emanzipatorischer Imperativ formuliert. In der Kindermörderin von Schiller heisst es: „Trauet, Schwestern, Männer schwüren nie!“ 21 Nach Wilhelm Wächtershäuser galt von der Carolina an bis etwa zur Mitte des 18. Jhdts. der Kindermord als „ein qualifizierter Mord, der zwar nach seiner Schwere unter dem Verwandtenmord rangierte, aber nur als eine etwas mildere Spielart dieses Delikts“ gewertet wurde. „Die Judikatur bediente sich interpretatorischer Kunstgriffe und der Unsicherheit der Beweiserhebung, insbesondere soweit es das corpus delicti anging, um der im Zeitgeist liegenden Tendenz zur milderen Bestrafung im allgemeinen und insbesondere beim Kindermord nachzugeben. Aus dieser Entwicklung zogen die Gesetzgebungswerke der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Konsequenz: Aus dem Kindermord wurde das privilegierte Delikt der Kindestötung. Die Bezeichnung „Kindermord“ hatte sich hartnäckig bis zum Preuss. StGB von 1851 erhalten und wurde erst im ReichsStGB aufgegeben.“ Vgl. Wächtershäuser, S. 148.
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Drang.22 „Die Schöne Literatur [hatte] am kriminologischen und speziell am kriminalpsychologischen Diskurs maßgeblichen Anteil“, und spielte „im Bereich der Auseinandersetzung mit einem speziellen strafrechtlichen Delikt […] eine wichtige Rolle“23. Die Literatur hat also zur Humanisierung der Justiz wie auch zur Aufklärung der Gesellschaft beigetragen, indem sie die Kategorien wie subjektives Tatmotiv, Mitleid, Unzurechnungsfähigkeit wie auch Schuldfrage öffentlich thematisierte.
M ODERNE D RAMATURGIE Das 1776 anonym erschienene Drama Wagners wurde trotz oder gerade wegen des modernen Charakters lange kaum angemessen rezipiert24 – zuletzt Dank des Plagiatvorwurfs, den ausgerechnet Goethe in seiner Dichtung und Wahrheit erhoben hatte.25 Zur Wirkungsgeschichte des Stückes trugen auch die ästhetischen Elemente im Text selbst bei: zum einen die Tabuverletzungen auf der deutschen Bühne (Verführung und sexuelle Gewalt im Bordell oder ‚Schwangerschaftszeichenǥ bei einer unverheirateten Frau und die Ermordung des neugeborenen Kindes auf offener Bühne); zum anderen eine neue Dramaturgie, die alte Tabus und die Regeln der normativen Poetik (z.B. die Forderung nach Einheit von Ort, Zeit und Handlung) in Frage stellt. Ein solches Normen- und Regelsystem stand dem
22 Vgl. Jeck, S. 154ff. Johann Gottlieb Kreuzfelds Aussage dient als ein Beleg: „Indessen ist diese Gattung beleidigter Mörderinnen unter die Ausnahme zu rechnen“ (Kreuzfeld, S. 107), zit. nach Jeck, S. 158. 23 Ebda., S. 165. 24 Die Originalfassung wurde in dem Wahrschen Theater in Pest und Pressburg nur einmal (ur)aufgeführt und dann 1904 in Berlin. Die von Karl Lessing umgeschriebene Fassung wurde in Berlin nicht freigegeben. Wagner schrieb allerdings 1777 das Drama selbst um mit dem neuen Titel Evchen Humbrecht oder Ihr Mütter merkts Euch!. Dies wurde in Frankfurt, aber auch auf ungarischen Bühnen bis 1813 erfolgreich aufgeführt.
25 Außer zeitkritischem Realismus besitzt das Stück noch eine andere Dimension, die mit der literarischen Form des Trauerspiels und der Kategorie des Tragischen zusammenhängt. In der Kindermörderin sind zwei konkurrierende Strukturen zugleich verwirklicht, die zwei völlig verschiedene Rezeptionen zulassen. Die Kindermörderin ist Trauerspiel und Exempelstück zugleich, sie lässt eine tragische und eine moralische Lesart zu. Siehe Georg Pilz: Deutsche Kindesmord-Tragödien. Wagner Goethe Hebbel Hauptmann, München 1982, S. 39-41.
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für Sturm und Drang entscheidenden Prinzip der Natürlichkeit entgegen. Und die 6 Akte waren ebenfalls ein Novum. Zur dramaturgischen Erneuerung des Dramas in der deutschen Literatur zählt vor allem auch „die Charakteristik der Personen durch ihre Sprache“26. Die Personen sprechen standesgemäß, z.B. benutzt Gröningseck französische Redewendungen. Die Redeweise der Frau Marthan gehört zur untersten Klasse, deren Auftritt wie auch das hungernde arme Kind auf der Bühne überhaupt eine Sensation darstellte. Die Sprache bezeichnet in der Kindermörderin gesellschaftliche, intellektuelle und gefühlsmäßige Unterschiede und Besonderheiten. Die Unterschichten mit ihren Ängsten und Problemen werden bereits hier literaturfähig, was dann erst im Naturalismus durch Georg Büchner zur Entfaltung kommen wird.27 Die Gesellschaftskritik in der Kindermörderin bezieht sich besonders auf den Standesunterschied: Adlige wie Gröningseck und Hasenpoth dürfen sich außerhalb der Gesetze bewegen. Selbst eine Vergewaltigung macht sie weder schuldig noch strafbar. Gröningseck wird trotz seiner sexuellen Gewalt als sympathisch, menschlich, sogar fortschrittlich dargestellt, wenn er als Adeliger eine bürgerliche Frau trotz ihrer Kindstötung heiraten will.28 Die Ehre spielt eine wichtige Rolle, aber nur Evchen wird Opfer der bürgerlichen Ehrverletzung. Die eigentliche Schuld trifft letztlich doch die Frau – nicht wegen „des späteren Mordes, sondern [wegen] des vorhergegangenen Beischlafs, der moralischen Schwachheit“29. Der Verführer und Kindsvater wird nicht zur Verantwortung gezogen.
26 Vgl. Karthaus, S. 120. Der gelehrte Magister redet wie ein Buch: umständlich und pedantisch mit Fremdwörtern wie „exegesiren“ (S. 21), „Zeloten“ (S. 25) oder „zum Exempel“ (S. 26), Humbrecht spricht ein kräftiges, unmissverständliches Deutsch: Der Theologe wird zum „Schwarzkittel“ (S. 21). Volkstümlich derbe Redearten sind ihm geläufig. 27 Siehe zum Naturalismus: Ingo Stöckmann: Naturalismus. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart/Weimar 2011. 28 Katrin Heyer erkennt im Verhalten Gröningsecks eine sexuelle Obsession, welche „als extremer Besitzanspruch an ein begehrtes Objekt – die Frauenfiguren sind in diesem Zusammenhang niemals als Subjekt vorhanden –, als sexuelle Fixiertheit, als Triebverhalten und als Zwangsvorstellung mit Verlustangst“ zu verstehen ist. Vgl. Der große Brockhaus, S. 647 und Meyers Enzyklopädisches Lexikon, S. 544; Katrin Heyer: Sexuelle Obsessionen. Die Darstellung der Geschlechterverhältnisse in ausgewählten Dramen von Goethe bis Büchner, Marburg 2005, S. 13. 29 Luserke 1999, S. 212.
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Die verlorene Ehre, Angst vor Armut und Strafe für die Kindstötung einschließlich unehelicher Schwangerschaft, also letztlich jenes Motiv ‚Furcht vor der Schandeǥ treiben Evchen in die Melancholie, dann zur Flucht aus dem Elterhaus und im Wahnsinn zur Tötung des Kindes. Hiermit rückt Evchen in die Nähe zum weiblichen Verbrechertypus einer Wahnsinnigen oder Sexualverbrecherin, welcher im Laufe des 19. Jahrhundert, aber auch im Naturalismus zunehmend wichtiger wird.30 Die Dialektik zwischen einzelner Tat und gesellschaftlichen Zuständen31 hält Wagner bewusst offen. Am Ende kann Evchen Humbrecht vielleicht doch noch der Todesstrafe entgehen und auf eine Begnadigung des Königs hoffen. Dass Wagners Kindermör-
30 Erich Schmidt (1875 und 1879) hat in seiner Wagner-Monographie den Vorwurf Goethes in Frage gestellt und die erneute Beschäftigung mit diesem Text im Naturalismus ermöglicht. Zu den wichtigen Autoren, die auf Wagners Drama aufmerksam machten, zählen – außer Schmidt – Friedrich Gundolf, welcher sich sehr negativ über die naturalistische Züge des Dramas äußerte („… die unteren und mittleren Stände ihre Sprache reden zu lassen, Derbheiten, Gemeinheiten, Zoten, Flüche anzubringen, gleichwohl wo sie hingehören und wo nicht“; siehe Pilz, S. 20), und Peter Hacks, der Wagners Drama in sozialistisch-realistischer Manie überarbeitete und die Pointe der Kritik Gundolfs umkehrte. Nicht zuletzt sei die Arbeit von Jürgen Haupt und Johannes Werner zu nennen. Für Werner ist der Wahnsinn Evchens nicht nur Ausdruck der im Sturm und Drang programmatischen Betonung von Affekten und Leidenschaften gegenüber dem bloß Rationalen, sondern mehr noch Ausdruck einer zugrunde liegenden melancholischen Disposition, die im Stück gründlich vorbereitet ist. Gesellschaftlich unterdrückte Natur, die sich in Evchens resignativer Melancholie, in ihrer schwermütigen Begeisterung für Edward Youngs Night Thoughts und in ihren leitmotivisch wiederkehrenden Todesahnungen schon früh im Drama äußert, bricht sich im Schlussakt mit der Gewalt und Brutalität einer Naturkatastrophe Bahn. Die von der bürgerlichen Gesellschaft und ihrem Tugendkanon geforderte Kontrolle über die eigene Natur schlägt in das Gegenteil um, in die zerstörerische Herrschaft der Natur selbst. Vgl. Andreas Huyssen: Drama des Sturm und Drang. Kommentar zu einer Epoche, München 1980, S. 187. Johannes Werner: Gesellschaft in literarischer Form. H.L. Wagners „Kindermörderin“ als „Epochen- und Methodenparadigma, Stuttgart 1977, S. 110f. 31 Peter Szondi schrieb zum naturalistischen Drama wie folgt: „Der soziale Dramatiker versucht die dramatische Darstellung jener ökonomisch-politischen Zustände, unter deren Diktat das individuelle Leben geraten ist. Er hat Faktoren aufzuweisen, die jenseits der einzelnen Situation und der einzelnen Tat wurzeln und sie dennoch bestimmen“. Vgl. Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas, Frankfurt a.M. 1964, S. 63.
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derin trotz des unverzeihlichen Verbrechens nicht gänzlich tragisch zu Grunde geht und sie und ihre Kolleginnen nicht in erster Linie als Inkarnation des Bösen präsentiert werden, hat sicherlich mit der Sturm und Drang Bewegung zu tun, die politisch sensibilisiert neue Themen sucht (Kindsmord, Genieästhetik, Shakespeare-Begeisterung, Volkslieder) oder alte Themen neu zur Anschauung bringt (Liebe, Sexualität, Standesunterschiede, poethologische und ästhetische Fragen)“.32 Nach Andreas Huyssen und vielen anderen ist der Sturm und Drang als Fortsetzung der Aufklärung zu betrachten.33 Innerhalb eines kurzen Zeitraumes ist die Bewegung von jungen Autoren sozusagen als ein Projekt initiiert worden, als ein Radikalisierungskonzept der Aufklärung, das angeblich die Vernunft, das Rationale betont und dabei das Sinnliche, das Emotionale und das Leidenschaftliche verdrängt haben soll.34 Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern wie England, Frankreich und Italien, wo die Aufklärung als viel fortschrittlicher galt und wo die philosophischen Ideen maßgeblich entwickelt wurden, entfaltete sich die deutsche Aufklärung gerade im Bereich der schönen Literatur, insbesondere im Drama, so auch in den Debatten um den Kindsmord.35 Auch wenn die Ideen
32 Sturm und Drang gilt als die „Literatur, die philosophisch, theologisch und ästhetisch im Geist der Aufklärung gebildet ist und diesen Geist kritisch gegen die eigene Gegenwart wendet“. „Im Schnittfeld von Adelskritik, Zivilisationskritik, Kritik an der Herrschaft poethologischer Regeln lässt sich das Postulat einer Emanzipation der Leidenschaften erkennen“. Die Literatur erfährt durch den Sturm und Drang „eine veränderte Funktionsbestimmung“ und klärt über die Repression der Aufklärung auf. Vgl. Luserke 2006, S. 10. 33 Sturm und Drang war „geographisch bewusst auf Abgrenzung von der deutschen Aufklärung bedacht. Weniger noch als Leipzig, Hamburg oder Berlin boten diese Städte (Frankfurt, Strassburg, Mannheim) begründete Aussichten auf gesellschaftlich und politisch relevante Tätigkeiten. Alle Energien, alle Arbeitskraft und schöpferische Phantasie dieser jungen Intellektuellen des Sturm und Drang wurden somit in den Bereich der schönen Literatur abgedrängt. Dies geschah zu einer Zeit, in der die schöne Literatur auch rein quantitativ die Bedeutung der religiösen und moralisierenden Literatur der frühen Aufklärung zusehends überflügelte“. Siehe Huyssen, S. 51. 34 Ob der Sturm und Drang tatsächlich als eine ‚Epocheǥ zu begreifen ist, haben einige Forscher kritisch in Frage gestellt. Vgl. Matthias Buschmeier/Kai Kauffmann: Einführung in die Literatur des Sturm und Drang und der Weimarer Klassik, Darmstadt 2010. 35 „Das Drama zählt zu der Gattung des Sturm und Drang schlechthin. Es ist „im Zusammenhang mit den Bemühungen des 18. Jahrhunderts um ein deutsches Natio-
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und Motive der Stürmer und Dränger der französischen und englischen Literatur verpflichtet waren, war das Kindesmordmotiv aber „ihre eigene Erfindung“, schreibt Rameckers.36
D IE ABWESENHEIT DER F RAU ODER P ROTOTYP EINER K RIMINELLEN Wir kommen nun zur These von der Abwesenheit der Frau. Die jungen Autoren hatten erkannt, dass sie die Aufklärung kritisch betrachten, über sie hinausgehen müssen. Die Regelpoetik der alten Aufklärer sollte durch die junge Literatur radikal aktualisiert werden. Dazu passte das Thema des Kindsmords, weil es ein sehr aktuelles, soziales und skandalöses Thema war. Zudem konnte man an dieser Thematik hervorragend die moralische Integrität der Stände problematisieren, zumal der Kindsmord als eine Folge der sexuellen Ausbeutung der bürgerlichen Schicht durch den Adel gesehen wurde. Die Kindermörderin diente als kulturelle Symbolisierung der bürgerlichen Moral so wie in Wagners Sozialdrama stets die bürgerlichen Innenräume als Kulisse fungieren. Die Frau, vor allem die junge Kindfrau, sollte die Reinheit der bürgerlichen Moral symbolisieren. Durch die uneheliche Schwangerschaft hat sie diese jedoch verletzt, und sie muss sie nun durch die Kindstötung wiederherstellen. Bei der Diskursivierung bzw. Dramatisierung des Kindsmords in jener Zeit fällt – trotz der avantgardistischen Humanisierungstendenz – die Abwesenheit der Frau selbst auf. Da der Kindsmord in der Regel von jungen Mädchen und Frauen begangen wurde, könnte man aus heutiger Sicht erwarten, dass die Debatte auch die Rechte der Frau oder ihre Stellung miteinbezog, doch wurde in jenen Diskussionen weder die Frau selbst als Subjekt gesehen noch ihre Stimme gehört. Sie kommt nicht einmal richtig zu Wort. Paradox ist es, dass die revolutionären Autoren gerade den Humanitätsdiskurs der Aufklärung radikalisieren wollten, dabei der Aspekt der Sexualität und der Liebe eine wichtige Rolle spielte, die Frau aber dennoch nur als Objekt betrachtet wurde. Huyssen schreibt:
naltheater, um die Schauspielkunst und die Theaterkultur zu sehen“, schreibt Ulrich Karthaus. Gleichzeitig und aufeinander einwirkend vollzog sich die Modernisierung dramatischer Formen und darstellerischer Kunst; zugleich entwickelten sich die Ansprüche an Kostüme und Bühnenbilder in den Jahren um 1770 in einem mächtigen Schub“. Karthaus 2007, S. 71-72. 36 Rameckers, S, 142.
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„Der bürgerlichen Emanzipation des Mannes entspricht im Drama keine Forderung nach der bürgerlichen Emanzipation der Frau.“37 Die Abwesenheit der Frau ist auch auf der Ebene der Darstellung festzustellen. Insgesamt werden die Frauen in Wagners Drama negativ dargestellt. Keine positive Frau tritt hier auf. Kaum eine Frau besitzt eine hörbare Stimme. Kaum eine Frau spricht die richtige Sprache. Die derbe Marthan ist ungebildet, die Mutter Humbrecht dumm und ehrgeizig. Evchens Figur ist allerdings zwiespältig: Zum einen ist sie ‚jung, schön, passiv, voller Vertrauenǥ und repräsentiert somit das unerfahrene und naive bürgerliche Mädchen. Zum anderen ist sie intelligent und reflektiert. Sie liest Edward Youngs Night Thoughts (1742-1745) und ihr sind ihre Grenzen als Frau bewusst, wenn sie sagt, dass sie noch heute nach Amerika auswandern und „für die Freyheit streiten“ würde, wenn sie „ein Mann wäre“. Doch in ihrem Verhältnis zu Männern, vor allem zum Vater, ist sie vollkommen verloren und kann sich selbst nicht öffnen, während sie Groeningseck gegenüber relativ selbstbewusst auftritt. Sie lernt ihn zu lieben, und in ihrer vermeintlich gescheiterten Liebesbeziehung zu ihm entschließt sie sich, das Kind – den „Bastart“ (S. 62) – zu töten. An dieser Stelle sei ein Forschungsansatz kritisch betrachtet, mit dem dem Text allerlei Emanzipatorisches wie auch Liberalisierendes zugemutet worden ist. Matthias Luserke meint, keine aktuelle Tendenz sei von Wagner aufgegriffen, sondern ein humaner Diskurs sei überhaupt erst auf eine gesamtgesellschaftliche Diskussionsbasis gestellt worden. Die größte Bedeutung von Wagners Kindermörderin liege darin, „dass sie langfristig einen Bedeutungswandel im Sinne des Wandels eines kulturellen Deutungsmusters der Frau initiiert hat“, und Literatur erweise sich als „der Ort, wo zuerst der Bruch der Frau mit der Tradition und ihren Handlungs- und Rollenzuschreibungen erprobt wird“.38 Doch Luserke betrachtet Evchen andererseits als reines Opfer und betont ihre Vergewaltigung. Über die Frage, ob sie vergewaltigt worden ist oder ob sie doch selbst sexuelle Wünsche gehabt haben könnte, ist oft diskutiert worden. In der Forschung ist die (Verführungs-)Szene häufig als Vergewaltigung umgedeutet worden. Evchen flieht in ein Nebenzimmer und „Innwendig Getöse“ lautet die Regieanweisung im 1. Akt (S. 16).39 Anke Meyer-Knees schreibt, dass nach der Vorstellung vieler Juristen und Mediziner des 18. Jahrhunderts eine schwangere
37 Huyssen, S, 84. 38 Luserke 1999, S. 212. 39 Nach Heinz-Dieter Weber „Eine Vergewaltigung muss in dieser Szene nicht erkennen, wer sie nicht sucht“. Heinz-Dieter Weber: „Kindesmord als tragische Handlung“, in: Der Deutschunterricht 28 (1976), S. 91.
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Frau nicht vergewaltigt und eine vergewaltigte Frau nicht schwanger werden konnte. Nach damaliger Einschätzung war durch die sexuelle Gewalt die Lösung des Eies, dessen Verschmelzung mit dem Samen und dessen Einnistung nicht möglich.40 Wagners Text lässt allerdings auch offen, ob sie verführt und dann vergewaltigt worden ist. Sie ist fröhlich mit Gröningseck ausgegangen und hat sich – trotz des Ereignisses im Bordell – in ihn verliebt und will ihn heiraten. Aus enttäuschter Liebe und weil sie sich verlassen glaubt, tötet sie das Kind. Die Frage, ob der Text Wagners einen dokumentarischen Wert besitzt41 oder nur mit den Mitteln der Literatur und des Theaters eine kulturelle Norm vermittelt, ist bereits von vielen ForscherInnen beantwortet worden. Die feministische Literaturwissenschaftlerin Germaine Götzinger vertritt eine radikale Perspektive, wenn sie den Kindermorddiskurs der Sturm und Drang Periode als männlichen Diskurs und die Bilder der Kindermörderinnen als Produkt von Männerfantasien betrachtet. Es wird kein weiblicher Lebenszusammenhang unmittelbar geschildert, sondern es findet eine männliche Rede über Weiblichkeit statt. Zudem änderte sich an der konkreten historischen Lebenswirklichkeit der betroffenen Frauen nichts. Evchen, Gretchen – es ist typisch, dass die Frauen nicht Eva und Margarete heißen, sondern verniedlicht und infantilisiert werden – und all die andern Kindermörderinnen seien nicht eine authentische Widerspiegelung von Frauenrealität, sondern Repräsentantinnen des imaginierten und projizierten Weiblichen, also um mit Inge Stephan und Sigrid Weigel zu sprechen, Frauenbilder, „die literarisch manifest gewordenen Vorstellungen und Phantasien von Weiblichkeit“42. Die Idealisierung wie auch Opferung der bürgerlichen Frau diene lediglich der Rechtfertigung der Impotenz des bürgerlichen Mannes. Die Kindermörderin Evchen Humbrecht ist kein Subjekt, welches etwas zu sagen hat und sich selbst entfalten kann, sondern wird als Opfer dargestellt, und zwar nicht nur Opfer des Verführers sondern auch gesellschaftlicher Zwangsstrukturen.43 Dennoch sie ist eher eine komplexe Figur als eine naive Natur. Sie
40 Vgl. Anke Meyer-Knees: Verführung und sexuelle Gewalt: Untersuchung zum medizinischen und juristischen Diskurs im 18. Jahrhundert (Hg. von Karin Bruns/Jürgen Link/Ursula Link-Herr (Probleme der Semiotik, Bd. 12), Tübingen 1992, S. 53. 41 Siehe zum ‚Dokumentarischenǥ des Kindsmordes Volker Wahl (Hg.): „Das Kind in meinem Leib“. Sittlichkeitsdelikte und Kindsmord in Sachesen-Weimar-Eisenach unter Carl August. Eine Quellenedition 1777-1786, Weimar 2004. 42 Inge Stephan/Sigrid Weigel: Die verborgene Frau. Sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft. Argument-Sonderband 96, West-Berlin 1983, S. 7. 43 Vgl. Huyssen, S. 185. Siehe zu dem Opferdiskurs Milevskis Beitrag in diesem Band.
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erweckt zwar Mitleid, aber sie ist nicht dumm, schuldfähig und auch nicht unzurechnungsfähig. Durch die Ermordung des Kindes im Affekt durchbricht sie das Normgefüge wie auch die kulturellen Muster. Sie ist aber eine Frau, die vom Publikum gemocht wird. Literaturhistorisch gesehen wird so mit der Thematik der Kindermörderin die Diskursivierung des weiblichen Verbrechens im literarischen Bereich angestoßen, sodass man von einem Anfang der Kriminalliteratur sprechen könnte. Diese Betrachtung mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, doch gerade durch diese Zusammensetzung der widersprüchlich klingenden Aspekte entspricht offensichtlich die Thematik der Kindermörderin dem Kernpunkt dieser Zeit, in welchem die Autonomie der Kunst und Literatur beispiellos wichtig wurde.
F AZIT Im Wagners Drama wird ein wichtiges Thema der Sturm und Drang Periode, das Skandalthema Kindsmord aufgegriffen. Justiz und Literatur kommen einander näher. Die Autoren, in der Regel Juristen, hatten Interesse am Kindsmordthema sowohl als sozialem Problem, als auch als juristischem Fall. Kriminalpsychologisch gesehen werden nicht die Tat sondern die Täter und ihre Tatmotive ins Zentrum der Beobachtung gestellt, was wiederum der Literatur erneuten Anstoß gibt. Der Wiederherstellungsversuch der bürgerlichen Reinheit der Frau wie etwa bei Gretchen im Urfaust ist zwar auch bei Evchen zu finden. Doch Evchen Humbrecht zählt sicherlich nicht zu den Frauentypen, welche sich ins europäische kulturelle Gedächtnis als große Damen ihre Zeit eingeprägt haben, weder als Kindfrau noch als erotische Femme Fatal. Sie wird als Diskurstyp eines Frauenopfers in die Literaturgeschichte eingehen und die große Maschinerie des Sexualitätsdispotivs im kriminologischen literarischen Diskurs bereichern. Die Grenzen der Beurteilung der Kindermörderin und der Sexualverbrecherin werden im Laufe der nachfolgenden Jahrhunderte durchlässig ebenso wie die Diskurse darüber. Die Figur der Kindermörderin wird zunehmend im Zusammenhang mit der Sexualverbrecherin diskutiert, die als ein Haupttyp der weiblichen Verbrecherin und Psychopatin diente.
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ANHANG 1. Die Liste der ausgewählten Kindsmordsdichtungen im Sturm und Drang 1773-75 entstanden, veröffentlicht 1887, Johann Wolfgang Goethes Gretchentragödie. 1774 J. W. Goethes Ballade Der untreue Knabe. 1775 Anton Matthias Sprickmanns Ballade Ida; Gottfried August Bürgers Gedicht Der Ritter und sein Liebchen. 1776 Jakob Michael Reinhold Lenz’ Erzählung Zerbin oder die neuere Philosophie; Heinrich Leopold Wagners Kindermörderin; Friedrich Müller (Maler Müller)s Idylle Das Nuss-Kernen; Gotthold Friedrich Stäudlins Gedicht Seltha, die Kindermörderin; J. W. Goethes Gedicht Vor Gericht. 1777 Johann Friedrich Schinks Gedicht Empfindungen einer unglücklichen Verführten bey der Ermordung ihres Kindes; David Christoph Seybolds Anrede an das Volk bey der Hinrichtung einer Kindermörderinn; Franz Caspar Buchholz’ Prosaerzählung Bettina. 1778 Christian Friedrich Daniel Schubarts Gedicht Das schwangere Mädchen; Anton Matthias Sprickmanns Drama Mariens Reden bei ihrer Trauung. 1779 August Gottlieb Meißners Lied einer Gefallenen und Die Mörderin; Gottfried August Bürgers Ballade Des Pfarrers Tochter von Taubenhain. 1780 Otto Heinrich Freiherr von Gemmingens Schauspiel Der teutsche Hausvater. 1780-83 Johann Heinrich Pestalozzis Abhandlungen Gesetzgebung und Kindermord. 1781 Friedrich Schillers Gedicht Die Kindesmörderin. 1782 Friedrich Wilhelm Wucherers Schauspiel Julie, oder die Gerettete KindsMörderin. 1795 August Gottlieb Meißners Kriminalnovelle Jawohl sie hat es getan.
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2. Die Handlung von Die Kindermörderin H.L. Wagners Im Ersten Akt folgt Evchen mit ihrer Mutter der Einladung des Lieutnants v. Gröningseck zu einem Ball im „Wirtshaus zum gelben Kreutz“. Hier betäubt er Fr. Humbrecht mit einem Punsch (Motiv Schlafmittel), und verführt ungestört die Tochter. Die Szene des Geschlechterakts wird nicht gezeigt, sondern es heisst „Innwendig Getöse“ (S. 16). Herausgestürzt wieder aus dem Nebenzimmer, beschimpft sie ihn als „Ehrenschänder“, der sie „zur Hure gemacht“ (S. 17) habe. Er gibt ihr ein Eheversprechen, das er aber erst in fünf Monaten, wenn er volljährig sein wird, einlösen kann. Im Zweiten Akt treten zwei neue Personen auf: der Vater, Metzgermeister Martin Humbrecht, und der Vetter Magister Humbrecht, ein künftiger Geistlicher, der Evchen Klavierunterricht erteilt. Der Vater streitet mit der Mutter, weil sie mit Evchen den Ball besucht hat – „Es gehört sich aber nicht für Bürgersleut“ (S. 20). Der Dritte Akt spielt „vier, fünf Monate“ (S.32) nach dem Ballbesuch. Gröningseck spricht mit seinem Regimentskameraden v. Hasenpoth, welcher das Pulver beschafft hatte, mit dem Frau Humbrecht eingeschläfert wurde. Hasenpoth will Gröningseck zum Bruch des Heiratsversprechens verleiten. Der Magister stürzt herein und berichtet von Evchens Melancholie: Sie liest die Nachtgedanken (1740) von Edward Young, das Erbauungsbuch der empfindsam Schwermütigen. Da erscheint Major Lindsthal und bringt Gröningseck den Bescheid über sein Urlaubsgesuch. Der Vierte Akt in Evchens Schlafzimmer zeigt ihren Kummer angesichts der bedrängten Lage im Gespräch mit ihren Eltern, denen sie sich nicht eröffnen kann: Vor allem der Vater mit seinen strengen Ehrvorstellungen ängstigt sie. Da erscheint Gröningseck und versichert sie seiner „reinste(n), tugendhafteste(n)“ Absichten. Er will nach Hause reisen und „zu rechter Zeit wiederkommen“ (S. 50), um sie alsdann zu heiraten. Er wiederholt seinen Schwur. Die Reise veranschlagt er auf zwei Monate. Im Fünften Akt, acht Monate nach der Verführung, „um Michaelstag herum“ (S. 55), dem 29. September, hat sie einen Brief erhalten, den Hasenpoth unter den Namen Gröningsecks geschrieben hat und der ihr Hasenpoth als Liebhaber empfehlt. Voller Verzweiflung verlässt sie das Haus. Der Magister kommt und teilt ihrem Vater mit, was er am Vortag in der Kirche erlebt hat: Evchen sei in Ohnmacht gefallen, als eine königliche Verordnung „wegen den Duellen, dem Hausdiebstahl und dem Kindermord“ (S. 57) von der Kanzel verlesen wurde. Das Ehepaar Humbrecht protestiert heftig, bis der Magister einen Brief hervorzieht, in dem Gröningseck – in der Tat abermals Hasenpoth – schreibt: „Fragen
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sie doch Evchen Humbrecht, ihre Base, ob sie dumm genug ist zu glauben, dass ich sie würklich heyrathen wollte“ (S. 61). Da erscheint „Fausthammer“ und bringt die von Frau Humbrecht während des Balls verlorene Tabakdose als Fundstück; Humbrecht traktiert ihn mit Stockschlägen, weil er im Frühjahr ein fünfjähriges Kind, das bettelte, „zu Tod geprügelt hat“ (S. 63). Nun merken sie, dass Evchen fort ist. Da kommt der Gerichtsbote wieder, diesmal in Begleitung seines Vorgesetzten, des Fiskals, und teilt Frau Humbrecht mit, dass ihre Tabakdose „bey einem schlechten Weibsbild“ (S. 68) gefunden wurde. Meister Humbrecht erfährt so, dass seine Frau und Tochter im Karneval in einem Bordell frühstückten. Humbrecht nennt die Tochter zwar „Hure“ (S. 70), aber zugleich ist er von der Angst um sie „wie betäubt“ (S. 71). Der Sechste Akt – eine Seltenheit in der dramatischen Literatur des 18. Jahrhunderts – spielt fünf Wochen später. Evchen lebt seit der Flucht aus dem Elternhaus mit ihrem Kind bei der Wäscherin Frau Marthan. Diese hat sie aufgenommen und teilt ihren kümmerlichen Unterhalt mit ihr. Evchen hat sich als Dienstmagd ausgegeben, die von der Herrschaft wegen ihrer Schwangerschaft verstoßen wurde und eröffnet der Wäscherin, dass sie „beym Metzger Humbrecht“ (S. 73) gedient habe. Sie erfährt, dass ihre Mutter vor Kummer gestorben sei. Da offenbart sie sich ihrer Wirtin, und schickt sie zu ihrem Vater: sie soll sich die von Humbrecht ausgesetzte Belohnung verdienen, indem sie ihren Aufenthaltsort der Tochter nennt. Als Frau Marthan das Haus verlassen hat, tötet Evchen in geistiger Verwirrung das Kind. Ihren Monolog unterbricht der Auftritt des Vaters, der ihr den Fehltritt verzeiht, bestärkt darin vom hinzukommenden Magister, der die Intrige Hasenpoths aufdeckt und die Verspätung Gröningsecks mit einer „tödliche(n) Krankheit“ (S. 82) erklärt. Da nun alles sich zum Guten wenden könnte, bekennt Evchen den Kindesmord. Gröningseck kommt hinzu, gleich nach ihm der Fiskal mit den Fausthämmern. Evchen wird verhaftet; ein Schimmer von Hoffnung bleibt am Ende, denn Gröningseck will zum König, um Gnade für sie zu erwirken. Der Fiskal bestärkt ihn in seiner Absicht mit den Worten: „freilich! Es kommt viel auf die Umstände an!“ (S. 85).
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Maskerade des Begehrens: Lust- und Sexualmörderinnen in der deutschen Gegenwartsliteratur I RINA G RADINARI
Lust- und Sexualmörderinnen sind prinzipiell unmöglich. Nicht, dass die Frauen nicht töten konnten und können, doch der Diskurs über den Lust- und Sexualmord, der sich um 1900 etablierte, sprach den Frauen jegliche sexuelle Lust am Töten ab – ausgenommen den Giftmischerinnen. Die Literatur nahm an dieser geschlechtsspezifischen Diskursivierung der Delikte teil. So brachten literarische Texte1 den Lustmord allein mit einem männlichen Täter in Verbindung. Das lag zum Teil daran, dass literarische Subjektkonzepte hauptsächlich über Männlichkeit verhandelt wurden, auch wenn der Lustmörder in der Literatur als Kritikfigur fungierte. An ihm diagnostizierten und arbeiteten die AutorInnen die Krise der Moderne und somit die Krise bürgerlicher, männlicher Subjektivität ab. Der Lustmord wurde nach Martin Lindner zu einer Art des „Anti-Textes“2, zur Figur
1
Lulu. Erdgeist/Die Büchse der Pandora (1892/1913) von Frank Wedekind, Die Ermordung einer Butterblume (1913) von Alfred Döblin, Der Mann ohne Eigenschaften (1930/1932) von Robert Musil, Mörder, Hoffnung der Frauen (1907/1910) von Oskar Kokoschka, um nur einige wenige Werke zu nennen. Bei Lindner finden sich weitere literarische Beispiele zum Thema Lustmord. Vgl. Martin Lindner: „Der Mythos ‚Lustmord‘: Serienmörder in der deutschen Literatur, dem Film und der bildenden Kunst zwischen 1892 und 1932“, in: Joachim Lindner (Hg.): Verbrechen – Justiz – Medien: Konstellation in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart, Tübingen 1999, S. 272305.
2
Ebda., S. 282. Der Lustmord nach Martin Lindner reißt erst die Lücke in der kulturellen Sinnstiftung und durch die diskursive Deckung der Lücken – die Produktion
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des Risses im kulturellen Sinngeflecht, zum Sinnbild des von Horst Thomé beschriebenen Sinnstiftungsdefizits,3 das aus dem Phänomen der Großstadt, den Folgen des Ersten Weltkrieges, der Mobilisierung, der Industrialisierung, der Explosion des Wissens und der raschen Inflation der Sinnkonzepte resultierte. Die Literatur verarbeitete also kritisch die Modernisierung der Gesellschaft, schrieb jedoch den asymmetrischen Geschlechterdiskurs zur Bewältigung der Krise fort. Literarische Werke führten den Mörder als Protagonisten in bereits vorhandene Subjektdebatten ein, aus der Frauen ausgeschlossen blieben. Die Gegenwartsliteratur bricht diese Vorstellung von einer genuin männlichen, sexuell konnotierten Zerstörungslust auf; sie lässt auch lustmörderische Täterinnen und lustmörderische Opfer in literarischen Fantasien erscheinen. Allein dieser Fakt spricht für einen Paradigmenwechsel in der Diskursivierung sexueller Verbrechen in der Gegenwart. Die Ursachen sind dabei vielfältig: Allem voran ist die Diskreditierung des Lustmordes zu einer analytischen Kategorie in den 1980er Jahren zu nennen, die die Verbindlichkeit zur Nutzung der wissenschaftlichen Konzepte für die Verknüpfung von Gewalt und männlicher Sexualität löste.4 Die sozial-politische Emanzipation der Frauen ermöglichte weiterhin die Eroberung von ästhetischen Bereichen, die davor nur für männliche Figuren vorgesehen waren. Dazu gehört auch die Gewaltsphäre, die die Frauen in den ästhetischen Repräsentationen zunehmend für sich beanspruchen. Horrorfilme sind beispielsweise zum Medium der Abschaffung traditioneller geschlechtsspezifischer Zuschreibungen und der Erschaffung neuer weiblicher oder queerer Identitäten geworden, wie Carol J. Clover5 und Judith Halberstam6 in ihren Studien herausgearbeitet haben. Sie lasen dieses angeblich ‚niedrigere‘ Mainstream-Genre gegen den Strich und werteten es zum Medium neuer Identitätskonzepte auf. In der deutschen Gegenwartsliteratur haben auch die Autorinnen das Kriminalgenre für sich erobert, wobei das weibliche Schreiben immer noch unter der
mehrerer Diskurse – entsteht erst der Lustmord als Effekt des Semiotisierungsprozesses. 3
Horst Thomé: „Modernität und Bewußtseinswandel in der Zeit des Naturalismus und Fin de siècle“, in: York-Gothart Mix (Hg.): Naturalismus. Fin de siècle. Expressionismus 1890-1918, München/Wien 2000, S. 15-27, hier S. 18.
4 5
Friedemann Pfäfflin: „Lust am Lustmord“, in: Der Nervenarzt 53 (1982), S. 549-551. Carol J. Clover: Men, Women, and Chain Saws: Gender in the Modern Horror Film, Princeton 1993.
6
Judith Halberstam: Skin Shows. Gothic Horror and the Technology of Monsters, Durham/London 1995.
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Trivialliteratur subsummiert wird. Die Trennlinie zwischen Trivial- und Hochliteratur hat laut Gabriele Dietze7 nach der Aufwertung der Populärkultur durch die Cultural Studies der Birmingham School auch im Genrebereich an Gültigkeit verloren und wurde zur male-female Achse transformiert. So wird der Kriminalroman inzwischen als ein komplexes Medium der Aushandlung sozialer Diskurse betrachtet, solange er von einem männlichen Autor verfasst wird. Dennoch sind mittlerweile Detektivinnen, Polizistinnen und Verbrecherinnen in der deutschen Literatur reichlich vorhanden.8 Die Frauenfiguren bleiben bei den Autorinnen dabei nicht allein auf die Rolle der Femme fatale reduziert; sie emanzipieren sich zu Protagonistinnen. Die tradierten geschlechtsspezifischen Zuschreibungen des Verbrechens verloren aber nur zum Teil ihre Gültigkeit. Im Falle des Lustmordes erscheint es insofern als schwer sich davon zu befreien, als dass der Lustmord immer schon ein Narrativ war. Da der Lustmord ein Phantasma bzw. eine Leerstelle in der Kriminologie darstellte, wurde er über die Narrativierungsstrategien erklärt. Der Lustmord ist daher, so Arne Höcker, „Produkt literarischer Praktiken. So gesehen war das Motiv zum Lustmord immer schon identisch mit dem LustmordMotiv.“9 Die Gegenwartliteratur kämpft also gegen die Narrative an, die sich im Laufe des Jahrhunderts im Lustmorddiskurs sedimentierten. In den Werken Die Hirnkönigin (1999) von Thea Dorn und Schmerznovelle (2001) von Helmut Krausser sind die weiblichen Mörderinnen gerade im männlichen Täterdiskurs situiert, wobei deren Positionierung bestimmte ästhetisch-narrative Begründungen erfordert. Anders gesagt, die Mörderinnen müssen sich den Lustmord aneignen und ihn modifizieren, um glaubwürdig und ästhetisch überzeugend zu bleiben. Der Roman Der Fall Arbogast (2001) von Thomas Hettche präsentiert ein lustmörderisches Opfer. Er bricht mit den tradierten Vorstellungen von passiven weiblichen Opfern, die nicht weniger verfestigt sind als die der aktiven männlichen Täter. Verhandelt werden dabei nicht nur ‚typisch weibliche‘ Mordarten wie
7
Vgl. Gabriele Dietze: Hardboiled woman: Geschlechterkrieg im amerikanischen Kri-
8
Ulrike Leonhardt: Mord ist ihr Beruf: Eine Geschichte des Kriminalromans, München
minalroman, Hamburg 1997, S. 256-260. 1990. Carmen Birkle/Sabina Matter-Seibel/Patricia Plummer (Hgg.): Frauen auf der Spur: Kriminalautorinnen aus Deutschland, Großbritannien und den USA, Tübingen 2001. 9
Arne Höcker: „,Die Lust am Textǥ. Lustmord und Lustmord-Motiv“, in: Susanne Komfort-Hein/Susanne Scholz (Hgg.): Lustmord. Medialisierungen eines kulturellen Phantasmas um 1900, Königstein/Taunus 2007, S. 37-51, hier S. 39.
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etwa Kindesmord, Giftmord oder Sterbehilfe, sondern auch die Weiblichkeitszuschreibungen selbst, die diese Vorstellungen vom ‚typisch weiblichen‘ Verbrechen – wie etwa Passivität, List oder Verstellungskunst – generieren. Dazu gehören die tradierten Bilder der Femme fatale und der Femme fragile, der Frau als Geschöpf männlicher Kunst und der Frau als Opfer, die in den ausgewählten Romanen thematisiert und auf verschiedene Art und Weise in Szene gesetzt werden. Die Frau kann nur dann Lustmörderin oder lustmörderisches Opfer werden, und das ist mein Ergebnis, wenn sie sich das männliche Begehren/die männlichen Narrative über die ‚typisch weibliche‘ Strategie der Maskerade10 aneignet – genau die Argumentationsfigur, die bereits in den kriminologischen Texten um 1900 auftaucht. Thea Dorn versieht ihre Protagonistin mit den tradierten biographisch-geprägten Erklärungsmustern. Ihre Mörderin versucht das Geschlecht zu transgredieren, indem sie männliche Gehirne sammelt – sie bleibt jedoch eine leere Hülle, die gerade über die Maskerade tradierte Weiblichkeitsbilder inszeniert. Helmut Krausser setzt das Motiv der Maskerade in der Narration um, indem sich eine schizophrene Frau in ihren Ehemann verwandelt, um sich selbst zu töten. Diese Novelle positioniert die Frau an der Grenze zwischen Täter- und Opferposition. Und letztendlich postuliert Thomas Hettche ein lustmörderisches weibliches Opfer, dessen Darstellung gerade die Maskerade ermöglicht. Als ‚Diskursreste‘ können bei allen AutorInnen weiterhin die Verhandlung der heterosexuellen Matrix, eine Sexualisierung/Erotisierung der Morde und eine biographische Begründung des Lustmordes festgestellt werden. Die literarische Lustmörderin zeichnet sich dabei durch Ambivalenzen aus: Einerseits fungiert sie als besonderes Zeichen und verlangt zum Teil die Entwicklung neuer Erzählstrategien, die zum Beispiel den Täter-Opfer-Binarismus unterwandern. Und je weiter sich die Frauenfiguren von der Täter- zur Opfer-Position bewegen, desto weniger bleibt vom tradierten Lustmorddiskurs übrig. Andererseits greifen alle AutorInnen auf den tradierten Weiblichkeitstopos der Maskerade zurück und schreiben ihn somit fort, um die Frau als Lustmörderin darzustellen.
10 Joan Riviere: „Weiblichkeit als Maskerade“, in: Liliane Weissberg (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt a.M. 1994, S. 34-47.
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Abbildung 1: „Vorgetäuschter Lustmord. Die Arbeiterehefrau U... [...]. Erkennungsdienst Dresden.“
Bild aus: Wulffen, Erich: Der Sexualverbrecher. Ein Handbuch für Juristen, Verwaltungsbeamte und Ärzte, Berlin 1920, S. 473
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Zur theoretischen Fundierung von Verbrechen um 1900 wurde der damals geltende Geschlechterdiskurs zugrunde gelegt. Mit dem Lustmord wurden dabei jegliche Abweichungen von den herrschenden Vorstellungen über männliche Sexualität pathologisiert. Der Lustmord wurde entweder zum Zeichen von Impotenz, wenn er als Ersatz für einen Coitus definiert wurde, oder zum Zeichen einer gesteigerten oder ‚abweichenden‘ Sexualität, wenn er als Fortsetzung des Coitus oder in Zusammenhang mit Polygamie, Homosexualität, Sadismus und Masochismus angesehen wurde.11 Daher wurden oft die Morde an Prostituierten als Lustmorde interpretiert, weil sie auf den sexuellen Kontakt außerhalb der Ehe hinwiesen und somit als Überschreitung der Normen galten. Zu betonen ist, dass der Lustmord nicht unbedingt im Zusammenhang mit Vergewaltigungen stand, sondern vom Sexualakt selbst abgeleitet wurde. Da der Frau die Aktivität beim Coitus abgesprochen wurde, konnte sie auch nicht als Lustmörderin fungieren. So stellt der Kriminologe und Richter Dr. Erich Wulffen in seiner Studie Das Weib als Sexualverbrecherin aus dem Jahr 1923 fest: Unter den Vampiren, Lustmördern, Nekrophilen und Kannibalen findet sich eine Reihe Impotenter, die beim Weibe unfähig sind und nur unter Verübung ihrer verbrecherischen Handlung zu einer Ejakulation gelangen. […] Auch deshalb, weil das Weib einen solchen Zustand nicht kennt oder wenigstens nicht als Qual empfindet, liegen ihm die genannten Verbrechen fern. Selbst bei Nymphomanen ist der Geschlechtstrieb nicht derartig monströs, daß er zu Lustmord, Nekrophilie und Kannibalismus gelangt.12
Der Lustmord, wie das Zitat wiedergibt, ist kaum von anderen sexuell konnotierten Handlungen zu unterscheiden, und markiert somit die Schwierigkeiten seiner Diskursivierung, die über Männlichkeitskonstruktionen vollzogen wurde. Für die Verknüpfung von männlicher Sexualität und Gewalt wurden dabei hauptsächlich damals aktuelle kriminalanthropologische Ansätze herangezogen, die die Ätiologie eines Verbrechens einerseits in den vererbten Krankheiten, andererseits in den degenerativen und atavistischen Zeichen am Körper des Lustmörders eruierten. Die Kriminalanthropologie kannte durchaus auch GewohnheitsverbrecherInnen, die aufgrund ihrer Lebensumstände kriminell geworden waren. Die Lustmörder wurden zur Gruppe der Verbrecher gezählt, die ihre Motivation zum Verbrechen nicht erst entwickeln, sondern bereits damit geboren sind. Die zerstörerische Lust ist in der kriminalanthropologischen Argumentation in der männlichen Sexualität und somit in der ‚Natur‘ des Mannes selbst verwurzelt.
11 Richard von Krafft-Ebing: Psychopathia Sexualis, München 1986, S. 80. 12 Erich Wulffen: Das Weib als Sexualverbrecherin, Berlin 1923, S. 377.
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Gerade diese Verknüpfung von Gewaltakt und Körper des Verbrechers verlangte besondere diskursive Anstrengungen bzw. verschiedene Klassifikationen und Merkmale, die ebenfalls geschlechtsspezifisch funktionierten und auf bestehende Geschlechterzuschreibungen zurückgriffen. Vor allem findet sich das Motiv Weiblichkeit als Maskerade in der Abgrenzung des Lustmordes von anderen Morden. Wulffen differenziert in seiner Studie Der Sexualverbrecher13 (1910) „echte“, „scheinbare“ und „vorgetäuschte“ Lustmorde. Männer begehen „echte“ und „scheinbare“ Lustmorde. Die letzteren sehen nur zufällig wie Lustmorde aus, unterscheiden sich also von den „echten“ nur graduell. Diese wurden laut Wulffen aus anderen Motiven (z.B. Totschlag oder Beseitigung einer Zeugin) begangen. Frauen können hingegen die Lustmorde nur vortäuschen, wie etwa im Fall der „Arbeiterehefrau U.“14 (Abb. 1) Diese hatte ihre Tochter umgebracht und danach deren Leiche so manipuliert, dass es nach einem Lustmord aussah. Die Unterscheidung zwischen den „vorgetäuschten“ und anderen Lustmorden wird also mithilfe geltender Geschlechternormen diskursiviert. Zu bemerken ist, dass die Trennung zwischen „echtem“, „scheinbarem“ und „vorgetäuschtem“ Lustmord erst die ‚Echtheit‘ eines Lustmordes zu behaupten ermöglicht. Zugleich unterwandert sie den Lustmord als ‚natürliches‘ Phänomen, indem sie seine ‚Echtheit‘ als reproduzierbar ausstellt. Die Frau kann also aufgrund ihrer ‚natürlichen‘ Verstellungskunst das männliche Begehren nachahmen bzw. sich aneignen. Wenn beim Mann die Sexualität und die Abweichung zu seinem ‚Wesen‘ gehört und der Lustmörder paradigmatisch für die Vorstellungen von Männlichkeit und männlichem Verbrechen um 1900 steht,15 wurde die sexuelle Frau pathologisiert, wie der zu dieser Zeit entstandene Hysteriediskurs demonstriert. Sexualforschung16, Kriminalanthropologie17 und -psychologie18 postulierten beispielsweise eine sexuelle Grundlage für jegliche durch Frauen begangene Vergehen. Diese Pathologisierung wurde sowohl in Übereinstimmung mit den
13 Ders. (1910): Der Sexualverbrecher. Ein Handbuch für Juristen, Verwaltungsbeamte und Ärzte, 7. Aufl. Berlin 1920. 14 Ebda., S. 473. 15 Hania Siebenpfeiffer: „Böse Lust“. Gewaltverbrechen in Diskursen der Weimarer Republik, Wien/Köln/Weimar 2005, S. 92. 16 Magnus Hirschfeld: Sexualität und Kriminalität: Überblick über das Verbrechen geschlechtlichen Ursprungs, Wien/Berlin/Leipzig/New York 1924. 17 Cesare Lombroso/Guglielmo Ferrero: Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte. Anthropologische Studien, gegründet auf eine Darstellung der Biologie und Psychologie des normalen Weibes, Hamburg 1884. 18 Hans Groß (1898): Kriminalpsychologie, 2. Aufl. Leipzig 1905.
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geltenden Weiblichkeitszuschreibungen als auch in deren Überschreitung unternommen. So erarbeiten die genannten Disziplinen ‚typisch weibliche‘ Verbrechen, die den herrschenden Weiblichkeitsbildern entsprachen. Die Giftmischerin und die Kindesmörderin wurden laut Hanja Siebenpfeiffer zum Paradigma der weiblichen ‚Natur‘.19 An der Giftmörderin wurden dabei nicht nur spezifisch ‚weibliche‘ Eigenschaften wie physische Schwäche, List und Passivität exemplifiziert, sondern sie wurde laut Karsten Uhl20 am Anfang des 20. Jahrhunderts in mehreren kriminologischen und sexualwissenschaftlichen Studien als feminine Lustmörderin betrachtet. Diese Entsprechung von Giftmischerin und Lustmörderin findet man auch bei Wulffen, wenn er den Absatz über den männlichen Lustmord wie folgt fortsetzt: „Aber im Märchen von Schneewittchen gelangt die Königin und Giftmischerin zu Anthropophagie, indem sie die inneren Teile der verhaßten schönen Stieftochter zu verzehren wünscht.“21 (Abb. 2) Abbildung 2: Screenshot aus Snow White and the Huntsman (Rupert Sanders, USA 2012),
Charlize Theron in der Rolle der bösen Königin
19 Siebenpfeiffer 2005, S. 92. 20 Karsten Uhl: „Die ,Sexualverbrecherinǥ. Weiblichkeit, Sexualität und serieller Giftmord in der Kriminologie, 1870-1930“, in: Susanne Komfort-Hein/Susanne Scholz (Hgg.): Lustmord: Medialisierung eines kulturellen Phantasmas um 1900, Königstein/Taunus 2007, S. 133-148. 21 Wulffen 1923, S. 377.
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Die Kriminologen wenden sich oft literarischen Quellen zu, um die Verbindung von ‚weiblicher Natur‘ und ‚weiblichem‘ Verbrechen herzustellen. Den Mangel an ‚realen‘ Giftmörderinnen füllt Wulffen hier mit literarischen Vorlagen. Kathrin Kompisch22 stellt 2006 in ihrer populärwissenschaftlichen Studie fest, dass laut Kriminalstatistiken das bevorzugte Tatwerkzeug der Frauen nicht Gift, sondern das Messer ist. Ein Fünftel tötet mit den Händen durch Schläge, Drosseln oder Würgen, ein weiteres Fünftel mit einer Schusswaffe. Auch Wulffen findet nicht sonderlich viele Beispiele für reale Giftmischerinnen. Stattdessen nennt er in seinem Kapitel Giftmischerinnen eine Reihe von berühmten Mörderinnen aus antiken und späteren literarischen Werken: Medea (431 v. Chr.) von Euripides, Cymbeline (ca. 1611) von William Shakespeare, Schneewittchen (1812) von den Gebrüdern Grimm, Die Macht der Finsternis (1886) von Leo Tolstoi und Absolvo te! (1907) von Clara Viebig. Zugleich kann sich die Verbrecherin der männlichen ‚Natur‘ in ihrer Sexualität annähern: Daß sich bei vielen Verbrecherinnen andererseits ein Übermaß von Sexualität findet, die sie bis zur männlichen Aktivität und darüber hinaus aufpeitschen kann, ist allgemein bemerkte Tatsache. Namentlich große Verbrecherinnen nähern sich oft dem männlichen Typus.23
Der Begriff „aufpeitschen“ ruft auch literarische Fantasien der Domina auf, wie sie sich beispielweise in der damals viel gelesenen Novelle Venus im Pelz (1870) von Leopold von Sacher-Masoch finden. Im Zusammenhang mit der Annäherung an männliche Sexualität erwähnt Wulffen in seiner Studie auch drei Lustmörderinnen, die die heterosexuelle Matrix transgredieren. So definiert Wulffen den lesbischen Mord,24 den Mord einer Herrin an ihrem Sklaven25 oder den Mord an einer anderen Frau mit „politischem Einschlag“26, bei dem Wulffen eine homosexuelle Grundlage vermutet, als Lustmord. Der Kriminalmediziner Julius Kratter definiert ebenfalls einen lesbischen Mord als Lustmord.27 Innerhalb dieser Formen des Mordes nimmt die Frau eine ‚männliche‘ Geschlechtspo-
22 Kathrin Kompisch: Furchtbar feminin: Berüchtigte Mörderinnen des 20. Jahrhunderts, Leipzig 2006. 23 Wulffen 1923, S. 27. 24 Ebda., S. 391. 25 Ebda., S. 274. 26 Ebda., S. 275. 27 Julius Kratter: Gerichtsärztliche Praxis. Lehrbuch der Gerichtlichen Medizin, Bd. 2., Stuttgart 1919, S. 38-39.
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sition ein. Ihr werden entweder die Homosexualität (die Anfang des 20. Jahrhunderts sowohl als entartet angesehen wie auch kriminalisiert wird) oder eine ‚männliche‘ Machtposition zugeschrieben. Sobald das Verbrechen eine Irritation in der herrschenden Geschlechterordnung auslöst, werden nach Karsten Uhl die von Frauen begangenen Morde als Lustmorde bezeichnet.28 An diesen Beispielen wird deutlich, dass der Lustmord für die Stabilisierung der herrschenden Gender-Diskurse am Anfang des 20. Jahrhunderts eingesetzt wird, wobei der Lustmord geschlechtsspezifisch unterschiedlich gebraucht wird: Das konforme Begehren des Mannes wird durch den Lustmörder reproduziert, wohingegen die Frau als Lustmörderin ihre Machtposition oder ihre Homosexualität, also die Aneignung des ‚männlichen‘ Begehrens, signalisiert. Der weibliche Lustmord dient der Pathologisierung von ‚untypisch‘ weiblichen Verbrechen, um sie aus der Reihe der ‚üblichen‘ weiblichen Verbrechen auszugrenzen. Mit der Diskursivierung des Lustmordes mithilfe psychologischer und psychoanalytischer Konzepte findet sich in den 1950er Jahren das Motiv der Maskerade wieder – jetzt auch bei den männlichen Tätern. Die Psychologisierung des Täters verursachte seine ‚Verweiblichung‘, die ihm aber nicht anzumerken, sondern aus seiner Biographie heraus zu rekapitulieren sei.29 Die Kriminalanthropologie versteht den Körper des Täters als einen ‚Text‘, dessen physiologische Abweichungen als Zeichen für Degradation oder atavistische Überbleibsel interpretiert und der Ätiologie der Tat zugrunde gelegt werden.30 Sobald der Körper des Täters ‚unlesbar‘ wird, rückt seine ganze Biographie in den Vordergrund. Die gescheiterte Sozialisation und das Trauma des Mörders – beide durch einen fehlenden Vater und eine sexualisierte und ausschweifende Mutter verursacht – stören seine Identifikation mit der väterlichen Ordnung und somit die Integration in die Gemeinschaft. So beschreibt der Oberregierungsmedizinalrat Steffen Berg in einem Fall den Mörder M. als „Produkt mütterlichen Ehebruchs einer geschiedenen Ehe“31. Beim homosexuellen Lustmörder D. betont er, dass der Täter das „uneheliche Kind eines Trinkers und einer Psychopathin mit ungezügelter
28 Uhl 2007, S. 133-148. 29 Zur Kritik am Konzept des Psychopathen vgl. Deborah Cameron/Elisabeth Frazer: Lust am Töten, Berlin 1990. 30 Peter Becker: „Das Verbrechen als „monströser Typus“: Zur kriminologischen Semiotik der Jahrhundertwende“, in: Michael Hagner (Hg.): Der falsche Körper: Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten, Göttingen 1995, S. 147-173. 31 Steffen Berg: Das Sexualverbrechen. Erscheinungsformen und Kriminalistik der Sittlichkeitsdelikte, Hamburg 1963, S. 142.
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Erotik“32 ist. Dieser nicht-überwundene Ödipus-Komplex wurde nie allein in den Fallgeschichten verwendet, sondern durchaus in Zusammenhang mit anderen psychiatrischen und medizinischen Erklärungen. Auch das kriminalanthropologische Paradigma existierte parallel zur Kriminalpsychologie. Jedoch die Anwendung der Psychoanalyse bei der Erklärung modifizierte die frühere Argumentation. Dieses Konzept ist im Gegensatz zur Kriminalanthropologie insofern als fortgeschritten anzusehen, als es die Bedingungen der Sozialisation in einer Kultur hinterfragt. Doch verschiebt es die Ätiologie des Verbrechens von der ‚Natur‘ des Mannes auf die sexualisierte Mutterfigur, wodurch es eine Angst vor Weiblichkeit artikuliert. Nicht zufällig wird dieses Konzept erst in der Nachkriegszeit nach dem Zweiten Weltkrieg populär – in der Zeit, in der verschiedene Strategien der Re-Maskulinisierung festzustellen sind.
T HEA D ORN : L USTMÖRDERIN
ALS GENUIN MÄNNLICHE
F ANTASIE
Der Psychothriller Die Hirnkönigin von Thea Dorn ist vielleicht der einzige Roman, der eine ‚richtige‘, in vollem Bewusstsein der Traditionen des Lustmorddiskurses entstandene Lustmörderin präsentiert. Hier wird die Täterin über eine biographische Aneignung und Inversion lustmörderischer Narrative sowie durch intertextuelle Verdichtung konstruiert. Kraft dieser Intertextualität problematisiert Dorn die Unmöglichkeit, als Frau in der Kultur Subjekt zu sein, und führt diese auf das tradierte literarische Bildrepertoire des Weiblichen zurück. Die Maskerade fungiert dabei als eine Figur der Kritik, weil sie die einzige Form des Weiblichen in der literarischen Gegenwart des Romans darstellt. Wie im Lustmorddiskurs üblich, erscheint die Lustmörderin Nike Schröder als Produkt gescheiterter Sozialisation mit einer Umkehrung tradierter Narrative: Ist der Lustmörder Opfer einer bösen Mutter, so ist die Lustmörderin Opfer ihres Vaters, der sie allerdings weder vergewaltigt noch traumatisiert hat, sondern aus ihr wie der Bildhauer Pygmalion eine „perfekte Frau“ erschafft, was ihm gerade durch die völlige Isolation seiner Tochter vom Weiblichen gelingt. Eine Frau aus Griechenland gebiert dem Lehrer für Griechisch und Latein ein Mädchen, welches er allein auf Basis antiker Kanonwerke großzieht. Thea Dorn überprüft hier kritisch den bürgerlichen, männlichen Bildungskanon im Hinblick auf sein Identitätspotenzial für Frauen.
32 Ebda., S. 208.
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Sind es bei den männlichen Tätern hauptsächlich weibliche Opfer, die als Objekte sexuellen Begehrens fungieren und die oft auch eine Verknüpfung zu der Mutterfigur aufweisen oder als deren Substitution auftreten, so sind Nikes Opfer Männer, die ihrem Vater nach Alter und Aussehen ähneln, beispielsweise haben alle eine Glatze und sind in der Kulturproduktion tätig. Die ‚klassischen‘ Lustmörder zerstückeln oder verstümmeln ihre weiblichen Opfer – nach Hirschfeld ist das als Signifikant des ‚echten‘ Lustmordes zu verstehen33 – und sammeln zum größten Teil Trophäen ihrer Opfer wie in den Serienmörderfilmen. Protagonistin Nike schneidet ihren Opfern die Köpfe ab und konserviert ihre Hirne in Einmachgläsern. Thea Dorn geht dabei in Die Hirnkönigin der Genese der literarischen lustmörderischen Fantasien und Weiblichkeitsbilder nach. Zum einen verweist sie auf die Gewaltfantasien in Homers Ilias und Odyssee. Diese Werke fungieren hier als ‚Urtexte‘ des Patriarchats, weil sie bereits männliche Protagonisten in den Vordergrund rücken und die Frau als Medium der Aushandlung der Männlichkeitskonzepte installieren. Die aktive Frau kann in der antiken und biblischen Tradition allein als eine verführerische Femme fatale wie Salomé, Judith, Elektra, Medea oder Athene auftreten, wobei diese Konstruktionen keine Ausdrucksformen der weiblichen Subjektivität besitzen. Sie sind in Dorns Kommentar narrativ-ästhetische Nebenfiguren und Projektionsflächen männlicher Ängste und verbotener Wünsche. Sie fungieren in ihrem Roman als Vorlagen für die aktuelle Geschlechterordnung. Die Lustmörderin in Die Hirnkönigin verbindet in ihrem Namen ebenfalls die Gegenwart und die Vergangenheit, den Mythos und die Politik. Nike referiert auf die antike Siegesgöttin, Begleiterin der Athene, und ihr Nachname Schröder verweist auf den damals regierenden Bundeskanzler. Zugleich dient diese Vermischung der kritischen Reflexion der Gegenwart, in der die Antike noch als gültig erscheint. Nike tanzt wie Salomé, schneidet die Köpfe ab wie Judith, hat eine Eule wie Athene und zitiert die Odyssee. Ähnlich wie Athene im Athene-Zeus-Mythos entspringt sie zudem der Fantasie ihres Vaters. Der Roman ist ein Sammelsurium antiker und biblischer Geschlechtermythen, die als Prisma fungieren, durch das der aktuelle Geschlechterdiskurs kritisch reflektiert und parodiert wird. Die Gegenwart scheint die antiken und biblischen Mythen fortzuschreiben, womit Dorn eine unheilvolle Diagnose verhängt. Das Patriarchat herrscht gerade aufgrund der Wirksamkeit der antiken Bilder,
33 Hirschfeld 1924, S. 62-63: „Unter einem echten Lustmord können wir nur einen verstehen, der im Geschlechtsrausch vorgenommen zur Entspannung der Geschlechtslust dient.“
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und der Feminismus ist gescheitert, wenn die hard-boiled Detektivin Kyra Berg durch Nike getötet wird. Kyras Geburtsdatum fällt in das Jahr 1968. Diese Figur drückt in ihrem Verhalten starke Männlichkeit aus: Sie übt Gewalt aus, ist sexuell aktiv, fährt einen Sportwagen und ist in der Kulturproduktion tätig. Dadurch, dass sie von Nike getötet wird, zeigt Dorn, dass gerade das ‚genuin‘ Weibliche pathologisch ist (und nicht die Transgression der heterosexuellen Matrix, wie die kriminologischen Texte um 1900 behaupten). Die Frauenfiguren töten außerdem einander oder begehen Selbstmord und stabilisieren somit das Patriarchat. Thea Dorn spricht also den Frauen ihre Mittäterschaft zu, indem sie sie die Normen vertreten und weiter tragen lässt, die gerade die weibliche Subjektivität ausschließen. Gerade dieser Konflikt zwischen der Fülle der Weiblichkeitsbilder in der Literatur auf der einen Seite und der Unmöglichkeit des weiblichen Subjektes in diesen literarischen Werken auf der anderen Seite wird mit Nike inszeniert. Einerseits soll Nike ein Subjekt werden, denn ihr wird die weibliche Identifikationsfigur mit dem Status des Objektes oder die des Opfers entzogen, andererseits verfügt der literarische Kanon, der zur Grundlage ihrer Sozialisation wird, über keine Muster, Sprache oder Vorbilder, die Frauen nicht in den binären Projektionsmodus Femme fatale oder Femme fragile, Mörderin oder Opfer, in Szene zu setzen. So wird die Lustmörderin buchstäblich zum Produkt patriarchaler Kultur, die sie mit ihren eigenen Waffen schlägt, indem sie ihre männlichen Fantasien wahrmacht. Sie ist Femme fatale, denn sie verführt und tötet ihre männlichen Opfer. Sie ist Jungfrau, also Femme fragile, eine ‚reine‘ Frau. Sie hat traditionsgemäß keine Identität, weil sie sich immer anders darstellt. Infolge der Krankheit Alopecia areata universalis, durch die sie ihre Körper- und Kopfbehaarung verliert, ist die Mörderin haarlos. Sie betreibt daher wortwörtlich Maskerade: Sie trägt verschiedene Perücken. Sie erscheint somit als eine perfekte Projektionsfläche männlicher Fantasien, die sie über die Maskerade für jedes Opfer entsprechend inszeniert. Sie eignet sich dadurch auf eine weibliche Art und Weise gerade das an, was ihr die Kultur abspricht, um Subjekt zu werden: männliche Gehirne als Symbol der Schöpfungskraft, Vernunft und Rationalität. Thea Dorn polemisiert hier mit den Debatten um 1900 in Deutschland über das weibliche Gehirn, das aufgrund seiner Größe als zentrales Argument gegen die Teilnahme der Frauen an der Kulturproduktion angeführt wurde.34 An dieser Stelle wird der
34 Vgl. z. B. Paul J. Möbius (1890): „Über den physiologischen Schwachsinn des Wiebes“, in: Gerd Stein (Hg.): Femme fatale – Vamp – Blaustrumpf. Sexualität und Herrschaft. Kulturfiguren und Sozialcharaktere des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1985, S. 226-230.
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Roman selbstreflexiv, indem er die Schreibweise Thea Dorns selbst ausstellt, die die männlichen Motive ausbeutet, um sich als Schriftstellerin zu behaupten. Zu kritisieren wäre dabei, dass der Roman gerade männerfeindliche Darstellungsstrategien umsetzt, um die misogynen Traditionen des Patriarchats zu reflektieren. Allerdings verfremdet Dorn den Diskurs über Lustmord allein durch die Umkehrung. Ausgestellt wird die Grausamkeit der lustmörderischen Fantasien, die im literarischen Kanon nicht auffallen, solange die Morde durch Männer an Frauen begangen werden.
H ELMUT K RAUSSER : O SZILLATIONEN VON T ÄTER - UND O PFER -P OSITION Die Schmerznovelle von Helmut Krausser konstruiert eine Persönlichkeitsspaltung, die fälschlicherweise in der Literatur unter dem Begriff Schizophrenie eingebürgert wurde, um die Integration der Frau in den Diskurs über den Lustmord zu ermöglichen. Maskerade ist hier sowohl eine genuin weibliche Eigenschaft als auch eine Erzählstrategie. Die Schmerznovelle verhandelt gemäß der Gattung eine männliche Identität, die sich entsprechend über Überschreitung und Wiederherstellung der männlichen Ordnung35 mithilfe einer Frauenleiche wie im Referenzwerk, der Traumnovelle (1926) Arthur Schnitzlers, entwickelt. Um einen heterotopischen, identitätspolysemantischen Raum zu erschaffen und somit die männliche Identität des Ich-Erzählers zu problematisieren, stellt Krausser als transgressives Medium die Mörderin Johanna mit ihrer Persönlichkeitsspaltung dar. Sie wird manchmal zu ihrem Ehemann, den sie umgebracht und so verinnerlicht hat. Der Ich-Erzähler ist ein Psychiater, der sie zu heilen versucht, sich stattdessen in sie verliebt und in ihrer Realität verbleibt, bis sie sich selbst umbringt, als ob sie von ihrem Ehemann umgebracht würde. Um diese Mehrdeutigkeit und den Übergang vom Täter zum Opfer zu schaffen, wird das Lustmordnarrativ zwischen den Figuren verteilt. Die Identitätskrise hat der Ich-Erzähler – der Psychiater. Der Lustmörder ist eigentlich der ermordete Ehemann Ralf selbst. Er wird mit allen typischen psychologisierenden Lustmördereigenschaften ausgestattet: böse Mutter, inzestuöses Begehren, Trauma und nicht überwundener Ödipuskomplex. Diese kompensiert er durch die sadistische Quälerei Johannas. In dieser Position ist sie Opfer ihres Mannes, lokaler Honoratioren, die sie ständig vergewaltigen, des männlichen Ich-Erzählers, der
35 Wolfgang Rath: Die Novelle, Göttingen 2000.
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sie mithilfe männlicher Wissenschaftsdiskurse zu normalisieren versucht, und der männlichen Darstellungstradition, die das Weibliche opfert, um das System zu stabilisieren und die Geschichte zu Ende zu erzählen. Sobald sie sich als ihr toter Mann inszeniert – sie bewegt sich anders und spricht mit einer niedrigen Stimme –, ist sie künstlerisch aktiv und physisch gewalttätig: Sie malt, erpresst Ralfs Mutter durch Briefe, die sie so schreibt, als ob sie von Ralf wären, und tötet ihre Schwiegermutter letztendlich, womit Kunst, Schrift/Sprache und Gewalt explizit als männliche (Macht-)Domäne markiert werden. Das Geschlecht wird als Effekt performativer Akte vorgeführt, wie es in den aktuellen Gender-Debatten durch Judith Butler konzipiert wurde.36 Als Opfer wird Johanna durch die Maskerade definiert, weil sie als Darstellerin im Porno-Theater ihres Mannes tätig war. Der Ich-Erzähler bezeichnet sie auch als „Schauspielerin“37. Die Maskerade ist zugleich ein Instrument zur Verwandlung von Johanna in Ralf. Daher fehlt es der Figur an jeglichen individuellen Zügen, wie die Novelle am Beispiel ihres Hauses zeigt: „Das Wohnzimmer war alles andere als gemütlich, trug kaum eine Spur individueller Bewohntheit.“38 Johanna steht frei zur Besetzung mit Weiblichkeit und Männlichkeit, aber auch frei zur Penetration: „Das Haus machte den Eindruck, als stünde es zur Besichtigung frei.“39 Die Räume sind seit Freuds Traumdeutung prominente Metaphern der weiblichen Geschlechtsorgane. Der Lustmord an einem Mann durch eine Frau als etwas völlig Anormales destabilisiert in dieser Novelle die Gesellschaft und entzieht jeglichen Diskursen die Eindeutigkeit. Er öffnet dadurch einen Raum, der sich scheinbar jenseits der patriarchalen Logik befindet. Krausser inszeniert diesen Raum gerade durch den Topos Weiblichkeit als Maskerade. In Jacques Derridas Nietzsche-Lektüre Die Sporen. Die Stile Nietzsches gehört die „unentscheidbare Äquivalenz“ zum Weiblichen, das zwischen „sich geben/sich-geben-als, geben/nehmen sowie nehmen lassen/sich aneignen“ oszilliert.40 Derrida macht deutlich, dass bei
36 Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991. 37 Krausser, S. 124. 38 Ebda., S. 18. 39 Ebda., S. 13. 40 Jacques Derrida: „Sporen. Die Stile Nietzsches“, in: Werner Hamacher (Hg.): Nietzsche aus Frankreich, Frankfurt a.M./Berlin 1986, S. 129-168, hier S. 157: „Die Gabe – jenes wesentliche Prädikat der Frau – die in der unentscheidbaren Oszillation zwischen sich geben/sich-geben-als, geben/nehmen sowie nehmen lassen/sich aneignen sichtbar wurde, hat den Stellenwert oder den Preis des Gifts. Den Preis des Pharmakon.“
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Nietzsche die Frau die Opposition von Wahrheit und Lüge unterläuft, da sie die Maskerade mit der Wahrheit zusammenfallen lässt. In Anlehnung an Nietzsche unterläuft Johanna die Geschlechterdifferenzen, was in der Schmerznovelle mit dem Bild des Pharmakons41 zum Ausdruck gebracht wird. Das Pharmakon ist ein doppeldeutiger Begriff, der die Unentschiedenheit zwischen Arznei oder Gift, heilen oder töten verwischt.42 Auch auf die Frage des Ich-Erzählers, ob Johanna ihren toten Mann liebt, antwortet sie: „Nein, er ist ein Monstrum. Ja, ich liebe ihn, selbstverständlich.“43 Krausser dekonstruiert selbst diese Fantasie über einen präödipalen Raum, indem er das Patriarchat als bestandhaft und ubiquitär zeigt. Letztendlich braucht das Patriarchat diesen anomischen Raum der ‚entfesselten‘ Begehren, um die bürgerliche Normalität zu konstituieren: Die Ehemänner im Dorf vergewaltigen die wahnsinnige Johanna. Am Ende stellt der Mord an Johanna durch ihren Ehemann, der eigentlich der Selbstmord Johannas ist, schließlich wieder die Normen her und setzt der geschlechtsspezifischen Vieldeutigkeit und somit dem polysemantischen Raum ein Ende. Trotz des kritischen Potenzials der Novelle bedient sich Krausser misogyner Weiblichkeitsimagines und schreibt diese fort, indem er die Rolle der Frau unreflektiert lässt und sie darüber hinaus noch als Verhandlungsmedium männlicher Identität funktionalisiert und dieser opfert.
T HOMAS H ETTCHE : L USTMÖRDERISCHES O PFER Ein lustmörderisches Opfer steht im Roman Der Fall Arbogast im Zeichen der Dekonstruktion der Täter- und Opfer-Positionen im Lustmord und der Auflösung des Schemas des Kriminalromans. Ist der Lustmord ein Narrativ, so kann ihn die Literatur durch die Verschiebung in der Erzählperspektive neu konzipieren. Hettche lässt erst die Frau zum Opfer eines männlichen Täters werden, zumal er mit dem Namen Arbogast auf den Detektiv aus dem SexualmörderKlassiker Psycho (1960) von Alfred Hitchcock referenziert. Das Opfer offenbart jedoch selbst lustmörderisches Begehren, das mit der Passivität des Opfers bricht, die traditionell mit Weiblichkeit semantisiert wird. Im Lustmorddiskurs
41 Krausser, S. 20. 42 Nach den Kommentaren Kimmerles zeigt die Ambivalenz von Gabe und Gift, „auf welche Weise im Ereignis die Zuneigung offen bleibt, doppeldeutig und wechselnd.“ Heinz Kimmerle: Jacques Derrida zur Einführung, Hamburg 2000, S. 73. 43 Krausser, S. 38.
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haben Opfer keine Tradition. Diese Entwicklung steht nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Aufschwung der masochistischen Tendenzen und dem Körperkult in der Gegenwartskultur.44 Hier fungiert die Maskerade als Dekonstruktionsfigur, die es ermöglicht, einen Opferdiskurs zu etablieren. Hettche bedient sich einerseits des Topos Weiblichkeit als Maskerade. Letztendlich erscheint Weiblichkeit identitätslos, wodurch er auch die Literaturproduktion reflektiert, ohne die Weiblichkeitsposition zu ändern. Andererseits setzt Hettche diesen Topos virtuos in Szene und erweitert dadurch den Handlungsraum der Frauenfiguren. Hettches Roman schildert bereits am Anfang der Handlung einen Mord bzw. fahrlässigen Tod und schreibt sich damit in die Tradition des Kriminalgenres ein.45 Marie stirbt plötzlich beim Sexualakt mit Arbogast. Obwohl im Gutachten der Rechtsmedizinerin ein Herzversagen festgestellt wird, wird Arbogast im Gericht aufgrund einer Fotografie Maries als Lustmörder verurteilt. Auf dem Bild sind Würgemale zu sehen, die sich aber später als postmortaler Abdruck eines Astes entpuppen. Nach vierzehn Jahren kommt es zu einer zweiten Verhandlung, in der Arbogast freigesprochen wird. Solange er im Gefängnis ist, ist der Leser von der Ungerechtigkeit des Urteils überzeugt. Als er freigesprochen wird, gibt es keine Zweifel mehr – Arbogast ist ein Mörder, allerdings wurde er dazu allein durch den exzessiven Wunsch des Opfers. Denn die Pathologin Dr. Katja Lavans, die im zweiten Prozess Beweise hierfür liefert, die zum Freispruch Arbogasts führen, ist eine Doppelgängerin Maries – wieder zeigt sich das Maskerademotiv. Katja kommt aus Ostberlin und ist im gleichen Alter wie Marie. Außerdem kauft Katja sich eine rote Perücke in Analogie zu den rot gefärbten Haaren Maries. Weiblichkeit wird somit prinzipiell als identitätslos konstruiert. Durch diese Maskerade werden die Frauenfiguren aufeinander bezogen, aber nicht gleichgesetzt. Hettche zitiert hier den Film Vertigo (1958) von Alfred Hitchcock und schreibt ihn zugleich um. Eine Differenz bleibt in der Reinszenierung des Uraktes in Analogie zur Signifikantenkette bestehen, die trotz der Wiederholung den Sinn verschiebt und die Urgeschichte umschreibt. Katja lässt den
44 Das von Peter Weibel herausgegebene Buch über die Ausstellung „Phantom der Lust. Visionen des Masochismus“ in der Neuen Galerie Graz am Landesmuseum Johanneum, die vom 26.04.03 bis zum 24.08.03 stattgefunden hat, demonstriert die Aktualität des Sujets Masochismus in der Kultur. Das Werk enthält über 500 Beispiele aus der Malerei, Fotokunst und Bildhauerei vom Ende des 19. bis Anfang des 21. Jahrhunderts sowie Texte und Essays. Vgl. Peter Weibel (Hg.): Phantom der Lust. Visionen des Masochismus, 2 Bde., München 2003. 45 Peter Nusser: Der Kriminalroman, Stuttgart 2003.
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Geschlechtsverkehr mit Arbogast wieder geschehen und stirbt dabei fast. Das zufällige Abziehen ihrer Perücke beendet ihre Identifikation mit Marie und rettet ihr das Leben.46 Die Lustmörder sind in der Gegenwartsliteratur in der Regel Künstler und ihre weiblichen Opfer fungieren als Rohstoff männlicher Kunst, wie es zum Beispiel in Das Parfum (1986) von Patrick Süskind der Fall ist. So bleiben die weiblichen Opfer bei Hettche auch Material der Kunstproduktion. Mit Weiblichkeit als Maskerade reflektiert der Roman zwar die literarische Tradition wie etwa in Oval Portrait (1842) von Edgar Allan Poe und somit den eigenen Aufbau, jedoch fungiert die Frau hier traditionsgemäß als Paradigma der Schrift:47 Die Leiche verschwindet, indem sie seziert und zerstückelt wird, und im gleichen Atemzug entwickelt sich der Text, das Obduktionsprotokoll und der Roman. Der weibliche Körper wird buchstäblich zur Narration. Hettche löst das weibliche Opfer erst in einer Fotografie auf, sobald die Perspektive des Täters zentral wird. Mit der Verschiebung der Erzählperspektive auf das Opfer lässt er die Frau aus der Fotografie wieder auferstehen. Ab etwa der zweiten Hälfte des Romans scheint sich die Handlung rückläufig zu entwickeln. Marie fährt am Anfang mit Arbogast in seinem Auto, lässt den sexuellen Akt geschehen, stirbt, wird obduziert und dabei auseinandergenommen, um dann als Fotografie, wieder intakt, erneut zu erscheinen. Die Pathologin Katja taucht erst in einem visuellen Medium auf, bevor sie im Roman zum Thema wird – sie gibt ein Fernsehinterview zum Fall Arbogast. Dann trifft sie den Anwalt Arbogasts zum Gespräch in einem ehemaligen Leichenschauhaus in Analogie zur Obduktion Maries. Sie fährt während des Prozesses mit Arbogast im gleichen Auto an die gleiche Stelle und lässt dort den sexuellen Akt geschehen. Mit dem Lustmord inszeniert Hettche letztlich das Ende der Repräsentation selbst. Foucault liest besonders die Sexualität als Exzess in der Literatur als Markierung der sprachlichen Grenzen: Die Sexualität ist für unsere Kultur nur als gesprochene von Bedeutung. Nicht unsere Sprache ist seit zwei Jahrhunderten erotisiert worden; unsere Sexualität ist seit Sade und dem Tod des Gottes in ein Universum aus Sprache geworfen worden, ist von ihm denatu-
46 Hettche, S. 304. 47 Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche: Weiblichkeit, Tod und Ästhetik, München 1994, S. 17. In meinen Thesen über Weiblichkeit und Tod stütze ich mich auf Bronfens Analyse des Bildes „Der Anatom“ von Gabriel von Max (S. 13-27).
