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German Pages [404] Year 2021
Rebecca Großmann
MOVING MEMORIES Erinnerungsfilme in der Trans-Nationalisierung der Erinnerungskultur in Deutschland und Polen
Beiträge zur Geschichtskultur begründet von Jörn Rüsen herausgegeben von Stefan Berger, Angelika Epple, Thomas Sandkühler und Holger Thünemann Band 41
Rebecca Großmann
Moving Memories Erinnerungsfilme in der TransNationalisierung der Erinnerungskultur in Deutschland und Polen
BÖHLAU VERLAG WIEN ⋅ KÖLN ⋅ WEIMAR
Bei dieser Arbeit handelt es sich um eine Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades im Fach Regionalstudien Ost- und Mitteleuropa, die an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln angenommen wurde. Erstgutachterin Maike Lehmann, Zweitgutachter Martin Aust, Drittgutachter Holger Thünemann. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
© 2021 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Filmplakat zu Warschau ’44 am elfstöckigen PAST-Gebäude, seit 2000 Sitz verschiedener Veteranenorganisationen der Heimatarmee in der Warschauer Zielna Straße 39. Privates Foto, Rebecca Großmann, 2014. Wissenschaftlicher Satz: satz&sonders GmbH, Dülmen Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52248-3
Inhalt
Einleitung 1. 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3
Moving Memories: Deutsch-polnische Beziehungen im Erinnerungsfilm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verflochtenes Erinnern und Vergessen im modernen Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch-polnische Geschichte im Spielfilm – ein Stück Erinnerungskultur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte im Spielfilm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Zweite Weltkrieg im deutschen und polnischen Spielfilm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchungsgegenstand und Material . . . . . . . . . . Unsere Mütter, unsere Väter (2013) . . . . . . . . . . . . . Warschau ’44 (2014) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unser letzter Sommer (2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vom Drehbuch zum Erinnerungsfilm . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Produktionskontexte 2. 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.2.1
Filmförderung im Spannungsfeld von Markt und Politik Die Mythenmacher: Filmemacher im Erinnerungsfilm . Filmemacher als Experten der Vergangenheit . . . . . . . . Filmemacher als Teil der Generation Postmemory . . . . Familiengeschichte als identitätsstiftendes Element in Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.2 Täterenkel – Unsere Großmütter, unsere Großväter . . . 2.2.3 Historical Correctness – Political Correctness . . . . . . . . 2.3 Die Mythenmittler: Schauspieler in der Aneignung von Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Fiktive Zeitzeugenschaft der Generation Postmemory . . 2.3.2 Zusammenspiel von Authentizität und Transnationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Neue Zeitzeugen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Zwischenfazit: Motive und Motivationen . . . . . . . . . . .
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. . . 97 . . . 106 . . . 116 . . . 119 . . . 120 . . . 134 . . . 139 . . . 142
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Inhalt
Narrationskontexte 3. 3.1 3.1.1 3.1.1.1 3.1.1.2 3.1.2 3.1.3 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.4 3.5
Erzählte Geschichte im Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erwachsenwerden in Zeiten des Krieges . . . . . . . . . . . . Jugend als universelle Erfahrung – Unser letzter Sommer Eine deutsche Erfahrung: Guido Hausmann . . . . . . . . . Eine polnische Erfahrung: Romek . . . . . . . . . . . . . . . . Von unsterblichen Opfern zu sterblichen Helden – Warschau ’44 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von schuldhaften Tätern zu unschuldigen Opfern – Unsere Mütter, unsere Väter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsche und polnische Selbst- und Fremdbilder . . . . . Deutschenbilder: Das stereotyp Böse oder verkannte Opfer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Polenbilder: Zwischen Widerstand und Kollaboration . . Deutsch-polnische Besatzungsbeziehungen . . . . . . . . . Die Darstellung Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inszenierung und Authentifizierungsstrategien . . . . . . . Verortung der Ereignis- in der Filmgeschichte . . . . . . . Die visuelle Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Filmmusik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transnationalisierung und Intertextualität . . . . . . . . . . Zwischenfazit: Stereotype und kein Ende . . . . . . . . . . .
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145 148 153 156 161
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182 194 205 211 220 221 228 241 247 256
Rezeptionskontexte 4. 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.3 4.4
Rezeption der Filmgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vermittlung und Vermarktung von Vergangenheitsbildern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Zauber der Jugend und die Illusion des Authentischen Gütesiegel für Geschichtsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erinnerungsfilme als Bildungshelfer . . . . . . . . . . . . . . . . . Einbettung der Erinnerungsfilme in bestehende Vergangenheitsdiskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Opferdiskurse – Täterdiskurse: Die Schuld der anderen . . Pädagogik der Scham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Versöhnungskitsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aushandlungsräume für eine Transnationalisierung . . . . . Zwischenfazit: Rezeption durch (trans-)nationale Linsen .
. 259 . . . .
262 270 280 287
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294 294 307 316 333 340
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Inhalt
Fazit 5. 5.1 5.2 5.3
Zwischen Transnationalisierung und Renationalisierung der Erinnerungskultur . . . . . . . . . . Aushandlungs- und Erfahrungsräume im Erinnerungsfilm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transnationalisierung, Renationalisierung, Politisierung Ausblick: Leerstellen in der Erinnerung . . . . . . . . . . . .
. . . 343 . . . 344 . . . 349 . . . 354
Anhang Filmverzeichnis . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . Videoquellenverzeichnis Abbildungsverzeichnis .
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359 366 402 403
Einleitung
1. Moving Memories: Deutsch-polnische Beziehungen im Erinnerungsfilm
Ein polnischer Partisan öffnet die schwere Tür zu dem Viehwaggon des deutschen Güterzuges, den er und seine Kameraden zum Halten gebracht haben. Im Inneren befinden sich Menschen – Jüdinnen und Juden, die zur Vernichtung nach Osten deportiert werden. Angewidert schlägt der Mann die Tür wieder zu: „Besser tot als lebendig.“ An dieser Szene aus dem Dreiteiler Unsere Mütter, unsere Väter, der die Soldaten der polnischen Heimatarmee im Gegensatz zu den deutschen Protagonisten als überzeugte Antisemiten zeigte, entzündeten sich 2013 die Gemüter. Das Geschichtsbild, das die Miniserie von Regisseur Philipp Kadelbach kolportierte, steht seit 2016 sogar in Polen vor Gericht. Der Vorwurf: Geschichtsfälschung. Dies ist nur eins von vielen Beispielen, wie Spielfilme über die gemeinsame Geschichte in den letzten Jahren in Deutschland und Polen Debatten über Vergangenheitsbilder in Gang gesetzt haben, die weit über die Grenzen der Nation hinausgingen. Sie alle werfen die Frage auf: Wie sind Vergangenheitsbilder im Film in den Kanon der Erinnerungskulturen dies- und jenseits der Oder einzuordnen und welche Rolle nehmen sie in einer sich transnationalisierenden Welt ein, unter deren Einfluss sie sich stetig verändern? Die bewegte deutsch-polnische Vergangenheit soll in dreierlei Wortsinn Thema dieser Arbeit sein. Zunächst einmal bewegt sie ganz offenkundig auch heute noch die Gemüter dies- und jenseits der Oder und gewinnt, so paradox das klingen mag, weiter an Aktualität. Vergangenheitsdebatten sind fester Bestandteil der deutsch-polnischen Beziehungen im beginnenden 21. Jahrhundert. „We are living through a moment characterized by an unprecedented presence of history and memory in the cultural sphere“, schrieb Alejandro Baer 1 im Jahr 2001. Diese Verschiebung des Fokus von 1 Alejandro Baer. 2001. „Consuming history and memory through mass media products.“ European Journal of Cultural Studies, Vol. 4 (2001), Nr. 4, S. 491–501, hier: S. 492.
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Moving Memories: Deutsch-polnische Beziehungen im Erinnerungsfilm
„present futures to present pasts“, die sich bis in die 1980er-Jahre zurückverfolgen lässt, stellte Andreas Huyssen im Jahr 2000 in seinem Aufsatz Present Pasts: Media, Politics, Amnesia fest. 2 In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich dieser Trend weiter verstärkt und die Vergangenheit zu einem Fixpunkt für Gegenwart und Zukunft gemacht. In besonderem Maße gilt dies für die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Es handelt sich dabei um kein deutsch-polnisches Spezifikum, sondern um ein transnationales Phänomen. Die Erinnerung boomt, Vergangenheit ist die Zukunft, Memory sells. 3 Woher aber kommt dieser Boom der Vergangenheit, die in besonderer Weise Einfluss auf die Gegenwart nimmt? Zygmunt Bauman fand dafür in seinem letzten Werk 2017 den Begriff Retrotopia. 4 Den in Baumans Retrotopia mitschwingenden Wunsch nach etwas, das uns Halt gibt in einer immer schnelllebigeren, modernen Welt identifizierte Huyssen als einen Grund für die Zuwendung zur Erinnerung: Our discontents rather flow from informational and perceptual overload combined with a cultural acceleration neither our psyche nor our senses are that well equipped to handle. The faster we are pushed into a global future that does not inspire confidence, the stronger we feel the desire to slow down, the more we turn to memory for comfort. 5
Für die Filmindustrie ist diese Hochkonjunktur des Erinnerns im modernen Europa, dieser Siegeszug des Histotainment, also der Geschichtsunterhaltung mit mehr oder minder ausgeprägter Bildungskomponente, in den Kinosälen und Wohnzimmern gewissermaßen ein Segen. Filme mit 2 Andreas Huyssen. 2000. „Present Pasts: Media, Politics, Amnesia.“ Public Culture, Vol. 12, Nr. 1, S. 21–38, hier: S. 21. 3 Vgl. dazu auch Holger Thünemann. 2018. „Geschichtskultur revisited. Versuch einer Bilanz nach drei Jahrzehnten.“ In: Historisierung der Historik: Jörn Rüsen zum 80. Geburtstag. Herausgegeben von Thomas Sandkühler und Horst Walter Blanke, Köln u. a.: Böhlau Verlag, S. 127–149, hier: S. 137. Mit der wirtschaftlichen Dimension von Geschichte auseinandergesetzt haben sich unter anderem die Autoren im Sammelband von Wolfgang Hardtwig und Alexander Schug. Hrsg. 2009. History Sells! Angewandte Geschichte als Wissenschaft und Markt. Stuttgart: Franz Steiner Verlag. Die Herausgeber fordern, dass „[d]ie Produktion von Geschichtsbildern, wo immer sie stattfindet, [. . . ] sehr viel stärker als das heute geschieht, Gegenstand der wissenschaftlichen Reflexion werden [muss].“ Wolfgang Hardtwig und Alexander Schug. 2009. „Einleitung.“ In: History Sells! Angewandte Geschichte als Wissenschaft und Markt. Herausgegeben von Wolfgang Hardtwig und Alexander Schug, Stuttgart: Franz Steiner Verlag, S. 9–14, hier: S. 12. Ebenfalls diesem Thema widmen sich die Beiträge in Christoph Kühberger und Andreas Pudlat. Hrsg. 2012. Vergangenheitsbewirtschaftung. Public History zwischen Wirtschaft und Wissenschaft. Innsbruck u. a.: Studien Verlag. Im Zusammenhang mit der Produktion und Rezeption der Erinnerungsfilme werden in dieser Arbeit wirtschaftliche Aspekte sowie die Vermarktung von Vergangenheit im Film noch genauer betrachtet. 4 Vgl. Zygmunt Bauman. 2017. Retrotopia. Berlin: Suhrkamp. 5 Huyssen, Present Pasts, S. 35.
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historischer Thematik, allen voran über den Zweiten Weltkrieg, gehören seit Jahren zum festen Repertoire in deutschen und polnischen Kinosälen, auf den Fernsehbildschirmen in Berlin und Warschau und neuerdings auch auf den großen VoD-Plattformen online. 6 Zunehmend sind diese Filmproduktionen nicht mehr nur für den nationalen, sondern für einen transnationalen Markt gemacht. Sie erreichen auch ein Publikum jenseits der nationalen Grenzen. In bewegten Bildern zeigen sie eine bewegte Vergangenheit, bewegen die Zuschauerinnen und Zuschauer und bewegen sich auch selbst über Grenzen hinweg. Filme über die Vergangenheit sind aber nicht nur zu einem wichtigen wirtschaftlichen Faktor geworden, sondern auch zu einem kulturellen. Ihnen wird auch als Verbreitungsmedien populärer Vergangenheitsbilder Gewicht beigemessen. Und weil das so ist, ist es umso wichtiger, sich mit der Rolle von Erinnerungsfilmen in der transnationalen Gesellschaft zu beschäftigen. Ferner können Erinnerungsfilme auch eine politische Dimension erlangen. 7 Insbesondere für den deutsch-polnischen Fall ist das symptomatisch, wie die Reaktionen auf den ZDF-Dreiteiler Unsere Mütter, unsere Väter zeigten, der eine veritable diplomatische Krise zwischen Deutschland und Polen auslöste und die Macher der Miniserie in Polen vor Gericht brachte. Dieses Promotionsprojekt will breitenwirksame, transnational kontrovers diskutierte Erinnerungsfilme in den Fokus rücken, um Verbindungen und Wechselwirkungen zwischen den Erinnerungskulturen in Deutschland und Polen zu identifizieren und das Wie, das Warum sowie die Motivation der Akteure eines sich transnationalisierenden Erinnerns zu verstehen. Anhand dreier ausgewählter Filmbeispiele – Unsere Mütter, unsere Väter (2013), Warschau ’44 (2014) und Unser letzter Sommer (2015) – sollen die wichtigsten Eckpunkte einer transnationalen, verflochtenen Erinnerungskultur in Deutschland und Polen identifiziert werden. Den Hintergrund bilden weitere Filme, wie beispielswiese Ida (2013), Die verlorene Zeit (2011) oder Pokłosie (Nachlese, 2012) 8, die geprägt von erinnerungspolitischen Debatten in Deutschland und Polen einen Beitrag dazu leisten, 6 Video-on-Demand, beispielsweise Netflix, Amazon Prime, Maxdome u. v. m. 7 Vielleicht haben sie diese aber immer, sie ist ihnen inhärent, weil schon durch die Entscheidung zur Filmförderung eine politische Entscheidung seitens der staatlichen Filmförderfonds getroffen wurde. Siehe aber beispielsweise auch die Beschäftigung mit der polnischen Erinnerungskultur und Geschichtspolitik im Deutschen Bundestag, Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages. 2016. Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in Polen. April 2016, URL: https://www. bundestag. de/ resource/ blob/ 425734/ 61f87ea5d0075e2eb9d0096c66ccef7d/ wd- 1- 018- 16- pdf- data. pdf, Zugriff am 20. Februar 2017. 8 Sofern es keinen etablierten deutschen Filmtitel gibt, wird im Text der polnische Originaltitel verwendet. Die Titel der Filme werden nur bei der ersten Nennung
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wie Deutsche und Polen sich selbst und die gegenseitigen Beziehungen in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft wahrnehmen. Im ersten Abschnitt soll insbesondere der Einfluss der Filmemacher auf die Produktion der Filme betrachtet werden. Ihre Rolle in der Ausgestaltung und Vermittlung von Vergangenheitsbildern im Film ist elementar. Eine ebenfalls sehr wichtige Rolle spielen die Schauspielerinnen und Schauspieler, die helfen, die Vergangenheit auf der Leinwand scheinbar zum Leben zu erwecken und für das Publikum nacherlebbar zu machen. Im weiteren Verlauf der Arbeit soll auch die filmtechnische und inhaltliche Umsetzung des historischen Stoffes im Film thematisiert werden. Nicht zuletzt ist aber auch von Interesse, wie diese Filme in Deutschland und Polen rezipiert werden, d. h. auf welche Rahmenbedingungen in Form von Vermarktungsstrategien und bestehenden Vergangenheitsdebatten, in deren Kontext die Filme eingeordnet werden, sie treffen. Ziel ist es, einen Beitrag zur Diskussion über Erinnern und Vergessen im modernen Europa des 21. Jahrhunderts zu leisten.
1.1 Verflochtenes Erinnern und Vergessen im modernen Europa 9 Erinnern und Vergessen, diese zwei Seiten derselben Medaille, finden in einer globalisierten und digitalisierten Welt, im quasi grenzenlosen Europa des 21. Jahrhunderts jenseits eines nationalen Vakuums statt. Auch die filmische Bearbeitung der Vergangenheit in einem transnationalen Kontext, wie sie in dieser Arbeit im Fokus steht, fügt sich ein in eine größere Forschungsdebatte zur Transnationalisierung der Erinnerungskultur im modernen Europa. Gerade hier spielt sich Erinnern und Vergessen auf vielen Ebenen ab – zum Beispiel auf der nationalstaatlichen, auf der lokalen Ebene oder innerhalb der Familie. Aber auch auf einer übergeordneten, transnationalen Ebene – das kann die europäische sein, muss es aber nicht – werden Vergangenheitsbilder geprägt. Diese Verflechtungen, Transfers und Abhängigkeiten zwischen den Erinnerungsgemeinschaften tragen dazu bei, nationale Erinnerungskulturen zu transnationalisieren. Diese Aspekte der Transnationalisierung greifbarer zu machen, soll Ziel dieser Arbeit über Erinnern und Vergessen im modernen Europa heute sein. im Text ins Deutsche übersetzt. Existiert ein gebräuchlicher deutscher Titel, wird dieser verwendet und ggf. bei der ersten Nennung im Text der polnische Originaltitel erwähnt. Im Filmverzeichnis im Anhang dieser Arbeit finden sich neben Angaben zu Regie, Drehbuch, Produktionsland und Produktionsjahr auch jeweils Informationen zum Originaltitel und zu deutschen Übersetzungen der analysierten Filme und Serien. 9 Teile dieses Kapitels entstammen dem Exposé zu diesem Promotionsprojekt.
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Die gemeinsame Arbeit an der Erinnerung in Polen und Deutschland geht lange zurück. 10 Bereits 1972 wurde eine deutsch-polnische Schulbuchkommission gegründet, die sich unter anderem die Darstellung der geteilten Geschichte in deutschen und polnischen Schulbüchern zur Aufgabe gemacht hatte. Neben den Empfehlungen, die die Kommission seit 1976 herausgegeben hat, trug die Arbeit der deutschen und polnischen Experten hinsichtlich einer gemeinsamen Vision der Vergangenheit erst in den letzten Jahren konkrete Früchte. Das erste deutsch-polnische Geschichtsbuch erschien im Juni 2016 und behandelte die Ur- und Frühgeschichte bis zum Mittelalter, das zweite über die Neuzeit bis 1815 folgte 2017. Die mittlerweile vierbändige Reihe Europa – Unsere Geschichte ist in ihrer Ausrichtung dezidiert europäisch. Der vierte und letzte Band ist 2020 veröffentlicht worden und befasst sich mit dem 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 11 Auch für die Wissenschaft ist das Erinnern und Vergessen dies- und jenseits der Oder ein Thema. Einer umfassenden Beschreibung deutsch-polnischer Erinnerungsorte nahmen sich jüngst Robert Traba und Hans Henning Hahn sowie Peter Oliver Loew in einem fünfbändigen Buchprojekt an, das Parallelen, Differenzen, aber auch theoretische Aspekte deutscher und polnischer Erinnerungskultur beleuchtet. 12 Neben Untersuchungen zu gemeinsamen, geteilten und parallel verlaufenden Erinnerungsorten über eine breite Zeitspanne und ein immenses Themenspektrum hinweg werden auch theoretische und methodische Aspekte der Erforschung deutsch-polnischer Erinnerungsorte adressiert. Die verschiedenen Autorinnen und Autoren orientierten sich dabei vor allem an den Ansätzen der klassischen Geschichtswissenschaften, die lange eine gewisse Skepsis gegenüber der filmischen Befassung mit Vergangenheit hegten. Vom erwähnten Großprojekt deutsch-polnischer Erinnerungsorte einmal abgesehen ist die Liste der Publikationen zum Erinnern und Vergessen in Deutschland und Polen dennoch überschaubar, sobald Erinnerungsde10 Vgl. auch Thomas Strobel. 2015. Transnationale Wissenschafts- und Verhandlungskultur: Die gemeinsame deutsch-polnische Schulbuchkommission 1972–1990. Göttingen: V&R unipress. 11 Deutsch-Polnische Schulbuchkommission, Georg-Eckert-Institut und CBH PAN. Hrsg. 2016–2020. Europa – Unsere Geschichte, 4 Bände, Wiesbaden: Eduversum Verlag / Warschau: WSiP. 12 Hans Henning Hahn und Robert Traba. Hrsg. 2015. Deutsch-Polnische Erinnerungsorte Band 1: Geteilt / Gemeinsam. Bd. 1. 5 Bde. Paderborn: Ferdinand Schöningh. Dies. 2014. Deutsch-Polnische Erinnerungsorte Band 2: Geteilt / Gemeinsam. Bd. 2. 5 Bde. Paderborn: Ferdinand Schöningh. Dies. 2012. Deutsch-Polnische Erinnerungsorte Band 3: Parallelen. Bd. 3. 5 Bde. Paderborn: Ferdinand Schöningh. Dies. 2013. Deutsch-Polnische Erinnerungsorte Band 4: Reflexionen. Bd. 4. 5 Bde. Paderborn: Ferdinand Schöningh. Peter Oliver Loew und Robert Traba. Hrsg. 2015. Deutsch-Polnische Erinnerungsorte Band 5: Erinnerung auf Polnisch. Bd. 5. 5 Bde. Paderborn: Ferdinand Schöningh.
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Moving Memories: Deutsch-polnische Beziehungen im Erinnerungsfilm
batten in einem transnationalen Kontext betrachtet und unter dem Aspekt einer Verflechtungsgeschichte beleuchtet werden sollen. Oftmals sind Arbeiten auf diesem Gebiet thematisch eng fokussiert auf einen sehr dezidierten Themenkomplex der Vergangenheit. So beschäftigen sich beispielsweise Anna Wolff-Pow˛eska und Piotr Forecki 13 mit dem Holocaust oder auch Dieter Bingen et al. 14 und Stefan Troebst 15 mit Flucht und Vertreibung, durchaus mit europäischer, will heißen transnationaler Prägung 16. Ein weiteres Beispiel ist der Sammelband zur Erinnerung an den Warschauer Aufstand von Hans-Jürgen Bömelburg, Eugeniusz Cezary Król und Michael Thomae 17, der sich dieses in Polen und Deutschland sehr unterschiedlich bewerteten und gewichteten Themas annimmt. Deutlich wird dort, dass gerade Deutschland nach Osten hin blind zu sein scheint und sowohl die Wahrnehmung der Geschichte jenseits von Oder und Neiße als auch deren systematische wissenschaftliche Untersuchung noch deutliche weiße Flecken aufweist. Daneben existieren einige Monografien, die sich mit den nationalen Geschichtsdebatten in Polen und Deutschland beschäftigen, wie sie zum Beispiel Maren Röger mit ihrer Arbeit über die Darstellung von Flucht und Vertreibung in den deutschen Medien 18 vorgelegt hat. Ebenfalls exemplarisch zu nennen sind Piotr Forecki 19 und Stephanie Kowitz-Harms 20, die sich jeweils der Thematisierung der Shoah in der polnischen Öffentlichkeit widmen sowie ferner Anna Zofia Musioł, die mit ihrem Beitrag zu Erinnern und Vergessen: Erinnerungskulturen im Lichte der deutschen und polnischen Vergangenheitsdebatten die WalserBubis-Debatte und die Jedwabne-Debatte in Deutschland und Polen be-
13 Anna Wolff-Pow˛eska und Piotr Forecki. Hrsg. 2012. Der Holocaust in der polnischen Erinnerungskultur. Frankfurt am Main: Peter Lang. 14 Dieter Bingen, Włodzimierz Borodziej und Stefan Troebst. Hrsg. 2003. Vertreibungen europäisch erinnern? Historische Erfahrungen – Vergangenheitspolitik – Zukunftskonzeptionen. Wiesbaden: Harrassowitz. 15 Stefan Troebst. Hrsg. 2006. Vertreibungsdiskurs und europäische Erinnerungskultur. Deutsch-polnische Initiativen zur Institutionalisierung. Eine Dokumentation. Osnabrück: fibre Verlag. 16 Inwiefern aber die Betitelung als „europäisch“ bei einigen dieser Publikationen nur eine politisch opportune Entscheidung und kein genuiner Perspektivwechsel ist, muss mancherorts angezweifelt werden. 17 Hans-Jürgen Bömelburg, Eugeniusz Cezary Król und Michael Thomae. Hrsg. 2011. Der Warschauer Aufstand 1944: Ereignis und Wahrnehmung in Polen und Deutschland. Paderborn: Ferdinand Schöningh. 18 Maren Röger. 2011. Flucht, Vertreibung und Umsiedlung: mediale Erinnerungen und Debatten in Deutschland und Polen seit 1989. Marburg: Herder-Institut. 19 Piotr Forecki. 2013. Reconstructing Memory: The Holocaust in Polish Public Debates. Frankfurt am Main: Peter Lang. 20 Stephanie Kowitz-Harms. 2014. Die Shoah im Spiegel öffentlicher Konflikte in Polen: Zwischen Opfermythos und Schuldfrage (1985–2001). Berlin: de Gruyter.
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leuchtet 21. Gleichwohl wird in vielen dieser Arbeiten eine Chance verpasst, denn durch das oft praktizierte bloße Nebeneinanderstellen polnischer und deutscher Erinnerungen und Erinnerungsdebatten besteht die Gefahr, dass die so zentralen Verflechtungen zwischen den Erinnerungskulturen und somit traumatische Teile ebendieser geteilten Geschichte im Verborgenen bleiben. Hier möchte diese Arbeit ansetzen. Während eine transnationale Perspektive zwar heutzutage eine wachsende Zahl der Forschungsarbeiten zu Erinnern und Vergessen leitet (wenn auch nicht immer erfolgreich), wird dabei einem wichtigen Aspekt wenig Aufmerksamkeit geschenkt: nämlich den spezifischen Charakteristika von Einwanderungs- und Transformationsgesellschaften, wie Deutschland und Polen es sind. Dabei bieten sowohl die Einwanderungs- als auch die Transformationsgesellschaft fruchtbaren Boden für transnationale Vergangenheitskonstruktionen. Sei es, um ein altes Herrschaftssystem zu de- und ein neues zu legitimieren oder aber, weil eine pluralistischere Gesellschaft in der nationalen Geschichtsdarstellung keine Anknüpfungspunkte mehr findet. 22 Für die heutige Beschäftigung mit der Vergangenheit spielt in Polen zudem der Systemwechsel in Mittelund Osteuropa ab 1989 und die damit verbundene „Entsperrung der Zensurverbote“ eine wichtige Rolle. 23 Die Öffnung der Archive nach dem Ende des Kalten Krieges hat Sachverhalte zutage befördert, die das Aufrechterhalten traditioneller nationaler Identitätskonstruktionen unmöglich gemacht haben und beispielsweise die opferzentrierte polnische Nationalidentität infrage stellten. 24 Es ist daher wenig verwunderlich, dass dieser Themenkomplex eine Reihe von wissenschaftlichen Publikationen
21 Anna Zofia Musioł. 2012. Erinnern und Vergessen: Erinnerungskulturen im Lichte der deutschen und polnischen Vergangenheitsdebatten. Wiesbaden: VS Verlag. 22 Vgl. Harald Welzer und Claudia Lenz. 2007. „Opa in Europa: Erste Befunde einer vergleichenden Tradierungsforschung.“ In: Der Krieg der Erinnerung: Holocaust, Kollaboration und Widerstand im europäischen Gedächtnis. Herausgegeben von Harald Welzer, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, S. 7–40, hier: S. 12 f. 23 Robert Traba. 2011. „Wie bestimmt die Geschichte die nationalen Erinnerungs- und Gedenkkulturen in Deutschland und Polen?“ In: Nationales Gedächtnis in Deutschland und Polen. Herausgegeben von Bernd Rill, München: Hanns-Seidel-Stiftung e. V., S. 27–34, hier: S. 28. 24 Vgl. Aleida Assmann. 2009. „From Collective Violence to a Common Future: Four Models for Dealing with a Traumatic Past.“ In: Justice and Memory: Confronting Traumatic Pasts: an International Comparison. Herausgegeben von Ruth Wodak und Gertraud Auer Borea, Wien: Passagen Verlag, S. 31–48, hier: S. 41; Krzysztof Ruchniewicz. 2003. „Die Kultur des Gedächtnisses in Polen, seine Erinnerungspolitik und die gemeinsame europäische Zukunft.“ In: Vertreibungen europäisch erinnern? Historische Erfahrungen – Vergangenheitspolitik – Zukunftskonzeptionen. Herausgegeben von Dieter Bingen, Włodzimierz Borodziej und Stefan Troebst, Wiesbaden: Harrassowitz, S. 261–265, hier: S. 262.
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inspiriert hat. Gleichwohl sind (Mit-)Tätererfahrungen weiterhin ein wenig aufgearbeiteter Teil der polnischen Vergangenheit. Ein „Mangel an alternativen Identitätskonzepten“ erschwert weiterhin eine tatsächliche Integration jedweder Tätererfahrung in die von Opfergedenken geprägte kollektive Erinnerung. 25 Deutschland wiederum hat sich über Jahrzehnte zu einer Art „Weltmeister“ in der Vergangenheitsbewältigung 26 stilisiert und seine besondere Rolle als Tätervolk 27 in einem solchen Maße verinnerlicht, dass einige Opfergruppen wie etwa die Heimatvertriebenen ihre Leidensgeschichte vermeintlich vernachlässigt oder gar tabuisiert sehen. Die Homogenität, die eine solche Konstruktion kollektiver Erinnerung suggeriert, existiert natürlich nicht. Allein in Deutschland leben fast drei Millionen Polinnen und Polen, die ein neues Selbstbewusstsein erlangen. 28 Bis 1939 existierte in Deutschland eine polnische Minderheit mit entsprechendem rechtlichem Status. Im Nachbarland Polen, das nun seit drei Jahrzehnten eine Demokratie ist, lebt eine deutsche Minderheit. Polen in Deutschland und Deutsche in Polen sind kein neuer Faktor, der aber an der Erinnerungskultur auch nicht spurlos vorbeigegangen sein kann. Eine Untersuchung deutsch-polnischer Erinnerungsgeschichte muss diesen Faktor daher mindestens mitdenken. Zentral für diese Arbeit sind die Theorien der kollektiven Erinnerung und der Ansatz der verflochtenen Erinnerung 29, der gegenüber vielen anderen Theorien der Erinnerungskultur die Möglichkeit bietet, auch komplexere Beziehungen zwischen Erinnerungen abzubilden. Der Großteil der Erinnerungsforschung stützt sich bis heute auf die Arbeit des französischen Soziologen Maurice Halbwachs, der mit seinem Werk Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts Standards für die gegenwärtige wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema Erinnern und Vergessen setzte. 30 In Deutschland wird
25 Kowitz-Harms, Die Shoah im Spiegel öffentlicher Konflikte, S. 213. 26 Vgl. Aleida Assmann. 2016. Das neue Unbehagen in der Erinnerungskultur: Eine Intervention. 2. Auflage, München: C. H. Beck, S. 59 f. 27 Vgl. bspw. Aleida Assmann. 2006. Der lange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C. H. Beck, S. 84. 28 Vgl. bspw. Peter Oliver Loew. 2014. Wir Unsichtbaren: Geschichte der Polen in Deutschland. München: C. H. Beck; Christian Latz. 2016. „Polen in Berlin: Das neue Selbstbewusstsein der polnischen Community.“ Berliner Zeitung, 24. August 2016, URL: https://www. berliner- zeitung. de/ berlin/ polen- in- berlin- das- neue- selbstbewusstsein- der- polnischen- community- 24636670, Zugriff am 15. Mai 2019. 29 Vgl. Michael Werner und Bénédicte Zimmermann. 2002. „Vergleich, Transfer, Verflechtung: Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen.“ Geschichte und Gesellschaft, 28. Jg., Heft 4 (Okt. – Dez., 2002), S. 607–636. 30 Vgl. Maurice Halbwachs. 1985. Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Berlin: Suhrkamp.
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der aktuelle Diskurs auf diesem Forschungsgebiet vor allem durch die kulturwissenschaftlichen Theorien Jan und Aleida Assmanns geprägt, die für ihre Arbeit 2018 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels gewürdigt wurden. Jan Assmann entwickelte in seiner Arbeit das Konzept des kollektiven Gedächtnisses weiter und führte insbesondere den Begriff des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses ein. 31 Dieses existiert, solange es noch Zeitzeugen gibt, die von ihren Erlebnissen erzählen können. Sterben diese, muss eine Gesellschaft entscheiden, ob und in welcher Form dieser Teil der Geschichte in ihr kollektives Gedächtnis überführt werden soll. Verschiedene Erinnerungen und vor allem verschiedene Opfergruppen stehen dabei an diesem Umbruchspunkt in einem Wettbewerb, ihre (Leidens-)Geschichte in das kulturelle Gedächtnis einzubringen. Diese konkurrierenden Vergangenheiten beeinflussen auch den deutsch-polnischen Erinnerungsdiskurs erheblich. Häufig handelt es sich dabei um Opferkonkurrenzen, die Aleida Assmann in ihren zahlreichen Publikationen thematisiert. 32 Ihr Lösungsvorschlag ist ein dialogisches Erinnern, das vor allem im europäischen Rahmen ideale Voraussetzungen fände. 33 Dieser Verweis auf den der Nation übergeordneten, transnationalen Erinnerungsrahmen (hier den europäischen) ist auch für das konfliktreiche Erinnern in Deutschland und Polen von zentraler Bedeutung. Auch Claus Leggewie macht dies in Der Kampf um die europäische Erinnerung anhand der Vertreibungsgeschichte sehr deutlich, bei der bewusst ein europäischer Erinnerungsrahmen gewählt worden sei. 34 So verlockend es auch scheint, Erinnern und Vergessen in diesem europäischen Rahmen zu verorten, sollte sich eine Analyse zu Vergangenheitsbildern in Deutschland und Polen heute aber nicht auf diese Europäisierung der Erinnerung vorschnell festlegen, sondern vielmehr transnational denken. Vielen der dominanten Forschungsansätzen ist zwar gemein, dass sie durchaus die Notwendigkeit einer transnationalen Betrachtung ihrer Untersuchungsobjekte anerkennen und diese auch vermeintlich durchführen; letztendlich bleiben sie jedoch im nationalen 31 Vgl. Jan Assmann. 2013. Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 7. Auflage, München: C. H. Beck. 32 Vgl. bspw. Aleida Assmann, Der lange Schatten; Dies. Unbehagen; Dies. 2009. Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur? Wien: Picus Verlag; Dies. From Collective Violence to a Common Future; Dies. 2014. Geschichte im Gedächtnis: Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. 2. Auflage, München: C. H. Beck. 33 Vgl. Assmann, Unbehagen, S. 197 – Auch bleibt bei Assmann offen, wie ein dialogisches Erinnern in einer so asymmetrischen Beziehung wie der zwischen Deutschland und Polen realisierbar sein kann. 34 Vgl. Claus Leggewie. 2011. Der Kampf um die europäische Erinnerung: Ein Schlachtfeld wird besichtigt. München: C. H. Beck, S. 28.
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Deutungsrahmen verhaftet. 35 Gerade bei den Befürworterinnen und Befürworten einer europäischen Erinnerung um Aleida Assmann und Claus Leggewie sind auch die mutmaßlich durchaus politisch motivierten Bestrebungen auszumachen, ein modernes Europa gewissermaßen mit den altbekannten Werkzeugen nach dem Vorbild der Nation zu formen. 36 Erst in jüngster Zeit versucht die Erinnerungsforschung ernsthaft, sich aus ihrer nationalen Verankerung loszumachen. Die damit verbundene „[t]ransnationale Geschichte reagiert auf eine veränderte Wahrnehmung der Welt“ und „ist Teil einer ‚Entgrenzung‘ historischer Gegenstände seit dem Ende des Kalten Kriegs und eines gewandelten Verständnisses der Nation und der Nationalstaaten, deren Struktur sich seit einiger Zeit rasant verändert, ohne dass sie obsolet würden“. 37 Transnationale Geschichte ist nach Wolfram Kaiser weit gefasst die Geschichte von Beziehungen „über Grenzen hinweg in allen ihren Dimensionen“ 38 und „meint nicht im strengen Wortsinne bloß solche über national(staatliche) Grenzen hinweg, [. . . ] sondern auch über solche geographischer, ethnischer und kultureller Natur“ 39. Eine Wende hin zu einer transnationalen Geschichtsschreibung lässt sich in Deutschland etwa um den Beginn des neuen Jahrtausends ausmachen: During the past decade the concept of „transnational history“ has become increasingly popular, because it promises to address questions beyond the nation state. In many ways this trend responds to a growing sense of interconnectedness, stemming from the dynamics of the globalization process. 40 35 Vgl. bspw. Anthony D. Smith. 1992. „National Identity and the Idea of European Unity.“ International Affairs (Royal Institute of International Affairs 1944 –), Vol. 68, Nr. 1 (Jan., 1992), S. 55–76, hier: S. 57; Ernest Gellner. 1983, S. 6, zitiert nach: Chris Shore. 2000. Building Europe. London: Routledge, S. 17. 36 Siehe aber auch Philipp Gassert. 2012. „Transnationale Geschichte, Version 2.0.“ Docupedia-Zeitgeschichte, 29. Oktober 2012, URL: https://docupedia. de/ zg/ Transnationale_Geschichte_Version_2.0_Philipp_Gassert, Zugriff am 5. Januar 2019.: „Transnationale Geschichtsschreibung sollte die Nation nicht durch die Hintertür wieder rekonstruieren, indem sie exklusiv Grenzüberschreitungen auf der Basis national verfasster Gemeinschaften zum Gegenstand macht.“ 37 Gassert, Transnationale Geschichte. 38 Wolfram Kaiser. 2004. „Transnationale Weltgeschichte im Zeichen der Globalisierung.“ In: Geschichte der internationalen Beziehungen. Erneuerung und Erweiterung einer historischen Disziplin. Herausgegeben von Eckart Conze, Ulrich Lappenküper und Guido Müller, Köln u. a.: Böhlau Verlag, S. 65–92, hier S. 65. Der amerikanische Historiker David Thelen definiert ferner transnationale Geschichte als Frage danach „how people and ideas and institutions and cultures moved above, below, through, and around, as well as within, the nation-state, [. . . ] how well national borders contained or explained how people experienced history.“ David Thelen. 1999. „The Nation and Beyond: Transnational Perspectives on United States History.“ The Journal of American History, Bd. 86, Nr. 3, S. 965–975, hier: S. 967. 39 Kaiser, Transnationale Weltgeschichte, S. 66. 40 Konrad H. Jarausch. 2006. „Reflections on Transnational History.“ H-Net, 20. Januar 2006, URL: https://lists. h- net. org/ cgi- bin/ logbrowse. pl? trx= vx& list= h- ger-
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Transnationale Geschichte spiegelt also den Zeitgeist der Globalisierung wider, wie auch Michael Werner und Bénédicte Zimmermann in ihrem Artikel Vergleich, Transfer, Verflechtung: Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen bemerken. 41 Mit ihrem Ansatz der Histoire croisée, der verflochtenen Geschichte, wollen die Autoren im Gegensatz zu verwandten Ansätzen wie dem Vergleich oder dem Transfer nicht nur „Aufmerksamkeit auf die Überschneidungen bislang getrennt untersuchter Geschichten“ 42 richten und somit den Blick auf vormals verborgen gebliebene Aspekte der Vergangenheitsdeutung freigeben. Vielmehr sucht die Verflechtungsgeschichte auch „eine spezifische Verbindung von Beobachterposition, Blickwinkel und Objekt zu konstruieren“. 43 Dabei bietet der Ansatz der Verflechtungsgeschichte auch die Möglichkeit, ganz dezidiert Asymmetrien einzuschließen und in den Fokus zu rücken 44, was gerade im Falle der hoch asymmetrischen deutsch-polnischen Beziehungen einen großen Erkenntnisgewinn erwarten lässt. Jedoch vermag auch eine Histoire croisée die Nation nicht vollends Richtung Transnationalität zu verlassen. 45 Anwendung findet diese nicht ganz neue Idee einer Verflochtenheit von Erinnerungen häufig nur in Aufsatzsammlungen, deren Aneinanderreihung von Fallstudien den tatsächlichen Interdependenzen der Erinnerungen mehr Raum bieten könnte. Beispiele hierfür sind mit Hinblick auf Deutschland und Polen die Verflochtenen Erinnerungen: Polen und seine Nachbarn im 19. und 20. Jahrhundert 46, herausgegeben von Martin Aust, Krzysztof Ruchniewicz und Stefan Troebst, oder aber der Band Europäische Erinnerung als verflochtene Erinnerung: Vielstimmige und vielschichtige Vergangenheitsdeutungen jenseits der Nation, herausgegeben von Gregor Feindt et al. 47. Hinsichtlich der identitätsstiftenden Wirkungen verflochtener Erinnerung sind die Autoren obengenannter Arbeiten in der Regel zurückhaltend. Einen ähnlichen Ausweg aus dem Wettbewerb der Erinnerungen und dem nationalen Dilemma bietet die Idee der multidirectional memory von
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man& month= 0601& week= c& msg= LPkNHirCm1xgSZQKHOGRXQ& user= & pw=, Zugriff am 1. Juni 2020. Vgl. Werner & Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung, S. 607. Ebd., S. 608. Ebd., S. 609. Vgl. ebd., S. 619. Vgl. ebd., S. 630. Martin Aust, Krzysztof Ruchniewicz und Stefan Troebst. Hrsg. 2009. Verflochtene Erinnerungen: Polen und seine Nachbarn im 19. und 20. Jahrhundert. Köln u. a.: Böhlau Verlag. Gregor Feindt et al. 2014. Europäische Erinnerung als verflochtene Erinnerung: Vielstimmige und vielschichtige Vergangenheitsdeutungen jenseits der Nation. Göttingen: V&R unipress.
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Michael Rothberg, die Erinnerungen ebenfalls als miteinander verflochten betrachtet und bewusst eine transnationale Perspektive einnimmt, um Opferkonkurrenzen aufzulösen. 48 Weder begreift Rothberg Erinnerung als Nullsummenspiel – denn „the result of memory conflict is not less memory but more“ 49 – noch sieht er eine direkte Verbindung zwischen kollektiver Erinnerung und kollektiver Identität. 50 Erinnerung sei vielmehr, so Rothberg, von „transcultural borrowing, exchange, and adaptation“ charakterisiert. 51 Mit dieser Negation einer (direkten) Verbindung zwischen kollektiver Erinnerung und kollektiver Identität stellt sich auch Rothberg gegen den Mainstream der Erinnerungsforschung. Der Art und Weise, wie eine Gemeinschaft ihre Geschichte darstellt, fällt aber eine durchaus identitätsstiftende Rolle zu: „A group’s representation of its history will condition its sense of what it was, is, can and should be, and is thus central to the construction of its identity, norms, and values.“ 52 Die Theorie Rothbergs verfolgt also eine ähnliche Richtung wie die Theorie der Histoire croisée, der Verflechtungsgeschichte. Erinnerung über die Theorie und Methodik der Verflechtungsgeschichte und der multidirectional memory zu erschließen, muss aber einer Anerkennung der identitätsstiftenden Wirkung kollektiver Erinnerung nicht entgegenstehen. Solange diese identitätsstiftende Rolle der Vergangenheit von der Gemeinschaft wahrgenommen und genutzt wird, sollte sich auch die geschichtswissenschaftliche Forschung ihr nicht verschließen. Gerade in Versöhnungsprozessen sind diese Vergangenheitsbilder und Gruppenidentitäten Veränderungen unterworfen, denn zentrale Aufgabe der beteiligten Parteien ist „admitting the other’s truth into one’s own narrative“ 53. Dezidiert handelt es sich hier nicht um eine Homogenisierung, also nicht um ein Nullsummenspiel der Erinnerungskulturen. Ferner kann am Ende dieses Prozesses auch durchaus eine neue, übergreifende Gruppenidentität stehen. 54
48 Michael Rothberg. 2009. Multidirectional Memory: Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Stanford: Stanford University Press. 49 Michael Rothberg. 2011. „From Gaza to Warsaw: Mapping Multidirectional Memory.“ Criticism, Vol. 53, S. 523–548, hier: S. 523. 50 Vgl. Rothberg, Multidirectional Memory, S. 5. 51 Rothberg, From Gaza to Warsaw, S. 524. 52 James H. Liu und Denis J. Hilton. 2005. „How the past weighs on the present: Social representations of history and their role in identity politics.“ British Journal of Social Psychology, Vol. 44, Nr. 4, S. 1–21, hier: S. 1. 53 Herbert C. Kelman. 2004. „Reconciliation as Identity Change: A Social-Psychological Perspective.“ In: From Conflict Resolution to Reconciliation. Herausgegeben von Yaacov Bar-Siman-Tov, Oxford: University Press, S. 111–124, hier: S. 123. 54 Sozialpsychologische Versöhnungstheorien lassen auch Aussagen über den Bezug schwieriger Erinnerungen zur Gruppenidentität zu, siehe bspw. Kelman, Reconcilia-
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Erinnerung ist also nicht statisch, sondern ein Prozess. Richtigerweise sollte man eher von einem Erinnern und seinem Gegenpart, dem Vergessen, 55 bzw. in Anlehnung an das Konzept der Non-Memory 56 von Maria Hirszowicz und El˙zbieta Neyman von einem Nicht-Erinnern sprechen. Diese Arbeit orientiert sich im Wesentlichen an dem in den Kulturwissenschaften gebräuchlicheren Konzept der Erinnerungskultur. Gleichwohl verspricht aber auch das maßgeblich von Jörn Rüsen geprägte Konzept der Geschichtskultur wertvolle Erklärungsansätze, die zu einem besseren Verständnis der hier betrachteten Phänomene beitragen können. Demgemäß soll Geschichtskultur Wissenschaft und Lebenspraxis integrieren und ist „nichts anderes als Geschichtsbewußtsein in praktischem Lebenszusammenhang“ 57. Rüsens fünfdimensionales Modell der Geschichtskultur umfasste zunächst eine kognitive, eine ästhetische und eine politische Dimension, die später um eine religiöse und eine moralische Dimension ergänzt wurden. 58 Der Autor geht von einer „[a]nthropologische[n] Grundlage jeder Aktivität des Geschichtsbewußtseins“ aus, die er in der „historische[n] Erinnerung“ verortet. 59 Das in der Geschichtskultur praktisch gewordene Geschichtsbewusstsein einer Gesellschaft „äußert sich in den verschiedensten kulturellen Manifestationen“ 60, zu denen auch die hier untersuchten Erinnerungsfilme zu rechnen sind. „Geschichtskultur erzeugt neue
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tion as Identity Change und Daniel Bar-Tal. 2000. „From Intractable Conflict Through Conflict Resolution to Reconciliation: Psychological Analysis.“ Political Psychology, Vol. 21, Nr. 2 (Juni 2000), S. 351–365. Oder wie Eike Geisel in Bezug auf die Erinnerung an den Holocaust anlässlich des 50. Jahrestages der Novemberpogrome 1988 schreibt: „daß Erinnerung in Deutschland die höchste Form des Vergessens darstellt“. Geisel, Eike. 2015. „No Business like Shoahbusiness.“ In: Eike Geisel. Die Wiedergutwerdung der Deutschen. Essays & Polemiken. Herausgegeben von Klaus Bittermann, Berlin: TIAMANT, S. 32–42, hier: S. 39. Vgl. Maria Hirszowicz und El˙zbieta Neyman. 2007. „The Social Framing of NonMemory.“ International Journal of Sociology, Vol. 37, Nr. 1, Aggressors, Victims, and Trauma in Collective Memory (Frühjahr 2007), S. 74–88. Jörn Rüsen. 2001. „Auf dem Weg zu einer Pragmatik der Geschichtskultur.“ In: Geschichts-Erzählung und Geschichts-Kultur: Zwei geschichtsdidaktische Leitbegriffe in der Diskussion. Herausgegeben von Ulrich Baumgärtner und Waltraud Schreiber, München: Herbert Utz Verlag, S. 81–98, hier: S. 82. Für einen Überblick siehe Thünemann. Geschichtskultur revisited, insbes. S. 135. Jörn Rüsen. 1997. „Geschichtskultur“. In: Handbuch der Geschichtsdidaktik. 5., überarbeitete Auflage. Herausgegeben von Klaus Bergmann et al., Seelze-Velber: Kallmeyer, S. 38–41, hier: S. 38. Hans-Jürgen Pandel. 2014. „Geschichtskultur.“ In: Wörterbuch Geschichtsdidaktik. 3. Auflage. Herausgegeben von Ulrich Mayer, Hans-Jürgen Pandel, Gerhard Schneider und Bernd Schönemann, Schwalbach / Ts.: Wochenschau Verlag, S. 86–87, hier: S. 86.
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Perspektiven auf Vergangenheit und macht neue Sinnbildungsangebote“, wobei hier „die imaginative, ästhetische, inszenierte, kontrafaktische, simulative, rhetorische, diskursive Verarbeitung von Geschichte“ im Vordergrund steht. 61 Pandel folgert daraus, dass „Geschichtsbewusstsein [. . . ] kein Speichermedium zur Akkumulation von historischem Wissen [ist], sondern ein Sinnbildungsmodus, der Kontingenzen abarbeitet und damit der Orientierung in der Temporalität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dient.“ 62 Zwar stellt Rüsen fest, „dass Erinnerung und Geschichte von der gleichen Quelle kultureller Sinnbildung Gebrauch machen, wenn es darum geht, Vergangenheit als Größe der kulturellen Orientierung zur Geltung zu bringen“. 63 Trotzdem soll in der folgenden Analyse dem Konzept der Erinnerungskultur wie eingangs erwähnt der Vorzug gegeben werden. Nach Christoph Cornelißen kann der Begriff der Erinnerungskultur als „formale[r] Oberbegriff für alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse [. . . ], seien sie ästhetischer, politischer oder kognitiver Natur“ verstanden werden und ist in dieser sehr weitgefassten Definition sogar „synonym mit dem Konzept der Geschichtskultur, hebt aber stärker als dieses auf das Moment des funktionalen Gebrauchs der Vergangenheit für gegenwärtige Zwecke, für die Formierung einer historisch begründeten Identität ab“. 64 Ebenjener Aspekt ist für diese Arbeit ebenso von großer Bedeutung wie der Fakt, dass Erinnerungskultur „alle Formen der Aneignung erinnerter Vergangenheit als gleichberechtigt betrachtet“. 65 Genau diese Funktionalität von Erinnerungskultur sowie auch ihre Rolle in der Identitätsformierung sind für diese Untersuchung von besonderem Belang, die den Prozess des Erinnerns im Kontext des modernen Spielfilms in den Fokus stellt. Der deutsch-polnische Fall bietet fruchtbaren Boden, um die Idee einer Verflechtungsgeschichte auch mit Hinblick auf identitätsstiftende Momente zu diskutieren, denn gerade in Versöhnungsprozessen werden kollektive Erinnerung wie auch kollektive Identitäten auf den Prüfstand
61 Ebd. 62 Ders. 2014. „Geschichtsbewusstsein“. In: Wörterbuch Geschichtsdidaktik. 3. Auflage. Herausgegeben von Ulrich Mayer, Hans-Jürgen Pandel, Gerhard Schneider und Bernd Schönemann, Schwalbach / Ts.: Wochenschau Verlag, S. 80–81, hier: S. 81. 63 Jörn Rüsen. 2013. Historik: Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 227. 64 Christoph Cornelißen. 2012. „Erinnerungskulturen, Version: 2.0.“ Docupedia-Zeitgeschichte, 22. Oktober 2012, URL: https://docupedia. de/ zg/ cornelissen_ erinnerungskulturen_ v2_ de_ 2012, Zugriff am 3. November 2019. 65 Ebd.
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gestellt und neu verhandelt. Die Verflechtungen der Erinnerungsdebatten in Deutschland und Polen weisen dabei sowohl synchrone als auch diachrone wie auch intra- und transnationale Interdependenzen auf. Besonders aufschlussreich sind solche Erinnerungsdebatten, wenn sie an den Kern nationaler Vergangenheitskonstruktionen und Gruppenidentitäten gehen und dominante Täter-, Opfer- und Heldenbilder infrage stellen. Dabei ist es zentral, die Entwicklungen in der Erinnerungskultur auch in den Kontext aktueller, prämediativ wirkender, gesellschaftlicher Debatten wie beispielsweise die Diskussion um Flucht und Vertreibung im Kontext der Flüchtlingssituation oder den Rechtsruck in Polen zu stellen. Ebensolche Debatten werden im Kontext der Rezeption moderner Erinnerungsfilme in Deutschland und Polen geführt, die somit ein geeignetes Untersuchungsobjekt darstellen, um einen Beitrag zur Erforschung der Erinnerungskultur im modernen Europa zu leisten.
1.2 Deutsch-polnische Geschichte im Spielfilm – ein Stück Erinnerungskultur? 1.2.1 Geschichte im Spielfilm Geschichte im Spielfilm boomt und ist in den letzten Jahrzehnten zu einem ernstzunehmenden Faktor in der Vermittlung populärer Vergangenheitsbilder geworden. Das ist kein Wunder, bieten Spielfilme über die Vergangenheit doch eine sehr bequeme Möglichkeit, sich Wissen über die Geschichte anzueignen. Insbesondere in Zeiten, „in which reading, particularly serious reading about the past, is increasingly an élitist endeavour, it is possible that such history on the screen is the history of the future“. 66 Geschichte wird in diesen Filmen massentauglich aufbereitet und vermag „im Vergleich zum Sach- oder Fachbuch“ auf eine andere Art und Weise zu wirken, nämlich „eindringlich und unmittelbar durch ihre Bildgewalt, Filmmusik und Filmhelden als Identifikationsofferten, unterhaltsam, in kurzer Zeit und nachhaltig durch Kino, DVD-Verkauf, DVD-Verleih und TV-Wiederholungen“. 67 Hinzu kommen in den letzten Jahren auch die neuen Möglichkeiten, die Streaming-Plattformen im Internet auf Computern und mobilen Endgeräten zum Konsum von Geschichtsfilmen bie-
66 Robert A. Rosenstone. 2006. History on Film / Film on History. Harlow et al.: Pearson Longman, S. 132. 67 Annerose Menninger. 2010. Historienfilme als Geschichtsvermittler: Kolumbus und Amerika im populären Spielfilm. Stuttgart: Kohlhammer, S. 12 – Hervorhebung im Original.
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ten. Das sogenannte Histotainment, ein an den Begriff des Infotainments angelehntes Portemanteau aus den englischen Wörtern history (dt. ‚Geschichte‘) und entertainment (dt. ‚Unterhaltung‘), also die unterhaltsame, mediale Vermittlung von Geschichte, gehört mittlerweile zum festen Repertoire der Kinos und Fernsehanstalten. Das Konzept dahinter wird in der wissenschaftlichen Fachwelt allerdings durchaus kritisch gesehen. 68 Dokumentarische treffen dabei auf szenische Filmelemente, wobei der eine oder der andere Teil überwiegen kann. Aber taugt der Spielfilm überhaupt zur Verbreitung historischen Wissens? Sein schlechter Ruf, historisch zu ungenau zu arbeiten, um ein geeignetes Medium zur Vermittlung von Geschichtswissen zu sein, eilt dem Historienfilm zu Unrecht voraus, wie Annerose Menninger in ihrer Analyse zu Kolumbus im Spielfilm zeigt. 69 Einen Definitionsversuch solch einer Geschichte im Film unternimmt Robert A. Rosenstone, dessen Urteil über Oliver Stones Film Born on the Fourth of July sich im Grundsatz auch auf andere Spielfilme übertragen lässt, die sich mit der Vergangenheit befassen: It [der Film, Anm. JRG] refers to the past, it prods the memory but can we call it history? Surely not history as we usually use the word, not history that attempts to accurately reproduce a specific, documentable moment of the past. Yet one might see it as a generic historical moment, a moment that claims its truth by standing in for many such moments. 70
Insbesondere der letzte Teil von Rosenstones Definitionsversuch verdient Beachtung, denn die Wahrhaftigkeit, die historische Spielfilme für sich reklamieren, hat mit Authentizität im originären Sinne des Wortes nur noch wenig zu tun. Im ursprünglichen Sinne des aus dem Griechischen stammenden Wortes steht der Begriff für „eine Eigenschaft, die Aussagen, schriftliche und bildliche Quellen, Dingen sowie Orten zukommt, um ihre Echtheit, Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit zu kennzeichnen“ 71. Als Beispiel soll im Folgenden der Film Unser letzter Sommer dienen. Die Figuren dort sind fiktiv, ebenso wie ihre Geschichte. Dabei bediente sich der Regisseur Michał Rogalski Versatzstücke realer, vermeintlich authentischer Vergangenheit – sowohl einiger Episoden der eigenen Fami68 Vgl. Gerhard Lüdeker. 2012. „Histotainment.“ Lexikon der Filmbegriffe, URL: http:// filmlexikon. uni- kiel. de/ index. php? action= lexikon& tag= det& id= 7662, Zugriff am 1. Januar 2018. 69 Vgl. Menninger, Historienfilme als Geschichtsvermittler, S. 13 f. 70 Rosenstone, History on Film, S. 112. 71 Hans-Jürgen Pandel. 2014. „Authentizität.“ In: Wörterbuch Geschichtsdidaktik. 3. Auflage. Herausgegeben von Ulrich Mayer, Hans-Jürgen Pandel, Gerhard Schneider und Bernd Schönemann, Schwalbach / Ts.: Wochenschau Verlag, S. 30–31, hier: S. 30.