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ralisiert worden und in jene Leere gestellt worden, in der die Sprache ihre Souveränität aufrichtet und als Gesetz die Grenzen zieht, die sie überschreitet.48
So kann der Lustmord bei Hettche als selbstreflexiv thematisierte Begrenztheit der Sprache gelesen werden, die die Literatur im Gegensatz zur Fotografie überwinden kann. Selbst die Opferperspektive ist literarisch möglich: So triumphiert sein Roman selbstreflexiv über das Bildmedium, das keine ‚Wahrheit‘ offenbaren kann. Letztendlich wird Arbogast fälschlicherweise aufgrund der Fotografie verurteilt. Die Maskerade ermöglicht die Rückkehr des Opfers aus dem Jenseits, wodurch Hettche den vernachlässigten Diskurs aufzufüllen versucht. So fungiert am Anfang des Romans Arbogast als Subjekt, wobei er sich im Anderen aufzulösen droht: An ihrem Nacken hielt er sie schließlich, für einen Moment wich sie aus, dann legte ihr Hals sich in seine große Hand. Sie umfasste ihn zugleich mit ihrem Geschlecht, als arretierte sie so seine Lust und es schien ihm, als könnte es niemals mehr aufhören, als würde er niemals kommen und als verstünde sie, die er kaum einen Tag kannte, seinen Körper besser als er selbst.49
Am Ende des Romans konstituiert er das weibliche Subjekt gerade im Diskurs der ‚männlichen‘ Lust, wofür er sogar die gleichen Begriffe benutzt: Im Hals war der Schmerz. Nur einmal sei der Tod egal, dachte sie, während ihre Lust immer wuchs. Marie, dachte sie und griff nach der Hand, in der ihr Hals lag. Kein Atem mehr, dachte sie, schloß die Augen und kam. Sie hörte gar nicht mehr auf zu kommen, und für einen Augenblick war tatsächlich alles ganz einfach.50
Hettche ebnet zum einen die Täter- und Opferperspektive durch die Reduktion der sprachlichen Distanz zwischen den beiden Szenen ein, er löscht somit die Hierarchien zwischen den beiden Positionen auf. Das Opfer wird selbst zum Täter, der Täter zum Opfer. Zum anderen reflektiert er auf diese Weise die Kunstproduktion und -rezeption. Der Täter bekommt am Anfang keinen Orgasmus, die Szene ist also nicht vollendet. Durch die Restitution der Opferperspek-
48 Michel Foucault: Von der Subversion des Wissens, hg. von Walter Seitter, München 1974, S. 52. 49 Hettche, S. 14. 50 Ebda., S. 303.
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tive, für die Hettche die ganze Handlung braucht, wird die Initiationsszene ergänzt und somit beendet. Dabei wird deutlich, dass die Kunstproduktion generell und die Täterfigur insbesondere auf das Opfermotiv angewiesen sind. Ohne das Opfer wären die Entwicklung der Handlung und der Aufbau der Spannungsdramaturgie in diesem Roman nicht möglich. Auch den LeserInnen wird vorgeführt, dass sie die mörderischen Fantasien der Literatur mit Genuss konsumieren. Denn sie lesen diesen Kriminalroman bis zum Ende, weil sie gerade das wissen wollen, was Katja selbst weiß: Was spürt das Opfer? Thomas Hettche reflektiert die Grenze jeglicher Repräsentation, indem er zeigt, dass die Schrift/Sprache immer schon auf der Seite der Macht, d.h. des Täters, verortet ist bzw. als sein Instrument fungiert. Der Roman verbindet die Zerstörungslust der ProtagonistInnen mit der Kolonialgeschichte aus Martinique: Katja liest vor dem Prozess den Bericht eines französischen Militärarztes über eine orgiastische Ekstase beim Sterben und die „agonale Erektion“ bei hingerichteten Schwarzen51 – erstere will die Pathologin an ihrem eigenen Körper überprüfen. Der Autor der Geschichte und der Historie stellt sich signifikant als Kolonialherr dar, der mit seinem eurozentrischen männlichen Blick traditionell über dem Tod des Anderen steht und ihn dadurch bändigt. Schreiben bedeutet im Roman die Machtposition zu besitzen, so dass die Schilderung der Historie nur aus der Machtposition – und das heißt aus der Position des Täters – möglich ist. Den Opfern entziehen die Diskurse die Stimme; sie werden immer jenseits der Diskurse, jenseits des Sagbaren und jenseits der symbolischen Ordnung positioniert. Das Schreiben ist also eine Machtausübung, die sich selbstreflexiv auf die Romanfiguren bezieht, die Hettche tötet und wiederbelebt. Dass Katja die These des französischen Militärarztes an ihrem eigenen Körper überprüft, führt nicht nur zu den tradierten Strategien der Verweiblichung von Eroberten und Kolonialisierten zurück, sondern macht erneut auch den phantasmatischen Charakter der Geschlechterdifferenz deutlich. Weiblich zu sein bedeutet letztendlich, die Opferposition im Diskurs einzunehmen, die Hettche durch die Aktivierung des Opfers, die Problematisierung der Macht der Sprache und durch die Bemächtigung des Opfers über die Sprache unterwandert. Durch diese Verknüpfung des Lustmordes mit dem Kolonialbericht stellt der Roman die scheinbar natürliche masochistische Lust als Effekt politischer Macht dar. Hettche erteilt auch weiteren etablierten Narrativen des Lustmordes eine Absage, wie auch der Psychologisierung des Täters oder der Ätiologie seines Traumas. Neben der Selbstreflexivität des Romans verbindet er den Lustmord mit der Teilung Deutschlands: Marie und Katja sind aus Ostberlin und können
51 Ebda., S. 201f.
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als Allegorien der DDR gelesen werden. Zu hinterfragen wäre jedoch, ob historisch-politische Themen wie die Kolonialgeschichte des Westens oder die Teilung Deutschlands über den Lustmord nicht entpolitisiert werden und ob die politische Gewalt im gleichen Zug nicht zu einer anthropologischen Größe wird.
F AZIT Zusammenfassend ist die Lust- und Sexualmörderin in der deutschsprachigen Literatur möglich geworden, weil mit der Diskreditierung des Lustmordes als wissenschaftlicher Kategorie das Lustmordnarrativ zunehmend formalisiert, reduziert und modifiziert zu werden scheint, was zur Öffnung des Lustmordes für Täterinnen führt. Es existieren keine verbindlichen kriminologischen Erklärungen mehr. Die Literatur erweitert den Diskurs narrativ und stellt dadurch die ästhetische Konstruiertheit des Lustmordes aus. Die Lust- und Sexualmörderinnen werden dabei zwar zu einem besonderen, aussagenkräftigen Zeichen, mit dem die aktuellen Geschlechterordnung kritisiert und die Literaturproduktion reflektiert wird, dennoch verwenden alle AutorInnen das tradierte Bild von Weiblichkeit als Maskerade, ohne jedoch weibliche Identitätskonstruktionen zu hinterfragen. Nur Thea Dorn, die dem Lustmordnarrativ am treusten bleibt und es somit am trivialsten und blutrünstigsten gestaltet, hinterfragt die literarischen Fantasien bezüglich der Identitätsangebote für Frauen.
L ITERATUR Becker, Peter: Das Verbrechen als „monströser Typus“: Zur kriminologischen Semiotik der Jahrhundertwende, in: Hagner, Michael (Hg.): Der falsche Körper: Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten, Göttingen 1995, S. 147-173. Berg, Steffen: Das Sexualverbrechen. Erscheinungsformen und Kriminalistik der Sittlichkeitsdelikte, Hamburg 1963. Birkle, Carmen/Matter-Seibel, Sabina/Plummer, Patricia (Hgg.): Frauen auf der Spur: Kriminalautorinnen aus Deutschland, Großbritannien und den USA, Tübingen 2001. Bronfen, Elisabeth: Nur über ihre Leiche: Weiblichkeit, Tod und Ästhetik, München 1994. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991. Cameron, Deborah/Frazer, Elisabeth: Lust am Töten, Berlin 1990.
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Vergewaltigung und Vergeltung: Mord als gewaltsame Genese des weiblichen Subjektes – André Brink, Karen Duve, Libuše Moníková U RANIA M ILEVSKI
2002 verließen bei der Premiere von Gaspar Noés Film Irréversible über zweihundert Zuschauer aufgrund expliziter Gewaltszenen vorzeitig den Kinosaal. Das Werk thematisiert in chronologisch umgekehrter Folge die Geschichte einer jungen Frau, die nach dem Besuch einer Feier auf dem Nachhauseweg vergewaltigt und krankenhausreif geprügelt wird. Ihre männlichen Begleiter haben sie allein den Heimweg antreten lassen. Als diese von dem Überfall erfahren, machen sie Jagd auf den Täter und erschlagen ihn schließlich (respektive zu Anfang) mit einem Feuerlöscher. Erst im Laufe des Filmes wird klar, dass der tatsächliche Vergewaltiger währenddessen lächelnd daneben steht. Die Abwehrreaktionen der Zuschauer und Kritiker resultierten nicht nur aus den ungeschnitten und frontal gezeigten Ausprägungen der Gewalt, dem Akt der Rache zu Anfang und der neunminütigen Vergewaltigungsszene. „Brüllende Banalität“1 unterstellt das Feuilleton der Frankfurter Allgemeine Zeitung und umschreibt damit das vermeintliche Fehlen einer Aussage hinter diesen Darstellungen. Denn „[…] violence needs to be functionally useful as an aesthetic, dramatic, narrative, affective, thematic, or contextual device. Violence must be made to mean something, to point to something beyond itself.“2 Weder Film noch Literatur dürfen sich auf die bloße Darstellung von Gewalt beschränken,
1
Andreas Kilb: „Das Unzerstörbare“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 25.05.2002.
2
Stefan Hantke: „Violence Incorporated: John McNaughton’s Henry: Portrait of a Serial Killer and the Uses of Gratuitous Violence in Popular Narrative“, in: College Literature 28.2 (2001), S. 32.
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sondern müssen diese ästhetisch codieren, um Akzeptanz beim Publikum zu erreichen. Libuše Moníkovás Eine Schädigung (1981), André Brinks Die andere Seite der Stille (2008) sowie Karen Duves Regenroman (1999) sollen auf eben diese ästhetischen Codierungen untersucht werden, thematisieren sie doch die höchste Form sexualisierter Gewalt, die Vergewaltigung „[…] als ein Verbrechen, das – wenn auch in extremster Form – das (Gewalt-)Verhältnis der Geschlechter repräsentiert.“3 Doch steht nicht nur die Darstellung der Vergewaltigung im Fokus des Interesses, auch die Ausprägung weiblicher Rache und Vergeltung muss besonders im Hinblick auf subversive Geschlechterkonstruktionen betrachtet werden.
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DES KLASSISCHEN
O PFERDISKURSES
Irréversible zeigt filmisch, was sowohl in der Literatur, als auch im alltäglichen Diskurs4 einvernehmlich als „echte“ Vergewaltigung gehandelt wird: Ein unbekannter männlicher Täter überfällt nachts ein unschuldiges weibliches Opfer aufgrund ihrer ausnehmend schönen Erscheinung.5 Hier verbinden sich eine Vielzahl sogenannter ‚Vorurteilsmythen‘. Trotz zahlreicher Studien, die deren Realitätsferne bezeugen, bleiben sie im gesellschaftlichen Diskurs bestehen.6 Die Vergewaltigung, die hier vor allem als literaturwissenschaftlicher Topos zeitgenössischer Romane untersucht werden soll, weist sowohl gesellschaftlich als auch literarisch eine Historie auf.7 Gesa Dane stellt in ihrer Untersuchung literarischer Vergewaltigungen in Werken des 17. bis 19. Jahrhunderts drei Idealtypen fest, die die Rolle der Sexualität unterschiedlich gewichten und zwischen ver-
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Christine Künzel: Vergewaltigungslektüren. Zur Codierung sexueller Gewalt in Literatur und Recht, Frankfurt a.M./New York 2003, S. 15.
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Godenzi thematisiert dieses Wissen des Publikums in Bezug auf das eigene Schreiben über Vergewaltigung. Alberto Godenzi: Bieder, brutal. Frauen und Männer sprechen über sexuelle Gewalt, Zürich 1989, S. 28.
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Vgl. dazu Georg Doblhofer: Vergewaltigung in der Antike, Stuttgart 1994, S. 3.
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Godenzi identifiziert insgesamt fünf solcher Vorurteilsmythen und widerlegt diese. Täter sind beispielsweise selten Fremde, meist sind sie mit den Frauen gut bekannt. Godenzi, S. 29.
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Vgl. dazu Susan Brownmiller: Gegen unseren Willen. Vergewaltigung und Männerherrschaft, Frankfurt a.M. 1975, S. 20. Gesa Dane: „Zeter und Mordio“. Vergewaltigung in Literatur und Recht, Göttingen 2005, S. 23ff. Künzel 2003, S. 41ff.
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schiedenen Handlungssituationen unterscheiden.8 In allen drei Unterarten der literarischen Vergewaltigung wird der Frau die Rolle des Opfers zugeordnet. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert ist das Opfer explizit weiblich codiert und definiert sich unter anderem über die tugendhafte Selbstaufgabe für Familie oder Liebesbeziehung.9 Als Beispiel können Werke wie Heinrich von Kleists Marquise von O… (1808) und Johann Wolfgang Goethes Heidenröslein (1771) gelten, deren Frauenfiguren ausschließend auf ihre Bedeutung als Opfer ausgerichtet sind. In Bezug auf die sexualisierte Gewalt gegen Frauen erfuhr der Opferbegriff speziell durch die Frauenbewegung der 1970er Jahre neue Verwendung – in ihrer Beschreibung von Frauen als Opfer des Patriarchats. In dieser Tradition ist auch die Abhandlung Susan Brownmillers zu verorten, die trotz aggressiver Formulierungen als Meilenstein auf dem Weg der Forschung zu sexualisierter Gewalt gesehen werden kann. Nicht zuletzt stellt sie als Absage an die von Sigmund Freud und Helene Deutsch formulierte Masochismus-These fest:10 Die Entdeckung des Mannes, daß seine Genitalien als Waffe zu gebrauchen sind, um damit Furcht und Schrecken zu verbreiten, muß neben dem Feuer und der ersten groben Streitaxt als eine der wichtigsten Entdeckungen prähistorischer Zeit angesehen werden. Ich glaube, daß Vergewaltigung seit eh und je eine überaus wichtige Funktion inne hat. Sie ist nicht mehr und nicht weniger als eine Methode bewußter systematischer Einschüchterung, durch die alle Männer alle Frauen in permanenter Angst halten.11
Trotz der Provokation und des kriegerischen Gebarens kommt Brownmiller über die Festlegung der Frau als Opfer und damit als passives Gegenstück zum männlichen Aktanten nicht hinaus. Besonders in literarischen Darstellungen wird das Ergebnis dieses klassischen Opferdiskurses deutlich, indem Täter als handelnde Subjekte die Sicht auf das Opfer und dessen stark eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten verstellen. Auf Textebene äußert sich dies in elliptischen Erzählverfahren, intertextuellen Verweisen oder metonymischen Bezügen innerhalb
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Die drei Idealtypen der literarischen Vergewaltigung unterteilt sie in 1) die gewaltsame sexuelle Befriedigung des Mannes durch die Unterwerfung der Frau, 2) Kriegsvergewaltigungen, und 3) die grundsätzliche Schädigung eines Dritten. Dane, S. 23ff.
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Andrea Geier: „Opferrolle“, in: Renate Kroll (Hg.): Metzler Lexikon Gender Studies – Geschlechterforschung. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart/Weimar 2002, S. 298f.
10 Sigmund Freud: Das ökonomische Problem des Masochismus, Frankfurt a.M. 1924. Helene Deutsch: Psychologie der Frau [1954], Bern/Stuttgart 1948. 11 Brownmiller, S. 22.
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der Erzählungen. Auf die explizite Darstellung von Vergewaltigungen wird verzichtet, wie in Kleists Marquise von O…, deren Gedankenstrich mitunter als der „wohl berühmteste […] der deutschen Literatur“12 bezeichnet wird. Durch Referenzen auf antike Mythen und Sagen wie die der Lucretia werden Bezüge hergestellt, die auf einer tieferen Textebene zur Interpretation herangezogen werden müssen. Oder symbolische Elemente stellen Hinweise auf den jeweiligen Tatbestand bereit, wie in Robert Musils Tonka aus dem Novellenzyklus Drei Frauen (1922). Hier wird die Geliebte des Ingenieurs Abraham während seiner Abwesenheit schwanger, was ihn vor große Probleme stellt, schwört sie ihm doch, nicht untreu gewesen zu sein. Bei der Suche nach der Wahrheit und einem Beweis ihrer Untreue findet er in ihrem Kalender in diesem Zeitraum ein kleines rotes Ausrufezeichen, das die Interpretation einer elliptischen Darstellung von Vergewaltigung zulässt und damit in direkter Nachbarschaft zu Kleists Gedankenstrich steht: „Der Lektüre wird auf bedeutungsvolle Weise Bedeutung vorenthalten.“13 Selten findet man in der breiten literaturwissenschaftlichen Forschung Hinweise auf „Vergewaltigungslektüren“14 oder Untersuchungen „klassischer Vergewaltigungserzählungen“, obwohl Vergewaltigung durchaus einen literaturwissenschaftlichen Topos darstellt.15 Hinsichtlich einzelner Werke macht sich das vor allem insofern bemerkbar, als dass das Ereignis sexualisierter Gewalt völlig ausgeblendet oder zumindest in der Peripherie der Analyse verortet wird. In Bezug auf Musils Tonka beispielsweise wird besonders die Frage ihres vermeintlichen Betrugs fokussiert, während die Tat des Grafen in Kleists Marquise von O… in der Forschung nicht selten durch seine entfesselte Liebe und das Heiraten der Gräfin Legitimation erfährt. Anschließend an Christine Künzel muss somit festgestellt werden, dass sich die Auslassung, Verschiebung oder Entortung von literarischer Vergewaltigung auf der Ebene der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung fortsetzt:
12 Matias Martinez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, 5. Aufl., München 2003, S. 43. 13 Natalie Amstutz: Autorschaftsfiguren. Inszenierung und Reflexion von Autorschaft bei Musil, Bachmann und Mayröcker, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 51. 14 Künzel 2003, S. 1. 15 Vgl. Dane, S. 26f.
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In dieser Hinsicht besteht die Leistung der Literaturwissenschaft weniger in der kritischen Reflexion der literarisch-ästhetischen Repräsentation von Vergewaltigung, sondern eher in einer unkritischen Reproduktion derselben.16
Besondere Relevanz hat diese Aussage in Bezug auf die Darstellung der Folgen für Täter und Opfer. Auf männlicher Seite sind Verteidigungsstrategien nicht notwendig. Stattdessen erfolgt lediglich eine begründende Positionierung, die getragen wird von Liebesbeteuerungen oder dem Triumph über eine dritte Partei, der zu schaden gelang.17 Für die Frau jedoch gestalten sich die Folgen des Übergriffes schwerwiegender. Auf sie soll im Folgenden als ‚Überlebende‘ referiert werden, um den determinierenden Implikationen von ‚Opfer‘ als Bezeichnung zu entgehen.18 Außerdem liegt damit die Betonung auf dem traumatischen Erlebnis einer Vergewaltigung, die, wie Forschungserkenntnisse zeigen, mit schwerer Folter durchaus zu vergleichen ist.19 Sprachlosigkeit, dissoziative Persönlichkeitsstörungen und schließlich Selbstmord, nicht selten in Verbindung mit ungewollter Schwangerschaft und Kindstötung sind nur einige der Folgen, die auch literarisch aufgearbeitet wurden. Ein Kuriosum in diesem Zusammenhang stellt die Schuldsuche der Frau dar. Doch entgegen der Annahme, der weiblich konnotierte Masochismus sei dafür verantwortlich, muss das Verinnerlichen und Übernehmen eines männlichen Blicks auf den Tatbestand der sexualisierten Gewalt diagnostiziert werden. In einer Studie von Karin Wetschanow beispielsweise wird an Presseberichten zu Vergewaltigungen aufgezeigt, wie deutlich auch in vermeintlich neutraler Berichterstattung patriarchale Strukturen zum Tragen kommen – in diesem Fall durch die konsequente metaphorische Übertragung des Ereignisses in das semantische Feld der Jagd. Die Frau, so das Ergebnis der Studie, wird in entsprechenden medialen Berichten durch den Blick des Täters eingeführt, „ohne seinen Blick würde sie nicht existieren, denn sie wird nicht als Frau gezeigt sondern eben als ‚Opfer‘ – und Opfer kann man nicht
16 Christine Künzel: „Heinrich von Kleists Die Marquise von O…: Anmerkungen zur Repräsentation von Vergewaltigung, Recht und Gerechtigkeit in Literatur und Literaturwissenschaft“, in: frauen und recht (1) 2000, S. 70. 17 Vgl. Dane, S. 26f. 18 Vgl. re_ACTion: Antisexismus_reloaded. Zum Umgang mit sexualisierter Gewalt – ein Handbuch für die antisexistische Praxis, Münster 2007, S. 17. 19 Vgl. Ruth Seifert: „Der weibliche Körper als Symbol und Zeichen. Geschlechtsspezifische Gewalt und die kulturelle Konstruktion des Krieges“, in: Andreas Gestrich (Hg.): Gewalt im Krieg. Erfahrung und Verweigerung von Gewalt in Kriegen des 20. Jahrhunderts, Münster 1995, S. 30.
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per se sein, sondern immer nur in Relation zu jemandem oder zu etwas.“20 Damit geht die Zerstörung der Individualität respektive der weiblichen Ehre einher, abhängig von Zeit und jeweiligem Diskurs, in dem sich das literarische Werk positioniert. Für die Geschichte der Lucretia beispielsweise deklariert Mieke Bal in Bezug auf den schließlich verübten Suizid: „The rapist dicates her self-image to her. His murder of her subjectivity becomes her self-murder.“21 Mord jedoch – und zwar das Ermorden des Täters aus Rache – verbleibt bisher, speziell in der deutschsprachigen Literatur- und Kulturwissenschaft, weitgehend unerforscht. Die britische Germanistin Beth Linklater beobachtet in ihrem Aufsatz Philomela’s Revenge in Bezug auf zeitgenössische deutschsprachige Erzählungen, dass „[…] the emphasis is placed not solely on how the women suffers, but also on how she reacts, on how she defies the role of victim.”22 Dabei bezieht sie sich nicht grundsätzlich auf den Mord am Täter, sondern vor allem auf weibliche Vergeltung sowie die Regeneration und Reaktion der weiblichen Überlebenden. Die Schwestern Prokne und Philomela, Heldinnen der gleichnamigen griechischen Sage, servieren dem vergewaltigenden Ehemann und Schwager Tereus aus Rache den eigenen Sohn Itys als Mahl. (Abb. 1) Ausgehend von der Sage stellt sie für zeitgenössische Texte fest, dass Vergewaltigung nicht mehr als Symbol, sondern als „event of importance in itself“23 verhandelt wird. Dies kann nicht zuletzt als eine der Entwicklungen gelten, die Susan Brownmiller und die erste Welle der Frauenbewegung in den 1970er Jahren anstieß. Auch die hier zu analysierenden Romane stellen Vergewaltigung explizit dar. Sie inszenieren dieses Ereignis als konstitutives Element der Handlung und nehmen darüber hinaus die Repräsentationen der weiblichen Überlebenden in den Blick. Vergewaltigung, Mord und Vergeltung als gewaltsame Subjektgenese oszillieren zwischen der prozessualen Fixierung und der Verwischung von Geschlechtergrenzen. ‚Geschlecht‘ kann und darf dabei nicht nur ‚Gender‘ sein und ausschließlich soziale Implikationen berücksichtigen. Auch ‚Sex‘ als „lebens-
20 Karin Wetschanow: „,Im Reich der wilden Tiereދ. Vergewaltigung als Jagd“, in: Doris Guth/Elisabeth von Samosonow (Hgg.): SexPolitik: Lust zwischen Restriktion und Subversion, Wien 2001, S. 84. 21 Mieke Bal: Double Exposures. The Subject of Cultural Analysis, New York 1996, S. 233. 22 Beth Linklater: „,Philomela’s Revengeދ: Challenges to Rape in Recent Writing in German“, in: German Life and Letters 54:3, July 2001, S. 253. 23 Ebda., S. 258.
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weltlich verankerte Vorstellung eines natürlich-biologischen Körpers“24 muss in der Analyse der Vergewaltigungserzählungen aufgrund der dichten Verstrickung beider Kategorien mitgedacht werden. Abbildung 1: Peter Paul Rubens: Das Bankett des Tereus, 1635
Prokne und Philomela bringen Tereus seinen zerstückelten Sohn Itys
24 Andrea Geier: „Gender-Monismus? Oder: Warum aus literaturwissenschaftlicher Sicht sex als Analysekategorie sinnvoll bleibt“, in: Johannes Angermüller/Katharina Bunzmann/Christina Rauch (Hgg.): Reale Fiktionen, fiktive Realitäten. Medien, Diskurse, Texte, Münster/Hamburg/London 2000, S. 96.
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K AFKAESKE WEIBLICHE S UBJEKTWERDUNG : L IBUŠE M ONÍKOVÁS E INE S CHÄDIGUNG (1981) Eine Schädigung ist der erste Roman der Tschechin Libuše Moníková, erschienen 1981 in deutscher Sprache, zehn Jahre nach ihrer Übersiedelung in die BRD.25 Dass die Handlung in Prag spielt, lässt zunächst lediglich die vorangestellte Widmung vermuten. Jan Palach entzündete sich 1969 aus Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings auf dem Wenzelsplatz und verstarb an den Folgen. Bezüglich des Ortes der Handlung wird vor allem deutlich, dass hier okkupiert und unterjocht wird: „Jeder fühlt sich beobachtet, die Beklommenheit in der Stadt nimmt zu.“26 Der Roman entwirft das Schicksal der 22 Jahre alten Prager Studentin Jana, deren Geschichte noch zu Anfang auf den unbestimmten parabelhaften Charakter „einer“ Schädigung referiert: Ein Mädchen wird Opfer der Staatsgewalt während das Setting der Stadt unheilvolle kafkaeske Züge annimmt. Riesige Türme sind am Stadtrand errichtet worden, allein zur Einschüchterung der Bevölkerung und zur Betonung der Vormachtstellung des Verwaltungsapparates. Eine Anklage ohne Begründung wie in Kafkas Der Prozess (1925) scheint im Bereich des Möglichen.27 Jana arbeitet als Straßenbahnführerin und macht aus dem letzten Stück ihrer Fahrt wie unzählige Nächte zuvor ein Spiel, um sich ihre Schicht zu verkürzen. Sie steigt aus, überlässt die Straßenbahn sich selbst und läuft mit ihr um die Wette. Dieses Mal jedoch befindet sich auf der Strecke eine Sperrung, die sie in der Dunkelheit übersieht. Nachdem sie frontal gegen das Tor gelaufen ist und zu Boden geht, wird sie von einem Polizisten aufgegriffen, der von einem Versuch des Eindringens ausgeht. Zuerst für einen männlichen „Täter“28 gehalten, beginnt der Beamte einen erzwungenen Geschlechtsverkehr zu organisieren, als er seinen Irrtum bemerkt. Noch immer referiert die Erzählinstanz auf Jana als „das Mädchen“, dessen Erleben der Vergewaltigung aufgrund der Detailtreue eine subjektivierte Erfahrung wird:
25 Moníkovás gesamtes Werk erschien in deutscher Sprache: „Was die Sprache betrifft, bin ich eine deutsche Autorin.“ Vgl. Libuše Moníková: „Das Reich der Kunst erschaffen“, in: Delf Schmidt/Michael Schwidtal (Hgg.): Prag-Berlin: Libuše Moníková, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 63. 26 Libuše Moníková: Eine Schädigung, Berlin 1981, S. 8. 27 Die Referenz auf Kafka thematisiert Libuše Moníková nicht nur in einigen Interviews selbst, auch lässt sie Jana eine Stelle seines Tagebuches zitieren. Ebda., S. 44. 28 Ebda., S. 14.
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Das brennende Stechen in den Augen läßt nach, sie sieht durch Tränen verschwommen wie der Polizist seine Hose öffnet und sich mit einem fleischigen Stumpf in der Hand zu ihr niederhockt, und die Tränen trocknen vom neuen flehenden Schrei aus, der sie von innen lautlos verschlingt wie eine Flamme.29
Jana wird verprügelt, gefesselt und geknebelt, anschließend vergewaltigt und dann ihres Weges gewiesen – und das alles von einem „Beschützer der öffentlichen Ordnung“,30 der früher Vertrauen in ihr weckte und Hilfe verhieß. Ihr Peiniger entbehrt menschlicher Züge, selbst sein Geruch „imitiert, daß der Polizist ein Mensch ist.“31 Die Gewalterfahrung der Protagonistin verläuft parallel zu der ihrer Stadt. Aus der Nennung Jan Palachs wird der historische Kontext erschließbar: Truppen der sogenannten „Warschauer Fünf“ marschieren am 21. August 1968 in Prag ein, bereits fünf Tage später wird das „Moskauer Protokoll“ unterzeichnet, das die Stationierung sowjetischer Truppen in der Tschechoslowakei legitimiert sowie die eingeführten Reformen und die Rücknahme der Zensur revidiert.32 Trotz dieser Parallelebene der Handlung kann hier nicht von metaphorischen Verklärungen und entortenden Textstrategien gesprochen werden. So steht der weibliche Körper Janas nicht für Prag als Stadt oder das unterdrückte Land. Vielmehr funktioniert der verletzungsoffene Körper Janas als Aspekt der kulturellen Konstruktion von Krieg. In ihrer Studie arbeitet Ruth Seifert heraus, dass auf dem „weiblichen Körper […] somit ein Konflikt ausgetragen [wird], an dem Frauen keinen aktiven, unmittelbaren politischen Anteil haben.“33 Die Abstraktion der Täterfigur durch deren Entmenschlichung als personifizierte Staatsmacht erklärt ästhetisch codiert den Zusammenhang zwischen diesen kulturellen Konstruktionen von Geschlecht und Krieg. Eine „gewaltsame Genese der Weiblichkeit“34 innerhalb eines unterdrückenden Systems negiert die oben ausgeführte gesellschaftlich-politische Unmündigkeit der Frau. Jana fügt sich
29 Ebda., S. 16. 30 Ebda., S. 15. 31 Ebda., S. 16. 32 Vgl. Stefan Karner/Natalja Tomilina/Alexander Tschurbarjan u.a. (Hgg.): Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr 1968. Beiträge, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 1226f. 33 Seifert 1995, S. 30. 34 Karin Windt: Beschädigung, Entschädigung – Überlieferung, Auslieferung. Körper, Räume und Geschichte im Werk von Libuše Moníková, Bielefeld 2007, S. 39.
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nicht in die ihr zugedachte Rolle, sondern erschlägt den Beamten mit dessen Knüppel und auch wenn der Polizist schon auf dem Boden liegt, sie prügelt noch, als sich schon nichts mehr bewegt und nichts mehr zu hören ist, sie haut und prügelt, schlägt, holt aus und drischt, schlägt, daß das Blut spritzt. […] Sie will weiter schlagen, aber es ist nichts mehr zu treffen, es ist schade, sie möchte ihn nochmals töten.35
Die von Jana ausgeübte Gegengewalt ist hier keinesfalls männlich codiert, trotz des phallusförmigen Mordinstruments. Lediglich in Bezug auf ihre unentdeckte Täterschaft ist von Belang, dass man „Mädchen […] so etwas nicht zu [traut]“.36 Ihre Gegenwehr muss als Negierung der weiblich okkupierten Opferrolle gelesen werden, die die Auslöschung ihrer (geschlechtlichen) Identität durch die Vergewaltigung rückgängig machen will und sie „aus der Stummheit zur Artikulation“37 bringt. Das Wissen um eine eigene Identität und die Fähigkeit, sich selbst benennen zu können, kennzeichnet die ‚neuen Vergewaltigungslektüren‘. Denn erst am Ende des ersten Kapitels wird „das Mädchen“ zu Jana, als sie sich Mara und Peter vorstellt, die ihr bei der Flucht und der Vertuschung der Tat helfen. Der Einsatz von (Gegen-)Gewalt dient explizit als Werkzeug der Subjektkonstitution: Der erste Schlag in das Gesicht des Polizisten überraschte sie, kam unerwartet für den Arm, die Bewegung fuhr hinein wie ein Luftzug in die höchste Atemnot. […] Das Gesicht des Polizisten verendete ehe sie voll bewußt wurde, sie kannte ihr Geschlecht, weil es brannte und blutete, sie wußte, daß es weiblich war, und ergänzte die entsprechenden Organe, setzte den Kopf auf, aber da lag ihr der Polizist bewegungslos zu Füßen, und der Faden der Selbsterinnerung, die Kette der Wörter, die aus den Schlägen geflogen kamen, brach ab, die Konstruktion blieb unfertig.38
Erst die Nennung ihres Namens bringt die neue Konstruktion ihres Selbst einen Schritt weiter. Ganz im Sinne Althussers wird sie damit zum angerufenen, zum der Gesellschaft unterworfenen Subjekt und muss sich ihren Platz damit neu
35 Moníková 1981, S. 18. 36 Ebda., S. 48. 37 Ebda., S. 24. 38 Ebda., S. 24f.
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suchen.39 Denn der Tod des Polizisten ist kein Ausgleich für das Erlittene, sondern Anfangspunkt eines Prozesses der Identitätsfindung. Durch die Änderung ihrer Wahrnehmung – speziell ihrer geschärften Sinne in Bezug auf Geschlechterrollen und Machtstrukturen – wird diese Einfindung ins Selbst zum eigentlichen Thema der Erzählung. Der übermäßige Gehorsam hat Jana zum Opfer werden lassen und gleichzeitig zur Täterin – aufgrund der Grenzen, die Männer setzen, denn „[j]ede unweibliche Handlung rief Gegenmaßnahmen hervor.“40 Sexuelle Gewalt dient dazu, „eine bestimmte kulturelle Ordnung […] zu sichern“ und das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern beizubehalten.41 Durch das Erleben und Überleben dieser „Gegenmaßnahmen“ jedoch, der brutalen Vergewaltigung durch den Polizisten und dessen anschließende Ermordung, konstruiert Jana ihre Rolle als Frau neu. Einige Zeit später zeigt sich die neue Unbeugsamkeit der Überlebenden bei der Auseinandersetzung mit einem Taxifahrer, der sich aufgrund ihrer Unsicherheit herausnimmt, während der Fahrt zu rauchen: „Sie fühlte die Geste der ausgeholten Hand gegen den Polizisten noch einmal nach und sagte plötzlich ganz ruhig: ,Rauchen Sie bitte nicht.ǥ“42 Im Folgenden teilt sich für Jana die Gesellschaft, in der sie lebt, in zwei Gruppen auf. Aufgrund der neuen Sicht muss auch ihr persönlicher Platz in einem System von Mitmenschen neu organisiert werden. Hier bildet die Vertrautheit und Solidarität zu ihrer Helferin Mara einen wichtigen Fixpunkt. Sie eröffnet ihr nicht nur den Zutritt zu einer Gemeinschaft emanzipierter Nonkonformisten, die alle als Überlebende der Schädigung eines Landes gelten können. Besonders bewusst wird Jana der Unterschied zwischen dieser Gruppe Menschen und den Unterdrückten in der Beobachtung anderer Frauen. Erstmals durchschaut sie das System der Unterwerfung, das in eingeschriebenen Strukturen operiert und Weiblichkeit konsequent als Opferbereitschaft inszeniert: Sie [die Mädchen U.M.] waren modebewußt. […] Die Hosenbeine vom Knie abwärts waren unmäßig breit, der Stoff verfing sich zwischen den Waden, die Überlänge glichen
39 Vgl. Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg 1977, S. 140ff. In Bezug auf Geschlecht greift Butler dieses Konzept auf, was es für den Text Moníkovás besonders interessant macht. Vgl. Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a.M. 1993, S. 173f. 40 Ebda., S. 32. 41 Vgl. Seifert, Ruth: „Krieg und Vergewaltigung. Ansätze zu einer Analyse“, in: Alexandra Stiglmayer (Hg.): Massenvergewaltigung. Krieg gegen Frauen, Frankfurt a.M. 1993, S. 91. 42 Ebda., S. 34.
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plumpe Schuhe auf riesigen Sockeln aus, die den Gang noch labiler, noch weicher machten. Zwischen den schweren Schenkeln zeichnete sich deutlich das Dreieck ab, die Schamlippen, in der Mitte gewürgt, quollen zweilappig aufgeschwollen hervor. Die Mädchen wankten mit schiebenden Schritten vorwärts, in den Zwangshosen kaum beweglich, mit erschütternder Überzeugungskraft ihre physische Ohnmacht demonstrierend. Wollten sie vergewaltigt werden, auf der Straße umgestoßen und benützt werden, da sie sich schon im voraus jeder Widerstandsmöglichkeit entledigt hatten?43
Die Selbstartikulation im sozialen Raum und die Absage an bedingungslosen Gehorsam sind die Ergebnisse der Gegenwehr Janas. Dabei hat der Text durchaus parabelhafte, gleichnisähnliche Züge. Die Besetzung Prags und die Unfreiheit des Volkes fungiert als Parallele zur Vergewaltigung und Unterdrückung „des Mädchens“ Jana. Der Volkskörper steht dem Frauenkörper gegenüber - die Schädigung beider allerdings kann durch Vergeltung nicht rückgängig gemacht werden. Stattdessen bedeutet das Aufbegehren Janas Selbstermächtigung und die Absage an vermeintlich inhärente Opfertendenzen. Ihre Neukonstitution als Subjekt mündet im Finden des eigenen Ortes – in der Stadt Prag sowie in der politisch-sozialen Geschlechterordnung dieser, ihrer Gesellschaft.
E IN M ANN ERZÄHLT WEIBLICHE R ACHE : ANDRÉ B RINKS D IE ANDERE S EITE DER S TILLE (2008) Während Moníkovás Roman durch eine zurückhaltende Erzählstimme gekennzeichnet ist, deren Fokalisierungsinstanz bis auf wenige Ausnahmen die Protagonistin Jana ausmacht, muss bei Brinks ursprünglich in Afrikaans erschienenem Text die besondere Erzählsituation Erwähnung finden.44 Der südafrikanische Autor konstruiert in seinem Roman einen Erzähler, der das Leben und Leiden des deutschen Mädchens Hanna X widergibt. Zur Zeit des deutschen Kolonialismus wandert sie nach Südwestafrika aus. Ihre Geschichte kann sie nicht selbst erzählen, also leiht ihr der Erzähler seine Stimme und gibt sich in metanarrativen Äußerungen immer wieder als Autor, als von der Weiblichkeit faszinierter Mann und Historiker zu erkennen. Für die Konstruktion des Textes aus historischen Fakten und fiktiven Ergänzungen zeigt er sich ausdrücklich verantwortlich und möchte die Aufmerksamkeit vor allem auf die Lücken der Geschichtsschreibung
43 Ebda., S. 33. 44 André Brink: Die andere Seite der Stille. Aus dem Englischen von Michael Kleeberg, Berlin 2008 [Anderkant die Stilte. Johannesburg 2002].
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lenken, auf das Schicksal der weiblichen Ausgewanderten in Deutsch-Südwestafrika.45 Der unvollständige Name einer Frau, gefunden in den Passagierlisten und Unterlagen der Deutschen Kolonialgesellschaft und die Historie des deutschen Kolonialismus bilden den historischen Referenzrahmen der Erzählung, deren Übergang in die Fiktionalität auch textimmanent klar markiert wird, „im poetischen Bild von der Festung [Frauenstein, wo Hanna schließlich Unterschlupf findet U.M.] als Schiff, das sich losreißt und davonsegelt“46. Brinks Roman umfasst zwei Teile, wovon der erste in Rückblenden das Aufwachsen der Hanna X in Bremen erzählt. Von dort bricht sie als junge Frau 1906 nach Südwestafrika in die deutschen Kolonien auf, um ein neues, selbstbestimmtes Leben zu beginnen. Der zweite Teil schildert chronologisch vier Jahre der Flucht und des Rachefeldzuges gegen die Herrschaft des weißen Mannes. Der Dreh- und Angelpunkt der Erzählung ist auch Schnittstelle zwischen den beiden Teilen: Hanna steht vor dem Spiegel und erkennt sich als Individuum und weibliches Subjekt, das erst durch Gegenwehr, durch Mord, vom Opfer zur Überlebenden wird. Ihr Leben in Bremen, das geprägt ist durch sexuelle Ausbeutung und männliche Fremdbestimmung, möchte Hanna X hinter sich lassen. Sie hofft durch die Ausreise nach Südwestafrika den patriarchalen Strukturen Deutschlands zu entgehen. Doch bereits auf ihrer Überfahrt von Bremen nach Windhoek wird sie zum Opfer männlicher Gewalt. Die Utopie der Selbstbestimmung und des Unterlaufens präsenter Machtstrukturen durch die Liebe zu Lotte47 wird jäh zerstört, als ein Matrose diese für sich beansprucht. Lotte begeht in Folge der Misshandlungen bald darauf Selbstmord, sie kommt nie in der Kolonie an. Die Austauschbarkeit der weiblichen Schicksale wird nicht nur durch den fehlenden Nachnamen Hannas betont. Nach Lottes Tod muss Hanna aufgrund einer Verwechslung deren Namen tragen. Eine Episode, die das Absolute der männlichen Deutungshoheit im Kolonialismus betont:
45 Vgl. Brink 2008, S. 205. 46 Ingrid Laurien: „Strategien historischen Erzählens. Neuere Romane über die Kolonie Südwestafrika“, in: Rolf Annas (Hg.): Deutsch als Herausforderung. Fremdsprachenunterricht und Literatur in Forschung und Lehre, Stellenbosch 2004, S. 194. Vgl. Brink 2008, S. 29. 47 So auch zu finden bei Moníková und der Liebesbeziehung zwischen Mara und Jana, in Anlehnung an Ingeborg Bachmanns „Ein Schritt nach Gomorrha“, vgl. Windt, S. 55.
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„Und wer bin ich dann?“, fragt sie. „Wenn Sie alles so genau wissen, sagen Sie’s mir.“ „Das ist mir ehrlich gestanden vollkommen gleichgültig“, antwortete der Offizier kurz angebunden. „Und jetzt lassen Sie mich bitte in Frieden und akzeptieren, dass Hanna X tot und begraben ist.“48
Von Swakopmund muss nun Hanna mit den anderen angereisten Frauen eine viertägige Zugfahrt auf sich nehmen, die auf engstem Raum die Gewaltstrukturen der hierarchischen Geschlechterverhältnisse verstärkt. Vergewaltigungen sind an der Tagesordnung, Frauen und Männer spielen „eine makabere Version der ‚Reise nach Jerusalem‘“49. Dem durch das Kolonialamt zugeteilten Ehemann entkommen, wird Hanna Opfer des deutschen Hauptmanns Heinrich Böhlke. Angetrunken und von seinen Untergebenen angefeuert, vergewaltigt er die jungfräuliche Hanna. Diese jedoch scheint ihm noch nicht genug gelitten zu haben, so kehrt er zurück und zwingt Hanna zum Oralverkehr. „Diesmal ist es vielleicht eine Frage des Stolzes, wer weiß?“50, kommentiert die Erzählinstanz. Hanna wehrt sich, indem sie die Genitalien ihres Peinigers zerbeißt. Ihr Angreifer überlebt, rächt sich jedoch durch seine Soldaten an Hanna. Sie wird von ihnen nicht nur verprügelt und verstümmelt, ihr wird schließlich die Zunge herausgeschnitten.51 Die „Sprachmächtigkeit“52, die es braucht, um eine Vergewaltigung nicht nur zu bezeugen, sondern auch die mit dem Verbrechen einsetzende Stummheit zu überwinden, wird hier in besonderem Maße negiert. Innerhalb der Diegese wird Hannas physisches Unvermögen zu sprechen durch das Unverständnis und die Ignoranz, die ihr von ihren Mitmenschen entgegen gebracht wird, ergänzt. Auch Hanna hofft, ganz wie Jana, auf weibliche Solidarität und Verständnis und wird bitter enttäuscht. Selbst Frauenstein, wo die „ausgeschiedenen Frauen“53 aufgefangen werden, eine Mischung aus Kloster, Bordell und Gefängnis, stellt keinen Ort weiblicher Zuflucht dar. Erst die Bekanntschaft mit Katja und das sich entwickelnde innige Verhältnis, welches sich unter anderem in einer eigenen Spra-
48 Brink 2008, S. 116. 49 Ebda., S. 194. 50 Ebda., S. 197. 51 Ebda., S. 198. 52 Leonore Schiewer: „Über Gewalt sprechen. Darstellungsperspektiven sexuellen Missbrauchs in Literatur und Justiz“, in: Nobert Bachleitner/Christian Begemann/Erhart Walter/Gangolf Hübinger (Hgg.): Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Band 32, Heft 1, 1976, S. 154. 53 Brink 2003, S. 373.
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che zeigt, leitet eine Veränderung ein. Die endgültige Neuartikulation Hannas geschieht schließlich über den Mord am Offizier von Blixen, der Katja zum Geschlechtsverkehr zwingen will. Die Szene des Mordes ist ähnlich rauschartig inszeniert wie in Moníkovás Text. Hanna „schlägt, hämmert, schmettert“54 mit einem Kerzenleuchter wiederholt auf Katjas Vergewaltiger ein und hält erst inne, als sie erschöpft ist. Das Töten des Offiziers zum Schutz ihrer Ziehtochter lässt sie ihr Leben erstmals als aktiv gestaltbar sehen: Sie ist endlich soweit, ihren Hass zuzulassen. Erst er gibt all dem Gebrodel in ihr ein Ziel. Er ist es, der sie befähigte, den Mann zu töten, der Katja vergewaltigen wollte. Diese Gewissheit geht mit einem seltsamen, fast beglückenden Gefühl von Freiheit zusammen. Sie haben keine Macht mehr über sie. Denn nun ist es an ihr zu entscheiden, was sie mit ihrem Hass unternehmen will.55
Auch im Text Brinks ist der Mord an dem Vergewaltiger Ausgangspunkt zur Selbstartikulation des Opfers, das damit zur Überlebenden wird. Während der Prozess der Heilung bei Moníková körperlich und geistig von statten geht, indem sich Jana immer mehr verortet fühlt und vorhandene Wunden genesen, ist das physische Leid Hannas allgegenwärtig. Ihr Körper ist verstümmelt, ihr Geist voll Hass. Während der Jahre sind die sichtbaren Verletzungen zu Narben zusammengeschrumpft. Ihre Selbstheilung, beschrieben im zweiten Teil der Erzählung, ist vor allem psychischer Natur, jedoch getragen von Vergeltungsdrang. Um an ihrem eigenen Vergewaltiger Rache zu üben, reist sie von Frauenstein nach Windhoek. Auf dem Weg durch die Wüste schart sie Menschen um sich, die wie sie Opfer der Herrschaft des deutschen Mannes geworden sind und dies rächen wollen. Den afrikanischen Krieger Kahapa beispielsweise oder Gisela, die misshandelte Frau eines Missionars. Das Besondere an Hannas Subjektgenese ist, dass sie von einem männlichen Erzähler vermittelt wird. Er macht deutlich, wie zufällig die Auswahl dieses einen Schicksals neben dem anderer Auswanderinnen ist, für die Gewalt an der Tagesordnung war.56 Zu Hanna X als seiner Protagonistin lässt die Erzählstimme verlauten:
54 Ebda., S. 37. 55 Ebda., S. 201. 56 Ebda., S. 13.
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Ich habe mehr und mehr das Gefühl, es ihr gerade als Mann zu schulden, dass ich wenigstens versuche, zu verstehen, was sie zu einem ganz eigenen Menschen, einer Persönlichkeit gemacht hat und was das spezifisch Weibliche ist an ihr.57
Die Beschreibung der gewaltsamen Strukturen des Kolonialismus, die sich in der Unterwerfung ganzer Stämme der ansässigen Hereros äußern, bildet das Setting der Erzählung. Vermittelt durch eine Instanz, die sich als Nachfahre genau dieser unterdrückenden Mächte zu erkennen gibt, werden koloniale und geschlechtsspezifische Gewaltverhältnisse offen gelegt. Die Gegenwehr Hannas wird durch den Erzähler nicht als Übernahme männlichen Gebarens interpretiert. Vielmehr rückt die Konstitution einer weiblichen Identität in den Vordergrund, die sich Handlungsräume verschafft, welche innerhalb ihrer Zeit und ihres Ortes weder Frauen noch Lokalen gewährt wurden. Die (Re-)Konstruktion ihres individuellen weiblichen Subjektstatus manifestiert sich schließlich in der Ablehnung ihres eigenen Rachevorhabens: Nein, sie wird ihn nicht töten. Es ist nicht länger notwendig. Es ist die Sache nicht wert. Ihn zu töten kann die Welt nicht ungeschehen machen, die ihn ermöglicht hat. […] Alles was sie tun muss, ist sicherzustellen, dass die Welt es zur Kenntnis nehmen wird.58
F RAUEN SIND DIE BESSEREN M ÄNNER : K AREN D UVES R EGENROMAN (1999) Während in den vorangegangenen Texten die Geschlechterdifferenzen klar umrissen werden, geht es im Roman Karen Duves vornehmlich um das Verwischen von Gendergrenzen. In ihrem ersten Roman beschreibt die Autorin die Tücke des Morastes menschlicher Beziehungen vor dem tristen Hintergrund einer ostdeutschen Moorlandschaft im Dauerregen. Protagonisten sind die Eheleute Ulbricht, die aufs Land ziehen, um der Kreativität des Schriftstellers Leon die richtige Umgebung zu verschaffen. Er hat eingewilligt, die Biographie der Rotlichtgröße Benno Pfitzner zu verfassen, der ihn bereits großzügig entlohnt hat – mit einem größeren Geldbetrag und einem 300er Mercedes, den Leon eifersüchtig
57 Ebda., S. 206. 58 Ebda., S. 405.
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hütet. Seine Frau Roswitha, die ihren Namen aufgrund der Häme ihres Mannes kurzerhand in Martina änderte, zieht mit ihm aufs Land.59 Duves Text lebt von einer grundsätzlichen Körperzentriertheit ihrer Figuren, die die Leere einer oberflächlichen, auf Besitz fokussierten (post-)modernen Gesellschaft kaschieren soll. Leon, der sich als Dichter und Mann für die Krone der aufgeklärten Schöpfung hält, beugt sich einem dichotomen Geschlechtermodell. Obwohl er darunter leidet, kann und will er sich doch nicht davon befreien. Er bleibt dem allgegenwärtigen Denkmuster verhaftet: Ein Mann war jemand, der einen Haufen Geld verdiente, ein Haus besaß, Kinder zeugte, Autos reparieren konnte und jedes Gurkenglas aufbekam. Ein Mann war jemand, der einen stehen hatte, wenn es darauf ankam – und damit fertig.60
Auf Leon selbst trifft lediglich der zweite Teil seiner Definition zu, besteht dessen einzige Fertigkeit doch darin, Frauen zu verführen. Er verfügt über keinerlei handwerkliches Geschick, ist weder groß noch stark. Im Gegenteil: Leon „suffers a neurotic feminization.“61 Nicht selten wünscht er sich in einen Frauenkörper, um so beschützt zu werden und jegliche Verantwortung offiziell abgeben zu dürfen. Denn ebenso stereotyp wie sein Männerbild gestaltet sich sein Verständnis der Rolle von Frauen. Sie sind vor allem Besitz, den es innerhalb männlicher Machtstrukturen zu organisieren gilt. Als eine moderne Version der biblischen
59 Die Entscheidung ihren Namen von Roswitha in Martina zu ändern, kennzeichnet zum einen den Übergang vom väterlichen ins eheliche Besitzverhältnis. Zum anderen kann dies diametral zur Benennung Janas gesehen werden. Roswitha verschwindet als eigenständiges Subjekt: „Leon hatte zu ihr gesagt, Roswitha sei ein so fürchterlicher Name, daß sie sich genausogut das Wort ASOZIAL auf die Stirn tätowieren lassen könnte. […] Roswitha hatte sich auf der Stelle in ihn verliebt und sich von da an Martina genannt. Ihren Nachnamen hatte sie verloren, als sie ihn heiratete.“ Karen Duve: Regenroman, Frankfurt a.M. 2003, S. 41. 60 Ebda., S. 30. 61 Elizabeth Boa: „Lust or Disgust? The Blurring of Boundaries in Karen Duve’s Regenroman“, in: Heike Bartel/Elizabeth Boa (Hgg.): Pushing at boundaries. Approaches to contemporary German writers from Karen Duve to Jenny Erpenbeck, Amsterdam/New York 2006, S. 62.
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Erzählung aus dem Buch der Richter, „Schandtat der Männer von Gibea“ 62, stellt im Roman auch Martinas Körper den Kriegsschauplatz der Männer.63 Leon wie Martina haben sich aus ganz ähnlichen Gründen dem zeitgenössischen Körperkult verschrieben. Dieser fußt vor allem auf dem Ekel vor Fruchtbarkeit und weiblicher Gebärfähigkeit. Die Folgen gestalten sich jedoch unterschiedlich: Während Martina seit Jahren unter Bulimie leidet und ihrem Körper und Geschlecht immer fremd war, huldigt Leon im Geheimen Männerkörpern und wählt die für ihn einzig mögliche Variante einer geschlechtlichen Beziehung – mit einer androgyn geformten Frau. Dem stehen die einzigen Nachbarn in der ostdeutschen Einöde gegenüber, die Schwestern Schlei. Kay, fast zwei Meter groß und immer gewandet in Arbeitslatzhosen, mit Kurzhaarschnitt und Unterarmen „wie ein Gewichtheber“64, verliebt sich in Martina. Isadora, „unglaublich fett“65, verführt und dominiert den verweichlichten Leon als Inbegriff der weiblich konnotierten Natur: „Der Anblick stieß ihn ab, doch in dem finstersten Winkel seines Unterbewußtseins, dort, wo noch kein Lichtstrahl der Zivilisation je hingefallen war, begehrte er diese Frau.“66 Die Bekanntschaft der SchleiSchwestern bringt Leons festgefügtes Weltbild aus geschlechtlich codierten Dichotomien ins Wanken, bis es zum Ende in sich zusammenfällt, aufgeweicht wie sein neues Haus durch feuchten Moorboden und Dauerregen. Die Vergewaltigung Martinas erfolgt aufgrund von Streitigkeiten zwischen Leon und Pfitzner. Unzufrieden mit den ersten Entwürfen seiner Biographie nimmt er Leon nicht nur das erhaltene Auto weg, sondern zudem das sexuelle Anrecht auf seine Frau.67 Er gedenkt Leons Unzuverlässigkeit „mit der größten denkbaren Beleidigung zurückzuzahlen.“68 Als Handlanger Pfitzners fungiert Leons einziger Freund Harry. Er wird durch seinen Vorgesetzten einem Treuetest unterzogen und muss Martina im Nebenzimmer vergewaltigen. Harry gilt definitorisch als richtiger Mann im Sinne Leons, der eine Erektion vorweisen kann, wenn es verlangt wird. Auch wenn Leon sein Freund und Martina „eigentlich gar keine richtige Frau für ihn“69 ist, kommt er dem Befehl seines Chefs
62 Buch der Richter, Kapitel 19. 63 Vgl. Mieke Bal: „The Rape of Narrative and the Narrative of Rape: Speech Acts and Body Language in Judges“, in: A Mieke Bal Reader, Chicago 2006, S. 339-364. 64 Ebda., S. 103. 65 Ebda., S. 149. 66 Ebda., S. 151. 67 Vgl. ebda., S. 41. 68 Ebda., S. 235. 69 Ebda., S. 237.
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nach. Deutlich wird hier die Beschreibung von Vergewaltigung als sexualisierte Gewalt70, bei der Sexualität nicht als Ursprung der gewalttätigen Handlung gelten kann, sondern vielmehr als Mittel zum Zweck der Demütigung und Eigenermächtigung fungiert: Harry kam langsam in Fahrt. Nicht nur sein Schwanz wurde immer härter und fester, auch er selbst. Sein Körper und das, was er meinte, wenn er ich sagte. Jedesmal, wenn er in diesen anderen Körper eindrang, fühlte er, wie dieses ich deutlicher wurde.71
Die Einheit von Körper und Geist wird auf Seiten des Penetrierenden gestärkt durch das Erlebnis des Ausübens von Folter.72 So überführt Harry den körperlichen Schmerz seines Opfers in die Fiktion von Macht.73 Währenddessen beschreibt Regenroman die Vergewaltigung Martinas als traumatisches Erlebnis. Sie spaltet ihr Bewusstsein ab und entfernt sich von ihrem Körper, den sie als Maschine imaginiert, die „alles ertragen“74 kann. Michaela Huber nennt diesen Vorgang ‚Fragmentieren‘, „[d]ie Erfahrung wird zersplittert, und diese Splitter werden so „weggedrückt“, dass das äußere Ereignis nicht mehr zusammenhängend wahrgenommen und erinnert werden kann.“75 Die Tendenz, den Körper zu denaturalisieren und gleichzeitig zu instrumentalisieren, zeigt sich bereits in Martinas Ess-Störung. Durch das Gewalterleben manifestiert sich diese Tendenz endgültig im Gleichsetzen ihres Körpers mit einem Ding, „in das man von allen Seiten etwas hineinstecken konnte.“76 Aufgrund ihres Selbstverständnisses als zu Besitzende sind weder Wut noch Hass die direkten Reaktionen von Martina. Erst Kay und Isadora rächen Martinas Schädigung, indem sie Harry sowie Pfitzner mit einem Flammenwerfer aus dem Geräteschuppen töten. Weibliche Solidarität als gegenseitiges Erkennen und Teilen einer Sprache spielt sowohl in Moníkovás als auch in Brinks Roman eine prominente Rolle.
70 Vgl. re.ACTion 2007, S. 17. 71 Duve 1999, S. 238. 72 Zur Nähe von Vergewaltigung und Folter vgl. Seifert 1995, S. 30f., Seifert 1993, S. 89. 73 Elaine Scarry: Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur, Frankfurt a.M. 1992, S. 43ff. 74 Vgl. Duve 1999, S. 239. 75 Michaela Huber: Trauma und die Folgen. Trauma und Traumabehandlung, Teil 1. Paderborn 2003, S. 43. 76 Duve 1999, S. 238.
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Von Duves Figuren jedoch wird dieses Modell ad absurdum geführt. Martinas Schönheit „verwandelte jede Frau, die eine Freundin hätte sein können, in eine Konkurrentin und jeden Mann, der ein Freund hätte sein können, in einen ihrer vielen, langweiligen Verehrer“77, was schon zu Anfang das Schicksal ihrer Nachbarin Kay vorzeichnet. Als Martinas Verehrerin tötet sie deren Feinde und beschützt sie, streitet sich mit ihr jedoch schon bald danach, weil sie als Liebhaberin abgewiesen wird und ihr Begehren unerwidert bleibt. Isadora hingegen operiert so gelassen und gleichgültig wie die Schnecken in Martinas Garten, als deren gebärfreudige Königin sie von Leon imaginiert wird.78 Alle Figuren zeichnen sich durch ihr Unvermögen aus, zwischenmenschlichen Beziehungen Bedeutung zuzumessen. Stattdessen ist vor allem Selbstüberschätzung ein Charakteristikum des Einzelnen. Im Gegensatz zu Eine Schädigung sowie Die andere Seite der Stille ist der Mord an Harry kein Ausschlag für die (Neu-)Konstitution eines weiblichen Subjektes. Vielmehr vermittelt der Text Duves den Eindruck, Subjekte und subjektgenerierende Fragestellungen in der schnelllebigen Gesellschaft an der Schwelle des 21. Jahrhunderts verloren zu haben. Martina muss nach der Beschädigung als logische Konsequenz aus der Ehe mit Leon scheiden. Doch kann die letzte Handlung Martinas zumindest als Zeichen der Absage an ihren Status als Besitztum gewertet werden, wenn auch nicht als tatsächliche Subjektgenese, die Reflektion und Autonomie voraussetzen müsste. Angekommen im heimischen Stadtrandrefugium ihrer Eltern findet sie sich durch merkwürdige Umstände mit Benzinkanister und Streichhölzern vor dem Haus ihrer Eltern wieder. Hier steht seit ihrem dreizehnten Lebensjahr ein gelber Audi, in dem ihr Vater sie derzeit mit einem Jungen beim Oralverkehr überraschte, als „Mahnmal für Roswithas Verdorbenheit“79 und Symbol für den Bruch mit dem patrilokalen System. Und dann begriff sie, was das ganze sollte – ihr Zögern vor dem Haus, das wohlsortierte Warenangebot des Taxifahrers, die idiotische Lügengeschichte, die sie ihm aufgetischt hatte, und der Benzinkanister in ihrer Hand. Ihr Puls schlug schneller. Das war kein Zufall! Das war die aufwendig vom Schicksal arrangierte Begegnung einer Frau mit ihrer Gelegenheit – der Gelegenheit, zu tun, was sie schon längst hätte tun sollen.80
77 Ebda., S. 40. 78 Ebda., S. 123 und S. 155. 79 Ebda., S. 62. 80 Ebda., S. 295.
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Martina/Roswitha verweigert so die Rückkehr ins Elternhaus unter den Schutz ihres Vaters, der sich weiterhin in Vorwürfen ergeht, weil sie mit dem verweichlichten unvermögenden Intellektuellen Leon die falsche Wahl getroffen hat. Damit ist ihre Beschädigung der Anstoß für den Austritt tritt aus ihrer Rolle als männliches Eigentum und Opfer des Patriarchats. Denn Duves Entwurf einer Gesellschaft negiert die Vorstellung einer Gemeinschaft von Individuen und damit die Möglichkeit einer tatsächlichen Subjektgenese Martinas.
F AZIT : D IE GEWALTSAME S UBJETKTGENESE DER ‚ NEUEN V ERGEWALTIGUNGSLEKTÜREN ʻ Die explizite Darstellung von Gewalt ist gemeinsamer Nenner der Texte von Karen Duve, André Brink und Libuše Moníková. Nicht nur beschreiben sie die Ausübung männlich konnotierter, sexualisierter Gewalt Frauen gegenüber, sondern auch die blutige Vergeltung für dieses Vergehen. Das Besondere an den so genannten ‚neuen Vergewaltigungslektüren‘ ist, dass diese Rache nicht geübt wird durch den Mann als Besitzer des weiblichen Körpers wie im Falle des Filmes Irréversible, sondern durch Frauen: die Geschädigten selbst, Freundinnen oder Verehrerinnen. Mörderinnen wie Jana, Kay und Hanna beanspruchen die männlich konnotierte Übermacht der Körperkräfte und rächen brutal und blutig. Doch nicht aus Lust – sie töten zur Rettung ihrer selbst. Die Folge besteht in der Konstitution weiblicher Selbstbestimmung. Kay, Isadora und Martina (aber auch Jana, Hanna und Katja) gelten nicht zuletzt wegen ihrer Morde als „[t]ausendmal härter, als ein Mann jemals sein konnte“81. Die Gewaltdarstellungen der ausgewählten Romane können demnach nicht als absatzsteigernde Instrumente zur Erschütterung des Publikums banalisiert werden. Wie gezeigt wurde, repräsentieren sie stattdessen in überhöhter Form die machtdurchtränkten Geschlechterverhältnisse des jeweiligen Diskurses. Die Vergewaltigung erfährt innerhalb der literarischen Darstellung keine Entortung, sondern ist, wie die dargestellten gewalttätigen Handlungen generell, in den ästhetischen Code des Textes eingebunden. Weibliches Morden verwischt und strapaziert manifest gesetzte geschlechtlich konnotierte Beziehungsstrukturen. Tödliche Vergeltung wird so zum gewaltsamen Teil des Prozesses der Subjektgenese, besonders bei Moníkova und Brink. Auch in Duves Text zerstört der Mord an Harry und Pfitzner festgefügte geschlechtlich codierte Strukturen. In
81 Ebda., S. 251.
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einer Diegese, die sich vor allem durch „political, ideological, and spiritual void“82 auszeichnet, steht auch der einzelnen Figur keine selbstbestimmte Rolle als handelndes Subjekt zu. Bereits 1989 hat Alberto Godenzi in seiner sozialwissenschaftlichen Studie zur Vergewaltigung die patriarchale Reglementierung der weiblichen Bewegungsfreiheit kritisiert. Seine Fragen bestimmen auch die zeitgenössische Literatur in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit sexualisierter und geschlechtlich konnotierter Gewalt: Was wäre, wenn Frauen sich so benehmen würden wie Männer, wenn Frauen so handeln würden, als wären sie frei? Wenn sie sich nicht mehr ausgrenzen ließen aus der Welt der Männer? […] Dann stellte sich ein Chaos ein, […] die Auflösung einer männerdominierten Ordnung, mithin der Beginn einer neuen Ordnung.83
L ITERATUR Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg 1977. Amstutz, Natalie: Autorschaftsfiguren. Inszenierung und Reflexion von Autorschaft bei Musil, Bachmann und Mayröcker, Köln/Weimar/Wien 2004. Bal, Mieke: Double Exposures. The Subject of Cultural Analysis, New York 1996. Ders.: „The Rape of Narrative and the Narrative of Rape: Speech Acts and Body Language in Judges“, in: A Mieke Bal Reader, Chicago 2006, S. 339-364. Boa, Elizabeth: „Lust or Disgust? The Blurring of Boundaries in Karen Duve’s Regenroman“, in: Heike Bartel/Elizabeth Boa (Hgg.): Pushing at boundaries. Approaches to contemporary German writers from Karen Duve to Jenny Erpenbeck, Amsterdam/New York 2006, S. 57-72. Brink, André: Die andere Seite der Stille. Aus dem Englischen von Michael Kleeberg, Berlin 2008 [Anderkant die Stilte. Johannesburg 2002]. Brownmiller, Susan: Gegen unseren Willen. Vergewaltigung und Männerherrschaft, Frankfurt a.M. 1975. Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a.M. 1993.
82 Monika Shafi: „Spaces of violence: On the role of home, nature, and gender in narratives by Karen Duve and Felicitas Hoppe“, in: Helen Chambers (Hg.): Violence, culture and identity. Essays on German and Austrian literature, politics and society, Bern 2006, S. 382. 83 Godenzi, S. 119.
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Weibliche Verbrechen im Film
Abbildung I: Screenshot aus Quentin Tarantino: Kill Bill II, 2004
Ist ein weiblicher Hannibal Lecter denkbar? Die mediale Inszenierung von (realen) Serienmörderinnen R UTH N EUBAUER -P ETZOLDT
E INLEITUNG : D AS S ERIENMÖRDER -I DOL H ANNIBAL L ECTER Nicht erst mit Hannibal Lecter, aber mit dieser fiktionalen Figur, die vor allem der Schauspieler Anthony Hopkins in der Trilogie der Hannibal Lecter-Filme1 prägte, wandelte sich das Bild vom bestialischen, sadistischen Serienmörder, der organisiert, kontrolliert und zwanghaft nach eigenen Regeln handelt, zum Heros, der als Verkörperung eines egomanen, Allmacht beanspruchenden ‚Übermenschenǥ Bewunderung erregt und in seiner Ambivalenz fasziniert.2 Hannibal Lecter wird zum prototypischen Gegenspieler des Detektivs, wobei die Grenzen zwischen Gut und Böse aber keineswegs immer eindeutig sind. Mit seinem sprechenden Namen ist er inzwischen zur idealtypischen Figur des Serienmörders geworden, auf den sich nach 2000 Forensik und die Kriminologie wie die Kriminalliteratur beziehen.3 Ist daher auch eine weibliche Version der Hannibal
1
Die Filme The Silence of the Lambs (USA 1999, Regie Jonathan Demme), Hannibal (USA 2000, Regie Ridley Scott), Red Dragon (USA 2002, Regie Brett Ratner) basieren auf der Romantrilogie von Scott Harris.
2
Vgl. Ruth Neubauer-Petzold: „Der Serienmörder als Künstler und Kunstobjekt. Der (Anti-) Held zwischen Identifikation, Deutung und Dämonisierung in dem Thriller Red Dragon (2002)“, in: Jörg van Bebber (Hg.): Dawn of an Evil Millennium. Horror und Kultur im neuen Jahrtausend, Darmstadt 2011, S. 57-63.
3
Der Name kündigt schon einen Heros an: Hannibal, der antike kathargische Feldherr, der die Weltmacht der Römer in ihre Schranken wies und mit seinem Feldzug über die
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Lecter-Figur denkbar? Im Folgenden definiere ich zunächst kurz die Bedeutung der Hannibal Lecter-Figur, stelle sodann die kriminologischen Kriterien und Bezeichnungen für Serienmörderinnen vor, um diese dann anhand von realen wie fiktiven Serienmörderinnen exemplarisch zu beleuchten. Dieser Beitrag untersucht also nicht, ob die historischen Serienmörderinnen die ihnen vorgeworfenen Taten wirklich begangen haben, welche Motive und Lebensgeschichten zugrunde liegen, sondern konzentriert sich auf die mediale Inszenierung, die literarische, populäre und wissenschaftliche Rezeption und exemplarisch die darin verhandelten mythischen und monströsen Diskurse zur Serienmörderin. Dass die Realität der Serienmörder in der Regel keine solch charismatischen Gestalten hervorbringt, dürfte einleuchten, aber dennoch sind Figuren wie Jack the Ripper, der durch den medialen Hype um 1870 zu einem der ersten moder-
Alpen fast Unmögliches vollbrachte – ein Krieger, der scheinbar keine Grenzen kennt, so wie Hannibal die etablierte (Staats-)Macht durch seinen Ausbruch überwindet und sich seinen Verfolgern immer wieder überlegen weiß. Der Nachname Lecter signalisiert den Intellektuellen, den Leser, den Ästheten, der sich etwa kongenial in die Kunst der Renaissance vertieft, und immer eine reflektierend überlegene Distanz zu seiner Umgebung behält. Als Mediziner und Psychologe vermag er in anderen Menschen zu ‚lesenǥ, ihre ‚Zeichenǥ zu deuten – und für sich zu nutzen; eine Spiegelfigur der Profiler, die vergeblich versuchen, seine Psyche zu durchdringen und ihn schließlich bei der Verfolgung anderer Serienmörder um seine Hilfe bitten müssen. Kurz zur Definition dieser drei theoretischen Begriffe: Forensik bezieht sich auf die Wissenschaften, die sich mit der Analyse der kriminellen Tat und der Rekonstruktion ihres Ablaufs sowie mit der psychiatrischen Begutachtung oder Behandlung des Täters befassen; vgl. John D. Wright: Dem Täter auf der Spur. Forensik–DNA-Analyse–Kriminaltechnik: Moderne Wege zur Verbrechensaufklärung, Bath 2008. Die Kriminologie ist die ebenfalls mehrere Disziplinen umfassende ‚Lehre vom Verbrechen‘, die den individuellen und gesellschaftlichen Kontext bzw. die ‚Schuld‘ und (strafrechtlich relevante) Verantwortung für eine kriminelle Tat untersucht; im Gegensatz zur konkret auf ein Verbrechen bezogenen Kriminalistik versucht die Kriminologie einen ‚abstraktenǥ Erkenntnisgewinn, u. U. auch im historischen Überblick, zu vermitteln. Die Kriminalliteratur soll sich hier auf jede Art von (literarischem) Text beziehen, die ein Verbrechen darstellt, sei es aus der Perspektive des Ermittlers im Detektivroman, sei es als Falldarstellung mit einem im Nachhinein rekonstruierenden und wertenden Erzähler wie in der Pitaval-Tradition, sei es als Thriller, aus der Perspektive des Täters, der Täterin, sei es mit regionalen oder inhaltlichen Schwerpunkten, als Serienmörderoder Mafiaroman, oder in der Tradition mit dem entsprechend konstruierten Plot bzw. Stil des ‚Hard boiledǥ– oder des ,Whodunitǥ-Krimis.
I ST
EIN WEIBLICHER
H ANNIBAL L ECTER DENKBAR?
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nen Serienmörder wurde, vor allem aber Fritz Haarmann, Ed Gein, Ted Bundy oder Charles Manson Teil des kollektiven Gedächtnisses.4 Schon hier fällt auf, dass keine Frauen in dieser Galerie der Serienmörder vertreten sind – in der Tat sind Serienmörderinnen sehr selten, aber wenn sie auftreten, werden sie von den Zeitgenossen als besonders entsetzlich und spektakulär wahrgenommen. Im Gegensatz zum Mörder, bei dem häufig dem (weiblichen) Opfer eine Teilschuld zugewiesen wird, werden Mörderinnen ob der ‚Unvorstellbarkeitǥ ihrer Taten, die so gar nicht dem fürsorglichen oder passiven Bild der Frau als Versorgerin, Mutter, Ehefrau entsprechen, zu abartigen ‚Monsternǥ gemacht, die die maximale Härte der juristischen Strafe und der öffentlichen Verurteilung trifft. Sogar wenn durch die Umstände deutlich wird, dass hier ein vormaliges Opfer zur rächenden Täterin wird, ist das mediale Verständnis gering; ja wenn eine sexuelle Konnotation hinzu kommt, ist das Entsetzen sogar noch größer. Die Wertungen, die bereits die Schlagzeilen und auch die Titel seriöser Berichte von heute hinausschreien, schwanken zwischen Mensch und Monster, Bestie oder Patient5 und drücken doch zugleich das Faszinosum dieser „Heroinen des Grauens“ bzw. des Giftmordes aus, so in Anlehnung an die vier Giftmörderinnen Marquise von Brinvillier, Geheimrätin Ursinus, Anna Margaretha
4
Zentral für die Herausbildung dieses Mythos vom Serienmörder sind mehrere Umstände, die zugleich die Moderne insgesamt kennzeichnen: Urbanisierung, Anonymität, Verelendung im Zuge der Industrialisierung sind wesentliche Merkmale der Großstadt London, in der sich diese Mordserie, die Jack the Ripper zugeschrieben wird, ereignete. Im Deutschland der Weimarer Republik kommen noch die desillusionierende, ja verrohende Erfahrung des Massenmordens im Ersten Weltkrieg hinzu sowie die gravierende und existentielle Verunsicherung durch die Weltwirtschaftskrise ab 1929; vgl. Susanne Scholz: „The Making of Jack the Ripper: Autorschaft und Serialität um 1900“, in: Susanne Komfort Heine/Dies. (Hgg): Lustmord: Medialisierung eines kulturellen Phantasmas um 1900, Frankfurt a. M. 2007, S. 21-36; Maria Tatar: Lustmord: Sexual Murder in Weimar Germany, Princeton N. J. 1995.
5
Vgl. Stefan Harborts Beitrag mit dem Titel: „Serienmörder: Mensch und ‚Monsterǥ“; http://www.der-serienmoerder.de/pdfs/Harbort%20-%20Aufsatz%20-%20Serien moerder%20Mensch%20und%20Monster.pdf; vgl. auch den Artikel in der Zeitschrift Focus: „Bestie oder Patient“, in: http://www.focus.de/wissen/wissenschaft/psychologie/verbrechen/tid-7106/serienmoerder_aid_69447.html
[letzter
Zugriff
am
23.9.2011]. Vgl. auch Peter Vronsky: Serial Killers: The Method and Madness of Monsters, Berkley 2004, um hier nur einige Beispiele zu nennen.
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Zwanziger und Gesche Margaretha Gottfried im 2. Teil des Neuen Pitaval6, und zweier Studien über Mörderinnen, die im 21. Jahrhundert publiziert wurden.7 Hannibal Lecter hat hingegen eine Art von Heroisierung erfahren, die nicht mehr die Grausamkeit seiner Taten in den Mittelpunkt stellt, sondern seine Rolle als genialer Täter, der immer wieder entkommt, als Ästhet des Mordes, der hier ohne Ansehung der Opfer nur noch die Perspektive der Selbstermächtigung des Täters oder die Inszenierung der Tat selbst und in der Folge ihre mediale Aufbereitung berücksichtigt.8 Zunächst möchte ich die kriminologischen Kriterien für Serienmörderinnen kurz vorstellen, um dann exemplarisch auf drei Beispiele von Serienmörderinnen und ihre ‚Kategorisierungenǥ bzw. Bezeichnungen einzugehen, auf die Giftmischerinnen, die Blaubärtin und die Schwarze Witwe, und auf das ‚Monsterǥ Ai-
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Herausgeber waren Julius Eduard Hitzig und Willibald Alexis, Leipzig 1942. Vgl. Inge Weiler: „Das Klischee der ‚typisch weiblichen Giftmischerinǥ als Produkt interdiskursiver Austauschbeziehungen im Bereich der Rechtskultur“, in: Daniel Fulda/Thomas Prüfer (Hgg.): Faktenglaube und fiktionales Wissen: zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst in der Moderne, Frankfurt a. M. u. a. 1996, S. 211-228, hier S. 217.
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Vgl. Susanne Kord: Murderesses in German Writing, 1720-1860. Heroines of Horror, New York 2009; Michael Farin: Heroine des Grauens. Elisabeth Báthory, München 3
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2003.
Vgl. bereits die frühe satirische Reflexion der literarischen und medialen Aufbereitung eines Mordes in Thomas de Quinceys Essay On Murder Considered as One of the Fine Arts (1827). Auch die Kriminologin Mary Lorenz Dietz beklagt die pervertierte Aufmerksamkeit in den Medien, die vor allem Serienmördern zu Berühmtheiten werden lässt, als einen der ersten derartigen Fälle nennt sie Jack the Ripper, in Fußnote 2 (S. 119) und erwähnt dann exemplarisch die Hannibal LecterVerfilmungen Manhunter und Silence of the Lambs. Dietz fordert dazu auf, diese „emphasis on and glorification of these killers [as] historic figures and media stars“ [ebda.] zu reduzieren und sich weg von den ‚außerordentlichen‘ Individuen auf den sozialen Kontext – und die Opfer – zu konzentrieren; dazu will auch dieser Beitrag eben durch die Analyse der oft irrational anmutenden, aber (leider) auch faszinierenden Mythisierungen der Serienmörderinnen beitragen; auch aus diesem Grund habe ich in diesem Beitrag auf Illustrationen verzichtet, die letztlich keine neuen Informationen bedeutet hätten, sondern auch nur einem (akademischen) Voyeurismus dienen würden. Vgl. Mary Lorenz Dietz: „Killing Sequentially: Expanding the Parameters of the Conceptualization of Serial and Mass Killers“, in: Thomas O’Reilly-Fleming (Hg.): Serial and Mass Murder: Theory, Research and Policy, Toronto 1996, S. 109122.
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leen Wuornos, die die mediale Wahrnehmung in den unterschiedlichen Diskursen seit dem beginnenden 19. bis ins ausgehende 20. Jahrhundert veranschaulichen. So werden dabei Diskurse, die Pitaval-Tradition der Fallberichte, am Rande auch ihre literarische Rezeption, die Forensik und ‚Wissenschaftǥ von den Serienmördern und die massenmediale Rezeption in Zeitung, Film und Internet, in ihrem jeweiligen historischen Kontext vorgestellt. Diese ‚Mythisierungǥ der Serienmörderin zeigt über die Epochen hinweg eine erstaunliche Kontinuität, zumal angesichts der Entwicklung der Massenmedien. Dass sich die Diskurse dabei nicht eindeutig voneinander trennen lassen und vielmehr im ‚Mediumǥ der Mythisierung und der literarischen Verarbeitung im weitesten Sinne, zum Beispiel durch Metaphern in der Kategorienbildung, bestimmt werden und sich vor allem die verschiedenen Diskurse zirkulär miteinander verbinden, sei hier schon als These in den Raum gestellt.
D IE S ERIENMÖRDERIN : S TEREOTYPE UND KRIMINOLOGISCHE K ATEGORIEN Jenseits der sehr viel geringeren Zahl an weiblichen Serienmördern (ihr Anteil an Gewalttaten liegt seit Jahrzehnten bei ca. 10%)9 richtet sich das Augenmerk der Öffentlichkeit umso eindringlicher auf die Täterin, werden ihre Motive hinterfragt, psychologische Erklärungen und klare Schuldzuweisungen gesucht. Dabei spiegelt sich die gesellschaftliche Wahrnehmung von Weiblichkeit auch gerade in ihrem ‚Gegenteilǥ, also in einer Form von ‚monströserǥ ‚Entartungǥ von Weiblichkeit oder als wahnhafte Pathologisierung, wie dies die Serienmörderinnen zeigen bzw. als solche wahrgenommen wird, und auch in der radikalen
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Die Kriminologen gehen von einem seit Jahren stabilen Anteil von ca. 8-12% von Frauen an Gewalttaten und entsprechend auch von ca. 10% Serienmörderinnen unter den Serienmördern aus, wobei in den USA 76% dieser Täterinnen der Kategorie ‚female serial killers‘ anzutreffen sind. Vgl. Eric W. Hickey (Serial Murderers and Their Victims, Belmont/California 42006) und Vickie Jensen (Why Women Kill. Homicide and Gender Equality, London 2001), die betont, dass das soziale Umfeld von Frauen nicht nur bei den Geschlechtern unterschiedliche Häufigkeiten bei Verbrechen und bei Verbrechensarten hervorbringt, sondern auch die Gesellschaft Verbrechen von Frauen anders bewertet und bestraft als jene von Männern, vor allem wenn sie einen Verstoß gegen traditionelle Normen bedeuten.