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liengeschichte, historischer Fakten aus Lehrbüchern als auch des Inputs geschichtswissenschaftlicher Berater. Huyssen spricht in diesem Kontext auch von massentauglich vermarkteten imagined memories. 72 Und obgleich diese imaginierte Filmgeschichte so nicht passiert ist, steht das Schicksal der Hauptfiguren Romek, Guido, Franka und Bunia für die Lebensläufe unzähliger anderer Jugendlicher dieser Zeit. Der Definition von Hans-Jürgen Pandel folgend, kann man diese Charaktere (wie auch die Protagonisten aus Unsere Mütter, unsere Väter und Warschau ’44) als typenauthentisch bezeichnen und viele der Ereignisse, die sie durchleben und die repräsentativ für die Zeit des Zweiten Weltkriegs und den Besatzungsalltag in Polen sind, als repräsentationsauthentisch. 73 Die Authentizität künstlerischer Darstellungen der Vergangenheit kann nach Matías Martínez durch Autorschaft, durch Referenz, durch Gestaltung oder durch Funktion begründet sein. 74 Diese „vier Bedeutungsaspekte ästhetischer Authentizität [. . . ] sind voneinander unabhängig“ 75 und in den hier untersuchten Erinnerungsfilmen unterschiedlich ausgeprägt. Auf der Ebene der Produktion sind es die Autoren, die durch ihre eigene Lebens- oder Familiengeschichte dem Werk eine Legitimation als Zeugnis über die Vergangenheit geben können. Den Filmemachern kommt also eine bedeutende Rolle zu, die im Abschnitt zu Produktionskontexten näher beleuchtet werden soll. Eine Authentisierung kann aber auch durch die Referenz auf konkrete historische Personen oder Ereignisse stattfinden. Besonders intensiv mit dieser Form der Authentisierung arbeitet der polnische Film Warschau ’44, der sich dem realen Ereignis des Warschauer Aufstands widmet. Auch in der TV-Miniserie Unsere Mütter, unsere Väter finden sich zahlreiche Verweise auf das reale historische Geschehen. Die polnisch-deutsche Koproduktion Unser letzter Sommer wiederum verzichtet fast völlig auf eine explizite Bezugnahme auf konkrete Ereignisse und Personen und setzt vielmehr ein implizites Weltwissen der Zuschauer voraus. Ebenso relevant wie Autorschaft und Referenz ist die Gestaltung eines Erinnerungsfilms, „die einen Wirklichkeitseffekt erzeugen“ 76 kann: „Authentizität in diesem dritten Sinne ist stets ein Effekt
72 Huyssen, Present Pasts, S. 27. Der Autor merkt auch an, dass derlei imaginierte Erinnerungen leichter wieder vergessen würden als tatsächlich erlebte Erinnerungen. Ebd. 73 Vgl. Pandel, Authentizität, S. 31. 74 Vgl. Matías Martínez. 2004. „Zur Einführung: Authentizität und Medialität in künstlerischen Darstellungen des Holocaust.“ In: Der Holocaust und die Künste: Medialität und Authentizität von Holocaust-Darstellungen in Literatur, Film, Video, Malerei, Denkmälern, Comic und Musik. Herausgegeben von Matías Martínez, Bielefeld: Aisthesis, S. 7–20. 75 Ebd., S. 12. 76 Ebd., S. 15.
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bestimmter Formen von Künstlichkeit, ist das Ergebnis von ästhetischer Inszenierung, künstlerischer Konvention und artistischer Wirkungsstrategie.“ 77 Martínez schreibt in diesem Zusammenhang von „Authentizitätsfiktionen“ 78. Auch die bereits erwähnte Typen- oder Repräsentationsauthentizität 79 kann durch die interne Gestaltung eines Erinnerungsfilms erzeugt werden, wenn dieser den Charakter eines Ereignisses, einer Epoche oder einer Gruppe ohne konkrete Referenz widerspiegelt. Eine letzte Ebene der Authentisierung stellt die Funktion und Wirkung der künstlerischen Verarbeitungen der Vergangenheit dar. 80 Wenn die Darstellungen der Vergangenheit zum Beispiel in ein Museum oder eine Gedenkfeier 81 eingebettet sind, kann ebenfalls der Eindruck des Authentischen entstehen und verstärkt werden. Ein Beispiel ist hier die Premiere von Warschau ’44 zu Beginn der Feierlichkeiten anlässlich des 70. Jahrestages des Warschauer Aufstands im Jahr 2014. Das Urteil über die Authentizität von künstlerischen Verarbeitungen der Vergangenheit stellt nach Martínez nicht nur eine Wertung ihrer ästhetischen, sondern auch ihrer moralischen Qualität dar. 82 Nicht eine historisch fundierte Authentizität, sondern vielmehr eine wahrgenommene Authentizität, also das Erzeugen einer gelungenen Illusion ebendieser ist das Ziel von Erinnerungsfilmen, die damit Seherwartungen des Publikums in einer Art Authentizitätspakt 83 zwischen Filmemachern und Zuschauern zu erfüllen versuchen. Faktizität hingegen spielt, wie im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch deutlich wird, eine untergeordnete Rolle in Spielfilmen über die Vergangenheit. In Zusammenhang mit der filmischen Bearbeitung des Themenkomplexes Flucht und Vertreibung in Film und Fernsehen der frühen Bundesrepublik 77 78 79 80 81
Ebd., S. 15 f. Ebd., S. 16. Vgl. Pandel, Authentizität. Vgl. Martínez, Zur Einführung, S. 16. Vgl. auch Achim Saupe. 2015. „Authentizität.“ Docupedia-Zeitgeschichte, 25. August 2015, URL: https://docupedia. de/ zg/ saupe_ authentizitaet_ v3_ de_ 2015, Zugriff am 3. November 2019. 82 Vgl. Martínez, Zur Einführung, S. 17. 83 Vgl. Martin Zimmermann. 2008. „Der Historiker am Set.“ In: Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen. Herausgegeben von Thomas Fischer und Rainer Wirtz, Konstanz: UVK, S. 137–160, hier: S. 158. Gemeint ist also nicht eine Authentizität im Sinne des ursprünglich aus dem Griechischen stammenden Wortes, das so viel wie Echtheit im Sinne von „als Original befunden“ bedeutet. Zum Authentizitätspakt vgl. auch Antonius Weixler. 2012. „Authentisches erzählen – authentisches Erzählen. Über Authentizität als Zuschreibungsphänomen und Pakt.“ In: Authentisches Erzählen. Produktion, Narration, Rezeption. Herausgegeben von Antonius Weixler, Berlin: de Gruyter, S. 1–32.
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Deutschland bezeichnet Maren Röger diese Art von Filmen in Anlehnung an Günter Riederer „als ‚Mythomotoren‘ moderner Gesellschaften“, die in der Lage sind, „damit mächtige Geschichtsbilder [zu etablieren, Anm. JRG], die historische Ereignisse in oft emotional besetzte Ton-BildFrequenzen übersetzten.“ 84 Diese Erinnerungsfilme, wie Astrid Erll und Stephanie Wodianka sie nennen, dienen weniger im Assmann’schen Sinne als Speichergedächtnis, sondern nehmen die Rolle als „Verbreitungsmedium des kollektiven Gedächtnisses“ an – gleichwohl sind sie in der Lage, „Informationen über die Vergangenheit zu speichern und für künftige Generationen bereitzuhalten“. 85 Thomas Fischer und Thomas Schuhbauer grenzen den Erinnerungsfilm, der sich mit einer noch aktiv im kommunikativen Gedächtnis erinnerten Vergangenheit befasst, vom Historienfilm ab, der sich mit weit zurückliegenden Vergangenheiten beschäftigt. 86 Jedenfalls müssen Erinnerungsfilme als zeitgenössische Dokumente gesehen werden, als „ein dem Hier und Jetzt verpflichtetes Medium“ 87, das in der Gegenwart seine Wirkung entfalten und „das Geschichtsbild einer Gesellschaft zu prägen“ vermag. 88 Es ist dabei weniger relevant, ob ein Erinnerungsfilm auch ein Jahrzehnt später noch seine Funktion erfüllen und als Erinnerungsfilm wirken kann. Erinnerungsfilme entwickeln ihre erinnerungskulturelle Funktion sowohl auf einer kollektiven als auch auf einer individuellen Ebene. Einerseits können sie durch ihre Breitenwirkung gesellschaftliche „Diskussionen über Erinnerung, Geschichte und Gedenken anregen und prägen“, andererseits können sie für jede und jeden Einzelnen „als Ressource für die Imagination von Vergangenheiten dienen“. 89 Sie schaffen „einen Deutungsrahmen, innerhalb dessen Menschen Geschichte wahrnehmen und sozialen Sinn konstruieren“. 90 Die Betrachtung dieses Deutungsrahmens, den Erinnerungsfilme mit ihren Vergangenheitsbildern konstituieren, kann Aufschluss „über gesellschaftlich gültige Normen, Haltungen
84 Maren Röger. 2015. „Film und Fernsehen in der Bundesrepublik.“ In: Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung. Ein Handbuch der Medien und Praktiken. Herausgegeben von Stephan Scholz, Maren Röger und Bill Niven, Paderborn: Ferdinand Schöningh, S. 126–139, hier: S. 131. 85 Astrid Erll und Stephanie Wodianka. 2008. Film und kulturelle Erinnerung. Plurimediale Konstellationen. Berlin: de Gruyter, S. 4. 86 Vgl. Thomas Fischer und Thomas Schuhbauer. 2016. Geschichte in Film und Fernsehen. Theorie – Praxis – Berufsfelder. Tübingen: A. Francke Verlag. 87 Erll & Wodianka, Film und kulturelle Erinnerung, S. 4. 88 Ebd., S. 5. 89 Ebd. 90 Günter Riederer. 2006. „Film und Geschichtswissenschaft: Zum aktuellen Verhältnis einer schwierigen Beziehung.“ In: Visual History. Ein Studienbuch. Herausgegeben von Gerhard Paul, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 96–113, hier: S. 99.
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und Werte der Zeit geben, in welcher sie gedreht und aufgeführt wurden“. 91 Ganz gleich, wie wirkmächtig das Medium Erinnerungsfilm potenziell sein mag, einen Einfluss auf die Erinnerungskultur einer Gesellschaft können diese Filme erst entfalten, wenn sie entsprechend rezipiert werden. 92 Nach Martin Gronau gibt es für Filme drei verschiedene Rezeptionsstufen: (1) die Rolle des betreffenden historischen Phänomens in der Bezugsrealität an sich, (2) die Rezeption des Phänomens in der filmischen Kontextrealität und (3) die filmanalytische Rezeption des historischen Phänomens sowie seines filmischen Abbildes in der Gegenwart der Filmanalyse. 93
Es ist daher elementar, die Rezeption der Filme mit in ihre Analyse einzubinden. Eine überzeugende Lösung bietet der Ansatz von Erll und Wodianka, der besagt, „dass eine klassische filmimmanente Produktanalyse [. . . ] nicht ausreicht, weil Erinnerungsfilme erst innerhalb der Gesellschaft, durch plurimedial vermittelte Aushandlungsprozesse zu solchen gemacht werden“. 94 Die Autorinnen plädieren deshalb für eine Kombination einer „filmimmanente[n] und filmtranszendierende[n] Analyse“ 95, die in dieser Arbeit angestrebt werden soll. An der Stärke des plurimedialen Netzwerks, in das ein Erinnerungsfilm eingebettet ist, lässt sich sein Wirkungspotenzial auf das kollektive Gedächtnis messen. 96 Insbesondere der Abschnitt zu den Rezeptionskontexten wird sich mit dieser Thematik auseinandersetzen. Erll und Wodianka stellen fest, dass „bestehende, offenbar in nationalen Gedächtnissen verankerte Repräsentationspraktiken die Rezeption von Erinnerungsfilmen in bestimmte Bahnen lenken“ 97 können. Das lässt sich für die untersuchten Filme an den in der Rezeption in Deutschland und in Polen gesetzten unterschiedlichen Schwerpunkten gut erkennen, weil sie eben in einem jeweils anderen Deutungsrahmen rezipiert werden. Vor diesem Hintergrund ist auch zu verstehen, warum manche Filme als Erinnerungsfilme in dem einen Land reüssieren und in dem anderen scheitern bzw. dass „ein und derselbe Film [. . . ] in verschiedenen Erinnerungskultu-
91 Ebd. 92 Vgl. Martin Gronau. 2009. „Der Film als Ort der Geschichts(de)konstruktion. Reflexionen zu einer geschichtswissenschaftlichen Filmanalyse.“ AEON – Forum für junge Geschichtswissenschaft, Bd. 1, S. 18–39; hier: S. 19. Erll & Wodianka, Film und kulturelle Erinnerung. 93 Gronau, Geschichts(de)konstruktionen, S. 32. 94 Erll & Wodianka, Film und kulturelle Erinnerung, S. 2. 95 Ebd., S. 6 – Hervorhebung im Original. 96 Vgl. ebd. 97 Ebd., S. 17.
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ren sogar verschiedene Erinnerungsbestände transportieren und somit aus anderen Gründen als Erinnerungsfilm gelten“ kann. 98 Es ist daher sehr wichtig, auch auf die „länderspezifische[n] Rezeptions- und Verarbeitungsmodi ein und derselben Bezugsvergangenheit“ 99 Rücksicht zu nehmen. Der Erinnerungsfilm sei zwar „prinzipiell als ein internationales Phänomen zu begreifen“, gleichwohl kann man laut Erll und Wodianka aber „von einer spezifisch deutschen Beziehung zu diesem Medium“ sprechen. 100 An dieser Position dürfen allerdings angesichts der jüngsten geschichtspolitischen Entwicklungen in Polen Zweifel angemeldet werden. Wie Małgorzata Pakier bereits 2013 in ihrer Analyse zum Thema Holocaust im deutschen und polnischen Spielfilm feststellt, ist der Film auch in Polen „as a medium of historical memory“ angekommen. 101 Es bleibt bei aller wissenschaftlichen und geschichtskulturellen Begeisterung für das Thema Geschichte im Spielfilm natürlich die seit Jahrzehnten diskutierte Frage, inwiefern Film überhaupt ein angemessenes Medium sein kann, um die Vergangenheit und im Zusammenhang mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs Themen wie den Holocaust aufzuarbeiten. Man bedenke Theodor W. Adornos – oft sehr wörtlich interpretierte – Maxime, dass es nach Auschwitz keine Kunst mehr geben könne. 102 Jenseits dieser moralischen Fragestellung bleibt aber festzustellen, dass sich der moderne Spielfilm als ein immer zentraleres Medium der Vermittlung von Wissen über die Geschichte herauskristallisiert hat. Eine besondere Rolle kommt in diesem Kontext den Filmemachern zu, die sich in ihren Werken bewusst mit der Vergangenheit auseinandersetzen und deren Beitrag unter anderem darin besteht, der Vergangenheit Bedeutung zu geben: „they create works that vision, contest, and revision history.“ 103 Ihre Rolle als Mythenschöpfer 104 bzw. Mythenmacher und Sprecher einer ganzen Generation wird im Abschnitt Produktionskontexte noch näher diskutiert. 98 99 100 101
Ebd., S. 16. Gronau, Geschichts(de)konstruktionen, S. 37. Erll & Wodianka, Film und kulturelle Erinnerung, S. 9. Małgorzata Pakier. 2013. The Construction of European Holocaust Memory. German and Polish Cinema after 1989. Frankfurt: Peter Lang, S. 160. 102 Vgl. Gerd Bayer. 2010. „After Postmemory: Holocaust Cinema and the Third Generation.“ Shofar: An Interdisciplinary Journal of Jewish Studies, Vol. 28, Nr. 4, Holocaust and Genocide Cinema (Sommer 2010), S. 116–132, hier: S. 130 f.; siehe auch Baer, Consuming history oder Siegfried Zielinski. 1980. „History as Entertainment and Provocation: The TV Series ‚Holocaust‘ in West Germany.“ New German Critique, Nr. 19, Special Issue 1: Germans and Jews (Winter, 1980), S. 81–96. 103 Rosenstone, History on Film, S. 118 – Hervorhebung im Original. 104 Vgl. Lech M. Nijakowski. 2017. „Die polnische Erinnerungspolitik.“ Jahrbuch Polen 2017: Politik. Herausgegeben vom Deutschen Polen-Institut, Wiesbaden: Harrassowitz-Verlag, S. 29–48, hier: S. 48. Auch Rosenstone bemüht die Metapher des Mythenmachers, wenn er Regisseur Oliver Stone als jemanden beschreibt „who, in a sense,
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Ihre Motive und Motivationen zur Auseinandersetzung mit dem Vergangenen sind oftmals sehr persönlich. Dieser Fakt eint sie, wie schon der Filmwissenschaftler und Historiker Rosenstone in seiner Abhandlung zum Filmemacher als Historiker feststellte: What these directors have in common is some sort of personal stake in history. All seem obsessed and burdened by the past. All keep returning to deal with it by making historical films, not as a simple source of escape or entertainment, but as a way of understanding how the problems and issues that it poses are still alive for us in the present. 105
Diese Analyse sowie der von Rosenstone gewählte Begriff des „cinematic historian“ 106 besticht auf den ersten Blick insbesondere in Bezug auf Filmemacher wie Michał Rogalski, der mit Unser letzter Sommer und Wojenne dziewczyny (Kriegsmädchen, 2017–18) in seinen Filmen schon häufig historische Themen behandelt und sich so gewissermaßen als Experte für Vergangenheit positioniert hat – ebenso wie Jan Komasa in Warschau ’44 oder Wojciech Smarzowski in Ró˙za (Rosa, 2011) oder Woły´n (Sommer 1943 – Das Ende der Unschuld, 2016). In ähnlicher Weise trifft dies auf den deutschen Regisseur Philipp Kadelbach (Hindenburg (2011), Unsere Mütter, unsere Väter) zu. Mehr durch einen Authentizitätspakt mit dem Publikum denn durch eine Verpflichtung zur historischen Faktentreue gebunden, können sich Filmemacher unter dem Deckmantel ihrer künstlerischen Freiheit Konflikten zwischen historischem Fakt und filmischer Fiktion entziehen. Gefeit vor Angriffen sind sie deshalb aber noch lange nicht, wenn mehrere Deutungen ein und desselben historischen Ereignisses, einer Gruppierung oder Person koexistieren und aufeinandertreffen. Exemplarisch zu nennen sind die Darstellung der polnischen Heimatarmee in Unsere Mütter, unsere Väter, aber auch der Umgang mit der
makes history by making myths, and makes myths in order to tell truth“. Rosenstone, History on Film, S. 132. Zur Verbindung von Mythen und Erinnerung schreibt Jan Assmann: „Mythen sind Erinnerungsfiguren: Der Unterschied zwischen Mythos und Geschichte wird hier hinfällig. Für das kulturelle Gedächtnis zählt nicht faktische, sondern nur erinnerte Geschichte. Man könnte auch sagen, daß im kulturellen Gedächtnis faktische Geschichte in erinnerte und damit in Mythos transformiert wird. Mythos ist eine fundierende Geschichte, eine Geschichte, die erzählt wird, um eine Gegenwart vom Ursprung her zu erhellen. [. . . ] Durch Erinnerung wird Geschichte zum Mythos. Dadurch wird sie nicht unwirklich, sondern im Gegenteil erst Wirklichkeit im Sinne einer fortdauernden normativen und formativen Kraft.“ Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 52. Denn: „Vergangenheit, die zur fundierenden Geschichte verfestigt und verinnerlicht wird, ist Mythos, völlig unabhängig davon, ob sie fiktiv oder faktisch ist.“ Ebd., S. 76. 105 Rosenstone, History on Film, S. 117 – Hervorhebung im Original. 106 Ebd., S. 113 – Regisseur Oliver Stone, auf dessen Arbeit Rosenstone rekurriert, hat den Begriff aber zwischenzeitlich abgelehnt.
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polnisch-jüdischen Vergangenheit während des Zweiten Weltkriegs in Ida oder Pokłosie, die auf transnationaler bzw. nationaler Ebene für Konflikte sorgten. Władysław Pasikowskis Pokłosie erzählt in Anlehnung an die reale Geschichte der Pogrome im nordostpolnischen Jedwabne 1941 die fiktive Geschichte der Brüder Franciszek und Józef Kalina, die im Polen der Gegenwart die Untaten ihrer Vorfahren aufdecken und auf eine feindselige Dorfbevölkerung treffen, die um jeden Preis die Aufarbeitung der Verbrechen gegen die jüdischen Nachbarn während des Zweiten Weltkriegs verhindern will. Paweł Pawlikowskis Ida erzählt die Geschichte der polnischen Novizin Anna, die als Waisenkind im kommunistischen Nachkriegspolen der 1960er-Jahre in einem katholischen Kloster aufgewachsen ist. Kurz bevor sie ihr Gelübde ablegt, begibt sie sich mit ihrer Tante Wanda auf Spurensuche in der gemeinsamen Familiengeschichte. Anna erfährt von ihrer jüdischen Herkunft und von einem düsteren Geheimnis: Annas Familie wurde während des Zweiten Weltkriegs von den polnischen Nachbarn ermordet, die sich danach am Besitz der Ermordeten bereicherten. Dem Film folgte eine intensive Debatte, in der vor allem Vertreter nationalkonservativer Kreise und der Anti-Diffamierungs-Liga, Reduta Dobrego Imienia, das negative Bild Polens, das der Film in der Welt verbreite, beklagten und als anti-polnische Geschichtsfälschung bewerteten. 107 Dass über Vergangenheitsbilder im Film derart emotional gestritten werden kann, macht deutlich, welch hoher Stellenwert Erinnerungsfilmen in Deutschland und Polen als Medium der Geschichtsvermittlung und darüber hinaus beigemessen wird: Der Film kann [. . . ] eine wesentliche Rolle (1) im Prozess der gesellschaftlichen Konstruktion einer traumatischen Kollektiverfahrung und (2) in der 107 Genau diese Wirkungsmacht von Geschichtsfilmen nimmt auch die Petition der Reduta Dobrego Imienia in den Blick, die das Polnische Institut für Filmkunst Polski Instytut Sztuki Filmowej – PISF aufforderte, Ida Informationen voranzuschalten, die ausländische Zuschauer historisches Wissen zur Rolle der Polen als Judenretter im Zweiten Weltkrieg vermitteln. Begründet wurde dies unter anderem mit der Zahl der Gerechten unter den Völkern in der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, wo Polen die größte nationale Gruppe ausmachen. Über 62.000 Personen haben die Petition unterzeichnet. Siehe auch Fundacja Reduta Dobrego Imienia. 2015. „Petycja w sprawie filmu ‚Ida‘.“ Citizengo.org, 17. Januar 2015, URL: https:// citizengo. org/ pl/ 15781- w- sprawie- filmu- ida, Zugriff am 7. Oktober 2018. Anlässlich der ersten TV-Ausstrahlung des Films wurden dem Film relativierende „Kommentare von Krzysztof Kłopotowski (TVP Kultura), Piotr Gursztyn (TVP Historia) und Maciej ´ Swirski (‚Reduta dobrego imienia‘)“ vorangestellt sowie die geforderten Informationen, dass es sich bei Polen eigentlich um ein Volk der Juden-Retter handle und der Film daher eine verzerrte Version der Ereignisse darstelle, vgl. Katrin Stoll, Sabine Stach und Magdalena Saryusz-Wolska. 2016. „Verordnete Geschichte? Zur Dominanz nationalistischer Narrative in Polen. Eine Einführung.“ Zeitgeschichte-online, Juli 2016, URL: https://zeitgeschichte- online. de/ thema/ verordnete- geschichte- zurdominanz- nationalistischer- narrative- polen, Zugriff am 7. Oktober 2018.
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generationsübergreifenden Transmission der [sic] Traumagedächtnisses spielen sowie (3) einen Einfluss auf die Gestalt der kollektiven Identität in der Gegenwart haben. 108
Deswegen ist Geschichte im Spielfilm ein hervorragendes Mittel, um mehr über die Transnationalisierung der Erinnerungskultur zu erfahren, spiegelt das Leitmedium Film doch ideal wider, wie die zeitgenössische Erinnerungskultur aufgestellt ist. „Jede Gegenwart entwickelt ihre eigene Vergangenheit, Geschichtsfernsehen vermag die populäre Rezeption der Vergangenheit, damit auch kollektives Erinnern [zu] prägen und so den Blick auf ihre Interpretation von Vergangenheit [zu] lenken.“ 109 Geschichte im Spielfilm wird als Werkzeug der Vermittlung von Vergangenheitsbildern in den kommenden Jahrzehnten sehr wahrscheinlich weiter an Relevanz gewinnen. Je weiter die Menschen vom Geschehen entfernt sind, desto weniger Möglichkeiten zu einem unmittelbaren Austausch mit der Erlebnisgeneration und anderen Erfahrungsräumen der Geschichte stehen ihnen offen und desto mehr werden sie auf eine mediale Vermittlung der Erinnerung bauen müssen – und damit auch auf Film. 110 Schon jetzt werden Erinnerungsfilme als unterstützende Elemente sehr gezielt in der Vermittlung von historischem Wissen in formalen Bildungskontexten platziert, wie im Abschnitt Rezeptionskontexte noch näher illustriert wird. Um zu reüssieren, folgen Erinnerungsfilme einem einfachen Rezept aus „Personalisierung, Dramatisierung und Emotionalisierung“ 111, das gleichzeitig Sehgewohnheiten der Zuschauer erfüllen muss, um eine Illusion von Authentizität zu erzeugen. Diese Beobachtung lässt sich nicht nur für das deutsche, sondern auch für das polnische Kino machen, wo durch Werkzeuge wie eine subjektivierte Narration, eine Schwerpunktsetzung auf Details und eine Kameraführung, die das Filmgeschehen aus Sicht des Protagonisten zeigt, ebenfalls eine Hinwendung zur Personalisierung und Privatisierung der Erinnerung an die Zeit zwischen 1939 und 1945 erkennbar ist. 112 Film emotionalisiert und privatisiert die Vergangenheit 108 Agnieszka Korzeniewska. 2016. „Liminalität und Post-Erinnerung. Der Zweite Weltkrieg im polnischen Spielfilm nach 1989.“ In: Der Zweite Weltkrieg im polnischen und deutschen kulturellen Gedächtnis. Siebzig Jahre danach (1945–2015). Herausgegeben von Jerzy Kała˙ ˛zny, Agnieszka Korzeniewska und Bartosz Korzeniewski, Frankfurt am Main: Peter Lang, S. 161–216, hier: S. 165. 109 Rainer Wirtz. 2008. „Alles authentisch: so war’s. Geschichte im Fernsehen oder TV-History.“ In: Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen. Herausgegeben von Thomas Fischer und Rainer Wirtz, Konstanz: UVK, S. 9–32, hier: S. 32 – Hervorhebung im Original. 110 Vgl. Bayer, After Postmemory, S. 131. 111 Wirtz, Alles authentisch, S. 15. 112 Vgl. Korzeniewska, Liminalität und Post-Erinnerung, S. 182.
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und greift damit einen Trend auf, der sich auch in anderen Bereichen der Erinnerungskultur wiederfindet. Harald Welzer beschrieb 2005 in einem gemeinsamen Interview mit Aleida Assmann in der taz, wie private Erinnerung immer stärkeren Einfluss auf die öffentliche Sphäre nimmt. Familiengeschichten, die nach dem Tode der eigentlichen Zeitzeugen freier verfügbar und erzählbar werden, werden von den nachkommenden Generationen angeeignet und erzählt – oftmals auch in einem Versuch, den eigenen Platz in dieser Geschichte zu finden. 113 Gewissermaßen reihen sich die Erinnerungsfilme damit ein „in die literarische Gattung der Väterund Familienromane“, die zunächst eine Distanzierung und Anklage der Vätergeneration vollzogen und dann seit den 1990er-Jahren einen Versuch der Kinder- und Enkelgeneration darstellten, „mithilfe von Familiendokumenten, Archivrecherchen und historischer Wissenschaft tiefer in die eigene Familiengeschichte einzudringen und sich dabei selbst in dieser Geschichte zu verorten“. 114 Geschichtsfilme tendieren dazu, Geschichte als sinnhaftes Ganzes darzustellen. 115 Das korreliert mit ihrer Tendenz, eine geschlossene Erzählform zu wählen, „wenngleich diese durchaus mit einer intertextuellen Verweisstruktur korrespondieren kann. [. . . ] Geschlossene Erzählformen eignen sich insbesondere für die retrospektive Sinngebung der Vergangenheit“. 116 Die Perspektive ist dabei durch das Geschichtsbild der Gegenwart gefärbt und folgt etablierten Deutungsmustern. 117 In dieser Arbeit spielt der Begriff der Generation eine wichtige Rolle, stehen doch die Erlebnisse einer ganz bestimmten Generation im Fokus der betrachteten Erinnerungsfilme, die ihrerseits wiederum vor allem an die Generation der gegenwärtigen Jugend gerichtet sind. So entsteht ein 113 Vgl. Stefan Reinecke und Jan Feddersen. 2005. „‚Das ist unser Familienerbe‘.“ taz am Wochenende, 22. Januar 2005, URL: http://www. taz. de/ !650641/ , Zugriff am 1. November 2017. So erklärt beispielsweise Regisseur Jan Komasa in einem Interview mit der polnischen Newsweek, dass er keinen richtigen Ort gehabt habe, an dem er verwurzelt gewesen sei. In Warschau habe seine Familie niemanden gehabt. Piotr Najsztub. 2014. „Jan Komasa o ‚Mie´scie 44‘: Chciałem nakr˛eci´c podró˙z przez piekło.“ Newsweek, 19. September 2014, URL: http://www. newsweek. pl/ kultura/ miasto- 44recenzje- jan- komasa- powstanie- warszawskie- newsweek- pl,artykuly,347606,1. html, Zugriff am 10. Dezember 2017. 114 Assmann, Unbehagen, S. 51. 115 Vgl. Bernd Kleinhans. 2016. „Mehr als Kostüm und Kulisse: Geschichtsphilosophie im Historienfilm.“ Aus Politik und Zeitgeschichte: Facts & Fiction, Nr. 51/2016, S. 19– 24. 116 Tobias Ebbrecht. 2011. Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis: Filmische Narrationen des Holocaust. Bielefeld: transcript Verlag, S. 123. 117 Vgl. ebd.
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indirekter Dialog zwischen Erlebnisgeneration und der dritten und vierten Generation nach dem Zweiten Weltkrieg, für den Erinnerungsfilme eine Mittlerfunktion einnehmen. Entlang der Kategorie Generation entfalten sich viele Diskussionen über Erinnerungskultur sowohl auf zivilgesellschaftlicher als auch auf fachlicher Ebene. Prägend war die 1928 veröffentlichte Abhandlung Das Problem der Generationen des Soziologen Karl Mannheim. 118 Mannheim unterscheidet darin Generationslagerung, Generationszusammenhang und Generationseinheit. Demzufolge ist die Generationslagerung, also die mehr oder minder unfreiwillige „Zugehörigkeit zu einander verwandten Geburtsjahrgängen“ 119, die an sich noch kein spezifisches Generationsbewusstsein hervorbringt, sondern vielmehr spezifische Möglichkeiten und Beschränkungen für das Individuum eröffne, Voraussetzung für den Generationszusammenhang. Soziologische Relevanz erlange „die geburtsmäßige Lagerung in der chronologischen Zeit“ erst, wenn auch „ein gemeinsamer historisch-sozialer Lebensraum“ bestehe. 120 Der Generationszusammenhang ist nach Mannheim „eine Partizipation an den gemeinsamen Schicksalen dieser historisch-sozialen Einheit“ 121. Innerhalb eines Generationszusammenhangs können mehrere, auch widerstreitende Generationseinheiten existieren, die „innerhalb desselben Generationszusammenhanges in jeweils verschiedener Weise diese Erlebnisse verarbeiten“ 122 und im Allgemeinen „eine viel konkretere Verbundenheit“ 123 aufweisen, insofern, als „sie nicht nur eine lose Partizipation verschiedener Individuen am gemeinsam erlebten, aber verschieden sich gebenden Ereigniszusammenhang bedeuten, sondern daß sie ein einheitliches Reagieren, ein im verwandten Sinne geformtes Mitschwingen und Gestalten der gerade insofern verbundenen Individuen einer bestimmten Generationslagerung bedeuten“ 124. Besonders prägend seien dabei die Erlebnisse, die in der Jugend gemacht wurden. 125 Diese einmal geformten Narrative bleiben aber nicht unverändert, sondern werden im Laufe des Lebens retrospektiv „neu gedeutet, anders gewichtet oder zu-
118 Karl Mannheim. 2017. „Das Problem der Generationen.“ Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 69, S. 81–119. Erstveröffentlichung: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 7, 1928, Heft 2, S. 157–185, Heft 3, S. 309– 330. 119 Ebd., S. 94. 120 Ebd., S. 99. 121 Ebd., S. 103 – Hervorhebung im Original. 122 Ebd., S. 104 f. – Hervorhebung im Original. 123 Ebd., S. 104. 124 Ebd., S. 106. 125 Vgl. ebd., S. 100.
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sammengesetzt“. 126 Zum hier ebenso relevanten Begriff der Erlebnisgeneration bemerkt Bernd Weisbrod: „Gerade im Vergleich der beiden deutschen Fälle wird deutlich, dass die Generationalisierung der Nachkriegserfahrungen einer kollektiven biographischen Illusion geschuldet zu sein scheint, die sich aus der späteren Erzählbarkeit von Erfolgs- bzw. Misserfolgsgeschichten speist.“ 127 Einen umfassenden Beitrag zum Generationsbegriff haben Ulrike Jureit und Michael Wildt in ihrem Sammelband Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs 128 vorgelegt, der den Begriff der Generation aus interdisziplinärer Perspektive beleuchtet. Generation wird unter anderem in den Zusammenhang mit „Identitätskonstruktionen, Kollektivbezug, Erfahrungsgemeinschaft und Handlungsrelevanz“ 129 gestellt und als „zeitliche[n] Ordnungsbegriff“ 130 verstanden. „Als tragfähig hat sich die Differenzkategorie ‚Generation‘ häufig erwiesen, wenn historische Großereignisse den Grenzwert bestimmen.“ 131 Für das Erinnern und Vergessen in Deutschland sei der Begriff „zur Gedächtniskategorie geworden“. 132 Bernd Weisbrod mahnt zur Vorsicht „im Umgang mit dem Generationenbegriff“, denn „Generationalität scheint [. . . ] das Ergebnis eines historischen Aushandlungsprozesses zu sein, in dem Generationen weder vorausgesetzt werden können, noch zu sich selbst kommen müssen.“ 133 Interessanterweise plädiert Weisbrod aber auch für eine transnationale Dimension in der Generationenforschung, denn „die stillen Generationsstile der emotionalen Sozialisation lassen transnationale Muster der Generationsbildung erkennen, die sich in einer gemeinsamen europäischen Geschichte der Gefühle wiederfinden lassen“. 134 Auch Aleida Assmann beispielsweise hofft, „dass sich mit der dritten und vierten Generation im Beziehungsgefüge des nationalen und europäischen Gedächtnisses moralische Barrieren und Empathieblockaden allmählich auflösen“. 135 Einer Generation zuzugehören ist demnach
126 Ulrike Jureit und Michael Wildt. 2005. „Generationen.“ In: Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs. Herausgegeben von Ulrike Jureit und Michael Wildt. Hamburg: Hamburger Edition, S. 7–26, hier: S. 24. 127 Bernd Weisbrod. 2005. „Generation und Generationalität in der Neueren Geschichte.“ Aus Politik und Zeitgeschichte: Generationengerechtigkeit, Nr. 8/2005, S. 3–9, hier: S. 7. 128 Ulrike Jureit und Michael Wildt. Hrsg. 2005. Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs. Hamburg: Hamburger Edition. 129 Jureit & Wildt, Generationen, S. 9. 130 Ebd., S. 10. 131 Ebd., S. 11. 132 Ebd., S. 16. 133 Weisbrod, Generation und Generationalität in der Neueren Geschichte, S. 8. 134 Ebd. 135 Assmann, Unbehagen, S. 48.
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etwas, das sich „zwischen Herkunft und Gedächtnis“ 136 abspielt, etwas, das nicht an nationalstaatliche Grenzen gebunden sein muss. Genau diese Beobachtung lässt sich auch in Bezug auf die hier ausgewählten Erinnerungsfilme, die sich mit der universellen Erfahrung des Erwachsenwerdens der Kriegsgeneration in Deutschland und Polen beschäftigen, machen.
1.2.2 Der Zweite Weltkrieg im deutschen und polnischen Spielfilm „Es gäbe kein polnisches Kino ohne die Mitwirkung des größeren Nachbarn im Westen, und umgekehrt war die Beteiligung von Polen am deutschen Kino beträchtlich“, schreibt Łukasz Jasina 2018 in der Titelgeschichte des deutsch-polnischen Magazins Dialog über die Zusammenarbeit im Spielfilm, die vor dem Zweiten Weltkrieg viele Verflechtungen aufwies und auch danach rasch wieder für Berührungspunkte zwischen Polen und der Bundesrepublik sorgte. 137 Geschichte im Spielfilm ist sowohl in Polen als auch in Deutschland mittlerweile ein fester Bestandteil der populären Erinnerungskultur. Einerseits sind dies Historienfilme, die große Ereignisse oder Persönlichkeiten einer schon länger zurückliegenden Vergangenheit auf der Leinwand zum Leben erwecken wie beispielsweise Aleksander Fords Verfilmung des Romans von Henryk Sienkiewicz über die Protagonisten der Schlacht bei Grundwald 1410, Die Kreuzritter (Krzy˙zacy), die 1960 zum 550. Jubiläum der Schlacht erschien, oder Philipp Stölzls Spielfilm Goethe! über den deutschen Nationaldichter Johann Wolfgang von Goethe aus dem Jahr 2010. Aber auch Spielfilme und Serien über Ereignisse der jüngeren Geschichte, die sich beispielsweise mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigen wie Czas honoru (Zeit der Ehre, 2008–2013) oder mit dem kommunistischen Erbe der DDR und der Volksrepublik Polen auseinandersetzen wie Good Bye, Lenin! (2002), Deutschland ’83 (2015) oder Cold War – Der Breitengrad der Liebe (Zimna wojna, 2018) zeigen, dass Geschichte im Spielfilm ein sehr breites Spektrum der Erinnerung abdecken kann. Die Filme geben nicht nur über das historische Ereignis, das sie verarbeiten, Aufschluss, sondern auch über erinnerungskulturelle und geschichtspolitische Befindlichkeiten der Zeit, in der sie entstanden sind. Sie selbst sind Zeitdokumente. Die Befassung mit dem Themenkomplex des Zweiten Weltkriegs ist kein neues Motiv des deutschen und polnischen Films. Für das polnische Kino bedeutete eine filmische Auseinandersetzung mit den deut136 Weisbrod, Generation und Generationalität in der Neueren Geschichte, S. 9. 137 Łukasz Jasina. 2018. „Was Polen und Deutsche im Kino verbindet.“ DIALOG, Nr. 126, 04/2018–2019, S. 8–19, hier: S. 9.
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schen Verbrechen, insbesondere dem Holocaust, auch eine Beschäftigung mit den deutsch-polnischen Beziehungen, wurde das besetzte Polen doch unfreiwillig zum Hauptschauplatz der rassistischen Vernichtungspolitik Deutschlands unter der Führung Adolf Hitlers. Oftmals aber blieben die im polnischen Film gezeigten Deutschen eindimensional und stereotyp, ebenso wie Polen im deutschen Film über den Zweiten Weltkrieg keine herausgehobene Rolle eingenommen hat. Die Rezeption des polnischen Films in Deutschland ist bis heute einem kleineren Kreis interessierter Menschen vorbehalten, wenngleich einige herausragende Regisseure auch international Einfluss erlangt haben und ihre Filme so auch im westlichen Nachbarland zu platzieren vermögen. Zu diesen Regisseuren gehörten der 2017 verstorbene Andrzej Wajda sowie die etablierten Filmemacher Agnieszka Holland und Roman Polanski und ferner, als prominentester Angehöriger der jüngeren Generation, Paweł Pawlikowski, der Macher von Ida und Cold War. Um die Diskussion über die aktuellen filmischen Umsetzungen der Vergangenheit in Deutschland und Polen besser einordnen zu können, lohnt es, sich einen Überblick über die Meilensteine der Darstellung des Zweiten Weltkriegs im Film in den beiden Nachbarländern zu verschaffen, ist doch die filmische Umsetzung ebenjenes Erinnerungsstoffs hier wie dort ein Spiegel der zeitgenössischen Erinnerungskultur. Eine umfassende Abhandlung über den Nationalsozialismus im Film, von seinen Nachkriegsanfängen bis zu gegenwärtigen, popkulturellen Umsetzungen legte Sonja M. Schultz 138 vor. Sie beschränkt sich dabei nicht nur auf Deutschland, sondern befasst sich auch mit Filmen anderer Provenienz, beispielsweise mit Quentin Tarantinos antifaktischem Hollywood-ActionFilm Inglourious Basterds (2009). Über Deutschland und Polen. Filmische Grenzen und Nachbarschaften schreiben in einer von Konrad Klejsa und Schamma Schahadat 139 herausgegebenen Aufsatzsammlung verschiedene deutsche und polnische Wissenschaftler. Speziell mit der Entwicklung der Darstellung des Holocaust im polnischen Film setzt sich Marek Haltof 140 auseinander. Auch Małgorzata Pakier 141 beschäftigt sich mit dem Thema, das sie anhand einiger moderner Filmbeispiele aus Deutschland und Polen in einem europäischen Rahmen verortet.
138 Sonja M. Schultz. 2012. Der Nationalsozialismus im Film. Von Triumph des Willens bis Inglourious Basterds. Berlin: Bertz+Fischer. 139 Konrad Klejsa und Schamma Schahadat. 2011. Deutschland und Polen: Filmische Grenzen und Nachbarschaften. Marburg: Schüren. 140 Marek Haltof. 2014. Polish Film and the Holocaust. Politics and Memory. Taschenbuchausgabe, New York: Berghahn. 141 Pakier, European Holocaust Memory.
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Die Erinnerung an die Zeit des Zweiten Weltkriegs ist zweifelsohne ein entscheidendes Spannungsfeld zwischen Deutschland und Polen, das nicht nur Filmemacher beschäftigt. Auch auf politischer Ebene ist die Vergangenheit und auch der Umgang des Anderen mit der Vergangenheit ein Thema – sowohl in Warschau als auch in Berlin. 142 Zwischen 1939 und 1945 hatte das nationalsozialistische Deutsche Reich Polen besetzt. Auf polnischem Gebiet wurde auf grausame Art und Weise die „Endlösung der Judenfrage“ in den Konzentrations- und Vernichtungslagern von Treblinka, Majdanek, Sobibór, Auschwitz und an vielen weiteren Orten vorangetrieben. Auch viele Polinnen und Polen nichtjüdischer Herkunft fielen dem Terror der nationalsozialistischen Besatzer zum Opfer – unter anderem, weil sie sich im Widerstand engagierten oder Juden vor den Deutschen versteckten. Einige Spielfilme behandelten schon kurz nach Kriegsende die unterschiedlichen Facetten dieser Thematik, die bis heute eine Inspiration für polnische Filmemacher ist und durch den Systemwechsel nach 1989 eine neue Ebene des Sag- und Zeigbaren erlangt hat. Gleichzeitig aber nutzten einige Polen, sogenannte Szmalcowniki, die Schutzbedürftigkeit ihrer jüdischen Mitbürger und die von den deutschen Besatzern unter Strafe gestellte Hilfsbereitschaft ihrer Landsleute zur eigenen, erpresserischen Bereicherung aus, wie Agnieszka Holland 2011 in ihrem Film In Darkness (W ciemno´sci, 2011) am Beispiel des polnischen Kanalarbeiters Leopold Socha zeigte. Teilweise entlud sich der im Land verbreitete Antisemitismus auch in Pogromen der polnischen Bevölkerung an ihren jüdischen Nachbarn wie beispielsweise am 10. Juli 1941 im nordostpolnischen Jedwabne oder 1946 im südpolnischen Kielce. Deutschland und Polen stehen in Bezug auf die Bewältigung ebenjener Vergangenheit an unterschiedlichen Punkten – zumindest, wenn man das deutsche Modell als Maßstab anlegt. 143 Während dieser Prozess in Westdeutschland mit den Auschwitz-Prozessen 144 bereits Ende der 1960er-Jahre begann, konnte
142 Siehe bspw. die Geschichtspolitik der PiS-Regierung oder das oben bereits erwähnte Dossier des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages. 143 Timothy Garton Ash sprach in diesem Zusammenhang von einer DIN-Norm der Vergangenheitsbewältigung, vgl. Assmann, Unbehagen, S. 59. 144 Die filmische Auseinandersetzung mit den Auschwitzprozessen und mit der Person des Frankfurter Generalstaatsanwaltes Fritz Bauer begann interessanterweise erst vor einigen Jahren mit Filmen wie Im Labyrinth des Schweigens (2014) und Der Staat gegen Fritz Bauer (2015). Als „das wohl erste große internationale Medienereignis im Umgang mit NS-Zeit und Holocaust“, das die Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte in der Bundesrepublik befördert hat, kann aber auch der Eichmann-Prozess von 1961 gesehen werden, siehe Holger Thünemann. 2017. „Eichmann in Jerusalem – Überlegungen zur Zeitgeschichte.“ In: Zugänge zur deutschen Zeitgeschichte (1945– 1970). Geschichte – Erinnerung – Unterricht. Herausgegeben von Barbara Hanke, Schwalbach / Ts.: Wochenschau Verlag, S. 125–138, hier: S. 128. Auch Peter Krause
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eine ähnliche Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und ihren weniger rühmlichen Episoden in Polen erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 stattfinden. Der wichtigste Meilenstein in Polen war „probably the most profound nation-wide debate in the eastern part of Europe [. . . ] regarding the 1941 events at Jedwabne“. 145 Ausdruck dieser Debatte ist auch der kontrovers rezipierte Film Pokłosie von Władysław Pasikowski aus dem Jahre 2012 – gedreht und veröffentlicht über 70 Jahre nach den Ereignissen. Dem gesellschaftlich verordneten Beschweigen stand ein politisches gegenüber. Unmittelbar nach Kriegsende spielten die vorausgegangenen Jahrzehnte im deutschen Film zunächst eine untergeordnete Rolle. In der unmittelbaren Nachkriegszeit dominierte in der deutschen Erinnerungskultur ein kollektives Beschweigen 146 der Jahre 1933 bis 1945, das sich auch im Film bemerkbar machte. Filme, die sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit dem Thema Nationalsozialismus auseinandersetzten, stellten oft einfache Soldaten in den Mittelpunkt, die als Spielbälle der großen Geschichte und kaum greifbarer, böser Mächte und Männer präsentiert wurden. Die Ideologie des NS-Regimes teilen die Protagonisten nicht, die massenhafte Verfolgung und Vernichtung der Juden wurde allenfalls am Rande thematisiert. Dazu gehörten die Verfilmung von Carl Zuckmayers Drama Des Teufels General (1955) über den Luftwaffengeneral Harry Harras und der fünfteilige Fernsehfilm Am grünen Strand der Spree (1960), der sich als Straßenfeger entpuppte, sowie ferner Wolfgang Staudtes Rosen für den Staatsanwalt (1959). Aber auch Bernhard Wickis Antikriegsfilm Die Brücke (1959) über sieben Jungen, die in den letzten Kriegstagen 1945 zum Kriegsdienst einberufen werden und mit der Verteidigung einer zur Sprengung vorgesehenen Brücke beauftragt werden, ist
erkennt im Eichmann-Prozess eine „Initialzündung für eine verstärkte Auseinandersetzung mit den Gräueltaten des NS-Regimes“, der „lange vor ‚68‘ – dazu bei[trug], das ‚kommunikative Beschweigen‘ (Lübbe) der 50er-Jahre zu beenden“. Peter Krause. 2011. „‚Eichmann und wir‘. Die bundesdeutsche Öffentlichkeit und der Jerusalemer Eichmann-Prozess 1961.“ In: NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR. Herausgegeben von Jörg Osterloh und Clemens Vollnhals, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 283–306, hier: S. 285. 145 Pakier, European Holocaust Memory, S. 10. 146 Vgl. dazu Hermann Lübbe, der den Terminus „kommunikatives Beschweigen“ prägte: „In der Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland war, wie geschildert, eher das integrative Verhalten zu braunen Biographieanteilen der gewöhnliche Fall und daher, diesseits gewisser Grenzen, ihr kommunikatives Beschweigen unter der Prämisse, daß es politisch weniger wichtig sei, woher einer kommt als wohin er zu gehen willens ist.“ Hermann Lübbe. 1983. „Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewusstsein.“ Historische Zeitschrift, Bd. 236, S. 579–599, hier: S. 594.
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hier zu nennen. 147 Die Botschaft ist klar: Die Bösen, das waren die anderen, die Opfer, das waren die Deutschen. Der Mythos der sauberen Wehrmacht und einer verführten Gesellschaft im starken Kontrast zu den skrupellosen SS-Männern, die die nationalsozialistische Ideologie leben, dominiert in filmischen Darstellungen dieser Zeit. Diese Externalisierung der Schuld 148 wich in Westdeutschland erst durch einen Impuls von außen einer anderen Art der Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg. Diesen Impuls bot 1979 die Ausstrahlung der US-Serie Holocaust – Die Geschichte Der Familie Weiß 149 von Marvin Chomsky, die nicht unumstritten war. In der Folge gewann vor allem das Schicksal der jüdischen Opfer im deutschen Spielfilm an Gewicht, aber auch zentrale Persönlichkeiten des Nationalsozialismus wurden in den Fokus gestellt. Auch Produktionen über den deutschen Widerstand gewannen im Nachgang an Aufmerksamkeit. Nennenswert sind Filme wie Die weiße Rose (1982) oder Sophie Scholl – Die letzten Tage (2005) über die Widerstandsgruppe Weiße Rose in München, aber auch Elser – Er hätte die Welt verändert (2015) über das gescheiterte Attentat Georg Elsers auf Adolf Hitler am 8. November 1939 im Bürgerbräukeller in München. Deutsche und internationale Spielfilme wie Stauffenberg (2004) oder Bryan Singers Operation Walküre – Das Stauffenberg-Attentat (2008) griffen das erfolglose Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 auf, das von einer Gruppe um Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg durchgeführt wurde. In der unmittelbareren Nachkriegszeit konnten Filme wie Der 20. Juli (1955) oder Es geschah am 20. Juli (1955) über ebenjenes Ereignis das Publikum
147 Eine Kontinuität dieser Darstellungen der Vergangenheit im Film in Deutschland ist nicht von der Hand zu weisen. 2008 wurde Wickis Die Brücke von Wolfgang Panzer neu verfilmt. 148 Gemeint ist die Externalisierung der Schuld gewöhnlicher Deutscher. Zum Umgang mit Schuld auf politischer und gesamtgesellschaftlicher Ebene vgl. aber auch die Terminologie des Soziologen M. Rainer Lepsius, der den Terminus Externalisierung auf Österreich bezieht und den Umgang mit der Vergangenheit in der Bundesrepublik als eine Internalisierung von Schuld betrachtet: „Der Nationalsozialismus sollte in ihrem Falle durch Institutionenreform des politischen Systems und den Aufbau von demokratischen Wertüberzeugungen überwunden werden. Er diente daher als dauernde Mahnung und Vergleichsmaßstab angesichts von nicht-funktionierenden institutionellen politischen Ordnungen (etwa der NPD-Wahlerfolge) oder bei sichtbaren Mängeln der demokratischen und politischen Wertüberzeugungen bei Individuen oder Gruppen“. M. Rainer Lepsius. 1989. „Das Erbe des Nationalsozialismus und die politische Kultur der Nachfolgestaaten des ‚Großdeutschen Reiches‘.“ In: Kultur und Gesellschaft. Verhandlungen des 24. Deutschen Soziologentages, des 11. Österreichischen Soziologentages und des 8. Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Zürich 1988. Herausgegeben von Max Haller et al., Frankfurt u. a.: Campus Verlag, S. 247–264, hier: S. 251. 149 Vgl. bspw. Anton Kaes. 1990. „History and Film: Public Memory in the Age of Electronic Dissemination.“ History and Memory, Vol. 2, Nr. 1, S. 111–129.
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nicht für sich gewinnen. Erst in den 1960er-Jahren gelang es, Oberst von Stauffenberg und seine Verbündeten gesellschaftlich zu rehabilitieren. In der Sowjetischen Besatzungszone entstanden zwar in den ersten Jahren nach dem Krieg Ausnahmefilme wie Die Mörder sind unter uns (1946) oder Ehe im Schatten (1947), die sich mit nationalsozialistischer Gewalt und Judenverfolgung auseinandersetzten. Doch mit der Gründung der DDR 1949 ging auch die Ideologisierung des Spielfilms einher, der nun immer mehr Ereignisse und Personen in den Vordergrund stellte, die mit einer sozialistischen Weltanschauung konform waren. Zentral war die Abgrenzung zur Bundesrepublik Deutschland, die als Nachfolgestaat des „Dritten Reichs“ gesehen wurde und eine Betonung der Opferrolle der Kommunisten, die ebenfalls unter der Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime zu leiden hatten. In das Erbe dieses antifaschistischen Widerstands wollte sich die DDR stellen. 150 Eine Kritik oder unvorteilhafte Darstellung der Bruderstaaten Polen und der Sowjetunion wäre nicht opportun gewesen. Zeugnis dieser Ideologie ist beispielsweise die DEFA-Verfilmung des Romans von Bruno Apitz aus den 1060er-Jahren, Nackt unter Wölfen, der im Konzentrationslager Buchenwald spielt und die Geschichte eines kleinen Jungen erzählt, der ins Lager geschmuggelt und schließlich von kommunistischen Mithäftlingen vor dem Tode gerettet wird. 151 2015 wurde er von Philipp Kadelbach, dem Regisseur von Unsere Mütter, unsere Väter, nach einem Drehbuch von Stefan Kolditz und produziert von Nico Hofmann neu verfilmt. Im wiedervereinigten Deutschland setzten sich vor allem die Entwicklungen der westdeutschen Erinnerungskultur im Film fort. Spielfilme über die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik und den Umgang mit Schuld und Verantwortung wurden gedreht wie beispielsweise Abrahams Gold (1990) oder Das schreckliche Mädchen (1990). Dieser Trend der dritten Welle von Holocaust-Filmen, wie Meghan O’Dea 152 sie in Anlehnung an die Klassifizierung von Annette Insdorf 153 bezeichnet und mit denen sich unter anderem auch Gerd
150 Für die DDR stellt Lepsius fest, dass „[d]er Nationalsozialismus [. . . ] über die Kategorie des Faschismus universalisiert“ wurde. Lepsius, Das Erbe des Nationalsozialismus, S. 251. 151 In der DDR wurde das Buch gleich zweimal verfilmt. 1960 vom Deutschen Fernsehfunk und 1963 von der DEFA. 152 Meghan O’Dea. 2013. „Reflecting on the Present Burdened by the Past: GermanPolish Relations in Robert Thalheim’s Film ‚Am Ende kommen Touristen (2007)‘.“ German Politics & Society, Vol. 31, Nr. 4 (109), S. 40–58, hier: S. 42. 153 Vgl. Annette Insdorf. 2003. Indelible Shadows. Cambridge: University Press, S. 247: „Whereas the first wave of Holocaust films from the 1950s to 1970s focused on Jewish victims and Nazi villains [. . . ] the second wave has concentrated on resistance and rescue.“
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Bayer 154 oder Tobias Ebbrecht-Hartmann 155 auseinandersetzen, setzt sich bis heute fort und ist vor allem dem modernen europäischen Film eigen. Diese Filme zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Vergangenheit aus der Perspektive der Gegenwart erinnern: Much more than about uncovering the historic truth, these films are about the difficult challenge of coming to terms with a hidden, suppressed and vanished past and with the conflicting memories that are still rising from it. 156
2007 verfilmte Robert Thalheim seine eigenen Erinnerungen an den Zivildienst in der Gedenkstätte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz im Coming-of-Age-Film Am Ende kommen Touristen. 157 2014 und 2015 erschienen mit Im Labyrinth des Schweigens und Der Staat gegen Fritz Bauer gleich zwei Filme über den ehemaligen hessischen Generalstaatsanwalt, der maßgeblich für die Frankfurter Auschwitz-Prozesse verantwortlich zeichnete. Die Blumen von gestern befasste sich 2017 mit dem Umgang mit Vergangenheit auf der Ebene der Generation der Täter- und Opferenkel. Der Zugang des Films zu dem Thema über das Genre der romantischen Komödie und die Umsetzung in ihrer Gesamtheit wurden durchaus kontrovers diskutiert. 158 Aber auch das Leid der deutschen Bevölkerung rückte mit der Jahrtausendwende wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit. Sowohl die Bombardierung Dresdens im Eventfilm Dresden (2006) als auch die Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in Die Flucht (2007), aber auch Unsere Mütter, unsere Väter (2013) stellen deutsche Opfer in den Mittelpunkt der Erzählung. Wenn auch im Allgemeinen das Schicksal einfacher Menschen mittlerweile im Zentrum des filmischen Narrativs steht, so übt auch die Persönlichkeit Adolf Hitlers nach wie vor eine Faszination auf 154 Vgl. Bayer, After Postmemory. 155 Tobias Ebbrecht-Hartmann. 2015. „Locked Doors and Hidden Graves: Searching the Past in Pokłosie, Sarah’s Key and Ida.“ In: Holocaust Cinema in the Twenty-First Century: Images, Memory and the Ethics of Representation. Herausgegeben von Gerd Bayer und Oleksandr Kobrynskyy, New York: Columbia University Press, S. 141–160. 156 Ebd., S. 148. 157 Eine Analyse dieses Films unternehmen beispielsweise O’Dea, Reflecting on the Present, Bayer, After Postmemory und Joanna K. Stimmel. 2005. „Between Globalization and Particularization of Memories: Screen Images of the Holocaust in Germany and Poland.“ German Politics & Society, Vol. 23, Nr. 3(76), S. 83–105; Friederike B. Emonds. 2011. „Revisiting the Memory Industry: Robert Thalheim’s Am Ende kommen Touristen.“ Colloquia Germanica, Vol. 44, Nr. 1 (2011), S. 55–78. 158 Vgl. bspw. Martin Schwickert. 2017. „Entsetzlich komisch.“ ZEIT Online, 13. Januar 2017, URL: https://www. zeit. de/ kultur/ film/ 2017- 01/ die- blumen- von- gesternfilm- lars- eidinger- holocaustbewaeltigung, Zugriff am 5. Januar 2019. und Matthias Dell. 2017. „Vögeln, fluchen, verdrängen.“ Spiegel Online vom 12. Januar 2017, URL: http://www. spiegel. de/ kultur/ kino/ die- blumen- von- gestern- mit- lars- eidinger- voegeln- fluchen- verdraengen- a- 1128939. html, Zugriff am 5. Januar 2019.