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sozialen Ausgrenzung oder dem ‚gegenläufigenǥ Versuch, der patriarchalischen Gesellschaft einen großen Teil der Schuld zu geben. Der erste Eindruck ist somit, dass die Bewertung der Taten und der Person der Serienmörderin zwischen zwei extremen Polen anzusiedeln ist: Die Einen sind entsetzt, dass eine Frau zu solchen Taten fähig ist und sehen hier eine ‚Monstrositätǥ , die absolute Perversion des kulturell und biologisch determinierten Frau-Seins, das sich nur mit vollständiger Ausgrenzung aus der Gesellschaft, bestenfalls noch der Pathologisierung der Täterin bestrafen bzw. kompensieren lässt – dies gilt vor allem für jene Täterinnen, deren Opfer die Schwachen der Gesellschaft waren, also Kinder, Alte und Kranke. Die Anderen sehen in der Mörderin selbst ein Opfer, vornehmlich eines patriarchalischen Herrschafts- und Gewaltsystems, das nun aus Notwehr zur Täterin wird und somit einen (Groß-) Teil der Schuld beim männlichen Mordopfer bzw. beim Umfeld sucht. Der klassische Serienmörder ist, so die Definition, kein Beziehungstäter, er ist mobil und seine Opfer sind Fremde; wenn einem Täter mindestens drei nicht zusammenhängende Morde (also keine Verdeckungstat) zugeschrieben werden, die über einen längeren Zeitraum begangen werden, spricht man von Serientäter.10 Während bei männlichen Tätern ca. drei Jahre vergehen bis zur Verhaftung, liegt bei Frauen die Zeitdauer bis zur Aufdeckung bei rund acht Jahren: Nicht nur gelten weibliche Mörderinnen als ‚gut organisiertǥ, so eine der frühen Unterscheidungen in organisierte und nicht organisierte Serienmörder 11, die Serienmörderin wird von dem Autorenteam Kelleher auch beschrieben als „a complex individual who murders for very specific reasons. […] She is careful, precise, methodical, and quiet in committing their crimes“12 – und vergleichweise erfolgreich(er) als die meisten männlichen Täter.13 Weibliche Serienmörderinnen
10 Vgl. Thomas O’Reilly-Fleming: „The Evolution of Multiple Murder in Historical Perspectiv“, in: Ders. 1996, S. 1-38, hier S. 17-20, der hier die Definitionen der Kriminologen zusammenfasst. 11 Vgl. Robert K. Ressler/Ann W. Burgess/John E. Douglas: Sexual Homicide: Patterns and Motives, New York 1995; als organisiert gelten Serienmörder, die intelligent und planvoll handeln; sie sind entsprechend schwieriger zu überführen als der nicht organisierte Täter, der spontan mordet und ‚unkontrolliert’ seinen ‚Mordgelüsten’ folgt; natürlich sind auch dies Konstrukte, die selten in ganz reiner Form auftreten. 12 Michael D. Kelleher/C. L. Kelleher: Murder Most Rare. The Female Serial Killer, Westport/London 1998, S. 8. 13 Vgl. Stephan Harbort: „Ein Täterprofil für multiple Raubmörder“, in: Kriminalistik 1998, S. 481ff. Vgl. auch die Homepage: http://www.der-serienmoerder.de/ [letzter Zugriff am 8.8.2012] und die hier eingestellten einschlägigen Aufsätze. Der Krimina-
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unterscheiden sich in einigen Punkten deutlich von männlichen Tätern: Ihre Taten sind sehr häufig Beziehungstaten, ihre Opfer Familienmitglieder oder Personen aus ihrem beruflichen und privaten Umfeld. Harbort stellt für alle Serienmörderinnen fest, dass diese im Gegensatz zu männlichen Tätern nicht morden, um die Allmacht über einen anderen Menschen bis zum Exzess auszuüben, sondern im Gegenteil sich der über sie selbst ausgeübten Macht entziehen wollen, sie wollen durch die Tat endgültig einen Konflikt, eine massive Überforderung beenden. Er geht sogar soweit, Täterinnen, die aus Habgier handelten, mit diesem Motiv erklären zu wollen, da ja auch finanzielle Unabhängigkeit bedeute, sich aus Zwängen und Fremdbestimmung befreien zu können. Die Motive sind vielfältig; Serienmörderinnen als ‚Racheengelǥ scheinen nicht ganz so selten wie Täterinnen, die als „sexual predators“14, als sexuell motivierte ‚Beutegreiferǥ bezeichnet werden, da letztere meist als Team mit einem Mann auftreten. Doch sie haben laut Statistik in einer ca. dreijährigen Laufbahn mindestens sechs Opfer zu verantworten; man geht jedoch davon aus, dass es hier eine Dunkelziffer gibt, da man in solchen Mordfällen fast immer von einem männlichen Täter ausgeht – und Frauen gar nicht erst in den Fokus der Ermittler geraten. Serienmörderinnen mit dem Motiv der Rache15 richten ihre Taten gegen Familienmitglieder oder symbolisch gegen Institutionen.
list Stephan Harbort hat, für ein breites Publikum, das Profiling aus den USA auch in Deutschland eingeführt. 14 Vgl. Hannah Scott: The Female Serial Muderer. A Sociological Study of Homicide and the ,Gentler Sexǥ, Lewiston/Queenston/Lampeter 2005, S. 105, die hier tabellarisch die Tötungsmotive amerikanischer Serienmörderinnen von 1600 bis 2003 auflistet: Geld 41,2%, „Mental Illness“ 11,8%, „Control or Power“ knapp 11%, Thrill, Anger, Fear of Abandonment jeweils 2,9 bzw. 2%, alle anderen Motive liegen bei 1%, finden sich also jeweils einmal bei der untersuchten Gruppe von 102 Serienmörderinnen wie Hass auf Männer, Wunsch zu heiraten, Soziale Probleme, „Hass, bei anderen Glück zu sehen“, das Schreien eines Kindes stoppen etc. 15 Rache tritt als ein relativ häufiges Motiv auf, das sich auch in fiktionalen Darstellungen findet, da es nachvollziehbarer erscheint, als das scheinbar motivlose serielle Töten; nicht zuletzt in einem der bekanntesten Filme über eine Serienmörderin ist deren Motiv die Rache für den Mord an ihrem Bräutigam, infolge dessen sie alle an dieser Tat beteiligten Männer nacheinander verfolgt, verführt und ermordet – mit Jeanne Moreau als melancholische Braut in Schwarz: La mariée était en noir (François Truffaut, 1968). Im Weiteren werde ich nur noch am Rande auf Serienmörderinnen im Film eingehen, obwohl Hannibal Lecter als Filmfigur rezipiert wurde; vgl. FrauenFilmInitiative: Mörderinnen im Film, Berlin 1992, die über dreißig Filme mit mörde-
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Ihre Taten sind weniger blutig: die meisten Serienmörderinnen sind „quiet killers“: über 50% verwenden Gift, gefolgt von Ertränken oder Ersticken; weniger als 10% verwenden Schusswaffen oder Messer. 16 Ich konzentriere mich hier ausschließlich auf allein agierende Mörderinnen; während sonst fast ein Drittel ‚Team Killerǥ17 sind. So nachvollziehbar aufgrund der kriminologischen Darstellungen diese Kategorisierung von weiblichen und männlichen Serienmördern ist, so ‚mythischǥ im Sinne einer sich selbst bestätigenden ‚großenǥ Erzählung (wenn nicht einer ‚Lügeǥ) sind die generalisierenden Beschreibungen. Philip Jenkins weist in seinem kritischen Artikel „Catch Me Before I Kill More: Seriality as Modern Monstrosity“ auf diese stereotypen kriminologischen Erzählungen mit ‚mythischemǥ Gehalt hin. Gerade der Beschäftigung mit ‚Serien-Mordenǥ scheint eine Selbstbezüglichkeit und ‚serielleǥ Wiederholung implizit, die der kritischen Würdigung jedes einzelnen Mordfalles, jedes Täters, jeder Täterin im Wege steht – und den Nerv dieser (post)modernen Zeiten und der ihnen immanenten Serialität zu treffen, um zugleich in der Wiederholung der Taten das Böse an sich zu entdecken – wie dies schon der Vampir, der Werwolf, der Teufel als „mythical roles of the supernatural night-prowlers of old“18 bzw. monströse Beutegreifer (‚predatorsǥ)
rischen Frauen vorstellen – von der Auftragskillerin Nikita über die Mörderin aus Notwehr bis zur mörderischen Göttin. 1992 erregt der Thriller Basic Instinct Aufsehen, in dem Sharon Stone eine Schriftstellerin spielt, die sehr selbstbewusst und manipulativ ihre erotischen Reize einsetzt und der Morde, die sich in ihrem Umfeld ereignen, nicht überführt werden kann. 16 Vgl. Eric W. Hickey: Serial Murderers and Their Victims, Belmont/California 42006, S. 19. Vgl. Scott, S. 100. Sie listet die statistische Darstellung der Tötungsarten bei der Auswertung von 102 Serienmörderinnen in den USA aus den Jahren 1600-2003 auf: knapp 63% Vergiftung, ca. 9% Ersticken, 7% Feuerwaffen, es folgen Schläge, Strangulieren, Messer, Verhungernlassen im Bereich von 5-1%. Die folgende Tabelle (S. 101) zeigt, dass Arsen in 28,4% der Fälle das Mittel der Wahl war. 17 Vgl. Kelleher/Kelleher, S. 11. 18 Philip Jenkins: Catch Me Before I Kill More: Seriality as Modern Monstrosity, S. 117, hier S. 2. http://garnet.berkeley.edu/~caforum/volume3/pdf/jenkinsfinal1.pdf [letzter letzter Zugriff am 08.08.2012]. Dass auch die Rückkehr der Vampire synchron mit der Filmgeschichte und vor allem in den letzten dreißig Jahren zu beobachten ist, kann in diesem Kontext nicht überraschen, vgl. hier S. 10f, und erinnert an das Märchen von La belle et la bête. Auch Jenkins beruft sich auf die ikonisch-mythologische Wirkung des Serienmörders Hannibal Lecter und auf die wie gebannt den Serienmörder beobachtenden Opfer, die ‚silent lambsǥ – wir alle. Hier S. 3 und S. 13.
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in einer anonymen und unübersehbaren (urbanen) Welt verkörperten. Ohne hier ausführlich den Begriff des Mythos in diesem Kontext definieren zu wollen, zeichnet sich vor allem der populäre Mythos durch seine ‚Wiederholbarkeitǥ aus, denn er erzählt eine Geschichte, die historisch mehr oder weniger zu verorten ist, in ihrer Bedeutung aber immer wieder aktualisiert und damit wiederholt und wieder erkennbar wird und die einen anthropologischen Zugang zur Welt bietet bzw. zur Erklärung und nicht zuletzt moralisch orientierender Darstellung existentieller Ereignisse.19 Jenkins zeigt zudem auf, dass das immer wieder kolportierte Profil der Serienmörder eine Erfindung von FBI-Profilern ist: Als moralisches Konzept aus den 1980er Jahren knüpft es über seine demonstrative Rationalisierung und Wissenschaftlichkeit hinaus an archaische Muster von Monstern, Helden und Schamanen bzw. Detektiven an und zeigt das Faszinosum eines monströsen Menschen, der sich immer wieder, seriell außerhalb der Ordnung stellt: „Hannibal Lecter as an authentic criminal mastermind.“20 Bei der Darstellung von SerienmörderInnen muss also immer ein mythischer Aspekt berücksichtigt werden, dass all diese Rekonstruktionen und Ordnungsversuche und Kategorisierungen letztlich ‚fiktionaleǥ Modelle sind, in denen der/die SerienmörderIn als solche/r erst geschaffen wird; außerdem wird versucht, ihm oder ihr wenigstens ‚medialǥ bzw. auf dem Papier ‚Herrǥ zu werden, denn je mehr Beispiele von Serienmorden berücksichtigt werden, desto deutlicher wird, dass jeder Täter, jede Täterin einzigartig ist. Damit zeigt sich eine zentrale Funktion der mythisierenden Bezeichnung: Durch die Dämonisierung und ihr ambivalentes Gegenstück, die Heroisierung, wird dieser Mensch, der sich durch seine Taten außerhalb der sozialen Ordnung stellt, ausgrenzt in eine ‚andereǥ Ordnung und aus der Normalität entfernt.21 Zugleich wird ein neues, ein
19 Vgl. mein Anfang 2013 abgeschlossenes Forschungsprojekt „Von verbotener Neugier und grenzüberschreitendem Wissen. Blaubart als Daseinsmetapher und neuer Mythos“, darin das neunte Kapitel: „Dämonische Verführer, verführerische Mörder in den modernen Massenmedien“ über Werwolf, Vampir und Blaubart und ihre mediale Ikonisierung. 20 Jenkins, S. 15. 21 Vgl. Michel Foucault: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (19741975), Frankfurt a. M. 2003, der das menschliche Monster seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Mischwesen analysiert, das nicht nur gegen die Gesetze der Natur, sondern vor allem gegen die sozialen Gesetzmäßigkeiten verstößt und damit auch eine „Pathologisierung des Verbrechens“ (ebda., S. 124) einleitet, die durch die Feststellung des ‚angeborenenǥ Verbrechertums zugleich die Schuldfähigkeit des Verbrechers in Frage stellt – nicht aber den mehr oder weniger radikalen Ausschluss aus der
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mythisches Ordnungsschema durch Benennen aktualisiert und funktionalisiert, dass heißt durch die Bezeichnung als Monster, als schwarze Witwe, als Schlange, als Blaubärtin wird ein alternatives Ordnungssystem aufgerufen und dieses ‚nicht-normal-menschlicheǥ Wesen mittels der mythisierenden Bezeichnung als Mischwesen, als Tier in andere Kategorie integriert und ‚beherrschtǥ.
Z UR T YPOLOGIE DER S ERIENMÖRDERIN ALS S CHWARZE W ITWE , B LAUBÄRTIN UND M ONSTER Die Kategorie der Schwarzen Witwe – ebenso wie die des Todesengels, die Täterinnen beschreibt, die Morde an Abhängigen, zum Beispiel alten oder kranken Menschen in entsprechenden Krankenhäusern oder Altenheimen begehen – sind Bezeichnungen für Serienmörderinnen aus der Regenbogenpresse oder aus Thrillern; aber dies sind auch die ‚offiziellenǥ kriminologischen Kategorien, nach denen ein bestimmter Typ Täterinnen benannt ist: die Giftmischerin. Noch 2010 folgt der ehemalige Münchner Hauptkommissar Josef Wilfling in seinen Falldarstellungen diesem Muster, wenn er schreibt: so haben zum Beispiel Giftmorde eine lange Tradition und sind bei Frauen besonders beliebt. Aber nicht weil Frauen wesentlich raffinierter, ideenreicher und hinterhältiger wären als die einfallslosen ,Hau-drauf-Männerǥ, sondern weil Giftmorde ohne Kraftaufwand in die Tat umgesetzt werden können.22
Gesellschaft. Diese Phänomenologie findet sich nach Foucault sowohl im Schauerroman wie in zeitgenössischen kriminologischen und historischen Schriften, etwa in der Polemik gegen Ludwig XVI, was auch hier einen Diskurs über die ‚Gattungsgrenzenǥ hinweg offenbart. 22 Josef Wilfling: Abgründe. Wenn aus Menschen Mörder werden, München 2012, S. 79.
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Die schwarze Witwe (Black Widow) Die ‚schwarze Witweǥ23 ist eine intelligente, planende Täterin, die mit großer Umsicht und Geduld handelt, meist älter als 25 ist und in der Regel Ehemänner, Verlobte, Geliebte, Familienmitglieder tötet, meist mit Gift, um sie zu beerben. Der typische Zyklus ist sechs bis acht Opfer über einen Zeitraum von 10-15 Jahren – und es dauert, wie die Fälle zeigen, vergleichweise lange, bis ein Verdacht aufkommt bzw. die Täterin überführt werden kann.24 Diese mythisierende und zugleich ins Monströse ausgreifende Bezeichnung hat sich in der Kriminologie für diese Spezies der Serienmörderinnen etabliert, die vor allem ihre Ehemänner bzw. Lebensgefährten, aber auch weitere Familienmitglieder und ihre Kinder umbringen, um sie zu beerben; die Bezeichnung suggeriert eine Verführerin, eine seriell monogame Frau, die aber nicht aus romantischen, sondern aus finanziellen Interessen Partner an sich bindet, um sie dann umzubringen – oft, aber nicht immer mittels Gift.25
23 Die Schwarze Witwe gehört zu den Echten Netzspinnen aus der Familie der Kugelspinnen (Theridiidae). Sie ist sehr weit verbreitet und trägt den lat. Namen Latrodectus mactans. Bei den mit besonders starken Giften ausgestatteten Schwarzen Witwen frisst (in ca. 10% der Fälle) das Weibchen nach der Paarung das kleinere Männchen auf – und macht sich dadurch selbst zur ‚Witwe‘, vgl. Rainer F. Foelix: Biologie der Spinnen, Stuttgart 21992. 24 Vgl. Scott, S. 35-44 über „Black Widows“. Sie stellt vier Fälle aus dem englischsprachigen Raum vor: Mary Ann Cotton, Belle Gunness, Anna Maria Hahn und Vera Renczi. 25 Es gibt mehrere Filme und Thriller über Serienmörderinnen dieser Kategorie, die die ‚Schwarze Spinneǥ sensationslüstern im Titel führen: in dem deutschen Spielfilm Das Geheimnis der schwarzen Witwe (D/SP 1963, Regie: Franz Josef Gottlieb) spielen der Biss der Schwarzen Witwe sowie eine habgierige Mörderin eine tragende Rolle. Im Bann der schwarzen Witwe (Widow on the Hill; USA 2005, Regie: Peter Svatek) erzählt von einer attraktiven Frau, die fälschlich von ihren Stiefkindern des Gattenmordes bezichtigt wird; der Film soll auf der wahren Geschichte von Donna Summerville basieren; vgl. http://hamptonroads.com/2010/09/widow-loses-civil-suitstepdaughters-over-somerville-death [letzter Zugriff am 8.8.2012]. In Die schwarze Witwe (Black Widow; USA 1987, Regie: Bob Rafelson) verfolgt eine FBI-Agentin eine serielle Gattenmörderin und gerät durch eine List der Witwe selbst in Tatverdacht. Der ‚romantische Thriller‘ Im Netz der schwarzen Witwe (Köln 2012; englischer Originaltitel: Love With the Proper Stranger) von Suzanne Brockmann präsentiert den FBI-Agenten John Miller, der verdeckt gegen eine Serienmörderin, die
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Inge Weiler hat sich in ihrer Dissertation Giftmordwissen und Giftmörderinnen ausführlich mit Giftmörderinnen vom 19. Jahrhundert bis ca. 1965 befasst. Sie skizziert dabei zwei Stereotype, denen die Giftmörderinnen zugeordnet werden und die auch jeweils historische, gleichsam kanonische Vorbilder haben, denen die aktuellen Fälle in einem argumentativen Zirkelschluss zugeordnet werden: zunächst die Frau mit der „sexualpathologischen Störung“, als deren ‚Urbildǥ die Marquise von Brinvillier (1630-1676) und die Geheimrätin Ursinus (1760-1836) gelten, die jeweils als „Leidenschaftsverbrecherin und dämonische Giftmischerin“26 präsentiert werden. Der zweite Typus ist jener der „gemeine[n] Giftmischerin und tückische[n] Heuchlerin“27, die nicht ‚heißblütigǥ, sondern berechnend von Habsucht, Eitelkeit, Genusssucht und Vergiftungslust getrieben sei28 wie Gesche Gottfried, auf die ich gleich näher eingehe. Diese Klischees in der Darstellung und Bewertung der Mörderinnen halten sich seit ihrer Etablierung in den Falldarstellungen der Pitavaltradition29: diese Aktenmässige Darstellung merkwürdiger Verbrechen von Paul Anselm Feuerbach, die 1808 bis 1811 erschien, und der Neue Pitaval, 1842-1890 in 60 Bänden erschienen, präsentieren bei aller ‚authentischen Darstellungǥ durch die Juristen immer wieder massive Wertungen und mythisierende Metaphern, um die Be- und Verurteilung der kriminellen Frauen zu verdeutlichen und nehmen häufig die massenmediale In-
ihre Ehemänner tötet, ermittelt und ihr nächster Gatte werden will, um sie zu überführen. 26 Inge Weiler: Giftmordwissen und Giftmörderinnen. Eine diskursgeschichtliche Studie, Tübingen 1998, S. 337. 27 Ebda. 28 Vgl. „Gesche Margarete Gottfried“, in: Grosse Kriminalfälle. Aus dem Neuen Pitaval des Willibald Alexis. Bearbeitet, kommentiert und eingeleitet von Alfred Christoph. München 1965, S. 95-153, v.a. S. 105 und 138; dies entspricht dem Kapitel: „Gesche Margaretha Gottfried“, in: Der Neue Pitaval, Bd. 19, 1831, S. 256-359. 29 Vgl. Weiler, S. 330-354. Weiler skizziert, wie die Pitavalgeschichten in den Fünfziger und Sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Varianten neu aufgelegt und aktualisiert werden; es sind nun seltener Juristen und häufiger Schriftsteller, die spektakuläre historische und aktuelle Kriminalfälle einem breiten Publikum zugänglich machen und im Dienst einer höheren Wahrheit literarisieren. Seit den Achtziger Jahren melden sich verstärkt die Kriminologen zu Wort und beschreiben ihre eigenen heroischen Kämpfe gegen Verbrecher/innen. Großen Erfolg hat auch der Rechtsanwalt Ferdinand von Schirach mit seinen lakonischen Darstellungen von eigenartigen Kriminalfällen in Verbrechen (2009) und Schuld (2010).
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szenierung vorweg bzw. spiegeln diese als ‚Rezeptionsanweisungǥ der Fälle für die Leser. Doch nun zu vier historischen Fällen von Serienmörderinnen: Zunächst der „weibliche Blaubart“ 30 Anna Przygodda, die 1903 wegen vielfachen Gattenmordes verurteilt wurde. Sie hat die Taten nie zugegeben, doch allein die Bezeichnung als Blaubärtin, die ‚Anormalitätǥ, vier Ehemänner überlebt zu haben und mit 42 Jahren bereits in fünfter Ehe mit einem wesentlich jüngeren Mann zu leben, lässt sie als „Scheusal in weiblicher Menschengestalt“, so die Preußische Kriminalchronik hingerichteter Verbrecher31, auftreten, auch wenn im Verhör deutlich wird, dass zwei der Männer Alkoholiker bzw. krank waren. Gegen die Angeklagte wird angeführt, dass ihr von einer Wahrsagerin prophezeit worden sei, dass sie erst „mit dem siebten Ehemann ihr Dasein beschliessen
30 Die Bezeichnung ‚Blaubärtinǥ ist die weibliche Form des Blaubarts, der Titelheld des Märchens Blaubart. Der ‚Urtextǥ von Blaubart, wie ihn Charles Perrault, die Brüder Grimm und Ludwig Bechstein Ende des 17. bzw. Anfang des 19. Jahrhunderts aus der anonymen mündlichen Überlieferung festschreiben, läßt sich inhaltlich kurz wie folgt skizzieren: Ein reicher älterer Mann vornehmer Stellung mit blauem Bart hat bereits sechs Frauen geheiratet und nach kurzer Ehe überlebt. Nun sucht er eine siebte Frau. Verführt durch seinen Reichtum, seine Macht verlässt eine junge Frau ihre Familie, um Blaubart als Ehefrau auf seine Burg zu folgen. Dort lässt Blaubart sie wissen, dass sie über alle Schätze verfügen, alle Räume betreten darf. Als er verreist, überlässt er ihr die Schlüsselgewalt, gibt ihr jedoch einen kleinen goldenen Schlüssel zu einer Kammer, deren Zutritt verboten bleibt. Die junge Frau allerdings kann nicht widerstehen und betritt die verbotene Kammer. Sie findet dort die Leichen der sechs vorherigen Ehefrauen. Entsetzt lässt sie den Schlüssel fallen, der nun einen blutigen Fleck aufweist, welcher sich nicht mehr entfernen lässt. Als Blaubart zurückkehrt, weiß er nach einem Blick auf den Schlüssel sofort, was geschehen ist, und will nun auch die siebte Frau töten. Diese wird jedoch von ihren herbeieilenden Brüdern gerettet, sie töten Blaubart und seine Witwe erbt sein Vermögen. Vgl. Hartwig Suhrbier (Hg.): Blaubarts Geheimnis. Märchen, Erzählungen, Gedichte und Stücke, Frankfurt a. M./Berlin 1987; Ruth Neubauer-Petzoldt: „Blaubart – Vom Motivkomplex zur Daseinsmetapher.“, in: Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000, Band 9: Teilsektion 17c, Konzeptualisierung und Mythographie, Frankfurt a.M./Berlin/Bern, New York 2003, S. 309-316. 31 Michael Kirchschlager (Hg.): Preußische Kriminalchronik hingerichteter Verbrecher, Arnstadt 2008, das Kapitel: „Anna Przygodda – ein weiblicher Blaubart (1903)“, S. 177-203, hier S. 179.
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werde“32, so dass man also vor allem Ehemann Nr. 5 und die potentiellen Ehemänner 6 und 7 vor ihr schützen müsse. Es ist der Augenschein, der gegen sie spricht, und ein rein männliches Gericht verurteilt sie schließlich wegen dreier Morde, so dass sie in Allenstein hingerichtet wird. Als „Lady Bluebeard“33 wird auch die amerikanische Gattenmörderin Lyda Trueblood bezeichnet, die geboren 1892, 1921 verhaftet, 1943 begnadigt wurde und 1958 starb. Sie soll fünf Männer mit aus Fliegenpapier extrahiertem Arsen vergiftet haben, indem sie ‚als Spinne im Netzǥ die Männer wie die Fliegen anzog, um sie umzubringen und sich an ihrem Erbe zu bereichern. Sie steht damit in der Tradition einer der ersten Serienmörderinnen der USA, Belle Guness (1859-1902), die mindestens zehn Männer vergiftet haben soll. So lautet ein Volkslied: „Now some say Belle killed only ten and some say fourty two. It was hard to tell exactly but were quite a few.“34 Sie wird mal als Blaubärtin, mal als Schwarze Witwe bezeichnet. Knapp hundert Jahre später tritt mit dem Namen Elfriede Blausteiner eine österreichische Serienmörderin auf, die von der Presse „Schwarze Witwe“ genannt wird und sich zunächst in der Pflege alternder Männer profiliert, die sie schließlich in ihrem Testament bedenken und damit ihren Tod, durch Vergiften, besiegeln. Sie war Jahrgang 1931, wurde 1997 zu lebenslanger Haft verurteilt und starb 2003. 2001 wurde ein von ihrem Leben inspirierter Film mit dem Titel Die Gottesanbeterin (Regie: Paul Harather) gedreht, der ihr Doppelleben, als seriöse ältere Dame und als spielsüchtige Mörderin inszeniert. Hier werden also sogar zwei Tierarten herangezogen: die giftige Schwarze Witwe, die Spinne, und die Gottesanbeterin, die Fangschrecke, die während oder nach der Paarung das Männchen auffrisst. 170 Jahre zuvor, am 21. April 1831, wird in Bremen die letzte Hinrichtung vollzogen an der Giftmischerin Gesche (Gesine) Margarete Gottfried, die eine Reihe aufschlussreicher literarischer Texte inspirierte, die ich kurz diskutieren möchte, da sie deutlich zeigen, wie ein historischer Fall jeweils ganz unterschiedlich rezipiert wird. Gesche Gottfried habe mindestens 16 Menschen, darunter ihre Kinder, ihre Eltern und mehrere Ehemänner mit sog. Mäusebutter, in Schmalz gemischtem Arsen, vergiftet. 1828 wurde die damals 45jährige verhaf-
32 Ebda., S. 182. 33 William C. Anderson: Lady Bluebeard. A True Story of Love and Marriage, Death and Flypaper, Boulder 1994. So auch die Titelzeile im San Francisco Chronicle von 1921, abgebildet im Fototeil ab S. 92. 34 http://www.lyricsmania.com/bella_the_butcher_lyrics_macabre.html [letzter Zugriff am 8.8.2012].
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tet und jahrelangen Verhören unterzogen. Ihr Fall war spektakuär, da sie über Jahre hinweg auch Nachbarn und Bekannte vergiftete, auch wenn diese wegen der geringen Dosis nicht starben. 1913 schreibt der Nervenarzt Ludwig Scholz in einer „kriminalpsychologischen Studie“ über die Giftmörderin Gesche Gottfried: Der Giftmord ist, im Gegensatz zum Gewaltmord, ein weibliches Verbrechen. […] Die Ursache ist leicht zu erkennen: eine Gewalttat erfordert nicht nur seelischen Mut, sondern auch körperliche Kraft […] Der Giftmord schleicht im Dunkeln: er bedarf keiner langen Vorbereitung [außer u.U. das Gift zu besorgen], keiner physischen Anstrengung, in aller Stille überfällt er sein Opfer, womöglich unter der Maske liebevoller Fürsorge […] Mit der Heimlichkeit verlangt der Giftmord zugleich Verstellung – eine Kunst, die dem Weibe näher liegt als dem Manne.35
Zynisch bemerkt er später, dass die Täterin, die ja im häuslichen Umfeld aufräumen muss, mit einer Tat, bei der Blut fließt, sehr viel mehr Arbeit hätte. Jenseits der hier offensichtlichen Vorurteile und Vorverurteilung, lässt sich diese Argumentation auch sachlich entkräften: Nur sehr selten lassen sich Frauen angesichts der ungleichen Kräfteverhältnisse auf einen Kampf mit einem Mann ein. Später gehe ich auf einen Fall ein, in dem eine Serienmörderin ‚männlichǥ handelt und eine Schusswaffe in direkter Konfrontation benutzt – und ihr genau dies als besonders kaltblütige Handlung zum Vorwurf gemacht wird. Bei der Verurteilung von Giftmörderinnen wurde oft besonders die Heimtücke der Tat hervorgehoben. Das Verabreichen von Gift lässt die Täterin zur absoluten Herrin über Leben und Tod ihres Opfers werden, denn sie schneidet wie eine der Nornen im Hintergrund wirkend, seinen Lebensfaden ab, ohne dass das Opfer weiß, was ihm geschieht, oder sich wehren kann. Zugleich macht der Blick auf die häufigsten Opfer dieser Serienmörderinnen in ihrem familiären Umfeld deutlich, dass wohl eine massive Überforderung gerade in der Rolle, die die Gesellschaft der Frau als sorgende, mütterlich mitfühlende Person zuschreibt, dem Motiv für die Taten zugrunde liegt; aus der Perspektive der Täterin kann auch eine individuelle Umdeutung stattfinden, die den Tod für die Opfer als Erlösung betrachtet. Auffällig ist in diesem mehrfach ausführlich dokumentierten Fall, dass vor allem die ‚Fallhöheǥ der Serienmörderin faszinierte: So erschien sie zunächst ihrem Umfeld als vorbildliche Ehefrau und Mutter, fürsorgliche Stütze der Gesellschaft. So beginnt auch Alexander Bezions Darstellung mit einer positiven
35 Ludwig Scholz: Die Gesche Gottfried. Eine kriminalpsychologische Studie, Berlin 1913, S. 1.
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Beschreibung der Protagonistin, von der doch jeder Leser – wie im Mythos und durch den Titel – bereits weiß, dass es sich um eine Serienmörderin handelt: Die Witwe Gottfried war eine pausbäckige, für ihre vierzig Jahre noch recht hübsche Frau, und wunderswert erschien es, wie sie, trotz der schweren Schicksalsschläge, von denen sie betroffen, so völlig sich den frommen Glauben und ihre freundliche Gemütsart bewahrt hatte.36
Dasselbe Phänomen lässt sich in Feuerbachs Fallbeschreibung der Anna Margarethe Zwanziger, eine „deutsche Brinvilliers“37 beobachten, die zunächst als „gegen jedermann gefällig und diensteifrig“38 beschrieben wird, deren „Treue und Bravheit“39 gerühmt werden, um dann diese Eigenschaften als „Verschmitztheit, Hinterlist und Gewandtheit“40 zu enttarnen, und dieses zunächst „rätselhafte, unheilbringende Wesen“41 schließlich als „Schlange“42 zu entlarven, als „eine falsche, tückische, lügenhafte, glattzüngige, schmeichelnden Heuchlerin […] in [deren] finsteren Seele zwei Ungeheuer, giftiger Neid und grimmige Schadenfreude, zu Riesenschlangen auf[wuchsen]“43 – so die sich steigernde Metaphorik des Erzählers über diese 1811 hingerichtete Serienmörderin. Der Autor Peer Meter schließt in seiner Dokumentation nach dem Aktenstudium zum Fall Gesche Gottfried, den er im Untertitel „Eine Bremer Tragödie“ nennt und damit den sozialen Kontext mit in den Fokus rückt: Die Akten belegen vielmehr, dass es bereits Jahre vor der Verhaftung Gesche Gottfrieds immer wieder Warnungen vor dieser Frau gegeben hatte; sie belegen ferner, dass es aus ihrem Umfeld konkrete Hinweise gab, dass sie mit Gift hantiere und dass ihre Mitwelt diesen Warnungen in nachgerade unglaublicher Gleichgültigkeit gegenüberstand.44
36 Alexander Bezion (Hg.): Die Giftmischerin Gesche Margaretha Gottfried und andere berühmte Kriminalfälle aus dem neuen Pitaval und anderen Quellen, Straßburg/Leipzig 1917, S. 1-71, hier S. 1. 37 Paul Anselm Feuerbach: Merkwürdige Verbrechen. Hg. v. Cay Brockdorff, Berlin 1974, S. 369-406, hier S. 369. 38 Ebda., S. 370. 39 Ebda., S. 372. 40 Ebda., S. 375. 41 Ebda., S. 372. 42 Ebda., S. 375. 43 Ebda., S. 395. 44 Peer Meter: Gesche Gottfried. Eine Bremer Tragödie, Bremen 2012, S. 10.
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Die Gesche galt als sehr hilfsbereit und wurde auch „der Engel von Bremen“45 genannt, da sie sich zugleich rührend um die unter der Vergiftung leidenden Opfer kümmerte. Das von Voget, ihrem Verteidiger (!), entworfene Bild einer kaltberechnenden, aus Geldgier und Gewinnsucht mordenden Gesche Gottfried lässt sich nach Meter nicht aufrecht erhalten.46 Für keinen der Morde und Giftgaben in nichttödlicher Dosis findet sich ein schlüssiges Motiv. Vielmehr wird offensichtlich, dass „ihre Gesellschaft nicht akzeptieren konnte, in Gesche Gottfried eine psychisch kranke Frau zu sehen.“47 Während die Zeitgenossen die Täterin dämonisieren und sich voller Entsetzen distanzieren und das Theaterstück oder besser Spektakel Gesina, die Teufelsbraut48 verbreitet wird, scheitert der Neue Pitaval daran, in seiner Fallgeschichte die Motive der Serienmörderin zu lösen. Feuerbach geht von den bei Voget geschilderten pervertierten bürgerlichen Tugenden der Eitelkeit, Verstellungskunst und dem Aberglauben aus, die bereits den Charakter der jungen Gesche Gottfried geprägt haben sollen, und leitet daraus ab, dass sie ein entmenschtes Wesen, ein „seelenloser Kobold“, ein „hohles Scheinbild“49 sei, ein moralisches Monstrum, so dass die Nachvollziehbarkeit der Tat hier sinnlos erscheint. Ganz anders sieht dies im Gefolge der 68er Bewegung aus: So wird in dem vom Bänkelsang und von Brechts Theater inspirierten Hörspiel Die ehrsame Mörderin50 von Bernd Nesselhut deutlich, dass Gesche Gottfried aus Notwehr handelt, um den massiven Zwängen einer patriarchalischen Gesellschaft, einem trunksüchtigen Mann und der Verfügungsgewalt der Eltern, zu entkommen. In
45 So wurde Gesche Gottfried vor ihrer Entlarvung als Mörderin wegen ihrer Hilfsbereitschaft genannt bzw. auch danach, um die ‚Fallhöhe‘ dieser Gestalt zu illustrieren. „Engel von Bremen“ ist auch der Titel eines monologischen Hörspiels von Carl Geiss (Regie Ulrich Lampen), das auf Bayern 2 als Radio-Krimi am 17.8.2009 ausgestrahlt wurde. 46 Friedrich Leopold Voget: Lebensgeschichte der Giftmörderin Gesche Margarethe Gottfried, geborene Timm. Nach erfolgtem Straferkenntnisse höchster Instanz hg. von dem Defensor derselben Dr. F. L. Voget, Bremen 1831. 47 http://www.peermeter.de/6.html [letzter Zugriff am 8.8.2012]. 48 Vgl. http://www-user.uni-bremen.de/~bremhist/GescheGottfried.html [letzter Zugriff am 8.8.2012]. 49 Julius Eduard Hitzig/Willibald Alexis: Neue Pitaval, 2. Teil. Leipzig 1848, S. 256359, 1842, hier S. 351. Feuerbach distanziert sich zwar von solchen Charakterisierungen, indem er schreibt, dass frühere, vor-aufklärerische Epochen die Mörderin so bezeichnen würde, aber dennoch kann er darauf nicht verzichten. 50 Herausgegeben als Textheft von Inter Nationes, Bonn 1982.
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dieselbe Richtung zielt auch Rainer Werner Fassbinders „bürgerliches Trauerspiel“, so der Untertitel, Bremer Freiheit. Frau Gesche Gottfried von 1972. Die Heldin leidet hier derartig unter der männlich dominierten Gesellschaft, dass sie sich in die Morde als letzte Form der Selbstbestimmung rettet. 2010 hat ein Comic von Peer Meter, betitelt Gift, sich des Falls angenommen und aus der Perspektive einer Reiseschriftstellerin, die Zeugin der Stimmung vor und während der Hinrichtung Gesche Gottfrieds wird, ein Sittengemälde gezeichnet, das zeigt, mit welcher Ignoranz die Bremer Bevölkerung die Giftmischerin behandelte und welche Angst sich vor allem bei der männlichen Bevölkerung in dieser vergifteten Atmosphäre zeigte, die sich von einer Frau existentiell bedroht sah, so dass sie diese dämonisierte und schließlich beseitigte.51 Wir springen noch einmal ans Ende des 20. Jahrhunderts zu dem besonderen Beispiel eines weiblichen predators, einer Serienmörderin, deren Taten eine sexuelle Konnotation aufweisen und die als ‚Monsterǥ in die Geschichte eingeht: 1991 ist das Jahr, in dem Thelma und Louise ihren Road-Trip mit tödlichem Ausgang unternehmen, und Anthony Hopkins kongenial den mordenden Ästheten Hannibal Lecter verkörpert in der Verfilmung The Silence of the Lambs (USA 1991). Es ist das Jahr, in dem die Serienmörderin Aileen Wuornos (Jahrgang 1956) gefasst wurde; sie wurde 2002 hingerichtet; ein Jahr später wurde sie von Charlize Theron im Spielfilm Monster (USA 2003, Regie: Patty Jenkins) verkörpert. Es wurden noch drei weitere dokumentarische Filme über sie gedreht.52 Sie ist der extrem seltene Fall einer Frau, die sich als Serienmörderin ein männliches Rollenmodell anmaßt, eine Art rächender „sexual predator“. Die Dokumente, aber auch der Spielfilm, der sich, neben der mörderischen Handlung vor allem auf die Liebesgeschichte zwischen Aileen Wuornos und ihrer Lebensgefährtin Tyria More (im Film Selby) konzentriert, zeigen, dass Wuornos eine Frau ist, die sich im Leben permanent benachteiligt fühlte. Als Kind misshandelt, als Zwölfjährige vergewaltigt, arbeitet sie seit dem 13. Lebensjahr meist als Prostituierte. Sie verkörpert den typischen amerikanischen ‚white trashǥ, der am
51 Peer Meter/Barbara Yelin: Gift, Berlin 2010. 52 Der Dokumentarfilmer Nick Broomfield drehte zwei Portraits über sie: Aileen Wuornos: The Selling of a Serial Killer (1992) und Aileen: Life and Death of a Serial Killer (2003). Ebenfalls 1992 entstand unter der Regie von Jean Smart der Fernsehfilm Overkill: The Aileen Wuornos Story. Im Jahre 2001 wurde in San Francisco die Oper Wuornos aufgeführt.
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Rande der Gesellschaft ohne Perspektive dahinvegetiert. 53 In Rückblicken erzählt sie ihrer Vertrauten aus ihrer Jugend – und hier taucht der Titel in einem ganz neuen Kontext auf, während sonst „Monster“ ausschließlich auf die Serienmörderin bezogen wird: „Das Leben ist komisch. Es ist hart. Aber merkwürdig ist auch, dass die Dinge anders sein können, als man denkt. Ich weiß noch als ich klein war, da haben die vom Jugendclub ein wunderschönes großes rotgelbes Riesenrad aufgestellt, das den ganzen Nachthimmel erleuchtet hat. Sie haben es das ‚Monsterǥ genannt. Damals war das so ungefähr das coolste, was ich je gesehen hatte, und ich konnte es kaum erwarten damit zu fahren. Aber als es dann soweit war, hatte ich natürlich ǥne scheiß Angst, und mir war so schlecht, dass ich mich total vollkotzte bevor ich noch die erste Runde gedreht hatte.“54
Monster ist hier filmimmanent eine Anspielung auf die verlorenen Träume und Lebensziele der Täterin, das Riesenrad, von dem aus man die Welt übersieht, aber nicht daran teilnimmt; das spektakuläre Objekt, zu dem schließlich auch Wuornos selbst wird. Nach ihrer Verhaftung sucht sie aktiv Medienkontakte, um zu ihrem Teil an Berühmtheit zu gelangen. Im Gegensatz zum männlichen Serienmörder zielte Aileen Wuornos während der Taten nicht auf eine Inszenierung in den Medien; die zuvor genannten Serienmörderinnen agierten alle ausschließlich im Verborgenen. Nachdem Wuornos gefasst wurde, hat sie jedoch – soweit möglich – sehr wohl auch versucht, das Interesse unterschiedlicher Medien zu bedienen bzw. zu funktionalisieren, aber bei weitem nicht so erfolgreich wie etwa Ted Bundy oder Charles Manson, letzterer zeigt bei Google über 7 Mio. Treffer an; Aileen Wuornos rund 700.000; Hannibal Lecter über 4,5 Mio.55 Sieben Morde begeht Wuornos in einem Jahr (Dez. 1989 - Nov. 1990): Sie erschießt beim ersten Mord einen brutalen Freier in Notwehr, so der Film, doch sieht sie dann in dem Mord eine Möglichkeit, an Geld zu kommen, indem sie die Männer, ihre Freier oder auch einen ehemaligen Polizeibeamten, der sie nur im Auto mitnimmt, erschießt, mit mehreren Schüssen regelrecht hinrichtet und dann ihr Geld nimmt und die Dinge, die sie im Auto findet, zu verkaufen versucht. Beide Frauen wirken in ihrer lesbischen und später vor allem freundschaftlichen Beziehung einerseits glücklich, andererseits toleriert die Gesellschaft diese nicht
53 Vgl. Michael Reynolds: Ich hasse alle Männer. Die unfaßbare Geschichte einer Serienmörderin, München 1995. 54 Jenkins 2003. 55 Meinen Recherchen nach steigt die Anzahl der Zugriffe jedes Jahr um ca. 10%. [Letzter Zugriff am 8.8.2012].
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und bietet der herunter gekommen wirkenden Wuornos mit ihrem unberechenbaren, manisch-aggressiven Verhalten keine Chance, ihren Lebensunterhalt auf legale Weise zu verdienen. Es ist also weniger Habgier, als reine Not, die genährt wird von einem grundlegenden Hass auf Männer, so das Titelzitat „Ich hasse alle Männer“ der Dokumentation von Michael Reynolds. Aileen Wuornos ist der monströse Sonderfall einer lesbischen, ‚blutigǥ vorgehenden Serienmörderin. Die Geschichte des Falls zeigt, dass die Ermittler erst sehr spät überhaupt auf die Idee kommen, dass eine Frau für die Morde verantwortlich ist. Wuornos geht auch kaum planend und organisiert vor, sondern es ist eher Zufall, dass sie nicht schneller gefasst wird.
D IE M YTHISIERUNGEN DER S ERIENMÖRDERIN : B LAUBÄRTIN , S CHWARZE W ITWE UND ANDERE M ONSTER Nach Foucault ist das Monster ein Mischwesen, das nicht nur gegen die Gesetze der Natur verstößt, sondern vor allem gegen die der Gesellschaft, und damit zu einem ‚Begründungsmythosǥ der Kriminalistik mit der Figur des ‚Sittenmonstersǥ wird.56 Das Monster verstößt gegen Gesetze, gegen die Kategorie des ‚Normalenǥ – es fällt aus jeder Ordnung heraus. Aileen Wournos tut dies als lesbische Frau, als Prostituierte unter dem Existenzminimum und schließlich als Serienmörderin, die Männer erschießt. Im Falle der Schwarzen Witwen und Blaubärtinnen macht diese Bezeichnung den Verstoß gegen die gesellschaftliche, die patriarchalische Ordnung sichtbar und offenbart hier die widernatürliche, die tierische Natur der Frauen, die am heimischen Herd zu seriellen Täterinnen werden. Die Titulierung als Schwarze Witwe scheint der Doppelbödigkeit Rechnung zu tragen, nicht nur als Giftspinne, sondern auch als Witwen zu agieren, die nicht nur Schwarz tragen, sondern gewissermaßen eine ‚schwarze Seeleǥ haben. Häufig stellen die Beobachter der mörderischen Frauen überrascht fest, wie ‚normalǥ diese aussehen, denn weder sind sie überdurchschnittlich attraktiv, was ihre Anziehungskraft auf die dann umso stärker getäuschten Männer erklären würde, noch besonders hässlich, so dass die Physiognomiker sich bestätigt fühlen könnten. Sie sehen normal aus – und umso unnormaler muss dann das Wesen sein, das sich mit solchem Schein tarnt – und doch Teil der ‚Naturǥ, der Welt ist. Sander Gilman erklärt:
56 Vgl. Foucault.
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Die Monster unserer Ängste sind wir selbst. ‚Die Naturǥ scheint Modell für unser Handeln abzugeben, weil wir die Bedeutung in die Natur hineinlesen. Wir behaupten ihre Geheimnisse und ihre Gesetzmäßigkeiten zu erforschen, und wir geben ihr die Bedeutung von Gesetzmäßigkeiten, die wir erfunden haben und als natürlich bezeichnen.57
Birgit Stammberger zeigt am Schluss ihrer Studie Monster und Freaks auf, dass im 20. Jahrhundert neue Monster geboren werden, die nun „als Lösungsversprechen“ gerade in ihrer Uneindeutigkeit ein neues Potential enthalten, das am Beispiel der Serienmörder weit über eine monströse Körperlichkeit hinausgeht.58 Vielmehr wird der Serienmörder bzw. noch mehr die Serienmörderin als ‚Monsterǥ zur Verkörperung des Grenzbewohners/der Grenzbewohnerin, der/die jederzeit, von außen weder ersichtlich, noch berechenbar, jene soziale Grenze überschreitet, die die meisten Menschen eben nicht zu Mördern und schon gar nicht zu seriellen Tätern werden lässt.59 Aber genau darin liegt auch das Faszinierende, das mit dem Selbstverständnis des Menschen als eines ‚Forschersǥ und sich selbst ermächtigenden Wesens einhergeht, das permanent (Wissens-)Grenzen überschreitet, hier in einer metonymischen Verschiebung auch ‚humanitäreǥ, soziale und moralische Grenzen nicht mehr beachten will und etwas nur aus dem Grunde tut, weil der Mensch es tun kann. ‚Monströsǥ ist aber auch die Reaktion der Massenmedien, die im Wortsinn fasziniert auf das ‚Zu Zeigendeǥ, das AußerOrdentliche hinweisen und daraus ihren eigenen Gewinn ziehen. Die Mythisierung der Figur der Serienmörderin erscheint hier auch als Versuch, sich im Mythos an außerordentlichen Gesetzmäßigkeiten dieser dämonischen Figuren neu zu orientieren: Blaubart ist per se ein Serienmörder, die Schwarze Witwe hat eine ‚tierischeǥ, mörderische Natur; ob Gilles de Rais als Blaubart, Lady Trueblood als Lady Bluebeard oder Peter Kürten, der „Vampir von Düsseldorf“, oder „Hannibal the Cannibal“ – immer wieder werden reale und fiktionale Serienmörder mit mythischen Gestalten identifiziert und damit heroisiert, zu ‚Monsternǥ, zu Ikonen des Bösen transformiert. Gerade auch ein Faszinosum wie der Serienmörder, vor allem der weibliche, der so gar nicht in eine geordnete, bürgerliche Welt zu passen scheinen, bietet sich zur dämonisie-
57 Sander Gilman: „Einleitung“, in: Alexander Polzin (Hg.): Abgetrieben, Göttingen 1997, S. 7-10, hier S. 7. 58 Birgit Stammberger: Monster und Freaks. Eine Wissensgeschichte außergewöhnlicher Körper im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2010. Vgl. auch Kurt Röttgers/Monika SchmitzEmans (Hgg.): Monster, Essen 2010. 59 Vgl. Roland Bogards/Christiane Holm/Günter Oesterle (Hgg.): Monster: Zur ästhetischen Verfassung eines Grenzbewohners, Würzburg 2009.
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renden, ausgrenzenden Mythisierung als außerordentliches Individuum an. Durch ihre Identifikation mit dämonischen Figuren aus dem kollektiven Gedächtnis werden diese Täter, reale wie auch literarische, zu Spiegelfiguren, zu Projektionsfiguren, die zeitgenössische Diskurse aufgreifen und verkörpern. Sie sind mehr als „kulturelle Angstprojektionen“60, denn in einem lustvollen Schaudern werden sie vielmehr zugleich fasziniert beobachtet. Einerseits fokussiert sich in ihnen eine archaische Angst vor dem Bösen, dem Anderen, dem Tod in einer fatalen Mischung aus Verführung und Mordlust, andererseits wird diese Figur immer wieder aktualisiert und variiert. Bei den Serienmörderinnen wird dabei die Hilflosigkeit der Frauen, etwa im Fall der Gesche Gottfried, vollkommen ignoriert. Wegen des Unvermögens, die Taten zu erklären, wird nicht nur im 19. Jahrhundert dem Serienmörder häufig ein atavistisches, tierisch-bestialisches Verhalten unterstellt. Die medizinische Beurteilung der Serienmörder vor 1945 spricht von einer Pathologisierung, einer psychopathischen Anomalität, die zwischen Zurechnungsfähigkeit und erblich bedingter Unzurechnungsfähigkeit schwankt. Wenn dieses Verhalten als eine widernatürliche Veranlagung interpretiert wird, für dessen Ausleben der Täter nicht verantwortlich ist, dann muss nach der Ursache dafür gefragt werden: Ist das Verhalten genetisch bedingt oder ein Atavismus, ein Rückfall in quasi-tierisches Verhalten? Diese Diskussion wird im Hinblick auf die Schuldfrage und Verantwortung für die Tat bis in die Gegenwart geführt.61 Gerade wenn die Täterin im eigenen Haus mordet, erscheint dies umso widernatürlicher – und wenn sie wie im Falle Aileen Wuornos sich dem männlichen Muster des Serienmörders nähert, ist dies eine weitere, eine potenzierte Monstrosität. Mit Serienmördern scheint ‚das Böseǥ eine immer neue Aktualität
60 Susanne Scholz: „The Making of Jack the Ripper: Autorschaft und Serialität um 1900“, in: Susanne Komfort Heine/Susanne Scholz (Hgg): Lustmord: Medialisierung eines kulturellen Phantasmas um 1900, Frankfurt a.M. 2007, S. 21-36, hier S. 26. 61 Vgl. dazu Katrin Kompisch/Kathrin Otto/Frank Otto: Bestien des Boulevards. Die Deutschen und ihre Serienmörder, Leipzig 2003; Martin Lindner: „Der Mythos „Lustmord“. Serienmörder in der deutschen Literatur, dem Film und der bildenden Kunst zwischen 1892 und 1932“, in: Joachim Linder/Claus-Michael Ort (Hgg.): Verbrechen – Justiz – Medien. Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart, Tübingen 1999, S. 273-305; O’Reilly-Fleming, Isabella Claßen: Darstellung von Kriminalität in der deutschen Literatur, Presse und Wissenschaft 1900 bis 1930, Frankfurt a.M. 1988; Annette Keck/Ralph J. Poole (Hgg.): Serial Killers: Das Buch der blutigen Taten, Leipzig 1997; vgl. auch http://www.monstropedia.org/index.php?title=Serial_ killer [letzter Zugriff am 10.9.2009].
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zu gewinnen. Doch mit Beginn der Aufklärung verändert sich allmählich das Verständnis des ‚Bösenǥ. Nicht mehr einer außer dem Menschen liegenden Macht wie dem Teufel wird die Schuld für das Böse zugewiesen, sondern im Menschen selbst als mündigem Wesen wird der Urgrund für das Böse gesucht, was in unterschiedlichen biologistischen und anthropologischen Theorien zum Ausdruck kommt.62 Nur bei Serienmördern scheint man immer wieder auf solche atavistischen Erklärungsversuche, auf diese ‚Dämonenǥ zurückzugreifen. Das Faszinosum der männlichen Serienmörder scheint sich aus ihrer totalen Macht über einen Anderen, über dessen Leben und Tod zu speisen, indem sie moralische, soziale und biologische Grenzen überschreiten. Zum Serienmörder á la Blaubart tritt dabei die Serialität der Tat hinzu, die Verselbstständigung dieses – vom Täter wie von den gesellschaftlichen Instanzen – nicht kontrollierbaren Verhaltens, das panische Reaktionen hervorruft und zugleich als besondere Hybris erscheint, wenn der Täter keine Grenzen, Gesetze oder Tabus mehr respektiert. Diese Serienmörder und ihre mythische Überhöhung sind (jenseits ihrer realen Taten) kulturelle Konstrukte.
D IE Z IRKULATION VON M ETAPHERN UND MYTHISCHEN ‚Ü BERHÖHUNGEN ǥ IN DEN D ISKURSEN UM S ERIENMÖRDER Die Unterscheidung von realen und fiktiven Serienmördern erweist sich nicht nur durch die Inspiration der Dichter aus der Realität als eigenartig diffus, da sich beide gegenseitig beeinflussen: Zeitgenössische kriminologische Dokumente, Zeitungsartikel, literarischer und biographischer Text benutzen dieselben
62 Besonders deutlich zeigt sich dies in den Auseinandersetzungen mit dem Phänomen des Vampirismus im 17. Jahrhundert, der aus mehreren serbischen Dörfern gemeldet wird und den die Regierung mit Hilfe von Wissenschaftlern und Theologen einzudämmen versucht. Diese Auseinandersetzung mit dem Bösen kulminiert in der Konfrontation mit (seriellem) Morden und ist zugleich eingebettet in die Angst, diesen Mörder nicht an äußeren Zeichen erkennen zu können. Bereits in E.T.A. Hoffmanns kriminalistischer Erzählung Das Fräulein von Scuderi (1819/1821) erweist sich der angesehene Goldschmied René Cardillac als besessener Mörder, der sich nicht von seinen perfekten Schmuckstücken trennen kann und alle Käufer umbringt. Nahezu zeitgleich erscheint William Polidoris Erzählung des aristokratischen Lord Ruthven als The Vampyre (1819). Emile Zola stellt in La Bête Humaine (1890) den erblich belasteten Serienmörder Jacques Lantier vor.
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Begrifflichkeiten, ja es zeigt sich eine „Zirkulation von Figuren und Begriffen in kriminologischen, juristischen und literarischen Darstellungen von […] ‚Verbrechenǥ“63. Auch wenn Diskursanalysen gezielt verschiedene Genres analysieren, so ist ihr Ziel, diese in einen historischen Kontext einzubetten bzw. diskursive Veränderungen herauszuarbeiten. Aber in der Darstellung von Serienmörderinnen seit Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts ist eine frappierende Kontinuität in ihrer metaphorischen Bezeichnung als Monster, als Schwarze Witwe oder Blaubärtin zu beobachten. Von Anfang an sind eine suggestive Verbindung zwischen realem Serienmörder, mythischer Überhöhung und literarischer Ausgestaltung und eine sich gegenseitig anregende Beeinflussung der Diskurse angelegt. Die zeitlose Metapher eines mörderischen Doppellebens erschuf Robert Louis Stevenson mit seiner Erzählung The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde von 1886. Hier wird der dämonisch-mörderische Mr. Hyde beschrieben als „hardly human“, als „troglodytic“ mit einem bestialischen Lachen und von wilder, unbeherrschter Grausamkeit.64 Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zeichnet sich bereits ab, dass vor allem von Künstlern wie George Grosz oder Otto Dix, aber auch Alfred Döblin (Jack der Bauchaufschlitzer, 1928) oder Robert Musil (mit dem Serienmörder Mossbrugger im Mann ohne Eigenschaften, 1930/31), der Serienmörder als Faszinosum wahrgenommen wird.65 Im Kontext einer eklektizistischen Philosophie wie dem Vitalismus und einer populären Nietzsche-Rezeption erschien der Serienmörder als ein ‚Übermenschǥ, der sich außerhalb der Gesellschaft nur seinen eigenen Gesetzen verpflichtet fühlte, der zeitgenössischen Kultur distanziert und skeptisch gegenüber stand und eine Art Rückkehr zur ‚Naturǥ und dem Recht des Stärksten forderte. Als dämonischer Verführer erscheint der Serienmörder hier
63 In seiner Untersuchung konzentriert sich Stefan Andriopoulos auf die Diskurse um 1900: „Die Zirkulation von Figuren und Begriffen in kriminologischen, juristischen und literarischen Darstellungen von ‚Unfallǥ und ‚Verbrechenǥ“, in: Internationales Archiv für Sozialgeshcichte der deutschen Literatur, 21. Bd. 1996, 2. Heft, S. 113142. Er knüpft direkt an die Forschungsergebnisse von Jörg Schönert (Hg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von Narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920, Tübingen 1991, an. 64 Robert Louis Stevenson: The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde. Hg. v. Martin A. Danahay, Peterborough 1999, S. 42. 65 Vgl. Maria Tatar: Lustmord: Sexual Murder in Weimar Germany, Princeton N.J. 1995; Hania Siebenpfeiffer: Böse Lust: Gewaltverbrechen in Diskursen der Weimarer Republik, Köln u.a. 2005.
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wie ein radikaler Individualist, der in den mythischen Überhöhungen als ambivalente Figur zwischen der Bestie, dem bösartigen Tier und dem Übermenschen, dem Heros der Grenzüberschreitung changiert. Dieses Phänomen lässt sich ab etwa 1900, seit den Anfängen des Serienmörder-Diskurses, beobachten und hält bis in die Gegenwart an. So hat das FBI, als es um 1980 anfing, sich systematisch mit Serienmördern zu befassen und eine entsprechende Datenbank zum Profiling aufzubauen, sich vor allem auf literarische, also fiktionale Charakterisierungen von Serienmördern bezogen: Hitchcocks Psycho dient als Beispiel für die Rolle der Mutter in der Entwicklung eines Serienkillers, aber auch Robert Harrisǥ The Silence of the Lambs wird als Beleg erwähnt.66 In den autobiographischen Erlebnisberichten von Kriminalisten wird, um den Verkauf zu fördern, eine irritierende Mischung aus Realität und Fiktion hergestellt, wenn etwa Stephan Harbort sich nicht auf die von ihm vorgestellten realen Serienmörder beschränkt, sondern seine Publikationen betitelt: Das HannibalSyndrom. Phänomen Serienmord oder wenn Robert Ressler, einer der Begründer des Profiling, schreibt: Ich jagte Hannibal Lecter. In ähnlicher Weise werden die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion bei der Mythisierung der Täter überschritten, als sei eine sachlich neutrale Beschreibung der mörderischen Taten und Charaktere unmöglich, ja unangemessen.67
66 Joachim Linder analysiert ausführlich eine Dokumentation von Ernst August Zurborn, Die Mörder der Herrn Müller, die die Entstehung des Profiling, die Rekonstruktion der Phantasie, Gefühlswelt und Selbstinszenierung von Sereinkillern vorstellt: Joachim Linder: „Der Serienkiller als Kunstproduzent. Zu den populären Repräsentationen multipler Tötungen“, in: Frank J. Roberts/Alexandra Thomas (Hgg.): Serienmord: Kriminologische und kulturwissenschaftliche Skizzierungen eines ungeheuerlichen Phänomens, München 2004, S. 461-488, hier S. 483. 67 Es werden (Film-!)Bilder aus dem kulturellen Gedächtnis aufgerufen, die einen mythischen Echoraum eröffnen, der das archaisch Böse anschaulich macht: So vergleicht Ressler die Augen des Serienmörders Richard Chase mit denen des weißen Hais, der Bestie aus dem Horrorfilm, und verbindet seinen subjektiven Eindruck mit einem ‚objektivenǥ Zeichen des Bösen, das der (Aber-)Glaube seit Jahrhunderten transportiert: „Ich werde sie [die Augen] nie vergessen können. Sie glichen denen des Hais in dem Film Der weiße Hai – keine Pupillen, sondern nur schwarze Flecken. Der Mann hatte einen bösen Blick.“ Robert K. Ressler/Tom Schachtmann (Hgg.): Ich jagte Hannibal Lecter: Die Geschichte eines Agenten, der zwanzig Jahre lang Serienmörder zur Strecke brachte, München 1993, S. 29. Vgl. Alexandra Thomas: Der Täter als Erzähler: Serienmord als semiotisches Konstrukt, Münster/Hamburg/London 2003, S.70.
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Die Banalität des Bösen ist gerade auch in der Konfrontation mit Serienmörderinnen offensichtlich und für die nach spektakulären Bildern und Schlagzeilen gierende Presse eine Einladung, durch entsprechende Interpretationen das Bild zu ‚korrigierenǥ, also zu dämonisieren, zu entmenschlichen.
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Jenseits der kriminologischen Unterscheidungen von männlichen und weiblichen Serienkillern, reagieren die Medien in ihren Inszenierungen weit weniger ausgewogen und legen rigide Geschlechterrollen und relativ klare, traditionelle Genderkonzepte zugrunde, bei denen Abweichungen zwar auch als Faszinosum, bei Frauen jedoch in der Regel als monströs, als ‚unnatürlichǥ, ja gegen die menschliche Norm verstoßend wahrgenommen werden. Wäre also ein weiblicher Hannibal Lecter denkbar, eine Serienmörderin, deren Taten als Konsequenz eines zwar psychopathologischen, aber in sich konsistenten Charakters akzeptiert, ja sogar bewundert würden? Gibt es einen weiblichen ‚Übermenschǥ, der sich völlig außerhalb der sozialen Ordnung stellen und bestehen kann? Ich habe mich bei den Serienmörderinnen bisher nur auf historische, auf reale Personen bezogen, während bei meiner generellen Ausführung auch fiktive und reale männlichen Täter herangezogen wurden. Im Folgenden sollen die Darstellungen historischer Serienmörderinnen nun um ihre fiktionalen Kolleginnen erweitert werden, die hier ein grausiges Experimentierfeld auszuloten versuchen. Als eine der ersten fiktionalen Serienmörderinnen gilt die Titelfigur in Mary Elizabeth Braddons Roman Lady Audleys Secret von 1862, in dem eine Lichtgestalt von junger Ehefrau als Bigamistin und wahnsinnige Mörderin entlarvt wird – allerdings nicht im strengeren Sinne als Serienmörderin, denn nach dem Mord an ihrem ersten Ehemann (der zum Schluss für das happy end überraschend doch wieder lebendig auftaucht) sind die weiteren (zum Teil versuchten) Morde Vertuschungstaten. Aber dennoch ist hier schon eines der Grundmuster zu beobachten, indem die große Fallhöhe des „angel in the house“68 zum mörderischen Monster illustriert wird. Die Gesellschaft und die beteiligten Personen entlasten sich von weiteren Erklärungsversuchen, indem die mordende Frau als krank, als wahnsinnig bezeichnet und damit außerhalb der Normalität gestellt und patholo68 So der Topos der idealen Ehefrau des Viktorianismus, der auf das so betitelte Gedicht von Coventry Patmore aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zurückgeht.
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gisiert wird – sie selbst bezeichnet sich als ‚crazyǥ und der hinzu gezogene Arzt attestiert eine „latent insanity“. Lucy Audley stirbt schließlich im Ausland. Der Roman orientierte sich übrigens an dem Constance Kent-Fall, der im Juni 1860 über Monate die Medien beschäftigte. Der Herausgeber des Neuen Pitaval, G. W. H. Häring, hat unter seinem bekannteren Schriftsteller-Pseudonym Willibald Alexis in dem großen Gesellschaftsroman Ruhe ist die erste Bügerpflicht (1852) die Figur der Giftmörderin Geheimrätin Lupinus in den Mittelpunkt einer psychologischen Studie gestellt. Die Handlung findet in Berlin 1803-1806 statt und spielt kaum verschlüsselt auf Sophie Charlotte Elisabeth Ursinus an: Aus der Bärin wird im Roman eine Wölfin. Der Roman zeigt einen zutiefst an seiner Rolle als Frau zweifelnden, nach außen etablierten und souveränen, aber innerlich zerrissenen, von einem „Dämon in ihr“69 getriebenen Charakter. Sie bringt zuerst den kränklichen Kutscher Johann um, den sie – wie sich selbst – als „eine verfehlte Existenz“70 wahrnimmt. Als ihre Spiegelfigur – und Vorläufer eines Hannibal Lecter – tritt der Mediziner (!) Legationsrat von Wandel auf, ein Frauenverführer und, wie der Name sagt, sehr anpassungsfähiger und absolut kaltblütiger, manipulativer und berechnender Sympathieträger und „Tausendkünstler“71. Da er aber „kein Blut sehen“72 kann, greift auch er bei Bedarf zu Gift, und er vergleicht sich in seiner Hybris mit „Goethes Mephistopheles“73. Seine Verbrechen relativiert er geschickt: „die großen Verbrecher kommen in die Geschichtsbücher und wir kleinen irgendwo in ein Kriminalregister“74 – und manche werden zu ‚Heldenǥ. Hinweise auf weitere extreme Ausformung der literarischen Serienmörderin finden sich in folgenden neueren Romanen: Joy Fielding präsentiert in ihrem Roman Nur der Tod kann dich retten75 die 17-jährige Delilah, ein dickes, vielfach unterschätztes Mädchen, das von anderen Schülern und vor allem Schülerinnen ihrer Highschool in der Kleinstadt Torrance in South Florida gemobbt wird, mit einer grausam zynischen Großmutter und einer mehrfach schönheitsoperierten Mutter. Delilah rächt sich schließlich, indem sie ihre Peinigerinnen entführt und umbringt. Parallel zu den Ermittlungen erfahren wir aus dem Tage-
69 Willibald Alexis: Ruhe ist die erste Bügerpflicht (1852); ich zitiere nach der Ausgabe Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1985, vier Bücher in einem Band: 4. Buch, S. 45. 70 Ebda., 1. Buch, S. 31. 71 Ebda., 5. Buch S. 475. 72 Ebda., 4. Buch S. 67. 73 Ebda., 5. Buch S. 368. 74 Ebda., S. 505. 75 München 2007; orig.: Heartstopper, New York 2007.
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buch, dem „Totenbuch“, der Täterin, die erst auf den letzten Seiten ihre Identität enthüllt, wie sie ihre Taten akribisch plant, sich auf Vorläufer und mediale Inszenierungen von Serienmördern bezieht, von Hitchcock-Filmen bis zu populären Ratesendungen (denn Leser wie Detektiv sind hier die ‚Ratendenǥ). So spielt sie auch mit den Lesern, wenn es heißt: „Bleiben Sie dran, wie es heißt. Ich bin bald zurück“76 und der letzte Satz lautet: „Bleiben Sie dran.“77 – ein schöner Schluss für eine serielle Täterin … Hier wie in der Darstellung einer japanischen Serienmörderin in Matsuo Kirinos Roman Teufelskind78, die sich für alle in einem Waisenhaus erlittenen Kränkungen als Tochter einer Prostituierten mit mörderischer Brandstiftung rächt, liegen dem Tatmotiv schwere Kränkungen der jungen Frauen zugrunde, die sich nun an ihren – oft völlig gedankenlos handelnden – Peinigern und Peinigerinnen rächen. Weitere Beispiele für besonders grausam und blutig agierende Serienmörderinnen in der Kriminalliteratur sind: Stuart Mac Brides Roman Flesh House79, deren Täter sich als Kannibale betätigt, um ‚Reinheitǥ durch den Verzehr von Menschenfleisch zu erreichen; es stellt sich erst zum Schluss eine traumatisierte junge Frau als die Serienmörderin heraus, die sich unter anderem Hannibal ‚the Cannibalǥ Lecter zum Vorbild genommen hatte. Thea Dorns ‚feministischerǥ Roman um eine Serienmörderin stellt in Die Hirnkönigin die Tat in einen intertextuellen Echoraum: Die ‚Kopfgeburtǥ, die Tochter eines Professors, mit dem sprechenden Namen Nike, verselbstständigt sich und lebt ihre sexuell konnotierten mythischen Gewaltphantasien an älteren Männern als antikisierende ‚Opfermordeǥ aus, wobei sich als Mordmotive die Rache an ihrem ‚allmächtigenǥ Vater für sexuelle Übergriffe, Traumatisierungen und Wahnsinn kaum unterscheiden lassen. Die Innenperspektive der Täterin ist in den kursivierten Passagen des Textes in die Handlung eingeschoben – und verhüllt doch bis zum Schluss ihre Identität, wie es dem Reglement des Who done it-Krimis entspricht. Die literarisch kommentierten und intertextuell aufgeladenen Inszenierungen der Morde sollen sich aber gerade von den tradierten mörderischen Männerphantasien á la Medea, Penthesilea oder Salome unterscheiden; dies intendiert bereits die in der Diskussion der ermittelnden Journalistin Kyra mit ihrem Kollegen formulierte Frage nach einer „Fritzi Haarmann“,
76 Fielding, S. 20. 77 Ebda., S. 478. 78 München 2008; japan. Original „I’ m sorry, mama“, Tokio 2004. 79 Stuart Mac Bride: Flesh House, London 2008 (deutsch: Blut und Knochen, München 2009).
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nach der weiblichen Version der Serienmörder und ihrer medialen Wahrnehmung, denn „eine wirklich gewalttätige Frau, eine Frau, die durch und durch skrupellos, böse ist, würde diese Gesellschaft heftiger erschüttern als alle Revolutionen.“80 Ähnlich intertextuell vielstimmig ist Lilian Faschinger Roman Magdalena Sünderin (1997) um eine männermordende ‚Blaubärtinǥ angelegt: Wie eine neue Scheherazade tritt die Erzählerin auf und beichtet dem von ihr entführten österreichischen Pfarrer, aus dessen Perspektive als Ich-Erzähler berichtet wird, ihre vergeblichen Versuche, quer durch Europa eine Liebesbeziehung zu einem Mann einzugehen. Magdalena kommt in der direkten Wiedergabe ihrer Reden zu Wort und inszeniert sich theatralisch in verschiedenen Rollen nach ihren eigenen Spielregeln vor einem Publikum, denn „ohne ein Publikum ist jede Handlung von vornherein nichtig, das wahrnehmende Publikum [Pfarrer und LeserInnen] ist der Beweis handelnder Existenz“81. In den Rollen der „Männermörderin“82 als die bessere Alternative zur Verrückten bzw. zum Opfer muss sie diesen „männlichen Archetyp“83, wie sie ‚den Friesenǥ nennt, schließlich in Notwehr töten; der zweite Mord trifft Igor aus Paris: „Am Anfang steht die Sucht nach Liebe, am Ende steht der Wunsch nach Vernichtung des ehemaligen Liebes- und nunmehrigen Hassobjektes.“84 Der Tänzer Pablo wird vergiftet, Jonathan erstochen, der Baron bei sadomasochistischen Spielen erdrosselt; Michael, ein Zeuge Jehovas, wird erschossen und der siebte Mann, Karl, in einem „unkonditionierten Reflex“85 in die Tiefe gestoßen. Sie tritt als Femme fatale, als mädchenhafte Unschuld, als Vampirin auf, sucht selbstlos nach Liebe und wird doch immer wieder zur Erfüllungsgehilfin männlicher Projektionen auf die Frau, von denen sie sich dann gewaltsam befreit, da die Männer ihren Besitz, die Frau, nicht loslassen wollen. Immer wieder übertreten die Männer dabei die Grenzen, die Magdalena – wie Blaubart – setzt und werden dafür mit dem Tod bestraft. Die Morde sind zugleich Befreiung, nur um sofort die Serie fortzusetzen. In ihren Monologen rechnet sie satirisch mit der Bigotterie der österreichischen Gesellschaft ab, mit den veralteten, patriarchali-
80 Thea Dorn: Die Hirnkönigin, Hamburg 42000 [1999], S. 23, Kursivierung von T. Dorn. Diesem Roman widmet sich Irina Gradinari im vorliegenden Band, so dass ich hier auf weitere Ausführungen verzichte. 81 Lilian Faschinger: Magdalena Sünderin, München 1997, S. 14. 82 Ebda., S. 42. 83 Ebda., S. 77. 84 Ebda., S. 127. 85 Ebda., S. 350.
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schen Männer- und Frauenbilder, die die Frauen zu Passivität und Gehorsam verdammen und bis zur Selbstauslöschung vereinnahmen. Magdalena sucht Erlösung: Zunächst vergeblich in den Liebesbeziehungen und dann in der Lebensbeichte, dem Gespräch bzw. Monolog der Selbstvergewisserung und -reflexion. Diese serielle Frauenmörderin handelt immer aus Notwehr: „Ich habe mich zu dieser schwerwiegenden Maßnahme entschlossen, weil ich sonst den Tod gefunden hätte“86 angesichts „der Ungeheuer […], die in österreichischen Herzkammern hausen.“87 In der Thriller-Literatur ist die Serienmörderin ähnlich selten wie in der Realität, doch hat sich die amerikanische Autorin Chelsea Cain bemüht, eine weibliche Serienmörderin zu erfinden, die es an Intelligenz, Eleganz, Raffinesse und sadistischen Allmachtsansprüchen mit Hannibal Lecter aufnehmen kann und den ermittelnden Detektiv in ein emotionales Abhängigkeitsverhältnis manövriert: Gretchen Lowell aus ihrer Trilogie Furie (englisch: Heartsick, 2007), Grazie (engl. Sweetheart, 2008) und Gretchen (2010)88, die in Dutzende von Sprachen übersetzt und in den USA Bestseller wurden. Immer wieder lässt sie Männer, die ihr sexuell hörig sind, für sie morden – und erschwert damit die Arbeit der Ermittler, und wird dann sogar als forensische Beraterin bei diesen Fällen hinzugezogen. All diese Figuren finden ihre LeserInnen, aber sie sind nicht annähernd so bekannt wie Hannibal Lecter, der inzwischen eine Figur des kollektiven Gedächtnisses ist. Auch wenn man Gretchen noch zehn Jahre gibt und die Verfilmung dazu nähme, wird eine fiktionale Serienmörderin wohl nicht dieselbe Wirkung haben.
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Mit einem weiblichen Hannibal Lecter ist wohl nicht zu rechnen – die realen Serienmörderinnen sind keine vergleichbaren Ikonen der Medien; was bei männlichen Killern als verwegen und in bzw. trotz ihrer Brutalität faszinierend wirken mag auf das Publikum, kann nicht auf Frauen appliziert werden, an die andere
86 Ebda., S. 94. 87 Ebda., S. 36. 88 Auf der Homepage der Autorin findet man ein Psychogramm der Serienmörderin: http://www.chelsea-cain.de/gretchen-lowell-ein-psychogramm.html [letzter Zugriff am 15.07.2012]. Inzwischen, August 2012, liegen zwei weitere Bände der Serie vor.
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Erwartungen gerichtet werden, und die sich mit anderen Bildern bzw. Ikonen messen müssen: dies ist auch ästhetisch – eine schwierige Kategorie – problematisch: keine Serienmörderin entspricht dem Klischee der (Männer vernichtenden) Femme fatale; die Medien bezeichnen die Serienmörderin nicht als Medea oder als Salome, als Megäre oder Amazone, sondern als Schwarze Witwe oder Blaubärtin, als Monster. Der absolute und rücksichtslose Machtanspruch eines Individuums, das vor Mord nicht zurückschreckt, ist immer noch kaum mit einem Frauenbild in Einklang zu bringen und eben auch nicht im Profil der Serienmörderin zu finden, das in den Massenmedien und in der Kriminalistik oder in der Literatur gezeigt wird. Die schöne, gebildete, sadistische Gretchen Lowell ist ein Faszinosum (die sicher auch verfilmt werden wird), aber sie wird kaum die Fangemeinde finden und eine solche Norm als Serienmörderin setzen können, wie dies der charmante Intellektuelle und mörderische Ästhet Hannibal Lecter tat und tut. Beim Überblick über die hier vorgestellten Serienmörderinnen sind zwei Beobachtungen auffällig: zum einen die Kontinuität, in der die Zuweisungen über mehr als zweihundert Jahre auf dieselbe Weise vorgenommen werden und dass die zirkuläre Einspeisung in die verschiedenen Diskurse, forensisch/medizinisch, populär, literarisch, belletristisch, Pitaval-Tradition der Falldarstellungen aus dem 19. Jahrhundert bzw. dem beginnenden 20. Jahrhundert sich bis in die Gegenwart fortsetzen – ja auch dieser Beitrag letztlich trotz kritischer Distanz zu einer mythisierenden Fortschreibung beiträgt. So scheinen die Fälle von Frauen als Serienmörderin in der Realität weitgehend konstant zu bleiben, bei einem geschlechtsspezifischen Anteil von ca. 10%, so wie bei nahezu allen Tötungsdelikten. Aber die literarischen Serienmörderinnen nehmen zu, ja verschiedene Varianten und Extreme scheinen literarisch ‚durchgespieltǥ zu werden. Literatur und Internet befassen sich kritisch bis begeistert mit dem Phänomen des Serienkillers und auch – allerdings marginaler – mit dem der Serienmörderin, nicht zuletzt deshalb, weil es deutlich weniger Protagonistinnen gibt, diese dann aber umso spektakulärer wirken. Mit einer Verabsolutierung des Individuums in den westlichen Gesellschaften und einer zunehmend hedonistischen und narzisstischen Grundhaltung scheinen Figuren wie Hannibal Lecter nicht mehr nur Abscheu und Grauen zu erregen, sondern zunehmend als Faszinosum betrachtet zu werden, als ein monstre sacré im mehrfachen Sinne, als monströses, ‚außerordentlichesǥ und zugleich ‚überhöhtesǥ Wesen, als bewunderter ‚Superstarǥ und (Anti-)Held.
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Lady Snowblood (Shurayukihime, ಟ⨶㞷ጲ ) und Lone Wolf and Cub (Kozure Ôkami, Ꮚ㐃僲⊋ ) Ein Vergleich zwischen weiblicher und männlicher Rache im Manga und in der Filmadaption A NDREAS B ECKER
Die Frage nach den Motiven von Morden führt oft auf das vormoderne Konzept der Rache. Wer sich rächt, möchte das Leid, das ihm selbst oder anderen angetan wurde, durch eigenmächtige Bestrafung der Täter vergelten. Nicht der Staat führt die Bestrafung aus, sondern der, dem das Leid angetan wurde bzw. der vom Leid mitbetroffen ist. Die Rache ist eine archaische Form des Rechts, die zwar in modernen Gesellschaften durch die auf Gesetzestexten basierende Judikative und die Exekutive ersetzt wurde, die aber in sämtlichen Medien, insbesondere im Film und im Manga ein ganz wesentliches Narrativ bleibt. Dies mag daran liegen, dass die narrative Darstellung einer Veräußerlichung bedarf. Vielleicht liegt es auch daran, dass die moderne Form der von Bürokratien ausgeführten Bestrafung zu abstrakt ist, um in Form von Handlungen dargestellt werden zu können. Vielleicht aber haben auch vormoderne Konzepte in der Moderne Bestand, werden jedoch nur unterdrückt und suchen sich in fiktiven Welten ihr Refugium. Hier wird dem erlittenen Unrecht weiterhin in dieser Form der konkreten Bestrafung nach dem Talionsprinzip Auge um Auge, Zahn um Zahn geantwortet.1
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Bei dieser Art von Gewalt kommt es unweigerlich zur Eskalation bzw. zu Folgetaten, da keine noch so ‚begründete‘ und bemessene neue Gewalt die alte sühnt, sondern stattdessen nur neues Leid in die Welt bringt. Der Strafrechtler Axel Montenbruck schreibt dazu: „Für den Mord etwa führt uns das Prinzip der Wiedervergeltung in ein
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Ich möchte im Folgenden die Frage nach der weiblichen bzw. der männlichen Rache durch einen Vergleich zwischen zwei Manga-Bilderzählungen und deren filmischer Umsetzung stellen. Untersuchungsgegenstände sind die berühmten Manga Lady Snowblood (Shurayukihime, ಟ⨶㞷ጲ) und Lone Wolf and Cub (Kozure Ôkami, Ꮚ㐃僲⊋). Beide erschienen Anfang der siebziger Jahre, bei beiden schrieb Kazuo Koike (ᑠụ୍ኵ) den Text. Und beide Manga wurden wenig später verfilmt. Lady Snowblood erschien zuerst zwischen Februar 1972 und Februar 1973 als Serie im japanischen ‚Männermagazin‘ Weekly Playboy (shûkan pureiboi, 㐌ห儻児儈兀兠儈), in Konkurrenz zur Serie Lone Wolf and Cub stehend, die bereits seit September 1970 im Magazin Manga Action (manga akushon, ₔ⏬儆儓儛克 兗) gedruckt wurde und dort bis April 1976 zu lesen war.2 Lady
weiteres Dilemma: Zu fragen ist, wie denn das Opfer wiedervergelten kann, dass der Täter getötet hat. Lautet die Antwort: ‚dann dürfen stellvertretend seine Angehörigen handeln‘, führt dies zur ewigen ‚Blutrache‘, zur Urfehde, und zwar zwischen verschiedenen Familien (Sippen, Clans), nicht mehr zwischen ihm und mir.“ (Axel Montenbruck: Strafrechtsphilosophie (1995-2010). Vergeltung, Strafzeit, Sündenbock, Menschenrechtsstrafe, Berlin 2010, Internet-Dok. http://edocs.fu-berlin.de/docs/servlets/MCRFileNodeServlet/FUDOCS_derivate_000000001193/Strafrechtsphilosophie,_2._ Aufl.pdf;jsessionid=4F09370B63369E1DE41AD7713F46834E?hosts= [letzter Zugriff am 12.10.2012], S. 18). Die beiden Manga variieren diese – im Westen meistens individuell – aufgefasste Idee der Blutrache (Vendetta), indem sie die Kinder das den Eltern erlittene Unrecht sühnen lassen. In der Bergpredigt antwortet Jesus dem Prinzip Auge um Auge, Zahn um Zahn mit der Formel: „Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei. Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will.“ (Mt. 5, 38-42, zit. aus Luther 1985, 8). Diese Art von Verinnerlichung erlittener Gewalt hat das Ziel, die Dynamik der einander erwidernden Bestrafungen zu durchbrechen. Johann Wolfgang Goethe wendet das Prinzip in seinem Gedicht Wie du mir, so ich dir positiv um: „Mann mit zugeknöpften Taschen, / Dir tut Niemand was zu lieb‘: / Hand wird nur von Hand gewaschen; / Wenn du nehmen willst, so gib!“ (Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Gedichte, Frankfurt a.M. 2007, S. 336). Diese Form des Verhaltens ist allerdings weniger spektakulär als die im Folgenden Beschriebene. 2
Zu den Publikationsdaten bei Lady Snowblood siehe http://www.animenewsnetwork.com/encyclopedia/manga.php?id=3387 [letzter Zugriff am 1.10.2012] sowie die
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Snowblood ist – ähnlich wie die aus dem Videospiel Lara Croft bekannte Figur – ein „fiktionales Konstrukt“3, genau wie Lone Wolf and Cub. Beide Figuren sind imaginative Zerrbilder des anderen bzw. eigenen Geschlechts, durchdrungen von Wünschen, Phantasien, Aggressionen und Klischees. Anders als im Westen üblich zensiert oder separiert man in Japan diese imaginären Welten nicht, man drängt sie nicht ins ‚Unbewusste‘, intellektualisiert sie nicht wie im Groschenroman, sondern verleiht ihnen eine ästhetische und höchst artifizielle, streng codierte Form der Bilderzählung. Die Phantasien schlummern nicht im Ausdruckslosen, sondern bekommen eine äußerlich gespiegelte, graphische Form, sind Seite für Seite auffassbar. Die oft schematisch und klischeehaft wirkende freizügige Darstellung der Lady Snowblood intermittiert künstlerisch anspruchsvolle Kompositionen. Interessant ist, wie die Manga die zeichnerischen Phantasien ordnen und strukturieren. Jede Manga-Figur ist nur eine Schablone für die Phantasie, weshalb es schwer fällt, den Leser als gewöhnlichen Voyeur zu beschreiben. Dieser nimmt zunächst nur Linien wahr, nicht wie im Film Menschen. Erst in der produktiven Anschauung, der Phantasie, werden die Striche zu Menschen komplettiert4. Manga halten der Leserschaft den Spiegel vor, überfordern sie. Sie folgen nicht nur den Klischees, sondern sie wissen um diese, reflektieren und brechen sie spielerisch. Anders als in der Illusionswelt des Realfilms ist die des Mangas stets durch eine aktive Imaginationsleistung zustande gebracht. Diese notwendige Distanz der Leser gegenüber dem Dargestellten ermöglicht intradiegetische Tabubrüche, Ungezügeltheit sowie Erotik, Gewalt, weil die Manga-Welt als eine von Realwelt separierte erscheint. Ich möchte zunächst den Rachegeschichten dieser Welten folgen, um anschließend deren ästhetische Strukur zu vergleichen.