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das Publikum aus. Nachdem Spielfilme, die sich explizit mit dem Diktator beschäftigten, über viele Jahre von den Leinwänden verschwunden waren, gab es in den letzten Jahren wieder einige Filmprojekte, die Adolf Hitler in den Fokus stellten, beispielsweise in Oliver Hirschbiegels Der Untergang (2004). Allerdings waren einige der neueren Produktionen eher komödiantischer Natur, wie beispielsweise Mein Führer – Die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler (2007) von Daniel Levy oder Er ist wieder da (2015) von David Wnendt, die nach Timur Vernes Roman Adolf Hitler im heutigen Berlin Mitte wiederauferstehen lässt. Es ist also kein Novum, dass sich Filmemacher in Deutschland mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs auseinandersetzen und auch in Polen hat dieses Thema eine lange Tradition. Bereits 1948 legte die AuschwitzÜberlebende Wanda Jakubowska mit Ostatni etap (Die letzte Etappe) einen Film über die Vernichtung der Juden vor, der auch in ostdeutschen Kinos gezeigt wurde. 159 Filme, die sich mit der Vernichtung der Juden befassten, hatten es in der kommunistischen Volksrepublik nicht leicht, wo noch 1968 eine anti-jüdische Kampagne initiiert wurde. 1963 erschien Andrzej Brzozowskis Film Am Bahngleis (Przy torze kolejowym), 1967 wurde Janusz Nasfeters Die lange Nacht (Długa noc) fertiggestellt. Nasfeters Film konnte allerdings erst 1989 veröffentlicht werden, da er 1967 sowohl in die Zeit des Sechs-Tage-Kriegs als auch in die Zeit der antisemitischen Kampagne 1968 in Polen fiel. Gleichsam scheiterten Versuche, in ebenjener Zeit in Polen einen Film über den Arzt Janusz Korczak oder eine Verfilmung von Jerzy Andrzejewskis Die Karwoche zu realisieren. Erst nach dem Zusammenbruch des Kommunismus gelang die Verfilmung durch Andrzej Wajda mit Korczak (1990) und Die Karwoche (Wielki tydzie´n, 1995). 160 Filme über den Zweiten Weltkrieg und eine deutsch-polnische Thematik sind eng miteinander verflochten. Król analysiert, dass über 80 % der Spielfilme in Polen zwischen 1946 und 1995, die sich mit den deutschpolnischen Beziehungen beschäftigen, direkt oder indirekt den Zweiten Weltkrieg zum Thema haben. 20 % aller polnischen Spielfilme in dieser Zeit hatten eine „deutsche“ Thematik. 161 Einer der ersten Filme dieser
159 Vgl. Frank Bösch. 2016. „Zeitgeschichte im Spielfilm – Konjunkturen eines erfolgreichen Genres.“ In: Inszeniert. Deutsche Geschichte im Spielfilm. Herausgegeben von der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld: Kerber Verlag, S. 8–19, hier: S. 12. 160 Vgl. Piotr Zwierzchowski. 2012. „Obraz Zagłady w polskim filmie.“ Stowarzyszenie Filmowców Polskich, 3. Januar 2012, URL: https://www. sfp. org. pl/ wydarzenia,47,4326,1,1,Obraz- Zaglady- w- polskim- filmie. html, Zugriff am 25. Dezember 2018. 161 Vgl. Eugeniusz Cezary Król. 2009. „Obraz Niemców w polskim filmie fabularnym w latach 1946–1995. Przyczynek do studiów nad mitami i stereotypami narodowymi.“
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Art war Leonard Buczkowskis Verbotene Lieder (Zakazane piosenki) aus dem Jahre 1946, dem große Klassiker der polnischen Filmgeschichte wie beispielsweise Andrzej Wajdas Der Kanal (Kanał, 1957) oder Andrzej Munks Eroica (1958) oder Die Passagierin (Pasa˙zerka, 1963) folgten, die sich ebenfalls mit der deutschen Besatzungszeit auseinandersetzten. Auch für spätere Produktionen wie Westerplatte (1967), die noch heute sehr beliebte Serie Vier Panzersoldaten und ein Hund (Czterej pancerni i pies, 1966–1970) oder die Fernsehserie um den polnischen Agenten Stanisław Kolicki, der als deutscher Oberleutnant Hans Kloss in Stawka wi˛eksza ni˙z z˙ycie (Sekunden entscheiden, 1968–1969) den Feind ausspioniert, war dieses Sujet prägend. 162 Ihrerseits halfen diese Filme, das Bild der Deutschen in der polnischen Bevölkerung zu prägen. Aus der Perspektive der kommunistischen Machthaber eignete sich der Spielfilm daher auch, um ein deutsches Feindbild zu pflegen. Gleichwohl schreibt Ferro über das polnische Kino zu kommunistischen Zeiten: Aber die großen Filmwerke der Gegen-Geschichte kommen natürlich aus Gesellschaften, in denen das politische Regime der Geschichte nicht ihre Freiheit läßt und wo sie eine kinematographische Form annimmt, um sich auszudrücken. So benutzt das polnische Kino auf seine Weise die Geschichte, um die Dissidenz zur Gesellschaft zu beschreiben: wie L. M. Rawicki zeigt, bildet der Zweite Weltkrieg ein bevorzugtes Sujet, um eine umfassende Kritik am Regime zu üben. 163
Nach dem Ende des Kommunismus konnten viele Themen auch in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens klarer formuliert werden. Im Film findet nun auch eine Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Sowjetunion gegenüber Polen während des Zweiten Weltkriegs statt, zum Beispiel mit der Ermordung der polnischen Offiziere in Andrzej Wajdas Das Massaker von Katyn (Katy´n, 2007), Wojciech Smarzowskis Ró˙za (Rosa, 2011) über eine von Rotarmisten vergewaltigte Masurin und einen ehemaligen Soldaten der polnischen Heimatarmee im Ostpreußen der unmittelbaren Nachkriegszeit oder Janusz Zaorskis Syberiada Polska (SibiriIn: Biuletyn Polskiej Misji Historycznej = Bulletin der Polnischen Historischen Mission, Bd. 5, S. 129–170, hier: S. 166. Für eine deutschsprachige Ausführung siehe Eugeniusz Cezary Król. 2011. „Gesellschaftliche und politische Grundlagen des Bildes der Deutschen im polnischen Spielfilm nach dem Zweiten Weltkrieg.“ In Deutschland und Polen: Filmische Grenzen und Nachbarschaften. Herausgegeben von Konrad Klejsa und Schamma Schahadat, Marburg: Schüren, S. 33–43. 162 Von der großen Beliebtheit der Reihe zeugt auch, dass 2012 unter dem Titel Hans Kloss – Spion zwischen den Fronten ein Sequel der Originalproduktion in die Kinos kam, das allerdings an den Erfolg nicht anknüpfen konnte. 163 Marc Ferro. 1991. „Gibt es eine filmische Sicht der Geschichte?“ In: Bilder schreiben Geschichte: Der Historiker im Kino. Herausgegeben von Rainer Rother, Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, S. 17–36, hier: S. 25.
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sches Exil, 2013) über die Deportation von Polen in die sowjetischen Lager nach Sibirien. Auch die schwierigeren Seiten der polnisch-jüdischen Beziehungen im Zweiten Weltkrieg werden offen thematisiert, zum Beispiel in Daleko od okna (internat. Filmtitel Keep Away from the Window, 2000), im viel diskutierten Film Pokłosie (2012) von Władysław Pasikowski oder im für einen Oscar nominierten Film In Darkness (2011) von Agnieszka Holland. Filme wie Michał Rogalskis Unser letzter Sommer (2015) lenken den Blick auf das Leben ganz normaler Menschen, deren Handeln im Krieg oft durch den Wunsch nach Normalität und einem guten Leben getrieben ist. Auch der polnische Widerstand erhält in neueren Filmen wie in Jan Komasas Warschau ’44 (2014) über den Warschauer Aufstand sowie in Marcin Krzyształowiczs Obława (Treibjagd, 2012) oder Krzysztof Zalewskis Historia Roja – Czyli w ziemi lepiej słycha´c (Die Geschichte von Rój, 2016) eine Plattform, die zu Zeiten des Kommunismus nicht denkbar gewesen wäre. Nijakowski spricht von einer „Explosion der Erinnerung“ nach 1989, der ein „mehr oder weniger chaotischer Prozess der ‚Dekommunisierung der Geschichte‘ folgte“, der noch läuft. Im Rahmen dieses Prozesses werden aber nicht nur vermeintliche Tabus aus kommunistischer Zeit aufgearbeitet, sondern es geht „vielmehr um die Konstruktion eines neuen Narrativs von Vergangenheit, das jedoch in hohem Maße auf vorgängige Erinnerungscodes zurückgriff“. 164 In einer CBOS-Umfrage aus 2014 zum 75. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs gaben 71 % der Polen an, dass „der Zweite Weltkrieg [. . . ] nach wie vor aktueller Teil der polnischen Geschichte [ist], der immer wieder in Erinnerung gerufen werden müsse“. 165 Es ist daher wenig verwunderlich, dass sich ganze Fernsehserien wie Czas honoru oder Wojenne dziewczyny der Zeit der Besatzung aus der Sicht junger Polinnen und Polen widmen und auch über 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Quotengaranten bleiben. Den größten Einfluss hatten in den vergangenen Jahrzehnten Erinnerungsfilme aus Hollywood, deren Bearbeitung des Erinnerungsstoffs Zweiter Weltkrieg sowohl in Deutschland als auch in Polen Standards definierte. Wie im Verlaufe dieser Arbeit deutlich werden wird, gehören dazu vor allem der Film Schindlers Liste (Schindler’s List, 1994) von Steven Spielberg über den deutschen Fabrikanten Oskar Schindler, der in seiner Emaille-Fabrik im besetzten Krakau Juden rettete, und Der Pianist (The Pianist, 2002) von Roman Polanski, in dem die Erinnerungen des jüdischen Musikers und Autors Władysław Szpilman an sein Überleben 164 Nijakowski, Die polnische Erinnerungspolitik, S. 33. 165 Ergebnisse einer Umfrage des CBOS, Komunikat Nr. 114/2014, zitiert nach: Nijakowski, Die polnische Erinnerungspolitik, S. 33.
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und seine Flucht aus dem Warschauer Ghetto geschildert werden – im Übrigen eine deutsch-polnische Koproduktion. Diese und weitere Filme aus Hollywood haben das visuelle Gedächtnis und die Konventionen filmischer Darstellung des Zweiten Weltkriegs auf einer transnationalen Ebene maßgeblich geprägt. Angesichts der stellenweise mangelhaften Erinnerung in Europa setzte in den späten 1980er-Jahren eine Amerikanisierung der Holocaust-Erinnerung ein. 166 Schon ein Jahrzehnt zuvor hatte die amerikanische Serie Holocaust in Westdeutschland für einen Umbruch in der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg gesorgt. Andreas Huyssen spricht von einer Globalisierung der Holocaust-Erinnerung seit dem Ende der 1990er-Jahre, die auch für die Völkermorde in Ruanda oder auf dem Balkan als Prisma diente 167: It is precisely the emergence of the Holocaust as universal trope that allows Holocaust memory to latch on to specific local situations that are historically distant and politically distinct from the original event. 168
Gregor Feindt sieht eine solche Übertragung auch für die Erinnerung an die Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den vormals deutschen Ostgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg und macht sie am „global memory regime of the Holocaust“ fest. 169 Der Holocaust ist somit zur Metapher für traumatische Ereignisse mit genozidalem Charakter und ihre Erinnerung geworden und kann ein Katalysator für die Erinnerung anderer Traumata sein. Gleichzeitig birgt diese Möglichkeit des Copy & Paste der HolocaustErinnerung aber auch die Gefahr, blind für die Spezifika anderer Erinnerungen zu werden, die eben nicht deckungsgleich mit der Vernichtung der europäischen Juden waren. 170 Aus einem gutem Grund ist der Holocaust zum negativen Gründungsmythos des modernen Europas, lies: der Europäischen Union geworden. 171 Auch wenn der Fokus dieser Arbeit nicht auf einer europäischen oder europäisierten Erinnerung liegen soll, muss dieser Aspekt in einer Arbeit zu Transnationalisierung mitgedacht werden.
166 Vgl. Anson Rabinbach. 1997. „From Explosion to Erosion: Holocaust Memorialization in America since Bitburg.“ History and Memory, Vol. 9, Nr. 1/2, Passing into History: Nazism and the Holocaust beyond Memory – In Honor of Saul Friedlander on His Sixty-Fifth Birthday (Herbst 1997), S. 226–255. 167 Vgl. Huyssen, Present Pasts, S. 23. 168 Ebd., S. 24. 169 Gregor Feindt. 2017. „From ‚flight and expulsion‘ to migration: contextualizing German victims of forced migration.“ European Review of History, Vol. 24, Nr. 4, S. 552– 577, hier: S. 559. 170 Vgl. Huyssen, Present Pasts, S. 23. 171 Vgl. Pakier, European Holocaust Memory, S. 9 f.; Leggewie, Der Kampf um die europäische Erinnerung, S. 15.
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Statt die Großkatastrophen der ersten Jahrhunderthälfte transnational zu erforschen und auch den Kalten Krieg als Teilung Europas zu begreifen, bewegen sich die meisten Zeithistoriker noch immer in einem nationalen Referenzrahmen, um ihrer eigenen Leidens-, Kollaborations- oder Tätergeschichte gerecht zu werden. 172
Bereits 2004 erklärte Konrad H. Jarausch den Versuch für gescheitert, europäische Erinnerungsorte zu definieren, was er unter anderem auch daran festmachte, dass in den östlichen Beitrittsländern der Europäischen Union, darunter auch Polen, „die Legitimation der Unabhängigkeit durch eine Nationalgeschichte noch ziemlich ungebrochen“ schien. 173 Anstelle einer Annäherung an die Erinnerungskulturen westeuropäischer Länder – wobei natürlich auch hier keine Homogenität herrscht – lässt sich eine Verstärkung dieser Tendenz hin zu traditionellen Werten und nationalen Mythen beobachten, die im Kontrast steht zur Stoßrichtung der Europäischen Union 174. Wie Tobias Ebbrecht-Hartmann bemerkt, war und ist der europäische Film dazu prädestiniert, dieses Spannungsfeld zu erschließen und sich auch den schwierigen Themen der Vergangenheit des europäischen Kontinents zu widmen: European cinema was always situated at the boundaries between historical imaginary and the return of the repressed. It assisted in building national narratives of heroism and suffering, but it also catalysed those moments that would reveal the seemingly buried but always persisting past. 175
Nach Assmann befinden wir uns etwa seit dem Beginn des neuen Jahrtausends in einer transnationalen Phase der Vergangenheitsbewahrung in Bezug auf den Holocaust, die sich nach dem Umbruch 1989 zum Ende des letzten Jahrtausends entwickeln konnte. Ausgehend vom Ende des Zweiten Weltkriegs stellt sie in relativ regelmäßigen Abständen von 20 Jahren Entwicklungsstufen der Erinnerungskultur fest, die sich von einer Vergangenheitsbewältigung über eine nationale Phase der Vergangenheitsbewahrung zu einer transnationalen Phase der Vergangenheitsbewahrung 172 Konrad H. Jarausch. 2004. „Zeitgeschichte zwischen Nation und Europa. Eine transnationale Herausforderung.“ Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 39/2004, S. 3–10, hier: S. 6. 173 Ebd., S. 7. 174 Ein prägnantes Beispiel ist das von der Europäischen Kommission initiierte europäische Kulturerbe-Siegel, das seit 2013 an bislang 48 ausgewählte Kulturerbestätten verliehen wurde, die eine besondere Rolle für das heutige Europa spielen, vgl. die Website der Europäischen Kommission, URL: https://ec. europa. eu/ programmes/ creative- europe/ actions/ heritage- label_ de, Zugriff am 21. Mai 2020. Ebenso für diese Entwicklung steht das Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel. 175 Ebbrecht-Hartmann, Locked Doors and Hidden Graves, S. 143 f.
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gewandelt hat. 176 Für diese Transnationalisierung, d. h. eine Betrachtung von Geschichte und Erinnerung des Vergangenen auf einer die Grenzen der Nation überschreitenden Ebene mit ihren Verflechtungen, Abhängigkeiten und Transfers, deren Ausgangspunkt gleichwohl die Nation bleibt, die sich aber nicht als Äquivalent einer Europäisierung versteht, 177 ist der Film als Erinnerungsmedium potenziell besonders empfänglich. 178 Der Zweite Weltkrieg als Thema im Spielfilm entbehrt dabei augenscheinlich nicht einer gewissen Aktualität. Die Regierung in Warschau hat Geschichtspolitik 179 ganz oben auf ihrer Agenda angesiedelt und die grenzüberschreitende Diskussion um die ZDF-Miniserie Unsere Mütter, unsere Väter will auch sechs Jahre nach ihrer Erstausstrahlung nicht verstummen. Um diese Entwicklungen zu verstehen und um auch die Filme und ihre Macher zu verstehen, die in den letzten Jahren die deutschpolnischen Beziehungen im Zweiten Weltkrieg auf die Leinwand gebracht haben, ist die Einbettung dieser Filme in ihre nationalen und transnationalen Kontexte und Vergangenheitsdebatten von zentraler Wichtigkeit. Eine aus erinnerungskulturwissenschaftlicher Perspektive erfolgende Annäherung an den Film muss dieser Dynamik [zwischen Film und plurimedialen Netzwerken, zwischen Symbol- und Sozialsystem, Anm. JRG] methodisch Rechnung tragen – geleitet von einem Medienbegriff, der nicht die Speicherfunktion, sondern die Verbreitungsfunktion akzentuiert und die Prozessualität kultureller Erinnerung berücksichtigt. 180
Bislang haben dies nur wenige Studien getan, wie beispielsweise Małgorzata Pakier in ihrer Arbeit zum Holocaust im deutschen und polnischen Film 2013 und der Europäisierung dieser Erinnerung. 181 Europa ist auch
176 Vgl. Assmann, Unbehagen, S. 56 f. Weitergedacht bedeutete dies auch, dass wir uns derzeit schon auf dem Weg zu einer neuen Phase der Erinnerungskultur befinden, die ca. 2025 beginnen könnte. 177 Für eine Diskussion des Begriffs vgl. Gassert, Transnationale Geschichte oder Klaus Kiran Patel. 2010. „Transnationale Geschichte.“ Europäische Geschichte Online (EGO). Herausgegeben vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), 3. Dezember 2010, URL: http://www. ieg- ego. eu/ patelk- 2010- de, Zugriff am 5. Januar 2019. 178 Vgl. Stimmel, Between Globalization and Particularization, S. 84; Silke Satjukow und Rainer Gries. 2016. „Hybride Geschichte und Para-Historie. Geschichtsaneignungen im 21. Jahrhundert.“ Aus Politik und Zeitgeschichte: Facts & Fiction, Nr. 51/2016, S. 12–18, hier: S. 18. 179 Geschichtspolitik wurde und wird aber selbstverständlich auch in Deutschland gemacht. Vgl. bspw. Edgar Wolfrum. 1999. Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948–1990. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt; Holger Thünemann. 2005. Holocaust-Rezeption und Geschichtskultur. Zentrale Holocaust-Denkmäler in der Kontroverse. Ein deutsch-österreichischer Vergleich. Idstein: Schulz-Kirchner Verlag. 180 Erll & Wodianka, Film und kulturelle Erinnerung, S. 18. 181 Vgl. Pakier, European Holocaust Memory.
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der Ausgangspunkt der Untersuchung von Tobias Ebbrecht-Hartmann zum Umgang mit der schwierigen Vergangenheit in den Filmen Pokłosie, Ida und Sarahs Schlüssel, die sich mit dunklen Kapiteln der polnischen und der französischen Vergangenheit im Kontext des Holocaust beschäftigen. 182 Die Transnationalisierung des Erinnerns und Vergessens auf einen Prozess der Europäisierung zu beschränken, birgt aber einerseits die Gefahr einer Politisierung durch die latente Verbindung mit den Zielen und Werten der Europäischen Union und kann andererseits den Blick verstellen für Transnationalisierungsprozesse, die jenseits einer europäischen Dimension stattfinden. Die Verflechtung der Vergangenheitsbilder im deutschen und polnischen Film ist schließlich auch durch universelle, globale Bilder geprägt. Meghan O’Dea schließlich verweist darauf, dass in einer Untersuchung eines Films, der die Thematik des Holocaust berührt, deutsch-polnische Beziehungen auf einer bilateralen Ebene kaum zu begreifen seien, weil sie mindestens latent trilateral seien und die jüdische Seite immer mitgedacht werden müsse. 183 Anerkennung findet diese Feststellung beispielsweise in der Erforschung einer Rückkehr jüdischer Kultur im postkommunistischen Polen 184, die nicht immer auch mit einer Rückkehr der Jüdinnen und Juden selbst einhergehen muss. Ein gutes Beispiel ist das ehemals jüdische Viertel Kazimierz in Krakau, das heute ein beliebtes Ausflugsziel bei Touristen ist. Aber auch in Untersuchungen zur speziellen Rolle der Jüdinnen und Juden im sich wandelnden kollektiven Gedächtnis Polens, deren Betrachtung besonders von einer transnationalen Perspektive profitieren kann, findet diese Ansicht Beachtung. 185 Gleichwohl soll der Versuch unternommen werden, den Fokus dieser Arbeit ganz dezidiert auf die deutsch-polnischen Beziehungen im Zweiten Weltkrieg zu lenken, deren Nachhall noch heute das Verhältnis der beiden Nationen zueinander bestimmt. Die in dieser Arbeit untersuchten Produktionen sollen im Licht dieser nationalen und transnationalen Entwicklungen im Spielfilm stehen. Inwiefern sie tatsächlich, wie Schirrmacher über Unsere Mütter, unsere Väter schrieb, eine „neue Phase der filmisch-historischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus“ 186 einleiten, bleibt abzuwarten.
182 Ebbrecht-Hartmann, Locked Doors and Hidden Graves. 183 Vgl. O’Dea, Reflecting on the Present, S. 53. 184 Vgl. bspw. Magdalena Waligórska. 2014. „The Framing of the Jew: Paradigms of Incorporation and Difference in the Jewish Heritage Revival in Poland.“ In: Framing Jewish Culture. Boundaries and Representation. Herausgegeben von Simon J. Bronner, Oxford: The Littman Library of Jewish Civilization, S. 313–331. 185 Vgl. bspw. Katrin Steffen. 2008. „Formen der Erinnerung. Juden in Polens kollektivem Gedächtnis.“ Zeitschrift Osteuropa, 58. Jg., 8–10/2008, S. 367–386. 186 Frank Schirrmacher. 2013. „Die Geschichte deutscher Albträume.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. März 2013, URL: https://www. faz. net/ aktuell/ feuilleton/ medien/
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1.3 Untersuchungsgegenstand und Material Werner Faulstich definiert den Spielfilm als „Kommunikationsprozess, bei dem idealtypisch der Produzent (Regisseur) und Rezipient (Zuschauer) miteinander in Verbindung treten und durch das jeweilige Werk ästhetische Erfahrungen vermittelt bzw. konstituiert werden.“ 187 Insbesondere für Erinnerungsfilme, deren Kernaufgabe die Vermittlung von populären Geschichtsbildern ist, besticht dieser Gedanke. Diese Arbeit orientiert sich daher in ihrer Struktur an Kommunikationsmodellen, die Kommunikationsprozesse in Akteure / Sender (Produktionskontexte) – Inhalt (Narrationskontexte) – Empfänger (Rezeptionskontexte) unterteilen. Auch ein Erinnerungsfilm ist im weiteren Sinne nichts anderes als ein Kommunikationsmedium in einem Kommunikationsprozess, bei dem Filmemacher mit den Zuschauerinnen und Zuschauern in Kontakt treten. Gegenstand dieses Kommunikationsprozesses ist die Vergangenheit, die im Film zu bewegten Geschichtsbildern wird und den Zweiten Weltkrieg auf der Leinwand und den Fernsehbildschirmen scheinbar nacherlebbar macht. 188 Im ersten Abschnitt dieser Arbeit (Produktionskontexte) wird daher die Produktion des Erinnerungsfilms vom Drehbuch zum fertigen Spielfilmprodukt im Mittelpunkt stehen, während der Filmemacher und Schauspieler als zentrale Akteure auftreten. Im zweiten Abschnitt (Narrationskontexte) sollen die inhaltliche und audio-visuelle Bearbeitung des Erinnerungsstoffs, also die Erinnerungsfilme selbst untersucht werden. Im dritten Abschnitt (Rezeptionskontexte) werden schließlich die Verbreitung, Vermarktung und Rezeption der Erinnerung im Film beleuchtet und in größere Debatten über die Vergangenheit in Deutschland und Polen eingeordnet. Produktions-, Narrations- und Rezeptionskontexte stehen dabei miteinander in einer multidirektionalen Beziehung und sind in ihrem kulturellen, gesamtgesellschaftlichen Kontext zu verstehen.
unsere-muetter-unsere-vaeter/unsere-muetter-unsere-vaeter-im-zdf-die-geschichtedeutscher- albtraeume- 12115192. html, Zugriff am 3. Oktober 2016. 187 Werner Faulstich. 2013. Grundkurs Filmanalyse. 3. aktualisierte Auflage, München: Wilhelm Fink, S. 21. 188 Vgl. auch Wulf Kansteiner, der in Bezug auf Holocaust-Erinnerungen im Film schlussfolgert: „Since identities are inscribed in films and TV productions on at least three levels – i.e., artistic intent, narrative form and content, and through audience perception processes – it remains difficult to determine to what extent transnational interpretations have displaced or productively coexist with conventional national perceptions of European history.“ Wulf Kansteiner. 2008. „Sold Globally – Remembered Locally: Holocaust Cinema and the Construction of Collective Identities in Europe and the US.“ In: Narrating the Nation. Representations in History, Media and the Arts. Herausgegeben von Stefan Berger, Linas Eriksonas und Andrew Mycock, New York: Berghahn, S. 153–180, hier: S. 154.
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Die für diese Untersuchung ausgewählten Erinnerungsfilme sind allesamt Produkte des 21. Jahrhunderts, deren Produktionsgeschichte sich jeweils über beinahe ein Jahrzehnt erstreckt. Sie müssen als zeitgenössische Produkte betrachtet werden, d. h. auch die Kontextrealität der Filme darf nicht ausgeblendet werden, sondern muss vielmehr in jede ernsthafte Betrachtung mit einfließen. Gesellschaftliche und politische Entwicklungen, die zur Zeit der Entstehung und der Ausstrahlung die Ausgestaltung und Rezeption der Filme beeinflusst haben, sind nicht zu unterschätzen und prägen entscheidend die vorherrschenden Vergangenheitsbilder. Wie der Zweite Weltkrieg, also der hier relevante historische Bezugspunkt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts im historischen Spielfilm behandelt wird, ist außerhalb dieser Kontextrealität kaum begreifbar. Nur so wird deutlich, wie sehr beispielsweise die Jubiläen der letzten Jahre den Erinnerungsboom im Film befeuerten – beispielsweise war die Premiere von Warschau ’44 offizieller Bestandteil der Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Warschauer Aufstands – und auch als wie zentral der Umbruchspunkt empfunden wird, an dem sich Europa in Bezug auf die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg befindet. Durch das langsame Verschwinden der letzten Zeitzeugen kann der Generationendialog zwischen Erlebnisgeneration und jungen Menschen heute nur noch eine kurze Zeit geführt werden, oder wie Frank Schirrmacher in seiner Rezension zu Unsere Mütter, unsere Väter schrieb: „Wir befinden uns, was das kollektive [lies: das kommunikative Gedächtnis, Anm. JRG] Gedächtnis angeht, eine Minute vor Mitternacht.“ 189 So lässt sich auch ergründen, weshalb Filmemacher sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihren Werken einer bestimmten Vergangenheit annehmen und zudem zeigen, inwiefern „ein konkretes filmisches Geschichtsbild Ausdruck eines kollektiven Geschichtsverständnisses seiner Zeit“ ist. Aus Unterschieden in den filmischen Darstellungsweisen der Vergangenheit lassen sich wiederum Erkenntnisse „über die zeitgenössischen Vergangenheitsdiskurse“ ableiten. 190 Nach Erll und Wodianka wird ein Film erst „im plurimedialen Zusammenhang, durch seine Einbettung in ein komplexes sozialsystemisches Netzwerk“ zu einem Erinnerungsfilm, denn „kein Film [ist] schon per se, enthoben von medienkulturellen Kontexten, ein Erinnerungsfilm“. 191 Das heißt aber nicht, dass ein Film nicht sehr bewusst durch eine bestimmte Vermarktung zum Erinnerungsfilm gemacht werden kann – so zumindest das Verständnis von Politikern, die Geschichtspolitik betreiben. Im deutsch-polnischen Kontext machte 189 Schirrmacher, Die Geschichte deutscher Albträume. 190 Gronau, Geschichts(de)konstruktionen, S. 22. 191 Erll & Wodianka, Film und kulturelle Erinnerung, S. 7 – Hervorhebung im Original.
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dies unter anderem der polnische Präsident Andrzej Duda deutlich: Duda lobte den ZDF-Dreiteiler Unsere Mütter, unsere Väter – freilich nicht seines Inhalts, wohl aber seiner Wirkungsmacht wegen. 192 Der moderne Erinnerungsfilm lässt sich mit Erll und Wodianka nicht als Genre, sondern vielmehr als gesellschaftliches Phänomen verstehen, das durch den Geist der Zeit, nämlich den Erinnerungsboom und die prominente Rolle der Medien, befördert wird. Es scheint allerdings Filmgenres zu geben, die sich für eine Funktionalisierung als Erinnerungsfilme mehr anbieten als andere. Die Wahl des Genres ist für die Wirkung eines potenziellen Erinnerungsfilms nicht unwesentlich: „Because cinematic narratives are basically built on tension, films can openly address conflicting perceptions of the past and furthermore apply genre patterns that might favour certain approaches towards the past.“ 193 Auffällig ist, dass insbesondere das Melodrama und der Coming-of-Age-Film sich für die Verarbeitung des Erinnerungsstoffs, zumal dessen gesellschaftlich kontroverser diskutierten Ausprägungen, zu eignen scheinen. 194 Die hier behandelten Filme eint, dass sie alle das Thema Erwachsenwerden im Krieg mit der Struktur des Melodramas vereinen. Ergänzt werden die Filme durch Zeitungsartikel, Talkshows und Nachrichtenbeiträge sowie Online-Angebote, die es erlauben, den Kontext der Produktion und Rezeption der Filme zu analysieren, also eine filmtranszendierende Betrachtung ermöglichen. Ein Großteil der hier herangezogenen Zeitungs- und Zeitschriftenartikel entstammt den Onlineangeboten der einschlägigen Printmedien. 195 Dieser wachsende Markt entspricht vor allem den Informationsbedürfnissen jüngerer Menschen, die die Zielgruppe der heutigen Erinnerungsfilme bilden und deren Wahrnehmung maßgeblich ist. Transnationalisierung der Erinnerungskultur im Erinnerungsfilm in Deutschland und Polen greifbar zu machen, ist kein leichtes Unterfangen. Versucht werden soll dies anhand dreier ausgewählter Erinnerungsfilme, die auf die eine oder andere Weise transnationale Elemente enthalten. Dazu ist es auf inhaltlicher Ebene wichtig, zu analysieren, wie die Film-
192 Vgl. Stephan Stach. 2016. „Wir brauchen eine schönere Historie.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. Februar 2016, URL: http://www. faz. net/ aktuell/ feuilleton/ debatten/ wie- polens- geschichtswissenschaft- zur- politiksache- wird- 14088672. html, Zugriff am 3. April 2016. 193 Ebbrecht-Hartmann, Locked Doors and Hidden Graves, S. 155. 194 Wie an Filmen wie Pokłosie deutlich wird, können aber auch andere Genres (hier der Thriller) sich durchaus für einen Erinnerungsfilm eignen. 195 Die Übersetzungen der polnischen Quellen wurden, sofern nicht anders vermerkt, von mir angefertigt, JRG. Bei den Filmzitaten wurde auf die offizielle deutsche Übersetzung (Tonspur oder Untertitelung) zurückgegriffen.
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charaktere dargestellt werden. Dazu muss unter anderem die Frage nach Hetero- und Autostereotypen, also Fremd- und Selbstbildern gestellt und in den Kontext der Transnationalisierung gesetzt werden. Wie beeinflusst die Darstellung der einen Gruppe die der anderen? 196 Befördert diese Darstellung eher eine Transnationalisierung oder eine Renationalisierung der Erinnerung? Dazu werden im Folgenden die Filme überblicksartig und punktuell anlassbezogen im weiteren Verlauf der Arbeit einzelne Szenen genauer geschildert. 197 Aber auch die Produktionskontexte und die Rezeptionskontexte können Anknüpfungspunkte für eine Transnationalisierung des Erinnerns aufweisen. Michał Rogalskis Unser letzter Sommer hat als polnisch-deutsche Koproduktion bereits in seiner Entstehungsphase eine Transnationalisierung erfahren, wurde jedoch im Vergleich zu den beiden nationalen Produktionen Unsere Mütter, unsere Väter und Warschau ’44 nicht im gleichen Maße transnational rezipiert. Für die beiden letztgenannten Filme war es aber gerade die Rezeptionsebene, auf der sich eine Transnationalisierung bemerkbar machte. Ziel ist es daher sowohl die Kontexte der Produktion, der Narration als auch der Rezeption zu betrachten, um sich einem besseren Verständnis der Transnationalisierung der Erinnerungskultur in Deutschland und Polen im Erinnerungsfilm zu nähern.
1.3.1 Unsere Mütter, unsere Väter (2013) 198 Die ZDF-Miniserie Unsere Mütter, unsere Väter entstand 2011 als Kollaboration zwischen dem öffentlich-rechtlichen Zweiten Deutschen Fernsehen und der UFA-Tochter teamWorx (heute UFA Fiction) unter der Ägide
196 In Anlehnung an Stimmel, Between Globalization and Particularization, S. 85. 197 Da es sich nicht um eine filmwissenschaftliche Analyse handelt und die Untersuchung der Filme im engeren Sinne nur einen Teil dieser Arbeit ausmacht, deren Fokus eher geschichts- und kulturwissenschaftlich zu verorten ist, wird auf Sequenzenprotokolle verzichtet, vgl. die Argumentation in Susanne Schattenberg. 2003. „Als die Geschichte laufen lernte – Spielfilme als historische Quelle? Das Beispiel sowjetischer Werke der dreißiger Jahre.“ In: Spielfilme als historische Quelle. Digitales Handbuch zur Geschichte und Kultur Russlands und Osteuropas, Bd. 2. Herausgegeben von Virtuelle Fachbibliothek Osteuropa, URL: https://epub. ub. uni- muenchen. de/ 566/ 1/ schattenberg- film. pdf, Zugriff am 28. Januar 2019, S. 10 f. 198 Unsere Mütter, unsere Väter. Regie: Philipp Kadelbach. Drehbuch: Stefan Kolditz. Deutschland: 2013. Drei Teile. Fassung: DVD Special Edition, Studio Hamburg Enterprises GmbH, 2013, 270 Minuten. Extras: Dokumentation Kampf ums Überleben. Polen unter deutscher Besatzung, ZDF-History Unsere Mütter, unsere Väter – Die Dokumentation, Interviews mit Cast & Crew, Song Alle Ehre zum Download, Audiokommentare, 24-seitiges Booklet mit Hintergrundinformationen, Text & Noten zu Mein kleines Herz.
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eines Produktionsteams, das sich bereits mit historischem Eventkino wie Dresden (2006) oder Hindenburg einen Namen gemacht hatte. In drei ca. 90-minütigen Teilen erzählt sie die Geschichte von fünf Freunden aus Berlin und ihren individuellen Schicksalen zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, die prototypisch für die Erlebnisgeschichte ihrer Generation stehen sollen. Als sich die fünf Freunde im Sommer 1941 in Berlin verabschieden, sind sie überzeugt, spätestens zu Weihnachten ihr Wiedersehen und den gewonnenen Krieg feiern zu können. 199 Die Brüder Wilhelm und Friedhelm Winter müssen an der Ostfront kämpfen. Während aus Wilhelm, der bereits an der Westfront gedient hat, im Verlauf des Krieges ein desillusionierter Deserteur wird, erlebt sein kleiner Bruder Friedhelm eine entgegengesetzte Entwicklung. Der Schöngeist wird unter der Realität des Vernichtungskrieges zur Kampfmaschine, die emotionslos die Schießbefehle der Vorgesetzten ausführt. Charlotte, die in Wilhelm verliebt ist, dient als Frontkrankenschwester. Anfangs noch ideologisch gefestigt, beginnt ihr Glaube an die nationalsozialistische Sache im Angesicht des Krieges zu bröckeln. Greta, die eine berühmte Sängerin werden möchte, geht eine Affäre mit einem NS-Funktionär ein, um ihre Karriere zu befördern. Ihren jüdischen Freund Viktor liefert sie damit unwillentlich ans Messer und besiegelt so auch ihr eigenes Schicksal. Viktor gelingt die Flucht aus dem Deportationszug nach Auschwitz. Gemeinsam mit der Polin Alina schließt er sich einer Gruppe polnischer Partisanen an. Als der Krieg im Mai 1945 endlich durch die Kapitulation des Deutschen Reiches beendet ist, treffen sich Wilhelm, Charlotte und Viktor, die verbliebenen drei, in Berlin wieder – desillusioniert und ratlos im Angesicht eines Nachkriegsdeutschlands zur Stunde Null, in dem die alten Eliten nicht für ihre Taten bestraft werden, sondern weiterhin zentrale Funktionen bekleiden. Unsere Mütter, unsere Väter will nicht weniger, als deutsche Familien in einen Dialog zwischen den Generationen bringen, in dem die Kinder und Enkelkinder ihre Eltern und Großeltern über den Krieg befragen. Alle beteiligten Filmemacher, sowohl Produzent Nico Hofmann als auch Regisseur Philipp Kadelbach und Drehbuchautor Stefan Kolditz, ziehen Verknüpfungen zur eigenen Familiengeschichte. Erzählt wird die Geschichte zwischenzeitlich aus der persönlichen Perspektive des Wilhelm Winter, der die Entwicklungen des Krieges aus dem Off kommentiert. Einspieler aus der Wochenschau und andere zeitgenössische Archivaufnahmen,
199 Dieser Glaube spiegelt die nationalsozialistische Propaganda zu Beginn des Unternehmens Barbarossa wider, als Goebbels „instructed his press associates to emphasise that the military objective of the operation (total victory against Bolshevism) was not just realisable but attainable within a short period of time.“ Aristotle A. Kallis. 2005. Nazi Propaganda and the Second World War. London: Palgrave Macmillan, S. 111.
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authentische Bilder aus dem Krieg, werden gemischt mit hochwertigen Filmaufnahmen des 21. Jahrhunderts. Unsere Mütter, unsere Väter wurde im März 2013 erstmals im deutschen Fernsehen als großes Fernsehevent mit beachtlicher medialer Berichterstattung ausgestrahlt. Eine Ausstrahlung in Polen erfolgte bereits im Juni desselben Jahres. Lizenzen wurden in viele weitere Länder weltweit verkauft. National und international wurden die Miniserie und ihre Darsteller gewürdigt, unter anderem mit einem International Emmy Award. Gleichwohl gab es auch eine ganze Reihe kritischer Stimmen, beispielsweise aus Polen und den USA, die in der Miniserie den Versuch ausmachten, die deutsche Verantwortung für den Holocaust zu mindern. Insbesondere die Darstellung der Soldaten der in Polen verehrten Heimatarmee als überzeugte Antisemiten sorgte für erhebliche Proteste aus Warschau.
1.3.2 Warschau ’44 (2014) 200 Pünktlich zum 70. Jahrestag des Beginns des Warschauer Aufstands wurde der Spielfilm Warschau ’44 im Warschauer Nationalstadion uraufgeführt. Regisseur Jan Komasa, der auch das Drehbuch zum Film schrieb, hatte damit einen der teuersten Filme der polnischen Filmgeschichte vorgelegt, der sich mit einem zentralen Mythos des unabhängigen Polens beschäftigt. Warschau ’44 folgt dem Schicksal der drei Jugendlichen Stefan, Kama und Alicja, die sich während des Warschauer Aufstands im Spätsommer 1944 dem Untergrund anschließen. In hollywoodreifen Actionszenen, mit Specialeffects und einer eigenwilligen Musikauswahl inszeniert Komasa die 63 Tage des Aufstands und die Dreiecksbeziehung zwischen Stefan, Kama und Alicja. Beginnt der Aufstand für die drei mit Euphorie nach den ersten erfolgreichen Kämpfen gegen die deutschen Besatzer und einem festen Glauben an die eigene Unsterblichkeit, so verwandelt sich insbesondere Stefan im Verlauf der äußerst brutalen und detailreich dargestellten Kampfhandlungen, während derer er auch die Erschießung seiner Mutter und seines kleinen Bruders mitansehen muss, in einen Zombie. Während er sich zu Ende des Films auf eine Insel in der Weichsel retten kann, fallen Kama und Alicja dem Kampf mit den Deutschen um ihre Stadt zum Opfer. Insbesondere die moderne Inszenierung des Erinnerungsstoffs, für die Regisseur Komasa unter anderem auf Computeranimationen und moderne Pop- und Elektromusik zurückgriff, wurde teilweise äußerst kritisch 200 Warschau ’44 [Orig.: Miasto 44]. Regie: Jan Komasa. Drehbuch: Jan Komasa. Polen: 2014. Fassung: DVD. Studio Hamburg Enterprises, 2015, 127 Minuten. Extras: Making-of (OmU).
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bewertet. In Deutschland wurde die Ausstrahlung des Films, der ein in deutschen Geschichtsbüchern wenig behandeltes Thema auf die Agenda holte, als Antwort auf Unsere Mütter, unsere Väter gehandelt, deren Botschaft zu einem besseren Verständnis der polnischen Befindlichkeiten bezüglich der gemeinsamen leidvollen Geschichte während des Zweiten Weltkriegs führen sollte.
1.3.3 Unser letzter Sommer (2015) 201 Unser letzter Sommer ist ein Film des polnischen Regisseurs Michał Rogalski, der auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnete. Obgleich das Drehbuch bereits 2008 entstand, wurde der Film in polnisch-deutscher Koproduktion erst im Spätsommer 2013 realisiert. 202 Unser letzter Sommer erzählt die Geschichte von Guido und Romek, zwei siebzehnjährigen Jungen, in der polnischen Provinz im Sommer 1943. Der Deutsche Guido ist für das Hören „entarteter“ Musik frühzeitig eingezogen worden und muss zur Strafe im Dörfchen Wroblew im besetzten Polen dienen. Der Pole Romek, der dort zusammen mit seiner Mutter in einem kleinen Häuschen lebt, träumt davon, wie der verstorbene Vater Lokführer auf der Warschau-Strecke zu werden, auf der Jüdinnen und Juden aus der polnischen Hauptstadt in das nahegelegene Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert werden. Die Wege der beiden Heranwachsenden kreuzen sich an der Rampe ebenjenes Konzentrations- und Vernichtungslagers, als Romek einen von den Deportierten zurückgelassenen Koffer an sich nehmen will. Guido, der Romek zwischen Güterwaggons aufspürt, lässt den Gleichaltrigen laufen. Später am Abend locken die Jazzklänge des im Koffer verborgenen Grammophons Guido zu Romek und der Nachbarstochter Franka und das unheilvolle Schicksal der drei nimmt seinen Lauf. Romek, der entlang der Bahngleise auf Beutezug nach den Habseligkeiten der Insassen der Deportationszüge gegangen ist, trifft im Wald auf Bunia, ein jüdisches Mädchen aus Warschau, das aus dem Deportationszug nach Treblinka geflohen ist. Er beschließt, ihr zu helfen. Zur gleichen Zeit rückt Guidos Einheit aus, um im Wald nach entflohenen Juden und Partisanen zu suchen. Als sie in einem Heuhaufen Stimmen hören, befiehlt der Ober201 Unser letzter Sommer [Orig.: Letnie przesilenie]. Regie: Michał Rogalski, Drehbuch: Michał Rogalski, Deutschland / Polen: 2015. Fassung: DVD. farbfilm home Entertainment, 2016, 96 Minuten. Extras: Interviews, Making-of. 202 Produktionszeitraum Mai 2013 bis März 2014, Drehzeitraum 27. August 2013 bis 9. Oktober 2013, Mitteldeutsche Medienförderung. o. J. MDM Online: Drehreport. Unser letzter Sommer (AT: Sommersonnenwende). URL: https://www. mdm- online. de/ DRSuche_ load. do? pk= % 2523k05ebnhlwSE% 253D, Zugriff am 28. Juni 2020.
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leutnant Guido, das Heu anzuzünden – mitsamt den Menschen, die sich darin verbergen. Kurz darauf trifft Guido am Flussufer auf Romek und Bunia. Guido verliert bei dem Zusammentreffen sein Gewehr und muss zur Strafe Küchendienst im Hauptquartier leisten. Als er während seines Strafdienstes auf Franka trifft, die im Stützpunkt der Deutschen als Küchenhilfe arbeitet, nimmt er sie mit auf sein Versteck auf dem Dachboden des Gebäudes, um dort gemeinsam mit ihr den verbotenen Jazz zu hören und sich zu vergnügen. Die beiden werden vom Oberleutnant überrascht und müssen für ihr Handeln einen hohen Preis bezahlen: Um sich selbst zu retten, muss Guido Franka erschießen. Romek wiederum versucht, Bunia bei einem alten Bauern zu verstecken, wo die beiden von russischen Partisanen überrascht werden. Mehrmals haben die beiden Jungen die Gelegenheit, den anderen zu verraten – und lassen sie ungenutzt. Der Krieg ist für sie weit weg. Was zählt, das ist der Sommer, die erste Liebe und die Jugend. Dennoch verlieren sie ihre Unschuld und stehen sich am Ende des Films auf verschiedenen Seiten der Barrikaden gegenüber. Rogalskis Film kam im Oktober 2015 zunächst in die deutschen, im April 2016 dann auch unter seinem Originaltitel Letnie przesilenie (dt. ‚Sommersonnenwende‘) in die polnischen Kinos. Auf nationalen und internationalen Filmfestspielen konnte der Film Erfolge feiern, traf aber auf weniger Resonanz in den Kinosälen. Die Rezeption des Films war deutlich von der Debatte um Unsere Mütter, unsere Väter und andere Erinnerungsfilme der letzten Jahre geprägt, wenngleich Unser letzter Sommer einen gänzlich anderen, deutlich ruhigeren Ton anstimmt als der ZDF-Dreiteiler und vor allem durch ästhetische, schöne Bilder besticht. Besonderes Lob erhielt der Regisseur für die differenzierte Darstellungsweise der Deutschen und Polen im Film. Für ihn war es ein sehr persönliches Werk, zu dem er durch Fotografien seiner Großeltern aus dem Sommer 1943 inspiriert wurde und das er seiner Großmutter widmete.
Produktionskontexte
2. Vom Drehbuch zum Erinnerungsfilm
„History does not exist until it is created.“ 1 Geschichte existiert nicht einfach, sie wird gemacht. Diesem Zitat des Filmhistorikers Robert A. Rosenstone lässt sich insbesondere in Bezug auf den Erinnerungsfilm viel abgewinnen. Bereits in den eingehenden Bemerkungen wurde deutlich, dass die Bedeutung von Spielfilmen in der Geschichtsvermittlung wächst. Es lohnt, nicht nur den Inhalt und die Rezeption, sondern zu allererst den Entstehungsprozess dieser Erinnerungsfilme genauer zu betrachten, um ihre Rolle und Wirkung in modernen Gesellschaften besser zu verstehen. Denn eine Vielzahl von Faktoren hat Einfluss darauf, wie ein Spielfilm mit seinem historischen Sujet umgeht. Eine Vielzahl von Faktoren bedingt, ob ein Film, der sich mit der Vergangenheit auseinandersetzt, zum Erinnerungsfilm wird. Am Anfang einer jeden derartigen Entwicklung steht immer die Produktion, die sich ihrerseits vielschichtig gestaltet und nationalen wie transnationalen Einflüssen unterliegt. Diese Produktionskontexte gilt es im vorliegenden Kapitel genauer zu untersuchen. Ein besonderes Augenmerk soll auf den Akteurinnen und Akteuren des Erinnerungsfilms liegen, die durch ihre persönlichen Biografien, ihre Motivationen und ihr Engagement einen maßgeblichen Beitrag zu dessen Entstehung leisten. Eine Schlüsselrolle kommt den Regisseuren und den Drehbuchautoren als Mythenmachern zu. Ihre Arbeit ist oftmals durch persönliche Bezüge zum Thema des Zweiten Weltkriegs geprägt, was kaum verwundert, hat doch beinahe jede polnische Familie in dieser Zeit Verluste erlitten und gibt es doch in Deutschland kaum eine Familie, die nicht ihre eigenen Erinnerungen an den NS-Staat hat. Wie der Holocaustforscher Raul Hilberg feststellte: Der Holocaust ist in Deutschland Familiengeschichte. 2 80 Jahre
1 Robert A. Rosenstone. 1988. „History in Images / History in Words: Reflections on the Possibility of Really Putting History onto Film.“ The American Historical Review, Vol. 93, Nr. 5, S. 1173–1185, hier: S. 1185. 2 Vgl. Raul Hilberg, zitiert nach Aleida Assmann. 2015. „Transformations of Holocaust Memory. Frames of Transmission and Mediation.“ In: Holocaust Cinema in the
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Vom Drehbuch zum Erinnerungsfilm
nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges sind es nun mehr und mehr die Enkel der Erlebnisgeneration, die den Diskurs über die Darstellung der Vergangenheit prägen. Als Teil der dritten Generation, der Generation der Enkel der Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs, ist ihr Umgang mit dieser dunklen Epoche der Menschheitsgeschichte und der deutsch-polnischen Beziehungen aber ein anderer, als es der ihrer Eltern oder Großeltern war. Eine nicht minder wichtige Rolle nehmen die Schauspieler ein, die mit ihrem Spiel die Figuren auf der Leinwand zum Leben erwecken und damit – auch in der öffentlichen Wahrnehmung – an die Stelle der Zeitzeugen treten können, wenn Schauspieler und Rollencharakter verschmelzen. Das ist nicht immer unproblematisch. Dem Publikum bieten diese jungen, schönen Menschen aber Identifikationsangebote, die nahelegen, dass diese Akteurinnen und Akteure des Erinnerungsfilms ebenfalls näher betrachtet werden sollten. Zunächst gilt es in diesem Kapitel jedoch zu klären, wo sich der Erinnerungsfilm im Spannungsfeld von Markt und Politik verorten lässt, denn insbesondere im Produktionsprozess machen sich diese Einflüsse bemerkbar. Einerseits folgen Spielfilme notwendigerweise einer gewissen, durch den globalen Markt vorgegebenen Logik, sind sie oftmals eben nicht nur für den nationalen Markt bestimmt, sondern müssen für ein internationales Publikum anschlussfähig sein. Dieser Faktor der Produktion, der gewissermaßen finanzielle Anreize zur Transnationalisierung der Erinnerungsfilmprodukte schafft, ist es vielleicht auch, der es am ehesten vermag, Aushandlungsräume für die Transnationalisierung der Vergangenheitsbilder zu schaffen. Andererseits sind derlei Filmprojekte eben fast ausnahmslos auf größtenteils staatliche Fördergelder angewiesen, deren Vergabe mindestens indirekt geschichtspolitischen Konjunkturen unterliegen kann. Dass die Erfordernisse eines globalisierten Filmmarktes nicht zwingend in Einklang mit den nationalen Geschichtspolitiken sein müssen, liegt auf der Hand. Wie sich all diese Faktoren auf den modernen Erinnerungsfilm in Deutschland und Polen auswirken, soll im Folgenden an einigen einschlägigen Beispielen erörtert werden.
Twenty-First Century: Images, Memory and the Ethics of Representation. Herausgegeben von Gerd Bayer und Oleksandr Kobrynskyy, New York: Columbia University Press, S. 23–40, hier: S. 30.
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2.1 Filmförderung im Spannungsfeld von Markt und Politik Sowohl Filmemacher als auch Schauspieler spielen eine wichtige Rolle in der inhaltlichen Weiterentwicklung von Erinnerungsfilmen. Wirtschaftliche Abwägungen aber können schon zu Beginn des Produktionsprozesses einen entscheidenden Einfluss auf die Ausgestaltung von Vergangenheitsbildern im Film haben. Mit der Finanzierung eines Films stehen und fallen Möglichkeiten der künstlerischen Umsetzung und auch Notwendigkeiten im Produktionsprozess. Ob beispielsweise an authentischen Drehorten gedreht werden oder ob ein Film mit mehrsprachiger Handlung mit Muttersprachlern besetzt werden kann, ist nicht zuletzt auch eine Frage der Finanzierung. Filme müssen einerseits beim Publikum reüssieren, sind also den Anforderungen eines sich immer weiter globalisierenden Marktes unterworfen. Andererseits aber müssen sie zunächst einmal eine ausreichende Finanzierung sicherstellen, um überhaupt produziert und ausgestrahlt werden zu können. Diese Finanzierung ist sowohl in Deutschland als auch in Polen politisch beeinflusst. Auf der einen Seite steht also der Markt, der von Angebot und Nachfrage bestimmt ist. Spielfilme über die nähere oder fernere Vergangenheit sind für die Film- und Fernsehanstalten längst zum wichtigen Marktfaktor geworden. Wie Thünemann bemerkt, „ist Zeitgeschichte aufgrund ihres Streitwerts medial gut zu vermarkten. Film, Fernsehen, Feuilletons und Internet sind auf Kontroversen im Sinne einer Aufmerksamkeitsökonomie zwingend angewiesen, sodass Zeitgeschichte medial geradezu omnipräsent ist“. 3 Oder anders gesagt: „History sells“. 4 Wie Historiker und Filmwissenschaftler Mark Carnes feststellt: „When they [producers, Anm. JRG] spend exorbitant sums to make historical films, they do so in the belief, confirmed by abundant experience, that audiences crave history.“ 5 Aber Zuschauer wollen nicht irgendeine Geschichte im Film sehen, sondern das Gefühl vermittelt bekommen, die Vergangenheit im Film nachzuerleben. Dazu gehört also auch, dass Filmemacher im Rahmen des erwähnten Authentizitätspaktes große Anstrengungen unternehmen und aufwendige wissenschaftliche Recherchen durchführen und beachtliche Mittel in Requisiten und neueste Computeranimationen investieren, um den hohen Authentizitätserwartungen des Publikums gerecht zu werden – bzw. dem, was als Authentizitätserwartung unterstellt wird. 6 Dass es dem Publikum 3 Thünemann, Eichmann in Jerusalem, S. 127. 4 Mark C. Carnes. 2004. „Shooting (Down) the Past. Historians vs. Hollywood.“ Cinéaste, Vol. 29, Nr. 2 (März 2004), S. 45–49, hier: S. 45. Vgl. auch Hardtwig und Schug, History Sells! sowie Kühberger und Pudlat, Vergangenheitsbewirtschaftung. 5 Carnes, Shooting (Down) the Past, S. 46. 6 Vgl. Fischer & Schuhbauer, Geschichte in Film und Fernsehen, S. 43, 47.