Homepage von Kazuo Kamimura http://www.kamimurakazuo.com/works/index.html [letzter Zugriff am 1.10.2012]. Zu Kozure Ôkami siehe http://www.animenewsnetwork.com/encyclopedia/manga.php?id=1329 [letzter Zugriff am 1.10.2012]. 3
Astrid Deuber-Mankowsky: Lara Croft – Modell, Medium, Cyberheldin, digit. Ausga-
4
Siehe dazu auch Andreas Becker: „Eikonische Phantasie. Edmund Husserls Phänome-
be, Frankfurt a.M. 2001, S. 37. nologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen“, in: Holling, Eva/Naumann, Matthias/Schlöffel, Frank (Hgg.): Nebulosa – Zeitschrift für Sichtbarkeit und Sozialität, Wahrnehmung und Erscheinen, Heft 1. Berlin 2012b, S. 34-43.
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D ER M ANGA L ADY S NOWBLOOD (S HURAYUKIHIME ) Der Name Shurayukihime (ಟ⨶㞷ጲ) kann als eine Anspielung auf das Grimm’sche Märchen Schneewittchen verstanden werden, auf japanisch Shirayukihime (ⓑ㞷ጲ), wörtlich Prinzessin weißer Schnee. Verfolgt man die Symbolik des Schnees und des Blutes, könnte man hierzu auch einige Bezüge herstellen. Lafcadio Hearn hat in Kwaidan, einer Sammlung japanischer Gespenstergeschichten, die Erzählung Yuki-Onna aufgenommen, wörtlich ‚Schneefrau‘5. Diese wird als „Vision der weissen Frau“ beschrieben, die aber Menschen tötet – und sich am Ende der Geschichte in einen „leuchtend weissen Nebel“ auflöst, zum Dachbalken emporkreiselt und „zum Rauchabzug“ hinausflattert. Sie „ließ sich nie mehr sehen“, heißt es am Ende der Geschichte.6 Shurayukihime lässt sich als eine Mischung aus diesen vorhandenen Erzählungen verstehen. Im Buddhismus ist shuradô (ಟ⨶㐨) auch eine der sechs Welten, in die die Lebewesen mit schlechtem Karma wiedergeboren werden, es ist die Welt der endlosen Kämpfe. Shura (ಟ⨶), indisch Asura, gilt in der indischen Mythologie als ein Krieg liebender Dämon.7 Die Geschichte der Lady Snowblood spielt in der Meiji-Zeit (1868-1912), in den Jahren nach 1870. Der Manga nimmt immer wieder Bezug auf zeithistorische bzw. als zeithistorisch behauptete Gegebenheiten, die in Exkursen erörtert bzw. erfunden werden. Ausgangspunkt der Erzählhandlung sind gewalttätige Proteste gegen die Einberufungspraxis der japanischen Armee, die „Houjou-Rebellion“8. Diese zwang laut Darstellung in den 1870er Jahren alle Männer zur Registrierung: „Die Regierung schickte Beamte in weißer Uniform in die Dörfer. Die Dorfbewohner waren außer sich vor Wut, wenn sie diese erblickten“ 9, heißt es in einem Rückblick dazu. Saya Kashima, ihr Mann und ihr Sohn Shirou werden Opfer eines solchen Mobs. Kashimas Mann, ein weiß gekleideter Grundschullehrer, wird also aufgrund einer banalen Verwechslung getötet, der Sohn Shirou kommt dabei ebenso
5
Lafcadio Hearn: Kwaidan und andere Geschichten und Bilder aus Japan, übers. von Elisabeth Schnack, Zürich 1973, S. 80-87. Ich folge in der Transkription japanischer Begriffe der jeweiligen deutschen Übersetzung.
6
Ebda., S. 87.
7
Bei diesen Angaben folge ich dem Internet-Wörterbuch wadoku, www.wadoku.de/wadoku [letzter Zugriff am 1.10.2012].
8
Koike, Kazuo (ᑠụ ୍ኵ)/Kamimura, Kazuo (ୖᮧ ୍ኵ): Lady Snowblood, Bd. 1, Orig. ಟ⨶㞷ጲ, übers. von Dorothea Überall, Hamburg 2006a, S. 115.
9
Ebda., S. 113.
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ums Leben. Saya wird von drei Männern, Tokuichi Shouei, Banzou Takemura, Gishiro Tsukamoto unter Mittäterschaft einer Frau, Okono Kitahama, vergewaltigt.10 Saya versucht selbst, Rache zu üben, wird aber bei der Ermordung von Tokuichi gefasst und kommt in ein Frauengefängnis. Dort schwört sie Rache, indem sie die Gefängniswärter verführt, nur um ein Kind, eben jene Yuki Kashima11, auch Shurayukihime oder in der Übersetzung Lady Snowblood genannt, zur Welt zu bringen. „Ein Kind der Rache“12, wie es an einer Stelle heißt, eine sich in Gestalt einer menschlichen Existenz manifestierenden Rache. Ihre Mutter stirbt bei der Geburt – und so wird Yuki (wörtlich ‚Schnee‘) von einer ihrer Gefängniskomplizinnen, Tora Mikazuki, aufgezogen.13. In Flashbacks wird die brutale Ausbildung durch einen früheren „Schwertmeister in der Regierung“14 geschildert. Georg Seeßlen schreibt im Vorwort des ersten Bandes Lady Snowblood, dass Yuki [..] zu einer gnadenlosen Mörderin ausgebildet [wird]. Nichts hat in ihrem Leben Platz als dieser Plan, die Schuldigen einen nach dem anderen aufzuspüren und zu töten. Jede Episode dieser Rachegeschichte hat einen eigenen Ton und eine eigene Struktur. Wie auf einer Perlenkette sind die Ereignisse aneinandergereiht (nur dass diese Kette mehrfach verschlungen ist).15
Der Manga schildert in Episoden, nonlinear, die Vergeltung der Tat durch Lady Snowblood. Yuki ist ein „Ebenbild“16 ihrer Mutter, ihr Aussehen wird als wunderschön, „wie eine Erscheinung des Avalokiteshvara-Bodhisattva“17, ein Wesen des universalen Mitgefühls also, beschrieben. Von den Gefühlen der Lady Snowblood erfahren wir jedoch wenig. Manchmal trauert sie am Grab der Mutter. Den Sinn der Blutrache hinterfragt sie an keiner Stelle, psychische Konflikte kennt sie nicht. Shurayukihime setzt ihre perfekte Schönheit, ihre sexuellen Reize instrumentell ein, um ihre Opfer schließlich mit einem in einem Schirmstock eingelassenen Schwert blutig hinzurichten. Ihre wirksamste Waffe jedoch ist ihre
10 Ebda., S. 118f. 11 Ebda., S. 376. 12 Ebda., S. 374 f. 13 Ebda., S. 377. 14 Ebda., S. 385. 15 Ebda., S. 7. 16 Koike, Kazuo (ᑠụ ୍ኵ)/Kamimura, Kazuo (ୖᮧ ୍ኵ): Lady Snowblood, Bd. 2, übers. von Dorothea Überall und Satomi Kudo, Hamburg 2006b, S. 491. 17 Koike/Kamimura 2006a, S. 333.
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universelle Mimikry. Sie bedient sich zahlreicher Listen, Verkleidungen, tarnt sich, versteckt sich, ist Künstlerin, Lehrerin, Krankenpflegerin, Unternehmerin, Hausangestellte, Nonne wie Prostituierte und natürlich Auftragsmörderin in einer Person, nur um die Rache ihrer Mutter zu verwirklichen. Die Nähe des Mangas zum Groschenroman ist offensichtlich, auch Bezüge zur Populärkultur, zu James Bond, Tarzan, Doktor Mabuse wären herzustellen. Die Männer wollen sie, sobald sie sich entblößt, nahezu reflexhaft vergewaltigen – doch bevor sich das Trauma, das ihre Mutter erleiden musste, wiederholt, tötet sie diese, mitunter kastriert sie sie. Dabei ist dem Männerhass ein homoerotisches Moment hinzu gestellt. Lady Snowbloods einziger männlicher Gefährte ist der Schriftsteller Geikotsu Miyahara, der in der Geschichte selbst ihre Geschichte nochmals niederschreibt.18 Er wird zu einer Art Vaterersatz für Lady Snowblood. Lady Snowbloods Rache kann sich nur realisieren, indem sie sich mit den Motiven anderer verbindet. Sie übt Auftragsmorde für Nationalisten, Yakuza und das Rotlichtmilieu aus, um die mittlerweile um mehr als zwei Jahrzehnte gealterten Täter zu richten. Von der Exekutive wird sie dabei offenbar kaum gesucht, der Manga konzentriert sich sehr stark auf Duell- und Kampfsituationen mit ihren Widersachern. Ihre Rache ist eine Art Katalysator in einem sich dem Westen gegenüber öffnenden und militarisierenden Japan.19 Bevor Lady Snowblood körperlich antritt, hat sie geistig die Situation schon längst vorweggenommen. Sie erspürt den Feind,20 weiß mehr über die anderen und ihre Gefühle, ohne selbst zu fühlen, denkt probabilistisch. Die faktischen Kämpfe sind nur die Ausführung, vergleichbar mit dem kalligraphischen Schreiben von Zeichen. Sie zelebriert den Akt des Tötens regelrecht. Wie eine Ballerina vollzieht sie elegante Choreographien in der Luft, und der Manga übersetzt
18 Koike/Kamimura 2006b, S. 145 ff.. 19 Wohl damit der Manga nicht allzu leicht antimilitaristisch rezipiert werden kann, beschreibt Koike die Protestler gegen eine sich bildende Armee als einen brutalen Mob, der Familien auslöscht und Frauen vergewaltigt. Später erfahren wir noch, dass die Täter Kriminelle sind, die mit der Gutgläubigkeit der Gemeinden Geld erbeuteten, indem sie vorgaben, sich vom Militärdienst freikaufen zu können. So scheint es lange, als ob Snowblood gegen den Antimilitarismus, auch gegen den Westen kämpft, was sich erst im dritten Ergänzungsband relativiert. 20 Koike, Kazuo (ᑠụ ୍ኵ)/Kamimura, Kazuo (ୖᮧ ୍ኵ): Lady Snowblood. Auferstehung, Bd. 3, übers. von Jürgen Seebeck, Hamburg 2009, S. 272.
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ihre kunstvollen Bewegungen in die Dimension des Raums.21 Lady Snowblood geht es bei ihrer Rache nicht in erster Hinsicht um die Niederstreckung ihrer Widersacher, sondern ganz wesentlich darum, diese in eine emotionale Situation der totalen Verunsicherung hineinzustellen, bevor sie dann den anderen tötet. Auch hier wird der Gegner geistig und physisch vernichtet. Stets durchschauen die von ihr Gerichteten Lady Snowbloods Plan zu spät, kurz bevor sie getötet werden. So täuscht Lady Snowblood etwa eine eigene Versicherungsgesellschaft vor, nur um Okono Kitahama in den Ruin zu treiben und anschließend mit dem Schwert zu richten.
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Wie nun schildert Lone Wolf and Cub, ebenso von Kazuo Koike geschrieben, die männliche Rache? Der Manga ist weitaus umfangreicher als Shurayukihime, die deutsche Ausgabe erschien zwischen 2003 und 2009 und zählt 28 Bände. Dazu gab es eine in Japan sehr erfolgreiche TV-Serie, die zwischen 1973 und 1976 produziert wurde und bei der der Kabuki-Schauspieler Kinnosuke Nakamura den Hauptdarsteller Ittô Ogami spielt, und wiederum eine sechsteilige Verfilmung mit Tomisaburô Wakayama in der Hauptrolle, auf die ich mich beziehe.22
21 Wie schon im frühen japanischen Chanbara-Film, etwa bei Tsumasaburô Bandô, schaut sie den Gegner nicht an, kämpft nicht wie Douglas Fairbanks in Zorro durch besetzen des Raums, stattdessen erspürt Yuki, was andere wollen. Sie kämpft meistens nackt – so ist der Ausbruch von Gewalt fast immer Sexualität verknüpft. 22 Die Folgen sind: Kenji Misumi: Kozure ôkami: Ko wo kashi ude kashi tsukamatsuru (Lone Wolf and Cub: Sword of Vengeance, 1972); Kenji Misumi: Kozure Ôkami: Sanzu no kawa no ubaguruma (Lone Wolf and Cub: Baby Cart at the River Styx, 1972); Kenji Misumi: Kozure Ôkami: Shinikaze ni mukau ubaguruma (Lone Wolf and Cub: Baby Cart to Hades, 1972), Buichi Saitô: Kozure Ôkami: Oya no kokoro ko no kokoro (Lone Wolf and Cub: Baby Cart in Peril, 1972); Kenji Misumi: Kozure Ôkami: Meifumadô (Lone Wolf and Cub: Baby Cart in the Land of Demons, 1973); Yoshiyuki Kuroda: Kozure ôkami: Jigoku e ikuzo! Daigorô (Lone Wolf and Cub: White Heaven in Hell, 1974).
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Ittô Ogami, der Hauptprotagonist, ist Kaishokunin23 im Japan des TokugawaShôgunats bzw. der Edo-Zeit (1603-1868). Ogami gerät in einen Komplott, der vom Yagyû-Clan, insbesondere von Retsudô Yagyû, gesteuert ist. Samurai wollen ihn töten, aber Ogami gedenkt gerade in seinem Haustempel der Toten. Seine Frau Azami bringt man um, nur er und sein Sohn, der Säugling Daigorô, bleiben verschont. Ogami zieht fortan als Rônin, als herrenloser Samurai, mit Kinderwagen durch ein vormodernes Japan, verübt Auftragsmorde, stets mit dem Ziel, eben durch Rache an jenem Clan die Familienehre wiederherzustellen. Er selbst lebe in einem „Reich der Schatten und des Bösen“24, wie er immer wieder sagt, er ist also – wie Lady Snowblood – eine Art Avatar aus der Welt der Toten.
I TTÔ O GAMI UND Y UKI K ASHIMA. E IN V ERGLEICH DER F IGUREN UND DER S TORYLINES Beide Geschichten haben ihren Ausgangspunkt in zerfallender und nicht mehr funktionierender Staatlichkeit. Die Unruhen und Konflikte führen – der Zufall spielt auch hier eine Rolle – zu traumatischen Geschehnissen, die dann durch Blutrache gesühnt werden. Beide Manga handeln von einer zwar individuell ausgeführten, aber für die Ehre der Familie praktizierten Rache. Yuki Kashima, alias Lady Snowblood, ist ein Kind, dem die Rache aufgetragen wurde. Ittô Ogami entschließt sich zwar selbst, den Weg der Rache zu gehen, als ,Wolf mit Kindǥ, Kozure Ôkami, aber auch hier ist der Hintergrund die Familie. Wie Lady Snowblood glaubt er nicht mehr an die Gerechtigkeit des Tokugawa-Shôgunats, einer Welt voller Spione, verfeindeter Clans, Yakuza und organisierter Krimineller. Seine Kaltblütigkeit, die ihn zwingt, selbst Kinder hinzurichten, ist zunächst eine staatlich eingeforderte, bevor sie zum Instrument des Assassinen wird. Bei Ogami reproduziert sich diese Gewalt nochmals, indem sein Sohn Daigorô mitten in die Schlachtfelder gerät, teilweise im Kampf instrumentalisiert wird, und häufig die grausamen Morde mitansehen muss, sogar mitverübt (Abb. 1-4).
23 Der Kaishokunin ist eine Art Henker, ein „Sekundant, der beim seppuku (der rituellen Selbstentleibung) zum gegebenen Zeitpunkt den Kopf des Betroffenen abschlägt“, wie es in der Erläuterung heißt (Koike, Kazuo (ᑠụ ୍ኵ)/Kojima, Gôseki (ᑠᓥ ๛ኤ): Lone Wolf and Cub, Orig. Ꮚ㐃ࢀ⊋, übers. von John S., Band 3, Nettetal-Kaldenkirchen 2003b, nicht paginiert). 24 Koike/Kojima 2003b, Kap. XVIII. „Annya und Anema“, keine Pagnierung.
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Abbildung 1: Kozure Ôkami und Sohn
Abbildung 2: Kozure Ôkami (Tomisaburô
Daigorô, im Manga (Koike/Kojima
Wakayama) und Sohn Daigorô (Akihiro
2003a, Kap. XVII, nicht pagin.)
Tomikawa), im Film (Sceenshot aus: Kozure Ôkami, Misumi, 15.1.1972, 5. Filmminute.)
Abbildung 3: Schwertkampf in Kozure
Abbildung 4: Schwertkampf in Kozure
Ôkami, im Manga (Koike/Kojima 2003c,
Ôkami, im Film (Screenshot aus: Kozure
Kap. XVII, nicht pagin.)
Ôkami, Misumi, 15.1.1972, 25. Filmminute.)
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Sowohl Snowbloods als auch Ogamis Feind ist ganz wesentlich das männliche Geschlecht. Ogami wie Lady Snowblood veräußerlichen eben jene Missstände, die ihre jeweilige Gesellschaft bis in den Alltag hinein prägen. Aber beide sind doch differenziert, verlieren bei der Ausübung der Gewalt keineswegs an Unterscheidungsvermögen, helfen immer auch den Armen und behalten stets die intellektuelle Kontrolle über ihre Rache bei. Beide Figuren weichen von klassischen Rollenmustern ab, indem sie Weiblichkeit/Männlichkeit multipolar codieren. Lady Snowblood ist insofern männlich, als dass sie in einer Männerwelt besteht, gegen Männer kämpft, und das noch nach Art der Samurai, mit dem Schwert, bzw. nach Art der Ninja, was ihren Kampfstil anbelangt. Und Kozure Ôkami handelt insofern weiblich, als er mit seinem Sohn Daigorô umherzieht und ihn umsorgt, wenn auch im Kinderwagen Waffen deponiert werden und dieser mitunter als Schlitten, Boot oder gar Maschinengewehr gebraucht wird. Wo aber liegen die Unterschiede zwischen den Figuren konkret? Lady Snowbloods Gewalt kontrastiert vollkommen mit ihrer reinen Schönheit und Eleganz. Dazu sind Gewalt und Sexualität bei ihr verbunden. Rache üben heißt hier auch, die Lust der Anderen durch die Zurschaustellung des eigenen Körpers zu instrumentalisieren. Die Gewalt wird von einer ästhetischen und erotischen Schicht getarnt bzw. ist von dieser manchmal nicht zu unterscheiden. Ogami tarnt oder versteckt sich nicht. Er zieht mit einem Schild „Sohn zu vermieten. Schwert zu vermieten. Suiô-Schule. Ittô Ogami“ durch das Land und provoziert. Er ist nicht elegant, kämpft wie ein stoischer Block und wird als willensstark geschildert. Seine Haltung hinterlässt körperliche und physiognomische Spuren. Er glänzt in den Gefechtssituationen, schreckt aber auch nicht vor physischem Schmerz zurück. Seine Kampftechnik, sein Waffenarsenal, seine Gadgets und sein Maschinengewehr (!) helfen ihm, selbst ausweglose Situationen zu meistern. Kashima wie auch Ogami üben ihre Rache zwar physisch aus. Aber das zugrundeliegende Motiv ist eine Wiederherstellung eines Gleichgewichts in der geistigen Welt. Die Rache dient dazu, die Toten zu sühnen, d.h. die Welt der Toten wird der der Lebenden gleichgestellt. Sie bedienen sich daher auch geistiger Methoden. Lady Snowblood versucht, die Gefühle der Anderen nahezu vollständig im Sinne ihrer Rache zu instrumentalisieren, und deshalb tarnt sie sich. Sie ist selbst nicht von der Lust affiziert, die sie bei den anderen erweckt – und das gibt ihr die Macht über sie. Lady Snowblood bereitet ihre Taten sozial vor, sucht geschickt nach Verbündeten. Ogami handelt demgegenüber intuitiv, agiert im Hier und Jetzt. Immer wieder wird gezeigt, wie er sein Bewusstsein durch Medi-
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tation schult. In einer Szene in Band II25 versetzt er sich auf die Art der Schamanen in die dem Alltag gegenüber absent scheinende Welt, manchmal kämpft er in seiner Imagination mit den Gegnern,26 buddhistische Mönche sind seine Lehrer. Die Geschichte Ogamis ist weitaus vielschichtiger, dialog- und textorientierter als die Lady Snowbloods. Dazu verleihen Bezüge zum Zen-Buddhismus, zu den verschiedenen Kampfschulen, zu Suntzis Über die Kriegskunst der Erzählung eine philosophische Dimension. Beide Manga nutzen insofern eine Art von Ich-Perspektive, als dass die Hauptprotagonisten, wenn nicht im Panel selbst, so doch im Sujet präsent sind. Die Figuren werden zu einer Art Perspektiv, durch das wir deren Welt wahrnehmen. Und so blendet der zuschauende Leser die Widersprüche wie die Helden in Form der Rezeptionshaltung aus. Die Perspektive des Lesers ist nahezu ausschließlich die der Rache und Gewalt-Übenden. Aber auch hier gibt es Unterschiede. Ogami ist meistens in ‚amerikanischer Einstellung‘ in Manier eines Westernhelden zu sehen, blickt fast nie aus dem Bildraum heraus den Leser an – und wenn, dann ist dies stets auch intradiegetisch verstehbar. Er agiert in einem in sich geschlossenen Erzählraum. Dazu doppelt sich der Blick, weil Daigorô, der Sohn Ogamis, auch noch alles mitverfolgt, so dass wir in eine Blickkonstellation hineingestellt sind. Ganz anders bei Yuki Kashima, die in einer Art direktem Blickkontakt zum Leser steht, was noch durch die ‚Großaufnahmen‘ ihres Gesichts und die Bildordnungen verstärkt wird. Der Bildraum ist hier also gegenüber dem Leser geöffnet. Es ist eine Art masochistischer Hypervoyeurismus, weil ja alle Figuren, die Lady Snowblood nackt sehen, im intradiegetischen Raum getötet werden – und weil auch der (männliche) Leser nicht nur mit, sondern auch auf den Körper Lady Snowbloods blickt. Der Leser allein kann Yuki Kashima ungefährdet wie durch einen Spiegel sehen (man denke auch an die zahlreichen schrägen Bildordnungen), obgleich diese intradiegetisch eine absolute (und blutige) Zensur ausübt. Lady Snowblood ist Racheengel und Lustobjekt zugleich. Bei Ittô Ogami wird die Figur zu einer Art Stellvertreter für einen diffusen Hass, der sich gegen die Gesellschaft richtet und mit dem sich der frustrierte Leser (ich benutze hier die männliche Form, davon ausgehend, dass die Geschichte das weibliche Publi-
25 Koike, Kazuo/Kojima, Gôseki: Lone Wolf and Cub, übers. von John S., Band 2, Nettetal-Kaldenkirchen 2003a, Kap. XIII, „Die torlose Grenze“. 26 Koike, Kazuo/Kojima, Gôseki: Lone Wolf and Cub, übers. von John S., Band 4, Nettetal-Kaldenkirchen 2003c, Kap. XVI. „Halbe Matte, ganze Matte, zweieinhalb gô“.
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kum kaum erreichen dürfte) bis zu einem gewissen Grad ‚identifizieren‘ kann. Identifizieren aber keineswegs in einem positiven Sinne, sondern ex negativo, Ittô Ogami ist insofern für die ein Gleichgesinnter, die nichts haben als ihre Rache (und ein strenges System, das ihnen dient, diese zu verwirklichen).27 Letztlich wird in beiden Geschichten die Frage gestellt, wie sich Rache über die Generationen reproduziert. Bei Lady Snowblood ist es die Rache ihrer Mutter, die auf die Tochter übertragen wird. Und auch bei Ogami wird dessen Rache an Daigorô weitergegeben, springt also auch auf die nächste, hier männliche Generation über. Nachdem Ogami die Feinde der Yagyû-Familie ausgelöscht hat, kommt es in den letzten Kapiteln zum Showdown. In einem ausgiebig dargestellten Duell fällt der blutende und entkräftete Ogami schließlich tot um. Sein Sohn nimmt die Waffe, läuft zu Retsudô Yagyû – und ersticht ihn. Es ist, wie der Schluss erst deutlich macht, sein eigener Großvater, den er tötet. Dies wiederum verleiht der Geschichte eine zusätzliche, aber auch irritierende Lesart. Bei Lady Snowblood ist die Geburtskonstellation entscheidend für ihren Lebensweg, bei Ogami wird dessen Sohn zur Gewalt ‚erzogen‘, indem er die Schlachten seines Vaters meistens im Kinderwagen oder im Tragetuch auf dem Rücken gebunden, mitansehen muss. Die auf die nächste Generation übertragene Rache reproduziert sich also auf eine andere Weise. Bei Lady Snowblood geistig, durch eine Art von Fluch, der durch die Umstände der Geburt gesetzt wird, bei Kozure Ôkami eher durch eine bewusst herbeigeführte Traumatisierung des Kindes, durch ein Hineinstellen in existentielle Situationen. Lady Snowblood gelingt es nur, sich selbst aus dieser Dynamik herauszuhalten, indem sie alles zu einem Fetisch werden lässt, Sexualität, Lust, Mitmenschlichkeit. Sie selbst wird zu einem Fetisch ihrer Mutter. Ogami ist insofern der Gegenentwurf dazu, da er eine universale Fetischisierung ablehnt. Sein einziger Fetisch ist sein Samuraischwert, ein Phallusersatz, der im Namen der Familie tötet und der die sexuell-triebhafte Energie ins Körperlich-Physische lenkt und tödlich umleitet. Ogamis Welt ist durch den Glauben und durch Rituale geerdet, seine Grundeinstellung bleibt der fundamentalistische bushidô-Code der Samurai. Beide Manga thematisieren die Verwestlichung. Bei Lady Snowblood ganz konkret, indem einige Figuren, gerade die dunkelsten, schlimmsten und perversesten, im Westen waren. Das Rokumeikan, ein in Tôkyô im westlichen Stil vom
27 Im Westen erfüllen Filmdarsteller wie Charles Bronson, Sylvester Stallone, Clint Eastwood, Jean-Claude Van Damme, Chuck Norris, aber auch Bruce Lee diese Funktion.
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Architekten Josiah Conder gebautes Veranstaltungszentrum für die gehobene Schicht28, ist der Ort, wo der Vergewaltiger von Kashimas Mutter ein und aus geht. Erst im Ergänzungsband ändert sich diese einseitige Darstellung, hier lehrt Lady Snowblood gar schwedische Gymnastik. Wir haben es hier mit Auseinandersetzungen mit westlichen Codes zu tun, auch graphisch: Im Vergleich zu Gôseki Kojimas Stimmungsbildern in ‚Lone Wolf‘ ist Kazuo Kamimuras Zeichenstil bei ‚Syura Yuki Hime‘ bzw. ‚Lady Snowblood‘ härter und reduzierter. Symbole der Moderne, die in die traditionelle Welt einbrechen, spielen eine besondere Rolle, die Lust an der Verwestlichung bildet ein wichtiges grafisches Nebenthema im Gegeneinander der Architekturen, der Kleidungen, der Waffen und der Technik. Selbst die Natur ist hier dramatischer und weniger tröstlich,
schreibt Georg Seeßlen im Vorwort zu Lady Snowblood.29 Weitere Bezüge ließen sich etwa zum amerikanischen Comic Wonder Woman herstellen. Und ist das Schönheitsideal, das Kazuo Kamimuras (ୖᮧ ୍ኵ) Zeichnungen zugrunde liegt, nicht französischen Modezeitschriften wie Vogue entnommen? Und ist nicht Kozure Ôkami eine Art japanischer Prinz Eisenherz30 bzw. ein Einzelgänger wie aus einem Italo-Western? Die sensationslüsternen und teilweise skurrilen Geschichten werden in eine höchst artifizielle Bilderwelt gesetzt. Zeichner Kazuo Kamimura stellt in seinen Graphiken nicht nur die Meiji-Zeit dar, sondern führt sie in Form von Referenzen an die Kunst des Ukiyo-e auch stilistisch auf. Natürlich sind es die Farbholzschnitte des Utamaro, des Hiroshige und auch des Hokusai, die hier die stilistische Vorlage bilden. Und deren Eleganz ist es, die sich auf Lady Snowblood überträgt. Kamimura wurde deshalb auch shôwa no eshi genannt, Ukiyo-e
28 Toshio Watanabe schreibt dazu: „During its apogee between 1883 and 1887, the Rokumeikan was more than simply a building: it became a symbol of a way of life. For the people of the Meiji period, westernization affected everything from living space, food transport, dress, and entertainment, to the position of women in society. Though activities at the Rokumeikan lasted for only a short time, they seemed to epitomize the new way of life of the whole Meiji period.“ (Toshio Watanabe: „Josiah Conder’s Rokumeikan: Architecture and National Representation in Meiji Japan“, in: Art Journal, Vol. 55, Nr. 3, 1996, S. 21-27, hier S. 21-22). 29 Koike/Kamimura 2006a. 30 Hal Foster: Prinz Eisenherz, Klassiker der Comic-Literatur, Bd. 3, Frankfurt a.M. 2005.
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Zeichner der Shôwa-Zeit31. In Furious Love32 hat Kamimura diese Bezüge dann konkretisiert, indem er Hokusai zu seinem Hauptprotagonisten macht. Kamimuras Striche sind genauestens platziert, betont graphisch, zeichenhaft reduziert. Durch Modulationen, durch stilisierte Schatten angedeutete Gestalten entstehen synästhetische Momente. Farbigkeit, Haptik, Akustik werden so indirekt im Schwarzweißmaterial mit dargestellt. Es bildet sich durch die dynamische Ordnung, durch wiederkehrende Elemente und Motive ein Geflecht von graphischen Bezügen und Atmosphären aus. Diese hochstilisierte Zeichenkunst erzählt mitunter Geschichten, die von einem Zwang zur Spannung und derber Erotik dominiert werden. Und letztlich steht auch Kamimura in Tradition des Ukiyo-e, der auch schon immer diese Verbindung von Massen- und Hochkultur praktizierte. Gôseki Kojimas (ᑠᓥ ๛ኤ) Zeichnungen sind realistischer als die Kamimuras. Sie sind grober ausgeführt, skizzenhaft, folgen am Realismus orientierten Regeln. Schraffuren und starke Bewegungslinien dienen meistens zur Kampfdarstellung. Sie verwandeln die Welt in eine dunkle, schattenhafte, absente Zone. Es geht Kojima eher um die Darstellung von Realitätsschichten und Wahrnehmungsformen denn um eine Versinnlichung und Ästhetisierung wie bei Lady Snowblood. Er skizziert eine historisch ferne Welt und lässt daher durch mit Strichen angedeutete Wahrnehmungszonen vieles im Unklaren. Kamimura entwirft seine Welt wie ein Modedesigner, Kojima eher nach der Art von Reiseillustratoren, damit geht auch eine gewisse Selbstexotisierung der japanischen Kultur einher. Wie anders der Stil Kojimas und Kamimuras ist, lässt sich besonders gut an Kapitel XXIII. O-Yuki, die Gômune aus Lone Wolf and Cub zeigen.33 Koike platziert eine Geschichte in Lone Wolf and Cub, die in ihrem Aufbau sehr stark dem Plot von Lady Snowblood ähnelt. O-Yuki wird als eine Gômune, Straßenkünstlerin, beschrieben, die zur besshikime, weiblichen Samurai, aufsteigt, aber von Kozuka Enki durch eine List besiegt und vergewaltigt wird. Sie schwört, wie Kozure Ôkami, Rache und lässt sich auf ihrem Rücken eine Berghexe und auf ihre Brust einen säugenden Jungen eintätowieren, bei deren Anblick „die Männer dabei ihren Verstand verlieren“34. Als sie ihrem Widersacher erneut begegnet, kann sie ihn durch ihre List bezwingen. O-Yuki weiß, dass es Ittô Ogamis
31 http://www.kamimurakazuo.com/profile/index02.html
[letzter
Zugriff
am
12.10.2012]. 32 Kazuo Kamimura (ୖᮧ ୍ኵ): Furious Love, Bd. 1 und 2, Orig. kyoujin kankei, ≬ே㛵ಀ zuerst 1973 erschienen, übers. von Jürgen Seebeck, Hamburg 2010. 33 Koike/Kojima 2003c, Kap. XXIII, nicht paginiert. 34 Ebda..
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Auftrag ist, sie zu töten. Dennoch spricht sie mit ihm, flieht nicht und wird schließlich von ihm getötet. Die Geschichte doppelt hier die Motive der Rache und flicht die Grundelemente der Lady Snowblood ein. Graphisch wird diese Episode jedoch realistischer dargestellt. Wo Lady Snowbloods Gegner karikiert werden, wirkt der Showdown hier wie eine Rekonstruktion.
T OSHIYA F UJITAS L ADY S NOWBLOOD (1973) UND K ENJI M ISUMIS Ô KAMI – D AS S CHWERT DER R ACHE (1972) 35 E IN KURZER V ERGLEICH DER FILMISCHEN U MSETZUNGEN Toshiya Fujita (⸨⏣ᩄඵ) verfilmte den Manga 1973 unter dem Titel Lady Snowblood (Shurayukihime), die Fortsetzung erschien 1974 als Lady Snowblood 2: Love Song of Vengeance (Shurayukihime: urami renga). Auch Kozure Ôkami wurde in sechs Teilen von Kenji Misumi (୕㝮 ◊ḟ), Yoshiyuki Kuroda (㯮⏣ ⩏அ) und Buichi Saitô (ᩪ⸨ Ṋᕷ) zwischen 1972 und 1974 filmisch umgesetzt. Die vielschichtigen Bezüge des Mangas freilich vermochten die Filme nicht darzustellen, stattdessen konzentrierte man sich auf bestimmte Episoden, kürzte sehr stark und nahm die poetischen und künstlerisch interessantesten Bildexkurse heraus. Interessant ist aber zu beobachten, wie der Manga mit seiner freien Wahl von Perspektiven, der freien Anordnung von Panels und zeichnerischen Darstellungsformen den Film inspiriert und zu narrativen und ästhetischen Experimenten einlädt.36 Dies hat natürlich auch ökonomische Gründe: Ein Manga dient in Japan häufig als Testlauf für eine Verfilmung. Ich möchte hier zwei Filmszenen den zeichnerischen Vorlagen gegenüberstellen: Den Beginn von Lady Snowblood37 mit dem ersten Kampf im Prolog des Films (die Ermordung des Yakuza-Bosses Shibagen, 3. bis 6. Filmminute) sowie Kap. XVII. Der weisse Pfad aus Bd. III von Lone Wolf and Cub38 mit dem Be-
Kenji Misumis Ôkami – Das Schwert der Rache (Kozure Ôkami. Ko wo kashi udekashi tsukamatsuru, 1972). 36 Zum Einsatz der Zeitlupe siehe meine Ausführungen in: Andreas Becker: Erzählen in einer anderen Dimension. Zeitdehnung und Zeitraffung im Spielfilm, Darmstadt 2012a, S. 106-118. 37 Im Manga die Ermordung des Yakuza-Bosses Daishichi; Koike 2006a, Kap. 1. Der Sumida, schwarzes Pulver, der Lendenschurz, S. 9-48. 38 Koike/Kojima 2003b, nicht paginiert.
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ginn aus Kenji Misumis Lone Wolf and Cub: Sword of Vengeance, 1972, im Film umgesetzt in der Sequenz ab der 14. Filmminute (Abb. 5-8). Gerade die Studiobeleuchtung, die künstlich-perfekt hergestellte Abendstimmung des Lichtes, auch die perfekt gestylte Hauptdarstellerin Meiko Kaji (Ლ ⱆ⾰Ꮚ) kontrastieren mit der dokumentarischen Kamera, die mit Reißschwenks, Handkamera-Elementen und Zeitlupeneffekten arbeitet. Toshiya Fujita und Kameramann Masaki Tamura versuchten offensichtlich, die Ukiyo-e-Motive Hiroshiges in dem bühnenhaften Lichtarrangement zu imitieren. Abbildung 5: Lady Snowblood im Manga
Abbildung 6: Lady Snowblood (Meiko
(Koike/Kamimura 2006a, S. 215).
Kaji) im Film (Screenshot aus: Lady Snowblood, Fujita 1.12.1973, 91. Filmminute.)
Abbildung 7: Winterliche Atmosphäre in
Abbildung 8: Winterliche Atmosphäre
Lady Snowblood, im Manga
in Lady Snowblood, im Film
(Koike/Kamimura 2006a, S. 11.)
(Screenshot aus: Lady Snowblood, Fujita 1.12.1973, 5. Filmminute.)
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Die dynamische Anordnung der Panels, die manche Augenblicke über Seiten hinweg darstellt, findet etwa in der schnellen Montage und der Zeitdehnung ihr Äquivalent. Die Luftsprünge werden durch die Zeitlupe und vor allem auch durch synthetische Geräusche und durch Farben akzentuiert. Kashima wirkt wie eine mordende Ballerina. Die winterliche Stimmung, die beschriebenen synästhetischen Momente bei Kamimura werden im Film durch das malerische Licht, durch Soundeffekte und die Musik konkretisiert. Agierte Lady Snowblood im Manga als Zeichnung noch nackt, trägt sie im Film einen Kimono mit Schmetterlingmuster – so als ob sie mit den Klischees der Madame Butterfly zeitgenössisch spielen würde. Exploitation-Darstellerin Meiko Kaji (ihrerseits durch die Reihe Sasori – Skorpio, ዪᅃ701ྕ傻僃僰 , Joshû 701-gô: Sasori, 1972, bekannt, der ebenfalls auf einem Manga beruht), verkörpert Lady Snowblood und singt auch noch das Enka-Titellied shura no hana, wörtlich Blume der Schlacht. Die Verbindung von Sexualität, Schönheit und Brutalität wird so medial umgesetzt. Das perfekt produzierte und sehr harmonische Lied handelt von der blutigen Rache. Damit wird eine moralisch-erzählerische Grundhaltung verlassen, die besagt, dass Mörder stets böse und hässlich aussehen müssen. Die Eleganz und choreographische Finesse transportiert eine, dem entgegen laufende Botschaft, dass Gewalt schön sein kann und gerechtfertigt ist. Die christliche Vorstellung von einem gewalttätig, hässlichen Bösen und einem milden, schönen Guten wird dadurch vollkommen unterlaufen. Sie wird durch eine vollkommene Ästhetisierung ersetzt, die der Film selbst praktiziert. Das schwarz dargestellte Blut im Manga überträgt Fujita, indem er aus den Leibern Blutfontänen spritzen lässt, die in ihrem Rot mit dem Weiß des Schnees kontrastieren. Der Akt des Tötens wird so versinnlicht, ebenso wie auch durch das Knirschen des Schnees, das im Finale wiederum Bedeutung erlangt. Weil die Kamera auf Lady Snowbloods Gesicht blickt – bevor diese tötet – wirkt ihre Handlung, als ob sie geistig vorweggenommen sei. Tomisaburô Wakayama als Ittô Ogami spielt die Ausdruckslosigkeit der Figur so differenziert dies eben gehen mag. Misumi setzt diesen in eine surreale, dystopische, dunkle Welt. Sam Peckinpahs Schnitttechnik, der Italo-Western, die amerikanischen TV-Krimis der siebziger Jahre sind die Referenzen. Man übernimmt westliche Erzählformen wie den Einzelgänger, den Westernhelden und erzählt durch diese japanischen Stoffe. Notwendig kürzt der Film – und das meistens auf die rohen, blutigen Szenen hin. Aber auch hier werden erzählerische Finessen eingeführt, die beachtlich sind. Man vergleiche etwa die Szene in Kap. XVII. Der weiße Pfad39 mit Misumis filmischer Umsetzung. Anders als in
39 Koike/Kojima 2003c.
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Lady Snowblood entwickelt der Film diese Sequenz sehr nah am Manga. Das Kapitel erzählt die Tötung von Ittô Ogamis Frau – und seinen ersten Kampf gegen den Yagyû-Klan, der ihn beim Shogun verächtlich machen will. Im Unterschied zu Meiko Kaji ist die Musik Hideaki Sakurais hier schwer und ernst, durchmischt traditionell japanische Klänge mit synthetischen Passagen. Graphische Ideen der Manga-Vorlage, so geht Ittô Ogami in der dem Kapitel vorangestellten Zeichnung auf einem Pfad zwischen Feuer und Wasser, kehren als filmische Collagen wieder. Die dunklen Töne des Mangas werden entweder zu großen Schattenpartien – oder Misumi setzt sie in Braun- und Gelbtöne um, die für das historisch Vergangene stehen. Betont der Manga Momente in den Panels, so werden diese entweder durch filmische Schnitte oder durch die Szenenlänge wiedergegeben. Misumi verfährt dabei sogar im Bildaufbau so genau, als sei der Manga eine Art Storyboard für den Film und überträgt die Manga-Szene ganz konkret. Besonders auffällig ist dabei die Schnitttechnik, welche Zeitpassagen des Kampfes auslässt und wiederum andere überbetont. Die Musik läuft in solchen Momenten asynchron zum Geschehen, als agiere Ittô Ogami bereits in einer anderen Sphäre. Als er noch am Wehr eines Flusses gegen die Samurai kämpft, schneidet Misumi stroboskopisch intermittierend das Gesicht seines Widersachers Retsudô Yagyû dazu. Dieser bekommt dadurch die Rolle eines spirituellen Gegenspielers, er ist nicht bloß Beobachter. Dadurch wandelt sich Ittô Ogamis Rolle von demjenigen, der den Kampf dominiert zu einem Unterlegenen. Dazu bekommt Yagyû noch die Rolle eines Erklärers. Durch Schwenks wird er extra- wie auch intraszenisch verortet und zu einer allgegenwärtigen Instanz. In dem entscheidenden Kampf mit dem letzten Samurai schneidet Misumi verschiedene Zeitlupen rasch gegeneinander und imitiert damit ein Verfahren der graphischen Gegenüberstellung von ‚Bewegungen‘, das Gôseki Kojima im Manga bereits praktizierte. Gerade auch durch überraschende Stille, gefolgt von Geräuschen des schneidenden Schwertes, entwickelt sich eine surreale Atmosphäre. Zwar kann der Manga, und dies ist in dieser Szene besonders genutzt, die Aufmerksamkeit durch die Größe der Panels darstellen und auch die Desorientierung des ‚Lesers‘ zwischen den Panels kann auf eine Weise narrativ genutzt werden, wie es dem Film nicht möglich ist. Aber Misumi fängt diese Momente durch die Montage, durch den Bildaufbau, Zeitlupen, Ton-Bild-Kombinationen auf und lässt zum Schluss der Sequenz sogar das Wehr rückwärts laufen. In beiden Fällen hat der Manga damit eine neuartige bildliche Ausdrucksform skizziert, die gerade durch ihre ungewöhnliche Kombination neu wirkt und die Experimente zulässt, die man etwa aus dem avantgardistischen Kino kennt.
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F AZIT Die Morde, die in beiden Serien gezeigt werden, können – wie beim Manga – intradiegetisch verstanden werden. Aber dass Gewalt derart übertrieben, sogar zum Selbstzweck dargestellt wird, bedarf – wie mir scheint – einer Erklärung, die die Perspektive der Leser bzw. Zuschauer miteinbezieht. Man darf vermuten, dass der gewöhnliche Rezipient männlich ist und von Beruf zur Angestelltenschicht Japans, zu den Salaryman, zählt.40 In den siebziger Jahren beginnen sich auch die Rollenmuster in der japanischen Gesellschaft zu verändern. Die Medien reflektieren dies in größerem Maße als dies vielleicht in der Gesellschaft wahrgenommen wird, weil sie eine größere Nähe zur Imagination haben. Steht da der Racheengel Lady Snowblood nicht auch für die emanzipierte Frau, die nach Art der ‚Männer‘ kämpft und das noch besser als diese? Und liegt nicht in deren Habitus und Look noch eine Art ‚männlicher‘ und hier absurder Anspruch an sie, selbst beim Morden noch schick zu wirken und schön auszusehen? Und ist Kozure Ôkami nicht der Vater, der zeigt, dass er seinen uralten Samuraistolz nicht aufgeben muss, wenn er mit dem Kind spielt, sogar mit diesem – den Kinderwagen schiebend – ‚in das Schlachtfeld‘ ziehen kann – in der heutigen Zeit: Die Öffentlichkeit? Anders als im Westen, wo man die Geschlechterrollen in Frage stellt, nimmt man sich in Japan ein traditionelles Modell, das des Samurai, des Ninja, und modifiziert es so geringfügig als möglich. Und so markieren die Morde die Ängste einer bestimmten Schicht, und zeigen – so effektvoll sie inszeniert werden – doch nur deren tiefe Verunsicherung angesichts einer sich verändernden Kultur. Es ist allerdings auch der Versuch, diesen Veränderungen nicht diskursiv, etwa über verbale Thematisierung, sondern ästhetisch-imaginativ zu begegnen. Die Morde und Tötungen sind dabei nicht als solche gemeint. Es sind ästhetische Stellvertreter für emotional hoch besetzte Konflikte, die hier nur konkret ausfabuliert werden. Und so verbinden sich ganz alte Traditionen Japans, wie die der Samurai, mit denen der Manga-Kultur. Immer wieder zeigen sowohl die Manga wie auch die Filme, dass nicht der Stärkere gewinnt oder der, der am meisten hasst, sondern der geistig Differenziertere, der die Situation mental vorwegzunehmen versteht. Und dass eine mordende Frau in der Darstellung schön sein darf. Und ein mordender Mann mit Kinderwagen umherzieht – und für sein Kind sorgt, also nicht absolut böse ist. Das ist auch eine Variabilität der Rollen-
40 Für die Manga gibt es, wie in der japanischen Kultur auch sonst üblich, eine höchst differenzierte Klassifizierung von Genres. Manga, die etwa an ein erwachsenes, männliches Publikum adressiert sind, nennt man auch Seinen-Manga (㟷ᖺₔ⏬).
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muster, die es in Europa so nicht gibt. Im Gegensatz auch zu Europa reagieren sie und sühnen eine Tat, die anderen, der Familie, angetan wurde. Die IchPerspektive, die beide Manga zweifellos haben, wird so eingeordnet und zurückgenommen. In Japan ist, dies lässt sich im Nô-Theater, im Kabuki-Theater zeigen, die Grenze zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit eine andere, kommt doch den Onnagata, den männlichen Darstellern weiblicher Figuren, eine zentrale Bedeutung zu. Katherine Mezur spricht in ihrer Studie über die Onnagata von einem „intentional body”41 und zieht einen Schluss, der auch für die Interpretation der Manga-Erzählungen interessant ist: What can be verified is that onnagata perform complex gender acts, and that they are a part of a theatrically performative world where performers perform gender role types that are not limited to male and female divisions. I could no longer read the onnagata as a fiction of Woman, but, rather, as a fiction of femalelikeness with its own variable and transformative gender acts based on an adolescent boy body. 42
Weiblichkeit und Männlichkeit wären demnach eher ästhetische Verweisungsordnungen, die die Onnagata (und die Otokogata, die sich auf die männlichen Rollen spezialisiert haben) wie auch Mangazeichner gestisch bzw. zeichenhaft aufführen. Auch die Tatsache, dass es weibliche Samurai gab, zeigt, dass die Gendergrenzen keineswegs einfach zu ziehen sind, und dass beide Manga die dargestellte Geschlechtertypik durchaus als ein Spiel verstanden wissen wollen, als „Reise durch die Pop-Mythen des Westens wie des Ostens“43.
41 Es heißt: „The ‚distanceǥ between the onnagata intentional body and their own bodies, they say, requires enormous energy to even approach that ideal. Several performers used the phrase karada o korosu (killing the body), in reference to the painful physical reshaping and disciplined strength necessary for onnagata gender performance.” (Katherina Mezur: Beautiful Boys/Outlaw Bodies. Devising Kabuki Female-Likeness, Gordonsville (VA/USA): 2005, S. 180). 42 Ebda., S. 250. 43 Koike/Kamimura 2006a, Vorwort, nicht paginiert. Zu den weiblichen Samurai siehe Amdur 2002 sowie http://asianhistory.about.com/od/imagegalleries/ss/samuraiwomen.htm [letzter Zugriff am 27.1.2013].
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L ITERATUR Amdur, Ellis: Women Warriors of Japan. The Role of the Arms-Bearing Women in Japanese History, Internet-Dok., http://www.koryu.com/library/wwj1.html, 2002 [letzter Zugriff am 27.1.2013]. Becker, Andreas: Erzählen in einer anderen Dimension. Zeitdehnung und Zeitraffung im Spielfilm, Darmstadt 2012a. Becker, Andreas: „Eikonische Phantasie. Edmund Husserls Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen“, in: Eva Holling/Matthias Naumann/Frank Schlöffel (Hgg.): Nebulosa - Zeitschrift für Sichtbarkeit und Sozialität, Wahrnehmung und Erscheinen, Heft 1, Berlin 2012b, S. 34-43. Deuber-Mankowsky, Astrid: Lara Croft – Modell, Medium, Cyberheldin, digit. Ausgabe, Frankfurt a.M. 2001. Foster, Hal: Prinz Eisenherz, Klassiker der Comic-Literatur, Bd. 3, Frankfurt a.M. 2005. Goethe, Johann Wolfgang von: Sämtliche Gedichte, Frankfurt a.M. 2007. Hearn, Lafcadio: Kwaidan und andere Geschichten und Bilder aus Japan, übers. von Elisabeth Schnack, Zürich 1973. Kamimura, Kazuo (ୖᮧ ୍ኵ): Furious Love, Bd. 1 und 2, Orig. kyoujin kankei, ≬ே㛵ಀ, übers. von Jürgen Seebeck, Hamburg 2010. Katsushika, Hokusai (ⴱ㣭 ᩪ): Manga, hrsg. von Kazuya Takaoka, Tôkyô 2011. Koike, Kazuo (ᑠụ ୍ኵ)/Kojima, Gôseki (ᑠᓥ ๛ኤ): Lone Wolf and Cub, Orig. Ꮚ㐃僲⊋, übers. von John S., 28 Bände, Nettetal-Kaldenkirchen 2003-2009. Diess.: Lone Wolf and Cub, übers. von John S., Band 2, Nettetal-Kaldenkirchen 2003a. Diess.: Lone Wolf and Cub, übers. von John S., Band 3, Nettetal-Kaldenkirchen 2003b. Diess.: Lone Wolf and Cub, übers. von John S., Band 4, Nettetal-Kaldenkirchen 2003c. Koike, Kazuo (ᑠụ୍ኵ)/Kamimura, Kazuo (ୖᮧ୍ኵ): Lady Snowblood, Bd. 1, Orig. ಟ⨶㞷ጲ, übers. von Dorothea Überall, Hamburg 2006a. Diess.: Lady Snowblood, Bd. 2, übers. von Dorothea Überall und Satomi Kudo, Hamburg 2006b. Diess.: Lady Snowblood. Auferstehung, Bd. 3, übers. von Jürgen Seebeck, Hamburg 2009. Koyama-Richard, Brigitte: 1000 Jahre Manga, übers. von Christine Diefenbacher, Paris 2007. Luther, Martin: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 1985.
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Mezur, Katherine: Beautiful Boys/Outlaw Bodies. Devising Kabuki FemaleLikeness, Gordonsville (VA, USA) 2005. Montenbruck, Axel: Strafrechtsphilosophie (1995–2010). Vergeltung, Strafzeit, Sündenbock, Menschenrechtsstrafe, 2. Aufl., Berlin: Freie Universität, Internet-Publikation, 2010. http://edocs.fu-berlin.de/docs/servlets/MCRFileNodeSerlet/FUDOCS_derivate_000000001193/Strafrechtsphilosphie,_2._Aufl.pdf;jsessionid=4F09370B63369E1DE41AD7713F46834E?hosts= [letzter Zugriff am 12.10.2012]. Watanabe, Toshio: „Josiah Conder‘s Rokumeikan: Architecture and National Representation in Meiji Japan“, in: Art Journal, Vol. 55, Nr. 3, 1996, S. 2127.
F ILME 44 Fujita, Toshiya (⸨⏣ ᩄඵ): Shurayukihime (ಟ⨶㞷ጲ, Lady Snowblood, 1.12.1973), 97 Min. Fujita, Toshiya (⸨⏣ ᩄඵ): Shurayukihime: Urami Renga, 2 (ᾖ伭暒⦓! ⿐̀⿳㫴- Lady Snowblood 2: Love Song of Vengeance, 15.6.1974), 89 Min. Itô, Shunya (ఀ⸨ಇஓ): Joshû 701-gô: Sasori (ዪᅃྕࡉࡑࡾ, Female Prisoner #701: Scorpion, 25.8.1972), 87 Min. Kuroda, Yoshiyuki (㯮⏣⩏அ): Kozure ôkami: Jigoku e ikuzo! Daigorô (Ꮚ㐃僲⊋ ᆅ⊹僞⾜債 僄凕㑻, Lone Wolf and Cub: White Heaven in Hell, 24.4.1974), 84 Min. Misumi, Kenji (୕㝮 ◊ḟ): Kozure ôkami: Ko wo kashi ude kashi tsukamatsuru (Ꮚ㐃僲⊋ Ꮚ僸㈚傽⭎㈚傽僊傱僤僊僱, Lone Wolf and Cub: Sword of Vengeance, 15.1.1972), 95 Min. Misumi, Kenji (୕㝮 ◊ḟ): Kozure Ôkami: Sanzu no kawa no ubaguruma (Ꮚ㐃僲⊋ ୕㏵僔ᕝ僔ஙẕ㌴, Lone Wolf and Cub: Baby Cart at the River Styx, 22.4.1972), 85 Min. Misumi, Kenji (୕㝮 ◊ḟ): Kozure Ôkami: Shinikaze ni mukau ubaguruma (Ꮚ㐃僲⊋ Ṛ僑㢼僑ྥ催 ஙẕ㌴, Lone Wolf and Cub: Baby Cart to Hades, 2.9.1972), 89 Min. Misumi, Kenji (୕㝮 ◊ḟ): Kozure Ôkami: Meifumadô (Ꮚ㐃僲⊋ ෞᗓ㨱㐨, Lone Wolf and Cub: Baby Cart in the Land of Demons, 11.8.1973), 89 Min. Saitô, Buichi (ᩪ⸨Ṋᕷ): Kozure Ôkami: Oya no kokoro ko no kokoro (Ꮚ㐃僲⊋ ぶ僔ᚰᏊ僔ᚰ, Lone Wolf and Cub: Baby Cart in Peril, 30.12.1972), 108 Min.
Angaben nach www.imdb.com, japanische Daten nach www.jmdb.ne.jp
Whatever Happened to Bette Davis? Die zweite Karriere der Hollywood-Diven im Psychothriller der 1960er Jahre M ARCUS S TIGLEGGER
Der folgende Beitrag ist einer zeitlich begrenzten Welle von amerikanischen Thrillern gewidmet, die sich durch eine bestimmte Personenkonstellation auszeichnen und eine erstaunlich stilistische Kohärenz aufweisen. Der erste Blick soll also der filmhistorischen Kontextualisierung jener Filme der 1960er Jahre gelten, in denen gealterte Hollywood-Diven als psychopathische Mörderinnen eine zweite Karriere absolvierten. In einem zweiten Schritt soll das unheimliche Potenzial dieser Filme analysiert werden, das zu der umgangssprachlichen Bezeichnung ‚Hag-Horrorǥ führte. Hierbei spielt vor allem die Herleitung und Mehrdeutigkeit dieses Begriffs eine Rolle. Und in einem dritten Schritt wird das Ende der Welle zu Beginn der 1970er Jahre als potenzielles Camp-Phänomen im Sinne von Susan Sontags Ausführungen reflektiert.
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EINER
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1961 ließ die Hollywood-Diva Bette Davis (1908-1989) des im Sinken begriffenen Studiosystems1 eine berühmte Anzeige in den Zeitungen von Los Angeles veröffentlichen, in denen sie schrieb: „Dreifache Mutter, geschieden, Amerikanerin. Mit dreißigjähriger Erfahrung als Schauspielerin in einer Vielzahl von
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Das amerikanische Studiosystem, auch „classical Hollywood“ genannt, kann man zwischen 1930 und 1960 verorten. Spätestens mit dem Misserfolg von Joseph L. Mankiewicz’ Cleopatra (1962) waren die alten Konzepte gescheitert.
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Filmen sucht eine feste Anstellung in Hollywood.“2 Davis wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass jener Film, den sie gerade beendet hatte, ihr eine zweite Karriere bescheren sollte: Als ‚creepy old hagǥ, wie dieser Rollentypus bald bezeichnet wurde. Der Film war What Ever Happened to Baby Jane? (Was geschah wirklich mit Baby Jane?, 1961, Abb. 1), ein Psychothriller von Robert Aldrich nach dem Kriminalroman von Henry Farrell. Abbildung 1: Screenshot aus: Robert Aldrich: What Ever Happened to Baby Jane? (1961), Blanche und Jane
Er knüpfte sowohl an Alfred Hitchcocks Psychothriller der späten 1950er Jahre, insbesondere auch Psycho (1960) an, beschwor die hoffnungslose Todesnähe von Henri-Georges Clouzots Les Diaboliques (Die Teuflischen, 1954), erinnerte aber in seiner metafilmischen Reflexion des alten Studiosystems auch an Billy Wilders Sunset Boulevard (Boulevard der Dämmerung, 1950) und Aldrichs eigenes Hollywood-Melodram The Big Knife (Hollywood Story, 1955), die auf intensive und zynische Weise die Mechanismen des Systems, Stars zu produzieren und auch wieder zu vernichten gegen sich selbst richteten. In kontrastreichen Schwarzweißbildern erzählt Aldrich ein weibliches Melodram als Gothic-Horror-Fabel: Baby Jane (Bette Davis) war einst ein gefeierter singender Kinderstar, der ganze Stolz ihres Vaters. Im Gegensatz zu ihrer Schwester Blanche gelang es ihr jedoch nie, eine ernsthafte Filmkarriere aufzubauen. Als sichtlich gealterte, alkoholkranke Frau hat Jane dieses Schicksal nie
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Robert Moss: Der klassische Horrorfilm, München 1982, S. 123.
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aufarbeiten können und es scheint, als sei sie das naive Mädchen von damals geblieben. Sie wohnt mit ihrer verbitterten Schwester Blanche zusammen, die ebenfalls von einer gealterten Hollywood-Diva gespielt wird: Bette Davis’ Konkurrentin Joan Crawford. Als sie mitbekommt, dass Blanche, die nach einem Unfall an den Rollstuhl gefesselt ist, das gemeinsame Haus verkaufen will, schmiedet Jane einen teuflischen Plan: Jane beginnt, die ihr ausgelieferte Blanche zu demütigen und zu vergiften. Zum Essen legt sie ihr u.a. eine tote Ratte vor. Als Außenstehende das drastische Verhältnis der ungleichen Schwestern zu ahnen beginnen, begeht Jane auch einen Mord. Erst ein Pianist (Victor Buono), der Jane zu einem Comeback verhelfen soll, entdeckt die gefesselte und ausgelieferte Blanche. Bevor die Polizei eintrifft, schleift Jane ihre halbtote Schwester zum Strand, wo diese zugibt, den Unfall einst selbst verschuldet zu haben, um sich an ihrer erfolgreicheren Schwester zu rächen (Abb. 2). Abbildung 2: Screenshot aus: Robert Aldrich: What Ever Happened to Baby Jane (1961), Blanche und Baby Jane am Strand
Völlig entrückt beginnt Jane, Blanche lebendig zu verscharren, wozu sie das Kinderlied singt, das sie einst zum Star machte: „I’m writing a letter to Daddy...“ Aldrich, der seine ganze Karriere hindurch dem Studiosystem mit bitterem Misstrauen begegnet war, treibt Wilders Konzept aus Sunset Boulevard auf die Spitze: Aus dem Autor, der Gloria Swansons Comeback schreiben soll (William Holden), ist bei ihm ein verschwitzter, geldgieriger Barmusiker geworden, der schnell die fatale Situation der Schwestern durchschaut, jedoch nicht einschreitet. Bette Davis spielt eine im Alkoholwahn früh vergreiste Kindfrau, deren brü-
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chig vorgetragenes Kinderlied eine ähnliche Tragik produziert wie Emil Jannings „Kikeriki“ am Ende von Der blaue Engel (1932) von Josef von Sternberg: Die Klangmarke eines restlos gescheiterten Lebens. Während Joan Crawford mit Würde die Leidende femme fragile der Schwarzen Romanik3 spielt, kommt Bette Davis die weiblich umgedeutete Rolle eines intriganten gothic villain zu, der das existenzielle Abhängigkeitsverhältnis in einen nicht-konsensuellen Sadomasochismus treibt.
S OUTHERN G OTHIC M ELODRAMEN Baby Jane ist kommerziell einer der erfolgreichen Filme Robert Aldrichs geworden und verschaffte sowohl Davis’ als auch Crawfords Karrieren einen neuen Aufschwung.4 Aldrich gelang es sogar, sich als Produzent von den Studios unabhängig zu machen und bis in die frühen 1970er Jahre hinein seine Filme selbstverantwortlich zu produzieren. So griff er die Tragik der gescheiterten Hollywood-Karriere, die das Individuum zerstört, in The Legend of Lylah Clare (Große Lüge Lylah Clare, 1966) mit Kim Novak wieder auf. Die direkte Nachfolge von Baby Jane jedoch trat ein wiederum auf einem Roman von Henry Farrell basierender Psychothriller an, der diesmal Bette Davis mit Olivia de Havilland konfrontierte: Hush, Hush, Sweet Charlotte (Wiegenlied für eine Leiche, 1964). Das in Baby Jane entwickelte Konzept der weiblichen Verbitterung, die in Wahnsinn und Mord mündet, wird hier zu einem mit der Präzision eines Uhrwerks ablaufenden Planspiel, dessen Opfer diesmal von Davis gespielt wird. Als die Bagger bereits vor ihrem Haus stehen, verteidigt Charlotte Hollis (Davis) ihre alte Südstaatenvilla mit dem Gewehr in der Hand gegen Grundstücksspekulanten, die eine Schnellstraße darüber errichten wollen. Erst später erfahren wir, dass die schrullige Lady ein düsteres Geheimnis birgt: Einst wurde ihr Geliebter blutig mit einer Axt ermordet. Obwohl sie selbst als Täterin galt, ist sie fest überzeugt, dass er lebt und eines Tages wiederkommt. Ihr Gedanke verfestigt sich, nachdem ihre Cousine Miriam (de Havilland) ins Haus zieht, denn nachts hört man Klavierklänge, Leichenteile tauchen auf und verschwinden wieder – es erscheint, als sei der Tote zurückgekehrt. Die Haushälterin (Agnes Moo-
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Vgl. v.a. Mario Praz: Liebe, Tod und Teufel. Die Schwarze Romantik, München 1963 (italienisches Original: La carne, la morte e il diavolo nella letteratura romantica, Rom/Mailand 1930).
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Details hierzu finden sich in: Charlotte Chandler: Bette Davis. Die persönliche Biographie, München 2008, S. 290-307.
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rehead) wird ermordet. Charlotte verfällt zusehends dem Wahnsinn, bis sie unvermittelt Zeugin eines Gespräches wird, in dem deutlich wird, dass Miriam zusammen mit ihrem Geliebten, dem Hausarzt (Joseph Cotten), Charlotte entmündigen lassen will, um eigenmächtig das Haus zu veräußern. Ein steinerner Blumenkübel macht dieser Intrige ein jähes Ende. Abbildung 3: Screenshot aus: Robert Aldrich: Hush, Hush, Sweet Charlotte (1968), Charlotte ist misstrauisch
Während Aldrichs Mischungen aus überzeichnetem grand guignol-Horror5 und klassischem Melodram auf der Oberfläche durchaus stereotyp und plakativ erscheinen mit ihren chiaros curo-geprägten Schattenspielen, grellen Schockeffekten und expressiver Filmmusik, wird leicht übersehen, wie intensiv sich diese Filme auf ihre Protagonistinnen einlassen. Der langsame Erzählduktus (beide Filme sind über zwei Stunden lang) ermöglicht eine intensive Einfühlung in die Tragik dieser Verlorenen, die von Bette Davis hingebungsvoll und nahezu exhibitionistisch verkörpert werden: Wenn sich ihr burlesk angemaltes Gesicht in tiefe Falten legt und mit brüchiger Stimme zum Lied ansetzt, erreicht die Schau-
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Der Begriff leitet sich von den effektorientierten Theaterstücken des Pariser Grand Guignol-Theaters in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts her, wo melodramatische und gothic-horror-Traditionen verschmolzen.
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erästhetik eine neue Dimension. Irritierend ist dieser Moment, da er einen Figurentypus präsentiert, der unvertraut erscheint: die kindliche Frau mit dem gealterten Gesicht der Mutter – quasi ein pervertiertes Zerrbild der reifen Frau im Verweissystem des Hollywoodfilms, der für solche Figuren nur einen Platz bereit hält: die gefährliche Irre. Annette Brauerhoch, deren Buch Die gute und die böse Mutter6 ein Foto aus Baby Jane auf dem Cover trägt, verweist diesbezüglich auf ein Phänomen, das sich bereits in der männlich konnotierten Blickdramaturgie des classical Hollywood codiert habe7: Mutterfiguren, obwohl zahlreich in der Filmgeschichte vorhanden, stellen in diesem Rahmen insofern ein Problem dar, weil mit ihnen einerseits über das weibliche Moment auch das sexuelle in den Film tritt, sie andererseits aufgrund gesellschaftlicher Konventionen und Tabus nicht mit Sexualität, wohl aber mit Weiblichkeit assoziiert werden. Sobald mit der Mutter eine weibliche Gestalt die Filmszene betritt, die nicht nach den herrschenden Funktionsweisen des Films sexualisiert werden darf, treten für den Film Probleme auf, die sich in seiner ästhetischen Gestaltung niederschlage. So wird die Ästhetik des Films zum Symptom für gesellschaftliche Verdrängungen im Verhältnis zur Mutter.8
Nun handelt es sich aber gerade bei Baby Jane nicht um eine Mutter, sondern um eine Kind gebliebene traumatisierte Frau Ende fünfzig, die in extremer Weise den Jugendwahn des Hollywood-Systems verdeutlicht: Eine Frau, die nicht jung und begehrenswert bleibt, hat nur noch die Wahl zwischen Mutter und Wahnsinniger. Von daher hat man es hier durchaus mit einem Typus der ‚bösen Frauǥ im Sinne Bram Dijkstras9 zu tun: Eine Frau, die weder Liebhaberin noch Mutter sein kann, wird zur Inkarnation des Bösen, zur hag verklärt. Dieser englische Begriff leitet sich von Hagazussa ab, das „Zaunreiterin“10 bedeutet, also eine Frau, die zwischen den Welten (auf dem Grenzzaun) wandelt: zwischen Kind
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Annette Brauerhoch: Die gute und die böse Mutter. Kino zwischen Melodrama und Horror, Marburg 1996.
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Laura Mulvey: „Visuelle Lust und narratives Kino“, in: Gieslind Nabakowski/Helke Sander/Peter Gorsen (Hgg.): Frauen in der Kunst, Bd. 1., Frankfurt a.M. 1980, S. 3046.
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Brauerhoch, S. 8.
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Bram Dijkstra: Das Böse ist eine Frau. Männliche Gewaltphantasien und die Angst vor der weiblichen Sexualität, Reinbek bei Hamburg 1999.
10 Hans Peter Duerr: Traumzeit. Über die Grenzen zwischen Wildnis und Zivilisation, Frankfurt a.M. 1978.
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und Mutter, zwischen Alltag und Wahnsinn, zwischen Wildheit und Zivilisation. Auf Deutsch ist der Begriff „Hexe“ bekannter – und wie die historischen Hexenverfolgungen mit unzähligen Todesopfern belegen, mündet die Angst vor dieser uneindeutigen Weiblichkeit mitunter in Ideen einer reinigenden und auslöschenden Gewalt.
‚H AG H ORROR ǥ Der ‚Hag Horrorǥ wurde zu einer kleinen Welle der späten 1960er Jahre, und Robert Aldrich selbst ließ es sich nicht nehmen, den programmatisch betitelten What Ever Happened to Aunt Alice? (Witwen morden leise, 1969, Regie: Lee H. Katzin) zu produzieren. Diese Geschichte der notorischen Serienmörderin Mrs. Marble (Geraldine Page), die einsame ältere Frauen als Haushälterinnen anstellt und dann wegen deren Ersparnisse ermordet, entbehrt jedoch nicht eines deutlichen schwarzen Humors und kann bereits als Metakommentar und Parodie dieses Phänomens gesehen werden. So würde sich auch der betont plagiierte Titel erklären, wie auch die Tatsache, dass Aldrich nicht selbst Regie führen wollte. Einen anderen Subtext dieser Filme, die lesbische Leidenschaft reifer Damen, explizierte Aldrich wiederum selbst in seinem Melodrama The Killing of Sister George (Das Doppelleben der Sister George, 1968, Abb. 4), das vom seelischen Zerbrechen der lesbischen Schauspielerin Jane Buckridge (Beryl Reid) erzählt, deren Karriere als Krankenschwester George in einer TV-Soap sich langsam dem Ende nähert. Abbildung 4: Screenshot aus: Robert Aldrich: The Killing of Sister George (1968)
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Während also der mediale Tod von Sister George geplant wird, muss sie erfahren, dass ihre Geliebte (Susanna York) eine Affäre mit einer anderen Frau (Coral Browne) pflegt. In einem verheerenden Psychoduell richtet sie sich endgültig zugrunde, so dass ihre finale Synchronisation als Kuh Klarabella für eine Kinderserie wie ein brüchiger Todeshauch klingt. Der Film erregte vor allem einen Skandal, da er aufgrund der lesbischen Thematik ein X-Rating (Jugendverbot) erhielt, mit dem man eher Sexfilme jener Jahre belegte. Bette Davis blieb dem Genre ebenfalls treu: In Dead Ringers (Der schwarze Kreis, 1964) von Paul Henreid spielte sie in einer Doppelrolle ein ungleiches Zwillingspaar, das von Eifersucht zerrissen wird. Ebenso tauchte sie in Roy Ward Bakers Thriller The Anniversary (Die Giftspritze, 1968) auf, und während Bette Davis in The Nanny (1965) von Jimmy Sangster eine nur scheinbar bösartige, zweifellos aber biestige Gouvernante spielt, die von dem schutzbefohlenen Kind des Mordes verdächtigt wird – wieder schimmert das Märchenmodell der bösartigen alten Hexe durch –, kehrte Joan Crawford mit The Straight Jacket (Die Zwangsjacke, 1964) von William Castle zum ‚Hag-Horror ލzurück. Darin spielt sie eine verstörte Frau, die ihren Mann und dessen Geliebte mit einer Axt ermordet hatte und nach zwanzig Jahren als geheilt entlassen wird. Ihre Tochter jedoch treibt sie in die alte Rolle zurück, so dass bald der Verdacht auf sie fällt, als die ersten Köpfe rollen. Die Geschichte um Intrigen, Morde und Masken stammte von Robert Bloch, dem Autor von Alfred Hitchcocks Psycho (1960) und kombiniert plakativ die bewährten Motive: die traumatisierte Frau in den Wechseljahren, jenem Zwischenreich zwischen Jugend und Alter; die skrupellose Intrige; sowie der inszenierte Spuk, der Realität und Vision, Wahn und Wirklichkeit verschmelzen lässt. Mit Tallulah Bankhead kehrte eine weitere gealterte Diva des Classical Hollywood zurück: Bekannt als Paramount-Star und Hauptdarstellerin aus Hitchcocks Lifeboat (Das Rettungsboot, 1944), spielt sie in der britischen Produktion der Hammer Films Die! Die! My Darling / Fanatic (1965) von Silvio Narrizzano eine geistig verwirrte Ex-Schauspielerin, die auf ihrem isolierten Landgut zusammen mit ihren Dienern einem bizarren Totenkult um ihren Sohn frönt. Als die Verlobte des Toten (Stephanie Powers) zu Besuch kommt, beschließt sie, diese auf dem Altar zu opfern, was ihr fast auch gelingt. Was bei Aldrich noch einer metafilmischen Logik gehorchte (die Kehrseite von Hollywood), wurde in der Hammer-Produktion vereindeutigt und mit okkulten Elementen aufgerüstet. Lebensphase und Beruf der Psychopathin geraten so jedoch weitgehend in den Hintergrund. Was bleibt, ist das Modell der negativen Mutter, die zur abjekten, alptraumhaften Inkarnation des Bösen gerät und nur durch einen brachialen Akt der Gewalt geläutert werden kann.
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C AMPY H ORROR Einen etwas anderen Weg in diesem Kontext beschritt der zunächst mit Kenneth Anger und dem Undergroundfilm assoziierte Curtis Harrington. Nach einigen Experimentalfilmen, die sich mit Grundmotiven der Horrorphantastik auseinandersetzten, blieb Harrington in seinen Spielfilmarbeiten und Fernsehfilmen dem Horrorgenre weitgehend treu. Nach einigen Mystery- und Psychothrillern inszenierte er vor allem zwei ‚Hag-Horrorǥ-Filme mit Shelley Winters, die für diesen Diskurs aus zweierlei Gründen interessant sind: Erstens bringen sie mit ihrer expressiven Farbigkeit den camp-Charakter dieser Filme – vor allem im Umgang mit dem mythischen Classical Hollywood auf den Punkt, und zweitens nähern sie sich – vor allem im zweiten Beispiel – vergleichsweise explizit einer märchentypischen Erzählweise, die wiederum den Archetyp der ‚alten Hexeǥ (‚old hagǥ) verdichtet. Bereits die subversive und makabre Komik von Aldrichs Prototypen ermöglicht einen Blick auf die Schattenseiten des Classical Hollywood (ca. 19301960), die ein ganz eigenes metareflexives Vergnügen ermöglicht. Die Zeit der Kinderstars vom Modell einer Shirley Temple ist lange vorbei, es bleibt ein unheimliches Zerrbild, das tragikomisch die eigentliche Erscheinung verzerrt. Dieser bittere Kommentar über Hollywood mit seinen eigenen Mitteln (den Stars von einst) kann bereits als camp betrachtet werden, eine komplexe Form des Kitsches und seiner Rezeption. In ihren ‚Notes on Campǥ (1964) liefert Susan Sontag die einflussreichste und bis heute umfassendste Definition, was unter camp zu verstehen sei. Sie betont dabei, dass camp weniger ein materielles Phänomen als der Modus einer Rezeption, eine Wahrnehmungsform sei.11 Bedingung ist eine stilistisch übersteigerte Form der Repräsentation und Rezeption von kulturellen und speziell medialen Produkten wie Film, Musik, Literatur, Mode und Bildende Kunst, die (meist unintentional) mit Künstlichkeit und Übertreibung arbeitet. Die Wahrnehmung von oft trivialen Werken der populären Kultur als camp wertet diese zusätzlich auf und verleiht ihnen eine neue, nicht geplante Qualität. Die Wurzeln des camp sieht Sontag im Dandytum des späten 19. Jahrhunderts, wie es Oscar Wilde prototypisch verkörperte, und sie betont einen weiteren Aspekt, der sich bereits hier zeigt: die enge Verbindung von Camp und homosexueller Kultur.12 Dabei werden oft nicht die aktuell dem Zeitgeist entspre-
11 Sontag, Susan: Anmerkungen zu ‚Campǥ, in: Dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, Frankfurt a.M. 1982, S. 322. 12 Ebda., S. 337.
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chenden populären Kulturgüter als camp betrachtet, sondern gerade Phänomene, die bereits aus der Mode gekommen sind und retrospektiv neu betrachtet werden können.13 Die hohe Wertschätzung homosexueller Filmemacher wie Rainer Werner Fassbinder und Pedro Almodóvar für die farbenfrohen Melodramen von Douglas Sirk aus den 1950er Jahren qualifizieren diese Filme retrospektiv als camp. Sirks Melodramen entsprechen in ihrem unbedingten Willen, aus sozialen oder soziohistorischen Konflikten ein Höchstmaß an Emotionalität zu gewinnen, deutlich jener von Sontag konstatierten Idee des ‚grandiosen Scheiternsލ, die jedoch nicht auf Theatralik, Leidenschaft und Verspieltheit verzichten mag. Was zur Entstehungszeit als ultimatives Bild gedacht war, entlarvt sich rückblickend also umso stereotyper: The whole point of Camp is to dethrone the serious. Camp is playful, anti-serious. More precisely, Camp involves a new, more complex relation to ,the seriousǥ. One can be serious about the frivolous, frivolous about the serious.14
Was bei Aldrich noch als zynischer Kommentar gedacht sein mag, weicht in den Filmen des homosexuellen Regisseurs Curtis Harrington einer grellen Melodramatik, die nie kennzeichnet, wie ernst das Spektakel eigentlich gemeint ist. So verbindet er die unheimliche Qualität von Baby Jane mit einer farbenfrohen Inszenierung, die die eingestreuten Schockeffekte umso greller und überzeichneter erscheinen lässt. Anders als Aldrichs Aunt Alice jedoch erscheinen seine Filme nie explizit als Komödien. Sie bieten sich daher für eine ‚campyǥ Rezeption an. In What’s the matter With Helen? (Was ist bloß mit Helen los?, 1971, Abb. 5) spielen Shelley Winters und Debbie Reynolds zwei etwas naive Frauen in mittleren Jahren, die im Hollywood der 1930er Jahre ein Tanzstudio eröffnen. In Gestalt eines mysteriösen Fremden werden die Frauen gelegentlich von ihrer überschatteten Vergangenheit eingeholt – doch vor allem Adelle (Reynold) lebt sichtlich auf und findet gar einen reichen Geliebten (Dennis Weaver), während die etwas schrullige und von Kindheit an traumatisierte Helen (Winters) in ihren Angstvisionen gefangen scheint und nur in einer Predigerin (Agnes Moorehead) Halt findet. Eingenommen von Alpträumen, Visionen und Paranoia begeht Helen schließlich zwei Messermorde: an dem geheimnisvollen Fremden und an Adelle, die sie mitsamt ihren weißen Kaninchen massakriert.
13 Ebda., S. 333. 14 Ebda., S. 336.
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Abbildung 5: Screenshot aus: Robert Aldrich: What’s the matter With Helen? (1971)
Harringtons Inszenierung zeigt sich fasziniert vom morbiden Glamour jener Ära, die sein Freund und Kollege Kenneth Anger in seinen Bildbänden „Hollywood Babylon“ nannte: Eine Zeit, als Kino einen Teil der amerikanischen Realität bestimmt, als man sich ungeachtet der Depressionsära noch im Showgeschäft etablieren konnte. Das alles zeigt Harrington in nostalgischer Farbigkeit, in die sich das leuchtende Hellrot des Blutes irritierend einfügt. Wie Aldrichs Filme ist What’s the Matter With Helen? zugleich eine Hommage und ein Requiem auf das alte Hollywood, nur dass Harringtons Ästhetik in ihrem nostalgischen Gestus eher auf Camp abzielt als Aldrichs eigene zynische Drastik. Den eigentlichen Endpunkt des Hag-Horror jedoch inszenierte Curtis Harrington erst mit Whoever Slew Auntie Roo? (Wer hat Tante Ruth angezündet?, 1972). Hier spielt Shelley Winters die merkwürdige Rosie Forrest, die mit ihren Angestellten in einem alten englischen Landgut residiert. Sie trauert seit vielen Jahren ihrem verstorbenen Kind nach, das laut den von ihr bezahlten Medien und Wahrsagern aus dem Jenseits mit ihr spricht. Zur Weihnachtszeit veranstaltet Rosie regelmäßig ein großes Fest für die Waisenkinder der Umgebung. Obwohl sie nicht eingeladen wurden, schleichen sich auch Christopher (Mark Lester) und Kathy (Chloe Franks) in das Haus. In Kathy sieht Rose die Reinkarnation ihres Kindes und schließt sie augenblicklich ins Herz. Als die anderen Kinder gegangen sind, muss Christopher feststellen, dass seine Schwester verschwunden ist. Als er entdeckt, dass in Rosies Kinderbettchen eine mumifizierte Leiche liegt, verfestigt sich sein Verdacht, dass die schrullige alte Frau tatsächlich eine böse Hexe ist, die Kathy ans Leben will. Wie er es aus dem Märchen von Hänsel und Gretel gelernt hat, weiß Christopher, dass nur Feuer gegen die Hexe hilft. Und hier beantwortet sich die Frage des Titels.