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dabei weniger um historische Realität als um historische Mythologie zu gehen scheint, ist den Filmemachern nicht entgangen. 7 Geschichte im Spielfilm muss also vornehmlich noch immer unterhalten und kommt heute oftmals in der bereits erläuterten Gestalt des Histotainment daher. 8 Guido Knopp, wohl bekanntester Vertreter des Histotainment in Deutschland, sagte 2006: Wenn Sie um 20:15 Uhr historische Themen anbieten, dann unter der Maßgabe, dass Geschichte spannender sein kann als jeder Krimi, dass sie szenisch dargestellt wird, Menschen an den Wendepunkten ihres Lebens zeigt. Wichtig ist auch das Element von Grenzerfahrungen, das in der Nazizeit natürlich steckt. . . . Diese Zeit ruft förmlich nach Verfilmung. Fernsehen und Film sind immer dann stark, wenn sie sich auf einige wenige Tage oder Stunden und auf einen Schauplatz konzentrieren können. 9
Man könne durchaus von einer Geschichtsindustrie innerhalb der Filmund Fernsehindustrie sprechen, so Wirtz. 10 Diese Filmindustrie ist geprägt durch ein weltweites Netzwerk, das auf globalen Messen Austauschmöglichkeiten für die Beteiligten bietet, also durch seine Struktur allein schon Raum für eine Globalisierung bzw. Transnationalisierung schafft. Eine solche Messe, nämlich die Koproduktionsmesse Connecting Cottbus, war auch der Ort, an dem die deutschen und polnischen Produzenten von Unser letzter Sommer den Kontakt im November 2010 geknüpft haben. 11 Insbesondere dieser Aspekt der über Grenzen hinweg vernetzten Filmproduktion kann natürlicherweise eine Transnationalisierung der Geschichtsbilder mit sich bringen. 12 Filme werden heutzutage nur noch selten ausschließlich für einen nationalen Markt produziert. Das unterwirft auch Erinnerungsfilme gewissen Produktionszwängen, also globalisierten Regeln, die beachtet werden sollten, damit ein Film auch auf dem globalen Markt erfolgreich gehandelt werden kann. Wie Satjukow und Gries feststellen: „Geschichtsvermittlung“ dieser Art findet unter den Vorzeichen eines europäischen Marktes und einer globalisierten Welt statt: Medienprodukte 7 Vgl. Willem Hesling. 2001. „The past as story: The narrative structure of historical films.“ European Journal of Cultural Studies, Vol. 4, Nr. 2, S. 189–205, hier: S. 198. 8 Für eine kurze Erläuterung des Begriffs siehe Kapitel 1.2.1. 9 Guido Knopp, Interview mit der Badischen Zeitung, 15. März 2006, zitiert nach Wirtz, Alles authentisch, S. 11. 10 Vgl. Wirtz, Alles authentisch, S. 24. 11 Persönliche Korrespondenz mit Thomas Jeschner, Sunday Filmproduktions GmbH, E-Mail vom 31. August 2017. 12 Vgl. Satjukow & Gries, Hybride Geschichte und Para-Historie, S. 18. Siehe aber auch Joanna K. Stimmel, die in ihrer Analyse zu Am Ende kommen Touristen eher eine Renationalisierung als eine Globalisierung der Erinnerung feststellt. Stimmel, Between Globalization and Particularization, S. 103.
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mit Vergangenheitsbezügen müssen transnational ökonomisch erfolgreich zu handeln und zugleich in unterschiedlichen sozialen und nationalen Horizonten kulturell zu verhandeln sein. 13
Diese Regeln sind formaler Natur – beispielsweise sollte ein Film nicht länger als 90 Minuten dauern, um den heutigen Sehgewohnheiten des Publikums bzw. vieler Publika unterschiedlicher Nationalität gerecht zu werden – aber auch inhaltlicher Natur, denn ebenso sollten universelle Anknüpfungspunkte vorhanden sein. Wird ein Film für private Fernsehsender produziert, so kann die Dramaturgie bereits auf die potenziellen Werbeblöcke angepasst werden. 14 Sowohl Unser letzter Sommer (96 Minuten) als auch Warschau ’44 (127 Minuten) und die einzelnen Episoden des Dreiteilers Unsere Mütter, unsere Väter (jeweils ca. 90 Minuten) befolgen diese Regeln zumindest teilweise. In einem Interview mit dem Polnischen Institut für Filmkunst PISF erklärt Regisseur Michał Rogalski, dass er sich freue, dass die Zuschauer in Kanada, wo Unser letzter Sommer auf dem 30. World Film Festival in Montreal seine Weltpremiere feierte, den universellen Charakter der Themen im Film bestätigt hätten: Die Rezeption durch die Zuschauer in Kanada hat uns zum Glück in diesem Gefühl bestätigt, dass diese ganze Geschichte ein universelles Ausmaß hat, dass das kein lokaler Film ist, den nur Polen, Deutsche verstehen. 15
Auch Jan Komasa setzt darauf, dass sein Film Warschau ’44 universelle Anknüpfungspunkte für Publika außerhalb Polens bietet. Eine Transnationalisierung des nationalen Erinnerungsortes Warschauer Aufstand ist für den Regisseur nicht nur willkommene Begleiterscheinung, sondern erstrebenswertes Ziel: Ich hoffe, dass „Warschau ’44“ auch Grenzen überschreitet und New Yorker, Londoner oder Berliner anspricht, die das Blutbad in der Mitte des zivilisierten Europas als ihnen nahes Ereignis zu behandeln beginnen, als ihre Sache. Der Warschauer Aufstand muss genau so ein Symbol und eine Warnung für die Welt werden wie der Einsturz des WTC. 16
13 Satjukow & Gries, Hybride Geschichte und Para-Historie, S. 18. 14 Vgl. Zimmermann, Der Historiker am Set, S. 156. 15 Vgl. PISF. 2015. „Letnie przesilenie. Rozmowa z Michałem Rogalskim.“ YouTube, veröffentlicht am 21. Oktober 2015, URL: https://www. youtube. com/ watch? v= rPF2Yk126Kw, Zugriff am 27. Februar 2017, Min. 8:01–8:13. Transkription unter: https://www. pisf. pl/ files/ dokumenty/ wideo/ Letnie_ przesilenie_ rozmowa_ z_ Michalem_ Rogalskim. rtf. 16 Janusz Wróblewski. 2014. „I rozp˛etało si˛e piekło. . . “ Polityka, 1. August 2014, URL: https://www. polityka. pl/ tygodnikpolityka/ kultura/ 1586757,3,jan- komasa- o- swoimnajnowszym- filmie- o- powstaniu- warszawskim. read, Zugriff am 10. Dezember 2017.
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An diesen vielschichtigen Zuschauererwartungen, die nicht mehr nur auf nationale Publika beschränkt sind und die zu erfüllen, wie in den folgenden Kapiteln noch detailliert ausgeführt wird, von größter Bedeutung für den Erfolg eines Erinnerungsfilms zu sein scheint, müssen sich Filmemacher zu einem gewissen Grad in ihrer Arbeit orientieren. 17 Die Konsolidierung nach wie vor national gefärbter Geschichtsbilder stellt sie dabei vor eine besondere Aufgabe. Dennoch täte man den Filmemachern Unrecht, unterstellte man ihnen, dass sie in ihrem Schaffen allein durch Profitorientierung und Wirtschaftslichkeitsbetrachtungen geleitet würden. Gerade Kritiker des historischen Spielfilms bedienen sich dieses Argumentes gern, um die mangelnde geschichtswissenschaftliche Qualität und folglich den Wert der Erinnerungsfilme in der Vermittlung von Vergangenheitsbildern infrage zu stellen sowie diese mit dem unmoralischen Motiv der Geldgier zu verknüpfen. Die persönlichen Motive, die Filmemacher zur Bearbeitung und in der Art und Weise der Umsetzung eines bestimmten Vergangenheitsstoffes leiten, sind, wie im weiteren Verlauf dieses Abschnitts zu Produktionskontexten noch erläutert wird, nicht von der Hand zu weisen und alles andere als unmoralisch. So sehr der Markt auch einen Einfluss auf den Erfolg von Erinnerungsfilmen sowie auf die Art und Weise hat, wie diese mit der Vergangenheit umgehen – auch andere Faktoren wirken auf die Produktion von Vergangenheitsbildern im Spielfilm. Ein sowohl in Deutschland als auch in Polen relevanter Faktor ist die Politik. Angesichts der enormen Wirkungsmacht, die der moderne Spielfilm im Hinblick auf die Vermittlung von Wissen über die Vergangenheit hat, ist es wenig verwunderlich, dass auch staatliche Akteure eng in die Produktionsprozesse eingebunden sind und ihre jeweiligen Interessen einfließen lassen. Filmförderung in Deutschland und Polen ist maßgeblich aus öffentlichen Mitteln finanziert. In Deutschland basiert diese öffentliche Filmförderung auf drei Ebenen. Bund und Länder haben ihre eigenen Fördertöpfe, daneben haben auch die Fernsehanstalten das Recht, Filme zu fördern – bis zu einem gewissen Budget, geregelt im Film-Fernseh-Abkommen. Daher sind die meisten Produktionen mischfinanziert. 18 Zuständig für die Filmförderung in Deutschland ist derzeit die Kulturstaatsministerin Monika Grütters. 2017 wurde eine substantielle Aufstockung der Mittel für die deutsche 17 Vgl. aber auch Korzeniewska, Liminalität und Post-Erinnerung. Die Autorin vertritt die Ansicht, dass diese thematische Globalisierung die Vielfalt der Geschichtsfelder, die im polnischen Film bearbeitet werden, gegenüber der Zeit der Volksrepublik beschränkt. 18 Vgl. Marc Röhlig. 2013. „Eine Finanzierung, viele Töpfe“. Tagesspiegel, 4. Februar 2013, URL: http://www. tagesspiegel. de/ berlin/ wie- filme- gefoerdert- werdeneine- finanzierung- viele- toepfe/ 7723402. html, Zugriff am 10. Dezember 2017.
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Filmförderung angekündigt (75 Mio. EUR + 25 Mio. EUR für anspruchsvolle Kulturfilme), insgesamt stehen in Zukunft 100 Mio. EUR jährlich zur Verfügung – nachdem 2014 der Etat auf 50 Mio. EUR zusammengeschrumpft war. Zudem wurden Anfang 2017 die Richtlinien zur Filmförderung geändert, unter anderem das Mindestbudget und die erwartete Mindestzuschauerzahl angehoben 19 und der Anteil der Beteiligung der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien am Gesamtbudget auf bis zu 80 % erhöht. 20 Das ist ein deutliches Zeichen dafür, dass auch in Deutschland die Förderung von Film ein wichtiges politisches Ziel ist. Nichtsdestotrotz spielt der geschichtspolitische Aspekt in der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland insbesondere im Vergleich mit Polen eine untergeordnete Rolle. In Polen nämlich ist vor allem seit der Wahl der nationalkonservativen Regierung im Oktober 2015 Film als Werkzeug der staatlichen gelenkten Geschichtspolitik in den Fokus der Öffentlichkeit geraten. Im Sommer 2016 rief der Minister für Kultur und Nationales Erbe, Piotr Gli´nski, einen Wettbewerb aus, in dessen Rahmen Filme zur polnischen Geschichte gefördert werden sollten, die eine dezidiert polnische Narration der Vergangenheit darbieten. 21 Über 800 Bewerbungen gingen ein, von denen in einem zweistufigen Verfahren zunächst 48 und später acht Vorschläge eine Förderung erhielten. 22 Filmförderung ist in Polen ein hochpolitisches Feld, wie 2017 auch die Absetzung der bisherigen Direktorin des PISF, Magdalena Sroka, zeigte, die unter anderem Proteste in Polen und auf europäischer Ebene durch den Vorsitzenden der Europäischen Filmakademie, Wim Wenders 23, her-
19 Diese Änderungen wurden von Grütters stark kritisiert, vgl. Spiegel Online. 2017. „Monika Grütters kritisiert neue Leitlinien.“ Spiegel Online, 12. Juli 2017, URL: http:// www.spiegel.de/kultur/kino/diskussion-um-filmfoerderung-monika-gruetters-kritisiert- neue- richtlinien- a- 1157428. html, Zugriff am 10. Dezember 2017. 20 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. 2017. „Kulturelle Filmförderung des Bundes neu geregelt.“ Bundesregierung.de, 21. März 2017, URL: https:// www. bundesregierung. de/ Content/ DE/ Pressemitteilungen/ BPA/ 2017/ 03/ 2017- 0321- bkm- filmfoerderung. html, Zugriff am 10. Dezember 2017. 21 Vgl. Ministerstwo Kultury i Dziedzictwa Narodowego. 2016. „Konkurs stypendialny na stworzenie scenariusza filmu fabularnego z zakresu historii Polski.“ MKiDN, 14. Juli 2016, URL: http://www. mkidn. gov. pl/ pages/ posts/ konkurs- stypendialnyna- stworzenie- scenariusza- filmu- fabularnego- z- zakresu- historii- polski- 6445. php, Zugriff am 1. August 2017. 22 Vgl. Ministerstwo Kultury i Dziedzictwa Narodowego. 2017. „Znamy wyniki konkursu scenariuszowego.“ MKiDN, 25. Oktober 2017, URL: http://www. mkidn. gov. pl/ pages/posts/znamy-wyniki-konkursu-scenariuszowego-7836.php, Zugriff am 15. Februar 2018. 23 Vgl. Emilia Dłu˙zewska. 2017. „Piotr Gli´nski odpowiada Wendersowi na zarzuty w sprawie PISF: ‚Polskie kino, demokracja i wolno´sc´ artystyczna maja˛ si˛e dobrze‘.“ Ga-
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vorrief. Die Abberufung Srokas im Herbst 2017 war vordergründig verbunden mit einem Skandal, in dem sich die Assistentin der Direktorin in deren Namen an die Motion Picture Association of America wandte, und ihre Sorge um die Freiheit des Films in Polen vortrug. 24 Auch deutsche Medien berichteten. 25 In der darauffolgenden Debatte wurde unter anderem angeprangert, dass das PISF bislang der polnischen Nation nur schlecht gedient habe. Der Beweis dafür sei der Film Pokłosie, der unter anderem durch russische Gelder finanziert worden sei – und natürlich habe auch Donald Tusk seine Mitschuld daran. 26 In der Entscheidung um den neuen Vorsitz des ´ PISF traten in der Folge Izabela Kiszka-Hoflik und Radosław Smigulski ´ gegeneinander an. Aus dem Wettbewerb ging Smigulski siegreich hervor, der ankündigte, dass er nicht vorhabe, das PISF einer politischen Ideologie zu unterwerfen, sondern die Vergabe der Mittel vielmehr noch freier und für einen größeren Bewerberkreis zugänglich machen wollen. Politisch stand er allerdings in der Vergangenheit mit erzkonservativen Kreisen in Verbindung und hatte sich als Filmproduzent mit eher minderwertigen Filmen einen Namen gemacht. 27 Seine Mitbewerberin Izabela KiszkaHoflik, Interimsdirektorin des PISF, unterlag mit nur einer Stimme. Sie war seit Beginn 2005 in führenden Positionen an der Entstehung und Entwicklung des PISF beteiligt. Ihre Kandidatur unterstützten prominente Filmemacherinnen wie Agnieszka Holland 28 und Małgorzata Szumowska
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zeta Wyborcza, 17. Oktober 2017, URL: http://wyborcza. pl/ 7,101707,22526976,glinski- odpowiada- wendersowi- polskie- kino- demokracja- i- wolnosc. html, Zugriff am 10. Dezember 2017. Vgl. Paweł T. Felis und Witold Mrozek. 2017. „Magdalena Sroka: minister Gli´nski chciał mojej dymisji ju˙z kilka miesi˛ecy temu. To jego ostatni test.“ Gazeta Wyborcza, 10. Oktober 2017, URL: http://wyborcza.pl/7,101707,22495103,magdalena-sroka-minister-glinski-chcialmojej- dymisji- juz- kilka. html, Zugriff am 10. Dezember 2017. Beispielsweise der MDR. 2018. „Polens Filmförderung im Visier der Regierung.“ Heute im Osten, 31. Mai 2018, URL: https://www. mdr. de/ heute- im- osten/ filmfoerderung- in- polen- 100. html, Zugriff am 14. Mai 2019. Vgl. Tadeusz Sobolewski. 2017. „PISF z´le słu˙zył narodowi. Dowodem ‚Pokłosie‘, ‚antypolski film za rosyjskie pieniadze‘.“ ˛ Gazeta Wyborcza, 26. Oktober 2017, URL: http:// wyborcza. pl/ 7,101707,22571351,pisf- zle- sluzyl- narodowi- dowodem- poklosie- antypolski- film. html, Zugriff am 10. Dezember 2017. ´ Vgl. Paweł T. Felis. 2017. „Radosław Smigulski, nowy szef PISF: Kaca nie b˛edzie.“ Gazeta Wyborcza, 9. Dezember 2017, URL: http://wyborcza.pl/7,101707,22759172,radoslaw- smigulski- nowy- szef- pisf- kaca- nie- bedzie. html, Zugriff am 10. Dezember 2017. Vgl. Emilia Dłu˙zewska. 2017. „Konkurs na dyrektora PISF. Agnieszka Holland i Kobiety Filmu popieraja˛ kandydatur˛e Kiszki-Hoflik.“ Gazeta Wyborcza, 30. November 2017, URL: http://wyborcza. pl/ 7,101707,22717584,konkurs- na- dyrektora- pisfagnieszka- holland- i- kobiety- filmu. html, Zugriff am 10. Dezember 2017.
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im Rahmen der Aktion #KochamPolskieKino und warnten vor einer Politisierung des polnischen Films nach dem Vorbild des öffentlichen Fernsehens. 29 Das PISF wurde 2005 mit dem Gesetz zur Kinematografie 30 gegründet und verfügte zuletzt über ein Budget von rund 186,593 Mio. PLN (2017; 2016 waren es rund 168,9 Mio. PLN). Das Budget des PISF setzt sich nur zu einem sehr geringen Teil aus Steuergeldern und ansonsten aus Abgaben der Kinobetreiber, Filmverleiher und den Betreibern der Kabel- und Digitalfernsehprogramme zusammen. 31 Neben diesen Mitteln werden polnische Filme typischerweise auch durch private Geldgeber und regionale Förderinstitutionen, die nach dem Vorbild der Förderinstitutionen der Bundesländer in Deutschland der Promotion der polnischen Regionen dienen sollen, finanziert. Geschichtsfilme sind bereits seit vielen Jahren eine Förderpriorität des PISF und werden stärker als viele andere Projekte bezuschusst. 32 Der Eindruck, dass diese Entwicklung erst seit dem Regierungswechsel in Warschau im Jahr 2015 eingetreten ist, trügt also. Die neuesten Pläne der Regierung zur Zentralisierung der Filmproduktion in Polen deuten allerdings darauf hin, dass die Bedeutung des PISF in der Verteilung von Fördergeldern weiter sinken wird. Die renommierten, dezentralen Filmstudios sollen zu einer zentralen Organisation zusammengeschlossen werden. Der zuständige Minister Gli´nski argumentiert, dass durch diesen Schritt eine international wettbewerbsfähige Organisation geschaffen würde und zudem Strukturen aus der Zeit der Volksrepublik abgeschafft würden. Polnische Filmemacher jedoch sehen in der Zentralisierung der Filmstudios eine Rückkehr zu kommunistischen Methoden,
29 Vgl. Maciej Grzenkowicz. 2017. „#KochamPolskieKino. Kobiety filmu ostrzegaja˛ w sprawie nowych władz PISF: ‚Kiedy kto´s kontroluje sztuk˛e, to jej nie ma‘.“ Gazeta Wyborcza, 27. November 2017, URL: http://wyborcza.pl/7,101707,22702225,kochampolskiekino- kobiety- filmu- ostrzegaja- w- sprawie- nowych. html, Zugriff am 10. Dezember 2017. Das staatliche Fernsehen hatte die Regierungspartei PiS bereits in den Vorjahren durch Reformen auf Parteilinie gebracht. 30 Vgl. Kancelaria Sejmu. 2005. USTAWA z dnia 30 czerwca 2005 r. o kinematografii. URL: https://www. pisf. pl/ files/ dokumenty/ informacje_ prawne/ ustawa_ o_ kinematografii_ tekst_ ujednolicony. pdf, Zugriff am 27. November 2017. Ein neues Gesetz zur Filmförderung vom 9. November 2018 trat im Frühjahr 2019 in Kraft, das einen neuen Fördermechanismus mit einem Anreizsystem in Form eines 30 % Geld-zurückVersprechens für Produzenten einführte, vgl. PISF. 2019. „Informacje podstawowe“ Website des PISF, URL: https://www. pisf. pl/ zachety/ informacje- podstawowe, Zugriff am 18. Juni 2019. 31 Vgl. PISF. 2017. „Bud˙zet,“ Website des PISF, URL: https://www. pisf. pl/ instytut/ budzet, Zugriff am 10. Dezember 2017; Felis & Mrozek, Magdalena Sroka. 32 Vgl. Wojciech Surmacz. 2010. „Tajemnice finansów PISF.“ Newsweek, 24. Mai 2010, URL: http://www. newsweek. pl/ biznes/ wiadomosci- biznesowe/ tajemnice- finansowpisf,59065,1,1. html, Zugriff am 22. Januar 2018.
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gibt sie doch die Entscheidungsgewalt darüber, welche Filme produziert werden und welche nicht, de facto zurück in staatliche Hände. 33 Neben einer nationalen Filmförderung, die für einen Großteil der Filmprojekte in Polen und Deutschland und auch für die hier untersuchten Erinnerungsfilme Unser letzter Sommer, Warschau ’44 und Unsere Mütter, unsere Väter relevant ist, gibt es aber auch eine wachsende Zahl an Fördermöglichkeiten, die auf einer transnationalen Ebene operieren. Nennenswert ist beispielsweise das MEDIA-Programm der Europäischen Union oder der europäische Filmförderfonds EURIMAGES, der europäische Koproduktionen unterstützt. Dieser Filmförderfonds des Europarates finanziert die Koproduktion von Kinofilmen, an denen mindestens zwei Mitgliedsstaaten beteiligt sind. Sowohl Polen als auch Deutschland sind Mitglieder und profitierten bereits von den Mitteln. Władysław Pasikowskis Pokłosie erhielt 2011 260.000 EUR von EURIMAGES 34, und auch die deutsch-polnische Koproduktion Lauf, Junge, lauf von Pepe Danquart wurde 2012 mit 580.000 EUR unterstützt 35. Die Europäisierung der Erinnerungskultur im Film beschränkt sich aber nicht nur auf die Produktionsförderung, sondern hat auch symbolische Seiten. Paweł Pawlikowskis Ida gewann 2014 den LUX Preis des Europäischen Parlaments, „which aims to promote awareness of European cinematography, values and social issues“ 36. Ein Educational Kit in allen 24 EU-Sprachen zu Ida wurde ebenfalls vom Europäischen Parlament konzipiert und herausgegeben, sodass die Geschichtsvermittlung durch Erinnerungsfilme an dieser Stelle ganz klar transnationale Dimensionen erreicht. 37 Aber auch durch 33 Zur Berichterstattung in Deutschland und Polen vgl. bspw. Jagoda Engelbrecht. 2019. „Zentralisierung von Polens Filmindustrie: Schlag gegen die Freiheit der Künste.“ Tagesspiegel, 9. Januar 2019, URL: https://www. tagesspiegel. de/ kultur/ zentralisierungvon-polens-filmindustrie-schlag-gegen-die-freiheit-der-kuenste/23841222.html, Zugriff am 14. Mai 2019; Jakub Majmurek. 2018. „Minister Gli´nski centralizuje kinematografi˛e, zamyka studia. Buduje molocha.“ OKO.press, 29. Dezember 2018, URL: https://oko.press/minister-glinski-centralizuje-kinematografie-zamyka-studia-kinomoloch- by- wykorzenic- prl/ , Zugriff am 14. Mai 2019. 34 Vgl. Council of Europe. 2011. „Co-production funding in 2011.“ Council of Europe, 16. Dezember 2011, URL: https://www. coe. int/ en/ web/ eurimages/ co- productionfunding- in- 2011, Zugriff am 20. Februar 2018. 35 Vgl. Council of Europe. 2012. „Co-production funding in 2012.“ Council of Europe, 17. Dezember 2012, URL: https://www. coe. int/ en/ web/ eurimages/ co- productionfunding- in- 2012, Zugriff am 20. Februar 2018. 36 EURIMAGES. o. J. Activity results for 2014. URL: https://rm. coe. int/ eurimages- activity- results- for- 2014/ 16807318f7, Zugriff am 20. Februar 2018. 37 Vgl. Europäisches Parlament. 2014 „LUX Prize 2014 – Pedagogical kit – IDA.“ Europäisches Parlament, URL: http://www. europarl. europa. eu/ downloadcentre/ en/ search/ % 22LUX% 20Prize% 202014% 20- % 20Pedagogical% 20kit% 20- % 20IDA% 22, Zugriff am 27. November 2017.
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nationale Fördermittel wird die Verbreitung ausgewählter Erinnerungsfilme und der damit verbundenen Vergangenheitsbilder im Ausland unterstützt. In Deutschland werden derlei Gelder von German Films vergeben, die unter anderem die Ausstrahlung von Anna Justices Die verlorene Zeit 2011 in Südkorea förderten – ein Markt, den man für einen Film über die Liebesbeziehung einer Jüdin und eines Polen während des Zweiten Weltkrieges und deren gemeinsame Flucht aus dem Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz vielleicht nicht sofort vermuten würde. 38 Speziell auf deutsch-polnischer Ebene ist die Grundlage für eine Zusammenarbeit durch entsprechende Förderstrukturen bereits gegeben: Der Deutsch-Polnische Co-Development / Produktionsfonds, der schon seit über 10 Jahren gemeinsam von PISF, Medienboard Berlin-Brandenburg und Mitteldeutscher Filmförderung finanziert wird. Insgesamt bislang mehr als 30 Filme, darunter Unser letzter Sommer, aber auch In Darkness und Lauf, Junge, lauf 39 wurden in diesem Rahmen gefördert. Natürlich existiert auch hier eine politische Dimension, die nicht von der Hand zu weisen ist. Wie Brandenburgs Minister für Wirtschaft und Energie 2015 betonte: „Für mich sind diese bi-nationalen Filmkooperationen gelebte Völkerverständigung.“ 40 Unser letzter Sommer erhielt, damals noch unter dem Arbeitstitel Sommersonnenwende, eine Förderung von 500.000 EUR, beantragt von der deutschen Produktionsfirma Sunday Filmproduktions GmbH in der Kategorie Produktion / Nachwuchs. 41 Hinzu kamen 2015 weitere 30.000 EUR für den Verleih, beantragt von der farbfilm verleih GmbH. 42 Bereits 2010 erhielt das Projekt unter dem Titel Summer Solstice 23.000 EUR aus der Kategorie Produktion / Nachwuchs. Der Film wurde
38 Vgl. Filmportal. 2011. „German Films vergibt 135.000,00 Euro Förderung für Kinostarts deutscher Filme im Ausland.“ Filmportal.de, 27. Oktober 2011, URL: https:// www. filmportal. de/ nachrichten/ german- films- vergibt- 13500000- euro- foerderungfuer- kinostarts- deutscher- filme- im, Zugriff am 5. September 2017. 39 Vgl. Mitteldeutsche Medienförderung. o. J. Förderentscheidungen 2012. URL: https:// www. mdm- online. de/ uploads/ media/ MDM_ Foerderentscheidungen_ 2012. pdf, Zugriff am 5. September 2017. 40 Carola Ehrlich-Cypra. 2015. „‚3 Fragen an . . . ‘ Albrecht Gerber, Minister für Wirtschaft und Energie des Landes Brandenburg.“ media.net Berlin-Brandenburg, 20. November 2015, URL: https://www. medianet- bb. de/ de/ 3- fragen- an- albrecht- gerberminister- fuer- wirtschaft- und- energie- des- landes- brandenburg/ , Zugriff am 27. Februar 2017. 41 Vgl. Mitteldeutsche Medienförderung. o. J. Förderentscheidungen 2013. URL: https:// www. mdm- online. de/ uploads/ media/ MDM_ Foerderentscheidungen_ 2013_ . pdf, Zugriff am 5. September 2017. 42 Vgl. Mitteldeutsche Medienförderung. o. J. Förderliste 2015. URL: https://www. mdm-online.de/uploads/media/MDM_2015_Foerderliste.pdf, Zugriff am 5. September 2017.
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2013 zudem mit 180.000 EUR aus dem Deutschen Filmförderfonds (DFFF) finanziert. 43 Zwar eröffnet eine Koproduktion vielerlei Chancen ideeller und monetärer Natur, d. h. Erfahrungs- und Aushandlungsräume für die Transnationalisierung von Vergangenheitsbildern, aber auch Zugang zu einer Vielzahl verschiedener Förderquellen auf nationaler und internationaler Ebene. Bisweilen werden diese Chancen jedoch durch Produktionszwänge begleitet, die den Produktionsprozess erheblich erschweren. Ein Musterbeispiel ist abermals Unser letzter Sommer. Wie Ralf Schenk in seiner Rezension auf Filmdienst.de feststellt: Sinn und Zweck von Kino-Co-Produktionen bestehen heute oft darin, Fördergelder zusammenzutragen, die in einem Land allein nur schwerlich aufzutreiben wären. Inhaltliche Aspekte sind meist zweitrangig. Michal Rogalskis deutsch-polnische Gemeinschaftsproduktion macht da eine erfreuliche Ausnahme. 44
So positiv diese Feststellung auch sein mag, so darf sie doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch gelungene Koproduktionen die Produktionsteams vor schwierige Aufgaben stellen, die nationale Produktionen in diesem Ausmaß nicht bewältigen müssen. Neben offensichtlichen Hürden wie der Sprachbarriere sind es vor allem logistische Aspekte, die problematisch werden können. Kameramann Jerzy Zieli´nski und Regisseur Michał Rogalski berichten von diesen Problemen und Absurditäten, die eine deutsch-polnisch kofinanzierte Produktion mit sich bringen kann. 45 Durch ebendiese Art der binationalen Förderung musste der Film zur Hälfte in Deutschland und Polen gedreht werden. Am Ende jedoch darf der Zuschauer natürlich diesen Bruch nicht merken, was Regisseur und Kameramann vor die Aufgabe stellte, die Bilder so zusammenzusetzen, dass am Ende ein stimmiger Gesamteindruck entsteht und das vermeintlich authentische Bild des besetzten Ostpolens im Sommer 1943 keine Risse bekommt. So wurden beispielsweise die Szenen im Lokschuppen, in dem der junge Pole Romek als Heizer arbeitet, in Polen gedreht. Szenograf Sosnowski berichtet, dass man mit diesem Lokschuppen, dem authentischsten aller nicht authentischen Drehorte in Unser letzter Sommer, 43 Vgl. Thekla Swart. 2014. „Förderzusagen 01. 01. 2013–31. 12. 2013.“ Deutscher Filmförderfonds, 6. Januar 2014, URL: http://www. dfff- ffa. de/ download. php? f= 4a02766f81b5bebd3d93881ea56da5ab& target= 0, Zugriff am 5. September 2017. 44 Ralf Schenk. o. J. „Unser letzter Sommer.“ Filmdienst, URL: http://www.filmdienst.de/ kinokritiken/ einzelansicht/ unser- letzter- sommer,546461. html, Zugriff am 27. November 2017. 45 Vgl. Polskie Radio. 2015. „Camerimage 2015 – ‚Letnie przesilenie‘.“ Veröffentlicht auf YouTube am 19. November 2015, URL: https://www. youtube. com/ watch? v= wVtecQQqzso, Zugriff am 27. Februar 2017.
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großes Glück gehabt habe, da kaum Anpassungen vorgenommen werden mussten. 46 Es handelt sich dabei um das Eisenbahnmuseum Muzeum Prze´ aska, ´ asku mysłu i Kolejnictwa na Sl ˛ in Jaworzyna Sl ˛ in dem vom 27. bis 29. September 2013 gedreht wurde. Nicht nur der Lokschuppen selbst, sondern auch die Museumsdampflok TKt48-18 wurden für die Dreharbeiten genutzt. 47 Szenen in den Feldern und Wäldern wurden in Deutschland gefilmt. Natürlich wäre es auch möglich gewesen, diese Szenen in Polen zu realisieren. Tatsächlich wäre es sogar einfacher gewesen, denn auf den deutschen Feldern standen Mais und Windräder, die in das Bild Ostpolens im Sommer 1943 nicht passten, wie Rogalski berichtet. 48 Ein kleinerer Teil der Szenen auf den Feldern wurde in Brandenburg gedreht, der Großteil der Szenen aber wurde in Sachsen 49 gefilmt. Hier floss auch der überwiegende Teil des Geldes ab. Und so befindet sich das Hauptquartier der Einheit von Guido nur im Film in Ostpolen, in der Realität aber in einem alten Herrenhaus im sächsischen Oelzschau, das von den Filmemachern so hergerichtet wurde, dass es an eine verlassene Schule erinnert, also den Eindruck eines öffentlichen Gebäudes erweckt, das zum Stützpunkt der deutschen Besatzer umfunktioniert wurde. 50 Derlei Schwierigkeiten erhöhen die Kosten binationaler Koproduktionen gegenüber nationalen Produktionen erheblich. 51 Natürlich eröffnen sie aber ebenso neue Möglichkeiten, insbesondere hinsichtlich der Authentifizierungsstrategien. Rogalski berichtet, dass für ihn auch die Idee, dass die deutschen Rollen von deutschen Schauspielern gespielt werden sollten, ein wichtiger Anlass war, um 2010 zur Connecting Cottbus zu fahren und dort nach einem deutschen Koproduktionspartner zu suchen. 52 2012 wurde die Zusammenarbeit von Sunday Filmproduktions GmbH und der Prasa
46 Vgl. FPFFGdynia. 2015. „40. FFG – Konferencja prasowa filmu ‚Letnie przesilenie‘, re˙z. Michał Rogalski.“ Veröffentlicht auf YouTube am 15. September 2015, URL: https://www. youtube. com/ watch? v= XdbCqsmQ1ds, Zugriff am 27. Februar 2017, hier: Min. 17:34–17:45. ´ askiej 47 Vgl. Region Fakty. 2016. „Muzeum Jaworzyny Sl ˛ Gwiazda˛ Wielkiego Ekranu.“ Region Fakty, 21. April 2016, URL: http://regionfakty.pl/kultura/muzeum-jaworzynyslaskiej- gwiazda- wielkiego- ekranu/ , Zugriff am 15. Februar 2018. 48 Vgl. Polskie Radio, Camerimage 2015 – „Letnie przesilenie“, Min. 1:21–1:44. 49 Belgern-Schildau OT Belgern, Oelzschau, Forst Dröschkau, Cavertitz OT Reudnitz, Belgern-Schildau OT Wohlau (Sachsen), vgl. Mitteldeutsche Medienförderung, Drehreport. Unser letzter Sommer. 50 Vgl. FPFFGdynia, 40. FFG – Konferencja prasowa filmu „Letnie przesilenie“, Min. 18:02–18:27. 51 Vgl. Polskie Radio, Camerimage 2015 – „Letnie przesilenie“, Min. 1:45–2:08. 52 Vgl. FPFFGdynia, 40. FFG – Konferencja prasowa filmu „Letnie przesilenie“, Min. 11:03–11:16.
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i film aus Warschau dann formalisiert. 53 Die Zusammenarbeit haben augenscheinlich beide Seiten als sehr fruchtbar empfunden. Filmförderung ist aber eben nicht selten an Bedingungen und Förderauflagen geknüpft, die die künstlerische Freiheit der Regisseure einschränken, wie das Beispiel Unser letzter Sommer deutlich macht. Die Frage der authentischen Drehorte, denen als Authentizitätsstrategie in der Produktion eines Erinnerungsfilms eine große Bedeutung zukommen kann 54, stellte aber auch andere Regisseure von Erinnerungsfilmen vor Schwierigkeiten. 55 Bei der Verfilmung von Warschau ’44 standen die Macher vor dem Problem, dass es das Vorkriegs-Warschau, das im Film wieder zum Leben erweckt werden sollte, natürlich nicht mehr gibt. Um dennoch eine Illusion der Authentizität zu erzeugen, behalf man sich mit der Verlagerung der Drehorte in andere Städte, in denen sich eine vergleichbare Architektur noch heute finden lässt. So wurden die Szenen der Mietshäuser im Warschauer Stadtteil Wola im heutigen Łód´z gedreht, die Straßenzüge der Warschauer Innenstadt wurden in Wrocław gefilmt. Die ´ Szenen des zerstörten Czerniaków wurden im schlesischen Swiebodzice gedreht, wo die Produzenten 3,5 ha einer alten Fabrik sprengen konnten. Nur die Bilder der Mostowa Straße entstanden tatsächlich in der heutigen, restaurierten Warschauer Altstadt. 56
53 Persönliche Korrespondenz mit Thomas Jeschner, Sunday Filmproduktions GmbH, E-Mail vom 31. August 2017. 54 Siehe auch weiter unten in diesem Kapitel; vgl. Korzeniewska, Liminalität und PostErinnerung, S. 189–190 und Rainer Wirtz. 2008. „Das Authentische und das Historische.“ In: Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen. Herausgegeben von Thomas Fischer und Rainer Wirtz, Konstanz: UVK, S. 187–203, hier: S. 192. 55 Vgl. Donata Subbotko. 2012. „Pasikowski: Nasz naród nie jest wybrany.“ Gazeta Wyborcza, 10. November 2012, URL: http://wyborcza . pl / magazyn / 1,124059,12648863,Pasikowski _ _ Nasz _ narod _ nie _ jest _ wybrany . html, Zugriff am 10. Oktober 2017. Mit Problemen anderer Art sah sich Regisseur Pasikowski bei den Dreharbeiten zu Pokłosie konfrontiert. Einige Leute, die sich im Vorhinein dazu bereiterklärt hatten, dem Filmteam ihre Immobilien zu vermieten, zogen ihre Zusagen zurück, nachdem sie erfahren hatten, worum es in dem Film gehen sollte. Insbesondere einige Laiendarsteller wollten unter keinen Umständen einen Juden ˙ spielen (benutzt wurde das pejorative Zydki). Zwischenzeitlich war Pasikowski so demotiviert, dass er die Filmarbeiten in die Slowakei verlegen wollte. Auch der Dreh des Films Die verlorene Zeit von Anna Justice fand nicht in Polen statt. Aufgrund der Vorgaben der Geldgeber – unter anderem nordmedia Fonds, Mitteldeutsche Medienförderung, Filmförderung Hamburg / Schleswig-Holstein und Deutscher Filmförderfonds – wurde die polnische Provinz der Besatzungszeit und das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz nach Niedersachsen verlegt. Siehe auch Hagen Jung. 2009. „Polnischer Winter in Woltersdorf – Filmdreh ‚Die verlorene Zeit‘.“ Wendland-Net, 27. November 2009, http://wendland- net. de/ post/ polnischerwinter- in- woltersdorf- filmdreh- die- verlorene- zeit, Zugriff am 20. November 2017. 56 Vgl. Wróblewski, I rozp˛etało si˛e piekło.
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Ein Blick auf die Finanzierungsstruktur von Warschau ’44 lässt abermals Verknüpfungen zwischen Fördergeldern und Produktionsnotwendigkeiten erkennen. Anders als Rogalski, dessen Filmprojekt Unser letzter Sommer auf allen Produktionsstufen von der polnischen Filmförderung des PISF gefördert wurde 57, hatte es Jan Komasa schwer, Finanzmittel für Warschau ’44 zu akquirieren. Die Experten des PISF hatten sich eigentlich gegen eine Förderung ausgesprochen. Schließlich war es eine persönliche Entscheidung der Direktorin des PISF, Agnieszka Odorowicz, 58 dem Film 6 Mio. PLN zuzubilligen – so viel, wie auch dem Filmprojekt Das Massaker von Katyn des polnischen Meisters Andrzej Wajda. Insgesamt verfügte Komasa letztlich über ein Budget von rund 24,5 Mio. PLN. Neben den 6 Mio. PLN des PISF kamen weitere Fördermittel unter anderem von der der Stadt Łód´z, wo eben auch Szenen für Warschau ’44 gedreht wurden. 59 Außerdem beteiligten sich der Mazowiecki Fundusz Filmowy, ´ aski. das Narodowe Centrum Kultury und die ING Bank Sl ˛ Warschau ’44 erhielt zudem einen kleineren, symbolischen Förderbetrag der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit. 60 Wie gut ein Film recherchiert ist, wie authentisch das Spiel seiner Schauspieler und wie wirklichkeitsnah Requisite und Kulissen sind, ist immer auch eine Frage des Geldes. Ein Beispiel dafür ist auch die Darstellung der polnischen Heimatarmee in Unsere Mütter, unsere Väter. Aus Gründen mangelnder Finanzierung konnte die Erzählung nicht wie ursprünglich geplant so umgesetzt werden, dass Viktor Goldstein am Ende nach Amerika auswandert. 61 Für Dreharbeiten dort, so berichtet Drehbuchautor Kolditz, reichte das Geld nicht aus. Die Notlösung war also die Verlegung der Geschichte nach Polen und die Ergänzung des Handlungsstrangs der Flucht Viktors aus dem Transport nach Auschwitz, während derer er auf die polnischen Partisanen trifft, deren Darstellung als primitive und antisemitische Zeitgenossen in der polnischen Presse für den bereits angesprochenen, immer noch anhaltenden Unmut sorgte. Natürlich wäre es etwas zu kurz gegriffen, allein fehlende Mittel für diese mangelhafte Umsetzung 57 Vgl. PISF, Letnie przesilenie. Rozmowa z Michałem Rogalskim. 58 Vgl. PAP. 2014. „Eksperci PISF nie chcieli finansowa´c ‚Miasta 44‘.“ Polskie Radio, 27. Juli 2014, URL: https://www.polskieradio.pl/5/3/Artykul/1187744,Eksperci-PISFnie- chcieli- finansowac- Miasta- 44, Zugriff am 10. Oktober 2017. 59 Vgl. Dzieje. 2013. „Łód´z: ‚Miasto 44‘ w´sród filmów z dofinansowaniem z miejskiej kasy.“, Dzieje.pl, 20. Mai 2013, http://dzieje. pl/ kultura- i- sztuka/ lodz- miasto- 44wsrod- filmow- z- dofinansowaniem- z- miejskiej- kasy, Zugriff am 20. November 2017. 60 Persönliches Gespräch mit Tomasz Markiewicz, Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit, in Warschau, 7. Juni 2016. 61 Vgl. Ursula Scheer. 2013. „Mit den Kategorien Gut und Böse kommst du nicht weit.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. März 2013, URL: http://www. faz. net/ - gsb- 77rjc, Zugriff am 3. Oktober 2017.
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verantwortlich zu machen. Immerhin verfügte die Produktion, die 2011 über 86 Tage an 141 Drehorten in Litauen, Lettland und Deutschland realisiert wurde 62, über ein sehr hohes Gesamtbudget von rund 14 Mio. EUR. Gleichwohl spielte die Finanzierung bei der Verlegung der Handlung nach Polen und der nachlässigen Umsetzung sicherlich eine Rolle. Filmförderung findet also heute im Spannungsfeld zwischen einem Markt, der sich in einem Prozess der Globalisierung befindet, und einer Geschichtspolitik, die insbesondere in Polen eher Zeichen einer Renationalisierung setzt, statt. In diesem Spannungsfeld gibt es Notwendigkeiten und Chancen für eine Transnationalisierung von Erinnerung, die maßgeblich in Authentizitätsansprüchen des Publikums sowie dem Streben einzelner Filmemacher nach einer historical und political correctness begründet liegen. Ganz offenkundig ist dieser Prozess aber keine Einbahnstraße, sondern vielmehr ein multidimensionales Gebilde, dessen Endergebnis, eine bestimmte Darstellung der Vergangenheit, einerseits auf globale wie lokale erinnerungspolitische Konjunkturen reagieren muss, dessen Innovationspotenzial andererseits aber auch durch aktuelle erinnerungskulturelle Strömungen sowie geschichts- und förderpolitische Erwägungen auf nationaler Ebene beschränkt wird. Filmemacher und Schauspieler bewegen sich als Akteure in diesem Spannungsfeld aus Markt und Politik. Welche Rolle sie im Produktions- und Vermarktungsprozess von Erinnerungsfilmen spielen, soll in den folgenden Unterkapiteln näher untersucht werden.
2.2 Die Mythenmacher: Filmemacher im Erinnerungsfilm Auf der Pressekonferenz anlässlich der polnischen Uraufführung des Films Unser letzter Sommer auf den 40. Filmfestspielen in Gdynia im September 2015 fragte der Journalist Witold Banach vom Radiosender Polskie Radio den Regisseur Michał Rogalski, ob er nicht Angst davor habe, wie sein Film aufgenommen werde, berühre er doch damit sehr heikle Teile der polnischen Geschichte, nämlich die schwierigen polnisch-jüdischen Beziehungen zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Der Vergleich mit den vieldiskutierten Büchern des Historikers Jan Tomasz Gross liege, so Banach, nahe. 63 Gross’ Buch Nachbarn 64, das 2000 erstmals den Mord 62 Vgl. ZDF Presse. 2013. Unsere Mütter, unsere Väter. Dreiteiliger Fernsehfilm. Presseheft. URL: https://presseportal.zdf.de/fileadmin/zdf_upload/Presse_Special/2013/03/ UMUV_ Film. pdf, Zugriff am 11. Oktober 2018, S. 15. 63 Vgl. FPFFGdynia, 40. FFG – Konferencja prasowa filmu „Letnie przesilenie“. 64 Jan Tomasz Gross. 2001. Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne. München: C. H. Beck.
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an der jüdischen Bevölkerung des nordostpolnischen Städtchens Jedwabne durch deren polnische Nachbarn am 10. Juli 1941 einer breiten Öffentlichkeit in Polen bekannt gemacht hatte, hatte seinerzeit für einen handfesten Skandal gesorgt. 65 Einen Skandal dieser Größenordnung rief Unser letzter Sommer freilich nicht hervor, dennoch waren die Macher des Films auf kritische Stimmen eingestellt. Michał Rogalski, der sowohl für die Regie als auch für das Drehbuch des Films verantwortlich zeichnet, entgegnete Banach, er sei auf solcherlei negative Kritik hervorragend vorbereitet, denn das Drehbuch sei nicht aus der Luft gegriffen, sondern fuße auf Fachliteratur wie auch auf Erlebnissen, die Teil seiner Familiengeschichte seien. 66 In dieser Doppelrolle ist Rogalski ein Musterbeispiel für zwei interessante Aspekte, die Macher von Erinnerungsfilmen charakterisieren und in deren Vermarktung immer wieder bemüht werden. Es handelt sich dabei einerseits um den Filmemacher als Experten der Vergangenheit und andererseits um den Filmemacher als Mitglied der dritten Generation, der in seinem Werk die Familiengeschichte der eigenen Großelterngeneration aus der Perspektive der Postmemory verarbeitet und damit durch seine Autorschaft 67 zur wahrgenommenen Authentizität der Vergangenheitsbilder im Film beiträgt. Diese beiden Aspekte sollen auf den nächsten Seiten näher betrachtet werden, denn den Filmemachern als Mythenmachern kommt im Entstehungsprozess zeitgenössischer Erinnerungsfilme eine entscheidende Rolle zu, sind es doch ihre Geschichtsdeutungen, die mittels der Spielfilme den Zuschauern kommuniziert werden.
2.2.1 Filmemacher als Experten der Vergangenheit Nicht nur Historiker, die sich von Berufs wegen wissenschaftlich präzise mit Vergangenheit beschäftigen, sondern auch die Macher von Erinnerungsfilmen haben hohe Ansprüche an die wahrgenommene, historische Authentizität ihrer Werke. Mittels diverser Mechanismen versuchen sie, den Publikumsanspruch nach einer authentischen Darstellung der Geschichte im Spielfilm zu erfüllen und sich in diesem Zuge gewissermaßen selbst als Experten der Vergangenheit zu positionieren, denen in der Pflege 65 Diese Ereignisse greift der Film Pokłosie von Władysław Pasikowski auf. 66 Vgl. FPFFGdynia, 40. FFG – Konferencja prasowa filmu „Letnie przesilenie“, Min. 14:48–15:08. Vgl. auch Hans Günter Hockerts Trias aus Primärerfahrung, Erinnerungskultur und zeitgeschichtlicher Forschung, Hans Günter Hockerts. 2001. „Zugänge zur Zeitgeschichte: Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft.“ Aus Politik und Zeitgeschichte, B 28/2001, S. 15–30. 67 Vgl. Martínez, Zur Einführung.
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des kulturellen Gedächtnisses eine besondere Bedeutung zukommt. Das kulturelle Gedächtnis nämlich braucht, wie Jan Assmann feststellt, solche Experten, denn „[o]hne Institutionen, Medien und Spezialisten ist ein kulturelles Gedächtnis nicht möglich. Ein kulturelles Gedächtnis bedarf unablässiger Pflege.“ 68 Und zu diesen Spezialisten können auch die Filmemacher gezählt werden, die sich als Teil „einer wissenssoziologischen Elite“ 69 mit der institutionalisierten Verbreitung von Wissen über die Vergangenheit befassen. Dabei steht für die Filmemacher allerdings nicht Faktizität, sondern nur eine gefühlte „Wahrhaftigkeit“, wie es Nico Hofmann, der Produzent von Unsere Mütter, unsere Väter formuliert, 70 der im Film gezeigten Vergangenheit im Vordergrund. Warum sind Filmemacher so bedacht darauf, den Eindruck historischer Authentizität zu erwecken und über mindestens neunzig Minuten aufrechtzuerhalten, sodass er selbst der Kritik von Historikern stand hielte? Tatsächlich ist es nicht so sehr das fachliche Urteil der Geschichtswissenschaftler, sondern jenes der Zuschauerinnen und Zuschauer, das für den Erfolg oder das Scheitern eines Erinnerungsfilms entscheidend ist. Damit verbunden sind weniger moralische oder berufsethische denn wirtschaftliche Überlegungen. Wenn beim Publikum Zweifel an der Authentizität der Geschichte im Film entstehen, d. h. wenn mehr oder minder offensichtliche historische Ungenauigkeiten dazu führen, dass die perfekte Illusion der Vergangenheit in Gefahr ist, verfehlt der Film sein Ziel. Es wird ihm nicht mehr gelingen, das Publikum in seinen Bann zu ziehen und den Schein zu vermitteln, es durchlebe die Erfahrungen echter Menschen. 71 Denn genau das ist es, was das Publikum anstrebt, dessen „[w]ichtigstes Motiv für die Beschäftigung mit der Geschichte“ nach Meyen und Pfaff „das Bedürfnis nach Identität und Orientierung“ ist. 72 Ebenjene Orientierung bietet das auch im Erinnerungsfilm präsente histo68 Jan Assmann. 2011. „Gedächtnis / Erinnerung.“ In: Lexikon der Geisteswissenschaften. Sachbegriffe – Disziplinen – Personen. Herausgegeben von Helmut Reinalter und Peter J. Brenner, Wien u. a.: Böhlau Verlag, S. 233–238, hier: S. 237. 69 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 55. 70 Nico Hofmann im Interview mit jungen Redakteuren der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Freidel, Morten et al. 2013. „Filmproduzent Nico Hofmann im Gespräch. ‚Es ist nie vorbei‘.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. März 2013, URL: http://www. faz. net/ - gsb- 77qjb, Zugriff am 3. Oktober 2016. Gleichwohl ist Hofmann Authentizität sehr wichtig, wie er im Interview im Ausstellungsband zur Ausstellung Inszeniert. Deutsche Geschichte im Spielfilm deutlich macht, siehe Christian Peters. 2016. „Interview mit Nico Hofmann.“ In: Inszeniert. Deutsche Geschichte im Spielfilm. Herausgegeben von der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld: Kerber Verlag, S. 130–133, hier: S. 131. 71 Vgl. Carnes, Shooting (Down) the Past, S. 47. 72 Michael Meyen und Senta Pfaff. 2006. „Rezeption von Geschichte im Fernsehen.“ Media Perspektiven, Nr. 2/2006, S. 102–106, hier: S. 102.
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rische Erzählen, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einen inneren Sinnzusammenhang stellt und Menschen erst handlungsfähig macht, indem es „Zeit als Handlungsabsicht und Zeit als Handlungsbedingung [. . . ] in den inneren Zusammenhang einer Orientierung der menschlichen Lebenspraxis“ bringt. 73 Angesichts einer zunehmend wichtigen Rolle, die das Medium Film mittlerweile in diesem Orientierungsprozess und in der Vermittlung von Wissen über die Vergangenheit einnimmt, hat sich auch der Umgang der Geschichtswissenschaften mit audiovisuellen Medien innerhalb der letzten drei Jahrzehnte gewandelt 74, wie insbesondere an Studienzweigen wie jenem der Public History deutlich wird. Auch die Zahl der Publikationen auf dem Gebiet der Visual History 75 wächst stetig. Neben dem bereits eingangs zitierten Historiker und Filmwissenschaftler Robert A. Rosenstone ging auch Robert Brent Toplin deswegen bereits vor drei Jahrzehnten der Frage nach, inwiefern ein Regisseur und Drehbuchautor, der sich eines historischen Sujets annimmt, bisweilen als Historiker gesehen werden kann, oder doch zumindest als Experte, der mit Vergangenheit umgeht. Die Beantwortung ebendieser Frage fließt in die Einschätzung ein, welches Gewicht Erinnerungsfilmen und ihren Machern in einem Prozess der Transnationalisierung der Erinnerungskultur zugeschrieben werden kann. „[B]oth filmmakers and historians use narrative strategies to recreate the past“ – allerdings nicht unbedingt aus denselben Beweggründen und freilich nicht mit demselben Ergebnis, wie Toplin feststellt. 76 Notwendigerweise müsse, so folgert Rosenstone, ein Regisseur Charaktere und Geschehnisse erfinden, um Geschichte in eine im Film erzählbare Geschichte zu verwandeln. 77 Rosenstone kommt wie auch Toplin zu dem Schluss, dass man Filmen keine allumfassende Darstellung der Geschichte mit allen ihren Facetten abverlangen dürfe. 78 Das allerdings können auch fachwissenschaftliche Abhandlungen nicht leisten, die ebenfalls in ihrem sozialen Kontext betrachtet werden müssen und sich historischer Erzählstrategien
73 Jörn Rüsen. 1994. Historisches Lernen: Grundlagen und Paradigmen. Köln u. a.: Böhlau Verlag, S. 30. 74 Noch vor drei Jahrzehnten ergab sich ein gänzlich anderes Bild, vgl. Robert Brent Toplin. 1988. „The Filmmaker as Historian.“ The American Historical Review, Vol. 93, Nr. 5, S. 1210–1227; vgl. Daniel J. Walkowitz. 1985. „Visual History: The Craft of the Historian-Filmmaker.“ The Public Historian, Vol. 7, Nr. 1, S. 53–64. 75 Vgl. bspw. Gerhard Paul. 2006. Visual History. Ein Studienbuch. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 76 Hesling, The past as story, S. 189. 77 Rosenstone stellt weiter fest, dass Historiker nicht anders handelten, wenn sie über historische Fakten schrieben. Vgl. Rosenstone, History on Film, S. 37–38. 78 Vgl. Ebd. sowie Toplin, The Filmmaker as Historian.
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bedienen. 79 Und so gilt für die fachwissenschaftliche wie auch die ästhetische Befassung mit Vergangenheit gleichermaßen: „Jede Beschreibung von Realität, sei es die im Text des Historikers, sei es die in einem Film, auch im Dokumentarfilm, ist Konstrukt.“ 80 Während Geschichten also immer kritisch betrachtet werden sollten, „weil historisches Erzählen in sozialen Kontexten erfolgt, in denen nichts Geringeres auf dem Spiel steht als die Identität der miteinander Zusammenlebenden“ 81, macht Rüsen den wichtigen Unterschied für die Geschichtswissenschaft darin aus, „daß sie die in allem historischen Erzählen angelegten Begründungen für die Geltung der erzählten Geschichten systematisch aufarbeitet und zu einem Gefüge regelhafter Prozesse institutionalisiert“. 82 Einige Experten haben angesichts der wachsenden Popularität des Mediums Film in der Vermittlung von Vergangenheitsbildern eine gewisse Konkurrenzsituation zwischen Historikern und Filmemachern um die Deutungshoheit über die Vergangenheit erkannt. „Auf jeden Fall tritt die Deutungsmacht des filmischen Narrativs in Konkurrenz zu historischer Geschichtsdeutung“, wie Rainer Wirtz befindet. 83 Zu einer ähnlichen Bewertung gelangt auch Toplin: Filmmakers, assuming the role of historians, are interpreting the past for ever larger audiences [. . . ]. Academicians often bemoan this state of affairs, troubled by a sense that flashy salesmen are intruding on their turf and marketing colorful packages to gullible clients. 84
Was auf den ersten Blick tatsächlich wie ein Konflikt erscheinen mag, bietet auf den zweiten Blick aber auch neue Chancen. Historiker können sich die gesteigerte Aufmerksamkeit für historische Belange zunutze machen, um den Zuschauerinnen und Zuschauern Geschichte näherzubringen, anstatt sich an den vermeintlich fehlerbehafteten Geschichtsdarstellungen der Spielfilme abzuarbeiten. 85 Vielmehr müsse man Film also als eine Chance sehen, das Publikum auf einer emotionalen Ebene 86 zu 79 Vgl. auch Hayden White. 2015. Metahistory: Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. 2. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. 80 Wirtz, Das Authentische und das Historische, S. 192. 81 Rüsen, Historisches Lernen, S. 33. 82 Ebd., S. 33 f. 83 Wirtz, Das Authentische und das Historische, S. 202. 84 Toplin, The Filmmaker as Historian, S. 1226. 85 Vgl. Carnes, Shooting (Down) the Past, S. 49; vgl. auch Toplin, The Filmmaker as Historian. 86 Vgl. zur Verbindung von Emotionen und Lernen über die Geschichte auch Juliane Brauer und Martin Lücke. Hrsg. 2013. Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Geschichtsdidaktische und geschichtskulturelle Perspektiven. Göttingen: V&R unipress.
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erreichen und dessen Interesse an einer näheren Beschäftigung mit einem geschichtswissenschaftlichen Thema zu wecken. 87 Das kann ein Film durchaus leisten, wie beispielsweise die Diskussionen nach der Ausstrahlung des ZDF-Mehrteilers Unsere Mütter, unsere Väter zeigte. 88 Und wie Hans Günter Hockerts weiter feststellte: „Die Fachwissenschaft kann immer nur relativ kleine Teile der Öffentlichkeit erreichen; die meisten Bürger begegnen der Zeitgeschichte auf andere Weise“ 89, beispielsweise über den modernen Spielfilm. Rainer Gries und Silke Satjukow haben sich in einem gemeinsamen Projekt intensiv mit der Geschichtsaneignung in Historienfilmen beschäftigt. In den Blick nahmen sie Unsere Mütter, unsere Väter sowie Die Flucht. Ein besonderer Fokus lag dabei auf Jugendlichen als Zielgruppe sowie den Schauspielern als zentralen Akteuren der Erinnerungsfilme. Die Autoren beschreiben das Phänomen, wonach filmische Fiktion in diesen historisch basierten Dramen als wahre Geschichte empfunden wird, als Para-Historie. 90 Para-Historie meint „historisierende Präsentationen, deren fiktive Narrationen für sich reklamieren, eine quellengestützte und faktisch belegte Version der Vergangenheit zu gestalten“. 91 Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht ist diese Herangehensweise zwar äußerst fehlerbehaftet, aus Sicht des Publikums aber augenscheinlich enorm erfolgreich, werden doch gerade solche Formate als historisch rezipiert und angeeignet. 92 Angesichts dieser Erkenntnisse ließe sich aber durchaus die Frage stellen, inwiefern Filmemacher doch eine gewisse Pflicht haben, die Vergangenheit im Film in all ihren Zusammenhängen und Facetten wahrheitsgetreu darzustellen und somit einer Verantwortung als Experten der Vergangenheit gerecht zu werden. Die Beispiele von Michał Rogalski, Jan Komasa und Philipp Kadelbach in diesem Kapitel sollen Aufschluss geben, inwieweit sich die Filmemacher selbst einer solchen Verantwortung bewusst sind und danach handeln. Freilich bleiben kritische Stimmen, die nach wie vor einen Konflikt zwischen einer ebensolchen Verantwortung und den wirtschaftlichen Über87 Vgl. Toplin, The Filmmaker as Historian, insbesondere S. 1213 sowie auch Carnes, Shooting (Down) the Past. 88 Eine eingehendere Diskussion dieses Aspekts findet sich im Abschnitt Rezeptionskontexte, vgl. auch Frank Bösch. 2007. „Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft: Von ‚Holocaust‘ zu ‚Der Untergang‘.“ Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 55 (Heft 1), S. 1–32, hier: S. 27. 89 Hockerts, Zugänge zur Zeitgeschichte, S. 15. 90 Vgl. Satjukow & Gries, Hybride Geschichte und Para-Historie. 91 Rainer Gries. 2012. „Vom historischen Zeugen zum professionellen Darsteller. Probleme einer Medienfigur im Übergang.“ In: Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945. Herausgegeben von Martin Sabrow und Norbert Frei, Göttingen: Wallstein Verlag, S. 49–70, hier: S. 57. 92 Vgl. ebd.
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legungen sehen, die eine Filmproduktion notwendigerweise begleiten. 93 Dass darin aber nicht zwingend ein unüberbrückbarer Widerspruch liegen muss, signalisiert ein ungeschriebener Authentizitätspakt 94 zwischen Filmemachern und Publikum, demgemäß ein Erinnerungsfilm gewissen Kriterien hinsichtlich seiner wahrgenommenen, historischen Wahrhaftigkeit entsprechen sollte, die einer absoluten Beliebigkeit der Darstellung der Vergangenheit im Film Grenzen setzt. Filmische Fiktion und historische Fakten stehen im Spielfilm allerdings in einer weitaus komplexeren Beziehung, die vielerlei Anforderungen Rechnung tragen muss. Ein präziser Umgang mit der Geschichte ist dabei mitunter nachrangig. 95 Dennoch kann es passieren, dass in der öffentlichen Wahrnehmung die Grenzen zwischen Filmemachern und Historikern verschwimmen. Denn tatsächlich ähnelt oberflächlich betrachtet die Arbeit, d. h. die herangezogenen Quellen und die Arbeitsweise der Filmemacher, bisweilen der eines Historikers. Den Dreharbeiten eines Erinnerungsfilms gehen jahrelange, gründliche Recherchen voraus. Zeitzeugengespräche, Ego-Dokumente und Fachliteratur bilden die Basis der Erinnerungsfilme. Zu bedenken bleibt aber, dass Historiker und historisch arbeitende Filmemacher sich in ihrer Arbeit zwar durchaus mit denselben Sachverhalten und Quellen beschäftigen können, ihre Zielsetzung und folglich auch der Umgang mit der Vergangenheit aber verschieden bleiben. Die meisten Filmemacher lehnen es ab, als Historiker gesehen zu werden – und entziehen sich so einer geschichtswissenschaftlichen Überprüfung ihrer Arbeit, die letztlich doch Fiktion bleibt. Die Macher von Warschau ’44 erklären im Presseheft 96 zum Film sehr deutlich, dass sie sich eben gerade nicht in die Rolle der Historiker drängen lassen wollen: 93 Vgl. bspw. Carnes, Shooting (Down) the Past. 94 Dieser Pakt soll im Folgenden noch genauer betrachtet werden. Vgl. auch Zimmermann, Der Historiker am Set; Weixler, Authenisches erzählen – authentisches Erzählen. 95 Zu den vielschichtigen Anforderungen gehören auch künstlerische Freiheit und eine spannende Geschichte, die das Publikum zu fesseln vermag. Gelegentlich sind die Anforderungen aber auch prosaischer Natur. Beispielsweise wurde ein Film über den Warschauer Aufstand auch deswegen so viele Jahre nicht realisiert, weil klar war, dass ein solches Projekt eine sehr hohe Finanzierungssumme bräuchte, um gut gemacht werden zu können. Diese sicherzustellen war aber ein Problem. 96 Als Quellen werden insbesondere in diesem Abschnitt Interviews und Pressematerialien herangezogen, die im Kontext der Vermarktung der Erinnerungsfilme publiziert wurden. Inwiefern die dort getätigten Äußerungen der Filmemacher und Schauspieler deren eigene Einstellungen und Geschichten uneingeschränkt und unverfälscht widerspiegeln, muss selbstverständlich kritisch bewertet werden. Nichtsdestotrotz ist der Aussagegehalt dieses Quellenmaterials hoch, denn die Tatsache, dass die persönlichen Lebens- und Familiengeschichten der Beteiligten auf diese Weise erfolgreich im Vermarktungsprozess eines Spielfilms nutzbar gemacht werden, lässt bereits Schlüsse bezüglich ihrer Rolle und Wirkung als Mythenmacher und Mythenmittler in der öffentlichen Wahrnehmung zu.
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„Warschau ’44“ ist weder ein historischer Film noch ein Dokument über den Verlauf des Aufstands. Obwohl er sich in der kämpfenden Stadt abspielt, erzählt er die Geschichte von Menschen und nicht von Einheiten oder Barrikaden. „Warschau ’44“ soll kein Argument in der Diskussion des Aufstands sein. Der Film soll Emotionen übermitteln und nicht die Gründe abwägen oder die Kulissen der Entscheidungen von vor 70 Jahren enthüllen. Das überlassen wir den Historikern. Wir suchen keine Bronzehelden. „Warschau ’44“ ist kein Film über Politik. Es ist ein Film über die Liebe, die Jugend und den Kampf. 97
Der Fokus auf Emotionen statt Fakten entspricht einem Trend, der sich bereits um die Jahrtausendwende im öffentlichen Diskurs nicht nur zu geschichtswissenschaftlichen Themen, sondern über das gesamte Themenspektrum menschlicher Existenz hinweg bemerkbar machte. 98 Eine Schlüsselrolle spielten dabei, so Jan Plamper, die modernen Medien, die eine Kernfunktion in der Entstehung und Ausprägung von Emotionen 99 einnähmen – und sicher auch bei deren Dissemination. 100 Der Warschauer Aufstand ist ein solches emotional aufgeladenes Thema, das für die polnische Erinnerungskultur nach 1989 auch außerhalb der Stadtgrenzen Warschaus konstitutiv geworden ist. 101 Das hängt auch damit zusammen, dass die zu kommunistischen Zeiten zensierte Erinnerung an den Warschauer Aufstand eng verknüpft war mit der Rolle der Roten Armee und den Nachkriegsbeziehungen der Volksrepublik Polen zur Sowjetunion. Zahlreiche Regisseure haben seit dem Fall des Eisernen Vorhangs Versuche unternommen, das Thema filmisch zu bearbeiten – ohne nennenswerten Erfolg. 102 Obgleich die zentrale Bedeutung des Warschauer Aufstands für die Erinnerungskultur in Polen heute unumstritten scheint, ist die Deutung der Ereignisse aus geschichtswissenschaftlicher Sicht es nicht. Inwie-
´ 97 Kino Swiat. 2014. Pressbook Miasto 44. URL: http://miasto44. pl/ img/ plakaty/ MIASTOpressbook. pdf, Zugriff am 26. Juli 2017, S. 3. 98 Vgl. Jan Plamper. 2013. „Vergangene Gefühle. Emotionen als historische Quellen.“ Aus Politik und Zeitgeschichte: Emotionen und Politik, Nr. 32–33/2013, S. 12–19, hier: S. 14; vgl. auch Ute Frevert. 2009. „Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen?“ Geschichte und Gesellschaft, Nr. 35, S. 183–208 sowie Ute Frevert und Anne Schmidt. 2011. „Geschichte, Emotionen und die Macht der Bilder.“ Geschichte und Gesellschaft, Nr. 37, S. 5–25. 99 Vgl. Plamper, Vergangene Gefühle, S. 18. 100 Vgl. Jan Süselbeck. 2013. „War Sells, But Who’s Buying? Zur Emotionalisierung durch Kriegsdarstellungen in den Medien.“ Aus Politik und Zeitgeschichte: Emotionen und Politik, Nr. 32–33/2013, S. 34–40. 101 Für eine detaillierte Übersicht des Aufstands und seiner Deutung vgl. Włodzimierz Borodziej. 2001. Der Warschauer Aufstand 1944, Frankfurt am Main: Fischer. 102 Vgl. PAP. 2014. „Od ‚Zakazanych piosenek‘ do ‚Miasta 44‘ – czyli Powstanie Warszawskie w kinie.“ Polskie Radio, 27. Februar 2014, URL: https://www. polskieradio. pl/ 5/ 3/ Artykul/ 1187707,Od- Zakazanych- piosenek- do- Miasta- 44- czyli- PowstanieWarszawskie- w- kinie, Zugriff am 27. Februar 2016.
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fern nämlich der Aufstand, der in einer Kapitulation endete, etwa 10.000 Aufständische und zwischen 150.000 und 200.000 Zivilisten das Leben kostete und nach 63 Tagen der Straßenkämpfe die polnische Hauptstadt in Trümmern zurück ließ 103, eine richtige Entscheidung war und positiver Erinnerungsort sein kann, steht noch immer zur Diskussion. Einerseits besteht die Ansicht, dass der Warschauer Aufstand und die unvermeidbare Niederlage ein wichtiger Faktor waren, der die Position der Londoner Exilregierung, die den Aufstand konzertierte, schwächte und folglich Stalin die Einverleibung Polens in seinen Machtbereich erleichterte. Andererseits gilt in Polen der Warschauer Aufstand als einer in einer langen Reihe polnischer Aufstände für die Freiheit, der in der Solidarno´s´c-Bewegung und dem friedlichen Wandel 1989 seine Fortsetzung fand und somit integraler Bestandteil des nationalen Narrativs des heutigen, freien Polens ist. 104 Seine Rolle in der polnischen Erinnerungskultur wächst, auch außerhalb der Grenzen Warschaus: 2009 wurde ein Gesetz erlassen, das den 1. August zum landesweiten Tag der Erinnerung erhebt. 105 Entsprechend kritisch ist der Blick des Publikums auf die authentische, filmische Bearbeitung des Themas. Die Rolle des vermeintlichen Historikers weist der Regisseur und Drehbuchautor von Warschau ’44, Jan Komasa, indessen besonders entschieden von sich. Er sagt über sich selbst, dass er eben kein begeisterter Historiker sei und der Warschauer Aufstand das einzige historische Ereignis, das ihn zu Schulzeiten zu fesseln vermochte. Sein Wissen habe er sich im Internet, im Museum des Warschauer Aufstands und in Gesprächen mit Aufständischen angeeignet. 106 Trotz dieser vehementen Zurückweisung des geschichtswissenschaftlichen Aspekts seiner Arbeit ist die zumindest oberflächliche Verflechtung der Rollen des Filmemachers und des Historikers im Falle Komasas am augenfälligsten. Im Museum des Warschauer Aufstands stand Komasa während der Recherche für seinen Film Warschau ’44 sogar ein eigenes Büro zur Verfü-
103 Vgl. Daria Czarnecka. 2015. „1 August 1944 – outbreak of the Warsaw Uprising.“ ENRS, 21. August 2015, URL: https://enrs. eu/ article/ the- warsaw- uprising- 1- august1944, Zugriff am 9. Mai 2021. 104 Vgl. Klaus Bachmann. 2017. „Politische Debatten in Polen nach 1989.“ In: Jahrbuch Polen 2017: Politik. Herausgegeben vom Deutschen Polen-Institut, Wiesbaden: Harrassowitz, S. 11–28, hier: S. 20; vgl. auch Nijakowski, Die polnische Erinnerungspolitik, S. 37. 105 Vgl. Kancelaria Sejmu. 2009. USTAWA z dnia 9 pa´zdziernika 2009 r.o ustanowieniu Narodowego Dnia Pami˛eci Powstania Warszawskiego. URL: http://prawo. sejm. gov. pl/isap.nsf/download.xsp/WDU20092061588/T/D20091588L.pdf, Zugriff am 10. Dezember 2017. 106 Vgl. Konrad J. Zar˛ebski. 2015. „Jan Komasa.“ Culture.pl, 1. Mai 2015, URL: http:// culture. pl/ pl/ tworca/ jan- komasa, Zugriff am 10. Dezember 2017.
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gung. 107 Der Großteil der geschichtswissenschaftlichen Expertise, die in die Produktion des Films einfloss, stammt von Angestellten des Museums, die als historische Berater fungierten. Zeitgleich arbeitete der Regisseur zudem an einem Dokumentarfilm über den Warschauer Aufstand für das Museum des Warschauer Aufstands, der sich aus nachkolorierten Originalaufnahmen aus dem Jahr 1944 zusammensetzte. 108 Auch wenn diese Bezugspunkte Komasa natürlich noch lange nicht zum Historiker machen, so können sie doch einen Beitrag dazu leisten, dass sein Film Warschau ’44 von den Zuschauern als authentisch und der Regisseur selbst als Experte der Vergangenheit rezipiert wird. Nicht zu wollen, dass der eigene Film als Argument in einer Diskussion über die Deutung und Darstellung von historischen Ereignissen genutzt wird, verhindert natürlich noch lange nicht, dass dies trotzdem geschieht. Paweł Pawlikowskis Film Ida, der 2015 mit dem Oscar ausgezeichnet wurde, war keineswegs als Erinnerungsfilm geplant. 109 Einer Deutung als ebensolcher konnte sich der Film trotzdem nicht entziehen: Zahlreiche Preise, Begleitmaterialen zur Nutzung des Films unter anderem im Geschichtsunterricht in allen EU-Sprachen und nicht zuletzt eine breite Diskussion in Polen über die Darstellung der polnisch-jüdischen Beziehungen im Zweiten Weltkrieg belegen dies. Das Beispiel Ida unterstreicht abermals, dass ein Film erst in seinem größeren sozialen Kontext zum Erinnerungsfilm wird – und das auch, wenn er ursprünglich gar nicht als Erinnerungsfilm angelegt ist. Geschichte, die eigentlich nur den Hintergrund für eine viel universellere Erzählung bilden soll, wird plötzlich zu einem Hauptfaktor des Films. Auch für Michał Rogalski war zu Beginn seiner Arbeit an Unser letzter Sommer 2008 der historische Aspekt seiner Erzählung zweitrangig. Vielmehr lieferte der Zweite Weltkrieg lediglich den Rahmen für die Geschichte ganz normaler Menschen, die er erzählen wollte. Diese Vorsicht scheint ein polnisches Phänomen zu sein, finden sich derlei Tendenzen beispielsweise auch bei Wojciech Smarzowski in Zusammenhang mit seinen Film Ró˙za. 110 Allerdings: Das hindert die Re´ 107 Vgl. Kino Swiat, Pressbook Miasto 44, S. 6. 108 Jan Komasa arbeitete zusammen mit dem Museum des Warschauer Aufstands parallel zu den Arbeiten am Drehbuch von Warschau ’44 an dem Dokumentarfilm Powstanie warszawskie. Vgl. PISF. 2014. „Konferencja Prasowa ‚Miasta 44‘.“ Website des PISF, 3. September 2014, URL: https://www. pisf. pl/ aktualnosci/ konferencja- prasowa- miasta- 44, Zugriff am 10. Dezember 2017. 109 Vgl. Ben Child. 2015. „Ida director Pawel Pawlikowski stands ground against complaints of historical inaccuracy.“ The Guardian, 30. Januar 2015, URL: https://www. theguardian. com/ film/ 2015/ jan/ 30/ pawel- pawlikowski- ida- criticism- film, Zugriff am 22. Oktober 2015. 110 Vgl. Tadeusz Sobolewski. 2012. „Wybitny film ‚Ró˙za‘. Pole minowe historii.“ Gazeta Wyborcza, 2. Februar 2012, URL: http://wyborcza. pl/ 1,76842,11073235,Wybitny_
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gisseure nicht, einen Anspruch darauf zu erheben, mit ihrer Arbeit Tabus zu brechen und bislang so nicht erzählte Aspekte der Vergangenheit auf Film zu bannen. Diesen Anspruch formulieren auch die Macher der umstrittenen Produktion Unsere Mütter, unsere Väter, bei denen man die eben beschriebene Vorsicht im Umgang mit der Geschichte allerdings vergebens sucht. Dieser zuweilen unbedachte Umgang mit der Vergangenheit mindert nicht die verbliebene Skepsis einiger Geschichtswissenschaftler gegenüber der Arbeitsweise von Filmemachern – mehr noch als für den Spielfilm dürfte das für den Dokumentarfilm gelten. „Es geht also keineswegs um die historische Wahrheit, vielmehr um die ästhetische Wahrheit des Fernsehens, das zudem auch noch Richtgrößen wie Markt und Quote verpflichtet ist. Gleichzeitig wird aber ein pompöser Wahrheitsgestus, untermauert durch vorgeblich Authentisches, beibehalten“ – so lautet Wirtz’ pessimistisches Urteil zum Geschichtsfernsehen. 111 Indes sind Filmemacher aufgrund des bereits erwähnten Authentizitätspakts mit dem Publikum sehr auf eine gelungene Illusion von Wahrhaftigkeit der Vergangenheit im Film bedacht, die im Erinnerungsfilm zum wichtigen Pfund geworden ist. Ferro sieht diese Tendenz kritisch: Um diese Authentizität zu gewährleisten, vergewissern sie sich für bestimmte Details der Hilfe von Historikern, die übrigens – etwas verloren – an irgendeiner Stelle des Vorspanns auftauchen. Natürlich gibt es auch Filmemacher, die höhere Ansprüche haben. Sie tun zum Beispiel so, als seien sie Historiker, gehen selber in die Archive, geben dem Dialog seine alte Ausdruckskraft und verwenden, falls notwendig, einen schlesischen oder normannischen Dialekt. 112
Die Mechanismen, die Ferro 1991 beschrieb, sind heutzutage längst zur Normalität geworden. Wie bereits angedeutet, bedienen sich junge Filmemacher heute immer wieder historischer Arbeitsweisen und versuchen, so wirklichkeitsnah wie möglich die nahezu perfekte Illusion historischer Authentizität im Film zu schaffen. Dass die Schauspieler wie im Film Pokłosie des Regisseurs Władysław Pasikowski angehalten sind, sich einen ostpolnischen Dialekt anzueignen, ist dabei sicher ein Extremfall. Allerdings ist es schwerer vorstellbar, dass heute noch ein Erinnerungsfilm produziert wird, in dem deutsche SS-Männer ihre Befehle nicht auf Deutsch brüllen oder polnische Untergrundsoldaten ihre Pläne nicht auf Polnisch
film__Roza___Pole_minowe_historii.html, Zugriff am 17. Juni 2017; Dominika Kawczy´nska. 2016. „Festiwal Filmowy 2016 w Gdyni. ‚Woły´n‘ to najtrudniejszy film w karierze Smarzowskiego.“ Gazeta Wyborcza, 23. September 2016, URL: http://wyborcza. pl/ 7,75410,20735607,festiwal- filmowy- w- gdyni- 2016- wolyn- to- najtrudniejszy- film. html, Zugriff am 17. Juni 2017. 111 Wirtz, Alles authentisch, S. 31. 112 Ferro, Gibt es eine filmische Sicht der Geschichte? S. 17 – meine Hervorhebung.
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schmieden. 113 Inwiefern deutsche Schauspieler engagiert werden können, um ebenjene Einsatztruppen zu verkörpern oder zur Porträtierung der polnischen Partisanen nach polnischsprachigen Schauspielern gesucht wird, um die gefühlte Authentizität zu maximieren, ist sicher auch eine Frage des Budgets sowie des persönlichen Authentizitätsanspruchs der Filmemacher. 114 Authentizität im Film bedeutet oftmals zuerst, den Look der Vergangenheit möglichst detailgetreu und wahrheitsgemäß wiederzugeben. Dabei spielen zunächst Requisiten, Kostüme und Drehorte eine wichtige Rolle, ferner der Habitus der Charaktere, die manchmal durch Einheimische als Nebendarsteller ergänzt werden. 115 Egal, wie genau Filmemacher hier arbeiten, all diese Mittel „erhöhen die Glaubwürdigkeit und genuine Historizität des Films nur insoweit, als sie mit den Werten und Gewohnheiten einer Zeit verknüpft sind und mit einem kritischen Urteil über ihren Wahrheitsstatus verwendet werden“ 116. Aber anders als Carnes 117 für die Filmmaschinerie in Hollywood feststellt, kann man von den hier untersuchten Filmen nicht behaupten, dass ihre Macher bei der visuellen Replikation der Vergangenheit und einer Evokation der Illusion von Authentizität aufhören. Sie arbeiten – allerdings in unterschiedlicher Ausprägung – nicht nur auf der visuellen Ebene, sondern auch auf der inhaltlichen. Martin Zimmermann spricht in diesem Kontext von einem „Pakt zwischen Filmemachern und Publikum darüber, wie die Illusion von historischer Authentizität zu erzeugen ist und auszusehen hat“ 118. Der gesellschaftliche Konsens darüber, welches Bild der Vergangenheit als authentisch wahrgenommen wird, ist letztlich eine Momentaufnahme. Was heute als authentisch gilt, muss es in einigen Jahren längst nicht mehr. Dennoch lassen sich einige gebräuchliche Authentizitätsstrategien identifizieren, die zu verschiedenen Zeitpunkten sowohl in deutschen als auch in polnischen Erinnerungsfilmen Anwendung finden und hier wie dort funktionieren.
113 Dies scheint kein globaler Trend zu sein. Im Falle der amerikanischen Produktion ˙ nski, das den Warschauer Zoo leitete Die Frau des Zoodirektors über das Ehepaar Zabi´ und dort während des Zweiten Weltkriegs Juden versteckte, interpretierten die englischsprechenden Schauspieler die polnischen Filmfiguren mittels eines polnischen Akzents. Diese Herangehensweise wurde von Zuschauern und Kritikern teils heftig kritisiert. 114 Dieser Aspekt wird in späteren Unterkapitel noch einmal aufgegriffen. 115 Vgl. Natalie Zemon Davis. 1991. „‚Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen . . . ‘: Der Film und die Herausforderung der Authentizität.“ In: Bilder schreiben Geschichte: Der Historiker im Kino. Herausgegeben von Rainer Rother, Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, S. 37–63, hier: S. 41. 116 Zemon Davis, Herausforderung der Authentizität, S. 45. 117 Vgl. Carnes, Shooting (Down) the Past. 118 Zimmermann, Der Historiker am Set, S. 158.
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Das legt die Vermutung nahe, dass sie Produkt und Motor einer Transnationalisierung der Vergangenheitsbilder im deutschen und polnischen Erinnerungsfilm zugleich sind: (1) die Drehorte und Requisiten sind authentisch, d. h. die Aufnahmen wurden an realen Orten der Geschichte gemacht; (2) der soziale Habitus der Charaktere ist authentisch, d. h. die Figuren im Film verhalten sich so, wie die Zuschauer es von ihnen in ihrer Rolle zum Beispiel als SS-Kommandant erwarten. Das beginnt bei der Sprache und zieht sich bis in kleinste Gesten und Verhaltensweisen fort; (3) Einbindung von Historikern am Set; (4) Verarbeitung von Erzählungen authentischer Ereignisse, die entweder aus der Familiengeschichte der Filmemacher entstammen oder in literarischen, autobiografischen Zeugnissen dokumentiert sind. Die Verfilmung erhält so den Status eines Zeitzeugnisses; (5) realistische Inszenierung 119 durch Kameraeinstellungen und Schnitt; (6) Verknüpfung der filmischen Fiktion mit der realen Welt durch Voice-Over, Textinserts im Vorspann, Szenenbild, Kostüme und das Nachstellen bekannter, historischer Szenen, die bereits Teil des kollektiven Gedächtnisses sind. 120 Die Strategien als Garanten für eine möglichst gelungene Illusion der Authentizität finden in unterschiedlicher Ausprägung Anwendung in allen hier untersuchten Filmbeispielen. Während die ersten vier Authentizitätsstrategien vor allem Aspekte der Produktionskontexte umfassen, die im weiteren Verlauf dieses Kapitels noch detaillierter beleuchtet werden, spielen die letzten beiden vornehmlich im Kontext der Narration eine Rolle. Es scheint, als habe der Authentizitätspakt zwischen Filmemachern und Publikum nicht mehr nur für eine nationale Erinnerungsfilm-Publikumsgemeinschaft Gültigkeit. Angesichts der internationalen Vermarktung vieler Spielfilme ist es aber auch nur folgerichtig, dass ein Authentizitätspakt transnational geschlossen wird. Das gilt partiell für nationale Produktionen wie Warschau ’44 oder Unsere Mütter, unsere Väter, der wegen der in Polen als überhaupt nicht authentisch empfundenen Darstellung der polnischen Heimatarmee spektakulär scheiterte, aber natürlich in verstärktem Maß für multinationale Koproduktionen wie die polnisch-deutsche
119 In diesem Punkt widerspricht beispielsweise Komasas Film Warschau ’44, der mit modernen Ego-Shooter-Perspektiven, Slow-Motion-Techniken und als solchen erkennbaren Computeranimationen arbeitet, den Kriterien. 120 Für die polnische Seite vgl. Korzeniewska, Liminalität und Post-Erinnerung, S. 189– 190. Für die deutsche Seite vgl. Wirtz, Das Authentische und das Historische, S. 192. Diese Authentizitätsstrategien im Erinnerungsfilm stellen gewissermaßen eine konkrete Ausgestaltung der vier Bedeutungsebenen ästhetischer Authentizität nach Martínez – Autorschaft, Referenz, Gestaltung und Funktion – sowie der Typen- und Repräsentationsauthentizität, wie sie Hans-Jürgen Pandel definiert hat, dar. Vgl. Martínez, Zur Einführung und Pandel, Authentizität.
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Produktion Unser letzter Sommer, bei der alle Ebenen der Produktion bereits Aushandlungsräume für Vergangenheitsbilder und Vorstellungen bieten, die nicht einfach übergangen und ignoriert werden können. Trotz dem Authentizitätspakt: Filmemacher können mit Geschichte und ihren Fakten selektiv umgehen – und müssen es vielleicht sogar, um die gewünschte filmische Erzählung stützen zu können. 121 Tatsächlich kann eine allzu nah an der Wirklichkeit orientierte Geschichte im Film in Kombination mit gewagteren fiktionalen Elementen für Filmemacher zu einer gefährlichen Mischung werden. Natalie Zemon Davis beschreibt am Beispiel der Metro-Goldwyn-Mayer, die 1934 für Der Dämon Rußlands – Rasputin wegen Verleumdung verklagt wurde, diese Gratwanderung zwischen dem Wunsch und Streben nach größtmöglicher Authentizität in Filmen einerseits und andererseits der Absicherung durch die noch heute verwendete Formel: „Jede Ähnlichkeit zu lebenden oder toten Personen ist rein zufällig, die Ereignisse sind frei erfunden.“ 122 Möglicherweise ist auch diese Gratwanderung der Grund dafür, dass Regisseure wie Rogalski, Pawlikowski und auch Smarzowski immer wieder betonen, keine Historiker zu sein, spricht sie doch diese Selbstverortung außerhalb des historischen Faches frei von einer allzu genauen Begutachtung der historischen Glaubwürdigkeit ihrer Werke. Aber ob das wirklich funktioniert? Vor einer Klage hat der rein fiktionale Charakter von Unsere Mütter, unsere Väter freilich seine Produzenten nicht bewahrt, die in Polen wegen der Verleumdung der Soldaten der polnischen Heimatarmee vor Gericht stehen. Auch hier beriefen sich die Mythenmacher auf ihre künstlerische Freiheit – bislang ohne Erfolg. In erster Instanz wurde im Sinne des Klägers entschieden. 123 Wenn man von einer Authentizität im Erinnerungsfilm spricht, sollte man sich darüber im Klaren sein, dass es sich nicht um Authentizität im Sinne einer Faktizität handelt: „Es geht mithin nicht um das historisch Authentische im Sinne wissenschaftlicher Rekonstruktion, sondern um die Erzeugung einer möglichst gelungenen Illusion von Authentizität.“ 124 Hier offenbart sich nach Willem Hesling denn auch die eigentliche Kluft im Selbstverständnis des Historikers im Vergleich zum historisch arbeitenden Filmemacher: Historians, especially the more orthodox ones, often fail to understand that historical films, while rarely meeting the standards of academic historio-
121 Vgl. Ferro, Gibt es eine filmische Sicht der Geschichte?, S. 20. 122 Zemon Davis, Herausforderung der Authentizität, S. 37. 123 Eine ausführlichere Darstellung findet sich im Abschnitt zu Rezeptionskontexten, Kap. 4.2.3. 124 Zimmermann, Der Historiker am Set, S. 141.
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graphy, practically always try to convey a more poetic-symbolic historical truth. 125
Die Filme dürfe man nicht danach beurteilen, wie detailgetreu und nahe an den Fakten sie Geschichte vermitteln, sondern man müsse sie eher als Dokumente eines zeitgenössischen Geschichtsverständnisses betrachten und die Gründe erörtern, warum und wie sie die Geschichte behandeln. 126 „[Eine Erzählung] verdeutlicht [. . . ], welche Fragen eine jeweilige Gegenwart an die Vergangenheit richtet, welche methodischen Präferenzen es gibt, wie sich die zeitliche Distanz zum vergangenen Ereignis auswirkt“. 127 Den Diskurs um Authentizität im Erinnerungsfilm muss man auch in genau diesem Kontext sehen. „Denn wir leben in einer Gesellschaft des Authentizitätskults“, wie Julian Dörr in der Süddeutschen Zeitung befindet, wo er das Streben nach Authentizität als Ausdruck des Zeitgeists beschreibt und eine Verknüpfung mit dem Kapitalismus herstellt: Authentizität, das ist ein Gütesiegel für Produkte, die man uns verkaufen will. Authentizität, das ist heute eine Währung. Mit ihr lässt sich im kapitalistischen Warenmarkt der Wert einer Sache bestimmen. Je authentischer, desto besser. 128
Am Beispiel zeitgenössischen Konsumverhaltens legt der Autor dar, wie der Schein der Authentizität eines Produkts an unsere Wünsche und Sehnsüchte nach Echtheit und Ursprünglichkeit appelliert. Authentische Biomilch ist besser als einfach nur H-Milch, ein Gangsta-Rapper mit Street Credibility besser als ein Rapper aus dem Mittelstand. 129 Ein Erinnerungsfilm, der auf einer wahren Geschichte basiert, besser als ein rein fiktionales Produkt. Authentizität ist eines der Schlagwörter, das den Diskurs um Erinnerungsfilme moderneren Datums bestimmt – sei es in den Äußerungen der Mythenmacher oder in den Rezensionen der Journalisten. Pandel macht „[d]ie Forderung nach Authentizität“ an „unserem Geschichtsbewusstsein“ fest, das „ständig Authentizitätsansprüche [stellt]; es will wissen ob etwas tatsächlich der Fall gewesen ist oder nicht“. 130 Letztendlich
125 Hesling, The past as story, S. 190. 126 Vgl. ebd. 127 Beate Schlanstein. 2008. „Echt wahr! Annäherungen an das Authentische.“ In: Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen. Herausgegeben von Thomas Fischer und Rainer Wirtz, Konstanz: UVK, S. 205–225, hier: S. 221. 128 Julian Dörr. 2017. „Authentizität, die Soft Power des Kapitalismus“, Süddeutsche Zeitung, 17. August 2017, URL: http://www. sueddeutsche. de/ kultur/ 2. 220/ authentizitaet-authentizitaet-die-soft-power-des-kapitalismus-1.3614770, Zugriff am 17. August 2017. 129 Vgl. ebd. 130 Pandel, Authentizität, S. 30.
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ist auch der Erinnerungsfilm ein Produkt, das sich gesellschaftlichen Konjunkturen anpassen muss. Erzählt wird also im szenischen Erinnerungsfilm von möglichen historischen Welten. Der Anspruch der Filmemacher ist aber nicht nur im Sinne des Authentizitätspaktes klar, dass diese möglichen historischen Welten die tatsächliche historische Welt möglichst detailgetreu widerspiegeln sollten. 131 Um diese Aufgabe möglichst gut zu meistern, wird spätestens zum Zeitpunkt der Realisierung des Films die Unterstützung eines oder mehrerer Historiker am Set gesucht. „Ein beratender Historiker ist bei einem Spielfilmprojekt immer Komplize dieser Geschichtsklitterung“, schreibt Martin Zimmermann angesichts seiner Erfahrung als geschichtswissenschaftlicher Berater am Set von Der geheimnisvolle Schatz von Troja. 132 Zimmermann beschreibt den tatsächlichen Einfluss der historischen Berater im Produktionsprozess historischer Spielfilme aus seiner Erfahrung als ernüchternd gering, mehr Legitimationsstrategie denn wirklichem Wunsch nach historischer Genauigkeit geschuldet. 133 „Die Fiktionalität des Erzählkinos verträgt nur in Maßen historische Korrekturen.“ 134 Die oft spezifischen Erwartungen der Zuschauerinnen und Zuschauer an die Vergangenheitsbilder im Film sind vorranging: „[Ü]ber die Glaubwürdigkeit eines Films entscheidet das Publikum, nicht der Experte.“ 135 Der Einfluss des Historikers am Set ist also stark begrenzt, aber man darf ebenfalls nicht vergessen, dass auch die in einem nationalen System sozialisierten geschichtswissenschaftlichen Beraterinnen und Berater letztendlich keine transnational gültige, völlig objektive Geschichtsdeutung vertreten müssen. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist die Miniserie Unsere Mütter, unsere Väter, die in Deutschland sowohl den „Experten-TÜV“ 136 als auch das Publikum überzeugte, in Polen allerdings sowohl bei den Zuschauerinnen und Zuschauern als auch bei Historikern durchfiel. Als historische Berater wirkten die Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller, Matthias Rogge und Jens Wehner. Ferner waren auch Sönke Neitzel von der London School of Economics und Julius Schoeps vom Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien für Unsere Mütter, unsere Väter als Berater tätig. Schoeps wurde auch im Prozess gegen die Produzenten der Miniserie in Krakau befragt. Auch Jan Komasa ließ sich von Experten und Fachwissenschaftlern unterstützen, unter anderem von Marek Grudzie´n und
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Fischer & Schuhbauer, Geschichte in Film und Fernsehen, S. 32. Zimmermann, Der Historiker am Set, S. 159. Ebd., S. 141. Vgl. auch Rosenstone, History on Film, S. 37–38. Zimmermann, Der Historiker am Set, S. 142. Wirtz, Das Authentische und das Historische, S. 195. Wirtz, Alles authentisch, S. 28.
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dem Zeitzeugen Edmund Baranowski, aber vor allem von Mitarbeitern des Museums des Warschauer Aufstands wie Grzegorz Hanula, Grzegorz Jasi´nski, Aleksandra Trzeciecka, Katarzyna Utracka, Michał Wójciuk und ´ Piotr C. Sliwowski, der bereits an zahlreichen historischen Filmproduktionen beteiligt war. Als historische Berater für Unser letzter Sommer fungierten Rafał Wnuk, Professor an der Universität Lublin und die freischaffende Historikerin und Medienberaterin Ulrike Schwab. Ihre Erfahrungen waren geteilter Natur. Während Wnuk positiv von der Zusammenarbeit berichtet 137 und sich in seiner Beratertätigkeit durchaus ernst genommen fühlte, trennten sich Schwab und das Produktionsteam noch vor Beginn der Dreharbeiten voneinander. Nicht alle Entscheidungen der Produktionsfirma, beispielsweise die Änderung des deutschen Titels von Sommersonnenwende zu Unser letzter Sommer kann Schwab nachvollziehen, den Film hat sie sich nicht angesehen. 138 Neben diesen beiden wurden aber während des Produktionsprozesses auch weitere Fachleute zur Plausibilität der im Drehbuch dargestellten Geschichte befragt. Diese Berater haben es, anders als Ferro monierte, nicht einmal in den Vor- bzw. Abspann des Films geschafft. So erinnerte sich auch Andrzej Kaluza 139 vom Deutschen PolenInstitut in Darmstadt an das Drehbuch und die teils offensichtlichen Fehler: Weder eine Präsenz der russischen Partisanen noch eine Verknüpfung der Geschichte mit Auschwitz wäre bei der gewünschten Verortung der Erzählung in einem ostpolnischen Dorf im Sommer 1943 durch realgeschichtliche Erkenntnisse fundierbar gewesen. Aber nicht nur der fachliche Rat von Geschichtswissenschaftlern kann herangezogen werden, um einem Erinnerungsfilm seine historische Authentizität zu bestätigen. Noch ist die Erlebnisgeneration verfügbar, um selbst über die Verfilmung ihrer Jugenderlebnisse zu urteilen. So ließ sich Jan Komasa, Regisseur und Drehbuchautor von Warschau ’44 seine Verfilmung des Warschauer Aufstands durch Testimonials von ehemaligen Aufständischen sanktionieren, die bestätigen, dass es so gewesen sei („So war es, so waren wir“) und dass der Film, wenn er auch nicht die ganze, dann doch viel Wahrheit zeige. 140 Es sei außerdem, so das Urteil der noch lebenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, in Ordnung, dass eine neue
137 Persönliche Korrespondenz mit Rafał Wnuk, E-Mail vom 3. April 2017. 138 Persönliche Korrespondenz mit Ulrike Schwab, Telefonat am 22. August 2017. 139 Persönliches Gespräch mit Andrzej Kaluza am Rande der Sommerakademie des Deutschen Polen-Instituts, 9. September 2017. ´ 140 Vgl. Kino Swiat. 2014. „MIASTO 44 – Powsta´ncy warszawscy pod wra˙zeniem filmu Jana Komasy.“ Auf YouTube veröffentlicht am 29. Juli 2014, URL: https://www. youtube. com/ watch? v= fBAEoOFM1nw, Zugriff am 10. Dezember 2017.
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Generation, die sich nun (filmisch) mit dem Thema auseinandersetze, neue Elemente in die Erinnerung hineinbringe. Der Film habe auch das Potenzial, Menschen im Ausland anzusprechen. 141 Etwa 30 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die aus verschiedenen Perspektiven – ob nun als Aufständische oder als Zivilisten – den Warschauer Aufstand miterlebt hatten, dienten Komasa und seinem Team als Berater am Set von Warschau ’44. 142 Auch Hofmann spielte Unsere Mütter, unsere Väter Angehörigen der Erlebnisgeneration vor, Kolditz suchte den Kontakt zu Zeitzeugen im Entstehungsprozess des Drehbuchs. Ob nun die Zustimmung oder Absage an ein bestimmtes Geschichtsbild aus dem Munde eines Historikers oder eines Zeitzeugen mehr Gewicht hätte, lässt sich nur mutmaßen und ist sicherlich stark kontextabhängig. Der Logik des Erinnerungsfilms nach würde wohl die Version der Wahrheit gewinnen, die näher an den Erwartungen der Zuschauerinnen und Zuschauer ist – egal, ob sie tatsächlich authentisch ist. Die Filmemacher sind, wie Rainer Wirtz feststellt, in ihren Arbeiten also „um historical correctness bemüht, in dem die Fakten und die Kostümierung von einem Experten-TÜV abgenommen wird und Zeitzeugen das Fiktionale beglaubigen helfen.“ 143 Diese historical correctness, die Wirtz anspricht, ist den jungen Filmemachern aber auch moralischer Imperativ. Zu seiner Motivation führte Rogalski bereits 2008 an, dass er mit seinem Filmprojekt Sommersonnenwende gängige Hetero- und Autostereotypen, die in Polen und Deutschland das Geschichtsbild prägen, infrage stellen will: Jemand hat mir gesagt, dass dieses Drehbuch ganz schön unverfroren sei, aber ich möchte, dass der Film genau so ist. Unverfroren im Zerschlagen von Stereotypen, in denen man die Deutschen mit so jemandem wie Brunner [gemeint ist die Figur des deutschen SS-Sturmbannführers Hermann Brunner aus der Serie Stawka wi˛eksza ni˙z z˙ycie, Anm. JRG] assoziiert, und eine Polin niemals mit einem Deutschen geschlafen hätte usw. Darüber spricht man selten, aber sehr oft lief das Leben in Polen während des Kriegs ganz normal ab. Die Menschen hatten ihre kleinen, ihre großen Probleme, genauso wie auch Freuden. Nicht überall wurde gekämpft, nicht jeder war Partisan oder Held. Auch über diesen Teil unserer Geschichte soll dieser Film erzählen. 144 141 Vgl. ebd. In den Kommentaren darunter ist auch zu lesen, dass der Film keineswegs zur deutsch-polnischen Völkerverständigung beiträgt, sondern vielmehr die Gemüter erhitzt. ´ 142 Vgl. Kino Swiat, Pressbook Miasto 44, S. 6. 143 Wirtz, Alles authentisch, S. 28. 144 Artur Cichmi´nski. 2008. „Debiutujacy ˛ re˙zyser i scenarzysta postrzegany jest jak hochsztapler.“ Stopklatka, 25. März 2008, URL: http://archiwum. stopklatka. pl/ news/ debiutujacy- rezyser- i- scenarzysta- postrzegany- jest- jak- hochsztapler, Zugriff am 27. März 2017.
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Historiker wollen die Filmemacher demnach zwar nicht sein, wohl aber werden sie zu Experten des Vergangenen mit Vorbildfunktion für ein Publikum, dessen Authentizitätserwartungen über Erfolg oder Scheitern eines Erinnerungsfilms entscheiden. Für die Filmemacher wiederum hat nicht zuletzt die auch im Hinblick auf Authentizitätsaspekte günstige Verknüpfung ihrer Arbeit mit der eigenen Familiengeschichte einen entscheidenden Anteil an dem Streben nach einer historical correctness im Erinnerungsfilm. Diese ganz persönliche Verbindung soll im folgenden Kapitel, das die Filmemacher als Teil der Generation Postmemory in den Fokus nimmt, näher diskutiert werden.
2.2.2 Filmemacher als Teil der Generation Postmemory Was ist es genau, was junge Regisseure und Drehbuchautoren in Berlin und Warschau dazu bewegt, sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts dem bereits viele Male bearbeiteten Thema des Zweiten Weltkriegs zu widmen? Filmemacher sind heutzutage, über 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in der Regel Teil einer Generation der Postmemory. Sie haben anders als noch ihre Berufsgenossen vor einigen Jahrzehnten keine eigenen Erinnerungen an den Krieg und die Besatzungszeit mehr. Viele von ihnen sind Enkel der Erlebnisgeneration. Da mag es zunächst paradox erscheinen, dass für viele von ihnen die Aufarbeitung ebenjener Epoche im Film trotzdem einen sehr persönlichen Bezug hat. Aber genau so scheint es zu sein. Laut Wirtz fungiert die „Erzählung als Brücke zwischen Gegenwart und Vergangenheit“. 145 Das kann auch aus psychologischer Sicht für die Filmemacher einer dritten Generation gelten, die so eine identitätsstiftende Wirkung mit ihren filmischen Erzählungen erzielen – für sich selbst und andere Angehörige ihrer und nachfolgender Generationen. Die heutigen Regisseure „leiden“ sozusagen unter einer sekundären Traumatisierung, d. h. das Trauma ihrer Großeltern oder Eltern hat sich auf sie übertragen. Sie haben es gewissermaßen ererbt. 146 Um es mit Marianne Hirsch zu sagen, geht es also um die nicht ganz unumstrittene Annahme: [T]hat descendants of victim survivors as well as of perpetrators and of bystanders who witnessed massive traumatic events connect so deeply to the previous generation’s remembrances of the past that they identify that connec-
145 Wirtz, Das Authentische und das Historische, S. 202. Vgl. auch Rüsen, Historisches Lernen, S. 30. 146 Vgl. Korzeniewska, Liminalität und Post-Erinnerung, S. 166.
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tion as a form of memory, and that, in certain extreme circumstances, memory can be transferred to those who were not actually there to live an event. 147
Für dieses Phänomen hat Hirsch den Begriff der Postmemory geprägt: „Postmemory“ describes the relationship that the „generation after“ bears to the personal, collective, and cultural trauma of those who came before – to experience they „remember“ only by means of the stories, images, and behaviors among which they grew up. But these experiences were transmitted to them so deeply and affectively as to seem to constitute memories in their own right. 148
Zwar bezieht sich Hirsch in ihrer Definition einer Generation der Postmemory auf die zweite Generation und arbeitet stark autobiografisch, zurückgreifend auf ihre eigenen Kindheitserfahrungen in Rumänien als Tochter von Holocaustüberlebenden. Dennoch scheint es, als sei dieses Konzept auf folgende Generationen übertragbar, zumindest aber noch auf die dritte Generation, die von ihren Großeltern ebenjene Geschichte, Bilder und Handlungsweisen ebenso vermittelt bekam – manchmal vielleicht noch offener, als es bei den Söhnen und Töchtern der zweiten Generation der Fall war. Diese Auffassung teilt auch Philippe Codde, der die literarische Umsetzung des Umgangs mit der Vergangenheit an zwei amerikanischen Autoren der dritten Generation untersucht hat: Marianne Hirsch’s concept of „postmemory“ provides a useful tool to describe the situation of the generations that come after – those to whom „trauma“ can no longer be applied unproblematically. [. . . ] Hirsch describes an obsession with a past never experienced that nonetheless haunts a person’s existence. 149
Diese Obsession lässt sich auch bei den Mythenmachern der dritten Generation wie Rogalski, Komasa und Kadelbach beobachten. Sie alle lässt eine Vergangenheit scheinbar nicht los, die nicht die ihre ist, sondern die ihrer Großeltern. In ihrer Arbeit können sie mit der Geschichte freier umgehen, als es den Generationen zuvor möglich war: The third generation is much less restrained than its predecessors. They search for memory even while giving free rein to artistic imagination that informs a variety of innovative narrative techniques. Collectively, the third generation reveals the truth that memory and trauma, even in the face of silence, form an
147 Marianne Hirsch. 2012. The Generation of Postmemory. Writing and Visual Culture After the Holocaust. New York: Columbia University Press, S. 3 – Hervorhebung im Original. 148 Ebd., S. 5 – Hervorhebung im Original. 149 Philippe Codde. 2011. „Keeping History at Bay: Absent Presences in Three Recent Jewish American Novels.“ MFS Modern Fiction Studies 57, Nr. 4, S. 673–693, hier: S. 675–676.
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ineluctable part of the human experience, and that the attempt to transform the legacy of Holocaust trauma into history will, no matter the format, continue in the future. 150
Sowohl Codde als auch Alan L. Berger beziehen sich in ihrer Forschung auf jüdische Erfahrungen. Die zugrundeliegenden Prozesse jedoch lassen sich ebenso auf die Besatzungszeit Polens und den Zweiten Weltkrieg im Allgemeinen übertragen. Wie Berger für die von ihm untersuchten Literaten feststellt und im weiteren Verlauf des Kapitels noch zu sehen sein wird, finden auch die deutschen und polnischen Filmemacher der dritten Generation durch die filmische Bearbeitung der Vergangenheit eine neue Herangehensweise zum Thema Zweiter Weltkrieg. Die Erkenntnisse, die im Zuge der Erforschung literarischer Texte und ihrer Macher entstanden, lassen sich auch auf filmische Texte und ihre Produzenten übertragen. Nicht nur für den Einzelnen, sondern auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene können Filme und Kunst im weiteren Sinne in der Verarbeitung von Kriegstraumata Wirkung entfalten. 151 Um sich also den Filmemachern der dritten Generation und ihrer Herangehensweise an den Zweiten Weltkrieg anzunähern, lohnt ein Blick auf die Erforschung der Erinnerung an die Shoah und im Speziellen auf die Forschung zum Umgang der Angehörigen der überlebenden jüdischen Opfer mit der traumatischen Vergangenheit. Obgleich die jüdische Perspektive notwendigerweise bei den ausgewählten Filmbeispielen mitschwingt, deren Fokus auf dem Zweiten Weltkrieg liegt, der mit dem Holocaust eng verknüpft ist, steht in dieser Arbeit die Erfahrung der Polen und Deutschen im Fokus. Das Konzept der Generation Postmemory lässt sich auch auf sie übertragen, auch wenn die Gruppe derer, auf die es angewendet wird, sehr heterogen und vielfältig ist. Einen wesentlichen Unterschied zwischen den jüdischen und den deutschen sowie polnischen Erfahrungen der Generation Postmemory aber gibt es: Im Gegensatz zu vielen Nachfahren der Überlebenden der Shoah haben die Mythenmacher der dritten Generation ihre Großeltern in der Regel persönlich erlebt und kennen sie und ihre Geschichten nicht nur mittelbar aus den Erzählungen ihrer Eltern. 152 Unter den Filmemachern, deren Werke für diese Dissertationsschrift zur Analyse herangezogen werden, sind sowohl Enkel der überlebenden Opfer als auch Enkel der Täter. Sie
150 Alan L. Berger. 2010. „Unclaimed Experience: Trauma and Identity in Third Generation Writing about the Holocaust.“ Shofar: An Interdisciplinary Journal of Jewish Studies, Vol. 28, Nr. 3 (2010), S. 149–158, hier: S. 158. 151 Vgl. Korzeniewska, Liminalität und Post-Erinnerung, S. 163. 152 Vgl. Berger, Unclaimed Experience, S. 150.
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alle partizipieren an einem Trauma namens Zweiter Weltkrieg, das in unterschiedlicher Weise die Lebensrealitäten ihrer Großelterngeneration geprägt hat. Warum ist es aber nun besonders interessant, Filmemacher dieser dritten Generation in den Fokus der Analyse zu rücken? Schließlich gibt es auch zahlreiche starke Regisseurinnen und Regisseure älterer Jahrgänge, die in ihren Filmen auf prägende und innovative Art und Weise die deutsch-polnische Vergangenheit im Zweiten Weltkrieg bearbeitet haben. Es lohnt, die Meilensteine an dieser Stelle nochmals in Erinnerung zu rufen. 153 Nachdem die Holocaustüberlebende Wanda Jakubowska mit Die letzte Etappe bereits 1948 die erste, sehr persönliche Arbeit zum Holocaust produziert hatte, waren in den vergangenen Jahrzehnten auf polnischer Seite vor allem der jüngst verstorbene Doyen des polnischen Films Andrzej Wajda und die Filmemacherin Agnieszka Holland prägend. Wajda hatte bereits mit Der Kanal 1957 einen Film über den Warschauer Aufstand veröffentlicht und mit Das Massaker von Katyn 2007 ein halbes Jahrhundert später einen weiteren Maßstab in der filmischen Bearbeitung kollektiver Erinnerungsorte in Polen gesetzt. 154 Agnieszka Holland wiederum, die unter anderem an Korczak (1990) mit Wajda zusammenarbeitete, hatte mit Bittere Ernte (1985) und später Hitlerjunge Salomon (Europa, Europa) im Jahr 1990 eine sehr europäische Filmografie zum Zweiten Weltkrieg vorgelegt. 155 Mit der Geschichte In Darkness (2011) über den polnischen Kanalarbeiter Leopold Socha, der Juden in der Kanalisation von Lemberg das Leben rettete, nachdem er in ihnen zunächst eine Einkommensquelle gesehen hatte, setzte sich die Regisseurin auch mit den Grauzonen der jüdisch-polnischen Beziehungen während des Zweiten Weltkriegs auseinander. Holland ist durch die enge deutsch-polnische Zusammenarbeit in ihren Filmen außerdem eine Vorreiterin der deutsch-polnischen Koproduktion bei Filmen zum Zweiten Weltkrieg. Beide bedeutsamen Filmema-
153 Ein erster Überblick über die filmische Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland und Polen findet sich auch in der Einleitung, Kapitel 1.2.2. 154 Ausschnitte aus dem Film Das Massaker von Katyn werden unter anderem als Teil der Dauerausstellung des Danziger Museums des Zweiten Weltkriegs gezeigt. In dem Informationsfilm, der neben Interviewteilen mit Wajda auch Episoden aus dem Film beinhaltet, werden die Spielfilmszenen ohne Kennzeichnung wie dokumentarisches Filmmaterial verwendet und erhalten so eine Aufwertung bis hin zur vollkommenen Anerkennung ihrer vermeintlichen Authentizität. In jedem Fall aber dürften diese Filmbilder beim filmhistorisch weniger sattelfesten Publikum, denn nicht jeder Besucher wird die Spielfilmszenen als solche erkennen, einen Eingang in die kollektive Erinnerung an das Massaker von Katy´n erlangen. 155 Insbesondere Hollands Arbeit in Hitlerjunge Salomon hat die Warschauer Sozialwissenschaftlerin Małgorzata Pakier eingehend untersucht. Pakier, European Holocaust Memory.