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Mit den voranschreitenden 1970er Jahren verebbt das ‚Hag-Horrorލ-Phänomen ebenso plötzlich wie es entstanden war. An diese Stelle der Bösen alten Ladies traten nun maskierte Killer, die halbnackten Teenagern nach dem Leben trachteten, ein Erfolgsrezept, das spätestens mit John Carpenters Halloween (Halloween – Die Nacht des Grauens, 1978) das Horrorgenre nachhaltig veränderte und verjüngte. Der Camp des Hag Horror, der schon in seiner Entstehungszeit merkwürdig anachronistisch wirkte, erschien nun endgültig vergreist. Obwohl man die Figur der bösen Mutter als Konstante behielt: So entpuppt sich der Killer in Friday the 13th (Freitag der 13., 1979) von Sean S. Cunningham am Ende als rachsüchtige Frau mittleren Alters, und auch Charles Kaufmans Mother’s Day (Muttertag, 1980) trägt den Hinweis auf die Urheberin des Grauens bereits im Titel. Was weitgehend verloren ging, war die komplexe Zweideutigkeit einer weiblichen Bedrohung, die mit dem traditionellen Glauben an die böse Hexe sowie mit dem anthropologischen Phänomen der Weltenwandlerin, der Hagazussa (s.o.), spielte. Ebenso verloren war der konkrete Bezug zum Untergang des Hollywood-Studiosystems. Gerade die frühen Filme von Robert Aldrich und Billy Wilder sind explizite Essays über den Untergang einer glorreichen Epoche, die Angers wie erwähnt ganz unverblümt ‚Hollywood Babylonǥ nannte. Der ‚HagHorrorǥ steht am Ende jener Studioära, die um 1960 mit überschwänglichen Großproduktion ihr eigenes Grab schaufelte und sich erst Ende der 1960er Jahre im New Hollywood neu erfinden musste: Mit jungen Protagonisten und tagesaktuellen Themen, mit Counterculture und Popmusik. Die ‚Horror-Hagsǥ sind quasi der verbitterte Geist des Classical Hollywood, der dessen Grabgesang anstimmt. Es verwundert also kaum, dass ausgerechnet ein mit Kenneth Anger befreundeter Hollywood-Romaniker am längsten im Hag-Horror verharrte: Curtis Harrington. 1977 drehte er mit Ruby noch einen weiteren Horrorfilm um eine parapsychologische Rächerin, gespielt von Piper Laurie, bis er in den 1980er Jahren seine Karriere mit TV-Produktion beschloss (u.a. Episoden der Serie Denver Clan). So spiegelt sich erneut der Untergang einer Ära in der Regression auf das jede künstlerische Ambition eliminierende Daily-Soap-Niveau, ein Phänomen, das wiederum Robert Aldrichs The Killing of Sister George prophezeite. Eine bittere Bilanz.
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L ITERATUR Brauerhoch, Annette: Die gute und die böse Mutter. Kino zwischen Melodrama und Horror, Marburg 1996. Chandler, Charlotte: Bette Davis. Die persönliche Biographie, München 2008. Dijkstra, Bram: Das Böse ist eine Frau. Männliche Gewaltphantasien und die Angst vor der weiblichen Sexualität, Reinbek bei Hamburg 1999. Duerr, Hans Peter: Traumzeit. Über die Grenzen zwischen Wildnis und Zivilisation, Frankfurt a.M. 1978. Moss, Robert: Der klassische Horrorfilm, München 1982. Mulvey, Laura: „Visuelle Lust und narratives Kino“, in: Gieslind Nabakowski/Helke Sander/Peter Gorsen (Hgg.): Frauen in der Kunst, Bd. 1., Frankfurt a.M. 1980, S. 30-46. Sontag, Susan: „Anmerkungen zu ‚Campǥ“, in: Dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, Frankfurt a.M. 1982. Praz, Mario: Liebe, Tod und Teufel. Die Schwarze Romantik, München 1963 (italienisches Original: La carne, la morte e il diavolo nella letteratura romantica, Rom/Mailand 1930).
Undoing men? Mörderinnen in der Oper
Abbildung II: Frederic Leighton: Electra at the Tomb of Agamemnon, c. 1869
Die mordende Frau auf der Opernbühne – ein Rollenprofil im Spannungsfeld von Ästhetik und Moral K ADJA G RÖNKE
Auf der Opernbühne sind Mord und Totschlag allgegenwärtig – und es sind vorrangig Männer, die töten. Mordende Frauen dagegen bilden die Ausnahme. Sie haben andere Motive, z. T. andere Waffen und das Geschehen wird anders in die Bühnenhandlung eingebettet, anders vorbereitet und grundlegend anders beurteilt als beim mordenden Mann. Hinter den verwendeten musikdramaturgischen Darstellungsmitteln stehen Denkfiguren, die im Geschlechterverhältnis und in tradierten Frauenbildern wurzeln und die mordende Frau auf eine spezifische Art ästhetisch und moralisch verorten. Die folgenden Ausführungen umfassen einen knappen Überblick über grundsätzliche Aspekte des Rollenprofils und über die vier opernhistorisch relevanten Kategorien mordender Frauen vom 17. bis 20. Jahrhundert. Abschließend wird das Spannungsfeld von Ästhetik und Moral, in dem dieser Rollentypus angesiedelt ist, am Beispiel von Giuseppe Verdis Oper Macbeth (1847, Zweitfassung 1865)1 verdeutlicht. Die Themenstellung ,mordende Frauǥ impliziert zwei Voraussetzungen: Zum einen ist die Mörderin eine zwar fiktive, aber dennoch menschlich denkende und handelnde Person. Nicht in diese Kategorie fallen also Märchen- und Sagengestalten, mythologische Figuren oder Frauen, die durch übersinnliche Kräfte den Tod bringen, sofern sie nicht zugleich als menschliche Charaktere mit eigenem Verantwortungsbewusstein ausgestaltet sind. Zum anderen bleiben all jene Opernheldinnen unberücksichtigt, die einen Mord zwar planen, ihn letztlich aber nicht verwirklichen (wie Vincenzo Bellinis Norma, 1831), für seine Ausführung männliche Hilfe benötigen (wie Elektra von Richard Strauss, 1909, Abb. II) oder 1
Angegeben ist hier und im Folgenden jeweils das Jahr der Uraufführung.
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gar sich selbst töten (wie Giaccomo Puccinis Madama Butterfly, 1904). Ebenso bleiben Opern außer Acht, in denen der Mord zur Vorgeschichte gehört (wie in Verdis Il Trovatore, 1853). Dass eine Frau unmittelbar im Verlauf der Opernhandlung tötet, bedeutet nicht, dass der Mord2 tatsächlich zur Bühnendarstellung gebracht wird. Im Unterschied zu männlichen Mördern, für die entsprechende Skrupel kaum gelten, gelangt bei mordenden Frauen überwiegend das „Gebot des Horaz“ zur Anwendung, „das Grauenhafte nur berichten zu lassen“ . 3 Nur etwa zwei Fünftel der für diesen Beitrag erfassten Morde sind tatsächlich auf der Bühne zu sehen. Als Mordwaffen überwiegen Gift und Stichwaffen; weitere Todesarten sind Ertränken, Erschießen und Erschlagen, womit die Palette der Tötungsarten breiter ist als bei Männern, da es offenbar keine Oper gibt, in der ein Mann sein Opfer vorsätzlich ertränkt. Immerhin knapp ein Drittel der Täterinnen wird für ihr Vergehen durch eine soziale Institution (Polizei, Justiz oder Dorfgemeinschaft) zur Rechenschaft gezogen, während männliche Tötungen nur in den seltensten Fällen öffentlich geahndet werden. In der Zusammenschau der in Frage kommenden Opern wird freilich rasch deutlich, dass weder die Morddarstellung noch die gesetzliche Bestrafung im Zentrum des Interesses stehen. Die künstlerische Intention bei Frauen, die auf der Opernbühne töten, liegt auf einem ganz anderen Bereich und fordert die ästhetische Darstellungskraft des Komponisten ebenso heraus wie sein moralisches Urteil. Dementsprechend ist auch die juristische Definition der Täterin als ,Mörderinǥ nicht immer eindeutig. In den meisten Fällen gehört es zum dramaturgischen Konzept, die Frage nach der Schuld in die Oper zu integrieren, und oft nehmen Entschuldungsstrategien und Mitleidsfaktoren einen wichtigen Raum ein. Im Folgenden werden daher entgegen der juristischen Definition von ,Mordǥ
2
Das Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland in der Fassung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322), zuletzt geändert durch Gesetz vom 25. Juni 2012 (BGBl I S. 137), definiert Mord über den Täter. Im besonderen Teil, 16. Abschnitt, §211 heißt es: „Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet.“
3
Corinna Herr: Medeas Zorn. Eine ,starke Frauǥ in Opern des 17. und 18. Jahrhunderts, Herbolzheim 2000, S. 50. Herr verweist durch ihr Zitat auf das barocke Trauerspiel und auf Carsten Zelle: Angenehmes Grauen. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert, Hamburg 1987, S.1-16.
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pauschal alle Frauen, die mit eigener Hand ein fremdes Leben auslöschen, in die Untersuchung einbezogen und zwischen Mord, Totschlag, Notwehr und Versehen nicht differenziert. Der entsprechende Werkbestand ist zahlenmäßig überschaubar (er umfasst knapp 50 Partituren), aber inhaltlich breit gefächert und beinhaltet zentrale Opern des 17. bis 20. Jahrhunderts aus dem gesamten west- und osteuropäischen Repertoire. In der Kontinuität der Darstellung gibt es allerdings zwei signifikante Pausen: Nach 1848 und nach 1945 versiegt dieser Rollentypus fast ganz. Das lässt vermuten, dass die Behandlung des Themas mit gesellschaftspolitischen Entwicklungen einhergeht. Diese These erhärtet sich angesichts der Beobachtung, dass die Abfolge der künstlerischen Frauenbilder in groben Zügen den kulturhistorisch relevanten Frauenbildern entspricht. Das heißt, dass die Komponisten anfangs vor allem sogenannte ,femmes fortesǥ4, also starke, aktive und politisch engagierte Frauen zur mordenden Bühnenheldin erheben oder sich den ,femmes faiblesǥ oder ,femmes fragilesǥ zuwenden, also schwachen, passiven und in den meisten Fällen unschuldig leidenden Frauen, wie sie im 18. Jahrhundert durch Jean-Jacques Rousseau in das Gedankengut des europäischen Bürgertums Eingang finden. Um die Wende zum 20. Jahrhundert dominiert dann die sogenannte ,femme fataleǥ die Bühnenhandlung, also eine Frau, deren selbstbestimmte Sexualität für den Mann zum Verhängnis wird, die aber für ihr Verhalten am Ende mit dem Tod bestraft wird. Sobald dann die Frauenbewegung solche typisierten Frauenbilder vehement in Frage stellt, sind sie für die Umgestaltung zur mordenden Opernheldin nicht mehr relevant. Die Vermutung liegt nahe, dass die schöpferische Beschäftigung mit den aktuellen Weiblichkeitsbildern nicht nur deskriptiv gemeint ist, sondern normativ auf das tatsächliche Verhalten der Frauen zurückwirken soll. Um es mit den Worten der Musik- und Kulturwissenschaftlerin Eva Rieger zu sagen: „Die [Opern-]Handlung mochte in einer Scheinwelt stattfinden, die Moral dagegen war auf das weibliche Publikum zugeschnitten.“5
4
Im Unterschied zu der ,femme fataleǥ und der ,femme fragileǥ, die von Männern geprägte, künstliche Konstruktionen vermeintlicher oder erwünschter Weiblichkeit darstellen, handelt es sich bei der ,femme forteǥ um ein bis ins 17. Jahrhundert hinein von Frauen positiv definiertes und real gelebtes Weiblichkeits- und Tugendmuster, das auf der Opernbühne mit Verzögerung rezipiert und gestaltet wird.
5
Eva Rieger: „Zustand oder Wesensart? Wahnsinnsfrauen in der Oper“, in: Sybille Duda/Luise F. Pusch, (Hgg.): Wahnsinnsfrauen, Bd. 2. Frankfurt a.M. 1996, S. 379.
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Um zu verdeutlichen, wie ausgerechnet eine Verbrecherin zur moralischen Prägung und Erziehung des weiblichen Publikums dienen kann, ist mehr nötig als nur eine Ausdeutung der Bühnenhandlung. Am Beispiel von Giuseppe Verdis Oper Macbeth soll verdeutlicht werden, wie die Analyse von Libretto und Partitur, musikdramaturgischen Faktoren und kompositorischen Mitteln ineinander greifen. Zuvor jedoch erfolgt ein systematischer Überblick über die etwa 50 Opern, die dem Themenkreis zuzuordnen sind. Hier gibt es drei klar umrissene Gruppen, nämlich ,Mord aus Eifersuchtǥ, ,Kindsmordǥ und ,politische Mordeǥ. Eine vierte Kategorie umfasst differenziert ausgeformte ,Einzelschicksaleǥ, die sich keiner der drei vorgenannten Gruppen eindeutig zuordnen lassen. Der ,Mord aus Eifersuchtǥ6 bildet die homogenste Gruppe weiblicher Opernmorde. Offenkundig handeln eifersüchtige Frauen auf der Opernbühne nach einem Schema, das vom Publikum als ,typischǥ für ihr Geschlecht wahrgenommen wird. Zum einen dominieren hier die Giftmorde als vermeintlich geschlechtsspezifische Tötungsart, zum anderen handelt es sich um Frauengestalten mit einem starken Willen, deren Mordplan von ihrer eigenen Triebhaftigkeit gelenkt ist. Dementsprechend ist die Mörderin aus Eifersucht fast immer die stimmmächtige Seconda donna und damit eine Mezzosopran-Partie, während in fast allen anderen Fällen der Mord der weiblichen Hauptrolle und damit einer Sopranistin zufällt.7 Die Eindeutigkeit des Mordmotivs macht für den Mord aus Eifersucht sowohl die Differenzierung von Gut und Böse als auch die moralische Nutzanwendung dieser Opern einfach: Der Mord aus Eifersucht erfolgt aus niederen Beweggründen; er wird nicht reflektiert und erzeugt auch keine inneren Konflikte. Folglich führt er zwar zu effektvollen dramatischen Konstellationen, seine Botschaft an das Publikum beschränkt sich jedoch auf eine Negativbelegung weiblicher Sexualität, die als Wurzel der Mordtat herausgestellt wird. Die mangelnde Differenzierung dieser Aussage lässt den Erziehungsfaktor deutlich hervortreten
6
Beispiele: Peter Tschaikowsky: Tscharodeika/Die Zauberin (1887), Giaccomo Puccini: Edgar (1889), Nikolai Rimski-Korsakow: Zarskaja nevesta/Die Zarenbraut (1899).
7
Zur Charakteristik der weiblichen Stimmlagen vergleiche z. B. Elizabeth Wood: „Sapphonics“, in: Philip Brett/Elizabeth Wood (Hgg.): Queering the Pitch. The New Gay and Lesbian Musicology, London 1994, S. 27-66; dort auch weiterführende Literatur.
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und entspricht der Moral eines bürgerlichen Publikums. Für den Mord aus Eifersucht gibt es keine Entschuldigung. Auch der ,Kindsmordǥ8 wird als typisch weiblich wahrgenommen, wobei die Opernbühne nicht nur den Kindsmord im engeren Sinne, also die Tötung eines Säuglings kennt, sondern auch den Mord an einem älteren, eigenen oder fremden Kind. Zugleich fällt auf, dass die Tötungen in dieser zahlenmäßig größten Gruppe weiblicher Bühnenmorde nahezu durchgehend von der szenischen Darstellung ausgenommen bleiben. Das mag damit zusammenhängen, dass das Sterben von Kindern auf der Bühne ohnehin einem starken Tabu unterliegt und einer skrupulösen dramaturgischen Motivation bedarf, wenn es gerechtfertigt sein soll.9 Die Unsichtbarkeit der Mordtat hat aber auch mit der eigentümlich ambivalenten moralischen Bewertung der Kindsmörderin zu tun. Denn die Kindsmörderin handelt zumeist aus einer Extremsituation heraus. Der Mord erfolgt überwiegend unvorbereitet und spontan. Nach Bewusstwerden der Tat gibt es für die Mörderin keine Lebensperspektive mehr. Daher findet der Kindesmord zumeist ganz am Ende der Oper statt. Entweder bleibt das Schicksal der Mörderin offen oder aber sie kommt aus ihrer Extremsituation nicht mehr heraus und verfällt wie Gretchen10 aus den Vertonungen nach Goethes Faust dem Wahnsinn. Das zeigt, dass im Verständnis des bürgerlichen 19. Jahrhunderts eine Frau den Mord an einem schwächeren Wesen offenbar nur dann begehen kann, wenn sie gewissermaßen nicht sie selbst ist. Damit werden sowohl ihr Verhalten als auch der aus diesem Verhalten resultierende Tötungsakt als unnatürlich, als ein Verbrechen wider die Natur gedeutet – woraus sich im Umkehrschluss die Botschaft an das Publikum ergibt, dass die wahre Natur der Frau im liebevollen Schützen der Schwächeren besteht. Auf diese Weise wird das Wesen der Frau auf Mutterschaft festgelegt, so dass die entsprechenden Opern die Kindestötung als eine Entmenschlichung der Frau begreifen und die deutliche Warnung aussprechen, nicht von vermeintlich gottgewollten Wesenszügen abzuweichen. Gleichzeitig laufen die szenischen Milderungstendenzen bei Morddarstellung, Mordthematisierung und Mordabsicht darauf hinaus, dass sowohl die Konflikte
8
Beispiele: Arrigo Boito: Mefistofele (1868/1875), Leos Janáþek: Jenufa (1904), Gian Carlo Menotti: The Medium (1946/47).
9
Vgl. Benjamin Britten: The Turn of the Screw (1954), Gian Carlo Menotti: The Consul (1959). In Werken wie Boris Godunov (Modest Musorgskij, 1874) und Il Trovatore (Giuseppe Verdi, 1853) gehört der Tod eines Kindes zur Vorgeschichte und wird bezeichnenderweise nicht in die Bühnenhandlung integriert. Lediglich in Il Trovatore ist die Mörderin eine Frau.
10 Vgl. Charles Gounod: Faust (1859/1869), Boito: Mefistofele.
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innerhalb der Person als auch die Schuldzuweisungen gering gehalten werden. Beim Publikum steht neben dem Entsetzen über das unweibliche Verhalten auch der Appell an das Mitleid mit der ihrem Wesenskern entfremdeten Mutter. Auffällige Ausnahme ist die Kindstötung in den mannigfachen Opern zu der kolchischen Königstochter Medea (Abb. 1).11 Abbildung 1: Luigi Cherubini, Medea, 1797, hier Florenz 1953 mit Maria Callas in der Hauptrolle
Auch Medeas Mordtat wird als Vernichtung ihrer menschlichen Seite gedeutet. In diesem besonderen Fall wird er aber nicht ausschließlich negativ gewertet, denn nur indem die von ihrem Geliebten, Jason, verlassene Medea die liebende und die aus der Liebe erwachsene mütterliche Seite in sich bewusst auslöscht, kann sie zu ihrem Dasein als Halbgöttin und ,femme forteǥ zurückkehren. Die Wendung ins Mythologische verändert die Einschätzung des Mordes und macht die Medea-Opern zugleich zu einem Grenzfall des Themas ,mordende Frauǥ, da die Rückverwandlung in eine Halbgöttin das Rollenprofil sprengt – allerdings erst nach dem Mord. Es wundert kaum, dass Medea-Opern im Kernrepertoire 11 Beispiele: Vertonungen von Marc-Antoine Charpentier (1693), Luigi Cherubini (1797), Johann Simon Mayr (1813).
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des 19. Jahrhunderts keine Rolle spielen.12 Denn Medea ist nicht nur Halbgöttin, verletzte Liebende oder Mutter, sondern auch eine politisch aktive Frau. Aber Stärke, Willenskraft und politische Aktivität gehören im Verständnis des 19. Jahrhunderts nicht zu den vorgeblich gottgewollten Wesenszügen einer Frau. Weibliche Selbstermächtigung wird daher ausdrücklich negativ bewertet. Frauen wie Lucrezia Borgia13 oder Lady Macbeth14 (Abb. 2), die wie Männer an politischer Macht teilhaben, diese für ihre eigenen, egoistischen Ziele missbrauchen und dafür auch vor Mord nicht zurückschrecken, erweisen sich im Vergleich als die schlimmeren Männer und die skrupelloseren Täterinnen. Abbildung 2: Johann Heinrich Füssli: Lady Macbeth nimmt die Dolche entgegen, um 1801
12 Nur zwei entsprechende Opern werden in diesem Zeitraum komponiert: Medea in Corinto von Johann Simon Mayr (1813) und Medea von Giovanni Pacini (1843). 13 Gaetano Donizetti: Lucrezia Borgia (1833). 14 Giuseppe Verdi: Macbetch (1847/1865), Ernest Bloch: Macbeth (1910).
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Dennoch scheinen die Opernkomponisten nicht recht zu wissen, wie sie mit ihnen umgehen sollen. Einige dieser Bühnengestalten erringen tatsächlich Macht, andere werden wahnsinnig, aber selbst ihr Tod wird nicht eigentlich als Bestrafung inszeniert. Hier herrscht ein gewisses Maß an Ambivalenz vor; außer dem Hervorrufen von Abscheu gibt es kein verbindendes Moment. Da diese Frauen aus dem Rahmen des zeitbedingt Möglichen und Vorstellbaren herausfallen, fehlt ein gesellschaftlicher Werte-Konsens. Nicht eindeutig einer der zuvor genannten Kategorien Mord aus Eifersucht, Kindsmord und politische Morde zuzuordnen sind eine Reihe von ,Einzelschicksalenǥ. Diese werden komplex ausgearbeitet und lassen in Musik und Bühnenhandlung individuelle Motivations-, Rechtfertigungs- und Bestrafungsstrategien erkennen, die diese Opern zumeist zu Meilensteinen des Opernrepertoires machen: Gaetano Donizettis Lucia di Lammermoor (1835, Abb. 3) und Puccinis Tosca (1900) gehören dazu, aber auch Albert Lortzings leider kaum gespielte Oper Regina (1848). Auch Alban Bergs Lulu (1937), deren Titelgestalt ja über ihren initialen Mord an ihrem Liebhaber Dr. Schön hinaus Auslöser für eine Reihe weiterer gewaltsamer Tode wird, fällt in diese Gruppe, ebenso wie die Mehrfachmörderinnen Katerina Ismailowa aus Schostakowitschs Oper Lady Macbeth aus Mzensk (1934/1963) und Geesche Gottfried aus Adriana Hölszkys Bühnenstück Bremer Freiheit (1988). Abbildung 3: Screenshot aus: Luc Besson: Das 5. Element, 1997.
Die Operndiva Plavalaguna singt in der Space Oper die Wahnsinnsarie (Il Dolce Suono) der Lucia aus Gaetano Donizettis Lucia di Lammermoor (1835)
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Geesche Gottfried tötet nahezu wahllos und aus immer nichtigeren Anlässen in einer sich verselbständigenden Spirale des Schreckens insgesamt zehn Menschen in ihrer nächsten Umgebung, ohne dass sie eine Einsicht in ihr Tun hätte – und auch ohne dass die Komponistin werkinterne Rechtfertigungsstrategien für die Bluttaten entwirft. In diesem radikalen Verzicht auf Mordauslöser und Mordmotiv geht sie weit über das zu Grunde liegende Sprechtheaterstück Bremer Freiheit (1971) von Rainer Werner Faßbinder hinaus. Die Sinnlosigkeit des Mordens, der Verzicht auf Hintergründe und vor allem das völlige Fehlen innerer Konflikte erzeugen dringenden Erklärungsbedarf15 – der aber nicht gestillt wird. Hölszkys Bremer Freiheit bietet den Extremfall eines Opernkonzeptes, bei dem die Dramaturgie und die Art der Vertonung keinerlei Sympathie oder Antipathie gegenüber der mordenden Frau zum Ausdruck bringen. Einschätzung und Bewertung der Tat werden ganz dem Publikum anheim gelegt. Auf diese Weise kann Hölszkys Massenmörderin als ein (wohl nicht zufällig von einer Frau komponierter) Gegenentwurf zu den geschlechtergebundenen Idealisierungs-, Dämonisierungs- und Bestrafungsstrategien wahrgenommen werden, wie sie in den (von Männern auf die Bühne gestellten) Weiblichkeitsentwürfen insbesondere der Opern des 19. Jahrhunderts zur Geltung kommen.16 Wie ein Mann rund 130 Jahre früher ganz anders als Adriana Hölszky eindeutige dramaturgische und musikalische Wertungsstrukturen entwirft, um seine mordende Bühnenheldin ästhetisch und moralisch festzulegen, mag abschließend ein Blick auf Verdis Oper Macbeth verdeutlichen. Auch dieses Bühnenwerk dreht sich – wie Hölszkys Bremer Freiheit – um eine Frau, die aus eigenem Impuls und ohne äußere Druck zur Mörderin17 wird und auf der Bühne folglich keine Rechtfertigung erhalten kann. Verdi aber macht das Böse in seiner Lady
15 Siehe hierzu auch: Kadja Grönke: „Mörderinnen auf der Opernbühne“, in: Dietrich von Engelhardt/Manfred Oehmichen (Hgg.): Der „Mord“. Darstellung und Deutung in den Wissenschaften und Künsten, Lübeck 2007, S. 219-235, speziell S. 234f. 16 Im Rumänischen, also in der Muttersprache der Komponistin, besitzt das Wort ,Todǥ das Genus Femininum. Da Gesche Gottfried keinen Unterschied zwischen ihren Opfern macht und Männer wie Frauen, Erwachsene wie Kinder tötet, kann sie daher auch als ,moderne Personifikation des Todesǥ gedeutet werden. 17 Die Frage, ob Lady Macbeth tatsächlich als Mörderin klassifiziert werden kann, auch wenn sie nicht allein und mit eigener Hand tötet, wird hier dahingehend beantwortet, dass sie bewusst als Initiatorin der Morde fungiert und den zögernden Lord Macbeth erst zum Mörder macht. Die Mordwaffe ist hier gewissermaßen der von ihr manipulierte Mann.
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Macbeth explizit zum Gegenstand eines ästhetischen Diskurses, welcher zugleich die moralische Wertung der Gestalt bestimmt. Das ist nur möglich, weil das Libretto von Franceso Maria Piave und Andrea Maffei die Rolle der Lady Macbeth gegenüber Shakespeares Dramenvorlage signifikant erweitert. Handlungsmotive, Entscheidungsprozesse, Konflikte mit dem zögerlichen und von Skrupeln gequälten Lord Macbeth und Lady Macbeths eigene Skrupellosigkeit gelangen weit ausführlicher zur Bühnendarstellung als im Sprechtheater, so dass Lady Macbeth für die Opernhandlung den Status einer treibenden Kraft erhält und zu einer gleichwertigen zweiten Hauptrolle aufsteigt. Insbesondere im direkten Kontrast zu ihrem Mann gewinnen Lady Macbeths zielgerichtete Aktivitäten Züge, die im Geschlechterkanon des 19. Jahrhunderts eigentlich männlich konnotiert sind. Diese Vermännlichung wiederum wird – wie in den Ausführungen über politische Morde erläutert – bei einer Frau nicht als Stärke gesehen, sondern negativ gedeutet, während es bei Lord Macbeth gerade seine anfänglichen Bedenken, seine Handlungsschwäche sind, die ihn als unmännlich kennzeichnen und als positiven Helden ausschließen. Verdi gestaltet also den Sonderfall einer Oper, die zwei Hauptrollen, aber keinen positiven Helden (oder Heldin) hat. Nicht nur Libretto und Dramaturgie, sondern auch die musikalische Umsetzung demonstrieren, wie stark die Vertonung einer literarischen Vorlage die Interpretation der Gestalten prägen und verändern kann. Denn für Verdi gilt eine der zentralen ästhetischen Grundbedingung des europäischen Theaters, nämlich die Gleichsetzung des Schönen mit dem Guten, die besonders im 19. Jahrhundert fast schon automatisch vollzogen wird. Einer derart negativ vermännlichten Mörderin wie Lady Macbeth vermag Verdi keinerlei ästhetische Schönheit zuzubilligen. Von der idealen Interpretin dieser Rolle wünscht er sich eine Stimme, die „hart, erstickt und dunkel, wie die eines Teufels sein sollte“18. „Ich will nicht, daß die Lady Macbeth überhaupt singt,“19 pointiert er. In radikaler Abwendung von allen opernästhetischen Prinzipien seiner Zeit komponiert er für die mordende Frau eine Musik, die gänzlich gegen den Stimmtypus des Belkanto und gegen die physischen Möglichkeiten eines Soprans angeschrieben ist. In der zentralen Arie20 „La luce langue“ (II. Akt, Nr. 2), in der Lady Macbeth ihre Entscheidung für das Böse, für den politischen Mord, explizit
18 Zit. nach. Rieger, S. 381. 19 Ebda. 20 Diese Arie kommt bezeichnenderweise in der zweiten Fassung der Oper neu hinzu und schärft das dramaturgische Profil der Lady Macbeth endgültig in dem hier beschriebenen Sinne.
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in Worte fasst, kreist die Melodieführung immer wieder um den natürlichen Lagenbruch eines Soprans zwischen Brust- und Kopfstimme und rechnet folglich mit dem Aufeinanderprallen von unterschiedlichen Stimmfärbungen, die nicht vermittelt, nicht geglättet werden sollen. Die Vortragsanweisung lautet „legato e cupo“, also ,gebunden und dumpfǥ. Schließlich führt Verdi die Stimme so stark in die Tiefe, dass sich gar kein rechter Ton mehr entwickeln kann. Um überhaupt über den Orchestergraben hinwegzukommen, muss die Sängerin ihre Tonbildung mehr und mehr dem Sprechen annähern, und das Timbre erhält eine flüsternde und raue Qualität, der Mühe und Anstrengung deutlich anzumerken sein sollen. Neben dem Stimmklang deformiert Verdi auch die musikalische Form. Er verzichtet auf eine klare, regelhafte und damit nach klassischem Verständnis schöne kompositorische Gestaltung und lässt das traditionelle Modell einer zweiteiligen Arie nur noch rudimentär durchscheinen. Während der erste Arienteil auf fast überdeutliche Weise aus Zweitaktgruppen aufgebaut ist und Wiederholungsstrukturen der Musik eine Einheitlichkeit verleihen, die etwas geradezu zwanghaft Angespanntes hat, zerbricht die Musik im zweiten Arienteil den Käfig aus Zweitaktgruppen. Sie sprengt alle Symmetrien, alle vorhersagbaren Regeln und Normen und explodiert gewissermaßen in einem hektischen Jubel, der aber durch einen willkürlich anmutenden Wechsel von Voll- und Auftakten und eine irreguläre Rhythmik voller Stauchungen, Stauungen und beklemmender Ausbrüche geprägt ist. Der Gegensatz der beiden Arienteile ist ein extremer, wie er zum extremen Charakter der Lady passt – und die innermusikalische Gestaltung ist so unbefriedigend heterogen und unausgewogen, dass sie ebenfalls ein bezeichnendes Licht auf die Bühnenfigur wirft. An die Stelle der Gleichsetzung des Schönen mit dem Guten stellt Verdi bei seiner Lady Macbeth explizit das negative Gegenstück, nämlich die Identifikation des Hässlichen mit dem Bösen. Das ästhetisch Böse ist zugleich moralisch böse, und um dies ganz klar zu zeigen, darf das Böse nicht überleben. Die Lady muss sterben – wenn auch nicht vor aller Augen, damit kein Vergleich zu den von ihr initiierten Tötungen gezogen wird. Für die finale Schlafwandelszene, die ihrem Dahinscheiden hinter der Bühne vorausgeht, bedient Verdi sich grundsätzlich derselben musikalischen Mittel wie in der Arie „La luce langue“ und nutzt sie nur noch extrovertierter. Dadurch verweist dieser große Soloauftritt musikalisch eindeutig auf den Topos der weiblichen Wahnsinnsszene, hat jedoch innerhalb des werkinternen Motivationsgefüges zugleich eine klare moralische Funktion. So wie die Musik aus allen musikalischen Normen und nachvollziehbaren kompositorischen Strukturen herausfällt, löst sich auch die machtgierige Lady aus dem Bereich des Menschlichen und Vernünftigen. Im Unterschied zu der ähnlich komponierten Wahnsinnsszene in
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Donizettis Oper Lucia di Lammermoor dienen die Besonderheiten der Musik nicht als ästhetische Rehabilitierung einer unschuldig-schuldig gewordenen Mörderin,21 sondern als endgültige, vernichtende Verurteilung. Sie zeigen, wie sehr sich Lady Macbeth von allem rational Begreifbaren, allem MenschlichVernünftigen und sozial Sinnstiftenden abgelöst hat. Die Auslöschung musikalischer Normen bildet die sinnbildliche Entsprechung für die Auslöschung alles Guten, Schönen und Weiblichen und für die Vernichtung eines funktionierenden Gemeinschaftsgefüges, also für jenen Prozess, den die Lady durch ihre geschlechteruntypische Hinwendung zum Politischen und zum Mörderischen selbst in Gang gesetzt hat. Zugleich steht der geistige Verfall in Widerspruch zu dem von Verdi aufgebauten Charakterbild einer starken, unbarmherzigen Frau und fungiert damit als eine von außen, vom Komponisten und den Wertmaßstäben seiner Gesellschaft, gewaltsam herbeigeführte Bestrafung. Die weit über Shakespeare hinausgehende moralische Verurteilung trifft die Mörderin stärker als den Mörder, weil zusätzlich zu der Bluttat nicht nur das unmenschliche, sondern auch das unweibliche Verhalten der Lady bestraft werden muss. Damit begründen die musikalische Degradierung zur Hässlichkeit und die dramaturgische Degradierung zur Unweiblichkeit die vollständige musikalischszenische Auslöschung der Lady. Eine Frau, die mordet, darf bei Verdi nicht nur nicht schön singen, sondern sie darf auch nicht überleben. Auch Lord Macbeth überlebt nicht. Sein Tod im offenen Kampf steht jedoch jenseits jedes musikalisch und dramaturgisch konstruierten Zusammenhangs von Ästhetik und Moral. Lord Macbeth ist ein Mann, und männliche Mörder werden auf der Bühne vollkommen anders behandelt als mordende Frauen. Zusammenfassend wird deutlich: Anders als bei Männerrollen erfordert die Frage nach der Wahrnehmung der weiblichen Mordtat einen doppelten Blick. Zum einen bedarf es selbstverständlich einer dezidiert werkbezogenen Analyse, die sowohl den Weg von der literarischen Vorlage zum Opernlibretto als auch den werkinternen dramaturgischen Aufbau der Oper berücksichtigt und eine akribische Notenanalyse als Beweismittel nutzt. Zum anderen gilt es, die in die Partitur hineinkomponierten Hinweisen des Komponisten oder der Komponistin zu den Hintergründen, Auslösern und Bewertungen der Mordtat zu entdecken. Nur eine solche Einordnung der mordenden Frau und ihrer Tat auf der Basis von werkinternen Kriterien anstelle von werkexternen Moralvorstellungen und zeitoder personengebunden Vorverurteilungen vermag das musikalisch intendierte
21 Siehe Grönke, S. 233f.
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Frauenbild ernst zu nehmen und die Stellung und Funktion der jeweiligen Operngestalt in ihrer jeweiligen Epoche erkennbar zu machen. In der Zusammenschau von Dramaturgie, Musik und Ethik ergeben sich sodann übergreifende Erkenntnisse zu Geschlechter-Zuweisungen und ästhetischen Diskursen, welche letztlich einen Ausblick auf den Zusammenhang zwischen Bühne und Leben eröffnen.
L ITERATUR Grönke, Kadja: „Mörderinnen auf der Opernbühne“, in: Dietrich von Engelhardt/Manfred Oehmichen (Hgg.): Der „Mord“. Darstellung und Deutung in den Wissenschaften und Künsten, Lübeck 2007, S. 219-235. Herr, Corinna: Medeas Zorn. Eine ,starke Frauǥ in Opern des 17. und 18. Jahrhunderts, Herbolzheim 2000. Rieger, Eva: „Zustand oder Wesensart? Wahnsinnsfrauen in der Oper“, in: Sybille Duda/Luise F. Pusch (Hgg.): Wahnsinnsfrauen, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1996. Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland in der Fassung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322), zuletzt geändert durch Gesetz vom 25. Juni 2012 (BGBl I S. 137). Wood, Elizabeth: „Sapphonics“, in: Philip Brett/Elizabeth Wood (Hgg.): Queering the Pitch. The New Gay and Lesbian Musicology, London 1994, S. 2766. Zelle, Carsten: Angenehmes Grauen. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert, Hamburg 1987.
O PERN 22 Bellini, Vincenzo: Norma (1831). Bloch, Ernest: Macbeth (1910). Boito, Arrigo: Mefistofele (1868/1875). Britten, Benjamin: The Turn of the Screw (1954). Donizetti, Gaetano: Lucrezia Borgia (1833). Gounod, Charles: Faust (1859/1869).
Hier nur die im Text genannten Werke. Eine ausführliche, thematisch gegliederte Auflistung der thematisch relevanten Opern siehe Grönke.
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Janáþek, Leos: Jenufa (1904). Mayr, Johann Simon: Medea in Corinto (1813). Menotti, Gian Carlo: The Medium (1946/47). Ders.: The Consul (1959). Musorgskij, Modest: Boris Godunov (1874). Pacini, Giovanni: Medea (1843). Puccini, Giaccomo: Edgar (1889). Ders.: Tosca (1901). Ders.: Madama Butterfly (1904). Rimski-Korsakow, Nikolai: Zarskaja nevesta/Die Zarenbraut (1899). Strauss, Richard: Elektra (1909). Tschaikowsky, Peter: Tscharodeika/Die Zauberin (1887). Verdi, Giuseppe: Macbeth (1847/1865). Ders.: Il Trovatore (1853).
Für eine Philosophie des Mordes Mit Analysen zum Medea-Komplex im zeitgenössischen Musiktheater M ICHAEL B ASTIAN W EISS „Their anger, in darkness turning, unreleased, unspoken, its mouth a red wound, its eyes hungry … hungry for the moon“ [Alan Moore1] „– denn heute ist das wissenschaftliche Gewissen ein Abgrund –“ [Friedrich Nietzsche2]
Abbildung 1: Harmen Jansz Muller (Stecher): Du sollst nicht töten, um 1566
1
Alan Moore/Stephen Bissette/John Totleben et al.: Saga of the Swamp Thing, New York 1983ff./2010, Bd. 3, S. 140.
2
Friedrich Nietzsche: „Zur Genealogie der Moral“, in: Ders.: Sämtliche Werke, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München 1967ff./1988, Bd. 5, S. 396.
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„Du sollst nicht töten“3 (Abb. 1) ist innerhalb des Dekalogs nicht das erste der Gebote, das negativ formuliert ist, aber das erste, das sich in negierter Form auf die Sozialität der Menschen und damit nicht primär auf das menschliche Verhältnis zu Gott selbst bezieht. Gleich, welche Einteilung und Zählung man zugrunde legt: die jüdische oder die christliche, steht das Tötungsverbot stets vor den Verboten des Ehebruchs, des Diebstahls, des falschen Zeugnisses und des Begehrens fremden Eigentums. Akzeptiert man eine Rangordnung, ist es also offenkundig von elementarerer Bedeutung, dem Anderen nicht das Leben zu nehmen als ihn seiner Güter oder seiner Ehre zu berauben. Gleiches passiert auf dem Gebiet der Philosophie; zumindest, sofern sie grundsätzlich wird. Emmanuel Lévinas formuliert das Tötungsverbot in einer weniger historisch komparativen als vielmehr phänomenologischen Methode, wenn er als „erste[s] Wort“ des in einer präreflexiven Beziehung begegnenden ,Anderenǥ formuliert: „Du wirst keinen Mord begehen“.4 So gewinnt Lévinas in seiner Analyse dieser ,Epiphanieǥ des Anderen eine absolute ethische Grundlegung, welche nicht etwa deontologisch-monologisch wie bei Kant geschieht, sondern von der „Transzendenz“ des Anderen als seiner „Blöße“ und Verteidigungslosigkeit sowie der „Unvorhersehbarkeit seiner Reaktion“5 ausgeht, und somit gleichzeitig von der aller philosophischen Rekonstruktion vorausliegenden Anerkennung des in der Epiphanie des Antlitzes emphatisch begegnenden Anderen.6 Der unausgesprochene erste Satz dieser proto-ethischen Beziehung ist das von Lévinas nominalisierte „Du wirst keinen Mord begehen“: „Das Wesen der Rede ist ethisch“, und weil „sich der Andere außerhalb meines moralischen Bewußtseins nicht als Anderer zeigen“ kann, drückt sein Antlitz „meine moralische Unmöglichkeit aus, ihn zu vernichten“.7 Der Mord stellt sich aus dieser gleichermaßen religionsphilosophisch, phänomenologisch und existenzial-ethisch ausgreifenden Position für Lévinas als „Versuchung und Versuch“ der „totale[n] Verneinung“ des Anderen dar und damit als Möglichkeit, die aus der ewigen unendlichen Fremdheit des Anderen herausfließt, aber gleichzeitig durch den
3
Ex 20, 2-17; Dtn 5, 6-21.
4
Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität [1980], Freiburg 1993, S. 285.
5 6
Ebda. Ebda., S. 283; vgl. auch die Analyse des „Von-Angesicht-zu-Angesicht als irreduzible Beziehung“, S. 109.
7
Ebda., S. 313 bzw. S. 340.
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„ersten Satz“ depotenziert wird.8 Mit dieser Fassung des Tötungsverbots knüpft Lévinas an die ursprüngliche Fassung des Gesetzes an, das die Unterlassungsforderung in futurischer Modalität ausspricht und damit in einer dialogisierten und menschlich zuversichtlichen Form: „Du wirst mich nicht töten.“ Entscheidend ist, dass das Mordverbot zwar durch die biblische Herkunft als theologisch verbindlich vorgestellt wird – praktisch alle Religionen kennen das Tötungsverbot –, dass es aber gleichzeitig eine leicht sichtbare supratheologische Valenz ausbildet, insofern es sich auf menschlich-soziale Kontexte auswirkt und in dieser Bedeutung auch philosophisch anschlussfähig bleibt. Es scheint daher weder banal noch übertrieben, das Mordverbot als elementarsten Begriff desjenigen allgemeinen Verbrechens zu nehmen, das durch das spezielle Thema der Figur der Mörderin verkörpert wird. Unterstrichen sei als Vorwegnahme der hier vertretenen Position, dass bewusst nicht von einer Definition ausgegangen wird, sondern je schon von einem Imperativ: Du sollst nicht morden. Damit ist bereits angedeutet, dass der Mord als die Tötung eines Menschen nicht einfach objektiv definiert werden kann, sondern dass in dessen begrifflicher Fassung sein Sonderstatus bereits methodisch in einem Verbot ausgedrückt werden sollte. Vorliegende Arbeit wird argumentieren, dass das Kapitalverbrechen wissenschaftlich anders behandelt werden muss als alle anderen Verbrechen, ja, dass konstruktivistische Methoden entgegen geläufiger Praxen prinzipiell nicht auf den Homizid anwendbar sind. Damit wird auch hier auf theoretischer Ebene der zumindest in Deutschland juridisch valente Unterschied zwischen Mord und Tötung explizit nivelliert.9 Auffällig ist, dass die neuzeitliche Philosophie bislang wenige Anstrengungen unternommen hat, das Phänomen der gegenseitigen Tötung von Menschen
8
Für diese Verhältnisse vgl. ebda., S. 278. Vgl. zu Lévinas’ Ethik etwa Judith Butler: Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesungen 2002, Frankfurt a.M. 2007, S. 115136; auch John Llewelyn: Emmanuel Levinas: The Genealogy of Ethics, London et al. 1995, etwa S. 105. Eine spielerische Lektüre der „Phänomenologie des Eros“ aus Totalität und Unendlichkeit, welcher es gelingt, die Liebenden aufreizend lange unabhängig von sex und gender zu denken, bietet Luce Irigaray: Ethik der sexuellen Differenz [1984], Frankfurt a.M. 1991, S. 217-253.
9
Vgl. § 211 Abs. 2 Strafgesetzbuch (StGB): „Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet“, und § 212 Abs. 1 StGB: „Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft“.
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monographisch und nicht nur als typischen Gegenstand der Ethik zu behandeln.10 So zeigt sich Kant für diese Tendenz repräsentativ, wenn er in den Schriften zur Ethik und Rechtsphilosophie mehr zum Selbstmord11 sagt als zum Mord12, er durchgängig mit der konstruktivistischen Unterscheidung zwischen Tötung (homicidium) und Mord (homicium dolosum)13 operiert und sein größtes Augenmerk auf der Beispielebene sittlicher Verfehlungen dem Lügenverbot gilt.14 Fichte hingegen weist dem Mord als vorsätzlicher Tötung als „einzige[m] Verbrechen, bei welchem selbst die Bemühung, den Verbrecher zu bessern, nicht stattfindet“15, Sonderstatus zu, gibt jedoch dem Staat keine schärfere Handhabe
10 So finden sich etwa im Historischen Wörterbuch der Philosophie, aber auch in der Religion in Geschichte und Gegenwart keine eigenen Artikel zu „Mord“ und „Tötung“, wohl aber zum „Selbstmord“. Vgl. Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hgg): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1971-2007 sowie Kurt Galling (Hg.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 1956-1965. 11 Die Schriften Kants werden nach der Akademie-Ausgabe Kantǥs gesammelte Schriften (Berlin 1900ff., Kürzel: AA) zitiert. Vgl. Ders.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), in: AA, IV, Berlin 1903, S. 385-464. Die Unterlassung des Suizids gehört demnach zu den „negativen Pflichten“ und ist abgeleitet von der „erste[n] Pflicht des Menschen gegen sich selbst“, nämlich der Selbsterhaltung, S. 421. 12 So zeigt Kant etwa Nachsicht gegen den „mütterliche[n] Kindesmord“. Der infanticidium maternale geschehe aus „Ehrgefühl“, die Mutter befände sich in diesen Fällen gleichsam im „Naturzustande“, der Infantizid sei also Tötung, nicht Mord, und könne nicht mit dem Tode bestraft werden, vgl. ebda., S. 335ff. 13 Ebda., S. 336. 14 Dies reflektiert Kant selbst in Referenz auf die Bibel. Das „erste Verbrechen“ datiere dort nicht vom Brudermord Kains an Abels her, sondern von der ersten Lüge. Vgl. Ders. 1785, S. 431. Sein Beharren auf der Wahrheitspflicht hat er in dem Aufsatz „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“ von 1797 argumentativ so rigoros zementiert, dass dieser Text bis heute zu Distanzierungsbewegungen führt. Vgl. AA, VIII, S. 423-430. Die Kritik an Kants Position kommt nie ohne Depotenzierung von Wahrheitsansprüchen aus und damit einer Subordination der Epistemologie unter die Ethik. Eine komplexe Interpretation müsste das Problem lösen, theoretische und praktische Geltung nebeneinander bestehen zu lassen. 15 Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, Jena/Leipzig 1796, zitiert nach Fichtes Werke, hg. von I. H. Fichte, Nachdruck Berlin 1971, Bd. III, S. 277ff. Vgl. zur beschränkten Konzeption des Staates etwa Michael Bastian Weiß: „Der Staat und die bürgerliche Gesetzgebung.
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als die „Erklärung der Rechtslosigkeit“16 und zeigt sich ansonsten pragmatisch in Bezug auf Notwehrsituationen, in welchen in Berufung auf eine Art höherer Gewalt die Tötung des Anderen juridisch und moralisch erlaubt wird.17 Sucht man nach einer selbständigen Thematisierung des Mordes im Kontext des Deutschen Idealismus, wird man am ehesten bei De Quincey fündig, dessen Schrift „On Murder Considered as One of the Fine Arts“ (1827/54) das Desiderat freilich im Medium ästhetischer Fiktion behebt.18 Im existentialistischen Diskurs schließlich kommt der Analyse des Todes als dem Transzendenzort des Individuums große Bedeutung zu,19 seinem verbrecherischen intersubjektiven Gegenstück wurde aber wenig wissenschaftliche Aufmerksamkeit geschenkt. Vorliegender Beitrag soll somit auch eine Skizze einer noch zu schreibenden Philosophie des Mordes liefern. Akzeptiert man die Argumentation, dass der Mord als einziges Verbrechen nicht durch die Operationen einer konstruktivistischen Epistemologie behandelt werden kann, folgt daraus eine konzeptuelle Sprengung des Begriffs der Mörderin. Denn nach einem diskursiven Konsens von Gender- und Queer-Theorie, dem hier nicht widersprochen wird, basiert der Eigenschaftskodex des sozialen Geschlechts durchaus auf konstruktivistischen Handlungen, welchen also ein naturalistischer Status abgesprochen werden kann, und die somit auch wiederum als dekonstruierbar erscheinen.
Fichtes Theorie der öffentlichen Gewalt“, in: Günter Zöller (Hg.): Der Staat als Mittel zum Zweck. Fichte über Freiheit, Recht und Gesetz, Baden-Baden 2011, S. 67-90. 16 Fichte 1796, S. 278. 17 Ebda., S. 252. 18 Thomas de Quincey: „On Murder Considered as One of the Fine Arts“, in: Ders.: On Murder. Hg. von Robert Morrison, Oxford 2006/09, S. 8-141. Dazu etwa Gregory Dart: „Chambers of Horrors: De Quincey’s ,Postscriptǥ to ,On Murder Considered as One of the Fine Artsǥ“, in: Robert Morrison/Daniel Sanjiv Roberts: Thomas De Quincey. New Theoretical and Critical Directions, New York 2008, S. 187-210. Zum philosophischen Kontext s. Michael Bastian Weiß: „Ästhetikodizee. Die notwendige Möglichkeit malignen Wollens und die mögliche Notwendigkeit moralfreien Schaffens“, in: Jean-Christophe Goddard et al. (Hgg.): Beiträge zum Internationalen Fichte-Kongress 2009 (i. Ersch.). 19 Stellvertretend sei nur auf Heideggers Analysen des Todes verwiesen, welche wohlgemerkt mit der „Erfahrbarkeit des Todes der Anderen“ einsetzen. Vgl. Heidegger: Sein und Zeit [1927], Tübingen 171993, S. 237ff.
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I. K RITIK DES KRIMINOLOGISCHEN G ESCHLECHTS . D AS K APITALVERBRECHEN UND DIE P HILOSOPHIE 1. Die offenen Geschlechter. Was konstruiert werden kann Der theoretische Rahmen vorliegender Überlegungen ist der wissenschaftliche Konstruktivismus, der davon ausgeht, daß Erkenntnis Resultat einer Leistung des Wissensträgers ist. Dieser Konstruktivismus wirkt sich sozial massiv aus und konnte so Grundlage für das Operieren der Gender und der Queer Studies werden.20 Die Figur der Mörderin ist dual strukturiert: Eine Frau verübt ein Verbrechen. Beide Strukturmerkmale können konstruktivistisch beschrieben werden. Für die Geschlechterforschung innerhalb der Philosophie, der Soziologie sowie der Sozialwissenschaften konnte die Übernahme konstruktivistischer Ansätze bereits retrospektiv dargestellt werden.21 Allgemein kann man sagen, dass die naturalisierende Differenz Frau/Mann ersetzt wird durch die Unterscheidung von gender/sex, welche die prinzipielle wechselseitige Unabhängigkeit von biologischem und sozialem Geschlecht aufzeigt oder gar die Kausierung des „Geschlechtskörpers“ durch das sozial konstruierte Geschlecht behauptet.22 Ein theoretisches Hauptmotiv hierbei ist, dass diese Konstruktion als Tätigkeit verstanden wird, die im Sinne der Performanz starke aktuale, also die Gegenwärtigkeit des Handelns im Gegensatz zu einer abgeschlossenen Handlung („Tat“), sowie
20 Für eine Situierung der konstruktivistischen Debatte müssen genügen: Heinz Gumin/Heinrich Meier (Hgg.): Einführung in den Konstruktivismus, München 1992/52000; Volker Riegas/Christian Vetter (Hgg.): Zur Biologie der Kognition. Ein Gespräch mit Humberto R. Maturana und Beiträge zur Diskussion seines Werkes, Frankfurt a.M. 1993; Gebhard Rusch/Siegfried J. Schmidt (Hgg.): Konstruktivismus und Ethik, Frankfurt a.M. 1995. 21 Vgl. etwa Ursula Pasero/Christine Weinbach (Hgg.): Frauen, Männer, Gender Trouble. Systemtheoretische Essays, Frankfurt a.M. 2003, S. 7; vgl. auch den disziplintheoretischen Überblick von Nina Degele: Gender/Queer Studies. Eine Einführung, Paderborn 2008, besonders den Begriff des „doing gender“, S. 17. 22 So Christine Weinbach: „Die systemtheoretische Alternative zum Sex-und-GenderKonzept: Gender als geschlechtsstereotypisierte Form ,Personǥ“, in: Pasero et al., S. 144-170, S. 145.
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inszenatorische Merkmale aufweist.23 Gelingt es, Gender Studies und Queer Studies24 einander anzunähern,25 könnte auch durch diejenige Pluralität von Geschlechtern, welche durch die Queer Studies thematisiert wird, die Verengung der Genderperspektiven auf enge alteuropäische Unterscheidungskorsetts vermieden werden, die etwa Julia Kristeva oder Judith Butler kritisieren.26 Der Gedanke, Geschlecht emergiere durch Performanz und Inszenierung, weist voraus auf die unten analysierten Fallbeispiele aus dem zeitgenössischen Musiktheater. 2. Das transzendentale Verbrechen. Was nicht konstruiert werden kann Dass in der dekalogischen Exposition dieses Textes nicht zwischen Mord und Tötung unterschieden wurde, ist keine begriffliche Unschärfe, sondern der Kern der hier verfolgten These. Diese soll im Folgenden diskutiert und begründet werden. Sie lautet in der kürzesten Fassung: Menschliches Leben darf nicht getö-
23 Statt der binären Differenzen von maskulin/feminin oder auch Geschlecht/Sexus werden nun transstrukturale Modi für die Konstruktion von Erkenntnis benutzt, welche gleichzeitig Mischformen, Neutralisierungen und konsequente Negationen sowie völlig differente Variationen hervorbringen. Dieser bunte Kosmos wird statt bloß von Frauen und Männern eben auch von Transgeschlechtlichen, Androgynen und Asexuellen sowie Anhängern von Spielarten bevölkert, die jenseits der Geschlechterdifferenz operieren (etwa BDSM, das sich an der Differenz von Herrschaft/Knechtschaft bzw. am Objektfetischismus orientiert) – oder die vielleicht erst noch entdeckt und erfunden werden könnten. – Zum vielgebrauchten Begriff der Performativität etwa Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002. 24 Dass sich „queer“ ausgerechnet vom deutschen Wort „quer“ herleitet, ist erbaulich, wie immer, wenn die deutsche Sprache für Subversion gebraucht wird. Vgl. dazu Andreas Kraß (Hg.): Queer denken. Gegen die Ordnung der Sexualität (Queer Studies), Frankfurt a.M. 2003, S. 17; sowie Brett Beemyn/Mickey Eliason (Hgg.): Queer studies. A Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender Anthology, New York et al. 1996. 25 Degele, S. 11. 26 Vgl. etwa Kristevas „Interview with Elaine Hoffman Baruch on Feminism in the United States and France“ [1980], in: Kelly Oliver (Hg.): The portable Kristeva, New York 1997, S. 369-380; Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991, etwa S. 32ff. Dazu auch Gertrud Nunner-Winkler (Hg.): Weibliche Moral. Die Kontroverse um eine geschlechts-spezifische Ethik, München 1991/95.
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tet werden. Damit ist sie prinzipiell identisch mit dem biblischen Imperativ Du sollst nicht töten, insofern man diesen unter den Vorzeichen der Humansozietät überhaupt gelten lässt.27 Die Diskussion muss zunächst anplausibilisieren, dass diese These nicht etwa redundant ist, auch wenn der Verstoß gegen das Verbot offenkundig für die allermeisten Menschen kontraintuitiv wirkt. Doch diese intuitive Richtigkeit, die sich etwa in Tötungshemmungen manifestiert, verdeckt die recht eigentlich erstaunliche Tatsache, dass in der alltäglichen gesellschaftlichen Praxis gewohnheitsmäßig gegen diese Intuition gehandelt wird. Denn in konstruktivistischer Hinsicht nimmt die moderne westliche Gesellschaft am urtheologischen Tötungsverbot Modifikationen vor. Die Tötung eines Menschen wird vierorts so rekonstruiert, dass ihre ausschließende Bewertung positiviert wird: Juristisch etwa sind gewisse Tötungshandlungen nicht als Mord aufzufassen; wissenschaftlich können Tötungshandlungen etwa im Rahmen biologischer, soziologischer und kriminologischer Theorien erklärt und damit relativiert werden:28 ästhetisch sind Morde gewünscht, schließlich will man einen guten Krimi lesen. Konstruktivistisch heißt hier: Ein Mord ist nicht ein Mord. Der Mord kann zu einer notwendigen Tötung herabtransponiert werden, wenn etwa Selbstverteidigung vorliegt oder wenn wissenschaftlich erklärt wird; paradoxerweise wird der Mord ausgerechnet im fiktiven Medium, nämlich, wenn ein Anlass für einen Kriminalroman benötigt wird, auch tatsächlich Mord genannt. Die konstruktivistische Gesellschaft entschuldigt nicht nur die Tötung, sie wertet sie mit den begrifflichen Mitteln ihrer Wissenschaft auf in vitale Bedingungen, nämlich die, dass das Ich unter Preisgabe des Anderen weiterleben darf. Es ist diese Lüge, die Lévinas nicht unterschrieb, dass nämlich die Tötung eines anderen Menschen weniger wird, abnimmt, vielleicht sogar verschwindet, wenn sie nur irgendeinen Wert hat, etwa denjenigen, den schuldlos Angegriffenen gegenüber dem, der im Begriffe ist, schuldig zu werden, überleben zu lassen, das Opfer zum Mörder zu machen und den Mörder zum Opfer. Denn gemordet wird nun der Mörder. Es entsteht durch die Vermeidung des ersten Verbrechens ein neues Verbrechen, das Kapitelverbrechen wird nur verschoben.
27 Nach dieser Kautele würde der Imperativ sich also nicht auf Tiere beziehen. Damit soll dessen Gebrauch innerhalb der Tierethik nicht ausgeschlossen werden; das folgende Argument ist jedoch auf der Ebene des Konstruktivismus formuliert. Wenn also gezeigt werden könnte, dass Tiere konstruktivistisch operieren, müsste es auf diese ausgedehnt werden. Bislang haben wir aber die Tiere nicht so verstehen können. 28 Vgl. Günther Kaiser: Kriminologie. Eine Einführung in die Grundlagen, Heidelberg 9
1993; für eine feministische Perspektive Karl-Ludwig Kunz: Kriminologie. Eine
Grundlage, Bern 21998, S. 75-82.
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Doch ein Mord ist ein Mord. Dies sei hier entgegengehalten. Die Vertauschung der Rollen in Situationen der Tötung aus Notwehr, der Ausgang, dass jedenfalls eine Tötung zurückbleibt, zeigt: Eine Tötung bleibt eine Tötung. Sie bedeutet naturalistisch die Auslöschung eines Menschen und ist nicht durch konstruktivistische Operationen modifizierbar.29 Das Argument, das hier zur Begründung entwickelt werden soll, begibt sich bewusst auf die Ebene des Konstruktivismus. Es erkennt also voll an, dass Wahrheit als wissenschaftliche Erkenntnis konstruiert ist, und dass dies auch für die juridische, wissenschaftliche, ästhetische Konstruktion von Verbrechen gilt. a) Argument, erster Teil: Es ist etwas, das konstruiert Jedoch verweist das Argument in einem ersten Schritt darauf, dass konstruktivistische Operationen eines Agenten bedürfen, der konstruiert. Es ist nicht zu sehen, wie eine Erkenntniskonstruktion, deren Pointe ja darin besteht, dass sie eine produzierende Handlung, nicht bloß eine Annäherung an eine vorgegebene Wahrheit (Adäquation) ist, ohne einen wie auch immer besetzten Handlungsträger gedacht werden kann. Für eine solche Grundlage muss nicht notwendig der „Mensch“30 als komplexer Begriff der traditionellen Anthropologie angesetzt werden, von dem zu Recht gesagt werden kann, dass er bereits eine Konstruktion ist. Dieser Agent oder Träger von konstruktivistischen Operation kann als bloßer Platzhalter aufgefasst werden; es reicht für die Gültigkeit des Arguments hin, dass zugegeben wird, dass Konstruktionen einer Grundlage bedürfen, die übri-
29 Eine wissenschaftliche Relativierung könnte eben in beispielsweise biologischen, psychologischen, anthropologischen, ethnologischen, politischen Erklärungen und damit verdeckten Rechtfertigung von Morden liegen. So gibt Michael Sommer etwa von der Warte der Geschichtswissenschaft aus für den politischen Mord Motive wie historische und politische „Strukturen und Prozesse“ (S. 11), mithin rational erscheinende bzw. retrospektiv sinnhaft scheinende Gründe an. Solchen Rechtfertigungen wird hier prinzipiell widersprochen. Vgl. Michael Sommer (Hg.): Politische Morde. Vom Altertum bis zur Gegenwart, Darmstadt 2005. 30 Vgl. die Bewegung bei Luhmann, „Begriffe wie Mensch, Individuum, Subjekt“ als „angestrengt, ja überangestrengt“ zu sehen. Anstatt mit dem Begriff „Mensch“ zu operieren, verzichte die Systemtheorie konsequent „auf die anthropologische Hypostasierung einzelner Funktionsprimate“ [Kursivierung original]. Vgl. Niklas Luhmann: „Soziologie der Moral“ [1978], in: Ders.: Die Moral der Gesellschaft, hg. von Detlef Horster, Frankfurt a.M. 2008, S. 56-162, hier S. 34ff.
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gens selbst durchaus wiederum als Konstruktion vorgestellt werden kann, sodass offen bleiben kann, was vor den Operationen selbst liegt.31 b) Argument, zweiter Teil: Es ist Identität über die Zeit, die konstruiert Dieses Etwas, das hier bewusst nur als Funktion einer Bedingung der Möglichkeit und damit einer transzendentalen Struktur vorgestellt wird, muss jedoch nicht nur, wie im ersten Teil des Arguments gesagt, vor jeder Konstruktion liegen, es muss auch über einen gewissen Zeitraum diese Konstruktion als identische konstituieren. Eine Handlung erkennender Konstruktion und ein Geschehen dieser Konstruktion sind jedoch nur innerhalb einer gewissen Zeitlichkeit denkbar; gerade der Deutsche Idealismus hatte ja mit Fichte und im Ausgang von Kant die „Thathandlung“ der Selbstsetzung des Ich32 anstatt eines statischen Seins gesetzt und damit jeweils Temporalisierung impliziert. Ein solches Handlungsgeschehen als Passieren oder Handlung in der Zeit setzt aber immer eine transtemporale Identität der zeitlich passierenden Voraussetzungen von Erkenntnis voraus: nämlich die Strukturtatsache, dass (1) eine konstruierende Leistung (2) ein Konstruiertes schafft und (3) nur implizit selbstreflexiv als Erkenntnis von sich unterscheidet und damit eine anerkennende Leistung erbringt; mit dieser Grundstruktur ist übrigens noch nicht einmal die selbstreflexive Anerkenntnis dieser Erkenntnis als konstruiert bezeichnet. Entscheidend für vorliegenden Kontext ist nur, dass Erkenntnis in diesem mindestens dreiwertigen Strukturprozess auf eine wie auch immer ontologisch entleerte funktionale Identität bezogen werden muss. Damit wird deutlich, dass sich das hier vorgebrachte Argument als partiale Neuauflage des Kantǥschen Arguments der transzendentalen Einheit der
31 Jürgen Habermas sieht „in Zusammenhängen kommunikativen Handelns“ eine Art präreflexiver Instanz, auf welcher moralische „Geltungsansprüche“ auftreten. Vgl. Jürgen Habermas: „Diskursethik-Notizen zu einem Begründungsprogramm“, in: Ders.: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a.M. 1983, S. 53125, S. 68. Bei Habermas ist diese präreflexive Instanz durch die Diskursgesellschaft besetzt. Vorliegende Position kann auf eine präzise Benennung der Position verzichten, sie behauptet nur, dass der Mord die Möglichkeit von epistemischen Konstruktionen überhaupt abschneidet – und damit die Möglichkeit einer rechtlichen oder ethischen Konstruktion des Mordes selbst überhaupt. 32 Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre [1794], zitiert nach Fichtes Werke, hg. von I. H. Fichte, Nachdruck Berlin 1971, Bd. I, S. 83-328, S. 91 und S. 98.
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Apperzeption entpuppt.33 Man könnte aber auch darauf hinweisen, dass es ein identisches Geschehen innerhalb einer gewissen zeitlichen und als Einheit haltbaren Dauer geben muß. Zumindest eine solche funktionale, rein über ein unverbrüchliches Geschehen laufende Identität muss also auch für die erkenntniskonstruierende Leistung als Bedingung der Möglichkeit vorausgesetzt werden. c) Argument, dritter Teil: Es sind physische Grundlagen, die Agenten konstruieren Selbst innerhalb konstruktivistischer Theorien wird nicht geleugnet, dass auch Operationen physische Grundlagen haben; für Niklas Luhmann etwa fungieren psychische Systeme, die biologische Grundlagen haben, für das Kommunikationssystem als Umwelt. Selbst, wenn diese Grundlage wiederum in einer Konstruktion besteht, muss sie doch als Bedingung der Möglichkeit erfüllt sein, um Konstruktionen überhaupt zu ermöglichen. Geht man davon aus, dass Konstruktionen überhaupt sein sollen – ohne diese Voraussetzung kann das Argument zugegebenermaßen nicht funktionieren –, dann müssen die Bedingungen der Möglichkeit von Konstruktion erfüllt sein. Auch, wenn diese physischen Grundlagen von Kommunikation, man könnte in größter Allgemeinheit sagen: „Leben“, theorietechnisch nur als Umwelt behandelt werden, liegen sie doch jeglicher konstruktivistischer Aktivität voraus. Auch, wenn diese Grundlagen also selbst konstruiert werden können, ist doch die Erfüllung der transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit selbst nicht konstruierbar. Die Erfüllung ist notwendig. Damit sind also zunächst generische Grundlagen zugestanden, welche die Möglichkeitsbedingungen der Konstruktion selbst betreffen: menschliche Kommunikation in ihrer letztelementaren Bedeutung als Konstruktion von Erkenntnis, welche etwa auch den Fall der Kommunikation mit sich selbst einschließt.34 Diesen Kommunikationen aber muss eine wie auch immer unbestimmt gelassene physische Grundlage eingeräumt werden.35 Auch aus der relativistischen Sicht des Konstruktivismus also muss konzediert werden, dass wenigstens in funktionaler Bedeutung mindestens eine Grundlage vor der erkenntnisproduzierenden Operation liegt. Der Mord kann somit neutral als Abschaffung dieser Grundlage aufgefasst werden; aber
33 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Riga 1781/1787, zitiert nach der 2. Aufl. von 1787, in: AA, Bd. III, S. 108. 34 Luhmann [1978]/2008, S. 92f. 35 Zu psychischen und physischen Letztresten der Systemtheorie vgl. etwa Ders.: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984/61996, S. 286ff., besonders S. 331ff.
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dann ist die Tötung mittelbar die Abschaffung der Bedingungen eines lebenden Systems und damit auch des psychischen oder kommunikativen Systems. Sind es selbst konstruktivistische Leistungen, diese transzendentale Vorleistung zu ermitteln und anzuerkennen? Wahrscheinlich; doch die transzendentale Vorleistung selbst ist notwendig. Nur scheinbar ist es tautologisch, vielleicht gar verrückt, argumentative Anstrengungen zu unternehmen, den Mord mit transzendentalen Letztgründen abzuweisen. Vielmehr legt in diesen Beobachtungen das Argument formal seine Zirkularität offen: Soll es Konstruktionen geben, müssen ihre Voraussetzungen erbracht werden; dieses aber wird verhindert, wenn physische Grundlagen als abdikabel gelten. Da diese physischen Grundlagen eradiziert werden durch die Tötung von Leben, muss das Verbrechen der Tötung eines Menschen als das einzige und genau dasjenige Verbrechen gelten, das vor aller konstruktivistischen Operation liegt und damit von dieser ausgeschlossen sein muß. Es müssen also, folgt man diesem Argument, prinzipielle Ausnahmen von der konstruktivistischen Wahrheitstheorie zugestanden werden. Nicht etwa diejenigen Wahrheiten, die die Grundlagen der Konstruktion selbst betreffen und damit die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt, nämlich die selbst der Konstruktion anheim gestellten Grundlagen menschlicher Kommunikation, sind vom Radius konstruktivistischer Operation ausgenommen, wohl aber das transzendentale Faktum, dass diese Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis erfüllt sein müssen, wenn es zu erkenntnisproduzierenden Operationen kommen soll. Im übrigen ist damit kein Primat menschlicher Kommunikation behauptet; diese kann auch im Kontext tierischen Lebens, zwischen Pflanzen, Zellen in Gewebeansammlungen, Atomen und innerhalb selbstähnlicher Strukturen in der unbelebten Natur stattfinden.36 Das kann man leicht einräumen. Jedoch findet diese vorliegende und damit unsere wissenschaftliche Kommunikation – zu der selbstverständlich auch dieser Text gehört – statt, weil die Bedingungen für Möglichkeiten besonderer kommunikativer Operationen erfüllt sind, sich auf dieser transzendentalen Grundlage auch der Komplex menschlichen Lebens überhaupt erst konstruktivistisch einholen lässt und dieses menschliche Leben sich zu wissenschaftlicher Leistungsfähigkeit herausgebildet hat.
36 Kommunizieren etwa Bäume? Selbst bei Alan Moore stellt sich heraus, dass die Bäume mehr schweigen als kommunizieren: Als das Swamp Thing, ein Mischwesen aus Mensch und vegetabilischer Natur, auf das „Parliament of Trees“ trifft, wird es in seinem recht menschlichen Erkenntnisdrang allein gelassen: „Flesh … speaks … Wood … listens“. Vgl. Alan Moore/Stephen Bissette/John Totleben et al.: Saga of the Swamp Thing, New York 1983ff./2010, Bd. 4, S. 107-130, S. 120.
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Diese Selbstreferenz zeigt: Wer das Mordverbrechen konstruktivistisch zu rekonstruieren versucht, negiert notwendig das menschliche Leben als die transzendentale Voraussetzung derjenigen aktualen Leistung (Performanz), die überhaupt erst für diejenige Leistung verantwortlich ist, welche diese prüft. Damit – das ist nun die Pointe – verwirft sich die Konstruktion selbst. Konstruktion wird zu ihrer eigenen Annihilation. Denn wenn diese transzendentale imperativische Voraussetzung: Morde nicht!, nicht zugestanden wird, dann verflüchtigt sich auch vorliegende Überlegung, welche auf ein Subjekt gerichtet ist und als solche von einem Subjekt ausgeht: Nicht nur löst sich der vorliegende Text auf, sondern gleichzeitig die nachvollziehende Denkhandlung des Lesers und das Stirnrunzeln des Kritikers, während der Autor selbst bereits als erster von dem dann aber ganz offensichtlich völlig fehlgegangenen Argument gemeuchelt wurde.37 Soweit die explizit konstruktivistische Konstruktion des Arguments für das absolute Mordverbot, das sich angesichts einer stets konstruktivistisch operierenden Gesellschaft nur als scheinbar redundant erweist. Wird nämlich das Mordverbot konstruktiv aufgeweicht, fällt mit seiner Absolutheit auch die transzendentale Voraussetzung der Kommunikationsgemeinschaft und damit die Bedingung der Möglichkeit der wissenschaftlichen Konstruktion selbst. Damit wird über die transzendentale Begründung eines ethisch absoluten Verbots ein enger, bis zur Ununterscheidbarkeit reichender Konnex von Epistemologie und Ethik deutlich. Speziell an dieser Strukturhomologie wird auch deutlich, dass dem Mordverbot als dem absoluten Verbot, das transzendentale Verbrechen zu begehen, für die philosophische Ethik eine ähnlich kategoriale Bedeutung zukommt wie dem Lügenverbot für die Erkenntnistheorie. Der Mord offenbart sich der Form nach als Lüge: als absolute Verneinung der Grundlage aller möglicher Handlungsbedingung – oder Bedingung von Handlungsmöglichkeit oder Möglichkeitsbedingung von Handlung: Die drei Begriffe drehen sich um sich selbst.
37 In Bezug auf die Bedrohung der Weltbevölkerung durch die atomare Aufrüstung hat Karl-Otto Apel 1973 einen verwandten Gedanken geäußert: Als eines von zwei „grundlegende[n] regulative[n] Prinzipien für die langfristige moralische Handlungsstrategie jedes Menschen“ muss „das Überleben der menschlichen Gattung als der realen Kommunikationsgemeinschaft“ sichergestellt werden. Wie man sehen kann, geht das hier vorgelegte Argument aber weiter, da es ja den Mord förmlich als Abbruch wissenschaftlicher Konstruktivität auffasst und damit eine epistemologische Unmöglichkeit behauptet, nicht einen Aufruf zur Klugheit. Vgl. Karl-Otto Apel: ,,Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik: Zum Problem einer rationalen Begründung der Ethik im Zeitalter der Wissenschaft“, in: Ders.: Transformation der Philosophie, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1973, S. 358-435, S. 431.
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Dies ist jedoch selbst wiederum die epistemologische und damit die theoretische Seite. Von praktischer Seite drängt sich die Frage auf, wie nun der massive kontraintuitive Reflex, der sich auftut, kanalisiert werden kann. Denn eine konsequente Anwendung des gewonnenen Arguments hätte weitreichende rechtliche und ethische Folgen, ganz allgemein aber diejenige, dass jegliche Tötungshandlungen verboten sein müssten, darunter auch diejenigen Tötungshandlungen, die unschuldiges Leben unter Preisgabe von schuldigem schützen. Der Mörder stünde unter demselben Schutz wie das Opfer, und aus der unterbleibenden Quantifizierbarkeit des Arguments – sonst wäre es ja nicht absolut –, folgt ja weiterhin, dass sogar ein einziger Mörder einer möglicherweise tausende von Menschen umfassenden Opfergruppe ethisch gleichgestellt wäre. Tatsächlich ist dies der Fall, soll das Argument nicht preisgegeben werden. Doch die Tatsache einer solch offenkundigen Kontraintuition deutet auch daraufhin, dass dem sich auftuenden Widerspruch von Theorie und Praxis begegnet werden kann. Die Lösung soll hier nur anskizziert und andernorts ausgearbeitet werden. Der Grund, besser: die Erklärung für diesen Widerspruch einer Bewertungsunterscheidung zwischen Mord und Tötung, ist eine Verwischung von Disziplingrenzen, genau gesagt, der Grenzen zwischen Theorie der ethischen Praxis und Pragmatik. Auf Seiten der theoretischen Praxis oder praxeologischen Theorie (derjenigen Seite, die hier bislang bearbeitet wurde) gilt das Mordverbot, und zwar unumstößlich und ohne Ausnahme. Für Dilemmata des Typus’, ob ein Mensch für viele geopfert werden soll, gilt kategorisch: Nein, es darf nicht ein Mensch geopfert werden, selbst, wenn damit viele Menschen gerettet werden könnten. Nimmt man die theoretisch-praktische Wechselseitigkeit ernst, müsste auch dem Lügenverbot Kants ohne Zweifel und im Übrigen ohne zu Zögern als gerechtfertigt entsprochen werden. Doch in einer pragmatischen, etwa politischen, aber auch lebensweltlich-intuitiven Perspektive erscheint es als phantastisch, die Einhaltung des transzendentalen Verbots auch in Konfliktsituationen real einzufordern. Aus einer moralisch-pragmatischen Perspektive heraus also kann es sogar geboten sein, dem Letztargument zuwiderzuhandeln. Die transzendentale Letztgültigkeit des Arguments wird dann freilich nicht ausgesetzt; eine Zuwiderhandlung aber produziert dann Schuld. Doch es kann eine höhere Form oder auch nur eine dialektische Art von Gerechtigkeit bedeuten, in einer – selbst vielleicht unverschuldeten Notsituation – Schuld auf sich zu nehmen.
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3. Die Asymmetrie in der Figur der Mörderin Die bisherige philosophische Arbeit des Textes kann als Fundamentalkritik gesehen werden. Die hier interessierende Figur der Mörderin wurde schematisch binär gefasst und zerfiel in zwei inkommensurable Hälften: das Geschlecht und das Verbrechen. Auf der Ebene eines epistemologischen Konstruktivismus wurde bestätigt, dass das Geschlecht im Rahmen von Gender- und Queer-Theorien problemlos konstruierbar ist und hierbei leicht uneindeutige, gemischte und komplexe Positionen eingenommen werden können. Im direkten Widerspruch hierzu erwies sich jedoch der Homizid genau als dasjenige Verbrechen, das sich der Behandlung unter konstruktivistischen Vorzeichen transzendental entzieht. In dieser Hinsicht entzieht sich damit auch die Figur einer theoretisch einsträngigen Behandlung: Der Mord als das transzendentale Verbrechen wird in seiner gleichsam naturalistischen, nicht-konstruierbaren Valenz nicht von der Zurechnung an das konstruierte Geschlecht tangiert. Wie aber kann eine Handlung geschlechtsspezifisch sein, wenn es doch erst Handlungen – Konstruktionshandlungen mithin – sind, welche das Geschlecht überhaupt erst in der Bedeutung des gender konstruieren? Auf der Ebene der Konfiguration können die Handlungen nicht als geschlechtsspezifische an andere Handlungen angeschlossen werden und gleiten daher vom spezifischen Gender notwendig ab. In theoretischer Perspektive dürfte dieses Ergebnis recht eigentlich nicht überraschen, prolongiert es doch einen Grundsatz des Deutschen Idealismus, dass nämlich nicht vom Sein, sondern von Handlungen ausgegangen werden muss. Etwa weniger deutlich sichtbar sind aber vielleicht die Konsequenzen für die Figur der Mörderin. Denn bei genauem Hinsehen kann nicht einmal das scheinbar paradigmatische weibliche Verbrechen, der Kindsmord, als weiblich naturgegeben konstruiert werden. Selbst wenn man in einer eher biologistischen Wendung die Geburt als spezifisch weibliche Handlung zu fassen bereit ist – obwohl selbst ein Kritiker der älteren Frauenforschung wie Luhmann darauf hingewiesen hat, dass man ja im Umkehrschluss kinderlosen und älteren Frauen nicht die Weiblichkeit absprechen wird –38, ist der Mord selbst am eigenen Kind nicht die Umkehrung, nicht eine nachträgliche Abtreibung, nicht etwa eine böse Korrektur der Geburt, sondern der Mord an einem Menschen: nicht weniger,
38 Vgl. Niklas Luhmann: „Frauen, Männer und George Spencer Brown“ [1988b], in: Pasero et. al., S. 15-62.
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aber auch nicht mehr. Die Mutter ist somit als Mutter und als Frau zugleich entlastet und als Handelnder, der einen Mord zu verantworten hat, belastet.39 Der Grund für diese nun deutlich zutage tretende strukturale konzeptuelle Asymmetrie in der Figur der Mörderin liegt in den radikal unterschiedlichen und nie zur Konvergenz zu bringenden Valenzen der geschlechtskonstituierenden und der verbrecherischen Tat begründet. Während gender als Konstruktion ja die freie positive Ausgestaltung von Leben betrifft: wechselseitig des eigenen und qua Anerkennung auch des anderen Leben, ist der Mord in jeder Ausprägung, also auch in konstruktivistisch gemilderter Form, Negativität: die unwiderrufliche Auslöschung von Leben und damit die Verschließung aller Möglichkeitsräume. Negativität der Auslöschung von Leben und Positivität der Ausgestaltung von Leben streben unendlich auseinander, sodass die Figur des mordenden Geschlechts eher als ein doppelter Ausgangspunkt denn als ein Ort der Vereinigung wirkt. In der Figur der Mörderin werden in epistemologischer wie ethischer Perspektive vielmehr Sein und Handlung, Geschlecht und Verbrechen, Konstruktion und Destruktion voneinander geschieden. Diese Dissoziationen werden exakt innerhalb dieser Figur bis zur Unvereinbarkeit auseinandergetrieben.
II. ÄSTHETIK DES MORDENDEN G ESCHLECHTS . V ERBRECHEN , GENDER UND DIE ZEITGENÖSSISCHE O PER Eben dies gilt nicht für den Bereich der Kunst. Das, was hier bislang einer konzeptionellen Kritik unterzogen wurde: Der Konstruktivismus des Geschlechts unter Anrechnung von kriminellen Handlungen, wird genau zu einem der fruchtbarsten Felder für die ästhetischen Operationen; vielleicht sogar wegen der epistemologischen und moralischen Unbotmäßigkeit. Beide Seiten des konstruierten kriminologischen Geschlechts: Die typische Viktimisierung40 der Frau als Objekt
39 Die geschlechtsspezifische Entlastung übrigens löst die Ungerechtigkeit, dass der Mörder weniger in Bezug auf sein Geschlecht definiert wird als die Mörderin, vgl. dazu die kritischen Analysen von Luise F. Pusch: Das Deutsche als Männersprache. Aufsätze und Glossen zur feministischen Linguistik, Frankfurt a.M. 1984, besonders S. 46-68. 40 Vgl. für die Kriminologie etwa Walter Kiefl/Siegfried Lamnek: Soziologie des Opfers. Theorie, Methoden und Empirie der Viktimologie, München 1986; für die Kulturgeschichte etwa Maria Tatar: Lustmord. Sexual Murder in Weimar Germany, Princeton 1995.