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cher – Wajda wie auch Holland – bearbeiten in ihren Filmen Vergangenheit, zu der sie eine sehr persönliche Beziehung haben: Wajdas Vater starb in Katy´n, Holland ist jüdischer Herkunft. Auch in Deutschland wurde das Thema des Zweiten Weltkriegs und des Massenmords an Millionen von Jüdinnen und Juden umfassend filmisch verarbeitet. 156 Oftmals wird als Umbruchspunkt die Ausstrahlung der amerikanischen Serie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiß von Marvin J. Chomsky Anfang 1979 genannt. 2019 wurde sie 40 Jahre nach ihrer Erstausstrahlung erneut im deutschen Fernsehen gezeigt. 157 Rainer Gries macht die Serie Holocaust als Ursprung der Verflechtung zwischen Fakt und Fiktion aus: „Diese Serie fiktionalisierte das Prinzip der Zeitzeugenschaft.“ 158 Eng damit verbunden sind laut Gries die „beiden Paradigmen der Authentizität und der Emotionalität“. 159 Anton Kaes vertritt die Ansicht, dass Holocaust ein jahrzehntelanges Schweigen brach. 160 Das mag im Hinblick auf das Ausmaß der gesellschaftlichen Diskussion nach der Ausstrahlung in Deutschland auch zutreffen, aber nicht unbedingt hinsichtlich der filmischen Beschäftigung mit dem Thema. 161 Bösch beispielsweise ist überzeugt, dass erst die der Ausstrahlung von Holocaust vorangegangene „Hitler-Welle“, d. h. eine Vielzahl von Spielfilmen über Hitler und andere NS-Täter (zum Beispiel Hitler – Eine Karriere oder Aus einem deutschen Leben über den Lagerkommandanten Rudolf Höß, beide aus dem Jahr 1977) die herausragende Rezeption der amerikanischen Serie ermöglichte. 162 Dass nämlich auch schon in den vorangegangenen Jahrzehnten deutsche Verbrechen eine wichtige Rolle im bundesdeutschen wie im DDR-Spielfilm spielten, belegen Filme wie Die Mörder sind unter uns von Wolfgang Staudte (1946) oder In jenen Tagen von Helmut Käutner (1947). In Westdeutschland wurde es um das Thema nach der Ausstrah-
156 Eine umfassende Übersicht über die Filme, die seit Kriegsende in Ost- und Westdeutschland zu dem Thema entstanden sind, legte 2012 Sonja M. Schultz vor. Schultz, Der Nationalsozialismus im Film. 157 Vgl. WDR. 2018. „WDR, NDR und SWR zeigen ‚Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss‘.“ WDR Presselounge, 30. November 2018, URL: https://presse. wdr. de/ plounge/ wdr/ programm/ 2018/ 11/ 20181130_ holocaust. html, Zugriff am 11. Dezember 2018. 158 Gries, Vom historischen Zeugen zum professionellen Darsteller, S. 52 – Hervorhebung im Original. 159 Ebd., S. 53. 160 Vgl. Kaes, History and Film. 161 Vgl. aber auch Marcus Stiglegger. 2015. Auschwitz-TV, Serienkulturen: Analyse – Kritik – Bedeutung. Heidelberg: Springer. S. 18. Der Autor vertritt die Auffassung, dass Holocaust neben Schindlers Liste den mit Abstand größten Einfluss auf die audiovisuelle Ikonografie der Holocaust hatte. 162 Vgl. Bösch, Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft, S. 4.
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lung von Käutners Film ruhiger (vor allem im Kino, weniger im TV), in der DDR aber wurde weiterhin eine Reihe an Filmen zur Thematik gedreht. 163 Einen wichtigen Unterschied, der in der Person der beteiligten Filmemacher begründet liegt, gibt es zwischen den beiden Deutschlands und Polen allerdings: Viele der älteren deutschen Filmemacher haben ihre Karriere in Nazideutschland begonnen und von der Ermordung der jüdischen Konkurrenz profitiert. Wenn sie diese auch nicht aktiv unterstützt haben, so haben sie zumindest nicht hingesehen. 164 Ihr Zugang zur Thematik musste also notwendigerweise ein anderer sein, als der junger Regisseure zu Beginn des 21. Jahrhunderts es sein kann. Neben der Distanz zur Erlebnisgeneration darf auch der Einfluss der veränderten geopolitischen Ausrichtung der Welt, des Falls des Eisernen Vorhangs und somit des Endes der Trennung in eine westliche und eine sowjetische Einflusssphäre nicht unterschätzt werden. Die jungen Filmemacher können ihre Filme unter anderen Voraussetzungen drehen, müssen sich nicht an eine politische Zensur halten (das thematische Diktat hat der Markt) und konnten sich bereits über zwei Jahrzehnte lang ein anderes Bild der Geschichte machen, als dies ihren Eltern und Großeltern möglich war. Diese prägende Phase der Transformation ermöglicht und fordert einen anderen Blick auf die Vergangenheit. Deutlich zeigt sich dies an den Beispielen des jungen polnischen Regisseurs Michał Rogalski, der mit Unser letzter Sommer einen Teil der eigenen Familiengeschichte verarbeitet und den Film sogar seiner Großmutter widmet, und des deutschen Filmemachers Philipp Kadelbach, der mit Unsere Mütter, unsere Väter eine vermeintlich gesamtgesellschaftliche Erinnerungslücke in Deutschland füllen will, die in seiner eigenen Familiengeschichte ganz real war. Die beiden stehen für eine Generation der Postmemory, die sich in Polen einerseits mit polnischer Täterschaft auseinandersetzen kann und in Deutschland andererseits einen Blick auf die Geschichte der Generation der Großeltern wirft, die eine gewisse Abkehr von der in den letzten Jahrzehnten vorherrschenden Bekenntnis zur deutschen Täterschaft zugunsten einer teilweise apologetischen Erzählung über eine verführte Generation darstellt. 2.2.2.1 Familiengeschichte als identitätsstiftendes Element in Polen
Das polnische Zentrum für öffentliche Meinungsforschung Centrum Badania Opinii Społecznej (CBOS) stellte bereits 1999 in einer repräsentativen Umfrage fest, dass in Polen Familiengeschichte oft eine wichtigere
163 Vgl. Zielinski, History as Entertainment, S. 84 f. 164 Ebd., S. 85.
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Rolle in der Verankerung der Individuen in der Geschichte spielt als das historische Wissen, das in Schulen 165 oder Massenmedien vermittelt wird. Insbesondere der Zweite Weltkrieg ist dabei das häufigste Thema dieser Familienerzählungen. 166 Eine weitere Befragung 2007 zeigte keine nennenswerten Unterschiede, sondern unterstrich die Familie als wichtigen Ort und Quelle von Erinnerungsbildern nur. 167 Diesen Faktor näher zu beleuchten, hat also nicht nur aufgrund der einschlägigen Fallbeispiele der hier behandelten Erinnerungsfilme Relevanz. Zunächst sei Michał Rogalski betrachtet, der mit Unser letzter Sommer einen Film schuf, zu dem er, wie im Rahmen der Vermarktung des Films immer wieder erwähnt wurde, durch alte Fotografien seiner Großeltern aus dem Jahre 1943 inspiriert wurde. Auf diesen Aufnahmen seien seine Großeltern im Sommer 1943, genauer im Juni 1943, zu sehen gewesen, wie sie unbeschwert und scheinbar fernab jeglichen Kriegsgeschehens an einem Fluss mit Freunden Zeit verbrachten. Diese Bilder widersprachen dem, was auch Rogalski selbst von dieser Zeit wusste. Daraus entstand die Idee für Unser letzter Sommer. Zwar spielte diese Erzählung zur Entstehungsgeschichte des Films 2008, als Rogalski für das Drehbuch zu Unser letzter Sommer den Hartley-MerrillDrehbuchpreis gewann, noch keine so entscheidende Rolle. Auf die Frage zur Inspiration für sein Drehbuch antwortet Rogalski 2008 noch: Genau erinnere ich mich nicht. Diese Idee ist schon etwa fünf Jahre alt, als ich noch auf dieser Basis mein Diplom an der Filmschule in Łód´z machen wollte. Später hörte es aus finanziellen Gründen auf, aktuell zu sein. Vor einem Jahr habe ich das Projekt beim PISF [Polnisches Institut für Filmkunst, Polski Instytut Sztuki Filmowej – PISF, Anm. JRG] eingereicht und ein Stipendium bekommen. Jetzt war der Wettbewerb [Hartley-Merrill, Anm. JRG] und ich habe tatsächlich das Schreiben in einer Woche abgeschlossen. 168
Der Zusammenhang mit der Familiengeschichte war für den Filmemacher zwar auch 2008 bereits zentral, die Antwort aber bemerkenswert vielschichtiger und weniger geschliffen: Es wird mir immer bewusster, dass ich mit der Vergangenheit irgendwie verbunden bin. Teilweise besteht „Unser letzter Sommer“ aus Episoden, die ich 165 Die Familie als Ort des Austauschs über die Vergangenheit bleibt für rund ein Drittel der Polinnen und Polen wichtigste Quelle. 41 % entnehmen ihre Informationen aus Filmen. Gleichsam stellte das CBOS 2014 fest, dass das Wissen zum Zweiten Weltkrieg hauptsächlich aus der Schule stamme, vgl. CBOS. 2014. 75. Rocznica Wybuchu II ´ Wojny Swiatowej. URL: http://www. cbos. pl/ SPISKOM. POL/ 2014/ K_ 114_ 14. PDF, Zugriff am 2. Februar 2018. 166 Vgl. CBOS. 2000. Dzieje Rodziny W Naszej Pami˛eci, URL: http://www. cbos. pl/ SPISKOM. POL/ 2000/ K_ 001_ 00. PDF, Zugriff am 1. Februar 2018. 167 Vgl. CBOS. 2007. Historia Rodzinna, Pami˛e´c, Tradycja, URL: http://www. cbos. pl/ SPISKOM. POL/ 2007/ K_ 058_ 07. PDF, Zugriff am 2. Februar 2018. 168 Cichmi´nski, Debiutujacy ˛ re˙zyser i scenarzysta postrzegany jest jak hochsztapler.
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von meiner Großmutter gehört habe. Ich habe beschlossen, ihnen eine Fortsetzung zu geben und außerdem etwas, das ihnen vorausging. Ich habe sogar mit Großmutter beraten, ob bestimmte Dinge überhaupt im Krieg möglich waren oder nicht. Darüber hinaus leben wir in dem Land, in dem Raum, der von der Vergangenheit deutlicher als irgendwo anders in der Welt gebrandmarkt wurde. Einer meiner Großväter war Partisan und meine Mama sang mir zum Einschlafen „Czerwone maki na Monte Cassino“ [Rote Mohnblumen auf Monte Cassino, 1944] und „Serce w plecaku“ [Das Herz im Rucksack, 1933 – patriotische Volkslieder aus dem Zweiten Weltkrieg, die in der Volksrepublik Polen verboten waren, Anm. JRG]. Der Zweite überlebte gemeinsam mit meinem Vater den Aufstand in Warschau. Das waren wichtige Dinge, die in Familienerzählungen immer gegenwärtig waren. 169
Rogalski kann sich also mit dem Thema identifizieren, weil es in seiner Familiengeschichte prävalent ist. Nicht nur waren die Großeltern und sein Vater Zeitzeugen der prägenden Momente der neueren polnischen Geschichte, sondern er wuchs auch in einer eher patriotischen polnischen Familie auf. So erklärt sich auch die Widmung des Films Unser letzter Sommer für die Großmutter, die ihm alles erzählte. Was dieses alles ist, beantwortet Rogalski nie konkret. Der Film aber gewinnt durch diese Einblendung im Vorspann abermals an gefühlter Authentizität, legt die Widmung doch nahe, dass der Film auf Erinnerungen der Großmutter basiert, sozusagen ein vom Enkel erzähltes Zeitzeugnis ist. Diese Geste ist Ausdruck eines größeren Trends, den Korzeniewska und Korzeniewski so beschreiben: Film plays a vital role in revealing individual and family values and stresses the importance of personal testimony and individual fate. This is manifested, for example, in the sense of solidarity with war victims and the desire to remember and respect the dead, expressed by the desire to immortalize the wartime experience of past generations in film. This explains why films that focus on the period frequently feature dedications to one’s nearest and dearest as well as in postscripts (as in Agnieszka Holland’s film In Darkness). 170
Im Interview mit Kulturalni.pl entgegnet Rogalski auf die Frage, ob sich hinter der Widmung eine Geschichte verstecke, dass es in den Erzählungen seiner Großmutter vor allem um die Atmosphäre damals gegangen sei und darum, dass eben auch in Zeiten des Krieges und der Besatzung das Leben
169 Ebd. 170 Amelia Korzeniewska und Bartosz Korzeniewski. 2016. „Personalization of the Memory of Holocaust Victims in Polish Cinema and Museum Exhibitions after 1989.“ In: Remembrance and Solidarity Studies in 20th Century European History, Nr. 4, Dez. 2016, S. 137–158, hier: S. 154 – meine Hervorhebung.
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nicht nur aus Krieg, Angst und Blut bestanden habe. 171 Rogalskis Fall ist ein Musterbeispiel für das Phänomen, das auch Amelia Korzeniewska in ihrer Arbeit zur Liminalität aufgreift: Die Erzählung einer persönlichen oder familiären Geschichte begünstigt die Verarbeitung des Traumas sowohl durch das Publikum wie auch durch die Regisseure, insbesondere wenn man darin positive Elemente ausfindig macht (und diese sind meist in Jugenderinnerungen enthalten). 172
Ebendas tut Rogalski. 173 Er verarbeitet Jugenderinnerungen seiner Großeltern, die sich fernab der Gräueltaten der Kriegszeit abspielten. 174 Den Zusammenhang mit den Fotografien der Großeltern aus dem Sommer 1943 und seiner Filmgeschichte hatte sich Rogalski 2008 entweder noch nicht vergegenwärtigt, oder aber es handelt sich um eine nachträgliche Erklärung und schöne Anekdote, die zu Zwecken der Vermarktung von Unser letzter Sommer genutzt wurde, ließ sich so doch die Erzählung eindeutig mit der Familiengeschichte des Regisseurs verknüpfen. In jedem Fall gewinnen durch diese Verknüpfung sowohl der Regisseur an Autorität im Sinne einer ererbten Zeitzeugenschaft als auch der Film an Authentizität, denn es wird suggeriert, dass eine reale Geschichte als Basis der filmischen Erzählung fungierte. Rogalski, Jahrgang 1970, der sowohl für das Drehbuch als auch für die Regie des Coming-of-Age Dramas Unser letzter Sommer verantwortlich zeichnet, ist in seinem bisherigen Schaffen stark durch den Zweiten Weltkrieg geprägt. Der gebürtige Warschauer, der nach einem Studium an der Fakultät für Journalismus und Politikwissenschaften der Universität Warschau bis 2001 in Łód´z an der Staatlichen Hochschule für Film, Fernsehen und Theater „Leon Schiller“ Regie studierte, machte sich zunächst vor allem als Dokumentarfilmer einen Namen. 2007 folgte eine Weiterbildung an der Andrzej Wajda School auf dem Feld der Filmregie. In etwa diesem Zeitraum entstand auch das Drehbuch zu Unser letzter Sommer, einer Filmidee, die Rogalski ursprünglich schon als Abschlussarbeit seines
171 Vgl. TVP Polonia. 2016. Interview mit Kulturalni.pl, URL: http://kulturalnipl. tvp. pl/ sess/ tvplayer. php? copy_ id= 1& object_ id= 24946557& autoplay= true, Zugriff am 4. November 2017, Min. 2:55–3:24. 172 Korzeniewska, Liminalität und Post-Erinnerung, S. 207 – meine Hervorhebung. 173 Auch Paweł Pawlikowski verarbeitet in seinem neuesten Film Cold War – Der Breitengrad der Liebe Familiengeschichte: Für die Liebesgeschichte von Wiktor und Zula im kommunistischen Polen standen seine Eltern Pate. Die kommunistische Vergangenheit liefert für die Filmhandlung nur den Hintergrund. Vgl. Bartosz Staszczyszyn. o. J. „‚Zimna wojna‘, re˙z. Paweł Pawlikowski.“, Culture.pl, URL: https://culture. pl/ pl/ dzielo/ zimna- wojna- rez- pawel- pawlikowski, Zugriff am 13. August 2018. 174 Mehr aber zu diesem Fokus auf den Erfahrungen der Jugend im Kapitel zu Narrationskontexten.
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Studiums in Łód´z hatte realisieren wollen, aber aus finanziellen Gründen zunächst zurückstellen musste. 175 Sein Spielfilmdebüt feierte Rogalski 2009 daher eben nicht mit Unser letzter Sommer, sondern mit der Komödie Die letzte Aktion (Ostatnia Akcja) über Veteranen des Warschauer Aufstands. Seine Filmografie lässt durchaus erkennen, dass er sich mit dem Thema Zweiter Weltkrieg künstlerisch bereits eingehend auseinandergesetzt hat. So wirkte Rogalski beispielsweise auch als Regisseur an der beliebten Fernsehserie Czas honoru mit, die einer Gruppe von Soldaten der polnischen Untergrundarmee im Zweiten Weltkrieg folgt, und von 2008 bis 2013 über sechs Staffeln hinweg ausgestrahlt wurde. Ferner sei auch die Fernsehserie Wojenne Dziewczyny über drei junge Frauen im besetzten Polen zur Zeit des Zweiten Weltkriegs erwähnt, die im März 2017 im polnischen Staatsfernsehen TVP startete. Wenn nun aber der Eindruck entstanden sein mag, dass Rogalski sich ausschließlich mit dem Sujet der deutschen Besatzungszeit in Polen beschäftigen würde – und dieser Eindruck drängt sich durchaus auf – so sei noch darauf verwiesen, dass der Regisseur auch an populären zeitgenössischen Fernsehserien und Filmen gearbeitet hat, die ein gänzlich anderes Themenspektrum behandeln. Dazu gehören die Dramedy Das Rezept fürs Leben (Przepis na z˙ycie, 2011–2013) oder auch die Komödie Exterminator (2018), die von fünf Freunden erzählt, die ihre alte Metalband wiederaufleben lassen wollen. In Czas honoru, Wojenne Dziewczyny und vor allem in Das Rezept fürs Leben wurde Rogalski auch selbst in einer kleineren, wiederkehrenden Rolle des Schuldirektors als Schauspieler tätig. Dass er für das selbstgeschriebene Drehbuch von Unser letzter Sommer Preise gewonnen hat, betrachtet der Regisseur als Ironie, wolle er doch Filme machen und keine Drehbücher schreiben – ein Prozess, den er offenkundig als mühsam empfindet. 176 Inwiefern ist die Art und Weise, wie die Filmemacher Filme machen, wie die Akteure des Erinnerungsfilms agieren, beeinflusst davon, wie sie im Generationengeflecht der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg verortet sind? Viele der aktiven Filmemacher heute sind Teil der dritten Generation. Die Erfahrungen, die sie als Teil dieser Generation vor allem im familiären Kontext mit der Erinnerung an die Zeit des Zweiten Weltkriegs gemacht haben, prägen notwendigerweise die Art und Weise, wie sie diese Vergangenheit für sich verinnerlicht haben und in ihren Filmen verarbeiten. Michał Rogalski spricht diese besondere Position, die er als Ange-
175 Vgl. Cichmi´nski, Debiutujacy ˛ re˙zyser i scenarzysta postrzegany jest jak hochsztapler. 176 Vgl. PISF, Letnie przesilenie. Rozmowa z Michałem Rogalskim, Min. 7:15–7:49.
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höriger einer Generation Postmemory hat, im Interview mit der Gazeta Wyborcza aktiv an. Er selbst zählt sich zur dritten bzw. vierten Generation, die aus ihrer Perspektive den Krieg zeigt und sich darin von den vorhergehenden Generationen zwangsläufig unterscheidet: Vielleicht weniger emotional. Vielleicht ist dieses unsrige Bild der Wahrheit näher, weil eine Distanz gekommen ist, wir verdauen die Geschichten derer, die überlebt haben, und konfrontieren sie mit Dokumenten, mit anderen Quellen. 177
Rogalskis Herangehensweise an die Vergangenheit wirkt sehr reflektiert. Spürbar ist, dass er sich nicht nur mit der Geschichte, die er in seinem Film erzählt, intensiv auseinandergesetzt hat, sondern offenkundig auch mit Prozessen der Erinnerungskultur und des kollektiven Gedächtnisses über die Generationen hinweg. Die Distanz, von der Rogalski spricht, ist nicht nur zeitlich oder räumlich zu verstehen. Durch diese Entfernung entsteht eine dritte, nämlich eine emotionale Distanz, die die Filmemacher der dritten Generation für sich reklamieren. Die Regisseure der dritten Generation haben also nicht nur die Fähigkeit, ebenso gut über die Geschichte ihrer Großeltern zu sprechen, die mit ihnen darüber geredet haben, wie diese selbst. Nein, sie können es sogar vermeintlich noch besser, als es die Erlebnisgeneration selbst getan hätte, weil sie in ihren Filmen nicht nur aus einer ererbten Zeitzeugenschaft heraus, sondern auch vor dem Hintergrund jahrzehntelanger historischer Forschung vermeintlich objektiver, das heißt dadurch näher an der Wahrheit zu erzählen vermögen. 178 Diese Behauptung einer vermeintlichen Objektivität steht aber augenscheinlich für die Filmemacher nicht im Widerspruch dazu, sich die Emotionalisierung des Erinnerungsstoffs durch die gezielte und scheinbar glaubwürdige Verknüpfung mit der eigenen Familiengeschichte im Zuge der Vermarktung des Erinnerungsfilms zunutze zu machen, wie es beispielsweise Rogalski durch die oben erwähnte Widmung von Unser letzter Sommer an seine Großmutter getan hat. Ferner haben Regisseure heute die Möglichkeit, die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs aus einer transnationalen Perspektive zu beleuchten, die einzunehmen ihnen ihre individuellen Lebenserfahrungen und teils internationalen Biografien erleichtern. Mehr als die Hälfte ihres Lebens haben sie bereits in einer Gesellschaft nach
177 Waldemar Kumór. 2016. „‚Letnie przesilenie‘. Re˙zyser: To film o ludziach, nie o Po˙ lakach, Niemcach i Zydach [ROZMOWA].“ Gazeta Wyborcza, 20. April 2016, URL: http://wyborcza. pl/ 1,75410,19946294,letnie- przesilenie- rezyser- to- film- o- ludziachnie- o- polakach. html, Zugriff am 3. Juni 2016. 178 Jan Komasa, dem Regisseur von Warschau ’44, wird ebenfalls zugebilligt, besser als die Erlebnisgeneration über den Warschauer Aufstand erzählen zu können. Vgl. PAP, Eksperci PISF nie chcieli finansowa´c „Miasta 44“.
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dem Fall des Eisernen Vorhangs verbracht, die vermeintliche und echte Rede- und Denkverbote aus Zeiten des Kalten Kriegs aktiv abzuschaffen versuchte oder dafür zumindest den Boden bot. Im Kontakt mit anderen Kulturkreisen konnten sie zudem Denkmuster infrage stellen. 179 Ihr Blick auf die deutsche oder polnische Erinnerungskultur ist auch durch diese eigenen, internationalen Erfahrungen geprägt. Mit ihren filmischen Erzählungen bauen die jungen Filmemacher nicht nur eine Brücke zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart in Bezug auf ihre eigenen, ererbten Traumata, sondern können auch eine Vorbildfunktion für das jüngere Publikum einnehmen, wie besonders im Falle Jan Komasas deutlich wird: Um mir den Aufstand vorzustellen, habe ich nicht an „Der Kanal“ von Wajda gedacht, sondern an den Arabischen Frühling, den Krieg in Syrien, die ukrainische Revolution. Ich bin sogar zum Majdan gefahren, um mich zu überzeugen, wie eine solche Auflehnung aussieht. Für meine Generation, die nicht einmal den Kriegszustand erinnert (ich wurde im Jahr 1981 geboren), sind das reale Bezugspunkte. 180
Wie Aleida Assmann feststellte, ist „[d]ie Dynamik im Gedächtnis einer Gesellschaft [. . . ] wesentlich durch den Wechsel der Generationen“ charakterisiert: „Mit jedem Generationswechsel, der nach einer Periode von ca. dreißig Jahren stattfindet, verschiebt sich das Erinnerungsprofil einer Gesellschaft merklich.“ 181 Komasa spricht für eine ganze Generation der Postmemory in Polen, und vielleicht nicht nur dort, für die selbst wichtige Ereignisse der neuesten polnischen Geschichte nicht mit eigenen Erinnerungen verknüpft sind. Die Tatsache, dass es sich bei den historischen Figuren in seinem Film Warschau ’44 um seine Altersgenossen handelt, deren Leben er aus der heutigen Perspektive eines freien Polens beschreiben will, scheint Komasa wichtig. 182 Die Bezugspunkte, die seiner Meinung nach funktionieren können, um eine Brücke zwischen der Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs, insbesondere des Ereignisses des Warschauer Aufstands und der Gegenwart zu bauen, sind divers und
179 So lebte die Regisseurin von Die verlorene Zeit, Anna Justice, lange in Amerika und hat dort ihren ersten Ehemann geheiratet. Paweł Pawlikowski, Regisseur des oscarprämierten Films Ida lebt und arbeitet seit Jahren vornehmlich in London und Paris. Der Macher des umstrittenen Spielfilms Pokłosie, Władysław Pasikowski, verbringt viel Zeit in Österreich, wo sein Sohn zur Schule geht, Vgl. Subbotko, Pasikowski: Nasz naród nie jest wybrany. 180 Wróblewski, I rozp˛etało si˛e piekło. 181 Assmann, Der lange Schatten, S. 27. 182 Vgl. Justyna Kobus. 2014. „‚Miasto44‘. Film, który ma nam otworzy´c oczy.“ TVN24, 11. Mai 2013, URL: https://www. tvn24. pl/ kultura- styl,8/ miasto44- film- ktory- manam- otworzyc- oczy,324885. html, Zugriff am 6. Januar 2018.
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transnational. Sie liegen in den Ländern des Arabischen Frühlings, in Syrien und der Ukraine. 183 Natürlich werden die wenigsten derer, für die Komasa spricht, eigene Erfahrungen dieser Art gemacht haben. Auch Komasa hat diese Erfahrungen nicht. Trotzdem oder gerade deshalb kann der Filmemacher aber als Vorbild fungieren, wie eine erfolgreiche Verknüpfung des Warschauer Aufstands, die seine aktuelle Relevanz unterstreicht und ihn als positiven Erinnerungsort bestätigt, funktionieren kann. Dass Komasa damit nicht allein steht, zeigen auch Aussagen Michał Rogalskis, der seinen Film Unser letzter Sommer in den Kontext der vieldiskutierten Flüchtlingssituation in Europa stellt, indem er die universell übertragbaren Erfahrungen der Jugendlichen in seinem Film, vor allem der Jüdin Bunia, für heutige Zuschauer anknüpfbar macht. 184 Komasa greift gleichwohl 2013 anlässlich des Drehstarts zu Warschau ’44 explizit auf, dass er mit seinem Film auch den Aufständischen Ehre erweisen will. 185 Der Warschauer Aufstand als ein zentraler Erinnerungsort des postkommunistischen Polens ist für das polnische Kino nach wie vor ein schwieriges Thema, weil die Zuschauer die Umsetzung einer für die nationale Identität so elementaren Episode polnischer Geschichte besonders kritisch prüfen. Auch Andrzej Wajdas Film Der Kanal wurde anfangs in Polen nicht positiv aufgenommen, obgleich er im Ausland, zum Beispiel auf den Filmfestspielen in Cannes, gefeiert wurde. 186 Komasa musste zudem den Spagat schaffen, einerseits Identifikationspunkte für die junge Generation zu schaffen, realisiert durch den Fokus auf junge Aufständische, andererseits aber auch die Erlebnisgeneration mitzunehmen, die sich noch selbst an den Aufstand erinnern kann. Das Casting dauerte drei Jahre, der Dreh sollte symbolische 63 Tage dauern – so lange, wie der Warschauer Aufstand selbst auch gedauert hatte. Realiter waren es allerdings im Zeitraum von Mai bis August 2013 insgesamt über 80 Tage. 187 Viele namenhafte Regisseure hatten sich nach 1989 an das Sujet gewagt, jedoch wurde keiner der Filme realisiert. 188 Komasa ist der erste Filmemacher der jungen Generation in Polen, der damit reüssieren konnte. Im Presseheft betont er den Altersfaktor, der ihm in der Identifikation mit den Figuren half: Als ich die Arbeit am Drehbuch begann, war ich nicht viel älter als die Helden. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich etwas anschließe, das mir außergewöhnlich 183 Auch Rogalski nennt diese Schauplätze der Gegenwart als Bezugspunkte. 184 Vgl. FPFFGdynia, 40. FFG – Konferencja prasowa filmu „Letnie przesilenie“, Min. 18:51–19:26. 185 Vgl. Kobus, „Miasto44“. Film, który ma nam otworzy´c oczy. 186 Vgl. PAP. Eksperci PISF nie chcieli finansowa´c „Miasta 44“. ´ 187 Vgl. Kino Swiat, Pressbook Miasto 44, S. 15. 188 Vgl. Kobus, „Miasto44“. Film, który ma nam otworzy´c oczy.
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nahe ist. [. . . ] „Warschau ’44“ zeigt Emotionen, das heißt etwas, das zeitlos und universell ist. Ich wollte, dass der heutige Zuschauer einen Faden der Verständigung mit dem Helden knüpft, dem ich folge. 189
Und weiter: „Wie das Museum [des Warschauer Aufstands, Anm. JRG] soll auch unser Film das Alte mit dem Neuen verbinden“, 190 oder wie Produzent Kwieci´nski sagt: „‚Warschau ’44‘ ist ein moderner Film nicht nur im Hinblick auf die darin verwendeten Spezialeffekte, sondern auch durch den Fakt, dass er Generationen verbindet.“ 191 Geboren 1981 in Posen, wuchs Komasa im heutigen Warschauer Stadtteil Praga auf, ohne dass der Kult um den Warschauer Aufstand in seiner Erziehung eine nennenswerte Rolle gespielt hätte. Seine beiden Großväter waren zwar in der polnischen Heimatarmee, aber er selbst hat sich erst im Lyzeum bewusst mit dem Warschauer Aufstand beschäftigt. 192 In seiner Familie war der Zweite Weltkrieg insgesamt kein Thema: Bei mir zuhause wurde nicht über den Krieg gesprochen, weil meine Großeltern gefoltert worden waren, sie waren in der AK, und das war so ein stillschweigendes Trauma. Ein Tabu. Es wurde auch nicht darüber gesprochen, dass Großmutter Juden versteckt hat. Mein Papa kommt aus den Bergen, und meine Mama aus Vorpommern, sie haben sich in Posen getroffen und dort bin ich entstanden. 193
Auch die jüdische Herkunft der Großmutter, die Mutter seines Vaters, die den Nachnamen Stochel trug und den Enkel mahnte, seine eigene jüdische Geschichte nicht zu vergessen, trug laut Komasa dazu bei, dass der Zweite Weltkrieg in seiner Familie ein Tabu war: „Also war die Kriegszeit, die Vergangenheit ein Tabuthema, ich hatte überhaupt nicht eine solch patriotische Erziehung zuhause und solch ein kultiviertes Polentum in mir.“ 194 Den Impetus zur filmischen Beschäftigung mit dem Warschauer Aufstand setzte Produzent Michał Kwieci´nski, als 2004 das Museum des Warschauer Aufstands eröffnet wurde. Im Presseheft zu Warschau ’44 schreibt Kwieci´nski: „Ich habe ihm [Komasa, Anm. JRG] vorgeschlagen, einen Film über den Warschauer Aufstand zu machen, weil ich sehr wollte, dass endlich ein junger Mensch ein wichtiges geschichtliches Thema aufgreift, und nicht wie es bis zu dieser Zeit oft war – ein reifer, erfahrener Macher.“ 195 Anders als Komasa verbindet Kwieci´nski die persönliche Familiengeschichte mit 189 190 191 192 193 194 195
´ Kino Swiat, Pressbook Miasto 44, S. 5. Ebd., S. 6. Ebd., S. 17. Vgl. Najsztub, Chciałem nakr˛eci´c podró˙z przez piekło. Ebd. Ebd. ´ Kino Swiat, Pressbook Miasto 44, S. 5.
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dem Aufstand, in dem auch Mitglieder seiner Familie gekämpft haben. 196 Er sei, so Komasa in der Polityka, ein großer Fan der Geschichte. Und Kwieci´nskis Filmografie unterstreicht diese Feststellung: Die beliebte Serie Czas honoru, Andrzej Wajdas Das Massaker von Katyn, sowie der Spielfilm Morgen gehen wir ins Kino (Jutro idziemy do kina, 2007) gehören zu seinen Arbeiten. 197 Zwar lagen die zentralen Aspekte der Produktion, Drehbuch und Regie, in den Händen von Jan Komasa, aber die Motivation war zunächst extrinsisch und kam von Produzent Kwieci´nski, geboren 1951 in Warschau. Verschiedene Generationen der Postmemory haben also ihre Kräfte vereint, um diesen Erinnerungsfilm zu schaffen. Komasa sieht seinen Film denn auch als ein generationenübergreifendes Projekt, das für viele Generationen von Polen überall auf der Welt Bedeutung haben kann. 198 Die Statistiken sprechen für ihn: Laut einer Studie des CBOS 2014 zum 70. Jahrestags des Warschauer Aufstands sind Filme für 80 % der Bevölkerung eine der Hauptquellen in Bezug auf Wissen zum Aufstand. 199 Eine Kombination der so wirkungsmächtigen Quellen Familiengedächtnis und Film lässt auf eine starke Position des Erinnerungsfilms dieser beiden polnischen Filmemacher, die sich selbst als Vorbilder und Teil einer Generation Postmemory begreifen, im gesamtgesellschaftlichen Erinnerungsdiskurs schließen. 2.2.2.2 Täterenkel – Unsere Großmütter, unsere Großväter
Wenn die eigene Familie aus Überlebenden, aus Unterdrückten oder Widerstandskämpfern besteht, fällt es vermeintlich leicht, sich mit deren Erbe zu identifizieren. Schließlich lässt sich durchaus mit Stolz auf den Großvater verweisen, der in der Heimatarmee gegen Hitler gekämpft hat oder wie durch ein Wunder das Konzentrationslager überlebte. Die Großmutter, die unter Einsatz ihres eigenen Lebens Juden versteckte, ist eine Heldin. Aber was, wenn die Kriegserfahrungen der eigenen Vorfahren weniger positiv waren? Auch für die Enkelgeneration der Täter und Mitläufer scheint Familiengeschichte als Motivator in der künstlerischen Arbeit zu funktionieren – zumindest in Deutschland. So war es für Regisseur Philipp Kadelbach, Jahrgang 1974, der mit Unsere Mütter, unsere Väter eine der wohl umstrittensten Umsetzungen des Kriegsthemas der letzten Jahre geliefert hat.
196 197 198 199
Vgl. Ebd., S. 17. Vgl. Wróblewski, I rozp˛etało si˛e piekło. ´ Vgl. Kino Swiat, Pressbook Miasto 44, S. 6. Vgl. CBOS. 2014. Powstanie Warszawskie w Ocenie Społecznej. URL: http://www.cbos. pl/ SPISKOM. POL/ 2014/ K_ 110_ 14. PDF, Zugriff am 2. Februar 2018.
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Während in Rogalskis Familie der Zweite Weltkrieg ein Thema war, das von Eltern und Großeltern proaktiv aufgegriffen wurde und einen scheinbar ganz selbstverständlichen Teil der Familiengeschichte darstellte, verhielt es sich beim Deutschen Kadelbach etwas anders. 200 Der Großvater war in der Wehrmacht, der Vater, „ein großer Kriegsgegner“, wollte den Konflikt nicht totschweigen, sondern ausdiskutieren. Der Enkel, Philipp Kadelbach, verstand diesen Konflikt und das Schweigen des Großvaters „[e]rst im Nachhinein“. Dieses eigene Versäumnis, über das Geschehene in der Familie zu sprechen, nimmt Kadelbach als Motivation für seine Arbeit: „Nun hofft er, dass ‚Unsere Mütter, unsere Väter‘ auch junge Zuschauer erreicht. Mit seiner Familie kann er darüber nicht mehr sprechen. Vater und Großvater sind gestorben.“ 201 Wie am Beispiel Jan Komasas deutlich wird, sind zwar auch in Polen schmerzhafte Episoden der Kriegszeit mit einem Tabu belegt. Dennoch ist spürbar, dass Komasa durchaus bewusst ist, dass der Kampf der Großväter in der Heimatarmee, ihr Leiden und vielleicht sogar die jüdische Herkunft und das Überleben der Großmutter im heutigen Polen ein Pfund sind. Gleichwohl war Warschau ’44 kein Herzensprojekt, es wurde Komasa vorgeschlagen. 202 Auch Michał Rogalski kann seine Familiengeschichte aus einer komfortablen Position des Enkels erzählen, dessen Großvater Partisan war, von der Verbindung zum Warschauer Aufstand. Beiden polnischen Filmemachern bietet die eigene Familiengeschichte somit positive Identifikationspunkte. Der Opa aus der Wehrmacht bietet diese positive Konnotation nicht. Dennoch: Kadelbachs Familiengeschichte bemüht nicht nur der Regisseur selbst, sondern ziehen auch die Medien gern heran, um eine Verbindung zwischen Filmemacher und Filmnarrativ zu schaffen. Der Großvater in der Wehrmacht – wie Friedhelm und Wilhelm, die Protagonisten aus Unsere Mütter, unsere Väter. Der Vater entschiedener Kriegsgegner. Der Modus der Familie, mit dem intergenerationellen Trauma des Zweiten Weltkriegs und der Beteiligung des Großvaters umzugehen:
200 Vgl. Sonja Pohlmann. 2013. „Philipp Kadelbach: ‚Wir verharmlosen nichts‘.“ Tagesspiegel, 18. März 2013, URL: http://www. tagesspiegel. de/ meinung/ philipp- kadelbachwir- verharmlosen- nichts/ 7942266. html, Zugriff am 2. Oktober 2017. 201 Ebd.; vgl. auch Michael Hanfeld. 2013. „Darf ich zu diesen Figuren Nähe aufbauen?“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. März 2013, URL: https://www. faz. net/ aktuell/ feuilleton/ medien/ unsere- muetter- unsere- vaeter/ philipp- kadelbach- im- gespraechdarf- ich- zu- diesen- figuren- naehe- aufbauen- 12114730. html, Zugriff am 2. Oktober 2017. 202 Vgl. Jakub Majmurek. 2014. „Komasa: Wiedziałem, z˙e jak spieprz˛e, to nikt młody filmu z wielkim bud˙zetem ju˙z nie nakr˛eci.“ Krytyka Polityczna, 24. September 2014, URL: http://krytykapolityczna. pl/ kultura/ film/ komasa- wiedzialem- ze- jak- spieprzeto- nikt- mlody- filmu- z- wielkim- budzetem- juz- nie- nakreci/ 2014/ , Zugriff am 5. Dezember 2018.
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Schweigen. Mit dieser Geschichte können sich die Zuschauerinnen und Zuschauer in Deutschland identifizieren. Umso deutlicher wird an dem Beispiel Unsere Mütter, unsere Väter, wie exemplarisch die Regisseure als Brückenbauer zwischen dem Damals und Heute für ihre Generation stehen. Dass Friedhelm auch ein bisschen der Großvater von Kadelbach sein könnte, lässt den Film als ein ganz persönliches Dokument und über Zweifel und Ungenauigkeiten beinahe erhaben erscheinen. Die Bezugnahme auf die eigene Familiengeschichte scheint ein gern genutztes Mittel zu sein, um die Autorität des Regisseurs als Erzähler einer bestimmten Version der Vergangenheit zu untermauern – im Sinne einer Authentizität durch Autorschaft, wie Martínez sie als eine von vier Spielarten der Authentizität 203 von künstlerischen Bearbeitungen der Vergangenheit definiert hat. Gewissermaßen ist ein ererbtes Trauma also eine Art Legitimation, über diesen Teil der Geschichte zu erzählen. Eine Einschränkung aber gibt es: Im Gegensatz zu Unser letzter Sommer und auch Warschau ’44 stammen Drehbuch und Regie bei Unsere Mütter, unsere Väter nicht aus einer Hand. Unsere Mütter, unsere Väter wurde zwar von einem sehr jungen Team umgesetzt, aber das Drehbuch und die Produktion verantworteten mit Stefan Kolditz und Nico Hofmann zwei Angehörige der zweiten Generation. Ihre Väter und Mütter gehörten noch zur Kriegsgeneration. 204 Assmann bewertet Unsere Mütter, unsere Väter daher als einen „Film der zweiten Generation über Erlebnisse der ersten Generation, der sich an die dritte Generation richtet“. 205 Folglich kann man das Filmprojekt als Produkt einer bzw. mehrerer Generationen der Postmemory begreifen, wenngleich auch der Impetus aus der Generation der Söhne und Töchter der Erlebnisgeneration kommt und nicht aus der der Enkelinnen und Enkel. Drehbuchautor Kolditz selbst ist überzeugt, „dass sich die Generation der Enkel [der Geschichte, Anm. JRG] vorbehaltsloser nähern kann, ohne dass, was ihre Großeltern getan haben, nivelliert wird“. 206 Für seine Generation war dies noch nicht so möglich wie nun für die dritte Generation, der Regisseur und Schauspieler angehören. 207 Diese durchleben stellvertretend für das ebenso junge Publikum 203 Vgl. Martínez, Zur Einführung. 204 Auch diese zweite Generation fand in den späten 1980er und 1990er-Jahren ihre Geschichte im Film wieder, beispielsweise in Land der Väter, Land der Söhne (1988) oder Abrahams Gold (1989), aber auch Das schreckliche Mädchen (1990). Siehe auch Bösch, Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft, S. 13. Mit diesen Filmen vollzog sich auch die Verbindung der Vergangenheit mit der Gegenwart. 205 Assmann, Unbehagen, S. 38. 206 José García. o. J. „‚Unsere Mütter, unsere Väter‘, Texte zum Film.“ Texte zum Film, URL: http://www. textezumfilm. de/ sub_ detail. php? id= 1235, Zugriff am 27. November 2017. 207 Vgl. ebd.
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den Konflikt, inwiefern man zu den Filmfiguren Nähe aufbauen und sich mit diesen jungen Protagonisten identifizieren darf, waren sie doch Nazis und haben furchtbare Verbrechen begangen. 208 Drehbuchautor Kolditz wiederum ist Jahrgang 1956, deutlich älter als Regisseur Kadelbach, und neben Produzent Nico Hofmann der eigentliche Kopf hinter Unsere Mütter, unsere Väter. Sicher hat auch seine Sozialisierung in der DDR dazu beigetragen, wie er mit der nationalsozialistischen Vergangenheit umgeht. Wie Lepsius feststellt, wurde dort „[d]er Nationalsozialismus [. . . ] über die Kategorie des Faschismus universalisiert“ 209. Acht Jahre lang hat Kolditz auf der Basis von Familiengeschichte – sein Vater, der DEFA-Regisseur Gottfried Kolditz, war selbst im Krieg und hat darüber auch mit dem Sohn gesprochen – und Erinnerungsdokumenten (Tagebücher, Erinnerungen, Berichte von Soldaten, Forschungsarbeiten usw.) die fünf Biografien von Greta, Charlotte, Viktor, Wilhelm und Friedhelm konstruiert. 210 Nicht zu übersehen ist, dass die in der Filmvermarktung herangezogenen Biografien von Regisseur Kadelbach, Drehbuchautor Kolditz und Produzent Hofmann auch exemplarisch für drei verschiedene Ansätze im Umgang mit der Vergangenheit stehen. Während die zweite Generation der Söhne und Töchter, wie Hofmann oder Kolditz heute Vergangenheitsdeutungen aus Ost- und Westdeutschland konsolidieren muss und sich der Vergangenheit der Eltern stellt, nähert sich die dritte Generation der Enkelinnen und Enkel aus gesamtdeutscher Perspektive der Vergangenheit ihrer Großelterngeneration, die nicht mehr oder nur noch für einen begrenzten Zeitraum für einen Austausch zur Verfügung steht. Kadelbach, Kolditz und Hofmann kommt somit gewissermaßen eine Vorbildfunktion für die Zuschauer der Zielgruppe in Deutschland zu. Wie auch bei Unser letzter Sommer und Warschau ’44 begannen die Vorarbeiten an dem Projekt Unsere Mütter, unsere Väter also bereits sehr viel früher. Regisseur Kadelbach, dessen Person in der Produktion und vor allem der Rezeption des Films letztendlich eine gewichtige Rolle spielte, stieß aber erst im März 2011 hinzu, um den vormals eingeplanten Regisseur Lars Becker, Jahrgang 1954, zu ersetzen. 211 Der Glaubwürdigkeit Kadelbachs als Filmemacher, der aus persönlicher, privater Motivation handelt und erzählt, tut dieser kleine Schönheitsfehler jedenfalls im Hinblick auf seine Funktion im Vermark208 Vgl. Hanfeld, Darf ich zu diesen Figuren Nähe aufbauen? 209 Lepsius, Das Erbe des Nationalsozialismus, S. 251. 210 Vgl. Jürn Kruse. 2013. „Noch eine letzte Party.“ taz, 17. März 2013, URL: http://www. taz. de/ !5071215/ , Zugriff am 27. November 2017. 211 Vgl. ZDF. 2009. „‚Unsere Mütter, unsere Väter‘ – Leben und Überleben im Krieg / ZDF und teamWorx verfilmen dreiteiliges Kriegsdrama / Regie führt Lars Becker, Autor ist Stefan Kolditz.“ Presseportal, 20. Juli 2009, URL: https://www. presseportal. de/ pm/ 7840/ 1443406, Zugriff am 8. Februar 2018.
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tungsprozess keinen Abbruch. Ein Blick in die Filmografie Kadelbachs, der eigentlich aus dem Werbefilmfach stammt, macht aber schnell deutlich, dass er auf dem Gebiet des Erinnerungsfilms ohnehin kein unbeschriebenes Blatt ist. Auch für die Neuverfilmung des Klassikers Nackt unter Wölfen (2015 – abermals mit Stefan Kolditz und Nico Hofmann) oder Hindenburg zeichnet er verantwortlich. Anders als bei Erzählungen „am Familientisch“, wo kritische Aspekte zugunsten einer harmonischen Atmosphäre und auch des Selbstschutzes als Mitglied dieser Familie nicht angesprochen werden, ist es in der Kunst durchaus möglich, auch kritische Aspekte der eigenen Familiengeschichte zu adressieren. 212 Endlich das vermeintliche Schweigen in Deutschland zu durchbrechen und quasi in letzter Minute den Austausch der Enkelinnen und Enkel über den Zweiten Weltkrieg mit ihren Großeltern zu ermöglichen, dafür wollte Unsere Mütter, unsere Väter eine Grundlage bieten. Immer wieder wurde dieser Punkt in der Vermarktung als zentrales Anliegen beschworen. 213 Das Problematische ist, dass die Macher hinter diesem Versprechen zurückbleiben. Unter den fünf jungen Menschen, denen die Handlung des Films folgt, findet sich kein einziger glühender Verehrer der nationalsozialistischen Ideologie. Zwar wird sehr schonungslos gezeigt, wie Krieg die Jugend verroht, exemplarisch dargestellt an der Figur des Friedhelm, aber es schwingt eine Passivität mit, die Friedhelm, Wilhelm, Greta, Charlotte und Viktor jegliche größere Handlungsmöglichkeit abspricht und sie als Spielball der Geschichte darstellt. Zwar werden die exemplarischen Großmütter und Großväter im Film nicht zu heldenhaften Widerstandskämpfern gemacht, aber es wird eben auch nicht die Deutungsmöglichkeit eröffnet, dass einige (und nicht nur einige wenige) von ihnen überzeugte Nationalsozialisten gewesen sein müssen. Stattdessen bleiben sie Opfer der Umstände, deren Opportunismus und deren Kriegsverbrechen den äußeren Gegebenheiten und Zwängen der Kriegszeit geschuldet sind. 214 Die Problematik der Generation der Kriegsenkel beschäftigt auch die Wissenschaft. Sicherlich eines der bekanntesten Werke ist Harald Welzers
212 Vgl. Reinecke & Feddersen, Das ist unser Familienerbe. 213 Siehe auch die Pressemappe des ZDF zu Unsere Mütter, unsere Väter, ZDF Presse, Unsere Mütter, unsere Väter. Dreiteiliger Fernsehfilm, S. 3. Dass die mediale Rezeption entsprechend war, zeigen unter anderem Artikel aus Frankfurter Allgemeine Zeitung, Tagesspiegel oder Spiegel, vgl. bspw. Schirrmacher, Die Geschichte deutscher Albträume; Pohlmann, Wir verharmlosen nichts; Roman Leick. 2013. „Die Wunde der Vergangenheit.“ Der Spiegel, Nr. 13/2013, S. 134–138. 214 Auf die Jugend im Fokus als Erzählstrategie wird im nächsten Abschnitt noch eingegangen. Ähnliche Motive lassen sich auch in Unser letzter Sommer ausmachen.
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Studie zum Nationalsozialismus im Familiengedächtnis, die unter Mitarbeit von Sabine Moller und Karoline Tschuggnall 2002 unter dem Titel „Opa war kein Nazi“ Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis 215 veröffentlich wurde. Angehörigen der dritten Generation ist demnach sehr wohl bekannt, dass der Holocaust und der Zweite Weltkrieg in Deutschland zu den schlimmsten Verbrechen der Menschheit zählen. Dennoch wird das Bild der eigenen, geliebten Familienmitglieder, die damals lebten, nicht unbedingt kritisch hinterfragt, sondern der eigene Großvater als einziger rechtschaffener Bürger dieser Zeit erinnert. Diese apologetischen Deutungsmuster finden sich auch in Unsere Mütter, unsere Väter. Aleida Assmann allerdings zweifelt an, dass die Ergebnisse, die Welzer in seiner Studie erlangt hat, repräsentativ dafür sind, wie Familien ohne Anwesenheit Dritter über den Krieg sprechen. 216 Ebenjenen Anspruch auf Repräsentativität aber erhebt Kadelbachs Miniserie, die zu genau diesem intergenerationellen Austausch am Familientisch anregen will und auch mit den persönlichen Erfahrungen der Filmemacher dafür wirbt, den Dialog mit der Erlebnisgeneration zu suchen. Aber auch populärwissenschaftlichere Abhandlungen wie Sabine Bodes Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation 217, die 2009 erschien und mittlerweile ihre 23. Auflage erreicht hat, zeugen von einem ungemeinen Interesse an dieser Thematik in Deutschland. Dieses Interesse lässt sich bis in die späten 1960er zurückverfolgen, als Alexander und Margarete Mitscherlich in Die Unfähigkeit zu trauern den Umgang mit dem deutschen Trauma des Krieges auflagenstark bearbeiteten. 218 Dass Familiengeschichte gerade besonders häufig Anlass für Filmprojekte wird und dabei vermehrt apologetische Erzählmuster zum Tragen kommen, ist auch übergreifenden Trends in der Erinnerungskultur zuzuschreiben, die nicht nur von der Generation der Enkelinnen und Enkel ausgehen, sondern auch von der Erlebnisgeneration selbst. Erinnerungsfilme sind immer auch Ausdruck bestimmter zeitgenössischer Erinnerungskonjunkturen: Family memory is breaking through with increasing force. After all, the intention of returning to the past expressed at the level of cultural memory
215 Vgl. Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschugnall. 2015. „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. 9. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer. 216 Aleida Assmann im Interview, vgl. Reinecke & Feddersen, Das ist unser Familienerbe. 217 Sabine Bode. 2012. Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation. 9. Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta. 218 Alexander Mitscherlich und Margarete Mitscherlich. 2012. Die Unfähigkeit zu trauern: Grundlagen kollektiven Verhaltens. 23. Auflage. München: Piper.
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is consistent – seventy years after the war ended – with the impulse of the wartime generation to bring more coherence to their own life experiences. 219
Dass diese persönlichen Erinnerungen mittlerweile auch im Fokus filmischen Erinnerns stehen, belegt laut Beate Schlanstein den dynamischen Charakter gefühlter Authentizität, die derzeit stark von Emotionalität beherrscht werde. 220 Dem Privaten – beispielsweise in Form von persönlichen Fotos, Tagebüchern, Feldpostbriefen usw. – wird eine besondere Bedeutung beigemessen. 221 Dieser Trend, „die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zu personalisieren und zu privatisieren“, 222 etwa durch eine stark subjektivierte Narration und Inszenierung, lässt sich sowohl in Polen als auch in Deutschland beobachten und wird durch die Verknüpfung der Lebens- und Familiengeschichten der Mythenmacher mit der Vergangenheit im Film auch in der Vermarktung 223 von Erinnerungsfilmen nutzbar gemacht. Diese Tendenz der Personalisierung oder auch Anthropologisierung gilt aber nicht nur für den Film, sondern auch für die Geschichtswissenschaften im Allgemeinen. Wenn auch die Beispiele von Rogalski und Kadelbach sich durch den familiengeschichtlichen Bezug als Beispiele aufdrängen, so schlagen sich diese Züge einer Individualisierung der Geschichte natürlich auch in der Verfilmung einer authentischen Biografie wie in Die verlorene Zeit von Anna Justice nieder, auch wenn die Regisseurin in diesem Fall keinen persönlichen Bezug zur dargestellten Geschichte hat. Dass die Filmemacher als Vertreterinnen und Vertreter der dritten Generation, einer Generation Postmemory, sprechen, ist ebenfalls den Konjunkturen der Erinnerungskultur geschuldet. Während die Erlebnisgeneration des Zweiten Weltkriegs langsam verschwindet, treten nicht nur in Bezug auf den Erinnerungsfilm Schritt für Schritt die Enkelinnen und Enkel an die Stelle ihrer Großeltern, um Zeugnis über ihre Familiengeschichte abzulegen. Die eben erwähnte Anna Justice ist eine deutsche Regisseurin, die sich scheinbar ohne jeglichen familiären Bezug zur deutsch-polnischen Thematik einem deutsch-polnischen Erinnerungsthema gewidmet hat. Die Filmemacherin, Jahrgang 1962, hat als Legitimation ihrer Rolle als Mythenmacherin des Films Die verlorene Zeit keine entsprechende eigene Familiengeschichte vorzuweisen, über die sie einen Vertrauensvorschuss des Publikums erlangen und eine Grundlage für die empfundene Au-
219 220 221 222 223
Korzeniewska & Korzeniewski, Personalization of Memory, S. 153. Vgl. Schlanstein, Echt wahr! Annäherungen an das Authentische, S. 219. Vgl. ebd., S. 220. Korzeniewska, Liminalität und Post-Erinnerung, S. 182. Es wäre aber sicherlich falsch, die Motivation der Filmemacher hierauf zu reduzieren.