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männlicher Begierde und Konstruktion sowie die Kriminalisierung der Frau als Gatten- oder Kindsmörderin sind, so der Verdacht, vielleicht exakt wegen ihrer theoretischen Unmöglichkeit bevorzugtes Sujet. Die Werke dieser ästhetischen Kriminologie des Weiblichen können genau jenen Hiatus füllen, den die struktural unmögliche Verbindung von durch Handlung hergestelltes gender und daran nie haften bleibende kriminelle Handlung auf epistemologischer und ethischer Ebene offen lässt. Diese Hypothese ist die Leitlinie für die folgenden ästhetisch-theoretischen Untersuchungen, die an konkreten Beispielen durchgeführt werden sollen. Die Analysen wählen sich das Gebiet der Musik41 und darin das Gebiet der zeitgenössischen Oper. Der Fokus wird verengt auf drei Werke einer unscharfen Filiation von Komponisten: Aribert Reimann, Hans-Jürgen von Bose und Michael Bastian Weiß.42 1. Aribert Reimann: Medea (2007-09)43 Obwohl Reimanns Medea offenkundig die gleichnamige Titelfigur in den Mittelpunkt des Geschehens stellt, ist diese „Oper in zwei Teilen“ bzw. vier „Bildern“ des Berliner Komponisten als Ensemblestück konzipiert.44 Selbst typisierte Nebenrollen wie die Amme Medeas, Gora, erhalten Soloszenen, die sie als Protagonisten legitimieren. Die Titelfigur erhält ihre Tiefenschärfe, wie exemplarisch gezeigt werden soll, aus einer Charakterisierung, die ihre Materie auch und besonders im Vergleich zu den anderen Figuren ausbildet. Wollte man eine begriffsartige Zuspitzung der Dramaturgie geben, könnte man bestimmen, dass Me-
41 In der Musikwissenschaft ist die Theorie von gender und queer mittlerweile breit diskutiert worden; vgl. etwa nur Susan McClary: Feminine Endings. Music, Gender & Sexuality, Minneapolis et al. 1991/22002. 42 Geboren 1936 (Reimann), 1953 (Bose) und 1974 (Weiß). Die Komponisten standen oder stehen im persönlichen Kontakt, sodass ein sehr freier pädagogischer und ästhetischer Kontext behauptet werden kann. Weiß ist auch Autor vorliegender Studie. Oper in zwei Teilen. Textfassung vom Komponisten nach Franz Grillparzer (20072009); Zitation des Titelblatts und des Textes aus der Partitur; der Autor dankt für die Bereitstellung der Partitur durch den Verlag Schott, Mainz et al. 2009. – Die Uraufführung des Auftragswerks der Wiener Staatsoper unter dem Dirigat von Michael Boder (Inszenierung: Marco Arturo Marelli) wurde 2010 als DVD veröffentlicht (Arthaus Musik). Für eine Inhaltsangabe vgl. das darin enthaltene Beiheft, S. 21f. 44 Für einen auf einem Gespräch mit dem Komponisten basierenden Bericht vgl. Volker Hagedorn: „Medea wohnt hier nicht mehr“, in: http://www.zeit.de/2009/39/KS-Reimann [letzter Zugriff am 10. 10. 2009].
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dea (Abb. 2) als einzige Figur die selbstverleugnende Anpassung an neue Verhältnisse (nämlich das Asyl in Korinth nach der Flucht aus Jolkos) aufgrund der selbstbehauptenden Wahrhaftigkeit ihrer Gefühlswelt verweigert und als Konsequenz aus der neuen Gesellschaft ausgestoßen wird resp. sich durch den Kindsmord selbst ausstößt. Abbildung 2: Eugene Delacroix, Medea, 1862.
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Reimanns Stück verwirklicht diese präzise, von ihm selbst verdichtete Dramaturgie in einem eigenen Libretto, das zwar literarisch auf Grillparzer beruht, doch in der Auswahl und Anpassung des sprachlichen Vorwurfs eine genuine eigene Leistung darstellt.45 Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass Dramaturgie, Text und Musik nicht zu trennen sind, sondern vom Musikdramatiker als Einheit konzipiert, formuliert und komponiert wurden. Die Analyse soll die spezifische Richtung nehmen, zunächst zu rekonstruieren, wie die Titelfigur Medea für sich genommen gezeichnet wird, um dann um so deutlicher abzuheben, wie Reimann die Medea komparativ, im Bezug auf die umgebenden Figuren, ausgestaltet. Wie in vorhergehenden Stücken auch, verwendet Reimann beispielsweise äußerst plastische instrumentale Kombinationen, um die Figuren gegeneinander zu differenzieren. So wird beispielsweise der Gottesherold, der im 2. Bild46 den Bannfluch gegen Jason und Medea verkündet, von einer eindringlichen Kombination von vier Klarinetten begleitet, die von der Kleinen Klarinette bis zur selten verwendeten Kontrabassklarinette das gesamte Register abdeckt und somit effektiv eine Art Über-Instrument darstellt.47 Kreon hingegen wird durchgehend durch Blechbläser charakterisiert;48 vor seinem Auftritt mischt sich dieses sein Register mit den tiefen Holzbläsern, die das Duett von Jason und Medea begleitet haben:49 Die Figuren erhalten scharf profilierte instrumentale personae, die auf Orchesterebene aufeinanderprallen können. Bevor die Konstruktionen von Medeas Mutterschaft und ihres Verbrechens analysiert werden, sollen zunächst die drei Hauptaspekte gegeben werden, die Medea als Person noch unabhängig von ihrer Mutterschaft konstituieren: 1.
Medea ist eine Zauberin, sie ist realitätslos: Ab den ersten Takten des Stücks stellt die Kombination einer fahlen Melodielinie der tiefen Holzbläser und einer Folge von tief, mittel und hoch ausdifferenzierten Tamtams Medea als sinistre Persönlichkeit vor, die sich nicht völlig in die Realität fügen kann, weil sie noch einem zweiten, magischen Reich angehört;50
45 Leider ist in keiner der drei Analysen eine Reflexion des Verhältnisses von Vorlage und Libretto möglich; festgehalten sei jedoch der Umstand, dass alle drei Autoren selbst auch als ihre eigenen Librettisten fungieren. 46 Reimann 2009, S. 142. 47 Ebda., S. 145ff. 48 Vgl. seinen ersten Auftritt, ebda., S. 55ff. 49 Ebda., ab S. 53. 50 Ebda., S. 1.
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2. 3.
Medea ist heimatlos: sie ist Asylsuchende und es wird von ihr erwartet, dass sie sich das als großzügig eingeführte Gastland assimilieren möge;51 Medea ist zukunftslos: sie ist durch ihre Vergangenheit definiert und damit unfähig, sich voll auf die örtlich-heimatspendende und zeitlich-zukunftssichernde Gegenwart einzulassen.52
Diese drei Aspekte ihrer Persönlichkeit haben sämtlich primär soziale Valenz; sie verweisen weniger auf eine etwaige psychologische Charakterisierung Medeas, als dass durch die Situierung Medeas innerhalb der fremden Gesellschaft, aus der sie dreifach exkludiert ist, relativisch ein dysfunktionaler sozialer Charakter der Titelfigur hervorgebracht wird. Für die hier interessierende Konstruktion von Medeas Mutterschaft ist entscheidend, dass exakt diese dreifache soziale Exklusion die soziale Realisierung der Mutterschaft verstellt. Es tritt im Gegensatz zur biologisch unproblematischen Mutterschaft im Modus ihres Fehlgehens der Konstruktivismus der sozialen Mutterschaft hervor. Auf Figurenebene wird diese Dysfunktionalität durch die Einführung einer konkurrierenden sozialen Mutter, Kreusa, der Tochter Kreons, motiviert und dargestellt. Die kompositorische Zeichnung Kreusas könnte eindeutiger kaum sein: Reimann ordnet ihr seit ihrem ersten Auftritt53 eine leichtgewichtige, kokette Musik zu, die mit hohen Holzbläsern, Harfenflageoletts und Celesta ansprechend silbrig instrumentiert, durch die Verwendung von Tonleitern (etwa in der Flöte nach Z. 41) melodisch quasi gegenständlich und bei aller metrischer Variation wegen des stabilen Achtelpulses rhythmisch greifbar ist. Sämtliche Parameter der Komposition: Melodik, Rhythmik, Metrik, Instrumentation, weiterhin die gesamte durch Lautstärke und Artikulation hergestellte Gestik, wirken also zusammen, um Kreusa als leicht zugänglich vorzustellen. Noch vor ihrem Auftritt wird sie außerdem hinter der Bühne mit textlosen, verführerischen Melismen hörbar;54 sie wird mehrmals in den gleichsam sprachlosen Vokalisengesang zurückfallen, wenn sie bei der Konfrontation mit Medea scheinbar ängstlich ihre Stimme verliert55 oder sirenenartig die Kinder Medeas zu sich lockt, um deren
51 Reimann illustriert die Diskrepanz zwischen Assimiliationsangebot und -verweigerung in der Gleichzeitigkeit gedämpfter und ungedämpfter Trompeten. Ebda., S. 37. 52 Vgl. Medeas Erzählung vom Tod des Königs, auf die Jason mit äußerster Ablehnung reagiert. Ebda., S. 214f. 53 Ebda., S. 62. 54 Ebda., S. 60. 55 Ebda., S. 67.
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Entfremdung von der Mutter zu besiegeln.56 Die kompositorische Konstruktion von Kreusas verführerischer Feminität bedient sich also orchestral einer bewusst traditionellen, gegenständlichen Verwendung der musikalischen Parameter und vokal der textlosen Vokalise, die in der musikgeschichtlichen Konvention nach Wagner oder Strauss mit einer speziell weiblichen Naturhaftigkeit konnotiert ist. Damit liefert Kreusa das exakte Gegenbild zu Medea, die seit dem Beginn des 1. Bildes mit hörpsychologisch schwer greifbaren Schlagzeugklängen von unbestimmter Tonhöhe und hochkomplexen, rhythmisch und metrisch kaum valenten Streicherakkorden verbunden wird. Die Konfrontation der beiden diametralen Frauenbilder Kreusa und Medea im 1. Bild kann Reimann vor allem auch im Orchester stattfinden lassen (vgl. Notenbeispiel 1, S. 65/66, Abb. 3). In die Kokettiermusik Kreusas setzt, als sie im Duett mit Jason auf seine Verbindung mit dem „grässlich[en] Weib, giftmischend, vatermörderisch!“ anspielt, ein hoher Streichercluster ein, der Medeas Töne „d – e – a“57 enthält, durch weitere Töne angereichert wird und sich bei Medeas Auftritt und der Nennung ihres eigenen Namens in einen 15-fach ausdifferenzierten Streichercluster entlädt. Kompositorisch stehen sich also Konventionalität und Gegenständlichkeit (Kreusa) auf der einen, Komplexität und Widerständigkeit (Medea) als hochdifferenzierte, auf der Ebene aller Parameter funktionierende Symbole zweier verschiedener Frauenbilder gegenüber; textlich hat diese Konstellation ihre Entsprechung, wenn etwa Kreusa die Kinder anspricht: „Kommt her zu mir, ihr heimatlosen Waisen, ich will euch Mutter sein!“ und Medea antwortet: „Keiner andern Mutter braucht’s, solang Medea lebt.“58 In exakt dieser Entgegnung, die durch die faktische kompositorische und dramaturgische Situation offen konterkariert wird, liegen keimartig die Motivationen aller folgenden Aktion bis hin zum finalen Kindsmord: In einer selbstverleugnerischen Szene zu Beginn des 2. Bildes wird Medea erfolglos versuchen zu beweisen, dass es „keiner andern Mutter braucht“, indem sie in einem demütigenden Unterricht bei Kreusa versucht, deren attraktive Weiblichkeit zu imitieren;59 Reimann führt hier die Stimmen der beiden Sängerinnen wie zwei spiegelbildliche Linien.60
56 Ebda., S. 225. 57 (M) – e – d – e – a! Das fehlende „M“ kann als lateinische Solminisationssilbe „mi“ gelesen werden und ist damit auch durch das „e“ repräsentiert. 58 Reimann 2009, S. 71f. 59 Ebda., S. 117. 60 Man vergleiche, wie Kreusa und Kreon ihre Stimmen mit demselben Tonmaterial, um eine Allianz zu schmieden, ein Ersatzelternpaar zu werden, miteinander kreuzen. Vgl. ebda., S. 69/70.
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Abbildung 3: Reimann, Medea (2009), 1. Bild. Konfrontation zweier Mütterbilder: Die kokette Musik Kreusas (Holzbläser, Harfe, Celesta) trifft auf den Streichercluster Medeas, in dessen Klangraum sie hinein ihren Namen singt – und sich in ihrer dramatischen Antwort als Mörderin konstituiert.
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Doch der Versuch Medeas, durch den Vortrag eines Liedes weibliche Zivilisiertheit zu simulieren,61 scheitert, sie wird von Jason an ihre kämpferische, mithin unweibliche Vergangenheit erinnert (Zukunftslosigkeit!) und kehrt mit dem Ausruf „Ich lebe!“, gesungen auf die ihr zugeordneten drei Töne, zu ihrer undomestizierten Persönlichkeit zurück.62 In dieser offenen Konkurrenz zweier Mütterbilder muss Medea notwendig unterliegen. Wiederholt inszeniert die Musik,63 dass Medeas eigene Kinder dem durch Anpassung konstruierten sozialen Frauentypus der Kreusa den Vorzug geben, den sie somit als mütterlich anerkennen, während die biologische Mutter ihre diesbezüglichen Attribute geradezu entzogen bekommt.64 Macht über ihre Kinder erhält der Frauentypus, der durch Passivität Machtlosigkeit demonstriert; mit all ihrer sängerisch hochexpressiven Aktivität kann Medea nur ihre Unweiblichkeit inszenieren. Medea hat die Kinder schon vor ihrer Ermordung verloren. Der Verlust der Kinder besteht in Reimanns „Medea“ primär im Verlust der sozialen Mutterschaft und findet damit auf Ebene der Konstruktion statt. Der Mord selbst wird auf der Bühne nicht gezeigt und hat somit auch keine Realität in der Oper. Nach der hier vorgestellten Position trägt Reimann damit dem Fakt Rechnung, dass nur die Entfremdung der Kinder von der Mutter auf die Konstruktion von Geschlechtlichkeit bezogen werden kann, nicht aber das Verbrechen des Mordes selbst, an welchem selbst in der Form des Kindsmords kein spezifisch weiblicher Anteil haften bleibt. 2. Hans-Jürgen von Bose: Medea-Fragment (1993)65 Dass Boses Medea-Fragment in den Paratexten einerseits als „Fragment“, andererseits als „Musiktheater“ ausgewiesen ist, zeigt, wie auch die Länge von etwa 50 Minuten, dass dieses Stück im Vergleich zu Reimanns Medea keine abendfül-
61 Reimann verwendet hier als Hommage an Grillparzer die Anfangstakte eines vom Dichter komponierten Lieder. Vgl. ebda., S. 121. 62 Ebda., S. 137. 63 Vgl. die harten Bartók-Pizzicati, die als ein Zurückschrecken der Kinder vor Medea gedeutet werden können. Ebda., S. 73. 64 Die Kinder lehnen Medea ab und wenden sich Kreusa zu. Ebda., S. 223ff. 65 Medea-Fragment. Musiktheater nach Hans Henny Jahnn; Zitation des Titelblatts und des Textes aus der Partitur; der Autor dankt für die Bereitstellung der Partitur durch den Verlag Ricordi: Mailand 1993. Die Auftragswerk des Opernhauses Zürich fand dort 1994 unter dem Dirigat von Nicholas Cleobury (Choreographie: Bernd Roger Bienert) statt.
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lende Oper darstellt. Das Medea-Fragment ist, wiewohl der von Bose selbst im Libretto kompilierte Text nach Hans Henny Jahnn zur Hochliteratur gezählt werden kann, keine Literaturoper. Vielmehr bringt Bose auf eine für ihn typisch synthetisierende Weise verschiedene Gattungen zusammen, indem sowohl das Ballett in einer von ihm geprägten Konzeption als „Bewegungschor“ sowie oratorische Elemente wie der ständig präsente Chor tragende Rollen spielen, parallel zu einer Ergänzung des besonders im Schlagzeug reich besetzten Orchesters durch Zuspielungen vom Tonband. Selbst das Licht ist in der Partitur notiert, als ob es, etwa in dynamischen Parametern wie Crescendi und Decrescendi, musikalisch notierbar wäre:66 Alle musikablen, das heißt genügend abstrakten Parameter einer Inszenierung, eben nicht nur die gespielte Musik, sollen präzise geführt werden. Dies ist charakteristisch für Boses musikalisches Denken: die bewusste Analyse und folgende Synthese der musikalischen und musikablen Parameter in einer Form der Elementarpolyphonie. Nicht mehr einzelne Stimmen werden kontrapunktisch selbständig geführt, sondern die basalen Parameter selbst, bis hin eben zum Licht, treten unabhängig voneinander zusammen. Möglich wird dadurch die bewusste Kontrolle hochkomplexer musikalischer Abläufe. Für die hier interessierende Frage der Konstruktionen von Medeas Geschlechter- versus Täterrolle ergibt sich, dass auch Text, Szene und Dramaturgie unter dem Leitbild einer polyphonen Behandlung dieser Parameter untersucht werden müssen. Denn diese Auflösung und sukzessive Neukombination der Elemente erstreckt sich auch auf die Charakterisierung und musikalische Zeichnung der Personen, deren Äußerungen und Handlungen nicht, wie etwa bei Reimann, als chronologisch-lineare aufgefasst werden können. Vielmehr präsentiert sich Boses „Medea“ als eine Art Meta-Fragment, insofern sie die einzelnen – textlichen, musikalischen, theatralen – Elemente, kristallartig zusammenführt,67 und zwar innerhalb einer hier zum Raum werdenden Gleichzeitigkeit. Für die Medea-Figur hat dies die Konsequenz, dass sie dramaturgisch weder ontologisch als Mörderin noch teleologisch als jene personale Einheit aufgefasst werden kann, die innerhalb einer motivationalen Entwicklung ihre Kinder töten wird. Jegliche ästhetische Ontologie ist bereits dadurch verbaut, dass Medea zu
66 Auf S. 23 der Partitur etwa bezieht sich die dynamische Notation auf die Hell-DunkelGrade. 67 Bose hat öfter auf Deleuzes’ „Rhizom“-Konzeption verwiesen, welches möglicherweise die ganz eigene Ästhetik des Medea-Fragments pointierter benennen könnte. Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: A Thousand Plateaus: Capitalism and Schizophrenia II, Minneapolis 1987.
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Beginn der Oper als Double „über den verhüllten Leichen“68 (S. 2) vorgestellt wird. Diese Unmöglichkeit, dass mörderische Handlungen an Medeas Person haften bleiben, wird jedoch nicht durch solche szenische Kunstgriffe generiert, denn trotz der ergänzenden Funktion des Chores und der Tonbandzuspielungen sind die Personen durchaus als identische Rollen individuellen Sängern anvertraut; vielmehr ist die Unmöglichkeit, Medea personal ontologisch oder teleologisch aufzufassen, selbst bloßer Ausdruck für die dahinterliegende nicht-lineare Struktur der erzählten Temporalität, welche, wie oft bei Bose, durch B. A. Zimmermanns Metapher von der „Kugelgestalt der Zeit“69 animiert ist. Zu Beginn scheint Medea als bereits Schuldiggewordene präsentiert zu werden; wiederholt und detailliert bis zur Zerstückelung des Leichnams wird der Mord am „heiß geliebt[en]“ Bruder thematisiert (S. 3ff., 14ff., S. 35); ein Chor wiederholt insistierend wie ein Mantra den Satz „Womit verdienten wir uns bittren Tod“ und scheint damit auf den Mord an den Kindern zu referieren.70 Diese Vergangenheitsperspektive wird immer wieder bestätigt, wenn etwa das Orakel verkündet: „Medea, die geliebt, getötet und verraten…!“ (S. 35), Medea Jason daran erinnert, dass sie aus Liebe zu ihm die Götter verraten hat (S. 114),71 oder Medea wiederholt bereut, dass sie Jason überhaupt in Kolchis begegnet ist (S. 60f., 132ff., 142ff.): Wäre dies nicht passiert, könnten ihr Bruder und ihre Kinder noch leben. Ja, Jason hätte selbst noch „mit einem Wort“ die mörderischen Taten verhindern können (S. 22f.). Dieser Vergangenheitsperspektive stehen jedoch Passagen entgegen, in denen deutlich gemacht wird, dass die Taten noch nicht begangen sind: „Jason, komm zu mir, dass kein Unglück werde!“ spricht Medea „wie erwachend“ (S. 36), die auf der Bühne präsenten zwei Knaben tauschen sich über die Mutter- und Vaterliebe aus (S. 62ff.), und Medea selbst versichert dem jüngeren Knaben „Du wirst nicht früher sterben denn durch mich
68 Die eingeklammerten Seitenzahlen in diesem Kapitel beziehen sich stets auf die faksimilierte Partitur [Bose 1993]. 69 Für eine Rekonstruktion dieser Metapher vgl. Carl Dahlhaus: „,Kugelgestalt der Zeitǥ. Zu Bernd Alois Zimmermanns Musikphilosophie“, in: Musik und Bildung. Zeitschrift für Musikerziehung, Jg. 10/10 (1978), S. 633-636, etwa S. 633. 70 Etwa S. 6, S. 11f., S. 20f., S. 38ff. Die Silben sind hierbei oft auf die verschiedenen Stimmen verteilt, sodass der Satz nicht sukzessive ausgesprochen wird, sondern wie ein Mini-Ensemble gleichzeitig erklingt und damit mit rein musikalischen Mitteln pointiert wird, vgl. etwa S. 11 oder S. 39. 71 Paradoxerweise, so insinuieren es die Kommentare des Chores, hat sie damit auch sich selbst verraten: „Gebärer des Alls, Mutterleib, Uranfänglicher, Schöpfer der Schöpfung, Herrscher der Götter, Herr“ (etwa Bose 1993, S. 7).
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und meine Hand wird ihn nicht töten, weil ich ihn liebe!“ (S. 74ff.). Selbst der Archetypus der Kindsmörderin72 hat Anteil am universalen Gebot „Du wirst mich nicht töten“, wie es von Lévinas ausgesprochen wurde. Gerade die letzte Passage jedoch benutzt die exklusiven Möglichkeiten der Musik, um die Zeitverhältnisse auf den Punkt zu bringen. Denn an dieser Stelle berichtet der jüngere Knabe, eingeleitet durch die Floskel „Sie sprach“, aus der Vergangenheitsperspektive von Medeas Versicherung „Du wirst nicht früher sterben“, während gleichzeitig Medea diese Zukunftsperspektive aus der Aktualität der Bühnenpräsenz „sehr intensiv“ ausspricht und damit gleichsam ratifiziert (vgl. Notenbeispiel 2, S. 74, Abb. 4). In Momenten wie diesen wird die spezifische Zeitdramaturgie des „Medea-Fragments“ quasi symbolartig zugespitzt: Es wird gleichsam ein einziger Moment über 50 Minuten hinweg ausgefaltet, nämlich der Augenblick, der zwischen der Reue über den begangenen Mord und seiner Ankündigung steht, jene Kluft, die zwischen Futur und Praeteritum steht und sich als Augenblick der Entscheidung und damit als Moment der Freiheit offenbart. Der Augenblick zwischen der Ankündigung des Zukünftigen – die hier wohlgemerkt als Ankündigung des Mordes wie auch des Vorsatzes seiner Unterlassung gleichermaßen vorgestellt wird – und der Reue über Geschehenes wird zum Zeitrahmen des ganzen musiktheatralischen Geschehens. Innerhalb dieser a-teleologischen Zeitdramaturgie also kann sich Medea nicht als Person konstruieren und damit nicht als identischer Träger von Entscheidungen, die schuldhaft an ihr haften bleiben, konstituieren. Unterstrichen wird diese absolute Aktualität des Augenblicks durch die permanente Thematisierung von Altersprozessen, die meist als angehalten präsentiert werden.73 Die Figuren treten nicht in Interaktion wie in Reimanns narrativer Dramaturgie: Als Ensemble, sondern scheinen sich aufzulösen, gleichsam über die in Musik aufgelösten Körpergrenzen hinweg ineinander überzugehen.
72 Vgl. dazu das sogenannte Medea-Syndrom, dazu die neuere Studie: Roberta Gray Katz: The Medea Complex and Parental Alienation Syndrome: Who Are the Severe Alienators?, Ann Arbor 2011, bzw. das sogenannte Münchhausen-Stellvertretersyndrom (Munchhausen Syndrome by Proxy), das das Vortäuschen von Krankheiten meist bei Kindern bezeichnet, welche dann gefährlichen medizinischen Behandlungen ausgesetzt werden; dazu etwa Meinolf Noeker/K. M. Keller: „Münchhausen-byproxy-Syndrom als Kindesmisshandlung“, in: Monatsschrift Kinderheilkunde, Berlin 2002, 150, S. 1357-1369. 73 Vgl. Bose, S. 53.
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Abbildung 4: Von Bose: Medea-Fragment (1993). Drei Zeitebenen prallen aufeinander: Der Knabe berichtet aus der Vergangenheit von Medeas Prophezeiung an ihn „Du wirst nicht früher sterben“, welcher in Zukunft widersprochen werden wird. Medea ratifiziert die Prophezeiung als Versprechen in der Gegenwart des Bühnengeschehens.
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So erklärt sich, dass stets auch die Medea umgebenden Figuren, die Knaben und Jason, nicht direkt in Kontakt treten, sondern immer im indirekten Medium der Erzählung übereinander sprechen.74 Die Dissoziation speziell der Medea-Figur wird in der Schlussphase des Stückes durch elektronisch zugespielte „Befehle“ verdeutlicht, welche nach der Vorschrift des Komponisten in einer „verfremdete[n], unverständlich gemachte[n], befehlsartige[n] Sprache“ elektronisch vorproduziert werden und den „Bewegungschor“, das Ballett, szenisch sichtbar beeinflussen (S. 147). Mit diesen unbegrifflichen „Befehlen“ wird denn auch das Finale des Stückes initiiert; denn wie beendet man eine Zeitstruktur, die wesentlich in einem zwischen Zukunft und Vergangenheit eingehängten Augenblick besteht? Bose bedient die dramaturgische, formale und wahrnehmungsästhetische Notwendigkeit eines Abschlusses nicht etwa durch einen Abbruch seiner Zeitdramaturgie, sondern durch ein abstraktes Substitut für den Kindsmord, der, wie bei Reimann, nicht gezeigt wird: Der Bewegungschor treibt ein „Opfer“, das im Kreis rennt, immer mehr in die Enge und schlägt schließlich auf dieses ein (S. 179ff.). Das Charakteristische an Hans-Jürgen von Boses auskomponierter Musikphilosophie, wie er sie in seiner Bearbeitung des Medea-Stoffes realisiert, ist also, dass die ethisch eindeutige Tat: der Mord, in eine ästhetische Polysemie aufgelöst wird. Diese Polysemie wirkt sich nicht nur dramaturgisch und textlich aus, sondern auch musikalisch, wenn etwa die moralischen Wertungen des OrakelChores durch Boses ureigene Kunst der Polystilistik als „kitischig“ oder „bigott“ (S. 115/151) diffamiert und damit entwertet werden.75 Sowohl die konkrete ethische Bewertung – Schuld, als auch die generische Zurechnung von Taten überhaupt – gleiten an den Figuren, die nie ontologische Personen werden, sondern nur im Medium ästhetischer Konstruktionen Kontur gewinnen, ab. In Boses komplexem Musiktheater wird die Konstruiertheit überhaupt erfahrbar gemacht.
74 In dieser Form wird etwa das Verhältnis der Knaben zu ihrem Vater geschildert, vgl. etwa S. 23, S. 34, S. 49 u.a. 75 Vgl. etwa die satirische Konfrontation von „Neue Musik“-Stil mit „Heile-Welt“Musik, S. 27, oder die geforderte „UFA-Musikatmosphäre“, S. 31. Auf die Polystilistik der Musiksprache und die damit verbundenen identitäts- und autortheoretischen Implikationen kann hier nicht weiter eingegangen werden; Bose entwickelt sie in seinen späteren musiktheatralischen Werken, etwa „Schlachthof 5“ (1996) und „KProjekt 12/14“ (2002) weiter.
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3. Michael Bastian Weiss: Vielleicht war ich ein Azteke (seit 2001)76 Mit dem eigenen Opernprojekt Vielleicht war ich ein Azteke, an dem der Autor mit großen Unterbrechungen seit 2001 arbeitet, kann schließlich der spezielle Bereich der Queer-Theorie exemplarisch beleuchtet werden. Das Projekt nimmt sich den Fall des amerikanischen Serienmörders Jeffrey Dahmer zum Vorbild, der im Libretto jedoch einen anderen Namen, Niklas, erhält, und dessen Fallgeschichte77 durch weitere Handlungselemente angereichert wird. Obwohl die Oper also realistische Anteile enthält, bildet sie nicht im Sinne der sogenannten „CNN“-Opern quasi dokumentarischen Charakter aus, sondern ist an einer inhaltlich breiteren Darstellung des Falles interessiert, der auch auf seine gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und ästhetisch-selbstreflexiven Implikationen untersucht wird. So wird innerhalb der Oper die gesellschaftliche Faszination am kriminologischen Phänomen des Serienmords78 thematisiert, die sich in zahlreichen populärwissenschaftlichen Publikationen genauso äußert wie an ästhetischen Produktionen wie Kriminalromanen, Filmen und einigen wenigen Musiktheaterarbeiten wie Alban Bergs Lulu. Die Dramaturgie soll also, eine bloß mimetische Erzählung der originalen Fallgeschichte übersteigend, das kriminologische Geschehen so einbetten, dass eine möglichst polyseme Untersuchung, Reflexion und performative Einschätzung des Phänomens des Serienmörders möglich wird, welche neben den wissenschaftlich erklärenden Aspekten eben auch dessen gesellschaftliche und ästhetische Attraktivität von der Bühne auf die Zuschauer zurückwirft. Letztlich wird also als Gegengewicht zum true crime die Selbstreflexion der eigenen auktorialen und über-eigenen rezipierenden Faszination angeboten. Deshalb darf die Dramaturgie auch nicht chronologisch, das heißt, linear erzählend sein. Zwar wurden Ideen verworfen, das personale Zentrum der Oper, den Serienmörder,
76 Vielleicht war ich ein Azteke. Oper in einem Prolog, neun Szenen und einem Epilog op. 9; Libretto vom Komponisten nach wahren Begebenheiten; Zitation des Titelblatts und des Textes aus der Partitur bzw. bei noch nicht komponierten Teilen dem Libretto, abgedruckt in: Siegfried Matthus (Hg.): Opern des 21. Jahrhunderts. Libretti, Rheinsberg 2004, S. 31-46. Die Uraufführung der 5. Szene „Deine missglückte Flucht“ fand 2004 unter dem Dirigat von Ingo Ingensand in der Kammeroper Schloss Rheinsberg (Inszenierung: Carin Marquardt) statt. 77 Vgl. Brian Masters: The Shrine of Jeffrey Dahmer, London 1993. 78 Dazu Stephan Harbort: Das Hannibal-Syndrom. Phänomen Serienmord, Leipzig 2001.
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auf verschiedene Sänger zu verteilen, ihn damit zu entpersonalisieren und seine kollektive Relevanz darzustellen, weil damit eine potentiell starke Figur und dankbare Rolle verschenkt würde. Dennoch muss bereits in den Rahmenbedingungen der Oper, der Dramaturgie, der Rollenvergabe, der Involviertheit der Musik, eine Eindeutigkeit vermieden werden, die auf wissenschaftlicher Ebene naiv, auf moralischer Ebene redundant und auf ästhetischer Ebene möglichkeitsarm wirkt. So wurde die Handlung auf insgesamt elf Szenen verteilt, die in sich chronologisch linear aufgebaut, doch in der realen Abfolge diskontinuierlich sind: Der Fordismus des Serienmörders, seine sinnlose, in sich leere Iteration, wird nicht in direkter Imitation in ästhetische Iteration überführt: etwa in eine kompulsive Serialität von Handlungen oder musikalischen Motiven, sondern übersetzt als ein gleichsam unendliches, immer wieder anhebendes Geschehen, das konventionell starke Handlungseinbrüche: etwa das Ergreifen des Täters oder seinen Tod, ignoriert und sich somit als überindividuell präsentiert. So werden etwa in der 5. Szene die zeitliche Gegenwart des auf der Bühne Gezeigten, das Opfer, das sich aus seinen Fesseln befreien will, und die aus einer Vergangenheitsposition heraus erfolgende Erzählung des Mörders in einer Interviewsituation dramaturgisch überblendet. Die Ungleichzeitigkeit der beiden Zeitmodi Gegenwart und Vergangenheit: präsentischer Gefahr (Opferperspektive) und erzählter Lust (Täterperspektive), die auf der Bühne und musikalisch parallel ablaufen, wird im Finale der Szene in die Gleichzeitigkeit gekippt: Der Mörder wechselt von der eigenen erzählten Geschichtlichkeit in die Gegenwart, kann die Polizisten von seiner natürlich falschen Unschuld überzeugen und das bereits entkommene Opfer wieder in seinen Machtbereich zurückholen (vgl. Notenbeispiel 3, Szene 5, S. 6, Abb. 5: „Astronomisch … So niedrig war die Wahrscheinlichkeit“79). Der Serienmörder erweist sich dramaturgisch als gleichsam unsterblich und omnipotent: Bewusst folgt auch die Szene, welche die Allmachtsphantasien Niklas’ zeigt, auf die Szene, in welcher sein Vater von Niklas’ Ermordung im Gefängnis erfährt: Die traditionelle narrative Dramaturgie kann ihm nichts anhaben, der Serienmörder kommt immer wieder zurück. Die nicht-chronologische Dramaturgie erfüllt, in dem sie die Handlungskonsequenz offen hält, auch den Zweck, die intrinsische moralische Bewertung des Opernsujets in die Schwebe zu bringen und damit einer ethischen Redundanz auszuweichen, die ästhetisch nicht anders denn ertötend wirken würde. Dies war das Prinzip Hitchcocks, ein überraschendes wahrnehmungspsychologisches Resultat aus der Präreflexivität des „Suspense“-Begriffs:
79 Vgl. Weiß 2004, S. 39.
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Abbildung 5: Weiß, Vielleicht war ich ein Azteke (seit 2001), Szene 5. Der Mörder Niklas berichtet, räumlich und zeitlich vom Hauptgeschehen abgetrennt, von der lange zurückliegenden Gewalttat an Martin, das auf der Hauptbühne stattfindet. Später wird er die Zeitebene wechseln und in das Geschehen eingreifen.
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Dass der Zuschauer unwillkürlich auch mit dem Bösewicht der Handlung mitfühlt, weil er eine spannende Situation – etwa die Gefahr, gefasst zu werden – auf sich bezieht und damit sein eigenes Gefangensein innerhalb der ästhetischen, nicht moralischen, Wertsphäre offenbart – solange er einen Film sieht oder an einer Opernhandlung wirklich teilnimmt.80 Hier kommen die konventionellen Moment des Librettos ins Spiel: Die 5. Szene „Deine missglückte Flucht“, welche bereits inszeniert wurde, basiert etwa auf der Handlungseinheit eines verbürgten, besonders tragischen Geschehnisses des originalen Falls. Der 1. Akt endet somit mit dem Entkommen des Täters, während gleich der Beginn des 2. Aktes, als symmetrische Spiegelung, mit seiner Ergreifung beginnt. Als ihren Preis forderte die flexible Dramaturgie, dass die starke Figur des Serienmörders Niklas aus Gründen der Identifizierbarkeit nicht auf eine kollektive Instanz, etwa einen Chor, aufgespalten werden konnte. Der von einem Bassbariton gesungene Mörder bleibt also als Figur konstant. Dass er ein ebenbürtiges Gegengewicht benötigt, kehrt die alte Weisheit, dass der Held umso plastischer wird, je böser der Bösewicht ist, um: Eine Oper, die vom Bösen ausgeht, braucht gewissermaßen ein besonders charismatisches Gutes. Dieses Gegengewicht zum Serienmörder bildet die Kriminalpsychologin Hannah Seliger, die an reale, auch medial sehr präsente sogenannte ,Profilerǥ angelehnt ist. Die Kriminalpsychologin, die von einem Sopran gesungen wird, bildet die personale Projektionsfläche für wissenschaftliche Diskurse, die sich mit den durch die Realvorlage implizierten Tabuthemen der Nekrophilie81, des pseudo-religiösen Ritualmords und des Kannibalismus82, denen sich die Oper auch stellt, auseinandersetzen und sie, allerdings nur indirekt, zu erklären versuchen. Die im, für sich genommen, ethisch indifferenten Bühnengeschehen unterbleibende Erklärung von außen soll dabei paradoxerweise nichts weniger denn die gesuchte Erklärfunktion übernehmen, insofern nämlich die textliche, szenische und vor allem musikalische Faktizität gleichsam die Wirklichkeitsmodelle von Täter, Opfer und Beobachter ästhetische Wirklichkeit werden lässt und damit gleichermaßen erprobt und erfahrbar macht: Durch die Möglichkeiten der
80 Vgl. etwa Francois Truffaut: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?, München 1973/131990, S. 61ff. 81 Eine wichtige Quelle für die ästhetische und textlich-wissenschaftliche Interpretation dieses Tabus war die Analyse von: Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität, Stuttgart 1974. 82 Dazu etwa Klaus M. Beier: Sexueller Kannibalismus. Sexualwissenschaftliche Analyse der Anthropophagie, München 2007.
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Musik können wir hören und hörend erfahren, was der Täter erlebt, wenn er Unaussprechliches begeht; man vergleiche etwa die Schilderung der Dominanzphantasien Niklas (Szene 683). Doch diese ästhetisch wirksamen, aber ethisch prekären Einfühlungsmöglichkeiten verlieren ihre Relevanz, wenn sie zur Zementierung der ästhetisch-ethischen Eindeutigkeit des Geschehens führen. Eben hier werden die im vorliegenden gender- und queer-Kontext besonders interessierenden Aspekte virulent. Sie betreffen besonders die Fächerwahl für die übrigen dramatischen Personen, besonders die der Profilerin84, und bei näherem Hinsehen auch die Figur des Mörders selbst: Dass die Profilerin, die daran beteiligt ist, Täter zu fassen,85 auf eine Sängerin übertragen wird, soll eine Umkehrrelation verdeutlichen. Durch diese Konstellation: eine Frau jagt einen Mann, wird das ästhetisch zur Konvention erstarrte Verhältnis von Opfer und Täter genau umdreht.86 Allein unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet, ist diese Umkehrung des Klischees eine Form der Gegenbesetzung und geht damit mittelbar auch auf Hitchcocks Ästhetik des Kontrastes zurück. Nach wie vor stellt zwar der moderne Mythos um die sogenannten „Whitechapel“-Morde mit all seiner kulturgeschichtlichen Relevanz87 einen auf der Opernbühne ungehobenen Schatz dar. Doch die Situation, dass ein diabolischer und aus dem Schatten agierender Mörder Frauen umbringt, ist ästhetisch gleichermaßen schal: nämlich klischeehaft, wie sittlich problematisch: Muss denn noch eine Frau auf der Bühne ermordet werden? Überlegungen wie diese führten dazu, die, wie oben, skizzierte dramaturgische Funktion des „Profilers“ einer Frauenstimme zu übertragen. Damit eröffnet sich
83 Alle Angaben in Klammern in diesem Kapitel beziehen sich auf das gedruckte Libretto, vgl. Weiß (2004). 84 Diese Figur wurde angelehnt an den österreichischen Kriminalpsychologen Thomas Müller, vgl. etwa Ders.: Bestie Mensch. Tarnung, Lüge, Strategie, Salzburg 2004. 85 Als nur ein Beispiel für die wissenschaftlich-kriminalistische Literatur sei genannt: Robert K. Ressler/Ann W. Burgess/John E. Douglas (Hgg.): Sexual Homicide. Patterns and Motives, New York 1992/95. 86 Paradigmatisch wird dieses Verhältnis nicht nur inszeniert, sondern auch reflektiert in Jonathan Demmes Film „Silence of the Lambs“ (USA 1991). Vgl. dazu etwa Andrea Nagele-König: Zum Schweigen der Lämmer. Philosophisch-ideengeschichtliche Analyse eines Thrillers, Klagenfurt 1993. 87 Als einziges Beispiel sei referiert auf Alan Moores Jack-the-Ripper-Version, weil er innerhalb seines wissenschaftlichen Appendix auch die Faszination selbst reflektiert: Alan Moore/Eddie Campbell: From Hell [1989-98], Bald Tölz 2001, Bd. 3, Anhang II, S. 22ff.
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die Möglichkeit, die Situation gleichsam umzudrehen, denn die Szenen von Hannah Seliger prägen eine eigene Binnendynamik aus: Sie merkt, dass sie durch ihre wissenschaftliche Arbeit auch selbst sittlich tangiert wird, getreu dem zum Klischee gewordenen Nietzsche-Motto aller populärwissenschaftlicher Bücher über Kriminalpsychologie, dass der zu einem Ungeheuer werden kann, der mit Ungeheuern kämpft, und der Abgrund, in den „du lange […] blickst, […] auch in dich hinein“88 blickt. Deshalb zeigt die letzte Szene (Szene 9, S. 45) auch die Lust an der Ausübung ihrer staatlich verliehenen polizeilichen Macht und ihren offenen Sadismus gegenüber Verdächtigen. Ihr letzter Auftritt inszeniert eine auf eine wahre Begebenheit zurückgehende spannungsvolle Situation, in der sie sich anlässlich eines Interview-Termins im Gefängnis gegenüber den indirekten Drohungen eines physisch überlegenen Serienmörders behauptet und in Folge dessen die klischeehaft naturalisierte Opferrolle überwindet. Kann also die Gestaltung der Profiler-Rolle als starke Frauenfigur mit Überlegungen der Gender Theorie abgeglichen werden, ist die Auswahl der konkreten Serienmörderfigur gleichsam ein Fall für die Queer Theorie. Den Ausschlag für den Fall Jeffrey Dahmer als Hauptreferenz gaben hauptsächlich drei Gesichtspunkte: Erstens der ästhetischen Grund, dass die hiermit implizierten Aspekte einer pseudo-religiösen Valenz der Morde und der Tabubrüche der Nekrophilie und des Kannibalismus den Textvorwurf inhaltlich anreicherten, der pragmatische Grund, dass der Fall auch wissenschaftlich gut dokumentiert ist, und schließlich der gleichsam soziologische Grund, dass Jeffrey Dahmer nicht nur in den USA eine moralisch mehr als ambivalente makabre Popularität genießt.89 Die Thematisierung eines homosexuellen Serienmörders ist durchaus heikel, darf doch die Sujetwahl nicht als gesellschaftspolitisches Anliegen verstanden werden. Es geht jedoch, das macht gerade die Serialität der Morde eindeutig, nicht um den Homo-Homizid, sondern um die unheilvolle Effektivität einer tragischen Psychopathologie, bei der sich Sexualität und Tötungslust untrennbar verbunden haben. Die Konstellation, dass ein Mann Männer umbringt, wird also nicht politisch gewendet, wohl aber ästhetisch genutzt. So kann etwa die Liebesszene (Szene 1, S. 33), in welcher ein one night stand von Niklas und David in eine kompulsive
88 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft [1886], zitiert nach: Ders.: Sämtliche Werke, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München 1967ff./1988, S. 98. 89 Die popkulturellen Referenzen in Filmen und Fernsehserien sind omnipräsent. Vgl. dazu Richard Tithecott: Of Men and Monsters. Jeffrey Dahmer and the Construction of the Serial Killer, Wisconsin 1997.
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Tötung ausartet, damit spielen, dass der deutlich aktivere David zunächst als möglicher Täter erscheint und sich beim szenischen Beginn der Gewalt für den Zuschauer ein twist ergibt. Eine bedeutende Rolle spielt weiterhin die Figur des Cherubino, der über einige Szenen hinweg eine Beziehung zu Niklas entwickelt; Niklas empfindet, so wird insinuiert, eine Scheu davor, Cherubino etwas anzutun; die Musik suggeriert hierbei, nicht zuletzt durch die Besetzung durch einen Countertenor90, dass Niklas an dem knabenhaften Cherubino eine eigentümliche Reinheit und Vitalität wahrnimmt, die ihn von seiner Tötungsroutine abhält.91 Abgesehen von diesen Aspekten spielt jedoch die Homosexualität Niklasǥ im Libretto keine Rolle, da ihr kein Erklärungswert für die Interpretation der Taten zukommt und auch keine ethische Valenz, da ein Mord nicht durch die Geschlechtsbeziehung zwischen Opfer und Täter relativiert wird. Zum ethischen Zielpunkt der Handlung wird vielmehr die Frage, wie das serielle Töten beendet werden kann. Die Oper Vielleicht war ich ein Azteke versucht, darauf eine Antwort auf ästhetischer Ebene zu geben. In der 4. Szene, dem „Religionsbild“, erscheint Niklas inmitten seiner menschlichen Trophäen der „Imperator“, ein chimärenhafter, von einem mit Frauen- und Männerstimmen besetzten Ensemble gesungener Götze, der Niklasǥ Allmachtsphantasien verkörpert: „Die Schönheit des Todes ist auch dein Tod […] Deine armseligen vierzehn Freunde … Du besitzt sie nicht. Sie sind nichts als ein Haufen toter Knochen und Schädel … Du hast sie verschwendet … Du konntest sie nicht halten … […] Du wirst allein sein, einsam. Keiner wird dich halten.“92.
Im Kontext dieser Arbeit, die als eine Skizze einer Philosophie des Mordes eine theoretische Perspektive mit einer ästhetisch-praktischen verbindet, erscheint der Imperator als eine Art universaler Stimme, welche das wahre Wesen des Mordes und damit die volle Schuldhaftigkeit jeder Tötung eines Menschen aufdeckt. Der ethische Motivationsgrund dieser Szene ist also, mit musikalischen und musikdramaturgischen Mitteln zu evozieren, dass ein Serienmörder nicht tötet. „Du sollst nicht morden“ wird, darin auch die philosophische Bewegung vorliegender Arbeit aufnehmend, zu: „Du wirst mich nicht töten“.
90 Das im Titelblatt des gedruckten Librettos genannte Rollenfach ist falsch (Weiß 2004, S. 31). 91 Szene 3, Partitur, T. 46, „Wegen mir … bist du zurückgekommen?“. Vgl. ebda., S. 37. 92 Ebda., S. 38.
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(Kinds-)Mörderinnen und Massenmedien
Antoine Joseph Wiertz: La Faim, la folie et le crime [Hunger, Wahnsinn, Verbrechen], 1857
„Erst die Kinder, nur zur Qual“: Der Fall Monika Weimar1 P ETER H IESS /C HRISTIAN L UNZER
Bei diesem spektakulären Doppelmord handelt es sich um einen der bekanntesten und meistdiskutierten Kriminalfälle der jüngeren deutschen Vergangenheit. Die anschließende Verhandlung war ein reiner Indizienprozess, bei dem die Schuld der Angeklagten nach Auffassung der Medien und der Öffentlichkeit keineswegs eindeutig war – trotz der Gerichtsurteile. Die öffentliche Diskussion bezog sich allerdings kaum auf die Ermittlungsergebnisse und Beweise (die ziemlich klar waren), sondern eher auf die Person der Verurteilten. Ende der achtziger Jahre ging es nicht mehr – wie im Fall Vera Brühne fünfundzwanzig Jahre zuvor – gegen die selbstbewusste und selbständige Frau, die es gewagt hatte, aus dem zeitgenössischen Rollenklischee auszubrechen, sondern um eine Verteidigung von bürgerlicher Ehe und Mutterschaft. Monika Weimar hatte versucht, der Enge der Provinz und den Zwängen einer unerträglichen Beziehung zu entkommen, und dabei etwas getan, was sich garantiert schon Tausende andere Frauen ausgemalt haben. Als sich allerdings erwies, dass die Angeklagte tatsächlich schuldig war, wollte niemand glauben, dass eine deutsche Frau zu einer solchen Gräueltat imstande sein konnte. Richter und Staatsanwälte sahen sich wieder einmal dem auf
Wir danken den Autoren ganz herzlich für die freundliche Genehmigung des Wiederabdrucks dieses Kapitels zu Monika Weimar aus Die zarte Hand des Todes. Wenn Frauen morden… (Wien 2002). Das Hörbuch (ungekürzte Lesung mit einer Titelmusik, gesprochen von Claus Vester) ist beim Verlag Steinbach Sprechende Bücher erhältlich. Drei weitere True-Crime-Bücher (Jahrhundertmorde, Mord-Express, Mordschwestern) der Autoren erscheinen im Herbst 2013 als E-Books im Verlag EVOLVER BOOKS (www.evolver-books.at).
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Anklägerseite gefürchteten Motto ,Was nicht sein kann, darf nicht seinǥ gegenüber. Dass es vielfach ,progressiveǥ Medien waren, die vehement gegen die Entscheidung des Gerichts polemisierten, sollte nachdenklich stimmen. Dass die Verteidiger die dadurch entstandene Stimmung für ihren Wiederaufnahmeantrag nutzten (der allerdings vergeblich bleiben sollte), ist ihnen dagegen nicht vorzuwerfen. Immerhin war es ihre Pflicht, alles Menschenmögliche für ihre Klientin zu tun. *** Die traurigen Fakten dieser Affäre werden vielen Zeitungslesern wahrscheinlich noch in Erinnerung sein: Am 4. August 1986, einem Montag, wollte der vierunddreißigjährige Reinhard Weimar seine beiden Töchter – die sieben Jahre alte Melanie und die fünf Jahre alte Karola – vom Spielplatz neben seinem Haus in Philippstal (bei Bad Hersfeld) zum Mittagessen abholen. Doch die beiden Mädchen waren nirgends zu sehen, nur ihre kleine rote Plastikschaufel lag auf dem ansonsten leeren Spielplatz neben der Sandkiste. Der Vater rief nach den Kindern, bekam aber keine Antwort. Auch als er die Straße hinauf- und hinunterlief, konnte er keine Spur der Kinder entdecken. Zu Hause waren die beiden in der Zwischenzeit ebenfalls nicht eingetroffen. Weimar und seine Frau Monika suchten gemeinsam noch einmal die Umgebung ab – ebenfalls ohne Erfolg. Auch Monikas Schwester Brigitte, die im selben Haus wohnte, wusste über den Verbleib der Kleinen nicht Bescheid. Sie war es dann, die gegen halb zwei Uhr nachmittags die Polizei verständigte, weil sie das Gefühl hatte, dass irgendetwas geschehen sein musste. Die Mädchen waren ansonsten nämlich so brav und folgsam, dass sie sich ohne ausdrückliche Erlaubnis nie entfernt hätten. Als die Kinder bis zum Einbruch der Dunkelheit nicht nach Hause gekommen waren, entschloss sich die Polizei zu einer Großfahndung. Bei Scheinwerferbeleuchtung wurde die gesamte Umgebung durchkämmt und das Kanalsystem durchsucht. Die Beamten befragten Passanten, Bewohner und Autofahrer. Sogar Hubschrauber wurden eingesetzt, da der Stadtteil, in dem die Familie wohnte, in der Nähe der Autobahn München-Kassel liegt. Die Suche blieb allerdings ergebnislos, obwohl die Suchtrupps am nächsten Tag durch Einheiten des Bundesgrenzschutzes und Soldaten aus der nahegelegenen US-Kaserne verstärkt wurden. Die Mädchen waren wie vom Erdboden verschluckt. Nach zwei Tagen und zwei Nächten ohne das geringste Resultat wurden die Nachforschungen abgebrochen.
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Drei Tage nach der Vermisstenmeldung, am 7. August 1986, entdeckte ein Busfahrer neben dem Parkplatz an der Landstraße zwischen Herfa und Wölfershausen in Nordhessen, fünfzehn Kilometer von Philippsthal entfernt, die Leiche eines Mädchens. Die Tote lag hinter der Straßenböschung, mitten in Brennnesseln und Kletterstauden, und der Busfahrer hatte sie auf den ersten Blick für eine Schaufensterpuppe gehalten. Das Kind trug eine rote Frotteehose und ein ordentlich gebügeltes, weißes T-Shirt; die langen roten Haare waren zu Zöpfen geflochten und mit Haarspangen zusammengehalten. Der Mann benachrichtigte die Polizei, die sofort ahnte, dass sich ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet hatten. Das tote Mädchen war Melanie, die ältere der beiden Schwestern. Auch die Jüngere wurde bald darauf gefunden – ihre Leiche lag vier Kilometer neben der Landstraße Heringen-Hönebach an einer Waldeinfahrt, im sogenannten Bengendorfer Grund. Die Ermittler konnten bald feststellen, dass die Mädchen nicht an den Fundorten getötet worden waren, sondern mit einem Fahrzeug dorthin gebracht worden sein mussten. Äußerlich waren an den Mädchen keinerlei Anzeichen eines gewaltsamen Todes zu erkennen, vor allem, weil die Verwesung in diesen heißen Sommertagen bereits eingesetzt hatte. Erst die Obduktion verschaffte der Polizei Klarheit über die Tötungsarten: Melanie war laut Bericht der Gerichtsmediziner „behutsam erstickt“, Karola „sanft erwürgt“ worden. Die Kriminalpolizei Bad Hersfeld richtete umgehend eine Sonderkommission ein, da Morde an Kindern in der Bevölkerung naturgemäß besondere Aufmerksamkeit und Angst erregen. Der Obduktionsbericht des Gerichtsmediziners brachte die Beamten von ihrer ursprünglichen Vermutung ab, es hier mit einem Sexualverbrechen zu tun zu haben. Beide Kinder waren unberührt. Auch eine Entführung aus finanziellen Motiven war undenkbar, da die Familie alles andere als wohlhabend war. Sogenannte ,sanfteǥ Tötungsarten deuten immer darauf hin, dass zwischen Täter und Opfer eine Beziehung bestanden hat. Der oder die Mörder hatten den Geschwistern „nicht weh tun“ wollen, obwohl sie ihnen aus irgendeinem Grund das Leben nahmen. Die Sonderkommission musste ihre Suche also auf Personen beschränken, die mit den Kindern näher bekannt gewesen waren. Aus diesem Grund wurden – so unangenehm das auch sein mochte – die trauernden Eltern in den recht kleinen Kreis der Verdächtigen aufgenommen. *** Wie sich bald herausstellte, war die Ehe von Reinhard und Monika Weimar alles andere als ideal, was auch jeder in der Nachbarschaft wusste. Der 1952 geborene
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Gatte, ein großer, schwerer Mann mit rotbraunem Haar und Schnurrbart, hatte Schlosser gelernt und arbeitete unter Tage im Schichtdienst im Kalibergwerk, dem wichtigsten Betrieb von Philippsberg. Seine um sieben Jahre jüngere Frau hatte nach der Handelsschule eine Ausbildung als Krankenpflegerin gemacht. Die beiden hatten einander 1977 kennengelernt und ein Jahr später geheiratet. Nach einem weiteren Jahr brachte Monika ihre erste Tochter zur Welt, die den damals gerade modischen Namen Melanie erhielt; zwei Jahre danach wurde Karola geboren. Nach Außen hin lebte die Familie ein „normales“, unauffälliges Leben in einer kleinen Stadt an der Zonengrenze, wie viele andere auch. Monika Weimar dürfte diese eintönige, begrenzte Existenz jedoch bald zu eng geworden sein. Ihr schwerfälliger und phantasieloser Ehemann konnte nichts gegen die zunehmende Unzufriedenheit seiner Angetrauten tun – im Gegenteil, er konzentrierte sich immer mehr auf seine Arbeit und ging am Abend typisch männlichen Freizeitbeschäftigungen nach: Biertrinken und Kegeln mit Kollegen und Freunden. Die Frau hatte selbstverständlich zu Hause zu bleiben, wo sie sich um Küche und Kinder kümmern sollte. Als Monika ihren Mann bat, nicht so oft auszugehen, sondern die Abende bei ihr zu verbringen, soll er sie geschlagen haben. Nachdem die Ehefrau eine Teilzeitstelle im nahegelegenen Krankenhaus angenommen hatte, wo sie achtmal pro Monat im Nachtdienst tätig war, schien sich ein kleiner Ausweg aus der häuslichen Misere gefunden zu haben. Das passte Reinhard natürlich gar nicht, also kam es wieder zu Streitereien und Schlägen. Monika sprach von Scheidung, doch ihr Mann wollte sie nicht freigeben. Monika verweigerte sich ihm im Bett und wurde dafür neuerlich verprügelt. Mit Hilfe ihrer Schwester, die sich gerade von einem amerikanischen Soldaten hatte scheiden lassen, plante sie eine Gegeninitiative. Ab Februar wurden die beiden Frauen Stammgäste der Diskothek „Musikparadies“ in Bad Hersfeld, die vor allem von GIs besucht wurde. Dort lernte Monika bald Kevin Pratt, einen vier Jahre jüngeren Berufssoldaten der US-Streitkräfte, kennen. Der Amerikaner sah äußerlich zwar ihrem Mann ähnlich, war aber von völlig anderer Wesensart. Nach drei Wochen der Bekanntschaft kam es zum ersten intimen Beisammensein in dem weißen VW Passat der Weimars, der später noch eine entscheidende Rolle in dem Fall spielen sollte. An diesem Abend soll Monika – wie vor Gericht zur Sprache kam – ihren ersten Orgasmus erlebt haben, was sie naturgemäß noch enger an Pratt band. Es war ihr Liebhaber, der zuerst von Heirat sprach und meinte, Monika solle sich sofort scheiden lassen, um seine Frau zu werden. Dabei verschwieg er aber, dass er selbst in Amerika verheiratet war und drei Kinder hatte. Die Scheidung von seiner Gattin war zwar bereits eingereicht, aber noch nicht ausgesprochen.
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Reinhard Weimar musste sehr bald vom Verhältnis seiner Frau erfahren haben, unternahm aber nichts. Anscheinend waren ihm die häusliche Versorgung, seine Ruhe, die Kinder und ein geregeltes Leben lieber als eine harmonische Ehe; selbst dann, als Monikas Verhalten längst Ortsgespräch geworden war. Doch auch Monika konnte sich nicht zur Scheidung entschließen, da sie fürchtete, dadurch ihre Kinder zu verlieren. Sie hielt Kevin immer wieder hin, bis dieser ihr ein Ultimatum stellte: Vor seiner Rückversetzung in die USA wollte er eine klare Entscheidung. Am 2. August kam es zwischen dem Liebespaar zu einem handfesten Krach. Monika kam zu spät in die Disco und sah, dass Kevin dort mit einem anderen Mädchen flirtete. Um ihn zu provozieren, tanzte Monika mit anderen amerikanischen Soldaten. Kevin verließ daraufhin wütend das Lokal und warf seiner Freundin die Goldkette, die sie ihm geschenkt hatte, vor die Füße. Die beiden versöhnten sich zwar wieder, doch Kevin drohte ihr, sie wegen des Mädchens aus der Diskothek zu verlassen, falls sie nicht binnen einer Woche die Scheidung eingereicht haben sollte. Das Begräbnis der beiden Mädchen am 10. August zeigte ebenfalls, wie sehr die Ehe der Weimars bereits zerrüttet war. Die Eltern der ermordeten Kinder standen in deutlichem Abstand zueinander am Grab; Monika ließ sich nicht von ihrem Mann, sondern von ihrem Schwager stützen. Noch am selben Abend zog Reinhard aus dem gemeinsamen Haushalt aus und übersiedelte zu seinen Eltern. Am 12. und 15. August erhielt Monika dann zwei merkwürdige Briefe. Beide waren anonym aufgegeben und in offensichtlich verstellter Handschrift verfasst worden. Im ersten der Schreiben hieß es: „Das ist die Strafe! Es tut mir leid um die Kinder, aber es musste sein.“ Im anderen Brief stand: „Erst die Kinder, nur zur Qual. Jetzt bist du dran! Von wem der Auftrag kam, kannst du dir denken!“ Handelte es sich dabei etwa um Briefe des Täters? Viel Sinn ergaben sie allerdings nicht – es sei denn, man bezog sie auf Reinhard Weimar. Sollte mit den beiden Schreiben der Verdacht auf ihn gelenkt werden? War er etwa der Auftraggeber der Morde? Schon die von Monika verfasste Todesanzeige hatte eine höchst merkwürdige Zeile enthalten: „Vater, wenn die Mutter fragt, wo sind unsere Kinder, dann sage ihr, dass sie im Himmel sind.“ *** Die Suche nach dem Mörder und einem möglichen Motiv außerhalb der Familie war längst an einem toten Punkt angelangt, als ein Zeuge die Ermittlungen endgültig in Richtung der Eltern lenkte. Er gab an, am 4. August (also dem Tag, an
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dem das Verbrechen verübt worden war) einen weißen Passat auf dem Parkplatz stehen gesehen zu haben, neben dem später die Leiche Melanies gefunden wurde. Aussagen dieser Art sind generell wenig zuverlässig; zudem musste es ja einige weiße Passats in der Gegend geben. Aber der Zeuge war sich seiner Sache absolut sicher. Der Wagen der Weimars wurde daraufhin beschlagnahmt und der Spurensicherung übergeben. Die Beamten fanden auf der Fußmatte neben dem Fahrersitz Textilfasern, die eindeutig von der roten Frotteehose Melanies und der gelben Strickhose Karolas stammten. Unter dem Fahrersitz konnten Pflanzenteile – Kletten – sichergestellt werden, wie sie an den Fundorten der beiden Leichen wuchsen. (Die Polizei hatte vorsorglich ein botanisches Register der beiden Plätze angelegt.) Kletten hatten sich auch in den Haaren der Leichen gefunden, neben Fasern, die von den Sitzbezügen des Passats stammten. Die Schlussfolgerung war klar: Die Kinder mussten, beide schon tot, mit dem familieneigenen Auto zu den Auffindungsorten ihrer Leichen gefahren worden sein. Damit kamen nur mehr ihre Eltern bzw. einer der beiden als Täter in Frage. Wer war am fraglichen Tag mit dem Passat gefahren? Reinhard und Monika Weimar wurden noch einmal zum Verhör ins Polizeipräsidium Bad Hersfeld geladen, um ihre Aktivitäten am 4. August genau zu rekonstruieren. Reinhard sagte aus, dass er am Sonntagabend noch mit den Kindern ferngesehen habe; danach seien alle drei gegen zweiundzwanzig Uhr schlafen gegangen. Als er am Montag um halb elf Uhr vormittags aufstand, seien die Kinder und seine Frau schon weg gewesen. Monika sei dann kurz vor zwölf von irgendwelchen Besorgungen heimgekommen und habe ein Mittagessen für vier Personen zubereitet. Erst als sie fertig gewesen sei, habe er sich auf den Weg zum Spielplatz gemacht, wo sie die Mädchen vorher angeblich abgesetzt hatte. Das Auto habe er nicht benützt und es auch danach nicht gereinigt. Seine Frau aber, so erinnerte er sich genau, habe es am Tag darauf, also am Dienstag, außen gewaschen und auch innen gesäubert. Monika berichtete den Beamten der Kriminalpolizei, dass sie nach der Auseinandersetzung und der darauffolgenden Versöhnung mit ihrem Liebhaber am Sonntag mit ihren Töchtern baden gewesen sei. Dann habe sie den beiden noch etwas zu essen gemacht und sie zum Schlafengehen gewaschen und angezogen. Die Mädchen seien mit ihrem Vater vorm Fernseher gesessen, als sie am Sonntag gegen neun Uhr abends das Haus verlassen habe, um sich wieder mit Kevin zu treffen. Sie sei erst am frühen Morgen zurückgekehrt, etwa um zwanzig Minuten nach drei, und da hätten ihr Mann und die Kinder bereits geschlafen.
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Am Montagvormittag habe sie den Kindern das Frühstück zubereitet und sie spielen geschickt. Anschließend sei sie mit dem Passat zur Post in die Stadt gefahren, um Geld für ihre Mutter aufzugeben. Kurz nach elf sei sie dann wieder zu Hause gewesen. Monika Weimar bestritt jedoch vehement, das Auto gewaschen zu haben – das habe vielmehr ihr Mann getan. Ahnte die Frau, dass die Kriminalisten deshalb so auf dieser Frage bestanden, da nur der Täter daran interessiert gewesen sein konnte, mögliche Spuren im Auto zu beseitigen? Bei den anschließenden Verhören blieb Reinhard in seiner schwerfälligen Art exakt bei seiner ersten Aussage, wohingegen Monika sich in Widersprüche verwickelte. Für die Staatsanwaltschaft waren die Indizien gegen Frau Weimar eindeutig und ihr Motiv stärker. Als der Schriftsachverständige noch dazu nachwies, dass die beiden anonymen Schreiben eindeutig von ihr selbst stammten, wurde sie am 29. August mit der Anschuldigung, aus niedrigen Motiven ihre Kinder getötet zu haben, in Untersuchungshaft genommen. Am Morgen des nächsten Tages verlangte sie dringend, einen der Ermittler zu sprechen. Was sie diesem aber erzählte, war ganz und gar nicht das erwartete Geständnis. Ihre grauenerregende Aussage gab dem Fall eine völlig neue Wendung. Die Frage, ob die Tatverdächtige dies beabsichtigt hatte – worauf die seltsame Todesanzeige und die zwei anonymen Briefe eigentlich hindeuteten –, spaltete nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die untersuchenden Kriminalbeamten und das Gericht in zwei völlig entgegen gesetzte und einander heftig bekämpfende Lager. „Ich kam in der Nacht zum 4. August zwischen drei und halb vier nach Hause“ erzählte Monika Weimar dem Beamten. „Mein Mann saß in gebeugter Haltung am Fußende von Karolas Bett. Er war total verstört und weinte. Als ich ihn so sah, habe ich sofort vermutet: Mit den Kindern muss etwas passiert sein. Zuerst ging ich zu Melanie. Ich packte sie am Arm, schüttelte sie. Sie lag da und bewegte sich nicht … Dann ging ich rüber zum Bett von Karola. Auch sie habe ich am Arm gepackt und geschüttelt. Sie lag genauso regungslos. Mir wurde klar, dass die Kinder nicht mehr lebten …“ Dann sei sie wieder ins Schlafzimmer gelaufen und habe eine Flasche Bier, die ihr Mann offenbar hatte stehenlassen, umgeworfen. Sie sei außer sich gewesen und habe nur mehr auf dem Bett sitzen und weinen gekonnt. Den Kindern sei nicht mehr zu helfen gewesen. Draußen habe sie dann ein Auto wegfahren gehört, aber mit Sicherheit nicht ihres. Nach kurzer Zeit sei der Wagen wieder zurückgekommen, und ihr Mann habe sich wieder im Schlafzimmer aufgehalten. „Jetzt kriegt keiner von uns beiden die Kinder“, habe er gesagt. Und auf ihre
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Frage „Wohin hast du sie gebracht?“, habe er nur geantwortet: „Auf den Parkplatz Richtung Wölfershausen.“ Danach sei er ins Bett gegangen. Monika habe noch die Toilette aufgesucht und sich dann neben ihren Mann ins Bett gelegt, wo sie wegen seines lauten Schnarchens aber nicht einschlafen habe können. Gegen zehn oder halb elf sei sie alleine aufgestanden und zur Post gefahren, um Geld für ihre Mutter aufzugeben. Dann habe sie den Parkplatz aufgesucht, an dem ihr Mann in der Nacht angeblich die beiden toten Kinder abgelegt hatte. „Melanie habe ich gesehen“, sagte sie. Sie habe ihre Tochter, die mit dem Gesicht nach oben im Gebüsch lag, sofort an ihrer Haarfarbe erkannt. „Karla habe ich aber nicht gefunden.“ Danach sei sie wieder nach Hause gefahren und habe Mittagessen gekocht. Und das ganze Theater mit dem Spielplatz und ihrer Schwester, die die Polizei verständigen musste, habe sie nur veranstaltet, um Reinhard zu schützen. Die anonymen Briefe habe sie später geschrieben, um verhört zu werden und dabei endlich die Wahrheit sagen zu können. *** Monikas neue Version der Ereignisse deckte tatsächlich alle bisher gefundenen Indizien ab, von den Textilfasern und Kletten im Wagen bis hin zu den Fasern des Autoteppichs in den Haaren der kleinen Leichen. Sie erklärte zudem, warum der VW Passat der Familie am Fundort der Toten gesehen worden war, und gab eine – wenngleich etwas holprige – Erklärung für die beiden Briefe. Reinhard Weimar, der am Abend des 3. August mit den Kindern allein gewesen war, hätte genug Zeit für die Tat gehabt. Als Vater hätte er auch für die „sanfte Tötungsart“ verantwortlich sein können. Und vor allem hatte er ein Motiv: Monikas Untreue und die Möglichkeit, durch eine Scheidung nicht nur die Frau, sondern auch die Kinder zu verlieren. Waren dem ansonsten so phlegmatischen und passiven Mann an diesem schicksalhaften Abend doch die Sicherungen durchgebrannt? Ein wichtiges Detail, das ihre Geschichte unglaubwürdig machte, hatte Monika allerdings vergessen: Die Mädchen waren in ihren Tageskleidern und mit sorgfältig frisierten Haaren gefunden worden. Wer hatte sie wann umgezogen? Leider war diese Einzelheit auch den Untersuchungsbehörden anfangs nicht aufgefallen. Staatsanwalt Sauter jedenfalls glaubte die Geschichte, enthaftete Frau Weimar und ließ ihren Mann festnehmen. Aber war Monikas Story wirklich plausibel? Wieso hatte sie so ruhig reagiert, als sie die toten Kinder fand und ihren Mann als Mörder erkennen musste? Warum war sie nicht sofort auf ihn losgegangen? „Ich fühlte mich mitschuldig
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an der Geschichte, wegen meines Verhältnisses mit Kevin“, hatte sie auf diese Frage entgegnet. Doch warum hatte sie, eine ausgebildete Krankenschwester, nicht wenigstens versucht, den Kindern zu helfen, oder die Rettung gerufen? Auch darauf wusste sie eine Antwort: „Mir war eben klar, dass die Kinder tot waren und ihnen nicht mehr zu helfen war.“ Wieso hatte sie sich aber dann neben den Mörder ihrer Kinder ins Bett gelegt und die ganze Nacht, bis in den späten Morgen, darin ausgehalten? Aus welchem Grund hatte sie Reinhard mit einer so ausgeklügelten Inszenierung schützen wollen? Und wie war es möglich, dass sie ihre ältere Tochter tot und allein im Unkraut hatte liegen lassen, wo das Kind Wind, Wetter und Tieren ausgesetzt war? Diese Fragen blieben unbeantwortet. Reinhard Weimar wurde sofort verhört und mit den Erklärungen seiner Frau konfrontiert. Er blieb jedoch stur bei seiner Aussage, nach dem Ende der Fernsehsendung die Kinder ins Bett gebracht und sich selbst schlafen gelegt zu haben. Als er gegen halb elf am nächsten Morgen erwacht sei, wären die Kinder weg gewesen, von seiner Frau angeblich auf den Spielplatz gebracht. Doch was war mit den Erinnerungslücken und Bewusstseinstrübungen, die er im Vorjahr angeblich gehabt hatte? Konnte es nicht auch diesmal so gewesen sein, dass er nicht mehr gewusst hatte, was er tat? Herr Weimar bestritt derartige Anfälle zunächst, räumte dann aber ein: „Wenn ich überhaupt etwas mit der Sache zu tun haben sollte, dann muss es wohl so gewesen sein.“ Für die Polizei war dies Geständnis genug, aber nicht für den Untersuchungsrichter Hermann Tuchow, der Reinhard enthaften ließ. Damit standen die Behörden vor einer wohl einmaligen Situation in der deutschen Justizgeschichte. Staatsanwalt Sauter hielt nach wie vor Reinhard für den Mörder. Für die Kriminalpolizei in Bad Hersfeld kam hingegen nur Monika als Täterin in Frage, da sie ein in der Kriminalgeschichte bekanntes Motiv hatte. Schon die Gräfin von Orlamünde hatte ja ihre zwei Kinder umgebracht, um den Burggrafen von Nürnberg zum Mann zu bekommen – eine Tat, die sie seither als spukende weiße Frau büßen muss. Allerdings waren Monika Weimars Töchter nie als Hindernis angesprochen worden, auch von ihrem Liebhaber nicht. Die Polizei konnte noch ein weiteres Indiz gegen Monika Weimar beibringen. Als die Frau am 4. August von ihrer Fahrt zur Sparkasse zurückgekommen war, hatte die Windschutzscheibe ihres Autos ein Loch. „Ein überholender LKW hat mit einem Stein die Scheibe kaputtgemacht“, sagte sie ihrem Mann und auch der Polizei. Spezialisten, die den Wagen untersuchten, stellten jedoch fest, dass das Loch durch einen Stoß von innen verursacht worden sein musste. Daraufhin lieferte die Verdächtige eine neue Erklärung: Beim Geschlechtsverkehr mit Kevin, in der Nacht zum 4. August, habe sie in Ekstase mit dem Fuß die Scheibe
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durchstoßen und sich geschämt, das zuzugeben. Als sie von der Polizei ersucht wurde, diese Stellung vorzuführen, gelang ihr das nicht. War es möglich, dass eines der Kinder im Todeskampf die Windschutzscheibe durchschlagen hatte? *** Im Frühherbst des Jahres 1986 waren beide Hauptverdächtige nach wie vor auf freiem Fuß. Bereitwillig gaben sie Zeitungen, Fernseh- und Radiosendern, die sich mit dem Fall Weimar bereits über die Sauregurkenzeit gerettet hatten, ausführliche Interviews. Monika war dabei eindeutig im Vorteil; sie wirkte eloquent, war nicht kamerascheu und verstand es bestens, sich als liebende Mutter in Szene zu setzen. Reinhard Weimar dagegen sah im TV schwerfällig und dumpf aus, wusste den Journalistenfragen nur selten mit zusammenhängenden Antworten zu entgegnen und konnte sich schwer artikulieren. Dass die behördlichen Untersuchungen durch das Medienspektakel kaum erleichtert wurden, versteht sich von selbst. Staatsanwalt Sauter, der sich nach Ansicht seiner Vorgesetzten zu sehr in die Theorie verbissen hatte, dass doch Reinhard der Mörder sei, wurde abgelöst. Sein Nachfolger sah die Fakten anders. Am 27. Oktober 1986 ließ er Monika erneut unter Mordverdacht verhaften. Die Anklage beschuldigte die Frau, ihre beiden Kinder Karola und Melanie heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen umgebracht zu haben, weil sie für ihren Geliebten, dem sie sexuell hörig gewesen sei, frei sein wollte. Der Geschworenenprozess am Landgericht Fulda begann am 23. März 1987. Staatsanwalt Wachter war der Ankläger; Monika Weimar wurde von den jungen Rechtsanwälten Wolf-Rüdiger Schultze und Ulrich Daehn verteidigt; Klaus Bormuth fungierte als vorsitzender Richter. Reinhard Weimar, inzwischen geschieden, nahm mit seinem Anwalt als Nebenkläger an der Verhandlung teil. Während der Verhandlung konnten keine neuen Indizien vorgelegt werden. Auch die Zeugenaussage Reinhards, der von seiner Exfrau im Gerichtssaal wieder beschuldigt wurde, ihr „das Liebste, das sie hatte“, genommen zu haben, brachte keine neuen Aspekte. Er leugnete entschieden, jemals Blackouts gehabt zu haben, und die Ärzte bestätigten, dass solche Gedächtnislücken in seinem Fall auch medizinisch unwahrscheinlich seien. Als Prozess entscheidend galt die Antwort auf die Frage, wann genau die Kinder ermordet worden waren. Hatte die Tat in der Nacht stattgefunden, dann musste – oder konnte – Reinhard der Täter sein; waren die Morde aber am Vormittag begangen worden, kam nur Monika Weimar als Schuldige in Frage.
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Um drei Uhr in der Nacht von Sonntag auf Montag hatten beide Kinder noch gelebt. Dieser Zeitpunkt ergab sich durch die Aussage der Tante Brigitte, die später die Vermisstenmeldung abgegeben hatte. Sie wohnte Tür an Tür mit den Weimars, wusste von Monikas Eskapaden und hatte Karola um etwa drei Uhr weinen gehört. Also war sie nach drüben gegangen und hatte dem Kind die nasse Unterwäsche gewechselt. Um drei Uhr zwanzig aber war Monika, ihrer eigenen Aussage nach, von ihrem Treffen mit Kevin zurückgekommen. Für den Mord an den Kindern wären dem Vater daher nur knappe zwanzig Minuten zur Verfügung gestanden. Eine derart kurze Zeit machte erstens einen Affektmord, eine plötzlich verübte Aggressionstat des ansonsten so ruhigen Mannes, unwahrscheinlich. Nach dem Mord hätte er dann – die toten Kinder waren ja in ihrer Tageskleidung gefunden worden – beide noch umziehen und frisieren müssen. Wie Rekonstruktionen ergaben, war dies alles innerhalb eines solchen Zeitraums kaum zu bewerkstelligen. Außerdem hätte Reinhard sicher nicht gewusst, wie er die Kinder anziehen sollte und wie Melanies lange Haare zu Zöpfen geflochten werden mussten. Er hatte das noch nie getan, weil solche Aktivitäten stets Sache der Mutter gewesen waren. Entscheidend für den weiteren Verlauf der Verhandlung war jedoch, dass der Staatsanwalt Zeugen gefunden hatte, die beide Kinder noch am Vormittag lebend gesehen haben wollten. Schon am 8. August, also nur wenige Tage nach der Tat, hatte die Großmutter der Kinder bei der Polizei angegeben, ihre Enkelinnen am Vormittag des Mordtages gesehen und mit ihnen gesprochen zu haben. Sie habe Monika Briefmarken gebracht, da sie ja auf die Postbank fahren wollte, und dabei die beiden Mädchen begrüßt, als sie gerade ins Auto ihrer Mutter eingestiegen seien. Diese Aussage hatte sie noch zweimal wiederholt, zog vor Gericht allerdings ihre Angaben zurück und behauptete, das alles sei wohl einen Tag früher passiert. An einem Sonntag? Offensichtlich wollte die alte Frau, die erst jetzt die Bedeutung ihrer Aussage erkannt hatte, ihre Tochter schützen. Doch drei weitere Zeugen, Nachbarn der Weimars, blieben bei ihren Angaben. Sie hatten die Kinder noch um elf Uhr auf dem Spielplatz gesehen, Karola mit der roten Schaufel in der Sandkiste und Melanie auf der Schaukel. Auch die Angaben der Gerichtsmediziner bestätigten, dass die Mädchen am Vormittag noch gelebt haben mussten. Im Magen Karolas, der „reichlich“ gefüllt war, fanden sich Milch und halbverdaute Reste von weizenhaltigen Backwaren, vermutlich von Brötchen. Monika hatte in ihrer ersten Aussage bestätigt, ihren Kindern noch ein Frühstück vorgesetzt zu haben. Wenn sich Publikum und Presse von der Zeugenaussage Kevin Pratts den Höhepunkt des Prozesses erwartet hatten, wurden sie enttäuscht. Er war eigens
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aus Amerika eingeflogen worden, hatte aber nichts Wesentliches zur Sache beizutragen. Die Kinder seien nie zwischen ihnen gestanden, sagte er, und er glaube eigentlich nicht an die Schuld der Frau. Die Frage, ob sie ihm geschlechtlich hörig gewesen sein könnte, konnte Kevin Pratt nicht beantworten, da er den Begriff nicht verstand. Die psychiatrischen Sachverständigen lehnten eine eventuelle Hörigkeit als Mordmotiv ebenfalls ab, da so etwas in unserer sexuell aufgeklärten Zeit nicht mehr möglich sei. Ansonsten wollten sie sich aber, wie üblich, nicht allzu genau festlegen. Für sie stand fest, dass es sich um eine typische Beziehungstat handle, aber welchem der beiden Eheleute sie eher zuzutrauen wäre, darüber wolle und könne man kein Urteil wagen. Im Schlussplädoyer forderte der Staatsanwalt einen Schuldspruch und lebenslänglich, die Verteidiger plädierten auf Freispruch. Monika Weimar bezeichnete sich in ihrem Schlusswort entschieden als unschuldig und versuchte erneut, ihren Exmann zu belasten. Am 8. Januar, nach neun Monaten Verhandlungsdauer, verkündete Vorsitzender Bormuth das Urteil der Geschworenen. Monika Weimar wurde in beiden Fällen des heimtückischen Mordes schuldig gesprochen und zu lebenslanger Haft sowie zur Erstattung der Prozesskosten verurteilt. Die anwesenden Zuhörer bejubelten den Urteilsspruch „Lebenslang“ mit stehendem Applaus und Bravorufen. Als man die „Amihure“ (wie sie laut Zeitungsberichten von der aufgebrachten Bevölkerung gern genannt wurde) nach dem Prozess aus dem Hinterausgang des Gerichts brachte, begann die schaulustige Menge zu stoßen und zu drängen, als wären die Zeiten der Lynchjustiz wieder gekommen. „Die sollte man gleich erschießen!“ riefen empörte alte Damen, oder: „Da kommt die Sau!“ *** Bei der Presse und anderen Prozessbeobachtern löste das Urteil einige Überraschung aus, da sie einen Freispruch erwartet hatten. Immerhin war bekannt, dass die Hauptbelastungszeugen – die drei Nachbarn, die die Kinder auf dem Spielplatz gesehen hatten – seit Jahren mit den Weimars verfeindet waren. Der Richter sagte auch nach dem Prozess noch zweifelnd, Reinhard Weimar habe sicher „das bessere Motiv“ gehabt, während seine Frau die Kinder allem Anschein nach geliebt und sich möglicherweise „in großer Not“ befunden habe. „Wie dem auch sei“, fügte er dann eilig hinzu, „sie hat ihre Kinder getötet“. Die Rechtsanwälte Daehn und Schultze kündigten unmittelbar nach der Verhandlung an, Revision beim Bundesgerichtshof einlegen zu wollen, weil das Urteil „gegen alle Denkgebote“ verstoßen habe. „Wenn jetzt die Verteidigung die Unschuld der Mandanten beweisen muss, dann sehe ich Gefahr für unser
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Land“, meinte Ulrich Daehn. Der Revisionsantrag wurde jedoch am 17. Februar 1989 vom Zweiten Strafsenat des Bundesgerichtshofes verworfen. Im November 1992 beantragte die im Gefängnis Frankfurt-Preungesheim inhaftierte Monika Böttcher (Frau Weimar hatte nach der Scheidung wieder ihren Mädchennamen angenommen) eine Wiederaufnahme des Verfahrens aufgrund eines neuen Fasergutachtens; ihr Antrag wurde abgelehnt. Eineinhalb Jahre später, im Mai 1994, ließ wiederum das Bundeskriminalamt ein Fasergutachten erstellen, demnach die Fasern auch durch gewöhnliche Kontakte übertragen worden sein könnten. Dazu kam, dass sowohl eine Bekannte Reinhard Weimars als auch ein Hobbydetektiv aussagten, der Vater habe ihnen privat den Mord an seinen Kindern gestanden. Doch auch das reichte für die Schwurgerichtskammer des Landgerichts Gießen nicht aus, das Verfahren wiederaufzunehmen. Erst am 4. Dezember 1995 ereignete sich eine sensationelle Wendung im Fall Weimar: Das Oberlandesgericht Frankfurt hob das Urteil wegen einer möglichen neuen Beweislage auf; die Beschuldigte kam nach neunjähriger Haft wieder frei und wartete auf ihren neuen Prozess. Dieser begann im Juni 1996 im Landgericht Gießen. Monika Böttcher schwieg beharrlich zu dem Vorwurf, ihre Töchter getötet zu haben; Reinhard Weimar hielt sich in der Psychiatrie auf und war verhandlungsunfähig. Nach Anhörung aller Gutachter und neuen Entlastungszeugen wurde die Frau am 24. April 1997, nach 55 Verhandlungstagen, freigesprochen. Das alte Urteil war somit aufgehoben. Am 25. September desselben Jahres, am letzten Tag der gesetzlichen Frist, reichte die Staatsanwaltschaft ihrerseits eine neue Revision ein, weil es beim zweiten Prozess zu diversen Rechtsverletzungen gekommen sei. Im November 1998 ordnete der deutsche Bundesgerichtshof eine erneute Wiederaufnahme an. Die dritte Verhandlung begann am 2. September 1999 in Frankfurt und endete kurz vor Weihnachten wieder mit einem Schuldspruch. Monika Weimar wurde ein weiteres Mal zu lebenslanger Haft verurteilt. Im darauffolgenden Sommer wies der Bundesgerichtshof den Revisionsantrag der Verteidigung zurück; Monika Böttcher musste wieder ins Gefängnis. Erst am 18. August 2006, nach 15 Jahren Haft, wurde sie wieder in die Freiheit entlassen.
Kindsmord als Phänomen Ostdeutschlands? – Eine Analyse medialer Diskursverschiebungen K ATHLEEN H EFT
Im Februar 2008 machte Wolfgang Böhmer (CDU), zu dem Zeitpunkt Ministerpräsident von Sachsen Anhalt und früherer Kinderarzt, mit einer Aussage über ostdeutsche Kindsmörderinnen1 Schlagzeilen. Auf eine angebliche Häufung2 von Kindsmorden in den neuen Bundesländern angesprochen, sagte er: „Ich erkläre sie [die Häufung von Kindstötungen, k. h.] vor allem mit einer leichtfertigeren Einstellung zu werdendem Leben in den neuen Ländern. In der DDR wurde 1972 der Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Woche freigegeben. Die Frauen entschieden ganz allein. [...] Eine solche Einstellung zum Leben wirkt bis heute nach. Es kommt mir so vor, als ob Kindstötungen – die es allerdings immer schon gab – ein Mittel der Familienplanung seien.“
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Ich habe mich bewusst dafür entschieden, die nicht unproblematischen Begriffe Kindsmord und Kindsmörderin zu verwenden. Siehe dazu den Abschnitt zu kulturwissenschaftlicher Diskursanalyse und methodologischen Fragen in diesem Artikel.
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Auf die komplexe Problematik der Fallzahlermittlung wird in diesem Text nicht ein-
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Ulrike Plewnia: „Wolfgang Böhmer: ,Ein Mittel der Familienplanungǥ“, in: Focus
gegangen. Online 24.02.2008, http://www.focus.de/politik/deutschland/wolfgang-boehmer_aid_262743.html [letzter Zugriff am 20.01.2013].
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Böhmer suggeriert mit seiner Vermutung, dass ostdeutsche4 Frauen noch im Jahr 2008 „leichtfertig“ über das Leben ihrer ungeborenen Kinder entscheiden und Kindsmorde an Stelle von Familienplanung verüben, weil es in der DDR eine – im Vergleich zur aktuellen Gesetzgebung der Bundesrepublik – liberalere Abtreibungsgesetzgebung gab. Es ist offenbar, dass hier einiges durcheinander kommt, denn Frauen, die ihre Neugeborenen töten, haben sich eben gerade nicht für eine Abtreibung entscheiden können. Böhmer versucht mit seiner These etwas anderes: Die DDR, deren Gesetzgebung seit 1972 Abtreibungen bis zur 12. Schwangerschaftswoche legalisierte, soll für ein Phänomen verantwortlich gemacht werden, das sich offenbar nur schwer verhindern und rational kaum erklären lässt: Kindsmorde durch Mütter. Böhmer ist damit nicht der erste Politiker, der sich mit einer Erklärung, die Kindsmorde im Osten Deutschlands als Relikt und Spätschaden der DDR hinstellt und kulturalisiert, öffentlichkeitswirksam in den medialen Kindsmorddiskurs eingeschrieben hat. Bereits im Jahr 2005 äußerte sich der damalige, Innenminister von Brandenburg, Jörg Schönbohm (CDU), in einem Interview mit dem Berliner Tagesspiegel ähnlich: Vor dem Hintergrund eines kurz zuvor in Brandenburg bekannt gewordenen neunfachen Kindsmordes wurde er gefragt, „warum aus der Umgebung der Mutter in Brieskow-Finkenheerd und Frankfurt (Oder) angeblich niemand etwas von dem jahrelangen Drama mitbekommen hat“5. Schönbohm erklärte dies mit „unglaublicher Gleichgültigkeit“6 und „mangelnder Anteilnahme“7, welche er als spezifisches Problem Brandenburgs kennzeichnete. Dabei stellte er die neun aufgefundenen Babyleichen in eine Reihe mit anderen Kindsmorden aber auch einem rechtsextremistischen Gewaltverbrechen, die in den Jahren zuvor im Bundesland begangen wurden, und führte weiter aus: „ich glaube, dass die von der SED erzwungene Proletarisierung eine der wesentlichen Ursachen ist für Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft“8. In den Aussagen von Böhmer und Schönbohm werden Politiken der DDR, „erzwungene Proletarisierung“ einerseits und die Abtreibungsgesetzge-
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Die Begriffe ostdeutsch, westdeutsch etc. stehen in diesem Text für wirkmächtige diskursive Konstruktionen, die auf spezifische, gesellschaftlich gewachsene Diskurse, Bilder und Erfahrungen rekurrieren und diese re-/produzieren. Sie stehen nicht für sozial vorhandene Entitäten oder Identitäten.
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Frank Jansen: „,Da befällt einen die wilde Schwermutǥ – Innenminister Schönbohm sucht nach Erklärungen für Gleichgültigkeit und Verwahrlosung“, in: Der Tagesspiegel, 03.08.2005.
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bung andererseits als mögliche Ursachen für Kindsmorde im vereinten Deutschland der 2000er Jahre angeführt. Kindsmörderinnen im Osten und ihr Umfeld, so die Annahme, seien durch ihr Aufwachsen in der DDR geschädigt. ‚OstKindsmorde‘ werden diskursiv als abweichendes und vor allem kulturell verankertes Phänomen hergestellt. Die Normfolie ist hier der Westen Deutschlands, wobei aktuelle ‚West-Kindsmorde‘ nicht als kulturell oder historisch bedingt verhandelt werden.9 Kindsmorde im Osten Deutschland wurden jedoch nicht schon immer als Spätschaden der DDR wahrgenommen, stattdessen kann diese spezifische Diskursivierung als ein zeitlich und historisch begrenzter medialer Diskursstrang analysiert werden. Sein Auftauchen und seine Charakteristika sind Thema dieses Artikels. Während der mediale Kindsmorddiskurs unterschiedliche Ausprägungen und Konjunkturen hat, lege ich den Fokus auf seine Verquickung mit dem medialen Ostdeutsch-Westdeutsch-Diskurs/‚Ost-Diskurs‘10 seit den frühen 2000er Jahren. Die Betrachtung solcher Schnittstellen kann erhellend sein, weil sich an ihnen zeigen lässt, wie sich unterschiedliche Diskurse aufeinander beziehen, gegenseitig Anleihen machen, sich ineinander ein- und fortschreiben und sich dabei verändern. Mir erscheint es dabei zielführend, meine Analyse an einer konkreten Medienberichterstattung zu einem Kindsmordfall durchzuführen. Es bleibt jedoch kritisch anzumerken, dass der Fall-Begriff Kindsmorde in juridische, kriminologische und forensische Diskurse einschreibt, die weitere Begriffe und Konzepte wie Kriminalität, Prävention, Schuldfähigkeit, Urteil, Strafe, etc. als diskursive Perspektiven aufrufen und zentral setzen – Perspektiven, die für meine Analyse nicht erkenntnisleitend sind. Am Beispiel der Berichterstattung über den ‚Fall Daniela J.‘11 analysiere ich jene Momente, in denen die DDR oder der Osten des vereinten Deutschlands
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Vgl. Kathleen Heft: „Mutter und Mörderin?“ Eine Analyse dominanter massenmedialer Diskurse über Kindsmörderinnen (unveröffentlichte Diplomarbeit). Europa-Universität Viadrina, Fakultät für Kulturwissenschaften 2008.
10 Vgl. dazu u. a.: Kersten Sven Roth/Markus Wienen (Hgg.): Diskursmauern. Aktuelle Aspekte der sprachlichen Verhältnisse zwischen Ost und West, Bremen 2008; Thomas Ahbe/Rainer Gries/Wolfgang Schmale (Hgg.): Die Ostdeutschen in den Medien. Das Bild von den Anderen nach 1990, Leipzig 2009; Raj Kollmorgen/Frank Thomas Koch/Hans-Ludger Daniel (Hgg.): Diskurse der deutschen Einheit. Kritik und Alternativen, Wiesbaden 2011; Rebecca Pates/Maximilian Schochow (Hgg.): Der „Ossi“. Mikropolitische Studien über einen symbolischen Ausländer, Wiesbaden 2013. 11 Nachnamen und Ortsangaben, die in den Quellen nicht anonymisiert wurden, werden hier anonymisiert.
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thematisiert werden, und vollziehe an ihnen Verschiebungen und neue diskursive Verknüpfungen nach. Wie und seit wann wird im medialen Kindsmorddiskurs die DDR oder der Osten Deutschlands thematisiert? Welche Funktion(en) hat der Einsatz von Ostdeutsch-Westdeutsch-Diskursen bzw. was wird durch diesen Einsatz re-/produziert? In welcher Form schreiben sich Ostdeutsch-WestdeutschDiskurse in Kindsmorddiskurse ein und welche Veränderungen lassen sich nachvollziehen? Das Auftauchen und der Wandel von Verknüpfungen zwischen Kindsmorddiskursen und Ostdeutsch-Westdeutsch-Diskursen sowie die Möglichkeitsbedingungen von diskursiven Verschiebungen stehen dabei im Zentrum meiner Analyse. Im ersten Abschnitt des Artikels werde ich meine theoretischen und methodischen Grundlagen und damit verbunden mein Erkenntnisinteresse vorstellen und eine kurze Einführung in das Material geben. Der zweite Abschnitt gibt einen kurzen Überblick über unterschiedliche Diskursivierungen von Kindsmord in der deutschen Medienlandschaft der letzten Jahrzehnte und stellt verschiedene diskursive Muster vor. Den diskursanalytischen Kern des Artikels bildet der dann folgende Abschnitt, in dem ich am Beispiel der Medienberichterstattung zum ‚Fall Daniela J.‘ unterschiedliche diskursive Verknüpfungen von Kindsmord und Ostdeutschland herausarbeite. In einem letzten Abschnitt und Ausblick schlage ich noch einmal eine Brücke zu ‚Ost-Diskursen‘ in den bundesdeutschen Medien und schließe mit weiterführenden Überlegungen zur diskursiven Kulturalisierung von Kindsmorden als ostdeutsch und deren Auslagerung aus dem vereinten Deutschland.
K ULTURWISSENSCHAFTLICHE D ISKURSANALYSE ANDERE METHODOLOGISCHE F RAGEN
UND
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kindsmorden scheint in weiten Teilen den Disziplinen vorbehalten, die sich mit konkreten Täterinnen und Taten auseinandersetzen müssen: darunter die Kriminologie, die (forensische) Psychiatrie und die Rechtswissenschaft.12 Kulturwissenschaftliche bzw. diskursanalyti-
12 Siehe unter vielen anderen: Annegret Wiese: Mütter, die töten: psychoanalytische Erkenntnis und forensische Wahrheit, 2. Aufl., München 1996; Andreas Marneros: Schlaf gut, mein Schatz. Eltern, die ihre Kinder töten, Bern 2003; Theresia Höynck/Thomas Görgen: „Tötungsdelikte an Kindern“, in: soFid Kriminalsoziologie + Rechtssoziologie, 2/2006, S. 9-42; Frank Häßler/Renate Schepker/Detlef Schläfke (Hgg.): Kindstod und Kindstötung, Berlin 2008.
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sche Herangehensweisen sind hingegen spärlich vertreten.13 Kriminologische, juristische und psychiatrische Fragestellungen und Begrifflichkeiten prägen auch die mediale Berichterstattung, so dass die strafrechtliche Frage nach der Schuldund Straf(un)fähigkeit gestellt wird oder Möglichkeiten der Prävention von Kindsmorden eruiert werden. Mein Interesse geht jedoch in eine andere Richtung: Der einzelne Fall und dessen Möglichkeitsbedingungen stehen nicht im Mittelpunkt. Ich fokussiere stattdessen auf das öffentliche Reden und Wissen über Kindsmord sowie die Möglichkeitsbedingungen und Strukturen, die einem solchen Reden und Wissen über Kindsmord zugrunde liegen. Aus diesem Grund habe ich mich auch bewusst dafür entschieden, den Begriff Kindsmord – und nicht Kindstötung, Neonatizid etc. – zu verwenden. Unter diesem kulturgeschichtlich aufgeladenen Begriff fasse ich das Töten von Kindern durch die Mutter als komplexes und vielschichtiges diskursives Phänomen zusammen, welches ich aus einer dezidiert kulturwissenschaftlichen Perspektive betrachte. Im aktuellen Sprachgebrauch existieren ganz unterschiedliche Begriffe, die unterschiedliche strafrechtliche Tatbestände und TäterIn-Opfer-Beziehungen benennen können. Neben dem Fachbegriff Neonatizid, der die Praxis der Tötung eines Neugeborenen durch die Mutter während oder kurz nach der Geburt bezeichnet, wird häufig der Begriff Kindstötung genutzt. Dieser lehnt sich an den 1998 abgeschafften Straftatbestand der Kindstötung (§ 217 StGB a. F.) an und verweist unter anderem darauf, dass das Töten von Neugeborenen durch ledige Mütter juristisch als Totschlag und nicht als Mord gewertet wurde.14 Diese und andere juristische, kriminologische oder forensische Differenzierungen und Begrifflichkeiten gehören kontextgebundenen Diskursen an und stellen damit selbst einen Analysegegenstand von kulturwissenschaftlich angelegter Diskursanalyse dar.
13 Beispielsweise Ann Jones: Frauen, die töten, Frankfurt a.M. 1986; Uta Klein: „,Schmallippig und eiskaltǥ: Der Fall Monika Weimar“, in: Petra Henschel/Uta Klein (Hgg.): Hexenjagd. Weibliche Kriminalität in den Medien, Frankfurt a.M. 1998, S. 4056; Gerlinde Mauerer: Medeas Erbe. Kindsmord und Mutterideal, Wien 2002; rechtshistorisch z. B.: Kerstin Michalik: „Vom „Kindsmord“ zur Kindstötung: Hintergründe der Entwicklung des Sondertatbestandes der Kindstötung (§ 217) im 18. und 19. Jahrhundert“, in: Feministische Studien, 1/1994, S. 44-55. 14 Hania Siebenpfeiffer greift dezidiert auf den Begriff Kindstötung zurück, um die Neugeborenentötung vom juristischen Tatbestand des Mordes abzugrenzen (Hania Siebenpfeiffer: „Böse Lust“: Gewaltverbrechen in Diskursen der Weimarer Republik, Köln usw. 2005, S. 150). Zum Kindstötungsparagrafen siehe Michalik 1994.
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Unter Diskurs verstehe ich in Anlehnung an Michel Foucault und in den Gender Studies erfolgten feministischen Ausarbeitungen seiner Diskurstheorie überindividuelle historisch und räumlich verankerte Denk- und Wissenssysteme und Praxen, die wahre und falsche Aussagen regeln. Diskurse bringen damit nicht nur Wissen über ihren Gegenstand hervor, sondern stellen diesen Gegenstand als solchen überhaupt erst her.15 Für diesen Text bedeutet das, den medialen Kindsmorddiskurs16 als Praxis der Re-/Produktion von möglichen, wahren Aussagen über Kindsmord und Kindsmörderinnen aufzufassen, die bestimmte Aussagen über Kindsmörderinnen und ihre Tat ermöglicht und andere verwirft. Dadurch wird ein spezifisches zeitlich und räumlich gebundenes Wissen über das Wissensobjekt Kindsmord re/produziert. Kindsmord und Kindsmörderinnen werden durch den Diskurs als (Wissens-)Gegenstand der medialen Öffentlichkeit hervorgebracht und problematisiert. Für mich ist hier von Interesse, wie sich der mediale Kindsmorddiskurs verändert, wie verschiedene Diskursstränge innerhalb dieses Diskurses (zeitgleich) unterschiedliche Aussagen hervorbringen, wie der Kindsmorddiskurs mit anderen Diskursen zusammenspielt und wie dadurch neue Formationsregeln und Aussagen möglich werden. Es geht also um die Analyse jener neuen Momente und Verschiebungen im Bereich des Denk- und Sagbaren und nicht darum, Werturteile über die analysierten Aussagen zu fällen oder Handlungsanweisungen für eine ,bessereǥ Berichterstattung zu geben. Stattdessen soll das Gewordensein von spezifischen Diskursen aufgezeigt und deren Funktionsmecha-
15 Vgl. u. a. Hannelore Bublitz: „Diskursanalyse als Gesellschafts-‚Theorie‘: „Diagnostik“ historischer Praktiken am Beispiel der ,Kulturkrisenǥ-Semantik und der Geschlechterordnung um die Jahrhundertwende“, in: Hannelore Bublitz/Andrea D. Bührmann/Christine Hanke/Andrea Seier (Hgg.): Das Wuchern der Diskurse: Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults, Frankfurt a.M./New York 2009, S. 22-48, hier: S. 23f.; Sabine Hark: „Feministische Theorie – Diskurs – Dekonstruktion: Produktive Verknüpfungen“, in: Reiner Keller/Andreas Hirseland/Werner Schneider/Willy Viehöver (Hgg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse Band 1: Theorien und Methoden, 2. akt. und erw. Aufl., Wiesbaden 2006, S. 357-375, hier: S. 362ff.; Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 2003. 16 Der hier analysierte Kindsmorddiskurs kann mit Jürgen Links Begrifflichkeiten als Interdiskurs beschrieben werden, weil er in mehreren Wissensbereichen produktiv ist und sich nicht auf ein Spezialwissen beschränkt: er gehört der öffentlichen Meinung an (vgl. Jürgen Link: „Diskursanalyse unter besonderer Berücksichtigung von Interdiskurs und Kollektivsymbolik“, in: Keller/Hirseland/Schneider/Viehöver, S. 407430).
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nismen offengelegt werden. Dabei fokussiere ich in diesem Text auf das Zusammenspiel von genau zwei Diskursen: dem medialen Kindsmorddiskurs und dem medialen Ostdeutsch-Westdeutsch-Diskurs. Vor dem Hintergrund dieser forschungspraktischen Entscheidung bleibt zu betonen, dass sowohl der mediale Kindsmorddiskurs als auch der mediale Ostdeutsch-Westdeutsch-Diskurs durch machtvolle gesellschaftliche Differenzierungen geprägt und mit ihnen verflochten sind. Alle von mir hier betrachteten Diskurse sind mit anderen Diskursen und Machtstrukturen interdependent, die Deutschsein und Weißsein, Klasse und Normvorstellungen von Geschlecht und Mütterlichkeit (gewaltvoll) herstellen.17 Die analysierten Zeitungsartikel sind der ‚seriösen‘ regionalen und überregionalen bundesdeutschen Presse entnommen. Das Korpus ist in Anlehnung an das theoretical sampling der Grounded Theory18 zusammengestellt und stellt entsprechend keine quantitative bzw. für einen Zeitraum oder eine Zeitung erschöpfende Materialsammlung dar. Die Sammlung ist stattdessen explizit durch mein Interesse an der Analyse der diskursiven Schnittstelle von Kindsmord und Diskursivierungen von Ostdeutsch-Westdeutsch geprägt. Dies schließt sowohl Diskursfragmenten mit sehr ähnlichen als auch mit sehr unterschiedlichen Aussagen entlang dieser Schnittstelle ein. In einer zirkulären Bewegung habe ich mich nach ersten Materialanalysen und einer Auseinandersetzungen mit theoretischen und empirischen Arbeiten erneut auf Materialsuche begeben, um eine möglichst dichte Darstellung und Analyse von Diskurssträngen zu ermöglichen. Fälle bzw. Diskursfragmente, die ich als diskursive Ereignisse bzw. Schlüsseltexte einstufe, habe ich möglichst erschöpfend recherchiert. Das Material habe ich im Hinblick auf sich wiederholende und abweichende/neue Muster und Strategien der Bedeutungsgenerierung hin gelesen und kodiert.
17 Diese unvollständige Aufzählung beinhaltet jene Machtverhältnisse, die ich als für meinen Gegenstand zentral herausgearbeitet habe. Mein Verständnis von interdependenten Kategorien ist an Walgenbach angelehnt: Katharina Walgenbach: „Gender als interdependente Kategorie“, in: Katharina Walgenbach/Gabriele Dietze/Antje Hornscheidt/Kerstin Palm (Hgg.): Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität, Opladen & Farmington Hills 2007, S. 23-64. 18 Vgl. Reiner Keller: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, 3. akt. Aufl., Wiesbaden 2007, S. 84ff.; Franz Breuer (unter Mitarbeit von Barbara Diries und Antje Lettau): Reflexive Grounded Theory. Eine Einführung für die Forschungspraxis, Wiesbaden 2009.
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D ER K INDSMORDDISKURS
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Vor welchen nach wie vor gängigen Darstellungsmustern von Kindsmord und Kindsmörderinnen in der deutschen Medienöffentlichkeit lässt sich nun die im Folgenden zu beschreibende Diskursverschiebung als solche erkennen und einordnen? Uta Klein analysierte in ihrem Artikel „,Schmallippig und eiskaltǥ: Der Fall Monika Weimar“ die mediale Berichterstattung rund um den Prozess zum ‚Fall Weimar‘19. Weimar wurde 1988 in einem Indizienprozess zu einer lebenslangen Haftstrafe wegen Mordes an ihren beiden Töchtern verurteilt.20 Als zentrales Darstellungsmuster identifiziert Klein eine Sexualpathologisierung der Angeklagten21 und konstatiert in diesem Zusammenhang eine weitgehende Vorverurteilung durch die Presse. Klein arbeitet heraus, wie außereheliche Beziehung zu einem US-Soldaten und die angebliche „Vernachlässigung ehelicher und familiärer Pflichten“22 von der Presse als Zeichen von Schuld gedeutet wurden. Zudem wurden ihr Aussehen und angeblich fehlende Gefühlsregungen in der Öffentlichkeit als Indizien für den Mord an ihren Kindern gelesen: „während des ersten Verfahrens [war] festgestellt worden, daß Frau Weimar scheinbar emotionslos dem Prozeß folgte und der Presse keine Weinkrämpfe lieferte.“23 Des Weiteren wurde Weimar als „eiskalt“, „schmallippig“ und „berechnend“24 beschrieben und als regelrechtes Monster dämonisiert.25 Die Dämonisierung von Kindsmörderinnen ist neben der (Psycho-)Pathologisierung eines der gängigsten Darstellungsmuster im medialen Kindsmorddiskurs.26
19 Monika Weimar ließ sich scheiden und nahm wieder ihren Geburtsnamen Böttcher an. Da ich den ‚Fall Weimar‘ als diskursives Ereignis behandele, behalte ich den Namen Weimar bei. 20 Ein zweites Verfahren, das mit einem Freispruch endete, fand 1995 statt. Monika Böttcher wurde jedoch in einem dritten Verfahren 1999 erneut zu lebenslanger Haft verurteilt und kam 2006 nach 15 Jahren Haft frei. 21 Klein, S. 46ff. 22 Ebda., S. 51. 23 Ebda., S. 55. 24 Ebda., S. 46, 54. 25 Vgl. auch Mauerer, S. 248ff. 26 Das ‚Gretchenmotiv‘, welches die Kindsmörderin als von einem Mann unschuldig verführt und betrogen darstellt, findet sich seltener. Es wird in der Regel für sehr junge, ‚gut-bürgerliche‘ Frauen verwendet (vgl. Heft, S. 43ff.).
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Das diskursive Muster der (Psycho-)Pathologisierung von Kindsmörderinnen ordnet Kindsmord als pathologische Ausnahme und Ausnahmezustand ein: die Kindsmörderin wird als (psychisch) krank beschrieben. Mit Hilfe von ExpertInneninterviews mit Fachleuten aus der (forensischen) Psychiatrie, Psychologie und Kriminologie werden dabei in der medialen Berichterstattung Aspekte von psychischer Gesundheit und Krankheit sowie Schuldfähigkeit in den Blick gerückt, die im Hinblick auf eine Strafverfolgung von Kindsmorden relevant sind. Der Kindsmord wird dadurch als (psycho-)pathologische Ausnahme lesbar und verortbar gemacht. Beide Strategien – die Dämonisierung und die (Psycho-)Pathologisierung – produzieren dabei einen diskursiven Ausschluss aus der ‚normalen‘ ‚gesunden‘ Gesellschaft und aus ‚normaler‘ Mütterlichkeit unter den Vorzeichen der Mutterliebe: Der Ausschluss dämonisierter Mütter wird dabei als selbstverschuldet angenommen, wohingegen (psycho-)pathologisierte Kindsmörderinnen scheinbar unverschuldet schuldig geworden sind. Gerlinde Mauerer bemerkt in ihrem Buch Medeas Erbe: Kindsmord und Mutterideal: „Das kollektive Interesse am Thema landet immer wieder bei Darstellungen eines Einzelfalls oder mehrerer „Einzelfälle“, weil eine kollektive Repräsentation von Kindsmörderinnen“27 nicht vorstellbar sei. Diese Feststellung, der ich im Hinblick auf weite Teile des medialen Kindsmorddiskurses grundsätzlich zustimmen möchte, muss jedoch präzisiert werden. Sie gilt nicht für jene Kindsmörderinnen, die außerhalb ‚westlicher‘ Gesellschaften verortet werden: Frauen, die in Ländern ihre Kinder töten, denen ‚westliche‘ Medien und Wissenschaften eine kindsmordende Kultur bzw. Religion zuschreiben, werden in der Regel kollektiv repräsentiert, wobei der ‚Einzelfall‘ gegebenenfalls als Zeichen des Allgemeingültigen herangezogen wird.28
27 Mauerer, S. 247. 28 Ländern und Regionen wie China, Indien und Teilen Südamerikas werden kollektive und verkollektivierende kindsmordende Praxen und Kulturen zugeschrieben, womit diese aus dem ‚westlichen Kulturkreis‘ ausgelagert werden. Z. B.: Anke Rohde: „Welche Mütter töten ihre Kinder?“, in: terre des hommes Deutschland e.V. (Hg.): „Babyklappen und anonyme Geburt – ohne Alternative?“, akt. Aufl., Osnabrück 2007, S. 135; Wiese 2006, S. 20ff.; Thomas Aders: „Brasilien. Kindsmord am Amazonas“, in: ARD Weltspiegel 17.10.2010.
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D ER ‚F ALL D ANIELA J.ʻ – EIN TYPISCHER ‚O ST -K INDSMORD ʻ? Der ‚Fall Daniela J.‘29 eignet sich für meine Analyse, weil er noch vor dem medial-öffentlichen Zusammendenken von ‚Ost-Diskursen‘ und Kindsmord eine breite mediale Berichterstattung erfuhr. Zum anderen gibt es erste kulturwissenschaftliche und künstlerische Auseinandersetzungen mit diesem Fall, der ihm eine große Bekanntheit auch über die Region Brandenburg-Berlin hinaus verschaffte.30 Daniela J. hat ihre beiden Söhne im Hochsommer des Jahres 1999 allein in ihrer Wohnung in Neuberesinchen, Frankfurt (Oder), zurückgelassen. Als sie nach 15 Tagen erstmals wieder dorthin zurückkehrte, waren beide Kinder tot. NachbarInnen, die das tagelange Schreien der Kinder gehört hatten, waren nicht eingeschritten. Die Familie von Daniela J., insbesondere die Großmutter der Kinder, hatte sich ebenfalls nicht um die Jungen gekümmert, obwohl sie dies in der Vergangenheit meistens getan hatte. Daniela J. wurde erstmals im Mai 2000 und erneut im Oktober 2001 wegen zweifachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt (im ersten Verfahren mit besonderer Schwere der Schuld). David James Prickett setzt sich mit seinem Artikel „,Hat die Schreckenstat ein Gesicht?ǥ: Das Bild der ‚ostdeutschen Mutterǥ“ aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive mit dem medialen Phänomen der ‚Ost-Kindsmörderin‘ am Beispiel des ‚Falls Daniela J.‘ auseinander. In seiner Analyse ordnet er die medi-
29 Das Materialkorpus deckt weitestgehend die Berichterstattung bundesdeutscher Printmedien zum ‚Fall Daniela J.‘ ab. Dazu gehören Artikel der Erstberichterstattung, die am 29. Juni 1999 – drei Tage nach Auffinden der Kinderleichen – begann und fast ausnahmslos in lokalen Medien stattfand sowie Artikel aus regionalen und überregionalen Zeitungen zum ersten Prozess im Jahr 2000 und zum Revisionsprozess im Oktober 2001. Hinzu kommen der Dokumentarfilm Die Kinder sind tot (Aelrun Goette, Deutschland 2003, Koproduktion: SWR, BR, ARTE) und Rezensionen des Films sowie des Buchs Durst (Michael Kumpfmüller, Frankfurt a.M. 2006) aus den Jahren 2003-2005, die sich explizit auch auf den ‚Fall Daniela J.‘ beziehen. 30 Der Film Die Kinder sind tot wurde mehrfach im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezeigt. Der Journalist Kumpfmüller fiktionalisiert in seinem Roman Durst die Ereignisse des ‚Falls Daniela J.‘. Zur medialen Berichterstattung: David James Prickett: „,Hat die Schreckenstat ein Gesicht?ǥ: Das Bild der ‚ostdeutschen Mutter‘“, in: Gaby Temme/Christine Künzel (Hgg.): Hat Strafrecht ein Geschlecht? Zur Deutung und Bedeutung der Kategorie Geschlecht in strafrechtlichen Diskursen vom 18. Jahrhundert bis heute, Bielefeld 2010, S. 79-97.
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ale Berichterstattung explizit in ein Diskursmuster ein, welches Kindsmorde entlang der Differenzlinie ostdeutsch-westdeutsch verhandelt. In seiner Argumentation, die er anhand von Beispielen aus der Berichterstattung zum ‚Fall Daniela J.‘ durchführt, verweist er beispielsweise auf die angebliche diskursive Verknüpfung von Kindsmord und einer vermeintlichen ,Last‘ des ,DDR-Erbesǥ31 und rekurriert wiederholt auf das Bild der „,ostdeutschen Rabenmutter‘“32. Zudem stellt er fest, dass die Reaktionen in Daniela J.s Gerichtsverfahren auf eine „Dämonisierung von ostdeutschen Frauen“33 hinweisen würden. Bei der Lektüre von Pricketts Text kann der Eindruck entstehen, dass der ‚Fall Daniela J.‘ seinerzeit im medialen Diskurs als ‚typisch ostdeutscher Kindsmord‘ verhandelt wurde. So stellt Prickett fest, dass bestimmte Argumentationen „eine weit verbreitete Meinung unter Deutschen in den alten Bundesländern wider[spiegeln]: Kindstötungen seien ein Phänomen, das den neuen Bundesländern aufgrund der ‚Last‘ ihres ‚DDR-Erbes‘ zugeordnet werden können“34. Meine Lesart der medialen Berichterstattung zum ‚Fall Daniela J.‘ ist hingegen anders gelagert. In nahezu allen Artikeln, sowohl der Erstberichterstattung als auch der Prozessberichterstattung, wurde Daniela J. als ‚schlechte Mutter‘, als sexuell deviant, als ‚gefühlskalt‘ und monströs konstruiert – Verweise auf eine ostdeutsche Spezifik fehlen hingegen weitestgehend. Die Berichterstattung in ihrem Fall ähnelt statt dessen in weiten Teilen jener zum ‚Fall Weimar‘: Ihre Beziehungen zu unterschiedlichen Männern, ihre Art den Haushalt zu führen und ihre Kinder zu versorgen sowie ihr Aussehen bzw. ihre angeblichen Gefühlsregungen stehen im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit.35
„B EI H ONECKER HÄTTE ES DAS NICHT GEGEBEN “ 36 – DDR-BEZÜGE IM K INDSMORDDISKURS In Artikeln zu Kindsmorden im Osten Deutschlands, die vor dem Jahr 2005 veröffentlicht wurden – dem Jahr, in dem Jörg Schönbohm einen Zusammenhang zwischen Kindsmorden und einer „erzwungenen Proletarisierung“ in der DDR
31 Vgl. ebda., S. 81. 32 Ebda., S. 80, 84, 88. 33 Ebda., S. 93. 34 Ebda., S. 81. 35 Vgl. Heft, S. 40f., 50ff. Zitiert in: Marijke Engel/Veiko Kunkis: „Sie hörten keine Schreie mehr“, in: Berliner Zeitung 30.06.1999, S. 3.
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aufstellte –, wird nach meinen Erhebungen in der Regel der Tatort im Osten Deutschlands oder die DDR-Geschichte des Ortes bzw. der (mutmaßlichen) Täterin nicht gesondert thematisiert. Im ‚Fall Daniela J.‘ werden, von dieser Tendenz abweichend, die DDR und die BRD dennoch zum Thema. Zuweilen geschieht dies in einem Modus der DDR-Verklärung bzw. -Verherrlichung. Der Tenor dieser Aussagen ist oftmals: In der DDR hätte es so etwas nicht gegeben. In einem Artikel aus der Berliner Zeitung beschäftigen sich die AutorInnen Marijke Engel und Veiko Kunkis mit der Beobachtung, dass weder NachbarInnen und Familie noch das Jugendamt eingeschritten sind und Daniela J. bzw. den in der Wohnung eingesperrten Kindern geholfen haben: Vor dem Plattenbau stehen ein paar Nachbarn und reden. Sie leben seit 1986 in der […]straße. „Erstbezug“, sagt ein Mann. Und dann spricht er tatsächlich den Satz: „Bei Honecker hätte es das nicht gegeben.“ Damals hätte diese Mutter ihre Kinder nie behalten.37
Der zitierte Nachbar bezieht sich in diesem Abschnitt in zweierlei Weise positiv auf die DDR und DDR-Politiken: Zuerst verweist er darauf, dass er „Erstbezug“ sei, also seit der Fertigstellung in einer der wenigen, in den 1980er Jahren sehr begehrten neuen und modernen Wohnungen im Frankfurter Stadtteil Neuberesinchen lebe. In dieser Aussage schwingt Stolz mit und auch der legitimierende Hinweis, dass er sowohl die DDR als auch das Stadtviertel aus langjähriger Erfahrung kennt und weiß, wovon er redet. Vor diesem Hintergrund behauptet er in einem zweiten Schritt, dass es so einen Fall von Kindsmord „bei Honecker“, also in der späten DDR der 1970er und 1980er Jahre nicht gegeben hätte, weil eine solche Mutter wie Daniela J. die Kinder nicht hätte behalten dürfen. Die AutorInnen des Artikels führen diese Behauptungen mit Verwunderung und Überraschung ein: der Nachbar spricht den Satz „tatsächlich“, erläutern diesen Kommentar aber nicht weiter. Es bleibt an den Lesenden, dieses Erstaunen für sich zu deuten. Es entsteht jedoch der Eindruck, dass die Argumentation des Nachbarn als unzulässige Verschiebung von Schuld und/oder ebenfalls unzulässige Verherrlichung von DDR-Vergangenheit (ab-)gewertet wird. Die Thematisierung der DDR als Ort an dem Kindsmorde angeblich nicht so stattgefunden hätten, führt die AutorInnen nicht dazu, eine etwaige Relevanz des ostdeutschen (Tat-)Ortes, beispielsweise als Ort der vermeintlichen Herkunft und Sozialisation, für ihre eigene Argumentation zu übernehmen. Die Aussagen des Nachbarn, die einen positiven Bezug zur DDR herstellen, bleiben als unzulässig stehen. Die
37 Ebda.
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DDR und ihre Folgen und Kontinuitäten als Möglichkeitsbedingung für den Kindsmord sind an dieser Stelle nicht Thema. Ganz ähnlich beginnt die Thematisierung der DDR in einer Ausgabe des Fernsehmagazins Kontraste vom Rundfunk Berlin Brandenburg. Auch dort wird ein anonymer Nachbar zitiert,38 der vor dem Hintergrund angeblich unterschiedlichen Behördenhandelns in der DDR und der BRD im Jahr 1999 argumentiert: „Früher, wenn die Kinder nur mal, sagen wir geschlagen wurden oder der Partner hat getrunken, da wurden die Kinder gleich weggenommen, da haben sie gar nicht viel Federlesen gemacht. Heute, da muß es erst mal geschehen, heute muß erst mal so ein Unglück geschehen, ehe sie wirklich eingreifen.“39
Auch hier wird die Behauptung, dass es „so ein Unglück“ in der DDR nicht gegeben hätte, aufgestellt. In dieser Behauptung scheint jedoch eine gewisse Ambivalenz durch: Auch bei scheinbar geringem Anlass wären Kinder aus Familien genommen worden. Die Einschätzung, dass „nicht viel Federlesen“ gemacht worden wäre, weist außerdem darauf hin, dass unter Umständen sogar zu streng gehandelt worden wäre. Demgegenüber stünde eine neue Praxis, in der Kinder erst sterben müssten, damit von Seiten des Staates agiert würde. Die Behörden handelten also zu langsam und machten zu viel Federlesen. Vor dem Hintergrund des aktuellen Ereignisses wird das behauptete Institutionenhandeln der DDR-Behörden idealisiert.40 Beide Zitate stellen eine Variante jener Diskursivierung dar, die damit argumentiert, dass spezifische gemeinschaftliche bzw. staatliche Bedingungen in der DDR einen solchen Kindsmord verhindert hätten. Es wird also behauptet, dass
38 Die Aussagen in diesem und im vorherigen Beispiel könnten vom selben anonymen Nachbarn geäußert worden sein. Meine Analyse macht keine Angaben über das quantitative Aufscheinen dieses diskursiven Musters. Statt dessen wird in den Blick genommen, dass (und wie) diese Diskursivierung von unterschiedlichen Medien re-/produziert wird. 39 Anja Dehne/Roland Jahn/Susanne Opalka: „Alleingelassen und verdurstet. Zwei Kinder sterben und alle schauen tatenlos zu“, in: Sendung Kontraste vom Rundfunk Berlin-Brandenburg 08.07.1999. 40 Für meine Diskursanalyse ist dabei unerheblich, ob die Behauptungen des Nachbarn auf Tatsachen beruhen oder nicht. Von Interesse ist statt dessen, dass die DDR als positiver bzw. ambivalenter Bezug im Kindsmorddiskurs eingesetzt und eine Relevanz der Differenzierung zwischen DDR und BRD im Hinblick auf Kindsmorde behauptet wird.
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die Möglichkeitsbedingungen für Kindsmorde im Kontext aktuellen behördlichen Handelns zu verorten seien. Zudem wird die Verantwortung für den Tod der Kinder vorwiegend im Verhalten der Behörden (und der Kindsmörderin) gesehen. Im Gegensatz zu dem zuvor analysierten Interviewfragment aus der Berliner Zeitung wird diese Behauptung von den AutorInnen des Fernsehmagazins Kontraste explizit kommentiert: „Früher – das waren die Zeiten der DDR. Kontrolle eines Staates über seine Bürger. Heute muß jeder selbst Verantwortung übernehmen. Das fällt schwer.“41 Der vom Nachbarn angesprochenen „Kontrolle des Staates“ in der Vergangenheit wird eine als gegensätzlich markierte Eigenverantwortung im „Heute“ gegenübergestellt. Die Kontraste-AutorInnen kritisieren damit jene Diskursivierung, die eine (Mit-)Verantwortung für den Kindsmord bei den lokalen Behörden, jedoch nicht im weiteren Umfeld der Kindsmörderin verortet. Ihr Fazit, dass dies – also die Übernahme von Verantwortung seitens des sozialen und familiären Umfeldes – schwer falle, verschiebt den Fokus vom staatlichen Handeln auf die Ebene des Individuums. Zudem wird suggeriert, dass es jenen Individuen, die unter der „Kontrolle des Staates über seine Bürger“ gelebt hätten, schwerer falle, unter den veränderten zivilgesellschaftlichen Bedingungen eines anderen Staates angemessen Verantwortung zu übernehmen. Zivilgesellschaftliche Defizite werden hier explizit als DDR-Relikt verhandelt. Mit diesem Kommentar der Kontraste-AutorInnen scheint die Behauptung eines ‚Spätschadens‘ der DDR im Kindsmorddiskurs auf – allerdings noch nicht in direktem Bezug auf das Phänomen des Kindsmordes selbst, sondern lediglich in dessen Kontext. Innerhalb dieser Diskursivierung wird somit sagbar, dass ehemalige BürgerInnen der DDR (bzw. solche, die entsprechend markiert werden) Schwierigkeiten hätten, adäquat im Kontext einer demokratischen Zivilgesellschaft zu handeln. Stattdessen würden sie so handeln, wie es unter dem repressiven nicht-demokratischen System der DDR angemessen gewesen sei.42 Dieser Diskursstrang wird auf das Umfeld Daniela J.s und dessen Aussagen be-
41 Dehne et al. 08.07.1999. 42 Detlef Pollack kritisiert Forschung, die „Ossis“ konstante Werte und Verhaltensmuster zuschreibt: „Es ist nicht sehr plausibel zu behaupten, dass alle gesellschaftlichen Verhältnisse sich wandeln und nur der Ossi stets der selbe bleibt, es sei denn, man unterstellt für das menschliche Handeln oder speziell für den Ossi ein hohes Maß an Irrationalität und situativer Unangepasstheit.“ (Detlef Pollack: „Zwischen Kulturalismus und Konstruktivismus: Die Transformation Ostdeutschlands als Prüfstein der Politische-Kultur-Forschung“, in: Heinz Dieter Kittsteiner (Hg.): Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten, München 2004, S. 229).
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züglich ihres (Nicht-)Handelns bezogen, jedoch auch hier nicht als Ursache für den Kindsmord benannt. Dass Kindsmord in irgendeiner Weise typisch für den Osten Deutschlands wäre oder gar ein Bestandteil einer von der DDR geprägten Kultur sei, wird an dieser Stelle (noch) nicht behauptet.
„T ATORT :
43
DIE NEUEN B UNDESLÄNDER “ EIN NEUER T OPOS IM DISKURSIVEN F ELD
–
Die explizit kulturalisierenden Aussagen von Schönbohm lösen erstmals im Jahr 2005 eine medial-öffentliche Debatte aus. Ein erster Hinweis auf eine mögliche Verschiebung innerhalb des medialen Kindsmorddiskurses hin zu einem kulturalisierenden Diskursstrang findet sich allerdings bereits in der Berichterstattung zum ‚Fall Daniela J.‘.44 Es wäre auch verwunderlich, wenn der Diskurs, der das Phänomen des Kindsmordes auf eine DDR-Vergangenheit zurückführt, im Jahr 2005 aus dem Nichts aufgetaucht wäre und nicht auf diskursiven Kontinuitäten aufbauen und diese tradieren würde. In einem Artikel in Die Welt von Michael Mielke45, in dem der Autor vom Prozess gegen Daniela J. und über das Anfang Mai 2000 gesprochenen Urteil zu lebenslanger Haft wegen zweifachen Mordes „mit besonderer Schwere der Schuld“ berichtet, finden sich erstmals zwei diskursive Momente, die sich zentral in späteren Diskursen wiederfinden: Der Tod der beiden kleinen Jungen [der Kinder von Daniela J., k. h.] war im Frühsommer vergangenen Jahres der wohl bedrückendste einer ganzen Reihe öffentlich gewordener grausamer Vorfälle: Im sächsischen Mühltroff wurden Babyleichen in einer Kühltruhe gefunden; in Brandenburg sperrte eine Mutter ihr Kind in den Keller und wartete, bis es verhungerte; im thüringischen Gera ertränkte eine junge Frau ihr Baby in der Weißen
Michael Mielke: „Mutter verdursteter Kinder zu lebenslanger Haft verurteilt“, in: Die Welt 09.05.2000. 44 Da ich mein Korpus in Anlehnung an die Grounded Theory angelegt habe, zielt dieses nicht auf eine quantitativ-flächendeckende Repräsentation aller Diskursfragmente für einen Zeitraum ab. Deshalb lässt sich nicht ausschließen, dass es nicht noch weitere „Ausnahme-Diskursfragmente“ vor Schönbohms Äußerungen im Sommer 2005 gibt. Sicher ist hingegen, dass diese – ganz ähnlich wie das hier zu diskutierende Diskursfragment – zu keiner medial-öffentlichen Debatte geführt haben. 45 Mielke ist Gerichtsreporter für die Tageszeitung Die Welt und hat in den letzten Jahren wiederholt von verschiedenen Kindsmordprozessen berichtet.
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Elster. Noch einige Beispiele ließen sich aufzählen. Mit dem gemeinsamen Nenner: Tatort: die neuen Bundesländer. Beim Motiv jedoch gab es keine Unterschiede zu Müttern, die in Bayern, Hessen oder Hamburg ihre Kinder töteten: Vereinsamung, ein dumpfes Leben neben einem gleichgültigen Partner; oft auch materielles Elend. 46
Mielke thematisiert hier die Vorstellungen einer „Reihe“ von Kindsmorden, die in ihrer Konstruktion eines seriellen Zusammenhangs zwischen unterschiedlichen Fällen zentral für die Argumentation des später auftauchenden Ost-Kindsmorddiskurses ist. Seine detaillierte Aufzählung von konkreten, aktuell bekannt gewordenen Fällen in den neuen Bundesländern, gefolgt von der nicht eingelösten Behauptung, dass sich „[n]och einige Beispiele [aufzählen] ließen“47, steht eine hypothetisch anmutende Aufzählung von drei alten Bundesländern (ganz ohne Verweise auf konkrete Fälle) gegenüber. Den ersten drei Fällen wird ein gemeinsamer Nenner zugeschrieben: „Tatort: die neuen Bundesländer“.48 Der zweiten vage gebliebenen Aufzählung der Bundesländer Bayern, Hessen und Hamburg, in denen auch Mütter ihre Kinder getötet haben sollen, wird dieser Zusammenhang hingegen nicht unterstellt. Der mögliche Satz „Mit dem gemeinsamen Nenner: Tatort: die alten Bundesländer“ wird nicht formuliert. Der „gemeinsame Nenner“, der angeblich diesen unterschiedlichen Fällen zugrunde liege, wird vom Autor des Artikels überhaupt erst als solcher hergestellt, allerdings ausschließlich für einen Teil der Kindsmordfälle: jene in den neuen Bundesländern bekannt gewordenen. Mit seiner Konstruktion einer „ganze[n] Reihe“ von Kindsmorden suggeriert Mielke einen nicht näher erläuterten Zusammenhang zwischen diesen Taten. Die vermeintliche Serie besteht dabei, genau genommen, nicht im Ereignis des Kindsmordes selbst sondern, wenn überhaupt, im zeitnahen Bekanntwerden und der zeitlich seriell stattfindenden medial-öffentlichen Berichterstattung.49 Kindsmorde im Westen Deutschlands werden vom Autor nicht als „Reihe“ bezeichnet. Die anfangs eingeführte Differenzierung zwischen Fällen aus dem Osten und Westen Deutschlands glättet Mielke im Anschluss jedoch mit der Behauptung: „Beim Motiv jedoch gab es keine Unterschiede“50 und führt soziale und sozial-
46 Mielke 09.05.2000. 47 Ebda. 48 Ebda. 49 Beispielsweise wurden in Mühltroff drei Babyleichen gefunden, die zum Teil bereits Jahre vor dem Auffinden verstorben sind oder getötet wurden. 50 Mielke 09.05.2000.
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psychologische Faktoren als einheitliches Motiv für Kindsmorde in Ost und West an. Im zweiten Teil seiner Argumentation thematisiert der Autor das Verhalten der sozialen Umwelt und staatlicher Institutionen, wobei ein expliziter Zusammenhang zwischen den aktuellen Ereignissen und der zugeschriebenen DDRVergangenheit des (Tat-)Ortes bzw. der Bevölkerung und der Institutionen hergestellt wird: Was sich im Osten jedoch oftmals unterschied, war das Verhalten von Verwandten, Nachbarn, Behörden. Der Gefahr wegen, dass „Melden“ mit „Denunzieren“ und „konsequentes Handeln“ mit „restriktivem Einmischen à la DDR“ verwechselt werden könnte, wurde allzu oft geschwiegen oder sich auf ein formal korrekt abrechenbares Handeln zurückgezogen.51
Hiermit verschiebt Mielke den Fokus seiner Differenzierung zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland und konkretisiert diese: Nicht die Motive für den Kindsmord, sondern das Verhalten, sowohl des sozialen und familiären Umfeldes als auch das der Behörden, sei im Osten Deutschlands unterschiedlich.52 Zentral für die Argumentation des Autors ist eine Dichotomie von Handlungsoptionen: „Melden“ und „konsequentes Handeln“ auf der einen Seite versus Schweigen und „formal korrekt abrechenbares Handeln“ auf der anderen Seite.53 Erstere Handlungsoptionen werden dabei positiv, letztere als überkommen und negativ besetzt. Zudem wird suggeriert, dass durch „konsequentes Handeln“ die „Reihe […] grausamer Vorfälle“ hätte verhindert werden können und, dass dies im Westen Deutschlands womöglich der Fall sei. Schweigen und „formal korrekt abrechenbares Handeln“ werden hingegen als unzulänglich und spezifisch ostdeutsch markiert. Dieses unzulängliche Verhalten resultiere angeblich aus der „Gefahr“, dass die als positiv dargestellten Handlungsoptionen vor dem Hinter-
51 Ebda. 52 Der Westen, der hier als Vergleichsfolie dient, wird vom Autor schon nicht mehr explizit benannt, so normalisiert erscheint er in dieser Argumentation. Vergleiche auch Roths Ausführungen zum „Westen als ‚Normal Null‘“, vor dem sich der Osten Deutschlands als Abweichung abzeichnet (Kersten Sven Roth: „Der Westen als ‚Normal Null‘. Zur Diskurssemantik von ,ostdeutsch‘ und ,westdeutsch‘“, in: Kersten Sven Roth/Markus Wienen (Hgg.): Diskursmauern. Aktuelle Aspekte der sprachlichen Verhältnisse zwischen Ost und West, Bremen 2008, S. 69-89). 53 Ebda.
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grund einer DDR-Biografie fälschlicherweise negativ konnotiert würden, nämlich als „Denunzieren“ und „restriktive[s] Einmischen à la DDR“. Es ist nach meiner Kenntnis bis zu dem Zeitpunkt auch nicht üblich, dass innerhalb des Kindsmorddiskurses explizit Bilder von der Staatssicherheit der DDR (Stasi) aufgerufen werden: Bilder von Menschen, die Andere denunziert haben bzw. denunziert wurden und Bilder von einer Staatsmacht, die sich in ganz spezifischer Weise („à la DDR“) „restriktiv“ in die Belange ihrer Bevölkerung eingemischt hat.54 Die Menschen in Daniela J.s Umfeld, aber auch die Behörden, hätten, so die Argumentation Mielkes, nicht den Umständen angemessen gehandelt, weil sie sich nicht dem Vorwurf aussetzen wollten, nach überkommenen negativ zu bewertenden Mustern zu handeln. Im eklatanten Widerspruch dazu stehen die oben analysierten Aussagen, die sich vorwiegend positiv auf das angeblich restriktivere Einschreiten der DDR-Behörden beziehen sowie die oft zitierte Behauptung von NachbarInnen, das Jugendamt eingeschaltet zu haben55. In welchem Zusammenhang Kindsmorde im Westen Deutschlands zum Verhalten von Verwandten, NachbarInnen und Behörden stehen und inwiefern sich deren Verhalten von dem eines ostdeutschen Umfeldes unterscheidet, bleibt in Mielkes Artikel vage. Seiner Argumentation folgend, dürften Kindsmorde im Westen Deutschlands nicht vorkommen, weil das Umfeld von potentiellen Kindsmörderinnen auf Verdacht „konsequent handelt“ und „meldet“. Indem der Autor an dieser Stelle den Westen Deutschlands als Vergleichs- und Normfolie unbenannt lässt, vermeidet er die explizite Thematisierung dieses erklärungsbedürftigen Widerspruchs. Vor dem Hintergrund, dass Kindsmorde in den Medien in der Regel als Einzeltaten und nicht vorhersehbare (und deswegen auch nicht verhinderbare) Ausnahmen verhandelt werden,56 macht eine kollektivierende Zuweisung von (Mit-)Schuld an eine diskursiv konstruierte Gemeinschaft von
54 Im ‚Fall Sabine H.‘, auf den Jörg Schönbohm im Sommer 2005 reagiert, wird die Staatssicherheit der DDR regelmäßig zum Thema: Der Verweis auf Stasi dient dort, anders als in Mielkes Text, unter anderem dazu, NachbarInnen zu unterstellen „berufsbedingt gut beobachten“ zu können (vgl. Bettina Schneuer: „Das Schweigen der Mutter“, in: Stern 20/2006 11.05.2006) wodurch eine Kontinuität, ja Mentalität des Bespitzelns und Denunzierens hergestellt wird. 55 Nachzulesen u. a in Beate Bias: „Der grausame Tod von Tobias und Kevin“, in: Märkische Oderzeitung, 29.06.1999, S. 3; Susanne Rost/Katrin Zimmermann/Veiko Kunkis: „Mutter ließ zwei Kleinkinder verdursten“, in: Berliner Zeitung, Nr. 148, 29.06.1999, S. 25; Regina Mönch/Katja Füchsel: „Verdurstete Kinder: Jugendamt weist Vorwürfe zurück“, in: Der Tagesspiegel, Nr. 16 737, 30.06.1999, S. 16. 56 Vgl. Mauerer.
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Verwandten, NachbarInnen und Behörden keinen Sinn. Das explizite Zusammendenken von Kindsmorden in den neuen Bundesländern als Serie in einem ganz konkreten – nämlich ostdeutschen – Kontext im ersten Absatz der Argumentation Mielkes, stellt meines Erachtens eine diskursive Voraussetzung für die anschließende Konstruktion des sozialen Umfeldes als homogene Gemeinschaft von mitschuldigen DDR-Geschädigten dar. Damit unterscheidet sich dieses Diskursfragment in zweierlei Hinsicht von den anfangs vorgestellten Diskursivierungen aus der Berliner Zeitung und Kontraste: Erstens wird in diesem Diskursfragment gesagt, dass Kindsmorde im Osten Deutschlands als mutmaßliche Serie zusammen gedacht werden können. Zweitens wird für das Phänomen Kindsmord ein systematischer Unterschied zwischen ostdeutschem und westdeutschem Verhalten etabliert, wobei die Abweichung von der Norm als spezifisch ostdeutsch markiert wird. Dieser wird auf eine unterschiedliche Bewertung von Handlungsoptionen aufgrund einer DDRSozialisation, mithin auf einen ‚DDR-Schaden‘ der Betroffenen zurückgeführt. Die Behauptung strukturell unterschiedlichen Verhaltens, kann nur über ein konstitutives Zusammendenken unterschiedlicher Kindsmordfälle als systematischer Unterschied zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland etabliert werden. Das Diskurselement, welches ein unzulängliches Verhalten aufgrund eines ‚DDR-Schadens‘ konstatiert, war in seinen Grundzügen bereits im oben diskutierten Beitrag des Fernsehmagazins Kontraste angedeutet, wurde jedoch nicht mit dem Westen Deutschlands kontrastiert und auch nicht als spezifisch ostdeutsch markiert.
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UND DIE
K ULTURALISIERUNG VON
Am Beispiel der hier analysierten Diskursfragmente aus der medialen Berichterstattung zum ‚Fall Daniela J.‘ argumentiere ich, dass dieser Kindsmord diskursiv (noch) nicht als ‚Ost-Kindsmord‘ markiert und verhandelt wurde und Daniela J. auch nicht als „ostdeutsche Mutter“ im Diskurs auftaucht, wie es Prickett in seinem Artikel von 2010 nahelegt. Dennoch blieb das Thema DDR, insbesondere als positiver Bezugspunkt durch NachbarInnen von Daniela J., nicht ganz ausgespart. Lediglich in einem Artikel in Die Welt lassen sich die Grundzüge des ab 2005 virulent werdenden Diskursstranges nachzeichnen, der Kindsmorde als spezifisches Phänomen der neuen Bundesländer herstellt. Insbesondere Mielkes Argumentation in Die Welt macht sich dabei zunutze, dass die Berichterstattung zu Ostdeutschland und Ostdeutschen in der bundes-
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deutschen Presse seit den 1990er Jahren entlang bestimmter Argumentationsmuster (Topoi) verläuft, die Roth und Kollmorgen und Hans57 in linguistisch geprägten bzw. quantitativ orientierten Diskursanalysen für die Jahre 1993-2003 bzw. 2004-2008 herausgearbeitet haben. Mielke bedient dabei insbesondere den „Topos der Besonderheit“, den „Topos der Herkunft“ und den „Topos der Schwäche“.58 Diese verweisen aufeinander und werden hier im Zusammenhang mit Kindsmorden im Osten Deutschlands aufgerufen. Kindsmorde im Osten Deutschlands sind demnach etwas Besonderes, das sich als „Reihe“ zusammendenken lässt, wohingegen die westdeutsche Norm von ‚Einzelfällen‘ als weitgehend unbenannte Vergleichs- und Normfolie dient. Das angeblich nicht adäquate Handeln des sozialen und behördlichen Umfeldes Daniela J.s wird von Mielke entlang des „Topos der Herkunft“ erklärt, bei dem „[a]m Ende […] die DDRGeschichte und die Herkunft oder Abkunft der Akteure aus der DDR zum Kernproblem und zugleich entscheidenden Argumentationskern [wird]“59. Gemäß dem „Topos der Schwäche“ stellt der Autor das vermeintlich aus der DDR stammende Handlungsmuster als Schwäche und „Zurückgebliebensein oder (weiteres) Zurückbleiben gegenüber der Norm Westdeutschlands“60 dar. Mediale ‚Ost-Diskurse‘ und medialer Kindsmorddiskurs verweisen aufeinander und bilden, indem sie sich verflechten, einen neuen eigenen Diskursstrang. Die anfangs vorgestellten Aussagen von Jörg Schönbohm und Wolfgang Böhmer und viele weitere Artikel zu ‚Ost-Kindsmorden‘ bauen in den kommenden Jahren auf diesen bereits vorhandenen diskursiven Mustern im Kindsmorddiskurs auf. Ich möchte im Zusammenhang mit dieser Verschiebung innerhalb des medialen Kindsmorddiskurses von einer Kulturalisierung von Kindsmorden sprechen: Kindsmorde im Osten Deutschlands werden als kulturell bedingtes Phänomen des Ostens hergestellt. Insbesondere die Konstruktion von unterschiedlichen Möglichkeitsbedingungen für ein verhältnismäßig einheitliches Phänomen – die Tötung von Neugeborenen durch ihre Mütter im vereinten Deutschland – kann als grundlegendes Muster für eine diskursive Kulturalisierung von ‚OstKindsmorden‘ gelesen werden. Aber auch die diskursive Strategie unterschiedliche Fälle als vermeintlich zusammenhängende Serie wahrzunehmen und damit
57 Raj Kollmorgen/Torsten Hans: „Der verlorene Osten. Massenmediale Diskurse über Ostdeutschland und die deutsche Einheit“, in: Raj Kollmorgen/Frank Thomas Koch/Hans-Ludger Daniel (Hgg.): Diskurse der deutsche Einheit. Kritik und Alternativen, Wiesbaden 2011, S. 107-165, hier S. 125ff. 58 Ebda., S. 125ff. 59 Ebda., S. 127f. 60 Ebda., S. 128, kursiv im Original.
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von (westdeutschen) ‚Einzelfällen‘ abzugrenzen, stellt dafür eine wesentliche Voraussetzung dar. An dieser Stelle möchte ich erneut auf Gerlinde Mauerers These zurückkommen, dass „eine kollektive Repräsentation von Kindsmörderinnen“61 nicht vorstellbar sei und meine anfangs vorgenommene Einschränkung ihrer These erweitern. Ich argumentiere, dass auch Kindsmorde im Osten Deutschlands kollektiv repräsentiert werden können, wenn sie als kulturelle und herkunftsbedingte Besonderheit des Ostens konstruiert werden – und zwar in ganz ähnlicher Weise, wie Kindsmorde in nicht-europäischen Ländern als kulturell und religiös bedingtes Phänomen hergestellt werden.
L ITERATUR Aders, Thomas: „Brasilien. Kindsmord am Amazonas“, in: ARD Weltspiegel, 17.10.2010. Ahbe, Thomas/Gries, Rainer/Schmale, Wolfgang (Hgg.): Die Ostdeutschen in den Medien. Das Bild von den Anderen nach 1990, Leipzig 2009. Bias, Beate: „Der grausame Tod von Tobias und Kevin“, in: Märkische Oderzeitung, 29.06.1999, S. 3. Breuer, Franz (unter Mitarbeit von Barbara Diries und Antje Lettau): Reflexive Grounded Theory. Eine Einführung für die Forschungspraxis, Wiesbaden 2009. Bublitz, Hannelore: „Diskursanalyse als Gesellschafts-‚Theorie‘: „Diagnostik“ historischer Praktiken am Beispiel der ,Kulturkrisenǥ-Semantik und der Geschlechterordnung um die Jahrhundertwende“, in: Hannelore Bublitz/Andrea D. Bührmann/Christine Hanke/Andrea Seier (Hgg.): Das Wuchern der Diskurse: Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults, Frankfurt a.M./New York 2009, S. 22-48. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 2003. Dehne, Anja/Jahn, Roland/Opalka, Susanne: „Alleingelassen und verdurstet. Zwei Kinder sterben und alle schauen tatenlos zu“, in: Sendung Kontraste vom Rundfunk Berlin-Brandenburg, 08.07.1999. Engel, Marijke/Kunkis, Veiko: „Sie hörten keine Schreie mehr“, in: Berliner Zeitung, 30.06.1999, S. 3. Goette, Aelrun: Die Kinder sind tot, Deutschland 2003, Koproduktion: SWR, BR, ARTE.
61 Mauerer 2002, S. 247.
326 | K ATHLEEN HEFT
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K INDSMORD
ALS
P HÄNOMEN O STDEUTSCHLANDS?
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Die gute Mutter im Mörderinnendiskurs Experten, Leute und Medien über Frieda Schulze und andere Fälle E VA T OLASCH
Der Fall Frieda Schulze: 39-jährige Mutter eines 18-jährigen Sohnes und einer 7jährigen Tochter wurde angeklagt und verurteilt.1 Bis zur Urteilsverkündung war nicht klar, ob sie des Mordes – der juristisch-moralisch im Gegensatz zum Totschlag auf sittlich tiefster Stufe angesiedelt ist – an ihren beiden 1995 und 2004 geborenen Kindern, die sie direkt nach der Geburt getötet haben soll, haftbar gemacht wird. Letztendlich wurde Frieda Schulze 2010 zu zehn Jahren Haft verurteilt. Rechtliche Grundlage der Tatbewertung war der § 212 Totschlag (2004) und der bis 1998 gültige § 217 Kindstötung (1995) des Strafgesetzbuches. Letztgenannter Paragraph privilegierte im Strafmaß ausschließlich Frauen, die ihre unehelichen Kinder während oder unmittelbar nach der Geburt töteten. An den Unsichtbarkeiten und Sichtbarkeiten des Gesagten über den Fall Frieda Schulze, in Kontrastierung zu anderen Fällen der versuchten und tatsächlichen Kindstötung, lassen sich in geschlechter- und körpersoziologischer Perspektive Imperative der „guten Mutter“ identifizieren, so die Annahme.2 Als Grundlage dienen Aussagen über die Tat, die psychologische und physische Verfasstheit und soziale Rahmung der Angeklagten seitens Experten, Medien
1 2
Aus datenschutzrechtlichen Gründen wird das Datenmaterial stark anonymisiert. Neben Fall 1 Frieda Schulze handelt es sich vor allem um die Vergleichsfälle Marion Müller (Fall 2, erweiterter Suizidversuch) und Susanne Schröder (Fall 3, Versuch des Totschlags, Körperverletzung und Misshandlung des eigenen Kindes durch den Lebensgefährten).
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und Leute. So wird die sinnvolle Re-Inszenierung der „guten Mutter“ in Perspektiven des Geschlechter- und Familienwissens beschreibbar.3 Annegret Wiese zufolge wird die Rekonstruktion der „guten Mutter“ über die „schlechte Mutter“ dadurch methodisch vorstellbar, dass als Negativfolie von Redeweisen über die gescheiterte Mutter moralische Vorstellungen von der gescheiten Mutter sichtbar werden. Die Tötung der eigenen Kinder durch die leibliche Mutter, so der gesellschaftliche Konsens, wie Wiese feststellt, ist hierzulande ein extremer und auf das Schärfste verurteilter Normbruch in Deutschland.4 Er impliziert folglich immer auch ein „Nachdenken von Gesellschaft und Individuen“5 über das (nicht) richtige Mütterliche in Form von moralisierenden Reden, die nicht selten in (Vor)Verurteilungen – „mother blaming“ – enden und Hinweise für alle Mütter hinsichtlich der angemessenen Lebensführung bereitstellen.6 Dabei wird die Redeweise über die gescheiterte „schlechte Mutter“ im Kindstötungsdiskurs7 vor dem Hintergrund unterschiedlicher „guter Mutter“Folien in Abhängigkeit der jeweiligen Sprecherposition bestimmt. Als „gute Mutter“ kann stellvertretend die äußerlich gepflegte Werbe-Mutter8 stehen, die stets in Erfüllung, im vollsten Verständnis und mit größter Empathie zu ihrem
3
Uta Klein: „Die Konstruktion von Frauenkriminalität in den Medien: Zum Fall Monika Weimar“, in: Wolfgang Greive (Hg.): Nicht länger schweigen! Fraueninhaftierung und Gewalt, Rehburg-Loccum 1995, S. 39-52, hier S. 40.
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Annegret Wiese: Mütter, die töten. Psychoanalytische Erkenntnis und forensische
5
Stefan Zahlmann: „Sprachspiele des Scheiterns. Eine Kultur biographischer Legitima-
Wahrheit, München 1993, S. 14. tion“, in: Ders./Sylka Scholz (Hgg.): Scheitern und Biographie. Die andere Seite moderner Lebensgeschichten, Gießen 2005, S. 7-31, hier S. 7. 6
Molly Ladd-Taylor/Lauri Umansky: „Introduction“, in: Diess. (Hgg.): „Bad“ Mothers. The Politics of Blame in Twentieth-Century America, New York/London 1998, S. 22f.; vgl. Sylka Scholz: „Die ,Show des Scheiternsǥ und der ,Club der Polnischen Versagerǥ. Der (neue) Diskurs der Gescheiterten“, in: Zahlmann/Scholz, S. 265289.
7
Im Weiteren werde ich den Begriff Kindstöterin und nicht den Begriff Mörderinnen verwenden. Dies vor dem Hintergrund, dass Frieda Schulze jenseits einiger Presseberichte – in denen Ermittler gleich zu Mordermittlern wurden – juristisch nicht des Mordes verurteilt wurde und auch die Vergleichsfälle sich auf die (versuchte) Tötung des Kindes durch die Eltern beziehen.
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Beispielsweise Toffifee-Werbung: http://www.youtube.com/watch?v=Ebqq4O92yGo [letzter Zugriff am 8.8.2012].
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Kind ein Lächeln auf den Lippen trägt. Sie versteht sich selbst als „erfolgreiches kleines Familienunternehmen“ am Schnittpunkt von „Kommunikationsbranche und Organisationsmanagement“, wobei sie „Nachwuchsförderung und Mitarbeitermotivation“ zu ihren Aufgaben zählt, so zumindest lässt die Vorwerk-Werbung verlauten.9 Unvorstellbar, vor diesem Raster des hierzulande kulturell Intelligiblen, dass diese idealisierte Mutter ihr Kind tötet oder gar mordet. Scheitert eine Frau an ihrem eigenen und/oder von anderen ihr zugeschriebenen Lebensentwurf der mütterlichen Fürsorge wird sie vom normativen Standpunkt der idealisierten Mutterschaft her gemessen und bewertet. Ein neuerliches (Wieder-)Auftauchen der moralisierenden Krisenrede des Mütterlichen in den Medien und Foren über die Kindstöterinnen ist zu beobachten.10 Der Fall Frieda Schulze ist in den Medien spektakulär aufbereitet worden. Die UserInnen-Kommentare und Berichte zu Kindstöterinnen gipfeln zumeist in der individuellen Haftbarmachung der Mutter.11 Mit dem Fall der verhungerten „Jessica“ in Hamburg-Jenfeld im Jahr 2005 und nicht zuletzt mit Böhmers These von der Kindstötung als „Mittel der Familienplanung“, an die „Ostdeutschen“ adressiert im Focus-Interview12 im Jahr 2008, wuchs parallel auch das wissenschaftliche Interesse am Phänomen der Kindstötung. Installiert werden in der Praxis zunehmend politische Strategien zur Vermeidung der Kindstötung wie etwa das 2006 gestartete Frühwarnsystem zur Registrierung von risikoreichen familiären Entwicklungsbedingungen der „frühen Hilfen“13. Parallel dazu werden die Akten der Staatsanwaltschaft zu Fällen der ver-
9
http://www.youtube.com/watch?v=h33F7YDqXM4 [letzter Zugriff am 8.8.2012].
10 Vgl. auch die Literatur betreffend Gerlinde Mauerer: Medeas Erbe. Kindsmord und Mutterideal, Wien 2002, S. 28. 11 David James Prickett: „Hat die Schreckenstat ein Gesicht?“, in Gaby Temme/Christine Künzel: Hat Strafrecht ein Geschlecht? Zur Deutung und Bedeutung der Kategorie Geschlecht in strafrechtlichen Diskursen vom 18. Jahrhundert bis heute, Bielefeld 2010, S. 79-97. 12 Wolfgang Böhmer: „Ein Mittel der Familienplanung“ – Interview geführt von Ulrike Plewnia, 2008, URL: http://www.focus.de/politik/deutschland/wolfgang-boehmer_aid_262743.html [letzter Zugriff am 7.8.2012]. 13 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ): „Kristina Schröder: Bundeskinderschutzgesetz soll Frühe Hilfen für Kinder und Familien sicherstellen. Bundesfamilienministerin eröffnet Bundeskongress des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen“, http://www.bmfsfj.de/BMFSFJ/Presse/pressemitteilungen,did=161772.html [letzter Zugriff am 7. August 2012].
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suchten Kindstötung immer dicker, so zumindest der subjektive Eindruck eines Staatsanwaltes.14 Doch die rhetorische Betroffenheit und die empirische Realität klaffen auseinander. Die erhöhte Aufmerksamkeit für das Phänomen Kindstötung, die nicht selten mit der (Vor)Verurteilung der Mutter einhergeht, spiegelt sich rein quantitativ nicht in der tatsächlichen Betroffenheit hierzulande wider. So steigen gegenwärtig weder die Zahlen von empirisch beobachtbaren Kindstötungsdelikten an, noch ist es vorrangig ein weibliches Phänomen.15 Dazu kommt, dass es mit Blick auf Kriminalstatistiken ein eher seltener Tatbestand ist.16 Im historischen Rückblick erscheint die Krisenerzählung – auf semantischer Ebene – über die gescheiterte Mutter in der Figur der Kindstöterin die Funktion zu haben, in gesellschaftlichen strukturellen Veränderungsprozessen soziale Geschlechterverhältnisse zu stabilisieren, zu irritieren und/oder zu ändern und darüber Bilder von Mutterschaft auszuhandeln.17 Gegenwärtige Transformationsprozesse vom Fordismus bis hin zum Postfordismus und der sich etablierenden neoliberalistischen Regimes, die zu „doppelten Entgrenzungsprozessen“ in Erwerb und Familie führen, gehen etwa einher
14 Aus Gründen des Datenschutzes wird der Name nicht genannt. 15 Bleiben elterliche Neugeborenentötungen (Neonatizide) unberücksichtigt, fällt das Risiko eines Kindes Opfer väterlicher Gewalt im Gegensatz zur mütterlichen Gewalt zu werden, die zum Tode führt, sogar etwas höher aus. Bei der Tötung eines Neugeborenen während oder unmittelbar nach der Geburt ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Mutter als Täterin in Erscheinung tritt, naturgemäß größer als beim Vater. (vgl. Theresia Höynck: „Tötungsdelikte an Kindern – erste Eindrücke aus einem kriminologischen Forschungsprojekt“, in: Verhaltenstherapie. Praxis, Forschung, Perspektiven 20. 2010a, S. 29-36.) 16 Regine Derr/Martina Heitkötter/Elisabeth Helming/Karin Jurczyk/Heinz Kindler/Christian Lüders: „Stellungnahme des Deutschen Jugendinstituts e.V. zur öffentlichen Anhörung der Kinderkommission zum Thema ,Neue Konzepte Früher Hilfenǥ“ 2009. URL: http://dji.de/dasdji/stellungnahmen/2009/2009-02-02_Kinderschutz.pdf [letzter Zugriff am 13.10.2009]; Höynck 2010a.; Wiese 1993. 17 Siehe auch Mauerer S. 28f, S. 49, S. 210ff. Mit dem Begriff der Krisenerzählung grenze ich mich ab von dem, der auf eine tatsächliche Krise verweist. Es geht um die auftauchende Krisensemantik ohne tatsächlich zu beobachtende Krise im Sinne eines „doing crisis“. Siehe zur Krise(nsemantik) als analytisches Konzept der Konstruktion von hegemonialer Männlichkeit in der historischen Geschlechterforschung Krämer (2009) sowie Martschukat und Stieglitz (2008) und in Auseinandersetzung mit dem Konzept Opitz-Belakhal (2008).
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mit einer steigenden Zahl weiblicher Erwerbsarbeit und Bildungsbeteiligung.18 Die fordistische Variante des Male-Bread-Winner-Modells hat dabei an Bedeutung zugunsten des postfordistischen Adult-Worker-Modells eingebüßt.19 Diese neuerlichen Veränderungen in der sozialen Praxis legen die Vermutung eines neuen Wissens um Geschlecht(erverhältnisse) und Mütterlichkeit nahe. Aus feministisch-(de)konstruktivistischer Perspektive (Butler/Foucault/Derrida) gehe ich davon aus, dass der Körper der angeklagten Mutter als Reproduzentin sozialer Ordnung von Geschlechterverhältnissen fungiert. Der Körper als Bezeichnendes ist der Ort der machtdurchtränkten Aushandlungen, an dem Vorstellungen von „guter“ und „schlechter Mutter“ ausgetragen werden. Mutterschaft wird verstanden als performative Herstellungsleistung von Sorgebeziehungen in Kontexten. Das heißt, dass durch die Macht der „Wörter“ des Diskurses und der Praxen die soziale Position der Mutter und ihre Handlungsmöglichkeiten beständig aufs Neue auf historischen Konventionen beruhend hervorgebracht und gestaltet werden.20 Dabei gehe ich der Frage nach, auf welchem diskursiven Geschlechter- und Familienwissen die Aussagen über Frieda Schulze und andere Beschuldigte bei der (Re-)Inszenierung der ,guten Mutterǥ basieren. Ausgehend von Arbeiten zur Erfindung der Geschlechtscharaktere um 1800, die sich um 1900 im Zuge der Industrialisierung etablieren konnten, werde ich zeigen, dass dieses Modell in zeitgenössischen (Be-)Deutungen von „guter Mutter“ im Geschlechterwissen von Relevanz ist. Basierend auf Datenmaterial des noch laufenden Projekts zu Kindstötung und Elternschaft, den Zeitraum 2005-2010/11 abdeckend bezogen vor allem auf Fälle von 0-2 Jahren,21 analysiere ich Forenbeiträge als Wissen der Leute,22 Ak-
18 Karin Jurczyk/Michaela Schier/Peggy Szymendereski/Andreas Lange/Günter Voß: Entgrenzung von Arbeit – Entgrenzung von Familie. Grenzmanagement im Alltag als neue Herausforderung, Berlin 2009. 19 Brigitte Aulenbacher/Hildegard Maria Nickel/Birgit Riegraf: „Editorial“, in: Berliner Journal für Soziologie 1, Berlin 2012, S. 1-4. 20 Vgl. Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998, S. 31. 21 Ausgewertet wird das Material mit dem Forschungsprogramm der Wissenssoziologischen Diskursanalyse nach Keller (2008) in der Kombination mit der Grounded Theory nach Strauss und Corbin. Rhetorik, Formal-sprachliches und Inhaltsanalytisches sind die Perspektiven unter denen der Fall Frieda Schulze im Vergleich zu anderen Fällen basierend auf der minimalen und maximalen Kontrastierung der Aussageebene geschlechtersoziologisch untersucht wird. 22 Zu der Begrifflichkeit „Wissen der Leute“ siehe: Anne Waldschmidt/Anne Klein/Miguel Tamayo Korte (Hgg.): Das Wissen der Leute. Bioethik, Alltag und Macht im
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ten der Staatsanwaltschaft als Wissen der Experten und Berichterstattungen als Wissen der Medien zu Deutungsmustern23 der „guten Mutter“ ausgehend von der „schlechten Mutter“. Im ersten Abschnitt wird der Analyserahmen des (historischen) Geschlechterwissens aufgespannt. Im zweiten werden die Ergebnisse präsentiert. Abschließend wird ein Resümee gezogen.
ANALYSERAHMEN : HISTORISCHES G ESCHLECHTERWISSEN M EDIEN UND L EUTE
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Um vor allem Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede der kollektiven Geschlechterselbstverständnisse im Deutungsgegenstand von gescheit(ert)er Mutterschaft im Kindstötungsdiskurs unter Berücksichtigung des sozialen Wandels zu rekonstruieren, greife ich Vorstellungen des Geschlechterwissensbegriffs von Dölling24 und Wetterer25 in Kombination mit sozial-historischen Arbeiten zur Erfindung der Geschlechtscharaktere und -körper auf.
Internet, Wiesbaden 2009; Irene Dölling: „‚Geschlechter-Wissenǥ – ein nützlicher Begriff für die ‚verstehendeǥ Analyse von Vergeschlechtlichungsprozessen?“, in: Zeitschrift für Frauenforschung und Geschlechterstudien 1-2, 2005, S. 44-62. 23 Deutungsmuster werden in diesem Sinne als Schablonen kollektiven Selbstverständnisses verstanden, die „historisch, in Interaktionen ausgebildete Interpretationsmuster der Weltdeutung und Problemlösung“ meinen (Christian Lüders/Michael Meuser: „Deutungsmusteranalyse“, in: Ronald Hitzler/Anne Honer (Hgg.): Sozialwissenschaftliche Hermeneutik, Opladen 1997, S. 57-79, hier S. 62). Deutungsmuster sind im Kontext der Wissenssoziologischen Diskursanalyse als Ausdruck von widerstreitenden Diskursen, die um die Definition von Mutterschaft und Weiblichkeit ringen, zu verstehen (Reiner Keller: Diskursforschung, Wiesbaden 2007). Damit sind Deutungsmusteranalysen letztlich das Instrument, Diskurse in ihren Sinngehalten zu beobachten und zu beschreiben (ebda.). 24 Irene Dölling: „Das Geschlechter-Wissen der Akteure/innen“, in: Sünne Andresen/Irene Dölling/Christoph Kimmerle (Hgg.): Verwaltungsmodernisierung als soziale Praxis. Geschlechter-Wissen und Organisationsverständnis von Reformakteuren, Opladen 2003, S. 113-165. 25 Angelika Wetterer: „Geschlechterwissen. Zur Geschichte eines neuen Begriffs“, in: Dies. (Hg.): Geschlechterwissen und soziale Praxis, Königstein im Taunus 2008, S. 13-36.