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thentizität des filmischen Narrativs legen könnte. Der Film erzählt die Geschichte des Polen Tomasz Limanowski, der sich im Konzentrationsund Vernichtungslager Auschwitz in die Jüdin Hannah Silberstein verliebt und mit ihr gemeinsam aus dem Lager flieht. In den Wirren des Krieges verlieren sich die beiden: Tomasz kehrt von einem Besuch bei seinem Bruder Czesław, der Mitglied der Heimatarmee ist, nicht zurück. Hannah macht sich im eisigen Winter allein auf den Weg nach Westen. Tomasz Mutter, die über die Beziehung zur Jüdin Hannah nicht glücklich ist und diese zwischenzeitlich an die Deutschen zu verraten versucht, verhindert ein Wiedersehen, indem sie Tomasz glauben macht, dass Hannah gestorben sei. Viele Jahre später sieht Hannah, die mittlerweile in New York lebt, ein Interview mit dem totgeglaubten Tomasz im Fernsehen und nimmt Kontakt mit ihm auf. Drei Jahrzehnte nach ihrer gemeinsamen Flucht treffen sich die beiden schließlich im Polen der Volksrepublik wieder. Die literarische Vorlage für das Drehbuch, nämlich die autobiografische Erzählung des polnischen Auschwitzüberlebenden Jerzy Bielecki, hilft, die fehlende persönliche Betroffenheit der Filmemacherin zu überbrücken. Ähnlich wie Kadelbach verarbeitet Justice also in ihrem Film ein fremdes Drehbuch, darüber hinaus aber auch gänzlich fremde Erinnerungen, die sie sich nicht durch familiäre Verknüpfungen zu eigen machen kann. Ganz nebenbei entsteht durch die Verknüpfung einer polnischen Autobiografie, die von einer deutschen Filmemacherin inszeniert wird, ein Raum für die Transnationalisierung der Erinnerung. Justice stützt sich dabei auf teilreale Figuren, die das Gezeigte tatsächlich durchlebt haben. Insofern ist Justice anders als Rogalski, Komasa oder Kadelbach auch weniger frei in der Ausgestaltung ihrer Geschichte und notwendigerweise potenziell anderen Zwängen unterworfen, wenn es um die Wahrhaftigkeit der filmischen Repräsentation geht. Trotz fehlender Enkelinnenbiografie waren es aber auch im Fall von Die verlorene Zeit Aspekte, die in der Person der Regisseurin begründet lagen, die eine Platzierung des Films als deutsch-polnischen Erinnerungsfilm ermöglichten. Anna Justices persönliche Motivation ist klar von einem Sendungsbewusstsein getrieben, die deutsche und polnische Erinnerungskultur füreinander zu sensibilisieren, vor allem aber positive Erinnerungsorte der polnischen Erinnerungskultur in Deutschland bekannter zu machen: Eine zentrale Frage, die mich während der Arbeit am Film vor allem beschäftigt hat, war die der Authentizität, denn der Film hat einen historischen Hintergrund und der sollte gebührend dargestellt werden. Die Geschichte ist von wahren Begebenheiten inspiriert, wir haben aber auch Versatzstücke anderer Biographien (die wir durch Recherche fanden) in die Charaktere eingearbeitet. Durch die Recherche erfuhr ich darüber hinaus viel über polnische Zivilisten, sowohl innerhalb, als auch außerhalb der Lager, über die
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Qual durch die deutsche Besatzung, über zwanghafte Kollaboration unter lebensbedrohlichen Umständen, und vor allem über den bewundernswerten Mut der Polen. In deutschen Filmen wurde all dem bisher nicht viel Beachtung geschenkt. Ich hatte es mir zum Ziel gesetzt, so viel wie möglich davon im Film zu erzählen, wann immer die Geschichte sich gewissermaßen dafür anbot. 224
Anders als Rogalski, Komasa oder Kadelbach ist Justice keineswegs dem Feld des Erinnerungsfilms verschrieben – im Gegenteil. In der öffentlichen Wahrnehmung wurde Justice im Nachgang an die Ausstrahlung von Die verlorene Zeit dennoch als prominente Grenzgängerin gesehen, die mit ihrem Filmprojekt ihren Teil zur deutsch-polnischen Verständigung beiträgt. In einer Reihe des Nachrichtenportals für Brandenburg, der Märkischen Online Zeitung, wird Justice in einer Reihe über prominente Persönlichkeiten vorgestellt, die einen Beitrag zum deutsch-polnischen Dialog leisten. 225 In Justice haben die Dreharbeiten zum Film eine gewisse Begeisterung für Polen entfacht, die im Nachbarland auf viel Verwunderung stieß, ihr aber auch viele Türen öffnete. Sie könne sich sogar vorstellen, in Polen zu leben, berichtete die Regisseurin „über ihre neue, große Liebe zu Polen“. 226 Das Interview entstand im Kontext einer Schulkinofilmvorführung vor deutschen und polnischen Schülerinnen und Schülern in Berlin. Bei den Schülern kam der Film gerade deswegen gut an, „weil es in der Geschichte diesmal nicht in erster Linie um den Holocaust, sondern um eine dramatische Liebesgeschichte geht“. 227 In Polen ließ sich für den Film allerdings kein Filmverleiher finden. Dennoch erreichte mit Die verlorene Zeit die von einer deutschen Filmemacherin verfilmte Lebensgeschichte eines Polen ein transnationales Publikum und wurde unter anderem in den USA gezeigt. Familiengeschichte scheint trotz einiger Gegenbeispiele eines der verbindenden Elemente zu sein, das die jungen Mythenmacher zu Beginn des 21. Jahrhunderts antreibt. Das gilt gleichsam für Deutschland und für Polen. Dabei ist es augenscheinlich für die erfolgreiche Aneignung des
224 Anna Justice in Sandra Lindenberger. Hrsg. 2011. Presseheft „Die verlorene Zeit“, Hamburg: fp frontpage communications GmbH, S. 9. 225 Corinna Philipps und Beate Pfeiffer. 2012. „Anna Justice: Liebe auf den ersten Blick“, Märkische Online Zeitung, 14. Mai 2012, URL: http://www. moz. de/ artikel- ansicht/ dg/ 0/ 1/ 1020997, Zugriff am 23. August 2017. 226 Ebd. – Angesichts der Tatsache, dass Justice seit Die verlorene Zeit aber anders als angekündigt kein deutsch-polnische Projekt mehr realisiert hat, muss vielleicht auch diese Aussage wohl im Sinne Klaus Bachmanns als die Filmvermarktung begleitender Versöhnungskitsch gewertet werden. Das Thema Versöhnungskitsch wird in Kapitel 4 noch eine Rolle spielen. 227 Ebd.
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Themas und eine Identifikation mit dem filmischen Narrativ weniger relevant, ob die Filmemacher das Drehbuch zum Film tatsächlich selbst verfasst haben (Rogalski, Komasa), oder nur den Part des Regisseurs übernommen haben und sich inhaltlich auf ein bestehendes Drehbuch stützen (Kadelbach). Eine Verknüpfung mit der eigenen Familiengeschichte kann trotzdem fruchtbar gemacht werden, insbesondere im Kontext der Authentifizierung der Vergangenheitsbilder im Film. Diese Entwicklung trägt ein Moment der Transnationalisierung in sich, erhält doch so die mediale Aufarbeitung der Familiengeschichte, d. h. eine private, polnische Erzählung Einzug in deutsche Kinosäle, und können sich polnische Zuschauerinnen und Zuschauer deutsche Familienerinnerungen im heimischen Wohnzimmer ansehen. Auch wenn dieser Prozess natürlich nicht direkt zu einer Transnationalisierung der Erinnerungskultur dies- und jenseits der Oder führt, schafft er sehr wohl einen indirekten Erfahrungs- und Aushandlungsraum transnationaler Vorstellungen über die Geschichte durch den direkten Kontakt mit den Vergangenheitsbildern des Anderen. Ein weiterer Faktor in dieser Entwicklung ist die gesellschaftliche Struktur des Einwanderungslandes Deutschland, das ohnehin vor der Aufgabe steht, verschiedene historische Narrative zu konsolidieren und für Menschen, die in anderen nationalen Kontexten sozialisiert wurden, anknüpfungsfähig zu machen. An dieser Stelle soll nicht unerwähnt bleiben, dass laut Mikrozensus 2014 jeder 10. Mensch mit Migrationshintergrund in Deutschland Verbindungen mit Polen hat. 228 Es ist daher nicht nur eine durch die direkte Nachbarschaft zu Polen bedingte Aufgabe, Anknüpfungspunkte für polnische Familiengedächtnisse in Deutschland zu schaffen und die verschiedenen Narrative zu konsolidieren. Neue Aushandlungsräume für die deutsch-polnische Geschichte entstanden aber auch durch das Ende des Kommunismus, das in Polen neue Vergangenheitsdeutungen möglich und nötig machte und den Boden für einen anderen Austausch zur Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs mit Deutschland bereitete 229 Diese gesamtgesellschaftlichen Prozesse haben notwendigerweise auch Einfluss auf die Arbeit junger Filmemacher in Deutschland und Polen, die in diesen neuen Kontexten aufwuchsen und ihren Platz finden müssen.
228 Vgl. Statistisches Bundesamt. 2017. Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2014. URL: https://www. statistischebibliothek. de/ mir/ receive/ DEHeft_ mods_ 00030531, Zugriff am 9. Mai 2021, S. 7. 229 An dieser Stelle soll nicht unerwähnt bleiben, dass auch Deutschland mit der DDR eine kommunistische Vergangenheit hat – nur mussten oder durften diese „Neuen Bundesländer“ gar nicht erst nach einer konsolidierten Version der Vergangenheitsdarstellung suchen, weil ihnen das westdeutsche Narrativ gewissermaßen mit der Wiedervereinigung Deutschlands übergestülpt wurde – ob es nun passte oder nicht.
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2.2.3 Historical Correctness – Political Correctness Eine vielzitierte Aussage des Holocaustforschers Raul Hilberg lautet, dass der Holocaust in Deutschland Familiengeschichte sei. Dennoch sprechen in den heutigen Erinnerungsfilmen zum Zweiten Weltkrieg, die in den letzten Jahren in Deutschland produziert worden sind, nicht nur die Täterenkel. Vielmehr ist die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Der ehemalige deutsche Innenminister Thomas de Maizière erklärte 2016 das Erinnern an den Holocaust zu einem Teil der deutschen Leitkultur, der alle Menschen etwas angehe, die in Deutschland leben wollen. 230 Viele der Konflikte zwischen Polen und Deutschland sind auch heute begründet im Aufeinanderprallen „nationaler Interessen, deren Quellen in einer hybriden Vergangenheit“ verortet sind. 231 Diese konkurrierenden Vergangenheitsbilder konstituieren nach wie vor „einen wichtigen Faktor der aktuellen Politik“. 232 In der Tat dürfte es schwerfallen, „to imagine finding a similar case in Europe, in which the relationship between two nations is so firmly anchored in memories originating in the period between the end of the 19th and the beginning of the 20th century“. 233 Das „richtige“ Erinnern an den Zweiten Weltkrieg in einem deutsch-polnischen Kontext ist also nicht nur eine Frage der historical, sondern auch der political correctness. Das persönliche Sendungsbewusstsein der Mythenmacher wurde bereits im vorangegangenen Kapitel thematisiert. Ihr Interesse gilt nicht nur einer historical correctness, der sie sich durch den Authentizitätspakt mit dem Publikum und eigenen, moralischen Ansprüchen verpflichtet fühlen, sondern sie sind beinahe gleichermaßen um eine political correctness bemüht. Das verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass Vergangenheitsbilder immer aus einer Gegenwartsperspektive konstruiert werden, das heißt aktuellen geschichts- und erinnerungspolitischen Konjunkturen folgen. 234 Mit der Zeit hatte sich ein gewisser transnationaler Konsens zur 230 Vgl. ZEIT Online. 2016. „De Maizière fordert von Flüchtlingen Offenheit.“ ZEIT Online, 2. Dezember 2016, URL: http://www. zeit. de/ politik/ deutschland/ 2016- 12/ fluechtlinge- integration- thomas- de- maiziere- offenheit- grundgesetz- holocaust, Zugriff am 8. Februar 2018. 231 Traba, Wie bestimmt die Geschichte die nationalen Erinnerungs- und Gedenkkulturen in Deutschland und Polen? S. 28. 232 Ebd. 233 Oliver Schmidtke. 2005. „Re-modelling the Boundaries in the New Europe: Historical Memories and Contemporary Identities in German-Polish Relations.“ In: Collective memory and European identity: the effects of integration and enlargement. Herausgegeben von Klaus Eder und Willfried Spohn, Aldershot: Ashgate, S. 69–86, hier: S. 71. 234 Wie Jeffrey K. Olick es treffend beschreibt: „the past is remade in the present for present purposes“. Jeffrey K. Olick. 1999. „Collective Memory: The Two Cultures.“ So-
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Erinnerung an den Holocaust etabliert, der auch die kritische Betrachtung der Rolle der eigenen Nation und mögliche individuelle und institutionelle Fälle der Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Regime in Deutschland beinhaltete. Auch in polnischen Spielfilmen wurde dieser Aspekt verarbeitet. Einen „Versuch der Entmythologisierung des Bildes vom ‚guten Polen‘“ wagte beispielsweise der Film Wyrok na Franciszka Kłosa (Urteil über Franciszek Kłos, 2000), der sich mit der „Kollaboration eines polnischen Polizisten mit den Nazis“ befasste. 235 „Die Bereicherung des Wissens über den Zweiten Weltkrieg um neue Inhalte, wie beispielsweise die polnische Täterschaft am Massaker in Jedwabne, bringt eine signifikante Korrektur des Bilds der Polen als Opfer mit sich“, wie Korzeniewska befindet. 236 Inwiefern das am 26. Januar 2018 in Polen beschlossene, höchst umstrittene Gesetz zur Novellierung des Instituts für Nationales Gedenken (Instytut Pami˛eci Narodowej – IPN) diesen Konsens und somit das Innovationspotenzial von Spielfilmproduktionen in Polen, aber auch grenzübergreifend beschneiden wird, bleibt abzuwarten. Das neue Gesetz sollte zunächst unter Strafe stellen, Polen der Mittäterschaft in Bezug auf die Verbrechen des „Dritten Reiches“, also der Kollaboration, zu beschuldigen – weltweit. Bei Verstößen sollte eine bis zu dreijährige Haftstraft drohen. Präsident Morawiecki lenkte schließlich unter dem politischen Druck, vor allem aus Israel, ein. Am 26. Juni 2018 wurden die umstrittenen Artikel 55a und 55b aus dem Gesetz gestrichen. 237 Konkret ging es bei dem Gesetz auch um die vor allem im Ausland häufig falsch verwendete Bezeichnung „polnische Konzentrationslager“, mit der die deutschen Konzentrationslager im besetzten Polen gemeint sind. 238 Die Reaktionen
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ciological Theory, Vol. 17, Nr. 3 (Nov., 1999), S. 333–348; hier: S. 341. Vgl. bspw. auch Karl-Ernst Jeismann. 1977. „Didaktik der Geschichte. Die Wissenschaft von Zustand, Funktion und Veränderung geschichtlicher Vorstellungen im Selbstverständnis der Gegenwart.“ In: Geschichtswissenschaft: Didaktik, Forschung, Theorie. Herausgegeben von Erich Kosthorst und Karl-Ernst Jeismann, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 9–33; sowie Jörn Rüsen. 2002. „Kann gestern besser werden? Über die Verwandlung der Vergangenheit in Geschichte.“ Geschichte und Gesellschaft, 28. Jg., H. 2, S. 305– 321. Korzeniewska, Liminalität und Post-Erinnerung, S. 174. Ebd., S. 209. Vgl. bspw. Philipp Fritz. 2018. „Morawiecki entschärft das Holocaust-Gesetz.“ Welt.de, 28. Juni 2018, URL: https://www . welt . de / print / die _ welt / politik / article178360548 / Morawiecki - entschaerft - das - Holocaust - Gesetz . html, Zugriff am 23. Juni 2019. Für die ursprünglich beschlossene Form von Artikel 55 des IPN-Gesetzes siehe auch Kancelaria Sejmu. 2018. USTAWA z dnia 26 stycznia 2018 r. o zmianie ustawy o ´ Instytucie Pami˛eci Narodowej – Komisji Scigania Zbrodni przeciwko Narodowi Polskiemu, URL: http://prawo.sejm.gov.pl/isap.nsf/download.xsp/WDU20180000369/T/ D20180369L. pdf, Zugriff am 23. Juni 2019. Die Änderung aus dem Juni 2018 findet
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auf das neue Gesetz, das schon lange im Vorfeld heftig diskutiert worden war, fielen sehr unterschiedlich aus. Während der damalige deutsche Außenminister Sigmar Gabriel seine Unterstützung signalisierte, reagierten die israelische und US-amerikanische Regierung mit Unverständnis. Zwischen Polen und Israel kam es zu einer diplomatischen Krise, innerhalb derer die israelische Seite heftig kritisierte, dass der in Polen damals (und heute) grassierende Antisemitismus, der Verrat an polnischen Nachbarn vor und nach dem Zweiten Weltkrieg negiert werde. 239 Auch wenn wissenschaftliche und künstlerische Abhandlungen von Anfang an vom neuen Gesetz ausgenommen sein sollten, dürfte das veränderte Klima das Entstehen von Filmen, die einen kritischen Umgang mit der nationalen Geschichtsdeutung und gängigen Stereotypen anstreben, wie Rogalskis Unser letzter Sommer, Pawlikowskis Ida oder Pokłosie aus der Feder Władysław Pasikowskis erschweren, der mit seinem Skandalfilm basierend auf Jan Tomasz Gross’ Erkenntnissen zu Jedwabne die Erzählung Polens als einem auserwählten Land infrage stellen wollte: Und unsere Nation ist weder auserwählt, noch kalt, noch schmutzig, sondern schlicht und ergreifend gewöhnlich, vielfältig, wie alle um uns herum, unsere und andere. [. . . ] Sowohl Cedynia, als auch Grunwald, als auch Kopernikus, als auch Niewiadomski, als auch Jedwabne sind unsere Geschichte. Dank ihr sollen wir besser, klüger, offener, toleranter und endlich glücklicher sein. Die Vorbilder aus der Geschichte – gute wie schlechte – sind gleichermaßen wichtig und lehrreich, falls jemand sie gegeneinander aufwiegen und daraus lernen will. 240
Spürbar ist wie auch bei den zuvor betrachteten Beispielen Rogalskis, Komasas, Kadelbachs oder Justices, dass auch Pasikowski eine gewisse moralische Mission antreibt, veraltete Stereotype zu hinterfragen und wo notwendig im Sinne aktuellster geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse zu korrigieren – selbst oder gerade auch wenn dies den Konventionen der nationalen Erinnerungskultur widerspricht. So zumindest lautet die im Zuge der Vermarktung der Erinnerungsfilme verbreitete Erzählung über die Mythenmacher. Sie alle sind nicht nur auf der Suche nach einer historical correctness, sondern auch nach einer political correctness. Zweifelsohne bedingen sich diese beiden Ebenen gegenseitig und sind gesellschaftlisich hier: Kancelaria Sejmu. 2018. Rzadowy ˛ projekt ustawy o zmianie ustawy o Insty´ tucie Pami˛eci Narodowej – Komisji Scigania Zbrodni przeciwko Narodowi Polskiemu oraz ustawy o odpowiedzialno´sci podmiotów zbiorowych za czyny zabronione pod gro´zba˛ kary. Druk nr 2663, URL: http://sejm. gov. pl/ Sejm8. nsf/ druk. xsp? nr= 2663, Zugriff am 23. Juni 2019. 239 Auf der Münchner Sicherheitskonferenz verstieg sich Ministerpräsident Morawiecki sogar zu der Aussage, es habe auch jüdische Täter gegeben. 240 Subbotko, Pasikowski: Nasz naród nie jest wybrany.
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chen Konjunkturen unterworfen. Aber was diese Korrektheit beinhaltet, das definiert Polens regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwo´s´c – PiS) derzeit unter den Augen der Weltgemeinschaft neu. Außerhalb der Reichweite der Politik aber ist und bleibt das Familiengedächtnis der Ort, der schon während der Zeit des Kommunismus in Polen dazu diente, auch in der Gesellschaft öffentlich tabuisierte Themen zu adressieren und Erinnerungen zu tradieren. Und so ist es nicht verwunderlich, dass es neben der öffentlichen historischen und politischen Sphäre auch oder vielleicht gerade diese sehr private Ebene ist, die junge Filmemacher heute in Deutschland und Polen antreibt und ihre Arbeit prägt.
2.3 Die Mythenmittler: Schauspieler in der Aneignung von Geschichte Den Filmemachern als Enkel der Erlebnisgeneration kommt eine bedeutsame Rolle zu, schließlich sind sie es, die die Geschichte ihrer Großväter und Großmütter im Spielfilm zu Erinnerungsfilmen verarbeiten und somit wichtige Dokumente schaffen, die schon heute eine herausragende Rolle in der Vermittlung von Geschichte einnehmen. Ein noch so gutes Drehbuch aber könnte seinen Zauber auf der Leinwand kaum ohne talentierte Schauspielerinnen und Schauspieler entfalten, die dem Publikum mit ihrer Interpretation der historischen Figuren erst ein Nacherleben der Vergangenheit ermöglichen. In Anlehnung an den Begriff Mythenmacher möchte ich sie deswegen Mythenmittler nennen und ihren Beitrag zur Aneignung von Geschichte im Film im Folgenden genauer beleuchten. In der von Rainer Gries und Silke Satjukow durchgeführten Studie zur Para-Historie 241 setzten die Autoren, wie bereits erwähnt, einen Schwerpunkt auf Jugendliche als Zielgruppe sowie die Schauspieler als zentrale Akteure der Erinnerungsfilme. Für die hier angestellten Überlegungen aber war das interessanteste Ergebnis der Untersuchung, dass Schauspieler Zeitzeugen ersetzen. Diese Entwicklung ist natürlich nicht ganz unproblematisch, weil die Person und Biografie des Schauspielers und der porträtierten Charaktere miteinander verschwimmen. 242 So werden beispielsweise für die jugendlichen Zuschauer die positiv besetzte Person des Schauspielers, eines Publikumslieblings, und seiner Filmrolle, eines sadistischen SS-Mannes, nicht mehr ohne Weiteres trennbar und letztere historische Figur kann beim Publikum unverhofft wie unverdient an Sympathie gewinnen. 241 Vgl. Satjukow & Gries, Hybride Geschichte und Para-Historie. 242 Vgl. ebd., S. 16 f.
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Aber die Strahlkraft prominenter Mimen überdeckt nicht nur die Charaktereigenschaften der im Film porträtierten, fiktiven Zeitzeugen. Nein, die Grenzen zwischen der Person des Schauspielers und der Filmrolle können unter bestimmten Umständen so stark verschwimmen, dass die Darsteller sich selbst mit ihrer Rolle so stark identifizieren und in dieser Identifikation von der Öffentlichkeit bestätigt werden, dass sie sogar die echten Zeitzeugen in den Hintergrund treten lassen können. Rainer Gries zeigt dies eindrucksvoll am Beispiel der echten Zeitzeugin Marga Spiegel, deren Geschichte in Unter Bauern – Retter in der Nacht erzählt wird, und der Darstellerin der Marga Spiegel in ebenjenem Film, nämlich der Schauspielerin Veronica Ferres. Beide Frauen waren in einer Talkrunde bei Reinhold Beckmann zu Gast, während derer deutlich wurde, wie sehr Veronica Ferres durch ihre Filmrolle selbst zur Marga Spiegel, selbst zu einer Zeitzeugin geworden ist – obgleich die echte Marga Spiegel neben ihr im Studio saß. 243 Zwar findet sich kein derart eklatantes Beispiel bei den drei hier näher betrachteten Spielfilmen, sind doch die Filmfiguren alle fiktional und schließen somit ein Zusammentreffen von Schauspieler und echter historischer Person aus. Dennoch gibt es deutliche Hinweise, dass auch die Darstellerinnen und Darsteller aus Unser letzter Sommer, Warschau ’44 und Unsere Mütter, unsere Väter für sich „eine Form von Testimonialität und Authentizität“ 244 reklamieren. Die Schauspieler werden, wenn man so möchte, zu neuen wenngleich fiktiven Zeitzeugen erhoben. 245
2.3.1 Fiktive Zeitzeugenschaft der Generation Postmemory Eine der größten Herausforderungen, vor denen unsere Gesellschaft an der oft beschworenen Grenze zwischen dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis steht, nämlich an dem Punkt, an dem die Erlebnisgeneration langsam, aber unausweichlich verschwindet, ist die Frage, wie ihre Geschichte künftigen Generationen vermittelt werden kann, wenn die echten Zeitzeugen selbst nicht mehr Zeugnis ablegen können. Die Lösung bietet der moderne Spielfilm, wie gerade skizziert, mit Ersatzzeitzeugen in Person der Schauspieler, die in der Filmrolle der Erlebnisgeneration deren
243 Vgl. Gries, Vom historischen Zeugen zum professionellen Darsteller, S. 49. 244 Ebd., S. 59. 245 Wie als Gegenbeispiel für den Trend des Ersatzes der Zeitzeugen die Ausgabe der Talkrunde Anne Will vom 29. Januar 2018 anlässlich des Jahrestages der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz zeigte, sind aber auch HolocaustZeuginnen noch sehr gefragt – hier die Überlebende Esther Bejarano.
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Geschichten auf dem Bildschirm wieder zum Leben erweckt. Die Struktur der Spielfilme befördert diesen Prozess. 246 Durch ihre vielschichtigen Ebenen der Zeitzeugenschaft, nämlich einer ererbten und einer fiktiven, erlangen die hier betrachteten Erinnerungsfilme ein hohes Maß an gefühlter Authentizität: Sie basieren auf vermeintlich biografischen Erzählungen aus den Familien der Filmemacher und werden von Darstellern in Szene gesetzt, die ihrerseits durch ererbte Traumata und das Verschwimmen von Fakt und Fiktion im Sinne einer Para-Historie für sich eine Zeugenschaft und Glaubwürdigkeit in ihrer fiktiven Rolle als Zeitzeugen beanspruchen. Auch in den vielen Talkrunden in Deutschland, die insbesondere die Ausstrahlung des als TV-Event lancierten ZDF-Mehrteilers Unsere Mütter, unsere Väter umrahmten, nahmen die Schauspieler auf dem Podium Platz. Die Schauspieler selbst werden integraler Bestandteil der Erinnerungsfilme, die ja erst in ihrem sozialen Kontext zu Erinnerungsfilmen werden. Das zeigt beispielsweise die Berichterstattung zu Unser letzter Sommer, deren wichtigstes Element wohl die Interviews mit den nationalen Publikumslieblingen und aufstrebenden Jungschauspielern waren, oder auch die Berichterstattung über die private Liebesgeschichte zwischen den Unsere Mütter, unsere Väter-Darstellern Volker Bruch und Miriam Stein, die auch im Film ein Paar darstellen. 247 Die Vermarktung der Filme funktioniert kaum mehr ohne Interviews mit den beteiligten Filmemachern und Darstellern, die nicht nur sehr engagiert über die Erfahrungen ihrer Filmfiguren berichten, sondern auch oftmals von anknüpfbaren Parallelen in der eigenen Familiengeschichte erzählen. Rainer Gries geht davon aus, „dass weniger das Genre einer Fernsehsendung die Wahrnehmung und die Intensität der Aneignung maßgeblich steuert, sondern die biographische Substanz einer Produktion“. 248 Diese ist bei den Filmemachern, aber auch bei den Schauspielern der Generation Postmemory in Deutschland gegeben. Dieser Trend hin zu einer Personalisierung unter Einbezug der Filmemacher und Schauspieler
246 Die Relevanz der Zeitzeugen im Aushandlungsprozess und in der Vermittlung von Vergangenheitsbildern ist nicht zu unterschätzen. Der Zeitzeuge macht dem Historiker gewissermaßen Konkurrenz, denn „[d]ie historische Fachwissenschaft hat in dieser Auseinandersetzung keine privilegierte Deutungsmacht mehr, sondern muss sich in einem Konzert vieler Akteure behaupten, in dem Zeitzeugen oft den Ton angeben“, wie Martin Sabrow befindet. Martin Sabrow. 2012. „Der Zeitzeuge als Wanderer zwischen zwei Welten.“ In: Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945. Herausgegeben von Martin Sabrow und Norbert Frei, Göttingen: Wallstein Verlag, S. 13–32, hier: S. 32. 247 Vgl. bspw. hier: FOCUS. 2013. „‚Unsere Mütter, unsere Väter‘-Stars sind ein Paar.“, FOCUS.de, 21. März 2013, URL: http://www. focus. de/ kultur/ kino_ tv/ miriam- steinund- volker- bruch- unsere- muetter- unsere- vaeter- stars- sind- ein- paar_ aid_ 944811. html, Zugriff am 27. November 2017. 248 Gries, Vom historischen Zeugen zum professionellen Darsteller, S. 61.
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zeigt sich ebenfalls, wenn auch weniger deutlich im polnischen Film. Auch hier spielen die Schauspieler vor allem für die Vermarktung und Rezeption des Films, aber auch für die Aneignung der Vergangenheitsbilder in ebenjenem eine große Rolle, allerdings scheinen sie sich noch ein bisschen weniger als Ersatzzeitzeugen zu begreifen, die im öffentlichen Diskurs an die Stelle der langsam verschwindenden Erlebnisgeneration treten. In den Interviews der Darsteller aus Warschau ’44 wird schnell deutlich, dass sie weder versuchen, diese Rolle einzunehmen, noch von Gesprächspartnern dazu gedrängt werden. Vielmehr wird die Problematik, den Warschauer Aufstand für die heutige Generation begreifbar zu machen, durch eine Unterstreichung der Zugehörigkeit der Schauspieler zum modernen Polen betont. 249 Situationen wie die von Rainer Gries beschriebene Verdrängung der echten Marga Spiegel durch die Marga-Spiegel-Darstellerin Veronica Ferres kommen so gar nicht erst zustande. Allgemein scheint es, dass gerade bei heikleren historischen Themen die Einschätzung von Experten, d. h. von Geschichtswissenschaftlern bedeutsamer ist als die der Schauspieler, wie beispielsweise die zahlreichen Experteninterviews zeigten. Besonders hervorzuheben ist in diesem Kontext eine Diskussionsrunde auf dem staatlichen, polnischen Fernsehsender TVP zu Unsere Mütter, unsere Väter, die ihrerseits in der Kritik stand, Zeitzeugen nicht angemessen eingebunden zu haben, und quasi allein auf wissenschaftliche Expertise setzte. Daran, dass es keine polnischsprachigen Beteiligten am Filmprojekt des ZDF gegeben hätte, die man hätte einladen können, kann es nicht gelegen haben: Mit Adrian Topol und Lukas Gregorowicz wirkten mindestens zwei prominente polnischstämmige Schauspieler an Unsere Mütter, unsere Väter mit. Es wäre sicher interessant gewesen, was sie zur kontroversen Darstellung der polnischen Heimatarmee zu sagen gehabt hätten. Ebenso wenig kann es an einer vermeintlichen Sprachbarriere gelegen haben: Für den deutschen Geschichtsprofessor Thomas Weber, der an der Talkrunde teilnahm, wurde eine Übersetzung bereitgestellt. 250 Der den Schauspielern als Teilnehmern historisch-thematischer Talkrunden beigemessene Wert scheint in Polen also eher gering. Wohlgemerkt wird Schauspielerinnen und Schauspielern aber trotzdem eine sehr wichtige Rolle in der Vermittlung von Vergangenheitsbildern zugebilligt, wie man an der Dynamik der Pressekonferenz auf den 40. Filmfestspielen
249 Echte Zeitzeugen kommen ebenfalls zu Wort, allerdings in der Regel in separaten Interviews. Vor allem im Kontext von Warschau ’44 wird deutlich, wie beinahe sakral die Zeitzeugen behandelt werden. 250 TVP. 2013. „Wojna o histori˛e.“ Na pierwszym planie, TVP, auf YouTube veröffentlicht am 21. Juni 2013, URL: https://www.youtube.com/watch?v=1258SM7aijg, Zugriff am 1. Oktober 2017.
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in Gdynia zu Unser letzter Sommer beobachten konnte. Der oben bereits erwähnte Reporter des Radiosenders Polskie Radio, Witold Banach, stellte den jungen Schauspielern die Frage, ob sie sich ihrer Rolle und der damit verbundenen Verantwortung bewusst seien. Filip Piotrowicz, der in Unser letzter Sommer die Hauptrolle des jungen Polen Romek spielt, und Urszula Bogucka, die die polnische Bauerntochter Franka mimt, antworteten beide kurz und provokant, dass sie sich dessen bewusst seien und auf die Effekte des Films warteten. Auch der deutlich ältere Bartosz Topa, der den zwielichtigen Charakter Leon spielt, pflichtet dem bei. 251 Der Konsens ist generationenübergreifend: Schauspieler begreifen sich auch in Polen als wichtige Akteure in der Vermittlung von Vergangenheitsbildern und werden mindestens von Teilen der Gesellschaft auch als solche anerkannt. Aber was genau macht diese Rolle der Mythenmittler aus und was qualifiziert Schauspieler dafür? Zemon Davis vertritt die Auffassung, dass Schauspieler in der Rolle der Zeitzeugen den Zuschauern dabei helfen, sich darüber klar zu werden, dass es sich bei den Filmen um Fiktion handelt, das heißt, dass die Vergangenheit im Film „kein unmittelbares Bild einer vergangenen Zeit, sondern eine Interpretation ist, eine Repräsentation, deren Akkuratheit immer kritisch überprüft werden muß“. Dies allerdings könne nur funktionieren, solange die Person des Schauspielers hinter der Filmrolle zurücktrete. 252 Das funktioniert nicht immer. Die Meinungen, ob bekannte Publikumslieblinge oder unverbrauchte Jungdarsteller für diese Aufgabe besser geeignet sind, scheiden sich. Eigentlich ist es nach Hesling „the film industry’s commercial logic which dictates that ‚great‘ historical characters call for ‚great‘ actors“. 253 Auch hier könne ein Transfer zwischen der Person des Schauspielers und der Filmfigur oder aber auch zwischen früheren Filmfiguren, die der Schauspieler dargestellt hat, und dem Filmcharakter im aktuellen Film stattfinden. Das gelte umso mehr, so Hesling, für historische Figuren, die dem Publikum weniger bekannt seien. Natürlich lässt sich mit einem großen Filmstar besser für einen Film werben, zumal wenn dieser Filmstar ohnehin für historische Filme abonniert zu sein scheint und die Rolle somit noch glaubwürdiger ausfüllen kann. 254 Denn während Geschichte in der Wirklichkeit kompliziert und vielschichtig ist, wird sie im Film zu einer
251 Vgl. FPFFGdynia, 40. FFG – Konferencja prasowa filmu „Letnie przesilenie“, Min. 23:35–24:08. 252 Zemon Davis, Herausforderung der Authentizität, S. 44–45. 253 Hesling, The past as story, S. 194. 254 Siehe bspw. die Filmografie der polnischen Schauspielerin Agata Kulesza, die sowohl als Hauptdarstellerin in Wojciech Smarzowskis Ró˙za als auch als Tante Wanda in Paweł Pawlikowskis Ida mitwirkte.
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verständlichen Erzählung vereinfacht, die durch dem Publikum bekannte Schauspielergesichter, die es zu kennen glaubt und mit denen es sich identifizieren und mitfühlen kann, mit Leben gefüllt wird. 255 Nun geht es aber natürlich in den hier untersuchten Filmen nicht um große Figuren der Weltgeschichte, sondern um ganz normale Menschen. Es ist wohl diesem Trend geschuldet, dass auch bei der Auswahl der Schauspielerinnen und Schauspieler möglichst unverbrauchte Gesichter gesucht wurden. Diese Tendenz, möglichst unbekannte Darsteller zu besetzen, anstatt auf Publikumslieblinge zu setzen, die für die Zuschauer allein schon ein Grund sind, um ins Kino zu gehen, widerspricht den Beobachtungen von Gries und Satjukow, scheint aber insbesondere für Unser letzter Sommer als auch für Warschau ’44 prägend gewesen zu sein. Es war sowohl für Komasa 256 als auch für Rogalski wichtig, relativ unverbrauchte und frische Gesichter für ihre Filme zu gewinnen: Wir mussten Menschen finden, die sofort schön sind, an sich. Schön nicht auf eine physische Art und Weise, weil wir das nicht gesucht haben, sondern auf eine psychische, eingebaute, innere Art und Weise. 257
Jan Komasa beispielsweise setzte beim Casting für Warschau ’44 auf „unbeleckte“ Talente, 258 weil dieser Mangel an Bekanntheit, wie Produzent Michał Kwieci´nski meint, begünstige, dass sich die Zuschauer mit den Schauspielern identifizieren können. 259 Auch bei anderen Produktionen in den letzten Jahren, zum Beispiel bei Paweł Pawlikowskis Ida wurde explizit eine Hauptdarstellerin gesucht, die noch nicht bekannt und erfahren war, um die Rolle der etwas naiven Novizin, die eine für sie neue Welt außerhalb der Klostermauern entdeckt, glaubwürdig zu verkörpern. Und natürlich ist die Gefahr einer Überlagerung der Person des Schauspielers mit seiner Filmrolle relativ gering, wenn die Person des Schauspielers dem Publikum nicht bekannt ist. Manchmal gehen Regisseure aber noch einen 255 Vgl. Carnes, Shooting (Down) the Past, S. 46. 256 Vgl. TVP VOD. 2014. „Miasto 44: Jan Komasa o Powstaniu Warszawskim.“ Pytanie na ´ Sniadanie, TVP 2, auf YouTube veröffentlicht am 12. September 2014, URL: https:// www. youtube. com/ watch? v= T5ZALBYha1E, Zugriff am 10. Dezember 2017, Min. 3:05–3:23. Siehe auch Kalina Bła˙zejowska. 2014. „Jan Komasa: Miasta nie da si˛e zabi´c.“ Tygodnik Powszechny, 29. Juli 2014, URL: https://www. tygodnikpowszechny. pl/ miasta- nie- da- sie- zabic- 23659, Zugriff am 5. August 2014. 257 PISF. Letnie przesilenie. Rozmowa z Michałem Rogalskim, Min. 3:10–3:22. Auch auf der Pressekonferenz zur Premiere von Unser letzter Sommer auf dem 40. FFG wird die Unerfahrenheit der Schauspieler thematisiert. 258 Vgl. TVN24. 2012. „Re˙zyser ‚Sali samobójców‘ robi casting do filmu o Powstaniu Warszawskim.“ TVN24 vom 9. Dezember 2012, URL: https://www. tvn24. pl/ kultura- styl,8/ rezyser- sali- samobojcow- robi- casting- do- filmu- o- powstaniu- warszawskim,293472. html, Zugriff am 6. Januar 2018. ´ 259 Vgl. Kino Swiat, Pressbook Miasto 44, S. 16.
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Schritt weiter und greifen auch aus Gründen der Authentizitätsfiktion auf Laiendarsteller zurück, d. h. einheimische Bauern spielen die Bauern, statt professionellen aber eben „unauthentischen“ Schauspielern. In Unser letzter Sommer haben Mitarbeiter des Eisenbahnmuseums in Jaworzyna ´ aska Sl ˛ im Film als Mitarbeiter des Lokschuppens, in dem Romek arbeitet, als Statisten mitgewirkt. 260 Ein polnisches Spezifikum scheint es zu sein, dass auch die dort seit einigen Jahren sehr populären Re-enactment Gruppen (pol. grupy rekonstrukcyjne) in die Produktion von Filmen eingebunden werden. Gleich mehrere dieser Gruppierungen, die mit geschichtsinteressierten Laien besetzt sind, nahmen an den Dreharbeiten zu Warschau ’44 teil. 261 Die Gruppe GRF Bemowo, die in Komasas Film Soldaten der Waffen-SS-Einheit „Dirlewanger“ darstellte, die für ihre besonders brutale Art bekannt war, hatte zuvor auch schon bei Agnieszka Hollands In Darkness und bei Wojciech Smarzowksis Ró˙za mitgewirkt. 262 Auf den ersten Blick mag diese Strategie, besonders unverbrauchte Gesichter zu besetzen, für Unser letzter Sommer nicht ganz offensichtlich sein. Jonas Nay, der die Hauptrolle des deutschen Soldaten Guido spielt, ist mittlerweile in Deutschland zu einem beachteten Jungschauspieler geworden. Diese Aufmerksamkeit hat er maßgeblich Rollen zu verdanken, die ihn in Erinnerungsfilme führen. Einem größeren Publikum ist Nay durch seine Hauptrolle in der international positiv rezipierten Serie Deutschland ’83 und Deutschland ’86 und weitere Rollen in der Serie Tannbach – Schicksal eines Dorfes über ein Dorf an der deutsch-deutschen Grenze sowie im Spielfilm Wir sind jung. Wir sind stark. über die rechtsextremen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen 1992 und auch der Verfilmung von Siegfried Lenz’ Nachkriegsroman Schweigeminute bekannt. Er ist ein Darsteller, den Regisseure augenscheinlich gern für die Rolle des innerlich zerrissenen jungen Mannes besetzen, der an den Umständen der Welt um sich herum zerbricht. Zum Beginn der Dreharbeiten zu Unser letzter Sommer im Spätsommer 2013 allerdings war auch er noch nicht so etabliert in der deutschen Filmlandschaft. Nays polnischer Gegenpart, Filip Piotrowicz, der die Hauptrolle des Romek spielt, begreift sich selbst nicht als professionellen Schauspieler. Ob er im Schauspielfach bleiben wolle, wisse er noch gar nicht. 263
´ askiej 260 Vgl. Region Fakty, Muzeum Jaworzyny Sl ˛ Gwiazda˛ Wielkiego Ekranu. 261 Grupa Rekonstrukcyjno Filmowa Bemowo, Grupa Hisytoryczna Zgrupowanie Radosław, Grupa Inscenizacji Historycznych Pomerania 1945, Muzeum Wału Pomorskiego ´ 262 Vgl. Kino Swiat, Pressbook Miasto 44, S. 12–13. 263 Vgl. Wirtualna Polska. 2016. „‚Letnie przesilenie‘: Filip Piotrowicz o swojej roli.“ Auf Wirtualna Polska veröffentlicht am 19. April 2016, URL: https://wp. tv/ i,letnie- prze-
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Besonders aufschlussreich in Bezug auf die Aneignung der Vergangenheit durch die Jungschauspieler aber ist das Auftreten Urszula Boguckas, die als Franka die weibliche Hauptrolle in Unser letzter Sommer übernimmt. In ihren Interviews spielt das Wissen und Lernen über die Vergangenheit eine große Rolle. Abermals steht hier also eine an der Produktion der Erinnerungsfilme beteiligte Person, die in der dritten oder sogar der vierten Generation als (Ur-)Enkelin der Erlebnisgeneration stellvertretend für ihre Altersgenossen einen Zugang zur Vergangenheit finden muss – und aufgrund ihrer herausgehobenen Position im Erinnerungsfilm als Vorbild für die Zuschauer in dieser Transferleistung agieren kann. Für Bogucka waren Bücher und Filme wie Der Pianist maßgebend, um sich auf ihre Rolle vorzubereiten. 264 Damit ist sie ein Musterbeispiel für ihre Generation, die Informationen über die Vergangenheit mehr und mehr exklusiv aus Spielfilmen bezieht. Amelia Korzeniewska, die psychoanalytische Betrachtung des Umgangs mit dem Zweiten Weltkrieg im polnischen Film unternimmt und dabei auch auf die Rolle der dritten Generation eingeht, stellt fest, dass diese Gruppe diese Erzählung nicht mehr nur aus dem Familiengedächtnis, sondern maßgeblich durch mediale Vermittlung erfährt. 265 Diese Beobachtung hat natürlich nicht nur für die Mythenmittler Bedeutung. Korzeniewska verweist auf die herausragende Rolle des Films als Zeitzeugnis der Zukunft, gerade für die heutige Generation: Derzeit, wenn zu einer dominierenden Form der generationsübergreifenden Vermittlung des Kriegsgedächtnisses die kulturelle Gedenknarrationen werden, ist das von besonderer Bedeutung, weil es gerade Filmnarrationen sind, die die Rolle der Gedächtnisträger über die Kriegsvergangenheit in Polen übernehmen und für lebendige Erinnerungen der mit dem Krieg zusammenhängenden Inhalte und Emotionen sorgen. 266
Um einen Anknüpfungspunkt zwischen ihrer eigenen Lebenswirklichkeit im heutigen Polen und der Lebensrealität ihrer Filmfigur Franka zu finden, hat die 1996 geborene Bogucka sich auf die offenkundigste Gemeinsamkeit konzentriert, nämlich auf das gemeinsame Alter. Ihre eigenen Erfah-
silenie- filip- piotrowicz- o- swojej- roli,mid,1911125,cid,8052,klip. html? ticaid= 61a5ff, Zugriff am 10. Dezember 2017. 264 Vgl. Piotr Czerkawski. 2016. „Urszula Bogucka: Miło´sc´ bywa nieracjonalna. WYWIAD z gwiazda˛ filmu ‚Letnie przesilenie‘.“, Dziennik.pl, 22. April 2016, URL: http://film.dziennik.pl/news/artykuly/518755,urszula-bogucka-milosc-bywa-nieracjonalna - wywiad - z - gwiazda - filmu - letnie - przesilenie . html, Zugriff am 28. Februar 2017. 265 Vgl. Korzeniewska, Liminalität und Post-Erinnerung, S. 161. Selbstverständlich sollte man weder die Schauspieler noch die Filmemacher außerhalb dieser gesellschaftlichen Prozesse sehen, sondern vielmehr als deren Teil. 266 Ebd., S. 168.
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rungen als Teenager hat die Schauspielerin auf die der siebzehnjährigen Franka übertragen, um sich mit ihr identifizieren zu können, und schafft so eine Brücke zwischen den Lebenswelten der Bauerntochter im Jahr 1943 und der ihrigen sowie der ihrer Generation im Jahr 2013. 267 Auch für Filip Piotrowicz, ebenfalls Jahrgang 1996, stellte die Gleichaltrigkeit einen entscheidenden Ansatzpunkt dar, um sich in seine Filmfigur Romek hineinversetzen zu können. Aber vor allem die Gespräche mit seinem Großvater, der als Jugendlicher im Warschauer Aufstand gekämpft hat, waren für ihn prägend. Dieses Wissen aus der Familiengeschichte habe es ihm leicht gemacht. 268 Auch bei den Schauspielern, die in den 1990erJahren geboren wurden und somit noch weiter als die Filmemacher von den Geschehnissen, die sie im Film nachspielen, entfernt sind, spielt also Familiengeschichte eine entscheidende Rolle. Für Nay, der in Lübeck Musik studiert, ist die Liebe zur Musik seiner Filmfigur Guido ebenfalls ein verbindendes Element. Jonas Nays Großeltern wiederum waren im Krieg selbst noch Kleinkinder, d. h. die Geschichte Guidos ist für ihn die seiner Urgroßeltern. Dennoch spielte der Austausch über den Krieg mit dem Großvater auch für Nay eine wichtige Rolle: Er erzählte mir Geschichten vom Ende des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit. Es war eine enorm schwere Kost für mich. Meine Urgroßeltern sind mittlerweile tot, sie hätten mir bestimmt noch einiges mehr erzählen können. Unsere Generation muss sich dem Zweiten Weltkrieg aus ihrer eigenen Perspektive nähern. Aus diesem Grund ist dieser Film so wichtig. Ihm gelingt es auf differenzierte Weise, diese Zeit aus beiden Perspektiven zu zeigen, der polnischen und der deutschen. Es geht ihm nicht um ein Opfer-Täter-Bild als vielmehr darum, feine Charakterstrukturen auf polnischer und deutscher Seite aufzuzeigen. 269
Anders als bei seinen polnischen Co-Stars wird in den Interviews mit Nay auch immer wieder das Thema deutscher Verantwortung angeschnitten. Dass Nay diesen Aspekt, der für die deutsche Erinnerungskultur zu Beginn des 21. Jahrhunderts konstitutiv ist, aufgreift, identifiziert ihn als einen äußerst geeigneten Ersatzzeitzeugen und als guten Mythenmittler. Denn es ist elementar, „dass auch der Zeitzeuge die Regeln einhält und seine Erinnerungen an das Geschehen von einst in den Erinnerungskonsens unserer Gegenwart einpasst“ – und für den Ersatzzeitzeugen gilt diese Maxime 267 Vgl. Czerkawski, Urszula Bogucka: Miło´s´c bywa nieracjonalna. 268 Vgl. K˛etrzy´nska Telewizja Internetowa. 2016. „Rozmowa Tygodnia – Filip Piotrowicz.“ Auf YouTube veröffentlicht am 30. April 2016, URL: https://www.youtube.com/ watch? v= wabwVmjmPzk, Zugriff am 1. Dezember 2017, Min. 10:26–10:56. 269 Willy Flemmer. 2015. „Jonas Nays Umgang mit dem Schrecken.“ Filmreporter.de, 22. Oktober 2015, URL: http://filmreporter.de/stars/interview/4494-Jonas-Nays-Umgang- mit- dem- Schrecken, Zugriff am 27. März 2017.
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ebenfalls. 270 Nay macht aber ebenso deutlich, wie schwierig trotz allem die Verknüpfung der Vergangenheit mit dem Heute für die dritte oder sogar vierte Generation Postmemory ist: „Eine Situation wie diese nachzufühlen, ist für unsere Generation einfach unmöglich.“ 271 An anderer Stelle wird er noch konkreter: „Ich würde mir niemals anmaßen zu behaupten, dass es für jemanden wie mich, der 1990 geboren wurde, auch nur annähernd möglich ist, sich in die Schrecken dieser Zeit hineinzuversetzen.“ 272 Ein Ersatzzeitzeuge will Nay also vielleicht gar nicht sein, aber für die Erzeugung der für den Erinnerungsfilm so wichtigen „Authentitzitätsgefühle“ spielt der Zeitzeuge eben „eine ganz zentrale Rolle“. 273 Die Verbindung des Damals mit dem Heute ist auch für die Schauspieler von Warschau ’44 elementares Thema. Auf die Frage hin, wie sie den Geist der damaligen Zeit gefunden haben, antworten Antoni Królikowski, Jahrgang 1989, der den Aufständischen Beksa spielt und Anna Próchniak, geboren 1988, die mit ihrer Figur der Kama eine der weiblichen Hauptrollen ausfüllt, sie haben sich ebenfalls mit Büchern (zum Beispiel Mrówka na szachownicy von Jan Kurdwanoski, dt. Ameise auf dem Schachbrett) und Filmen (abermals Der Pianist 274), aber auch durch Zeitzeugengespräche und Tagebücher von Aufständischen auf ihre Rollen vorbereitet. Próchniak sagt über diesen Prozess: „Wir haben die Geschichte besser kennengelernt. Die Gespräche und die Lektüren gaben uns eine Vorstellung der Probleme, der Angst, der Leidenschaften, welche die Aufständischen durchlebten.“ 275 In ihrer Mittlerrolle und ihrer eigenen Bewältigung einer Verknüpfung des Damals mit dem Heute können sie für die Zuschauer Vorbilder sein. Tatsächlich stellte sich in der eingangs bereits zitierten Studie von Satjukow und Gries heraus, dass sich die Jugendlichen mit den jungen, gleichaltrigen Protagonisten besser identifizierten und sogar in apologetische Erklärungsmuster verfielen, d. h. Opfer- und Täterrollen umkehrten. Analog zur Transferleistung echter Zeitzeugen kann der Schauspieler als Ersatzzeitzeuge erreichen, „dass er nicht nur zwischen Vergangenheit und Gegenwart vermittelt, sondern zugleich auch Lust und 270 Sabrow, Der Zeitzeuge als Wanderer zwischen zwei Welten, S. 31. 271 Flemmer, Jonas Nays Umgang mit dem Schrecken. 272 Heike Kruse. 2015. „Jonas Nay: ‚Direkt ins Mark getroffen‘.“ UNICUM Abi, 1. Oktober 2015, URL: https://abi. unicum. de/ entertainment/ promis/ jonas- nay- direkt- insmark- getroffen, Zugriff am 27. März 2017. 273 Gries, Vom historischen Zeugen zum professionellen Darsteller, S. 54 – Hervorhebung im Original. 274 Das Thema Intertextualität wird im kommenden Kapitel aufgegriffen. 275 Joanna Stanisławska. 2013. „Jan Komasa o filmie o Powstaniu: b˛edzie katastroficzny jak ‚Dzie´n Niepodległo´sci‘.“ Wirtualna Polska, 11. Juni 2013, URL: https://wiadomosci.wp.pl/jan-komasa-o-filmie-o-powstaniu-bedzie-katastroficzny-jak-dzien-niepodleglosci- 6031284602000001a, Zugriff am 10. Dezember 2017.
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Last des Erinnerns miteinander versöhnt“. 276 Das gilt aber nicht nur für positiv besetzte Filmrollen, sondern auch für die weniger positiven und ambivalenten, wie Stefan Kolditz, der Drehbuchautor von Unsere Mütter, unsere Väter über seine Figuren erklärt: Obwohl sie selbst schreckliche Dinge tun, kann der Zuschauer diese Figuren dicht an sich heranlassen, ohne dass eine vordergründige Moralisierung eine Distanz schafft – wie die 68er Generation es tat. Mit den semidokumentarischen Angaben der Lebensdaten am Ende bekommt der Zuschauer zudem eine Anregung, sich über den Film hinaus vorzustellen, was aus den Figuren geworden sein könnte. Es geht um einen Erfahrungstransfer zwischen der Generation der Mütter und Väter, Großmütter und Großväter mit der heutigen Generation. 277
Film kann nie den Anspruch auf Vollständigkeit erheben und ebenso wenig kann von Schauspielern erwartet werden, dass sie historische Charaktere in all ihren Facetten darstellen. Auch sie müssen in ihrer Interpretation der Rolle selektiv vorgehen. 278 In einem individualisierten Ansatz, d. h. mit dem Fokus auf den Handlungen von Individuen, sprich den Charakteren der Geschichte, werden notwendigerweise nur Ausschnitte gezeigt und nicht der gesamte Kontext erörtert, der vielleicht zum Verständnis ihres Verhaltens in dieser historischen Situation notwendig wäre. 279 Die Charaktere müssen dabei nicht immer konkrete, tatsächliche Figuren der Weltgeschichte abbilden, sondern können auch nur generelle symbolische Repräsentationen sein und vielmehr symbolisch für bestimmte historische Prozesse stehen. 280 So sind auch die Figuren in den untersuchten Erinnerungsfilmen teils fiktiv und symbolisch. Das betrifft laut Regisseur Komasa in Warschau ’44 vor allem die weiblichen Hauptrollen Alicja und Kama. Teils sind sie aber auch durch authentische Erinnerungen realer Zeitzeugen geformt. In der Figur des Stefan beispielsweise fließen die Lebensgeschichten des Architekten Stanisław Jankowski (Z fałszywym ausweisem w prawdziwej Warszawie, dt. Mit falschem Ausweis im richtigen Warschau) und Jan Kurdwanowski (Mrówka na szachownicy) zusammen. 281 In jedem Fall gibt es nicht die eine historische Figur, die für eine der fiktiven Figuren Pate gestanden hat und an deren möglichst wahrheitsgetreuer Darstel-
276 277 278 279 280
Sabrow, Der Zeitzeuge als Wanderer zwischen zwei Welten, S. 28. García, Unsere Mütter, unsere Väter. Vgl. Hesling, The past as story, S. 196. Vgl. ebd., S. 191. Vgl. ebd., S. 192. Das entspricht auch dem Konzept der Typen- und Repräsentationsauthentizität nach Hans-Jürgen Pandel, vgl. Pandel, Authentizität. 281 Wróblewski, I rozp˛etało si˛e piekło.
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lung sich Schauspieler und Regisseur messen lassen müssen. Anders als bei Unser letzter Sommer oder Unsere Mütter, unsere Väter spielten beim Produktionsprozess von Warschau ’44 die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen eine wesentlich bedeutendere Rolle. Auf die viel diskutierten Sexszenen im Film angesprochen berichten Józef Pawłowski, Jahrgang 1990, der die männliche Hauptrolle des Stefan spielt, und Anna Próchniak, dass dieses Thema auch in den Gesprächen mit einer der Beraterinnen, einer Aufständischen, zur Sprache gekommen und zunächst angeprangert worden sei. Letztlich fand aber auch die Zeitzeugin die Szenen schön, weil weniger der Sex, sondern die Gefühle deren Kern darstellten. 282 Auch Pawłowski und Próchniak, die beide schon in einem freien Polen geboren und aufgewachsen sind, haben sich in der Vorbereitung auf ihre Rollen auf die Gleichaltrigkeit als verbindendes Element zwischen ihrer Generation und der der Aufständischen im Film gestützt. Diese Parallelität ermöglichte es ihnen, aus der Vergangenheit, in die sie im Film eintauchen und von der sie in Gesprächen mit den Aufständischen hörten, Lehren für die Gegenwart zu ziehen. 283 Indem die Schauspieler ihr eigenes Vorgehen schildern, ebnen sie diesen Weg auch für das junge Publikum im modernen Europa, das sich ein Beispiel nehmen kann – und soll. Ein größtmögliches Authentizitätsgefühl bleibt ein wichtiges Ziel und Gütekriterium – auch für die Arbeit der Schauspieler als Mythenmittler. Und Authentizität ist ein Qualitätsmerkmal, das sowohl Zuschauer als auch Schauspieler in seinen Bann zieht. 284 Einen Film wie Unsere Mütter, unsere Väter drehen zu dürfen, von dieser Qualität, sei „für einen Schauspieler [. . . ] ein Lottogewinn“, so Tom Schilling. 285 Über Schilling, der in Unsere Mütter, unsere Väter den Friedhelm Winter spielt, schreib Kinga Rustler im FOCUS: Wenn Tom Schilling eine Rolle zusagt, können sich die Zuschauer zurücklehnen. Sie können mit der größtmöglichen Authentizität und Hineinfindung eines Schauspielers in seine Rolle rechnen. Sie dürfen Wut, Schmerz und Freude so intensiv mitfühlen, wie er sie selbst empfindet. Tom Schilling spielt seine Figuren nicht, er lebt sie. 286
Wie weit die Schauspieler aber teilweise gehen, um eine möglichst große Glaubwürdigkeit im Spiel zu erlangen, kann auch skurrile Züge anneh282 283 284 285 286
Vgl. TVP VOD, Miasto 44: Jan Komasa o Powstaniu Warszawskim, Min. 8:14–8:33. Vgl. ebd., Min. 8:38–9:32. Vgl. Wirtz, Das Authentische und das Historische, S. 199. García, Unsere Mütter, unsere Väter. Kinga Rustler. 2013. „Tom Schilling – warum es wehtut, ihm zuzusehen.“ FOCUS.de, 18. März 2013, URL: http://www. focus. de/ kultur/ kino_ tv/ tid- 30163/ unsere- muetter-unsere-vaeter-star-tom-schilling-warum-es-wehtut-ihm-zuzusehen_aid_942709. html, Zugriff am 27. November 2017.