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Der Geschlechterwissensbegriff dient der methodologischen Setzung des Wissens, während die Beschreibung der Erfindung der Geschlechtscharaktere den historisch-konkreten Bezugsrahmen des Geschlechterwissens darstellt. Dieser Bezugsrahmen dient in dem vorliegenden Beitrag als normativer Standpunkt, um (Dis)Kontinuitäten des kollektiven Geschlechterselbstverständnisses zu beschreiben und damit Veränderungen einzufangen.26 Der Geschlechterwissensbegriff als Analysewerkzeug der Beschreibung einer „vergeschlechtlichten Praxis“27 wird in doppelter Weise für das vorliegende Vorhaben als theoretisch-methodologischer Rahmen relevant. Einerseits erlaubt es mir eine Ausformulierung der Differenzierung der Wissensformen und andererseits eine Bewertung der Stellung des Wissens(werten). Dabei sind Medien, Experten und Leute die Geschlechterwissensformen, die ich in Anlehnung an Dölling28 und Wetterer29 unterscheide. Medien als erste Wissensform, basierend auf massenmedialen Berichterstattungen, verfügen als Repräsentanten des popularisierten Wissens über Deutungshoheit. Dies resultiert aus ihren Gelegenheitsstrukturen der Informationsverbreitung und Meinungsbildung.30 Die Kategorie ,Leuteǥ umfasst Alltags- und Erfahrungswissen.31 Diese zweite Wissensform bezieht sich auf Kommentare von Foren-UserInnen zu versuchten und tatsächlichen Kindstötungsfällen. Das lebensweltliche Wissen begreife ich mit den Idealtypisierungen von Alfred Schütz in Anlehnung an Wetterer32 als eine Überschneidung aus „Mann [und Frau] auf der Straße“33 und „gut informierte[n] Bürger[nInnen]“34. Die Kommentare verweisen auf Personen mit bewährtem Rezeptwissen, welches dem Maßstab der (Alltags)Tauglichkeit dient,
26 Ebda., S. 33. 27 Dölling 2005. 28 Dies. 2003, S. 114-16. 29 Wetterer: „Geschlechterwissen & soziale Praxis: Grundzüge einer wissenssoziologischen Typologie des Geschlechterwissens“, in: Dies, S. 39-64, hier S. 50-57. 30 Dölling 2003, S. 52. 31 Der Begriff Leute stammt in diesem Kontext von Waldschmidt/Klein/Tamayo. 32 Wetterer: „Gleichstellungspolitik im Spannungsfeld unterschiedlicher Spielarten von Geschlechterwissen“, in: Gender. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft 2. 1, 2009, S. 45-60. 33 Alfred Schütz: „Der gut informierte Bürger“, in: Martinus Nijhoff (Hg.): Gesammelte Aufsätze Bd. 2. Studien zur soziologischen Theorie, Den Haag 1972, S 85-101, hier S. 87. 34 Ebda., S. 88.
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bis hin zu Personen, die sich mit diesem Wissen nicht begnügen und auf begründetes fundiertes, womöglich breitgefächertes Wissen vertrauen und sich an dem Know-How der ExpertenInnen orientieren. ,Expertenǥ als dritte Wissensform bezieht sich – in Abgrenzung zu etwa Schütz und Dölling – auf einen weitgefassten Begriff.35 Expertenstatus haben alle, die über Sonderkenntnisse zum Strafaktenfall in Art von Kontext- oder Betriebswissen verfügen. Um Wissensunterschieden, sozialen Statusdifferenzen, institutionellen Kontexten und Bedingungen gerecht zu werden, wird im Einzelnen differenziert zwischen Experten, die fachliches und berufliches Sonderwissen besitzen, und Laien mit Expertise, die bloßes Sonderwissen haben.36 Hebammen, Richter, Anwälte oder etwa Psychologen gehören zur ersten Gruppe der „Experten“ während Zeugen oder Angeklagte zur zweiten Gruppe „Laien mit Expertise“ zählen. Dabei werden die Wissensformen in der analytischen Betrachtung als gleichwertig, aber qualitativ unterschiedlich gesehen.37 Und das Wissenswerte der Wissensformen ist abhängig vom Feld und ihren vorherrschenden Gütekriterien, die die Zugangsmöglichkeiten definieren.38 Die „Geburtsstunde des Geschlechterglaubens“39, normativer Standpunkt um das zeitgenössische Geschlechterwissen zu bewerten, vollzog sich im Zuge der Industrialisierung. Geschlecht als Ungleichheitsmoment wurde durch die aufklärerischen „Meisterdenker“40 der damaligen Zeit wie Immanuel Kant, JeanJacques Rousseau, Friedrich Schlegel, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher und Wilhelm von Humboldt nach dem Motto „Biologie ist Schicksal“ in einer Art der Verschmelzung von Bestimmung und Natürlichkeit als Argumentations-
35 Alexander Bogner/Wolfgang Menz: „Expertenwissen und Forschungspraxis: Die modernisierungstheoretische und die methodische Debatte um die Experten. Zur Einführung in ein unübersichtliches Problemfeld“, in: Diess./Beate Littig (Hgg.): Das Experteninterview. Theorie, Methoden, Anwendung, Wiesbaden 2005, S. 7-30. 36 Beate Littig: „Interviews mit Eliten – Interviews mit ExpertInnen: Gibt es Unterschiede?“, in: Hubert Knoblauch/Alejandro Baer/Eric Laurier/Sabine Petschke/Bernt Schnettler (Hgg.): Forum Qualitative Sozialforschung 3/16, Berlin 2008, 37 Absätze. 37 Dölling 2005, S. 50-51; Wetterer 2009, S. 48. 38 Ebda. 39 Ebda. 40 Ute Frevert: „Bürgerliche Meisterdenker und das Geschlechterverhältnis. Konzepte, Erfahrungen. Visionen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert“, in: Dies. (Hg.): Bürgerinnen und Bürger, Göttingen 1988, S. 17-48.
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grundlage zur Wesensbestimmung im Inneren der Personen als Frau oder Mann verankert.41 Im Rahmen des familiären Strukturwandels von der Hausgemeinschaft – 17. Jahrhundert – zur bürgerlichen Familie – 18. Jahrhundert bis 19. Jahrhundert – galt Geschlecht als neue gesellschaftliche Erfindung und nicht mehr Stand als die Bezugsgröße gesellschaftlicher Ordnung:42 „[S[tatt des Hausvaters und der Hausmutter wird jetzt das gesamte männliche und weibliche Geschlecht und statt der aus dem Hausstand abgeleiteten Pflichten werden jetzt allgemeine Eigenschaften der Personen angesprochen.“43 So schreibt Schütze, dass „die über ihre Position definierten Eigenschaften der Frau [...] im frühen 19. Jahrhundert abgelöst [wurden] durch Charakterdefinitionen“44. Charakterdefinitionen, wie schwach und stark, emotional und rational etwa, sind soziale Platzanweiser, die darüber funktionieren, dass – qua Natur – über das spezifische „Eigenwesen“ basierend auf dem weiblichen Geschlechtskörper Aufgaben zugewiesen werden. In diesem „neuen“ Geschlechter-Modell greifen Geschlechtskörper und soziale Bestimmung ineinander.45 Daraus resultierend wurde eine hierarchisierende Trennlinie entlang von Geschlecht errichtet, die in der Sphäre des Öffentlichen in einen männlichen und in der Sphäre des Privaten in einen weiblichen Zutrittsbereich mündete. Demnach war die Frau in der Position der Mutter für Hausund Erziehungsarbeiten zuständig. Der Mann als Alleinverdiener war hingegen in der Position des Vaters für außerhäusliche Erwerbsarbeit bestimmt. Dabei erscheint die romantische Liebe, die in der Ehe ihren Ausdruck findet, als Klammer, um die komplementär angelegten Geschlechtskörper und -charaktere aufeinander und zueinander in exklusive und dyadische Beziehung zu setzen, die in ihrem heterosexuellen Zusammen-Sein Vollkommenheit erreichen. Zu berücksichtigen ist, dass dieses Zwei-Geschlechter-Modell als Leitbild galt und für die große Masse in der Praxis kaum Relevanz besaß. Gültigkeit erlangte es für einige aus dem sich ausbreitenden Bürgertum im Laufe des 19. Jahrhun-
41 Karin Hausen: „Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben“, in: Werner Conze (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 369. 42 Ebda., S. 370; Yvonne Schütze: Die gute Mutter. Zur Geschichte des normativen Musters „Mutterliebe“, Bielefeld 1991, S. 20. 43 Hausen, S. 370. 44 Schütze, S. 21. 45 Ebda., S. 23-24.
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derts. Den überwiegenden Anteil anderer sozialer Gruppen wie etwa Bauern betraf es kaum bis gar nicht.46
E RGEBNISSE Die vorläufigen Ergebnisse werden, basierend auf der Annahme, dass Mutterschaft das Fürsorgen um Andere in Abhängigkeit des Kontextes meint, im Verhältnis zu eben diesen Anderen untersucht und dargestellt.47 Grundlage für die Beschreibung der Sorgeverhältnisse ist ausgehend vom Datenmaterial die Mutter in Bezug zum sozialen (Nah)Feld, zum Vater und zum Kind.48 a) Sorgeverhältnis zum sozialen (Nah)Feld Mit Blick auf das mütterliche Sorgeverhältnis zum Kind im Verhältnis zu den „Anderen“ des sozialen (Nah)Feldes zeigt sich in den Erzählungen über Frieda Schulze, dass sie den normativen Anforderungen des Selbständig-Sein-Sollens in materieller und personeller Hinsicht nicht gerecht geworden ist.49 Das Materielle bezieht sich auf den Anspruch, dass Mütter (und Eltern) sich Kinder finanziell leisten können sollten. So werden im Fall Frieda Schulze in der medialen Berichterstattung zu viele Kinder und fehlendes eigenes Einkommen problematisiert. Basis der Problematisierung misslungener Mutterschaft sind in den Medien einerseits die Unterstützungsleistung der Verwandten und andererseits der Bezug staatlicher Leistungen zum Lebensunterhalt.
46 Vgl. Hausen, S. 387; Frevert; Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter: Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, 1750-1850, Frankfurt a.M./New York 1991; Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt a.M./New York 1992; Barbara Duden: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart 1987. 47 Vgl. Elisabeth Badinter: Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute, München 1987, S. 13. 48 Die Positionen des Vaters und der Mutter werden unabhängig von der Zuordnung eines biologischen Geschlechts gedacht. Alternative Konstellationen als Gegenstand bei der Beschreibung der (Sorge)Verhältnisse sind aus queer-feministischer Perspektive selbstredend möglich. 49 Mechthild Oechsle: „Zwischen guter Mutter und selbstständiger Frau – zur widersprüchlichen Modernisierung weiblicher Leitbilder“, in: Mechtild von Lutzau (Hg.): Frauenkreativität Macht Schule, Weinheim 1998, S.107-111, hier S. 109.
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Auch mit Blick auf Vergleichsfälle zeigt sich am deutlichsten in den Foren, dass zumindest wenn die Mutter alleinerziehend ist, sie die Kinder, wenn nötig „fremdbetreuen“ lassen sollte, um durch eigene Einkünfte für materiell gesicherte Verhältnisse Sorge zu tragen. Dies lässt sich an der folgenden Sequenz aus einer Forendebatte verdeutlichen, welche vermutlich konsensfähig ist, da die Aussage von den anderen Usern nicht angefochten wird. So ist zu lesen: „Ich bin eine vollberufstätige, allein erziehende Mutter von drei Kindern. […] Ich verlasse das Haus morgens in Herrgottsfrühe und abends besprechen wir noch das, was besprochen werden muss, ich helfe bei den Hausaufgaben, etc., danach mache ich den Haushalt. Das ist kein Zuckerschlecken aber es geht.“50
Zur Norm erhoben wird mit der Beschreibung der Praxis die „doppelte Vergesellschaftung“51, das heißt das gleichzeitige Zuständigsein der Frau für reproduktive (etwa Care-Arbeiten) und produktive (etwa Erwerbs)Arbeiten. Dabei werden nicht selten in diesen argumentativen Zusammenhängen Mütter und Familien, die Sozialleistungen beziehen wie ALG-II EmpfängerInnen, individuell haftbar gemacht und mit stereotypen Zuschreibungen versehen, die sich durch die Begriffe der „Arbeitsunwilligen“ und „Systemausbeutenden“ kategorisieren lassen. Implizit weist der Fall Frieda Schulze diese Stigmatisierung bei der Beschreibung ihres Müßiggangs am Tage auf. So schreibt die Abendzeitung: „Manchmal lagen sie den ganzen Tag im Bett“, sagte der Gutachter. „Der junge Mann [19-jähriger Beziehungspartner der Angeklagten] soll seine Lehre vernachlässigt haben. Seine Eltern seien gegen die Beziehung gewesen.“52
50 http://www.welt.de/vermischtes/article3967207/Frau-toetet-eigenes-Baby-und-stuerztsich-von-Bruecke.html?page=2#article%20readcomments
[letzter
Zugriff
am
7.12.2010]. 51 Regine Becker-Schmidt: „Die doppelte Vergesellschaftung die doppelte Unterdrückung: Besonderheiten der Frauenforschung in den Sozialwissenschaften“, in: Lilo Unterkircher/Ina Wagner (Hgg.): Die andere Hälfte der Gesellschaft. Österreichischer Soziologentag 1985. Soziologische Befunde zu geschlechtsspezifischen Formen der Lebensbewältigung, Wien 1987, S. 10-25; Barbara Thiessen/Paula-Irene Villa: „Die „Deutsche Mutter“ – ein Auslaufmodell? Überlegungen zu den Codierungen von Mutterschaft als Sozial- und Geschlechterpolitik“, in: José Brunner (Hg.): Tel Aviver Jahrbuch für Deutsche Geschichte 2008, Wallstein, 2008, S. 277-292, S. 287. 52 http://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.muenchen-todesmutter:-vier-mal-amtag-sex.89824ee4-87bc-4ed9-8bcf-125d4348aa1a.html [letzter Zugriff am 9.8.2012].
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Weiter kann man im selben Bericht lesen, dass Frau Schulze ihre Tochter nicht zur Schule bringt – was im Übrigen konträr zu Dokumenten des Aktenwissens steht – und der 18-jährige Sohn bei der Arbeit ist, während sie fernsehen und auch mal „Krimis“ und „Harry Potter“ lesen würde sowie mit ihrem Partner „4 Mal am Tag Sex“ habe. In der Deutungsweise der Fürsorgehandlung der Frieda Schulze wird die Fürsorge der Mutter zu sich selbst dem des Kindes vorangestellt. Dies geschieht vor dem Hintergrund einer Erzählung, in der sexuelle Freizügigkeit der Frau als moralisch verdorben angeprangert und pathologisiert wird. Eine „gute Mutter“, so kann man lernen, stellt die Interessen des Kindes über ihre eigenen Bedürfnisse. So ist sie als Mutter in doppelter Hinsicht gescheitert. Jenseits von dem Scheitern gegenüber ihrem eigenem Kind, das sie zugunsten ihrer Bedürfnisse auf dem Schulweg unversorgt lässt, ist sie auch ihrem Beziehungspartner, dem quasi „angenommenen Kind“, nicht gerecht geworden, so meine Lesart. So wird der Beziehungspartner der Angeklagten infantilisiert: Durch die Mittel der Adressierung „seine Eltern“ im obigen Zitat und die Nennung der Altersangabe, die mit 19 Jahren etwa dem des 18-jährigen Sohnes entspricht, wird des Weiteren die erwachsene Person in der Position des Beziehungspartners der Angeklagten zum Kind „gemacht“. Zum Kind wird der Beziehungspartner auch gemacht durch die Beschreibung des (Sorge)Verhältnisses der Angeklagten zu ihm. So wird die Beziehung der Mutter zum Partner als beschützend gegenüber dessen gewalttätigen Vater charakterisiert, aus der im Verlauf eine sexuelle Beziehung entstanden sei. Die Art und Weise der Berichterstattung suggeriert, dass, wenn die Angeklagte verantwortlich wäre, Frieda Schulze weder mit ihm – im Sinne eines Inzesttabus – sexuelle Kontakte unterhalten noch ihn im Sinne der mütterlichen Sorge von der berufsqualifizierenden Maßnahme abhalten würde, die ihm den sozial gewünschten Erwerbszugang ermöglicht. So ist Frieda Schulze in der Position der „guten Mutter“ abermals gescheitert, da sie sich einen wesentlich jüngeren Mann gesucht hat, der kein gleichwertiger Partner sein kann. Die Anforderung des Selbstständig-Sein-Sollens bezieht sich neben dem Materiellen auch auf personelle Unterstützungsleistungen.53 Frieda Schulzes Biographie wird vor allem in den Medien und Akten zum Moment gescheiterten Mutter-Seins, da sie ihre Kinder „unnötig“ durch Dritte betreuen lässt. So ist ein Indiz für die „überforderte“ Mutter erstens die „Fremdbetreuung“ des Sohnes durch die Verwandten und durch Freunde über einen mehrjährigen Zeitraum und zweitens die Abgabe des Kindes im Hort ohne Nachweis von Erwerbsarbeit. Es
53 Oechsle, S. 109.
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kommt zu einer paradoxen Situation der normativen Anforderungen: Eine Gleichzeitigkeit von 24-Stunden exklusives Mutter-Da-Sein und dem Wunsch, dass die Mutter einer Erwerbsarbeit nachgeht, um für angemessene materielle Verhältnisse zu sorgen.54 Der 18-jährige Sohn von Frieda Schulze wurde als Kleinkind nach der Trennung der Eltern für vier Jahre zu den Verwandten gegeben. Frieda Schulze selbst hätte einen „freundschaftlichen Umgang“ zu ihrem Sohn, wie im Urteil steht, aber kümmerte sich kaum um diesen. Das Verhältnis der gescheiterten Mutter zum Kind ist nach dieser Deutung weniger durch mütterliche Fürsorge als durch Freundschaftlichkeit geprägt. Die Abgabe des Kindes könnte auch positiv gedeutet werden: Aus Sorge um ihren Sohn gab Frieda Schulze ihn zu den Verwandten, da er (zur damaligen Zeit) dort besser aufgehoben war. Die Verantwortlichkeit seitens der Mutter, die Verantwortung im Sinne des Kindeswohls abzugeben, findet als alternative Deutungsweise jedoch keine Berücksichtigung. Zu Ungunsten der Mutter wird im Rahmen einer Zeugenvernehmung in der Akte ein Vernachlässigungsvorwurf bei der Beschreibung des Sorgeumgangs der Mutter zur Tochter in einem „Gespräch unter Männern“ verzeichnet: „Im Bezug auf die Tochter würde ich schon sagen, dass sie sie hin und wieder vernachlässigt hat. Mein Gott, ich bin kein Vater, aber ich habe mir manchmal schon so gedacht, warum muss die Tochter noch nachmittags in einen Hort, wenn die Mutter sowieso die ganze Zeit zuhause ist. Da hätte sie sich ja auch um ihre Tochter kümmern können.“ 55
Vernachlässigung wird definiert über mangelnde Fürsorge der Mutter. Der Mangel bezieht sich auf die fehlende physische Präsenz der Mutter gegenüber dem leiblichen Kind. Die Ersetzbarkeit des mütterlichen Handelns durch Bezugspersonen im Hort scheint eine schlechtere Wahl zu sein. Scheinbar ist der leibliche Körper der Mutter der exklusive Ort des ‚Kümmernsǥ, an dem es dem Kind am besten geht, während ErzieherInnen und Pädagogen und Pädagoginnen einer institutionellen Einrichtung eine schlechtere Alternative darstellt. Darauf verweist der gewählte Begriff Vernachlässigung. Die Möglichkeit der positiven Konnotation eines Hort-Besuches, da ggf. Spielkamerad(inn)en, geregelter Tagesablauf etc. vorhanden sind, gerät nicht in den kulturellen Denkhorizont des Deutenden. Das „wenn die Mutter sowieso die ganze Zeit zuhause ist“ könnte auch als mahnender Hinweis darauf gelesen werden, dass sie, wenn sie das Kind
54 Vgl. Thiessen/Villa, S. 287. 55 Fall 1: Frieda Schulze, Zeugenvernehmung eines Bekannten der Beschuldigten, S. 18.
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schon in die Krippe gibt, die Zeit anders verwenden sollte. Eine angemessenere Zeitverwendung, so lässt sich vermuten, läge in der Erwerbsarbeit. Dass personelle Hilfe negativ gedeutet werden kann, zeigt sich stärker noch an einem Vergleichsfall des erweiterten Suizides, in dem sich eine Frau an unterschiedlichste Institutionen gewendet hat, um Hilfe mit dem „Schreibaby“ zu erhalten. Im psychiatrischen Gutachten einer Psychologin wird unter Rekurs auf ein Telefonat mit der Kinderkrankenschwester festgehalten: „Frau XY [Kinderkrankenschwester] habe Frau Müller dann kurz vor der Entlassung ihre Telefonnummer für eventuell auftretende Probleme gegeben. Schon zwei oder drei Tage später habe Frau XY [Angeklagte] sich gemeldet und am Telefon ,große Notǥ vermittelt und dass [sic!] sie die Dinge ,nicht auf die Reiheǥ bekomme. Das Kind schreie so viel, sie müsse es fast 24 Stunden auf dem Arm tragen.“56
Was es an körperlicher und emotionaler Sorgearbeit benötigt, um 24 Stunden mit einem „Schreikind“ wach zu sein, bleibt seitens der Kinderkrankenschwester unthematisiert, stattdessen (vor)verurteilt sie, so meine Folgerung, dass die Mutter bereits nach so kurzer Zeit um Unterstützung bittet. b) Sorgeverhältnis zum Vater Im Folgenden geht es um die Frage, in welchem (Sorge)Verhältnis die Mutter zum sozialen oder biologischen Vater ihrer Kinder steht. Befragt man die Akten nach den zu Grunde liegenden normativen Vorstellungen von richtiger mütterlicher Lebensform rücken die Sexualanamnese aus dem psychiatrischen Gutachten und Äußerungen sowie Fragestellungen aus den Zeugenvernehmungen ins Feld des Sichtbaren. Die Sexualanamnese beschäftigt sich mit der sexuellen Sozialisation – ein fachliches Experten-Urteil über die Sexualität. Erkenntnisse des Urteils basieren unter anderem auf diese Fragen seitens der Interviewer im Verhör bei der Zeugenvernehmung:
56 Fall 2: Marion Müller, Auszug aus dem psychiatrischen Gutachten. Dabei handelt es sich um Ausführungen der Psychologin über eine ihrerseits getätigte telefonische Befragung der Kinderkrankenschwester, die mit der Beschuldigten beim stationären Aufenthalt wegen der Entbindung ihres Babys in Kontakt stand, S. 51-52.
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„Wie können Sie Frau Schulze in sexueller Hinsicht beschreiben? War sie eher die aktivere, passivere, hat sie von sich aus die Initiative ergriffen, musste man sie zum Verkehr bewegen oder wie war es sonst gewesen?“ „Können Sie an der Anzahl festmachen, wie häufig Sie pro Woche mit Frau Schulze geschlafen haben? „Gab es irgendwelche sexuellen Praktiken, die Frau Schulze bevorzugte? Gab es irgendetwas Außergewöhnliches?“57
Problematisierungsbedürftig scheint all jenes zu sein, das der heterosexuellen Normalbiographie im Sinne einer traditionellen Kernfamilie nicht entspricht. Auffällig, wie auch immer wieder in Zeugenaussagen genannt, ist die nicht monogame Lebensweise. Neben der Thematisierung von wechselnden (unehelichen) sexuellen (Beziehungs-)Partnern, vervollständigen homosexuelle oder andere Begehrensweisen, „überdurchschnittlich häufiger“ Geschlechtsverkehr, „anormale“ sexuelle Praktiken, Trennungen und Scheidungen und Verhütungsweisen sowie Alter der PartnerInnen das Bild der Person Frieda Schulze Selektiv werden in der medialen Berichterstattung Abweichungen von der heterosexuellen Norm in Frieda Schulzes Lebensweise eingewebt. Beispielsweise wird davon berichtet, dass das 1995 getötete Kind ein uneheliches Kind war. Verschwiegen wird, dass sie zu diesem Zeitpunkt nicht geschieden war, aber schon längst vom Ehemann getrennt lebte. Auch die Verhütungsfrage wird als Frauenfrage behandelt. Verantwortlich für ungewünschte Kinder, so scheint es, ist die Frau. Frieda Schulze wird bereits implizit im Rahmen der Akten und explizit in den Medien und Foren als die für Verhütung Zuständige adressiert. In der Zeugenvernehmung mit einem ExPartner heißt es seitens des Interviewers: „Hat Frau Schulze Ihnen irgendwann einmal gesagt, dass sie vergessen habe, die Pille regelmäßig zu nehmen und sie deshalb beim Geschlechtsverkehr aufpassen müssten?“58 In der Medienreaktion taucht dieses scheinbar objektive neutrale Wissen der Gerichtsakten explizit auf, um Frieda Schulze als Lügnerin hinzustellen: „Mit der Verhütung habe sie es nicht genau genommen, sagt die Frau, die zeitweise 117 Kilogramm auf die Waage brachte. Ihren Partnern habe sie erzählt, sie nähme die Pille.“59 Der Partner wird durch die „Lüge“ zum Opfer der Frau gemacht, der als Betrogener die
57 Fall 1: Frieda Schulze, Fragestellungen seitens des Vernehmenden bei der Zeugenbefragung eines Partners der Beschuldigten. 58 Ebda. 59 http://www.tz-online.de/aktuelles/muenchen/lebensluegen-todesmutter-tz600151.html vom 21.10.2010 [letzter Zugriff am 12.9.2012].
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Bühne betritt. Auch in den Foren zu Frieda Schulze und anderen angeklagten Frauen wird sie in Sachen Familienplanung adressiert, während die Position des Mannes dabei unthematisiert bleibt. Zur richtigen Lebensform gehört, wie der Fall Frieda Schulze zeigt, auch die richtige Auswahl des (väterlichen) Partners. Von den Medien als verwerflich dargestellt und in den Akten zumindest als erwähnenswert befunden ist es, einen 20 Jahre jüngeren Partner – der damit etwa im Alter des eigenen Sohnes ist – als möglichen sozialen Vater für die Kinder zu haben. Dieser moralische Maßstab gilt, so zumindest der Eindruck, für Männer und Väter nicht gleichermaßen.60 Die Partnerwahl Prominenter, dies sei hier erlaubt, informiert darüber. Joschka Fischer und Nicola Leske: 22 Jahre Differenz. Franz Müntefering und Michelle Schumann: 40-jährige Differenz. Aber auch Lothar Matthäus, Woody Allen mit seiner 36 Jahre jüngeren Adoptivtochter Soon-yi oder Heiner Lauterbach und Viktoria Skaf, um bloß einige zu nennen. Zu jung kann nicht nur der ausgewählte Partner sein, sondern auch die Mutter (und die Eltern) selbst. Darauf verweist die Bezeichnung „junge Mutter“61 als ein Diskursfragment im Fall Frieda Schulze, was mit 39 Jahren absurd erscheint. Inwiefern das Alter über gescheiterte Mutterschaft Auskunft gibt, zeigt ein Vergleichsfall, in dem eine minderjährige Mutter u.a. angeklagt war wegen versuchter Tötung des eigenen Kindes. So finden sich in den Akten folgende Sequenzen: „Es gab dort [im Krankenhaus] die Sorge, dass das Kind bei der Mutter nicht richtig versorgt werden kann, weil die Mutter halt noch zu jung ist. Die wollten halt nicht, dass die Mutter schon mit dem Kind das Krankenhaus verlässt. Die Mutter ist aber dann auf eigene Verantwortung doch gegangen.“62 „Auch als Frau Mai [Vormundschaft bzw. gesetzliche Vertreterin des Neugeborenen vom Stadtjugendamt] signalisierte, dass eventuelle Überforderung mit dem Baby für so junge Eltern nichts ungewöhnliches ist, stritten sie ab, Probleme mit dem Kind zu haben und zeigten sich in keiner Weise zugänglich.“63
60 Interessant wäre an dieser Stelle die Frage, ob der „Altersunterschiedsdiskurs“ auch in Fällen auftaucht, in denen die Väter angeklagt sind, ihre Kinder getötet zu haben. 61 http://www.sueddeutsche.de/muenchen/anklage-erhoben-mutter-soll-zwei-babysgetoetet-haben-1.141861 vom 23.11.2009 [letzter Zugriff am 5.9.2012]. 62 Fall 3: Susanne Schröder, der betreuende Oberarzt äußert sich zur Beschuldigten in der Zeugenvernehmung, S. 6. 63 Fall 3: Susanne Schröder, Aktenvermerk, nachträgliche Protokollierung der Zeugenbefragung von dem Amtsvormund des Opfers durch das Polizeipräsidium, S. 1.
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Junge Mütter scheinen in der Argumentationslinie grundsätzlich eher ein Risiko gegenüber ihrem Kind darzustellen als andere Mütter. Dabei wird, wie in der zweiten Sequenz deutlich wird, der Handlungsrahmen der jungen Mutter (und Eltern) eng gezogen. Zugänglich erscheint die Mutter aus Sicht der Vormundschaft nur dann zu sein, wenn sie einer Überforderung aufgrund ihres Alters zustimmt. Stimmt sie einer Überforderung aus diesem Grund nicht zu, ist sie unzugänglich.64 Daneben wird deutlich, dass das Problem in der Deutungsweise individualisiert wird. Die Mutter ist zu früh Mutter geworden. Strukturelle Eingebundenheit, die insbesondere zur starken Belastung junger (und aller anderen) Mütter führen kann, bleibt unberücksichtigt. Eine „wertschätzende“ Beurteilung für den biographischen Lebensweg früher Mutterschaft als „eine unabhängige, eigenständige und identitätsbildende Entscheidung zur aktiven Lebensveränderung und –verbesserung“ bleibt gänzlich aus.65 Beim familiären Arrangement der Mutter-Vater-Kind-Beziehung scheint es, als ob die Mutter das Sorgeverhältnis des Vaters zum Kind verantwortet. Verantwortet meint, dass sie diejenige ist oder sein kann, die über das Maß des (nicht) richtigen väterlichen Engagements entscheidet. So ist es ein Verkehrsunfall, der Frieda Schulze von der körperlichen Sorgearbeit gegenüber dem Kind entbindet und den Vater in die „Versorgung“ einbezieht. In einem anderen Fall ist es ebenfalls die Mutter, die körperlich nicht in der Lage ist, der Sorgearbeit nachzugehen, und woraufhin sich dann erst eine Vater-Kind-Beziehung einstellt. So steht im psychiatrischen Gutachten geschrieben, dass sie nach ihrem Krankenhausaufenthalt sagt: „In ihrer Abwesenheit hätten ihr Mann und Ida [Neugeborenes] sich sehr gut aneinander gewöhnt.“ In der Nachrede erscheint die Mutter haftbar für das vorige Fehlen des väterlichen Engagements. Die Kinderkrankenschwester meint nach telefonischer Auskunft der Psychologin, er hätte nach dem Unfall, nämlich dem Sprung der Mutter mit dem Kind vom Balkon, viel besser die Position des Sorgenden eingenommen und es wäre eine Fehleinschätzung seiner Frau, dass nur Mütter das könnten und die Kinder dort am „bravsten“ wären.66 So steht im psychiatrischen Gutachten in diesem Zusammenhang geschrieben: „Nach dem Sprung habe Frau XY [Kinderkrankenschwester] Herrn Müller [Ehemann der Angeklagten] eine Woche lang stationär in der Versorgung von XY [Neugeborenen] „trainiert“ und ihn später auch bei Hausbesuchen wei-
64 Spies, S. 285. 65 Ebda., S. 286. 66 Fall 2: Marion Müller, ebda., S. 53.
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ter beraten.“67 Folglich hat sich in dieser Deutungsweise die Mutter in der Sorgearbeit nicht (mehr) unersetzlich zu fühlen.68 In den Forenreaktionen auf die Berichterstattung zum Fall Frieda Schulze wird weder zur Quantität noch zur Qualität des konkreten Sorgeverhältnisses vom Vater zum Kind geschrieben. Die Berichterstattung selbst erwähnt jenseits vom bekannten oder unbekannten, ehelichen oder unehelichen, sozialen oder biologischen Vater sowie seinem Alter und seiner Ernährungsposition auch nichts zum Sorgeverhältnis. In den Akten des Falles Frieda Schulze allerdings findet man eine Variationsbreite unterschiedlicher Vater-Sorge-Figuren: Bezogen auf ein und den selben sowie über die sozialen oder biologischen Väter hinweg changieren die Vaterfiguren in den Selbst- und Fremddeutungen vom fürsorgenden Vater, der mehr Zeit für die Kinder aufbringt als die Mutter und sein Kind stark „verwöhnt“; über die Figur des väterlichen Zuerziehers, der am Wochenende und an besonderen Tage die Familie unterstützt; ergänzt durch den autoritären-patriarchalen (Bedrohungs-)Vater, der entweder von der Mutter zur Maßregelung des Kindes als Drohung herangezogen wird oder als Bedrohung der Mutter durch gewalttätige Übergriffe erlebt wird; bis hin zu dem abwesenden oder unbekannten Vater.69 Zugrundeliegendes normatives Muster der Vaterfiguren ist – soweit es sichtbar wird – die Vorstellung, dass ein Vater das Recht hat, sich um die Kinder zu sorgen, die Mutter aber die Pflicht. Jenseits von Forenkommentaren, die explizit das Recht einfordern, vor allem wenn die Mutter es nicht kann, Sorgearbeit zu übernehmen, ist die Interpretation von Recht statt Pflicht der männlichen Sorgearbeit naheliegend, da im Fall Frieda Schulze der Vater aus einer Zuschauerposition über die familiären Ereignisse berichtet. So äußert sich die Position darin, dass der Vater, der sich selbst als „fürsorglicher Vater“ beschreibt, über die widrigen sozialen Rahmenbedingungen seiner Tochter resümiert, ohne in den Erzählungen als (Mit- oder Haupt-) Sorge tragender Vater zu agieren. Der Vater sorgt sich über die sozialen Verhältnisse, die er „missliche Umstände“70 nennt, in denen seine Tochter aufwachsen muss, die er selbst zu diesem Zeitpunkt alle zwei bis drei Wochen sieht, wie im Urteil zu entnehmen ist. Warum er dann nicht regelmäßig mit „anpackt“, scheint als Option gar nicht angelegt zu sein, obwohl es ihm, wie er sagt, im Herzen weh tut, seine Tochter so
67 Ebda. 68 Badinter, S. 254. 69 Fall 1: Frieda Schulze, Zeugen- und Beschuldigtenvernehmungen der gesamten Akte. 70 Fall 1: Frieda Schulze, Zeugenvernehmung eines Vaters der Kinder, S. 4.
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aufwachsen zu sehen.71 Das Problem liegt seiner Ansicht nach einzig bei der Mutter, die ihren zugeschriebenen Aufgaben nicht gerecht wird, wie u.a. an diesem Kommentar deutlich wird. „[...] die Tochter [ist] nicht immer mit einem schönen Gewand, also nicht immer frisch gewaschener Kleidung, [...] [rumgelaufen]. Das ist mir aufgefallen. Ihre Haare sind auch des Öfteren verfilzt gewesen. An der nötigen Körperhygiene ist da wohl auch nicht so geachtet worden.“72
Und zum Wohnort der Tochter heißt es: „In der letzten Zeit habe ich schon gar keine Lust mehr gehabt [...] [dort zu sein], da die Wohnung der Alexandra aus meiner Sicht immer mehr herunterkommt.“73 Im Sinne eines Zuschauers, in dem er als Zuerzieher auftritt, berichtet er über die Verhältnisse seiner Tochter – die individuelle Eingebundenheit bleibt dabei so gut wie unberührt. Auch, wie in der zweiten Sequenz, seine eigenen Interessen, nicht mehr in die Wohnung gehen zu wollen, über die des Kindes wegen der widrigen Umstände zu stellen, ist eine Erzählweise, die wahrscheinlich nicht für die Mutter gleichermaßen gesellschaftlich legitimiert ist. Dabei wird innerhalb der Aussagen über die Beschuldigte ein Auseinanderklaffen von sprachlicher und empirisch beobachtbarer Realität in den Erzählweisen sichtbar. Wie aus den Aktenunterlagen hervorgeht, scheint es einen Streit über die unzuverlässige väterliche Sorgearbeit gegeben zu haben. So sei der Vater gedeckt durch eine vorgetäuschte Krankheit lieber Rennrad fahren gegangen als seine Tochter zu betreuen.74 Auch in einem Vergleichsfall des erweiterten Suizides sind in den Deutungsweisen diskursive und soziale Praxis nicht deckungsgleich: Der Vater beschreibt sich auch hier in der „fürsorglichen Ernährerfunktion“, aber wird im sozialen Umfeld als wenig unterstützend wahrgenommen. Darüber informiert folgendes Zitat aus dem psychiatrischen Gutachten, welches aus einer telefonischen Nachfrage von der Verfasserin des Gutachtens mit einer Dienstleistenden einer psychologischen Beratungspraxis über die Angeklagte entstanden sei: „Frau Müller habe angespannt, aufgeregt, gehetzt, leicht panisch gewirkt, sei sprunghaftassoziativ und in höchstem Maß beunruhigt wegen ihrer Tochter gewesen [...] Der Vater
71 Ebda. 72 Ebda., S. 5. 73 Ebda., S. 4. 74 Ebda., Jugendhilfe.
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habe sich weit entfernt von seiner Frau hingesetzt und habe nicht unterstützend gewirkt, er habe einen eher hilflosen Eindruck gemacht. Frau Müller habe erzählt [...], sie verspreche sich Unterstützung von der Familie.“75
c) Sorgeverhältnis zum Kind Die „herzlose Mutter“ heißt es etwa in den Medien über Frieda Schulze. Und ein Foren-User spricht der Angeklagten den Titel Mutter ganz ab: „Das ist doch keine Mutter, daß (sic!) ist ein weibliches Individium“ (sic!).76 Diese (vor)verurteilenden Kommentare, die Frieda Schulze für ihr, wie es heißt, „egoistisch“ motiviertes Handeln zur Rechenschaft ziehen und individuell haftbar machen, gipfeln in phantasmatischen Sicherungs- und Kontrollmaßnahmen zum Umgang mit Kindstöterinnen: Von Zwangssterilisation, Haft und Therapie ist die Rede. Unter gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen seien alternative Möglichkeiten, das Kind abzugeben vorhanden und Kindstötung nicht nötig: Verhütungsmöglichkeiten, Abtreibung, Babyklappe und Adoption hätten zur Wahl gestanden. Durchkreuzt werden die Kommentare von der Meinung, dass es sich um eine „psychisch schwerst Erkrankte“ handelt, die für ihr Handeln (nicht) zur Verantwortung gezogen werden kann.77 Auch in den Medien wird sie u.a. zur „eiskalten“ Kindstöterin stilisiert, die ihre Neugeborenen „jämmerlich“ hat sterben lassen.78 Frieda Schulze wird in einigen der Medien tendenziell als mordende Monstermutter beschrieben, wobei vereinzelt schwere Schicksalsschläge, die zur Überforderung führen, und psychische Erkrankung als Motive für einen begrenzten Verständnisraum der Angeklagten führen können.79 Die Angeklagte ist ihrer Position als Sorge tragende gegenüber ihrem Kind nicht gerecht geworden. Einer Mutter, deren Tat als „gezielt und geplant“ bei „Lethargie und Gleichgültigkeit
75 Fall 2: Marion Müller, Psychiatrisches Gutachten über die Beschuldigte, S. 57. 76 http://www.augsburger-allgemeine.de/community/forum/bayern-und-...79271-Kindes toetung-Mutter-schweigt-vor Gericht-id10279271.html [Zugriff am 30.07.2012]. 77 http://www.sueddeutsche.de/muenchen/zehn-jahre-haft-fuer-mutter-das-kind-war-ihrletztlich-gleichgültig-1.73870 [Zugriff am 30.07.2012]. 78 http://www.tz-online.de/aktuelles/muenchen/tz-liess-zwei-kinder-sterben-594541.html vom 17.1.2010 [letzter Zugriff am 6.9.2012]. 79 Uta Klein: „,Schmallippig und eiskaltǥ: Der Fall Monika Weimar“, in: Petra Henschel/Uta Klein (Hgg.): Hexenjagd. Kriminalität und Geschlecht in den Medien, Frankfurt a.M. 1998, S. 46.
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des Kindes gegenüber“ juristisch verurteilt wird, wird nicht selten das soziale Etikett Mutter in den Medien und Foren abgesprochen. Das sozial Ungeheuerliche an der Tat, betrachtet man den Fall Alexandra im Kontext mit anderen versuchten oder tatsächlichen Kindstötungen, ist nicht bloß der Gewaltakt gegenüber dem Kind selbst, sondern dass die Frau den weiblich zugeschriebenen Geschlechtscharakter-Kodierungen einer fürsorglichen Mutter mit Liebe nicht gerecht wird. Sie entspricht nicht der sozial vorgesehenen Position der Mutter und ist damit nicht berechtigt den Titel Mutter zu tragen.80 Stärker noch als an diesem Fall wird mit Blick auf Vergleichsfälle deutlich: Eine Mutter oder auch ein Vater, deren Motive bei der Tat im Dunkeln bleiben und die sonst als liebevolle und sorgende Mutter oder Vater selbst- oder fremdgedeutet werden, können durchaus Verständnis hervorrufen, wie an dem Fall Manuel Richard deutlich wird, der 2008 für schuldig befunden wurde, einen seiner Zwillinge getötet zu haben und zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde.81 Über die Kritik am Rechtssystem und die Parteinahme mit dem Angeklagten wird in der Berichterstattung Verständnis für die Tat des Vaters ablesbar. So wird Manuel Richard als „fleißiger und unbescholtener Mann“ beschrieben, der „durch das nächtliche Geschrei die Nerven verloren hatte und nun ungerecht hart bestraft wurde. Als Kontrastfolie dient ein Fall, in dem Eltern aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurden, die ihre Kinder oft misshandelt hatten. Ein annäherndes Verständnis für den weiblichen Gewaltakt bei Müttern findet sich in diesem Forenkommentar von „Julia“: „Also ich komme auch oft, sehr oft an die Grenzen meiner Belastbarkeit – ich habe zwei gesunde Kinder, zwei sehr sture Kinder und bin auch psychisch einigermaßen belastbar. Und trotzdem kann ich mir sehr gut vorstellen wie so ein Akt der Kindstötung vor sich geht – dass die betreffende Mutter wirklich und wahrhaftig die Kontrolle über sich verliert. [...] Und dann passiert das Unglaubliche.“82
Auch andere UserInnen wie „workingmum“ des Forums berichten – ausgehend von ihren eigenen Erfahrungen – von möglichen, erahnbaren und verstehbaren Grenzverläufen, die zum Verlust der gewalt(tät)igen Selbstkontrolle unter bestimmten harten Bedingungen der mütterlichen Realität führen können. Dabei
80 Klein 1995, S. 51. 81 http://www.tz-online.de/aktuelles/muenchen/zwei-tote-babys---zwei-urteile64451.html vom 9.7.2008 [letzter Zugriff am 6.9.2012]. 82 http://amidelanuit.wordpress.com/2007/12/27/kindstötung-eine-ch vom 27.12.2007 [Zugriff am 4.8.2008].
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scheint, wie in der Sequenz deutlich wird, die Selbstverortung als „gute Mutter“ wesentlich, was an dem „Und trotzdem kann ich mir sehr gut vorstellen, wie so ein Akt der Kindstötung vor sich geht [...]“ und das „Unglaubliche“ des Grenzübertrittes, nämlich der tödlich verlaufenden Gewalt am eigenen Kind geschieht. Zurück zu Deutungsweisen des Falles Frieda Schulze: Auffällig ist, dass über die Geschlechterwissensformen hinweg bei der Deutung ihrer Person eine gewalttätige Mutter niemals zugleich eine liebende Mutter verkörpern kann. Aus den Zeugenvernehmungen unterschiedlicher Personen aus dem sozialen Umfeld heißt es etwa: „Das passte irgendwie gar nicht zu Frieda Schulze, weil ich sie bis dahin kennen gelernt habe als kinderliebe Mutter. [...] Sie machte den Eindruck einer sorgenvollen Mutter.“ „Die Erziehung war super der Umgang mit ihm [Sohn] von der Frau Schulze aus war super und herzlich. Da hat es an nichts gefehlt. Deswegen konnte ich mir das nicht vorstellen. [...] Ich habe damals keine Probleme gesehen bei der Erziehung von [dem Sohn]. Sie hat das im Griff gehabt.“83
Auch im Vergleichsfall des erweiterten Suizides der Mutter mit dem Kind heißt es seitens des Ehemannes, der zuvor die Mutter als sorgende und liebende (Über)Mutter beschrieben hat und sich die Tat nicht vorstellen kann, im Verhör: „Das Problem ist aber, dass ich dies heute sehe, aber Marion sich immer gut verstellt hat, sie ist eine gute Schauspielerin und hat mir diese Gedanken [sich und dem Sohn das Leben nehmen zu wollen] nie richtig offenbart, bis auf das eine Mal, als sie scherzhaft darüber sprach.“84
Bei einer „guten Mutter“ scheinen ambivalente Gefühle, die sich in gewaltsamen Handlungen dem Kind gegenüber ausdrücken, undenkbar. Eine „gute Mutter“ liebt und eine „schlechte Mutter“ ist gewalttätig. Mütterliche Liebe scheint im Fall Frieda Schulze qua Natur im weiblichen Geschlecht als ein bindendes Gefühl zum Kind eingeschrieben zu sein, die sich durch Exklusivität und Höchstrelevanz gegenüber anderen Gefühlen auszeichnet. Basierend auf psychologischer Literatur wird im psychiatrischen Gutachten die Haltung vertreten, dass die (liebende) Beziehung zwischen ungeborenem Kind im Körper der Mutter und der Mutter selbst störanfällig ist, was fatale Folgen für das Kind haben kann. In den Zeugenaussagen scheint Liebe Selbst-Plausibilisierungscharakter zu besitzen,
83 Fall 1: Frieda Schulze, Zeugenvernehmung einer Bekannten der Beschuldigten, S. 5. 84 Fall 2: Marion Müller, Zeugenvernehmung des Ehemannes, S. 12.
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der keiner weiteren Ausführungen bedarf, da es anscheinend ein kollektives Wissen über die Bedeutung gibt. Es ist immer schon klar, was mit den Begriffen „gute Mutter“ als liebende und sorgende Person gemeint ist. Im Vergleichsfall85 gibt es mehr Hinweise diesbezüglich. Im psychiatrischen Gutachten wird die Ambivalenz problematisiert zwischen dem Wunsch nach Nähe hinsichtlich einer engen Mutter-Kind-Bindung und einer Rückzugstendenz, die sich in einem „Alleinsein und Ruhe“-Wunsch ausdrückt. Der Wunsch nach Distanz zum Kind scheint nicht für eine „gute Mutter“ zu sprechen. Liebe als ein natürlich vorhandenes intaktes Gefühlsband hoher Intensität, welches in familiärer Fürsorgearbeit der Mutter seinen Ausdruck findet, wird fallübergreifend implizit beschrieben. So äußert sich die Liebe, was das auch für den Deutenden sein mag, im Fall Frieda Schulze in der Emotionsarbeit wie („herzlich sein“) und in der Organisationsarbeit („alles im Griff haben“ beispielsweise). Felder des Sorgens sind mit Blick auf die Medien und Akten vor allem der Haushalt und die Versorgung der Kinder (in die Schule bringen, pflegen, waschen und „schön“ anziehen, ihnen etwas bieten). Dabei werden diese Aufgaben im Fall Frieda Schulze vor allem der Angeklagten zugeschrieben. Die Ausbuchstabierung männlicher Sorgearbeit bleibt weitestgehend unberücksichtigt in den Erzählungen aller. Sorgearbeit scheint damit vor allem eine weibliche Aufgabe(nzuweisung) zu sein, wie sich an Deutungsweisen der Hausarbeit zeigt. Hausarbeit wird indirekt seitens der Befragungsrhetorik im Verhör und seitens eines Bekannten, der einen Lebensabschnittsgefährten zitiert, obwohl es zum Teil eine wohngemeinschaftsähnliche Lebensform gegeben habe, ihr zugeschrieben. So die Frage seitens des Interviewenden im Verhör von Zeugen: „Wie war es z.B. mit dem Kochen, hat sich Frau Schulze darum gekümmert?“ „Wie sah es denn im Haushalt aus? Hatte sie diesen im Griff?“86 Und ein Bekannter: „Das war in der Form, dass er sich halt mal aufgeregt hat darüber, dass sie im Hauhalt nichts macht und dass sie mal etwas mehr tun könnte.“87 Fragen nach alternativen Personen, die Sorgearbeit übernehmen wie zum Beispiel der soziale oder biologische Vater oder andere MitbewohnerInnen des quasi WG-Lebens, welche als gewählte Lebensform in den Zeugenaussagen erwähnt wird, werden oft vergebens gesucht.
85 Fall 2: Marion Müller. 86 Fall 1: Frieda Schulze, Der Verhörende in der Zeugenbefragung des Partners der Beschuldigten und eines Vaters ihrer Kinder, S. 5. 87 Fall 1: Frieda Schulze, Zeugenvernehmung eines Bekannten, S. 22.
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S CHLUSSBETRACHTUNG : G ESCHLECHTER - UND F AMILIENWISSEN – ZWISCHEN P ERSISTENZ UND W ANDEL Am Fall Frieda Schulze bin ich ausgehend von den um 1900 etablierten traditionellen Geschlechtscharakteren der Frage nachgegangen, auf welchem zeitgenössischen (neuen?) Geschlechter- und Familienwissen die Konstruktion der „guten Mutter“ im Kindstötungsdiskurs basiert. Mutterschaft wurde betrachtet als diskursive Arena des Bedeutungskampfes um Sorgeverhältnisse. Basierend auf mit Irene Döllings und Angelika Wetterers Geschlechterwissensrahmen wurde das qualitativ unterschiedliche, gleichwertige und vom sozialen Feld abhängige Geschlechterwissen der Medien, Experten und Leute im Verhältnis zueinander bestimmt. Am Körper der Frieda Schulze als Gegenstand des Geschlechterwissens zeigten sich unterschiedlichste normative Verhandlungen von Mutterschaft. Gemeinsamkeit über die Wissensformen hinweg ist die Vorstellung, dass die Mutter im Foucaultschen Sinne als „Unternehmerin ihrer Selbst“ Hauptverantwortliche für die private Sphäre der Haus-, Pflege- und Erziehungsarbeiten ist, während der Zuständigkeitsbereich des Vaters eher in der öffentliche Sphäre der Erwerbsarbeit angesiedelt ist. Die Bandbreite der „guten Mutter“-Figuren in den Deutungsmustern ist wesentlich enger gezogen als die der „guten Väter“Figuren. So ist beispielsweise im Fall Frieda Schulze eine Zuerzieherin unvorstellbar, die ihre soziale Mutterschaft über einige Jahre ablegt und „bloß“ episodenhaft als Sorgetragende für ihr Kind auftritt. Für einen guten Vater ist die Zuerzieher-Vaterfigur aber ebenso eine soziale Positionsoption, wie etwa ein fürsorglich-ernährender Vater zu sein. Grenzübertritte der geschlechtlich kodierten Sphären sind (un)möglich, erwünscht oder gewollt. Die Selbstbezeichnung einer Foren-Userin mit „working mum“ lässt dies ebenso beobachten, wie die Hinweise, dass eine Alleinerziehende für materielle Sicherheit ohne Hilfe durch Dritte sorgen können sollte, wie im Fall Frieda Schulze aufgezeigt. Medien berichten am stärksten vor dem Hintergrund des traditionellen Geschlechterbildes. Eine Heteronormativitätsperspektive dient als Normalitätsfolie vieler Berichterstattungen über Frieda Schulze. Besonders die Dramatisierung von sexueller Untreue und wechselnden Partnerschaften liest sich als Verweis darauf. Dies ist vor dem Hintergrund einer zunehmenden Pluralisierung der Lebensformen seit den 1960er und 70er Jahren erstaunlich. Die Stellung der modernen Normalfamilie – Mutter, Vater und eigene Kind(er) – verliert an Bedeutung, da alternative Lebensformen wie Regenbogenfamilien, Patchworkfamilien, Wohn-
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gemeinschaften, Alleinerziehendenhaushalte, kinderlose Ehen oder polyamore Familien als Wahlmöglichkeiten erscheinen. Doch auch das Geschlechterwissen der Akten – Experten wie auch Laien mit Expertise –, die noch stärker aufgrund des sozialen Feldes angehalten sind über neutrales und objektives Geschlechterwissen zu verfügen, rufen in ihren Deutungsweisen traditionelles Geschlechterwissen auf. Die Problematisierungen von Sexualität und Begehren, die nicht der heterosexuellen Norm entsprechen, in Verhören seitens des Interviewenden und Interviewten beispielsweise haben darauf verwiesen. Dabei sind die Geschlechterwissensformen aufeinander angewiesen und auch anschlussfähig. So greifen Foren-User-Kommentare etwa selektiv unterschiedlichste Diskursfragmente der medialen Berichterstattung über Frieda Schulze auf. Beobachtbar ist eine besondere Ungleichzeitigkeit: Nicht nur werden implizit angelegte Diskursfragmente der Medien herausgegriffen und Vorstellung von Weiblichkeit und Mütterlichkeit tradiert, sondern auch kritisch angeeignet. So findet sich ein Unterlaufen jener Akte der Retraditionalisierung von Geschlecht(erverhältnissen) von Foren-Userinnen. Mutterschaft hinsichtlich des Sorgearbeitsmanagements wird dadurch politisiert, dass Überforderung als kollektiv geteilte Erfahrungen des Mutter-Seins beschrieben wird. Durch die EntIndividualisierung der Tat der Kindstöterin als Einzelfallschicksal wird die Tat zum gesellschaftlichen Strukturproblem, das alle angeht. Vor allem aber Mütter und Väter gleichermaßen. So zeigt sich an der Person Frieda Schulze, dass wann, wer und wie eine „gute Mutter“ ist in Abhängigkeit von der Sprecherposition des sozialen Feldes und deren Bewertungsmaßstäben steht. Alter, Sexualität, Begehren und sozialmaterielle Lage sind in dem Fall wesentliche Kategorien sozialer Differenzierung, entlang derer sich Ungleichheiten abzeichnen, die das Soziale organisieren und strukturieren. Ausblickend gilt es zu fragen, welche weiteren (Ungleichheits)Kategorien von Bedeutung sind und inwiefern diese sozial-rechtlich handlungsrelevant werden. Welche Konsequenzen etwa hat das Wissen über homosexuelle Begehrensweise oder unehelichen Geschlechtsverkehr im Fall der Tatbemessung einer Mutter oder auch eines Vaters? Was heißt es, wenn der Blick in Medien und Foren weniger stark auf die soziale Lebenslage und die Bedingungen des Mutterseins gerichtet wird als auf die psychische Verfasstheit? Was bedeutet es für die Praxis des Eltern-Seins, wenn Psychologen von einem „natürlich“ engen Verhältnis der Mutter zum Kind ausgehen und den Vater gänzlich unthematisiert lassen?
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Diese Fragen zeigen auf, dass Mutterschaft ein sich wandelnder, machtdurchdrungener Ort des Herstellens ist, an dem Entscheidungen über die Strukturierung des Sozialen getroffen werden. Mutterschaft ist ein Begriff, den es im Butlerschen Sinne anzueignen gilt, in dem tradierte Geschlechterzuschreibungen infrage gestellt werden, um „neue“ Definitionen eines lebbaren Eltern-Seins zu formulieren in Anbetracht der veränderten sozio-strukturellen Bedingungen, die zu paradoxen Anforderungen des Einzelnen beim Herstellen von Mutterschaft führen.88
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88 Für kluge Anmerkungen, die Eingang in den Text gefunden haben, danke ich Nadine Sanitter und Zara Pfeiffer sowie Felix Krämer. Auch danke ich für Korrekturarbeiten Silvan Pollozek.
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Abspann: „Die zarte Hand des Todes. Wenn Frauen morden…“1 P ETER H IESS /C HRISTIAN L UNZER
„Die Frau ist das Wesen, das den größten Schatten und das größte Licht in unsere Träume wirft.“ [Charles Baudelaire]
Frauen morden selten, aber effektiv; seltener und effektiver jedenfalls als ihre männlichen Kollegen. Die Statistik ist eindeutig: Nur zehn Prozent aller Gewaltverbrechen – diese Zahl ist seit vielen Jahrzehnten konstant – haben weibliche Urheber. Bei erfolgreich durchgeführten Morden liegt der Frauenanteil jedoch mindestens doppelt so hoch. Selbst die nüchterne Polizeidokumentation muss zugeben: „Wenn sich Frauen zu einer solchen Tat entschließen oder hinreißen lassen, verwenden sie in der Regel wirksame und zum Ziel führende Mittel, handeln aber nicht nur symbolisch oder demonstrativ.“
Wir danken den Autoren ganz herzlich für die freundliche Genehmigung des Wiederabdrucks dieses „Vorwortes“ aus Die zarte Hand des Todes. Wenn Frauen morden… (Wien 2002). Das Hörbuch (ungekürzte Lesung mit einer Titelmusik, gesprochen von Claus Vester) ist beim Verlag Steinbach Sprechende Bücher erhältlich. Drei weitere True-Crime-Bücher
(Jahrhundertmorde,
Mord-Express,
Mordschwestern)
der
Autoren erscheinen im Herbst 2013 als E-Books im Verlag EVOLVER BOOKS (www.evolver-books.at).
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Dass weibliche Kriminalität ein faszinierendes Thema ist und immer war, bestätigen Mythen und Sagen aller Völker, Berichte in modernen Massenmedien und die große Zahl mehr oder weniger wissenschaftlicher Arbeiten und Untersuchungen, die ihr seit den Anfängen der Kriminalistik gewidmet wurden. Erstmals wurde dieses Problem im späten neunzehnten Jahrhundert virulent, was zweifellos mit dem damaligen Frauenbild zusammenhing. Die bürgerliche Welt reagierte eben mit besonderem Schrecken, wenn eine Frau aus dem System Kinder-Küche-Kirche auszubrechen versuchte und zu ihrer Befreiung Küchengeräte wie Messer oder Hacke einsetzte bzw. am heimischen Herd Gift zubereitete, um sich so des Gatten oder gleich der ganzen Familie zu entledigen. Buchtitel wie Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte (Cesare Lombroso & G. Ferrero, 1894) oder Das Weib als Sexualverbrecherin (Erich Wulffen, 1923) waren daher von vornherein bestsellerverdächtig. Noch heute lohnt es sich durchaus, einige der darin verbreiteten Erkenntnisse zu zitieren, nicht nur, um sich über das Rauschen der Vollbärte zu amüsieren, sondern wegen der verblüffenden Tatsache, dass man vielen dieser Thesen auch im Jahr 2002 – und keineswegs nur in den Spalten der Boulevardpresse – begegnet. Prinzipiell definieren die Herren Wissenschaftler die Frau vom Manne ausgehend, als seinen natürlichen Gegensatz, und ebenso natürlich steht im Zentrum all ihrer Überlegungen die große, rätselhafte Unbekannte, die weibliche Sexualität. Diese muss klarerweise völlig anders sein als die des Mannes. Wie man sich das vorzustellen hat, dafür gab Paolo Mantegazzas Physiologie des Weibes 1893 die Leitlinie: „Die geschlechtliche Erregung beim Mann ist immer geiler, und zeigt sich in schmerzhafter Spannung der Testikel und der Samenbläschen oder in krankhaft andauerndem Priapismus. … Das normale Weib liebt es, gefeiert und umworben zu werden. Man weiß, wie viel Mühe aufgeboten, wie viele Liebkosungen verschwendet werden müssen, wenn ein Weib mit Vergnügen den Wünschen des Mannes nachgeben und seine Lustgefühle teilen soll.“ (Ja, er hat tatsächlich „verschwenden“ geschrieben.) Dieser Passivität und mangelnden sexuellen Empfindung muss eine insgesamt niedrigere Sensibilität entsprechen. Daraus geht zwingend hervor, dass auch die Schmerzempfindlichkeit bei der Frau geringer zu sein hat – warum sonst würde sie sich immer wieder zum Geschlechtsverkehr bereit finden, dem doch beschwerliche Schwangerschaft und Geburt folgen könnten? Ergo ist auch ihre Bereitschaft, Schmerzen zuzufügen, viel größer. Kleiner ist nur ihre Intelligenz. Denn „im ganzen Tierreich steht diese im umgekehrten Verhältnis zur Fruchtbarkeit, und nur der Mann, am Fortpflanzungsgeschäft peripherer beteiligt als die Frau, hat einfach eine höhere Entwicklungsmöglichkeit“, wie Mantegazza schrieb. Weiblichen Wesen fehlt aus diesem
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biologischen Grunde die Fähigkeit zum abstrakten Denken und daher auch das Schuld- und Gerechtigkeitsgefühl. Sie lügen leichter und besser. Ihr Mutterschaftsinstinkt zwingt sie zu rücksichtslos egoistischem Tun für sich und ihre Brut, daher neigt das Weib zu Geiz und Habsucht. Ihre sexuelle Passivität entspringt ihrer Eitelkeit – was man schon daran erkennt, dass sie mit Hilfe von Putz und Toiletten alles unternimmt, um den Mann zur Fortpflanzung zu reizen. Und nur beide im Verein halten ihre naturgegebene, basiskriminelle Veranlagung im Zaum. Daher gilt: Wehe, wenn sie losgelassen. Nicht einmal der aggressive Lustmord blieb männliche Domäne. Da die Sexualität der Frau definitionsgemäß passiv sein musste und Gift laut Statistik das bevorzugte weibliche Mordmittel war, wurde der Giftmord zum „Sexualmord der Frau“ erklärt. Die heimtückische, verborgene und von langer Hand vorbereitete Tat sowie das lustvolle Beobachten des langsamen, qualvollen Todes ihres Opfers ließen sich leicht mit der dienenden Funktion der Frau vereinbaren. Dass die – für die Gegenwart übrigens nicht mehr nachweisbare – Häufigkeit des von Frauen verübten Giftmords viel praktischere Gründe haben könnte, war als Erklärung zu simpel. Doch als Köchin und Krankenpflegerin in der Familie oblagen der Frau die Verwahrung und Zubereitung der Speisen und damit auch die Bewahrung der Vorräte vor Schädlingen. Sie konnte daher mit Schädlingsgiften umgehen, hatte diese im Haus oder konnte sie, ohne Verdacht zu erregen, erwerben. Anwenden konnten Hausfrauen und Mütter die Mittelchen dann problemlos in der Küche oder am Krankenbett, selbst wenn die zu beseitigenden Schädlinge nicht mehr nur der Flora und Fauna angehörten. *** Vorurteile wie diese sind heute aus allen halbwegs ernstzunehmenden Untersuchungen über weibliche Kriminalität, von Patricia Pearsons When She Was Bad. How Women Get Away With Murder (1997) bis Bärbel Balkes Frauen morden einsam (1994), verschwunden bzw. treten nur mehr spiegelbildlich auf (Motto: „Die Frau ist Mutter/Ernährerin und daher völlig aggressionslos“). Dennoch halten sich obige Klischees in der Öffentlichkeit und den sie bedienenden Massen-medien hartnäckig. Der Mord in allen seinen Spielarten ist inzwischen ein anerkannter Teil der globalen Entertainment-Industrie. Serienkiller genießen seit Jahrzehnten Kultstatus und werden in Fanclubs oder im Internet abgefeiert. Mordende Frauen aber können sich nach wie vor einer viel höheren Aufmerksamkeit sicher sein als ihre männlichen Kollegen. Ihre Taten widersprechen einer weitverbreiteten Ansicht nach ihrer prinzipiellen Natur: Die Frau schenkt Leben und nimmt es nicht. Im-
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mer noch wird sie also an einem Frauenbild gemessen, das gar nicht weit von dem entfernt ist, das die vollbärtigen Herren des neunzehnten Jahrhunderts gezeichnet haben. Im dritten Jahrtausend gilt die idealistische Vorstellung, dass Gewalt „typisch männlich“ sei, aber längst nicht mehr. Zahlen aus den USA belegen, dass Frauen dort nicht nur den überwiegenden Anteil der Kindesmorde begehen, sondern auch mehrheitlich für Gewaltakte gegen Kinder verantwortlich sind. Bei Gewalt gegen Geschwister, Ehegatten und alte Menschen halten sich männliche und weibliche Täter (noch) die Waage. In der politisch korrekten Medienberichterstattung sind solche Fakten allerdings kaum zulässig. Was nicht sein darf, kann nicht sein. Dass man Geschworene daher nur schwer davon überzeugen kann, dass Frauen sehr wohl dazu fähig sind, ihre Partner oder den eigenen Nachwuchs „aus niedrigen Beweggründen“ zu töten, wissen nicht nur amerikanische Staatsanwälte. Auch einer der bekanntesten deutschen Kriminalfälle der letzten Zeit, die Affäre Monika Weimar, passte nicht in die weitverbreitete Vorstellung davon, wie eine Frau zu sein hat. Man wollte einfach nicht glauben, dass die Angeklagte um ihrer Freiheit willen ihre eigenen Kinder ermorden konnte. Natürlich gilt die Faszination, die von der Frau als Mörderin ausgeht, auch für dieses Buch. Den vielen Arbeiten und Untersuchungen soll aber keineswegs eine weitere hinzugefügt werden; die Autoren wollen auf diesen Seiten weder neue Theorien entwickeln noch alte aufbügeln. Faszinierend ist vor allem die Person der Täterin; für die Darstellung der Fälle wurde daher die altbewährte Form der Porträtgalerie gewählt. Als Auswahlkriterien dienten ausschließlich das Interesse am Fall, der Tat, der Aufdeckung und den Personen. Wenn bei der Beschreibung schon etwas bewiesen werden soll, dann nur die Tatsache, dass Mörderinnen ihren männlichen Gegenstücken in keinem Punkt des Tathergangs nachstehen. Soweit wie möglich folgen die Berichte immer unmittelbaren Quellen wie Gerichtsakten (soweit vorhanden und zugänglich), zeitgenössischen Presseberichten oder Monographien. Und da Kriminalgeschichte bekanntlich immer auch Sozialgeschichte ist, zeigt jeder der beschriebenen Fälle – auch wenn nicht expressis verbis darauf hingewiesen wird – auch die gesellschaftliche Stellung der betroffenen Frau. Dass dabei viel von der Täterin, wenig dagegen von dem oder den Opfern die Rede ist, liegt in der Natur der Dinge. Die Kriminalistik bemüht sich schließlich um die Klärung eines Verbrechens, wobei es in erster Linie um die Person geht, die die Tat verübt hat. Zwei frauenspezifische Tötungshandlungen wurden bei der Auswahl allerdings bewusst übergangen. Die Tötung des eigenen Neugeborenen hat fast aus-
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nahmslos soziale oder materielle Gründe, meist beide zusammen: die Angst, das Kind nicht ernähren zu können oder als ledige Mutter sozial diskriminiert zu werden. Dieses Delikt ist zwar sozialpolitisch, aber kaum kriminalistisch relevant, da sich Tat und Tathergang doch in fast allen Fällen sehr gleichen. Aus demselben Grund bliebt auch der bekannte „Brotmessermord“, der gewaltsame Befreiungsschlag oder -stich der Frau aus einer unerträglichen Beziehung, ausgespart. Derartige Taten könnten fast als Notwehr gewertet werden; eine Auffassung, die auch die Gerichte inzwischen teilen. Der Grund, warum zwei Männer dieses Buch geschrieben haben, ist unter anderem in der Statistik zu suchen: Erstens suchen sich Frauen überwiegend Vertreter des anderen Geschlechts als Opfer, beinahe im Verhältnis zwei zu eins, wohingegen Männer ihre Morde gleichmäßig verteilen. Und zweitens zeigt eine aktuelle Studie des deutschen Jugendinstituts („Ich meine, mit Gewalt kannst du dir Respekt verschaffen“, 2002) dass in der Generation der Fünfzehn- bis Zwanzigjährigen die Mädchen inzwischen mindestens ebenso häufig zu körperlicher Gewalt neigen wie die Burschen. Also: Mann, sei vorsichtig! Artemisia Gentileschi: Jael e Sisera, 1620
Kurzbiographien
H ERAUSGEBERINNEN Hyunseon Lee, PD Dr., London/Siegen Studium der Germanistik, Theater-, Film- u. Fernsehwissenschaft in Seoul, Bochum, Berlin. Promotion zur Geständnisliteratur in der DDR (Gedächtniszwang und „Wahrheit des Charakters“ in der Literatur der DDR: Diskursanalytische Fallstudien) in Dortmund. Habilitation zu Metamorphosen der Madame Butterfly. Interkulturelle Liebschaften zwischen Literatur, Oper und Film [im Erscheinen]. Forschungs- und Lehrtätigkeiten an verschiedenen deutschen Universitäten sowie in New York, Seoul, Tokyo und London. Sie ist zur Zeit Priv.-Doz. an der Uni Siegen. Diverse Publikationen im Zusammenhang mit den Forschungsgebieten: moderne deutschsprachige Literatur, globale Populärkultur, Mediengeschichte und -ästhetik, insbes. das Verhältnis von Musiktheater und Film, jeweils unter Fragestellungen von Gender-Performanz, Intermedialität und Interkulturalität – im Bereich der Neueren Deutschen Literatur sowie Kultur- und Medienwissenschaft. Derzeitiges Buchprojekt Opera, Exoticism and Visual Culture. Isabel Maurer Queipo, Dr. phil., AOR, Siegen Studium der Romanistik und Wirtschaftswissenschaften an der Universität Siegen. Promotion zur Die Ästhetik des Zwitters im filmischen Werk von Pedro Almodóvar. Intermediale, interkulturelle und genderspezifische Untersuchungen. Sie ist dort Akademische Oberrätin a.Z.. Habilitationsprojektprojekt zum (Alp)Traumdiskurs in den Medien und Künsten. Forschungsschwerpunkte: (Schwarze) Romantik, Psychoanalyse, europäische und lateinamerikanische Avantgarden, Iateinamerikanisches Kino, Interkulturalität, Gender Studies. Aktuelle Publikationen/Herausgeberschaften: Directory of World Cinema: Latin America, Bristol 2013, Social-critical Aspects in Latin American Cinema(s). ThemesCountries-Directors-Reviews, Frankfurt a.M. 2012.
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B EITRÄGER I NNEN Andreas Becker, Dr. phil. Frankfurt a.M. Studium der Neueren deutschen Literatur und Medienwissenschaft mit den Nebenfächern Psychologie und Politikwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg, Zweitstudium Philosophie; Promotion an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. mit dem Thema Perspektiven einer anderen Natur. Zur Geschichte und Theorie der filmischen Zeitraffung und Zeitdehnung; seit 2007 wiss. Mitarbeiter dort am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft. Arbeitsgebiete: Japanischer und westlicher Film, Zeitdarstellung im Film, Filmgeschichte und Medienästhetik. Homepage: www.zeitrafferfilm.de. Irina Gradinari, Dr. phil., Trier Studium der Germanistik und Slavistik an der Meþnikov-Universität in Odessa (Ukraine); Promotion an der Universität Trier zum Thema Genre, Gender und Lustmord. Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa (Bielefeld 2011) und ist derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Trier tätig. Forschungsinteressen: deutsch-russische Komparatistikstudien, Gender, Queer und Postcolonial Studies, Psychoanalyse, Memoria-Theorien und Gegenwartskino. Letzte Publikation im Bereich der Gender Studies zusammen mit Franziska Bergmann und Antonia Eder (Hg.): Geschlechter-Szene. Repräsentation von Gender in Literatur, Film, Performance und Theater, Freiburg 2010. Kadja Grönke, PD Dr., Oldenburg Studium der Musikwissenschaft, Kunstgeschichte, Slawistik und Romanistik in Kiel. Promotion dort 1993 mit Studien zu den Streichquartetten 1 bis 8 von Dmitri Šostakoviþ. Habilitation (2001) an der Universität Oldenburg mit der interdisziplinären Arbeit Frauenschicksale in ýajkovskij Puškin-Opern. Aspekte einer Werke-Einheit (ýajkovskij-Studien Bd. 5, Schott 2002). Lehrstuhlvertretungen in Marburg und Kassel. Vorstandsmitglied der Tschaikowsky-Gesellschaft e. V. und aktive Mitarbeit im Expertenarbeitskreis des IEPG (Institut für medizinische Ethik, Grundlagen und Methoden der Psychotherapie und Gesundheitskultur) Mannheim. Derzeit Privatdozentin in Oldenburg und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sophie Drinker Institut Bremen. Zahlreiche Publikationen, schwerpunktmäßig zur Musik des 19. und 20. Jahrhunderts.
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Stephan Harbort, Kriminalist & Autor, Düsseldorf Kriminalhauptkommissar, Diplom-Verwaltungswirt (FH), Leiter eines Kriminalkommissariats beim Polizeipräsidium Düsseldorf, seit Juni 2012 Dozent an der Brandenburgische Technische Universität (BTU) Cottbus, zahlreiche Forschungsprojekte zu Serientötungen und Fallanalytik (u. a. gemeinsam mit den Universitäten in Liverpool, Neufundland, Wuppertal und Kassel), Fachberatung für Kino-, TV- und Radioproduktionen (u. a. Donna Roma, mit Jutta Speidel, ZDF; Wenn Frauen morden, ARD), diverse Fachaufsätze, Buchbeiträge und Rezensionen, Autor populärwissenschaftlicher Sachbücher (u. a. Das HannibalSyndrom, Mörderisches Profil, Das Serienmörder-Prinzip, Begegnung mit dem Serienmörder). Homepage: http://www.stephan-harbort.de/ Kathleen Heft, Diplom-Kulturwissenschaftlerin, Berlin Promotion zu Diskursen entlang der vergeschlechtlichten Differenzlinie Ostdeutsch-Westdeutsch. Von 2009-2012 war sie Stipendiatin im DFG-Graduiertenkolleg „Geschlecht als Wissenskategorie“ an der Humboldt-Universität zu Berlin. Weitere Forschungsinteressen: Migration in die DDR und DDR-MigrantInnen in der Nachwendezeit, kritische Rassismusforschung und Gender- und Queer Theorie. Peter Hiess, Wien Jahrgang 1959, geboren in Wien, wo er (nach einem kurzen und ernüchternden Ausflug in die Provinz) bis heute lebt und arbeitet – als Autor, Übersetzer, Journalist, Redakteur, Lektor und Verleger. Er war Mitgründer der Netzzeitschrift EVOLVER (www.evolver.at) und betreibt seit 2010 den Buchverlag EVOLVER BOOKS (www.evolver-books.at). Christian Lunzer, Wien 1943 im Salzkammergut geboren und übersiedelte schnellstmöglich nach Wien, um dortselbst als Buchhändler, Verleger (Album-Verlag) und Autor (u. a.: „Das Mädchenballett des Fürsten Kaunitz. Kriminalfälle des Biedermeier“; mit Susanne Feigl, 1988) zu arbeiten. Er ist bis heute nicht in die Berge zurückgekehrt. Hiess/Lunzer veröffentlichten gemeinsam vier True-Crime-Bücher (Die Mordschwestern, Jahrhundertmorde, Mord-Express und – als Herausgeber – KinoKiller), die im Herbst 2013 sämtlich als E-Books bei EVOLVER BOOKS neu verlegt werden.
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Urania Julia Milevski, Kassel Studium der Germanistik, Soziologie und Politikwissenschaft an der TU Darmstadt. Seit 2010 Doktorandin am DFG-Graduiertenkolleg „Dynamiken von Raum und Geschlecht“ der Universitäten Kassel und Göttingen und forscht zur literarischen Repräsentation von Vergewaltigung in deutschsprachigen Erzähltexten. Ihre Dissertation trägt den Arbeitstitel „Stimmen und Räume der Gewalt – Erzähltheoretische Zugänge zu zeitgenössischen Vergewaltigungsnarrationen“. Ruth Neubauer-Petzoldt, Dr. phil., Eckental Studium der Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte in Regensburg, Karlsruhe und in Los Angeles (UCLA). Promotion zur Albernheit mit Hintersinn: Intertextuelle Spiele in Ludwig Tiecks romantischen Komödien an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Habilitationsprojekt zu „Von verbotener Neugier und grenzüberschreitendem Wissen: Blaubart als Daseinsmetapher und neuer Mythos“ an der Universität Erlangen-Nürnberg [Abschluss 2013]. Weitere Forschungsschwerpunkte: Mythostheorien und Mythenrezeption; Metaphorologie; Medien- und Wissenschaftsgeschichte; Raumtheorie; Künstlermythen; Kriminalliteratur. Aktuelle Publikationen: „Kletter-Ida – ein Film zwischen den Genres“, in: Christian Exner/Bettina Kümmerling-Meibauer (Hgg.): Von wilden Kerlen und wilden Hühnern. Perspektiven des modernen Kinderund Jugendfilms, Marburg 2012, S. 200-216, „,Alles Politische ist privatދ. Politische Mythen, Ikonen und Dekonstruktion des Erinnerungsortes 1968 im Spiegel biographischer Literatur“, in: Psychologie & Gesellschaftskritik 35. Jg., Nr. 140, Heft 4/11, S. 38-68. Heinz-Peter Preußer, Dr. phil., Akademischer Rat, Bremen Studium der Neueren Deutschen Literatur, Linguistik, Theater- Film- und Fernsehwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Arbeitsgebiete: Neuere und neueste Literatur, Ästhetik, Medien-, insbesondere Filmwissenschaft. Neuere Publikationen als Mitherausgeber: Pandora. Zur mythischen Genealogie der Frau. Pandore et la généalogiemythique de la femme. Heidelberg 2012, Literatur inter- und transmedial – Inter and Transmedial Literature. Amsterdam/New York/NY 2012. Seit 2006 erscheint regelmäßig das Jahrbuch Literatur und Politik, Heidelberg, zuletzt 2013 der Band 7, Technik in Dystopien. Aktuell zudem die Monografien Transmediale Texturen. Lektüren zum Film und angrenzenden Künsten. Marburg 2013 sowie Pathische Ästhetik. Ludwig Klages und die Urgeschichte der Postmoderne, Heidelberg 2013 (im Erscheinen).
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Marcus Stiglegger, Dr. phil. habil., AOR, Siegen Promotion 1999 zu Sadiconazista. Sexualität und Faschismus im Film, Habilitation zur Seduktionstheorie des Films (Ritual & Verführung. Schaulust, Spektakel und Sinnlichkeit im Film). Er lehrt Film- und Bildanalyse an der Universität Siegen. Zahlreiche Texte zur Filmgeschichte, -ästhetik und -theorie. Herausgeber des Kulturmagazins :Ikonen: (www.ikonenmagazin.de). Publikationen: Terrorkino. Angst/Lust und Körperhorror, Berlin 2010; Nazi Chic & Nazi Trash. Faschistische Ästhetik in der Populärkultur, Berlin 2011; David Cronenberg, Berlin 2011; Hg,, Global Bodies. Mediale Repräsentationen des Körpers, Berlin 2011; Mit-Hg.); u.a. Mitglied der GfM (AK Filmwissenschaft, AK Populärkultur und Medien), der internationalen Filmkritikerorganisation fipresci und des AK „Asiaticum“ der Universität Mainz. Eva Tolasch, M.A., München Studium der Soziologie, Politische Wissenschaft sowie Kriminologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und Universität Hamburg. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie an der LMU-München. Arbeitsschwerpunkte: Elternschaft in Kindstötungsdiskursen und Berührungen in Interaktionen (u.a. Schwangerschaft) aus Perspektiven der Geschlechter- und Körpersoziologien und Verfahren der qualitativen Sozialforschung. Michael Bastian Weiß, Dr. phil., Komponist und Philosoph, München Studium der Musikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Promotion, über die Entstehung der philosophischen Ästhetik im 18. Jahrhundert, Wechsel zur Philosophie und Studium der Komposition. Erwerb des künstlerischen sowie Meisterklassendiploms. Er war als wissenschaftlicher Koordinator und Dozent eines geisteswissenschaftlichen Studiengangs innerhalb des Elitenetzwerks Bayern tätig. Zur Zeit lehrt er Philosophie im Rahmen eines Lehrauftrags an der Ludwig-Maximilian-Universität München und verfolgt ein Habilitationsprojekt über die theoretische Spätphilosophie Johann Gottlieb Fichtes. Forschungsschwerpunkte: Ästhetik, klassische deutsche Philosophie.
Gender Studies Sarah Dangendorf Kleine Mädchen und High Heels Über die visuelle Sexualisierung frühadoleszenter Mädchen 2012, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2169-3
Mariacarla Gadebusch Bondio, Elpiniki Katsari (Hg.) Gender-Medizin Krankheit und Geschlecht in Zeiten der individualisierten Medizin Februar 2014, ca. 300 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2131-0
Elke Kleinau, Dirk Schulz, Susanne Völker (Hg.) Gender in Bewegung Aktuelle Spannungsfelder der Gender und Queer Studies November 2013, 358 Seiten, kart., 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2269-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Gender Studies Julia Reuter Geschlecht und Körper Studien zur Materialität und Inszenierung gesellschaftlicher Wirklichkeit 2011, 252 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1526-5
Christian Schmelzer (Hg.) Gender Turn Gesellschaft jenseits der Geschlechternorm 2012, 226 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-2266-9
Erik Schneider, Christel Baltes-Löhr (Hg.) Normierte Kinder Effekte der Geschlechternormativität auf Kindheit und Adoleszenz Januar 2014, ca. 350 Seiten, kart., ca. 29,90 €, ISBN 978-3-8376-2417-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Gender Studies Corinna Bath Informatik und Geschlecht Grundlagen einer feministischen Technikgestaltung Januar 2014, ca. 460 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2129-7
Bettina Behr Bühnenbildnerinnen Eine Geschlechterperspektive auf Geschichte und Praxis der Bühnenbildkunst Juli 2013, 330 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2314-7
Udo Gerheim Die Produktion des Freiers Macht im Feld der Prostitution. Eine soziologische Studie 2012, 332 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1758-0
Andreas Heilmann Normalität auf Bewährung Outings in der Politik und die Konstruktion homosexueller Männlichkeit 2011, 354 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1606-4
Ute Kalender Körper von Wert Eine kritische Analyse der bioethischen Diskurse über die Stammzellforschung 2011, 446 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1825-9
Katharina Knüttel, Martin Seeliger (Hg.) Intersektionalität und Kulturindustrie Zum Verhältnis sozialer Kategorien und kultureller Repräsentationen
Stefan Krammer, Marion Löffler, Martin Weidinger (Hg.) Staat in Unordnung? Geschlechterperspektiven auf Deutschland und Österreich zwischen den Weltkriegen 2011, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1802-0
Martina Läubli, Sabrina Sahli (Hg.) Männlichkeiten denken Aktuelle Perspektiven der kulturwissenschaftlichen Masculinity Studies 2011, 310 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1720-7
Stefan Paulus Das Geschlechterregime Eine intersektionale Dispositivanalyse von Work-Life-Balance-Maßnahmen 2012, 472 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2208-9
Ralph J. Poole Gefährliche Maskulinitäten Männlichkeit und Subversion am Rande der Kulturen 2012, 308 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1767-2
Elli Scambor, Fränk Zimmer (Hg.) Die intersektionelle Stadt Geschlechterforschung und Medienkunst an den Achsen der Ungleichheit 2012, 210 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1415-2
2011, 288 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1494-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de