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men. So stellte die BILD-Zeitung mit Erstaunen fest, dass weder Tom Schilling noch Ludwig Trepte oder Volker Bruch Wehrdienst geleistet hätten, aber dennoch ihre Rollen in Unsere Mütter, unsere Väter so realistisch spielten, „als wären sie an der Front gewesen“. Wie Volker Bruch, der den Wilhelm Winter mimt, erklärt, haben die Darsteller ihre diesbezüglichen Defizite in einem dreiwöchigen Bootcamp, während dessen sie militärische Verhaltensweisen erlernt hätten, aufgearbeitet. Noch extremer mutet die Herangehensweise von Ludwig Trepte an, der den Juden Viktor spielt. Trepte berichtet, er habe die Drehbücher bewusst im Konzentrationslager Sachsenhausen gelesen, um sich auf seine Rolle vorzubereiten. Er „wollte erfahren, wie die Atmosphäre in den Baracken ist“ und wie er darauf reagiere. Das sei für ihn sehr wichtig gewesen, um sich besser in die Zeit einzufühlen. 287 Dass seine Figur des Viktor im Film zwar zu irgendeinem Zeitpunkt im Konzentrationslager Sachsenhausen interniert sein musste, dies aber im Film letztlich in keiner Szene gezeigt wird und nur einmal kurz Erwähnung findet, 288 ist für Treptes Ansatz scheinbar unerheblich und verdeutlicht, wie sehr auch die Schauspieler in ihrer Herangehensweise an ihre Rollen von gängigen Erzählmustern und Stereotypen des Erinnerns an den Zweiten Weltkrieg geleitet sind. Die Identifikation der Schauspieler mit ihren Filmcharakteren kann durchaus so weit führen, dass diese über die fiktiven Ereignisse im Film wie über tatsächliche Ereignisse und echte Erinnerungen berichten. Beispielsweise schildert Tom Schilling, dass für ihn die Erschießung eines kleinen jüdischen Mädchens, aber auch die Erschießungen von Partisanen sehr bewegend war. Trepte berührte das Annähen des Judensterns und die darauffolgende Ausgrenzung Viktors am meisten. Bruch nennt den Moment, als sein Charakter einen Polit-Kommissar erschießt, als für ihn einprägsamste Episode. 289 Bei all diesen Erlebnissen handelt es sich selbstverständlich um Filmszenen, die aber schon den Schauspielern als emotionsbehaftete Erinnerungen an jene Zeit im Gedächtnis bleiben. 290 Den Zuschauern könnte es ähnlich ergehen. Das Motiv der Familiengeschichte, die wichtige Quelle und Anstoß für eine Beschäftigung mit dem Themenkomplex Zweiter Weltkrieg war, lässt 287 Michael Schacht. 2013. „Wir haben alle nicht gedient.“ BILD, 19. März 2013, URL: http://www.bild.de/unterhaltung/tv/unsere-muetter-unsere-vaeter/wir-haben-nichtgedient- 29565656. bild. html, Zugriff am 27. November 2017. 288 Vgl. Unsere Mütter, unsere Väter, Teil 2, Min. 00:18:59. 289 Vgl. Schacht, Wir haben alle nicht gedient. 290 Ähnliche Eindrücke schildern die Macher und Schauspieler von Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiß, wie Alice Agneskirchner in ihrem Dokumentarfilm Wie „HOLOCAUST“ ins Fernsehen kam zeigt. Die Dokumentation wurde anlässlich des 40. Jubiläums der Ausstrahlung der Miniserie im deutschen Fernsehen begleitend zur erneuten Ausstrahlung von Holocaust Anfang 2019 gesendet.
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sich auch bei den Schauspielern von Unsere Mütter, unsere Väter ausmachen. Für Miriam Stein, Jahrgang 1988, die die Frontkrankenschwester Charlotte darstellt, begann der Kontakt zum Thema zwar erst im Schulunterricht, zudem habe sie sich bislang immer mehr mit Opfern als mit Tätern beschäftigt. Für ihre Rolle als Krankenschwester Charlotte hat sie ein Praktikum im Krankenhaus gemacht. Gleichwohl hat auch sie einen persönlichen Bezug zum Thema Zweiter Weltkrieg: „Das Thema hat mich schon immer sehr berührt. In meiner Familie gibt es auch jüdische Verwandte, die mir ihre Geschichte leider nicht mehr erzählen konnten.“ 291 Katharina Schüttler, Jahrgang 1979, die im Film die Sängerin Greta spielt, erzählt vom intergenerationellen Austausch in ihrer Familie: Mit einer meiner Großmütter habe ich viel über die Zeit geredet. Sie hat sogar auf Drängen ihrer Kinder und Enkelkinder ein kleines Buch mit den Geschichten aus ihrer Kriegszeit geschrieben. Das hat mir sehr geholfen. 292
Die Art und Weise, wie Schüttler über ihre Figur der Greta berichtet und von deren Einzelschicksal allgemeine Rückschlüsse auf die Lebensrealität der Deutschen zur Zeit des Zweiten Weltkriegs zieht, zeigt einerseits eine gewisse Distanz zwischen Schauspielerin und Rollencharakter, immerhin spricht sie in der dritten Person Singular über Greta. Andererseits aber zeugen Schüttlers Worte auch von einer detailreichen, bisweilen apologetischen Bewertung des Handelns, Denkens und Fühlens der Zeitgenossen ihrer Filmfigur, die ein tieferes Sich-Hinein-Versetzen nötig machen: Greta bleibt ja als Einzige in Berlin. Für sie ist der Krieg etwas, das sie zunächst nur aus der Wochenschau kennt. Er berührt ihr Leben im Grunde nicht. So wird es wohl gewesen sein, für viele Millionen Deutsche. Man ist jubelnder Anhänger einer Sache, eines Krieges, dessen Grausamkeit und reale Abgründe einem in der alltäglichen Beschäftigung mit dem eigenen Leben verborgen bleiben. 293
Auch in diesem Interview wird die Generationenfrage klar thematisiert. Schüttler befindet, ganz eindeutig als Botschafterin ihrer, der jungen Generation sprechend: Wir schieben das ja immer gerne ganz weit von uns weg, sagen: Es ist ja schon so lange her! Aber es sind gerade einmal 70 Jahre vergangen. Es gibt Men-
291 Michael Schacht. 2013. „Hier sprechen die Frauen aus ‚Unsere Mütter, unsere Väter‘.“ BILD, 19. März 2013, URL: http://www. bild. de/ unterhaltung/ tv/ unsere- muetter- unsere- vaeter/ interview- mit- den- hauptdarstellerinnen- miriam- stein- und- katharinaschuettler- 29549026. bild. html, Zugriff am 27. November 2017. 292 Ebd. 293 Ebd.
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schen, die all das wirklich erlebt haben und die heute mit uns zusammenleben. Unsere Gesellschaft ist noch lange nicht geheilt, das dauert noch. 294
Ob die deutsche Gesellschaft nun seit sieben Jahrzehnten an einem Trauma krankt, das einer Heilung bedarf, sei dahingestellt. Deutlich wird aber, dass auch die Schauspieler von Unsere Mütter, unsere Väter sich sehr bewusst mit der in Deutschland immer auch moralisch beladenen Frage beschäftigten, wie die Vergangenheit der Kriegsgeneration für die heutige und folgende Generationen greifbar gemacht werden kann. Tom Schilling sieht ebenfalls vor allem seine Generation in der Pflicht: Ich glaube, unsere Generation ist exemplarisch. Wir müssen mehr zuhören. Wir müssen auf den letzten Metern den Dialog mit der letzten Kriegs-Generation suchen! Ich denke, dass wir dann alle unsere Eltern und Großeltern besser verstehen können. Der Krieg wurde meiner Meinung immer noch nicht richtig aufgearbeitet. [. . . ] Die 68er-Generation musste damit umgehen, dass ihre Eltern Verbrecher waren. Die Gespräche damals waren zwanghaft, anklagend. Der richtige Dialog entsteht eigentlich erst jetzt. 295
Die Problematik, vor der Filmemacher und Publika heute stehen, nämlich, dass die junge Generation durch Unsere Mütter, unsere Väter die Schicksale ihrer Großelterngeneration und nicht der Elterngeneration auf dem Bildschirm nacherlebt, wurde medial ausgiebig thematisiert. 296 Die Lösung dieses „Nachgeborenen-Problems“ sei auch Thema langer und intensiver Überlegungen zwischen Filmemachern und der zuständigen Redakteurin beim ZDF, Heike Hempel, gewesen, so Produzent Nico Hofmann im Interview. Was genau aber die Lösung war, verrät er nicht. Mit dem Ergebnis jedoch ist er augenscheinlich sehr zufrieden: Und dann stehen Tom Schilling und Volker Bruch als Friedhelm und Wilhelm da und beschäftigen sich mit dem Leben ihrer Großväter – es ist erstaunlich, wie leicht und überzeugend sie diese Erfahrung spielen. 297
Die besondere Relevanz, die den Mythenmittlern und Mythenmachern in der Vermarktung eines Erinnerungsfilms beigemessen wird, ist jedenfalls nicht zu unterschätzen. In der begleitenden, 30-seitigen Pressemappe, die das ZDF zum Fernsehstart von Unsere Mütter, unsere Väter veröffentlicht
294 Ebd. 295 Schacht, Wir haben alle nicht gedient. 296 Alexander Cammann und Adam Soboczynski. 2013. „Vereiste Vergangenheit.“ ZEIT Online, 14. März 2013, URL: http://www. zeit. de/ 2013/ 12/ Unsere- Muetter- unsereVaeter- ZDF- Hofmann- Aly/ komplettansicht, Zugriff am 6. Januar 2018. 297 Ebd.
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hat, füllen Interviews mit Produzenten, Schauspielern und beratenden Historikern mehr als die Hälfte der Seiten. 298
2.3.2 Zusammenspiel von Authentizität und Transnationalisierung Nicht nur schaffen multinational besetzte Casts Erfahrungs- und Aushandlungsräume für die Transnationalisierung von Geschichtsbildern im Film, diese Transnationalisierung der Produktionsprozesse ist auch relevant für einen der wichtigsten Aspekte des Erinnerungsfilms heute, nämlich für die „Fiktion von Authentizität“ 299 der auf der Leinwand gezeigten Geschichte. Schauspieler in ihrer jeweiligen Sprache sprechen zu lassen sichert Authentizität und Glaubwürdigkeit, aber birgt auch ein Risiko für die Filmemacher. Zumindest in Deutschland, wo die Synchronisierung und nicht die Untertitelung von Spielfilmen den Sehgewohnheiten des Publikums entspricht, kann dies zu Irritationen führen. Durch die fremden Sprachen wird die Distanz zum Anderen aufrechterhalten bzw. erst konstruiert und die Identifikation mit der eigenen Sprachgruppe gefördert. Für die Zuschauer wird der Film so weniger zugänglich, die Position des Anderen nur mittelbar durch Untertitelung erfahrbar. 300 Das bewusste Setzen sprachlicher Barrieren birgt allerdings auch die Gefahr, dass ein Hineinfühlen in den Anderen und eine Verständigung erschwert werden. Die Folgen können weitreichend sein, bis hin zur teilweisen Externalisierung der Schuld wie im Falle von Unsere Mütter, unsere Väter, wo Antisemitismus als ein nahezu exklusives Problem der Polnisch sprechenden Polen dargestellt wurde. 301 Andererseits ist es natürlich gerade dieser durch Sprache verdeutlichte Effekt der Fremdheit, der eine besonders glaub-
298 Vgl. ZDF Presse, Unsere Mütter, unsere Väter. Dreiteiliger Fernsehfilm. Der Spezialausgabe der DVD sind ebenfalls Interviews mit Filmemachern und Schauspielern in einem begleitenden Booklet beigelegt. 299 Gries, Vom historischen Zeugen zum professionellen Darsteller, S. 54. 300 Dieses Stilmittel machte sich schon Claude Lanzmann in Shoah zunutze, wo er die nicht unmittelbare Nachvollziehbarkeit und Nachfühlbarkeit der Erlebnisse der Überlebenden des Holocaust dadurch ausdrückt, dass seine Interviewpartner in der Regel in der eigenen Muttersprache sprechen, mit Lanzmann nur indirekt über eine unvollkommene Übersetzung einer Übersetzerin kommunizieren können und ihre Aussagen lediglich untertitelt werden. Vgl. Gabriela Stoicea. 2006. „The Difficulties of Verbalizing Trauma: Translation and the Economy of Loss in Claude Lanzmann’s ‚Shoah‘.“ The Journal of the Midwest Modern Language Association, Vol. 39, Nr. 2, S. 43–53. 301 Vgl. auch Assmann, Unbehagen, S. 198. Durch die fremdartige Sprache werden die polnischen Partisanen für ein deutsches Publikum überdeutlich als Andere und fremd markiert, die Sprachbarriere verhindert eine Identifikation genauso wie die wenig vorteilhafte Darstellung als primitive Antisemiten.
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hafte Illusion der Realität konstruiert: Natürlich sprachen die Polen im besetzten Polen Polnisch, selbstverständlich sprachen die russischen Partisanen Russisch und ohne Zweifel war die Kommunikationssprache der deutschen Soldaten Deutsch. Außergewöhnlich konsequent und glaubhaft wurde dieses Stilmittel in der polnisch-deutschen Koproduktion Unser letzter Sommer verwendet. Die Besetzung der Rollen erfolgte jeweils mit Muttersprachlern. Die Arbeitssprache am Set war Englisch. Dass ein solches multinationales Setting auch Erfahrungs- und Aushandlungsräume für eine Transnationalisierung der Erinnerung eröffnet, liegt auf der Hand. Nicht nur war der Austausch über den Filmstoff unter den Schauspielern notwendigerweise Thema. Auch die Dreharbeiten in Polen und Deutschland boten Kontaktpunkte zwischen den Beteiligten beider Länder, aber auch mit der einheimischen Bevölkerung vor Ort, deren reale Erinnerungen an die Zeit des Zweiten Weltkriegs ebenfalls angesprochen wurden. Einen ganz besonderen Berührungspunkt hatte Jonas Nay während der Dreharbeiten mit einem polnischen Zeitzeugen: Es gab durchaus Situationen, in denen mir schon mal der Klos [sic] im Hals stecken blieb. Eines Tages kam während des Drehs ein alter, ärmlich aussehender polnischer Mann auf mich zu und redete auf mich ein. Ich verstand ihn nur schwer, bis der Regie-Assistent kam und übersetzte. Der Mann erzählte völlig aufgelöst, dass er auf der Straße, auf der wir uns in dem Moment befanden, während des Krieges die deutsche Besatzung gesehen hatte. Es war für ihn sehr schwer, uns in den Nazi-Uniformen zu sehen. 302
Die eigene Nationalität, die mit der Zugehörigkeit zu dieser nationalen Gruppe verbundene Rolle in der Geschichte sowie sich daraus ergebende Konsequenzen im Hier und Jetzt wurden Nay offensichtlich in diesem Zusammentreffen sehr präsent, löste die Situation doch Unwohlsein bei ihm aus. Es wird deutlich, dass die Geschichte, von der Unser letzter Sommer erzählt, für den alten Polen auch die eigene Vergangenheit spiegelt. Für ihn ist die im Film nachgestellte Szene reale Erinnerung. Die Sprachbarriere wäre ohne die Übersetzung des polnischen Regieassistenten unüberwindbar und trennend geblieben, eine Verständigung zwischen dem fiktiven Zeitzeugen Nay und dem echten Zeitzeugen wäre wohl nicht möglich gewesen. So aber entstand ein Moment transnationalen, intergenerationellen Dialogs über die Vergangenheit, der erst durch den transnationalen Charakter der Filmproduktion nutzbar gemacht werden konnte – auch fernab der Leinwand. Augenscheinlich bieten transnational arbeitende Filmproduktionen also allein schon wegen ihrer internationalen Crews Erfahrungs- und
302 Flemmer, Jonas Nays Umgang mit dem Schrecken.
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Aushandlungsräume für eine Transnationalisierung der Erinnerung. Diese Räume treten besonders bei multinationalen Koproduktionen zutage, aber potenziell auch immer dort, wo Filmrollen mit zur fiktionalen Nationalität passenden Personen besetzt werden – also die Rolle eines deutschen SS-Manns mit einem deutschen Schauspieler, die des polnischen Partisanen mit einem polnischen Mimen usw. Dann entstehen einerseits neue Herausforderungen für alle Beteiligten am Set, aber anderseits auch neue Chancen, beispielsweise eine deutliche Erhöhung der potenziellen Reichweite der Filme durch die Beteiligung von Schauspielern, die in verschiedenen Ländern über eine hohe Bekanntheit verfügen und somit Möglichkeiten für ein Filmprojekt eröffnen, über die Grenzen der Nation hinauszuwirken. Dass aber beispielsweise die Besetzung der polnischen Hauptrolle mit einem polnischen Publikumsliebling kein Garant für den Erfolg oder gar die Ausstrahlung eines deutschen Films in Polen ist, zeigt das Beispiel des Films Die verlorene Zeit. Eigentlich hätte dieser Erinnerungsfilm, der auf den autobiografischen Erzählungen des polnischen Auschwitz-Überlebenden Jerzy Bielecki beruht, ein sehr hohes Erfolgspotenzial in Polen haben müssen. Nicht nur, weil die Geschichte eine polnische ist. Mit Mateusz Dami˛ecki in der männlichen Hauptrolle des Tomasz Limanowski und Joanna Kulig in der Nebenrolle seiner Schwägerin hatte Regisseurin Anna Justice auch noch zwei der Nachwuchsstars des polnischen Films besetzt. Trotzdem ist Die verlorene Zeit genau an diesem Punkt, nämlich seiner Besetzung, gescheitert. Die Besetzung durch deutsche, polnische und amerikanische Schauspieler war ein Mittel zur Wahrung der Authentizität des Films, wie Regisseurin Justice erzählt. Aber bei der Zusammenführung der Schauspieler geriet die Filmemacherin, die des Polnischen selbst kaum mächtig ist, an ihre Grenzen: So informierte sie „der polnische Hauptdarsteller Mateusz Dami˛ecki [. . . ], dass sein Bruder im Film mit einem ganz anderen polnischen Akzent sprach als er. Das passte natürlich nicht. Aber da ich kaum polnisch spreche, konnte ich das auch nicht heraushören.“ 303 Einige der polnischen Rollen im Film wurden von deutschen Schauspielern übernommen. So spielte der in Zabrze geborenen deutsch-polnische Schauspieler Adrian Topol den Filmbruder von Dami˛ecki und die deutsche Schauspielerin Susanne Lothar die Mutter der beiden Brüder. Auch wenn alle ihren Rollen gemäß Polnisch sprechen, ist kaum überhörbar, dass es sich nicht um Polen handelt. Während Topol zumindest tatsächlich Polnisch spricht und somit seine Textpassagen verstanden haben dürfte, ist
303 Philipps & Pfeiffer, Anna Justice: Liebe auf den ersten Blick.
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Lothar anzumerken, dass sie ihre polnischen Sätze nur für diesen einen Zweck eingeübt hat und über kein tieferes Verständnis der Sprache verfügt. Die Hinweise des polnischen Hauptdarstellers Dami˛ecki an die Regisseurin zeigen, wie deutlich diese Ungereimtheiten für Muttersprachler des Polnischen hörbar waren. Es wird klar, dass dieser Film für ein polnisches Publikum so nicht als Erinnerungsfilm funktionieren konnte. Für deutsche Zuschauer mag die halbherzige Umsetzung von Sprache als Stilmittel zur Markierung von Authentizität genügt haben, um ein Authentizitätsgefühl der Vergangenheit im Film zu vermitteln. Aber auch ein deutsches Publikum kann die bekannte Schauspielerin Susanne Lothar als Deutsche identifizieren, auch wenn sie versucht Polnisch zu sprechen, ebenso wie ihren Filmsohn Adrian Topol, der gleichfalls in der deutschen Film- und Fernsehlandschaft etabliert ist. Ob dieser Halbherzigkeit wird ein Nacherleben der Vergangenheit im Film erschwert: Statt gefühlter Authentizität entsteht ein Gefühl der Befremdung. Bei der Ausstrahlung polnischer Erinnerungsfilme im deutschen Kino oder Fernsehen mag eine solche Unstimmigkeit weniger schnell auffallen, weil es in Deutschland üblich ist, ausländische Filmproduktionen zu synchronisieren. Dass in Warschau ’44 die deutschen Soldaten mit Ausnahme der deutschen Schauspieler Max Riemelt und Enno Kalisch sowie des Dänen Mads Hjumland von Polen verkörpert werden, fällt dem deutschen Publikum nicht auf. In Polen aber ist die Synchronisierung von Spielfilmen nicht Usus. In der Regel wird ein fremdsprachiger Film dem Publikum inhaltlich über einen Lektor zugänglich gemacht, der monoton die polnische Übersetzung des gesamten Films verliest, während im Hintergrund die Originaltonspur zu hören ist. Gelegentlich werden auch Untertitel verwendet, was bei einer deutschund polnischsprachigen Produktion wie Die verlorene Zeit vermutlich der Fall gewesen wäre. Die Illusion des Nacherlebens einer authentischen Vergangenheit auf der Leinwand hätte in Polen in diesem Fall schwerlich funktioniert. Derlei Halbherzigkeiten gibt es aber natürlich nicht allein in Deutschland. Wojciech Smarzowskis Ró˙za erzählt die Geschichte der Masurin Ró˙za und des ehemaligen Offiziers der Heimatarmee Tadeusz, die sich im ehemaligen Ostpreußen der unmittelbaren Nachkriegszeit abspielt. Tadeusz will der Witwe eines Wehrmachtssoldaten dessen persönlichen Dinge übergeben und trifft in Masuren auf ein feindliches Klima, in dem Plünderungen, Vergewaltigungen und Schikanen gegen die verbliebenen „Deutschen“ an der Tagesordnung sind. Eine Bedrohung für Ró˙za sind sowohl die Soldaten der Roten Armee als auch die einheimische Bevölkerung. Tadeusz beschließt, bei ihr auf dem Hof zu bleiben. Klar wird, dass in diesem ehemals zu Deutschland und nun zu Polen gehörigen Stück Erde die Trennlinien zwischen „polnisch und deutsch“ nicht funktionie-
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ren. In Ró˙za werden Masuren und Deutsche in Ostpreußen von Polen mit einem sehr deutlich erkennbaren, polnischen Akzent porträtiert, der darauf schließen lässt, dass sie die Sätze nur auswendig gelernt, aber nicht verstanden haben. Für polnische Zuschauer mag das genügen, um die Illusion des Authentischen zu evozieren, für Muttersprachler des Deutschen aber, sofern diese eine nicht-synchronisierte Version des Films jemals ansehen würden, wäre das nicht möglich. Es wäre jedoch falsch, hier nun bewusste Nachlässigkeit oder mangelnde Wertschätzung für den Anderen zu unterstellen, denn man darf nicht aus den Augen verlieren, dass eine ernsthafte deutsch-polnische Koproduktion über den Zweiten Weltkrieg, in der alle Filmrollen mit Muttersprachlern besetzt sind, auch einen gewissen Finanzrahmen braucht. Das ist nicht immer der Fall. Aber auch eine großzügige finanzielle Ausstattung ist kein Garant für eine Umsetzung dieses Prinzips im Film. Ungenauigkeiten auf diesem Feld wiegen umso schwerer, wenn zu alledem noch ein schwieriger Bereich der Geschichte behandelt wird, bei dem bereits Abweichungen von der etablierten Erzählpraxis für Irritationen gesorgt haben. So war – neben der Charakterisierung als primitive Antisemiten – ein Kritikpunkt der Darstellung der Polen in Unsere Mütter, unsere Väter auch, dass deutsche Schauspieler gewählt wurden, um die polnischen Partisanen zu verkörpern – und in einem schlechten Polnisch vorzugeben, echte Polen zu sein. 304 Da half es auch nicht, dass zumindest die Rolle des Anführers der Partisanengruppe mit dem in Deutschland aufgewachsenen, polnischstämmigen Lukas Gregorowicz besetzt wurde. Eine weitere Rolle übernahm der eben bereits erwähnte Adrian Topol. Die Illusion der Wahrhaftigkeit des Gezeigten war dahin und die Bereitschaft der polnischen Zuschauer, die Vergangenheit im Film als authentisch wahrzunehmen und in einem weiteren Schritt vielleicht sogar die fremden Vergangenheitsbilder einer wohlwollenden Prüfung zu unterziehen, ebenso. 304 Dass beispielsweise die Schauspielerin Alina Levshin, die in der Miniserie die Polin Alina Bigaj spielt, keine Muttersprachlerin ist – den Filmemachern genügte scheinbar, dass die gebürtige Ukrainerin auch Russisch spricht, um sie als Polin zu besetzen – macht sich in den polnischsprachigen Dialogen mit den Bauern und Partisanen schnell bemerkbar. Der polnische Journalist Adam Krzemi´nski bemerkt diesen Lapsus in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung als letzten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt und die Szenen jeglicher Glaubwürdigkeit für polnische Zuschauerinnen und Zuschauer beraubt. Vgl. Adam Krzemi´nski. 2013. „Der polnische Lückenbüßer.“ Süddeutsche Zeitung, 28. März 2013, https://www. sueddeutsche. de/ kultur/ debatte- um- unsere- muetter- unsere- vaeter- der- polnische- lueckenbuesser- 1. 1635654, Zugriff am 17. Juni 2018; siehe auch Bartosz T. Wieli´nski. 2013. „Kto wytłumaczy Niemcom, z˙e AK to nie SS.“ Gazeta Wyborcza, 25. März 2013, URL: http://wyborcza. pl/ 1,76842,13622993,Kto_ wytlumaczy_ Niemcom_ _ ze_ AK_ to_ nie_ SS. html, Zugriff am 12. Dezember 2018.
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2.3.3 Neue Zeitzeugen? Laufen also die Mythenmittler den noch lebenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen den Rang ab? Angesichts des Problems, vor dem sich die Gesellschaft an der Schwelle zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis befindet, könnten Schauspielerinnen und Schauspieler in ihrer Rolle als fiktive Zeitzeugen einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma aufweisen, wie sich eine Erinnerung ohne Zeitzeugen gestalten könnte. Natürlich sind Schauspieler nicht in der Lage, aus eigenen Erfahrungen über die entfernte Vergangenheit zu berichten, die außerhalb ihrer eigenen Lebensspanne liegt. Qualitativ wird ihre Zeugenschaft also immer eine angeeignete, fiktive bleiben. Möglicherweise aber können sie in ihrer Funktion als Mythenmittler dennoch glaubhaft an die Stelle von Zeitzeugen in der Verbreitung von Vergangenheitsbildern treten und die wachsende Leerstelle füllen, die diese hinterlassen. Zugegeben: In Polen scheint die Tendenz, dass Schauspieler als Ersatzzeitzeugen in der Debatte zu Erinnerungsfilmen befragt werden, noch weniger prominent. Aber auch in Deutschland scheint das Phänomen der Übernahme einer fiktiven Zeitzeugenschaft durch Schauspieler nur bedingt zu greifen: Zwar findet eine große Identifikation mit dem Filmthema seitens der Mythenmittler statt, aber die jungen Schauspieler berichten dennoch mit einer gewissen Distanz von den historischen Erfahrungen ihrer Filmcharaktere und durchaus im Bewusstsein, dass sie die Zeiten damals nicht selbst erlebt haben. Eine Identifikation mit den Filmfiguren findet über das gemeinsame Alter und gegebenenfalls auch über die Anknüpfung an Familiengeschichte statt – ähnliche Mechanismen also, wie schon bei den Mythenmachern Komasa, Rogalski und Kadelbach zu beobachten waren, die eine ererbte Zeitzeugenschaft stellvertretend für ihre Großeltern geltend machen. Gelegentlich kann es aber nach wie vor passieren, dass echte Zeitzeugen als Schauspieler an Erinnerungsfilmen beteiligt sind und diese bereichern. Robert Rogalski, Jahrgang 1920, der in Pokłosie den alten Bauern Malinowski spielt und in einer der stärksten Szenen des Films den Brüdern Franciszek und Józef Kalina davon erzählt, wie man die Juden des Dorfes in der Scheune der Vorfahren der Brüder verbrannt hat, war im echten Leben selbst Augenzeuge der Liquidierung des Ghettos seiner Heimatstadt Siedlce. Seine Erinnerungen dazu hat er veröffentlicht. Diese Anekdote teilt Regisseur Pasikowski im Interview mit der Gazeta Wyborcza. Seiner Meinung nach erkläre das auch „die emotionale Aufladung dieser Szene und ersparte mir die Notwendigkeit, ihm irgendetwas zu erklären. Im Gegenteil, Herr Robert erklärte mir, wie diese Szene auszusehen
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hat“. 305 Das Filmset bot also auch einen Raum für intergenerationellen Dialog. Nun sind Geschichten wie diese die Ausnahme und werden es angesichts des fortschreitenden Lebensalters der Zeitzeugen in der Zukunft umso mehr sein. 306 In absehbarer Zeit wird daher die Frage, wer die Zeugenschaft übernehmen kann und welche Rolle dem Spielfilm dabei zukommt, weiter in den Vordergrund rücken. Den Schauspielern als Mythenmittlern kann in diesem Prozess durch eine fiktive Zeitzeugenschaft eine gewichtige Rolle zukommen. Schon jetzt allerdings wird deutlich, dass die beinahe unvermeidbare Vermischung von Filmrolle und Person des Schauspielers nicht gänzlich unproblematisch ist. Aber nicht nur sie werden zu fiktiven Zeugen einer vergangenen Zeit, wie Satjukow und Gries feststellen. 307 Nicht nur die Filmemacher, die aus ihrer Familiengeschichte berichten, treten an die Stelle der Zeitzeugen. Mit Wirtz könnte man noch einen Schritt weitergehen und mutmaßen, dass, wenn man so will, auch die Zuschauer in den Kinosälen und vor den Fernsehbildschirmen durch Erinnerungsfilme selbst zu Augenzeugen gemacht werden. 308 Auch Assmann bemerkt diese aktive Beteiligung des Publikums und stellt fest, dass in Unsere Mütter, unsere Väter die Charaktere „der Imagination der Zuschauer als Stellvertreter für die Ausleuchtung der eigenen Familiengeschichte angeboten“ wurden. 309 Dieses Prinzip lässt sich neben den hier erwähnten Spielfilmen auf eine ganze Reihe weiterer Erinnerungsfilme zu Beginn des 21. Jahrhunderts übertragen. Man wird sich also wohl weiter an das Bild gewöhnen müssen, das sich zum Beispiel in der Spezialausgabe Unsere Mütter, unsere Väter – Ihr Schmerz, ihre Schuld, ihr Schweigen der Talkrunde von Maybritt Illner zu Unsere Mütter, unsere Väter bot. Neben mehr oder minder echten Zeitzeugen wie Moderator Dieter Thomas Heck oder dem Opernsänger Gunther Emmerlich – beide waren zum Ende des Zweiten Weltkriegs noch (Klein-)Kinder – dem Europaparlamentarier Daniel Cohn-Bendit, dessen jüdischer Vater 1933 emigrierte, sowie der Historikerin und Journalistin Franziska Augstein, die 1996 über die Ursprünge der Rassentheorie promovierte, nahm auch Schauspielerin Katharina Schüttler, die in Unsere Mütter, unsere Väter die Rolle der Greta spielt, als Expertin teil. Auch Peter
305 Subbotko, Pasikowski: Nasz naród nie jest wybrany. 306 Robert Rogalski war als Schauspieler unter anderem auch an Jan Komasas Spielfilm Warschau ’44 sowie dessen Dokumentarfilm Powstanie Warszawskie (dt. Warschauer Aufstand) als auch an Wojciech Smarzowskis Erinnerungsfilm Woły´n beteiligt. 307 Vgl. Satjukow & Gries, Hybride Geschichte und Para-Historie. 308 Vgl. Wirtz, Das Authentische und das Historische, S. 200. 309 Assmann, Unbehagen, S. 34.
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Hahne unterhielt sich zum Thema Unsere Mütter, unsere Väter: Warum habt ihr so lange geschwiegen? mit der Schauspielerin Henriette Richter-Röhl, die in der ZDF-Miniserie eine Frontkrankenschwester darstellt und neben dem Zeitzeugen Mainhardt Graf von Nayhauß, seines Zeichens Kolumnist und ehemaliger Napola-Schüler, Platz nehmen durfte. Schauspielern wird in den Medien so mittlerweile ein den Zeitzeugen ebenbürtiger Platz zugewiesen. Sie treten gewissermaßen an die Stelle derer, die bald kein Zeugnis mehr ablegen können. Ihre Legitimation erhalten sie durch ihre Film- oder Serienrolle. Neben Illner und Hahne diskutierte auch Markus Lanz mit Historiker Arnulf Baring, der gleichzeitig als Zeitzeuge fungierte, Politikerin Marina Weisband, Kabarettist Dirk Stermann, Moderator Claus Strunz und Schauspielerin und Medizinerin Christiane Paul, die sich, so wird bereits in der Anmoderation zur Sendung erklärt, mit den Tagebüchern der Mutter des Schauspielers Uwe Ochsenknecht auf ihre Rolle als jüdische Ärztin in Unsere Mütter, unsere Väter vorbereitete. 310 Diese hatte über ihre Zeit als Krankenschwester an der Ostfront Tagebuch geführt. 311 Oft bleibt unklar, warum genau diese Gäste eingeladen wurden, welche Kompetenzen und familiäre Verstrickungen sie dazu befähigen, in einer Sendung zum Thema deutsche Erinnerungskultur im Kontext des Zweiten Weltkriegs mitzureden. Echte Zeitzeugen jedenfalls finden sich in den Talkrunden zunehmend selten. Dafür aber wissen die Anwesenden oftmals als Kinder, häufiger noch als Enkel der Kriegsgeneration über ihre familiären Gedächtnisse zu berichten. Der Diskurs, der durch Filme angestoßen wurde, die von Filmemachern und Schauspielern der dritten Generation auf Basis der vermeintlichen Erinnerungen (oder zumindest Versatzstücken dieser) ihrer Großeltern realisiert wurden, wird also auch medial von dieser dritten Generation mit Bezug auf die Schicksale der jeweiligen Großelterngeneration weitergeführt. In der öffentlichen Wahrnehmung erlangen sie so eine Art Status als neue, wenngleich fiktive Zeitzeugen. 312
310 Vgl. Christiane Paul in der Talksendung Markus Lanz vom 19. März 2013 im ZDF. 311 Vgl. Matthias Lohr. 2016. „Kasseler Weltkriegsdrama mit Uwe Ochsenknecht.“ hna.de, 10. März 2016, URL: https://www. hna. de/ kultur/ kasseler- weltkriegsdramaochsenknecht- 6199150. html, Zugriff am 30. Januar 2019. 312 Zur Entwicklung der Idee des Zeitzeugen vgl. auch Sabrow, Der Zeitzeuge als Wanderer zwischen zwei Welten.
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2.4 Zwischenfazit: Motive und Motivationen Geschichte existiert nicht, bis sie geschaffen wird, schrieb Robert A. Rosenstone. Ein genauerer Blick hinter die Kulissen von Erinnerungsfilmen und im Speziellen auf die beteiligen Akteurinnen und Akteure macht deutlich, wie wichtig bereits der Prozess der Produktion für die Entstehung und Ausgestaltung eines Erinnerungsfilms ist. Hier werden durch Faktoren, die in der Person der beteiligten Regisseure, Produzenten und Schauspieler bedingt liegen, die Weichen für die Darstellung von Vergangenheitsbildern im Spielfilm gestellt. Die eigene Familiengeschichte ist dabei oft Inspirationsquelle und treibendes Element, wie die Beispiele von Michał Rogalski, Jan Komasa und Philipp Kadelbach deutlich machen. Als Mythenmacher prägen sie das Bild der Vergangenheit, wie sie im modernen Spielfilm präsentiert wird. Dabei ist den Filmemachern eine historical und political correctness wichtig: sie eint eine offenkundig empfundene historische Verantwortung, auch kritischeren Erinnerungsstoff zu be- und verarbeiten. Obgleich sie sich angesichts der enormen Popularität von Geschichtsfernsehen und Historienkino mit Historikern in einer vermeintlichen Konkurrenzsituation um die Deutungshoheit über die Vergangenheit befinden, die im Sinne einer gesteigerten Aufmerksamkeit für historische Stoffe durchaus zugunsten der Geschichtswissenschaften nutzbar gemacht werden kann, können und wollen Filmemacher den Maßstäben der Geschichtswissenschaft aber nicht um jeden Preis genügen. Die historische Faktizität ist im Zweifel zweitrangig. Aber auch der künstlerischen Freiheit sind Grenzen gesetzt: Bei der Darstellung der Vergangenheit im Film sind die Filmemacher durch einen Authentizitätspakt gebunden, der an den Sehgewohnheiten des Publikums orientiert ist. Auch wenn ihre Verantwortung in der Vermittlung von Geschichtsbildern wächst, ist es für die Filmemacher weiterhin wichtiger, ein Authentizitätsgefühl zu vermitteln, das seitens der Zuschauer entscheidend für den Erfolg eines Erinnerungsfilms ist. Als Angehörige der dritten Generation, einer Generation Postmemory, können die Filmemacher mit der Vergangenheit anders umgehen als ihre Großeltern. Dieses Motiv setzt sich auf der Ebene der Schauspieler fort, die ebenfalls als Enkel der Erlebnisgeneration von den Jugenderinnerungen ihrer Großeltern sprechen und als Mythenmittler die Vergangenheit auf dem Bildschirm nacherlebbar machen wollen. Angesichts des größten Problems, vor dem die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts in Bezug auf die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg steht, nämlich das langsame Verschwinden der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, bieten sich diese jungen Menschen als Lösung an. Als neue, fiktive Zeitzeugen spielen Schauspieler der dritten Generation, aber auch die Filmemacher, eine zentrale Rolle
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in der Erinnerungskultur in Polen und Deutschland heute. Gelegentlich überlagern sie schon jetzt die Erzählungen der echten Zeitzeugen, können sie doch aus einer moralisch einwandfreien Position heraus und nach den Normen der heutigen Erinnerungskultur berichten, die sie durch ihre Sozialisierung in einem freien und modernen Europa, dessen negativer Gründungsmythos der Holocaust ist, verinnerlicht haben. Für das jüngere Publikum heutzutage werden die Filmemacher und Schauspieler so zu Vorbildern, die ihnen zeigen, wie eine gelungene Verknüpfung der Vergangenheit mit der Gegenwart funktionieren kann. Die Generationenfrage ist also keine Randnotiz, sondern eine Problematik, deren Beantwortung sich Filmemacher früher oder später im Produktionsprozess stellen müssen. Sie schwingt auf allen Ebenen des Produktionsprozesses mit. Die Mythenmacher und Mythenmittler sind Identifikationspunkte und Blaupause für ein gelungenes Sich-Hineinversetzen in die Vergangenheit. Im Zuge der Vermarktung der Erinnerungsfilme werden ihre persönlichen Hintergründe nutzbar gemacht und tragen auch zur wahrgenommenen Authentizität der Vergangenheitsbilder im Film bei. Deutlich wird, dass all diese Einflüsse und auch die Deutungsmöglichkeiten und Anknüpfungspunkte bereits die Grenzen einer nationalen, polnischen oder deutschen Erinnerungskultur verlassen haben. Filme „tragen [. . . ] zur Konfrontation mit Expertenwissen, zu Überwindung herkömmlicher Stereotype und Mythen bei“ 313 – und sind gleichzeitig ein Faktor in der Schaffung und Festigung neuer Mythen. Historiker, die als Berater am Set wissenschaftliche Erkenntnisse in den Produktionsprozess einfließen lassen können, und in der Gesellschaft prävalente Geschichtsbilder, Hetero- und Autostereotype, die nicht unbedingt der historischen Wahrheit entsprechen müssen, treffen aufeinander. Nicht immer gewinnt am Ende die historische Wahrheit, sondern häufiger die gefühlte Authentizität. Insbesondere bei grenzüberschreitenden Themen der Geschichte befördert der Wunsch der Zuschauer nach ebendiesem Nacherleben der wahren Geschichte auf der Leinwand die Transnationalisierung der Erinnerungskultur, werden doch auch aus diesem Grund Rollen mit Muttersprachlern besetzt und Produktionsteams so notwendigerweise diversifiziert. Polnische Zeitzeugenberichte und Vergangenheitsbilder erhalten Einzug in deutsche Kinosäle und vice versa. Neue Erfahrungs- und Aushandlungsräume für die Transnationalisierung von Geschichtsbildern entstehen, in denen nationale Geschichts-, Selbst- und Fremdbilder zur Disposition gestellt werden. Die Bedingungen dafür schafft ebenfalls ein globalisierter Markt, der nach universell anschlussfähigen Formaten und Themen verlangt und
313 Korzeniewska, Liminalität und Post-Erinnerung, S. 205.
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so die Transnationalisierung von Vergangenheitsbildern begünstigt. Die Anforderungen des Marktes stehen dabei teilweise den Zielen der staatlich gelenkten Filmförderung entgegen, die durch die Mittelbewilligung für bestimmte Filmprojekte geschichtspolitisch aktiv ist. Insbesondere in Polen geht der Trend derzeit eher in Richtung Renationalisierung, aber auch ein Projekt wie Unsere Mütter, unsere Väter auf deutscher Seite trägt eher zur Bestätigung nationaler Stereotype bei, denn zu deren Abbau. Nichtsdestotrotz ist der Deutsch-Polnische Co-Development / Produktionsfonds ein Zeichen dafür, dass die deutsch-polnische Zusammenarbeit auf der Ebene des Erinnerungsfilms auch in der Politik geschätzt und gefördert wird. Beispielhaft genutzt wurde diese Förderquelle durch die polnischdeutsche Koproduktion Unser letzter Sommer, deren Produktionsprozess auf allen Ebenen, hinter wie vor der Kamera, transnationale Erfahrungsund Aushandlungsräume aufzeigte und inhaltlich gezielt überholte Hetero- und Autostereotypen abbauen will. Im Kontext der Produktion eines Erinnerungsfilms offenbaren sich also viele Informationen über die Personen und kulturellen, marktwirtschaftlichen, gesellschaftlichen, aber auch politischen Prozesse, die hinter der Entstehung eines solchen Werks stehen. Oftmals wird diesen Aspekten in der Analyse von Erinnerungskultur im Film nicht genügend Raum gegeben. Aber nicht nur die beteiligten Akteure, sondern eben auch der Inhalt und die Erzählung, also die filmische Narration sind von großer Bedeutung für die Platzierung eines Films als Erinnerungsfilm im Kontext einer Transnationalisierung. Im folgenden Kapitel sollen daher ebendiese Narrationskontexte in den Mittelpunkt der Analyse gestellt werden.
Narrationskontexte
3. Erzählte Geschichte im Film
Wenn die Produktion den Boden für einen Erinnerungsfilm bereitet, dann stellt die Narration gewissermaßen ihr Herzstück dar. Diese Narrationskontexte sollen im Folgenden in zwei Teile unterteilt werden, um sie für eine genaue Betrachtung besser greifbar zu machen. Zunächst sollen die inhaltlichen Kernmotive der Erzählung der Vergangenheit, wie sie im Erinnerungsfilm kolportiert wird, analysiert werden. Dazu gehört vor allem das Schwerpunktmotiv des Erwachsenwerdens in Kriegszeiten, das in allen Filmbeispielen eine zentrale Rolle einnimmt. Ferner sind davon etablierte Erzählstrukturen über den Zweiten Weltkrieg und gängige Hetero- und Autostereotype betroffen, derer sich nicht nur Filmemacher bedienen, um ihre Geschichte im Spielfilm vermeintlich authentisch zu vermitteln. Es sind ebenjene nationalen Selbst- und Fremdbilder, die im Zuge einer Transnationalisierung der Erinnerung über die Nation hinaus anknüpfbar gemacht und mittels einer Fokussierung auf die Jugend im modernen Erinnerungsfilm dekonstruiert und rekonstruiert werden. Die Art und Weise, wie die Vergangenheit zu einem bestimmten Zeitpunkt erzählt wird, ist stark selektiv und von den gegenwärtigen Bedürfnissen einer Gemeinschaft abhängig: „Recollection of the past is an active, constructive process, not a simple matter of retrieving information. To remember is to place a part of the past in the service of conceptions and needs of the present.“ 1 Oftmals wird dabei auf narrative Techniken zurückgegriffen. Auch wenn man sich seinen Thesen nicht in Gänze anschließen muss, zeigt Hayden White am Beispiel der Geschichtswissenschaften, dass sich diese Narrativität von Geschichte nicht nur auf künstlerische Bearbeitungen der Vergangenheit beschränkt, sondern auch in der Geschichts-
1 Barry Schwartz. 1982. „The Social Context of Commemoration: A Study in Collective Memory.“ Social Forces, Vol. 61, Nr. 2, S. 374–402, hier: S. 374. Siehe auch Olick, Collective Memory.
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schreibung wirkt. 2 Trotz einer gewissen Kritik an Whites Ansatz, in dessen „Lichte [. . . ] sich der Erfahrungsgehalt des Geschichtsbewußtseins in die bloße Fiktionalität imaginärer Welten verflüchtigen [kann]“ 3, hebt auch Jörn Rüsen die Narrativität von Geschichte in seiner Definition von Geschichtsbewusstsein hervor: Zusammenfassend kann man die Erinnerungsarbeit des Geschichtsbewußtseins als Sinnbildung über Zeiterfahrung charakterisieren. Sie erfolgt im Medium der Erinnerung, bringt die drei Zeitdimensionen [Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – Anm. JRG] in einen inneren Sinnzusammenhang und erfüllt eine praktische Orientierungsfunktion. Geschichtsbewußtsein vollzieht sich im Erzählen von Geschichten, und das geschieht in einem Kommunikationszusammenhang, in dem es um das Selbstverständnis der Beteiligten in zeitlicher Hinsicht, um ihre historische Identität, geht. 4
Rüsen unterscheidet des Weiteren „vier Funktionstypen des historischen Erzählens: das traditionale, das exemplarische, das kritische und das genetisch historische Erzählen.“ 5 Diese Funktionstypen treten nie in Reinform auf, „sondern [stehen] in einem komplexen inneren Zusammenhang [. . . ], der sich im einzelnen als wechselseitige Implikation und als Tendenz, ineinander überzugehen, beschreiben läßt“. 6 Elemente dieser vier Funktionstypen des historischen Erzählens, auf denen wiederum vier Arten historischer Sinnbildung fußen, lassen sich auch in den Narrationen der hier untersuchten Erinnerungsfilme beobachten. Insbesondere zum Tragen kommt einerseits das traditionale Erzählen, das „an die Ursprünge, die gegenwärtige Lebensverhältnisse begründen [erinnert]“ und „Identität durch Affirmation vorgegebener Identitätsdefinitionen zur Geltung
2 Vgl. White, Metahistory. Für einen kurzen Überblick zu den Thesen Whites und der Kritik siehe bspw. Anna Warakomska. 2014. „Die narrativen Modelle der Geschichtsschreibung in den Theorien von Hayden White und ihre Kritik.“ Zeitschrift des Verbandes polnischer Germanisten, Bd. 3/2014, S. 89–101. Einen Einblick in verschiedene Anwendungsbereiche der Narrativität von Geschichte nicht nur in den Literaturwissenschaften bietet beispielsweise der Sammelband Narrating the Nation von Berger, Eriksonas und Mycock, in dem auch Geschichtsbilder im Film eine Rolle spielen. Stefan Berger, Linas Eriksonas und Andrew Mycock. Hrsg. 2011. Narrating the Nation: Representations in History, Media and the Arts. New York: Berghahn. 3 Rüsen, Geschichtskultur, S. 41. Für eine Gegenüberstellung der Theorien Whites und Rüsens vgl. Wulf Kansteiner. 2018. „Argumentation, Beschreibung und Erzählung in der wissenschaftlichen Historiographie.“ In: Historisierung der Historik: Jörn Rüsen zum 80. Geburtstag. Herausgegeben von Thomas Sandkühler und Horst Walter Blanke, Köln u. a.: Böhlau Verlag, S. 151–168. 4 Jörn Rüsen. 1994. Historisches Lernen: Grundlagen und Paradigmen. Köln u. a.: Böhlau Verlag, S. 64 – meine Hervorhebung. 5 Ebd., S. 38. 6 Ebd., S. 40.
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[bringt]“ 7 sowie Ursprungsmythen beschwört. Damit eng verknüpft ist die traditionale Sinnbildung, die durch „Traditionsaneignung“ 8 geprägt ist. Andererseits zentral ist auch das kritische Erzählen, das diese bislang identitätsstiftenden Narrative infrage stellt und somit einen Bruch markiert. Kritisches Erzählen findet sich vornehmlich „in Gegengeschichten, die bislang unangefochtene Zeitverlaufsvorstellungen aufbrechen, indem sie ihnen widersprechende Zeiterfahrungen der Vergangenheit ins Gedächtnis rufen“. 9 Die Notwendigkeit knüpft Rüsen abermals an „Orientierungsbedürfnisse der Gegenwart“, die „gegen Deutungsmuster der historischen Erfahrung gekehrt werden sollen, die ihnen nicht mehr entsprechen, damit neue Muster an ihre Stelle treten können“. 10 Damit verbunden ist die kritische Sinnbildung, im Zuge derer eine „Negation vorgegebener historischer Denkweisen und Selbstverständigungen“ erfolgen kann, die wiederum „die Möglichkeit [eröffnet], neue und andere Formen der historischen Selbstdeutung und Zeitinterpretation zu konzipieren“. 11 Durch gezielte Inszenierung kann Film auf einer audiovisuellen Ebene über Vergangenheit erzählen und diese auf der Leinwand wieder „zum Leben erwecken“. Damit kann ein Erinnerungsfilm durch seine massenkompatible Erzählweise ein breites Publikum ansprechen und auf einer emotionalen Ebene wirken, auf der die Rede eines Politikers oder die wissenschaftliche Abhandlung eines Historikers nur schwer zu wirken vermögen. 12 Emotionalisierung, Personalisierung und Dramatisierung – dieser Dreiklang ist die Formel des Erfolgs moderner Erinnerungsfilme und folgt einem allgemeinen Trend zur Emotionalisierung und Privatisierung von Geschichte, die im vorangegangenen Kapitel bereits erkennbar
7 8 9 10 11 12
Ebd., S. 38. Ebd., S. 86. Ebd., S. 39. Ebd. Ebd., S. 86. Vgl. Kaes, History and Film, S. 113; Fischer & Schuhbauer, Geschichte in Film und Fernsehen, S. 34 f. Zum Umgang mit Kritik an einer Emotionalisierung von Geschichte siehe auch Frevert & Schmidt, Geschichte, Emotionen und die Macht der Bilder: „Ohne Zweifel steuern Medienprodukte ihre Aneignung auf vielfältige Weise; sie legen bestimmte Interpretationen, Wahrnehmungen und Empfindungen nahe und strukturieren diese vor, aber sie determinieren sie nicht. Die Annahme, man produziere emotionale Sendungen und bekomme emotionalisierte Zuschauer, erscheint, um es vorsichtig auszudrücken, zu simpel.“ Ebd., S. 17. Die Autorinnen plädieren dafür, sich ernsthafter mit Emotionen als Forschungsgegenstand auseinanderzusetzen und vielmehr „die visuellen Objekte und Artefakte in spezifischen historischen Kontexten zu analysieren, eingebettet in kulturelle Praktiken und Diskurse, und als Bestandteile von diesen“ und in der Folge „Grundannahmen über Geschichtsrepräsentationen, Emotionen und visuelle Massenmedien kritisch zu hinterfragen, anstatt vorgängige Deutungsmuster unreflektiert fortzuschreiben“. Ebd., S. 24.
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wurde. Es ist daher eine logische Konsequenz, dass diese drei Faktoren auf der Ebene der inhaltlichen und künstlerischen Umsetzung des Erinnerungsstoffs ebenfalls eine signifikante Rolle spielen. Mehr noch: Es ist vielleicht gerade auf dieser narrativen Ebene, dass sie ihre volle Wirkung entfalten. Der Selektivität in der Erinnerung sind aber auch Grenzen gesetzt, denn „the history of one’s own country is no shop window where goods can be removed or replaced at will“. 13 Das wird auch am Erinnerungsfilm deutlich, der den durch vorherrschende Geschichtsbilder und genreprägende Spielfilme geformten Authentizitätserwartungen des Publikums gerecht werden muss und dem somit in seinem Reinterpretationspotenzial der Vergangenheit Grenzen gesetzt sind. Gleichzeitig befinden sich die Geschichtsbilder im Erinnerungsfilm in einem Spannungsfeld von geschichtspolitisch gewollter Renationalisierung und von liberalen Kräften sowie dem globalisierten Filmmarkt eingeforderter Transnationalisierung. Es lohnt also, die Narrationskontexte moderner Erinnerungsfilme genauer zu beleuchten, um besser zu verstehen, welche Vergangenheitsbilder sie vermitteln, wo sie etablierte Deutungsweisen reproduzieren (traditionale Sinnbildung) oder aufbrechen (kritische Sinnbildung) und wie sie dieser Aufgabe gerecht werden.
3.1 Erwachsenwerden in Zeiten des Krieges Wie bereits im vorangegangen Kapitel erwähnt, sind es vor allem Jugenderinnerungen enger Familienmitglieder, die aufgrund ihrer positiven Elemente besonders gern als narrative Grundlage moderner Erinnerungsfilme genutzt werden und sich für die Aufarbeitung von eigenen wie auch ererbten Traumata andienen. 14 Kaum ein anderes Filmgenre erfüllt diese Anforderungen so gut wie das Coming-of-Age-Drama, das seinen jugendlichen Protagonistinnen und Protagonisten auf dem Weg ins Erwachsenwerden folgt. Es ist daher zunächst der Topos der Jugend, der in den Fokus gestellt werden soll, um die Emotionalisierung und Personalisierung des Erinnerungsstoffs in den Coming-of-Age-Dramen Unser letzter Sommer, Warschau ’44 und Unsere Mütter, unsere Väter auf einer universellen und damit für Transnationalisierungsprozesse fruchtbaren Ebene genauer zu
13 Wozniakowski, zitiert nach: Susanne Marten-Finnis, Collective Memory and National Identities, S. 258; in: Susanne Marten-Finnis. 1995. „Collective Memory and National Identities. German and Polish Memory Cultures: The Forms of Collective Memory.“ Communist and Post-Communist Studies, Bd. 28, Nr. 2, S. 255–261. 14 Vgl. Korzeniewska, Liminalität und Post-Erinnerung, S. 207.
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beleuchten. Die drei ausgewählten Erinnerungsfilme sind allesamt Coming-of-Age-Filme, das heißt, sie behandeln das Erwachsenwerden einer Generation, die den Zweiten Weltkrieg im Jugendalter erlebt hat und deren Entwicklung durch dieses Ausnahmeerlebnis geprägt war. Die Geschichte wird in den Filmen aus ihrer Perspektive erzählt. Neben den spezifischen, zeitgenössischen Erfahrungen des Erwachsenwerdens gehören dazu auch die universellen Erfahrungen, die eine Verbindung zwischen Heranwachsenden heute und damals schafft, nämlich die Abnabelung von den Eltern und die erste Liebe. Aber was ist Jugend eigentlich? Die Shell Jugendstudie, die seit 1953 Jugendliche in Deutschland untersucht, definiert die Jugend als die Zeit zwischen einem Alter von 12 und 25 Jahren. 15 Der Begriff ist ein Produkt der Moderne und fand erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts Eingang in den Alltagswortschatz und war dabei zunächst nicht nur positiv besetzt. Zwar gab es mit Goethe in Deutschland und Mickiewicz in Polen bereits im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert einflussreiche Literaten, die sich dem Jugendmythos aus einer positiven Perspektive näherten. Mickiewicz schrieb sogar eine Ode an die Jugend (Oda do młodo´sci). Im späten 19. Jahrhundert wurde Jugend langsam als eigene Altersgruppe mit eigenen Interessen und Handlungsfeldern erkannt. Doch erst mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts und der aufkommenden Jugendbewegung wandelte sich die Konnotation des Begriffs zum Positiven. 16 Der Mythos der Jugend als Motor der Geschichte, der auch heute noch bisweilen beschworen wird – man denke an Formeln wie „Kinder sind unsere Zukunft“, die in Politik, Gesellschaft und Kunst gleichermaßen bemüht werden – entwickelte sich nach dem Ersten Weltkrieg unter dem Einfluss nationalistischer Strömungen. Auch der Nationalsozialismus wusste den Jugendmythos für sich zu nutzen. Zum einen wurde die ideologische Beeinflussung der Jugend systematisch durch die Organisation eines Großteils der Kinder und Jugendlichen in Hitlerjugend und Bund deutscher Mädel praktiziert. 17 Spezifische Literatur oder Filme für Jugendliche waren interessanterweise die Ausnahme: „Der Hitlerjunge Quex war auch als Film ein Erfolg; im übrigen wurden jedoch unter dem NS-Regime über und für die Jugend
15 Vgl. Mathias Albert, Klaus Hurrelmann und Gudrun Quenzel. 2015. Jugend 2015. 17. Shell Jugendstudie. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. 16 In den letzten Jahrzehnten ist eine Rückkehr zu diesem einst negativen Jugendbild zu beobachten, das Jugendliche auch als unreif und gefährlich charakterisierte. 17 Gleichzeitig formierte sich beispielsweise in der bündischen Jugend aber auch Widerstand gegen den Nationalsozialismus, der hier nicht unerwähnt bleiben soll.
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erstaunlich wenige Spielfilme produziert.“ 18 Zum anderen wurde Hitler selbst immer wieder als junger Führer dargestellt, wie beispielsweise von Rudolf Heß: „Wir haben vor uns das beste Beispiel im Führer selbst – im Führer, der doch nun bald fünfzig Jahre werden wird und trotzdem innerlich und geistig immer der Jüngste unter uns ist.“ 19 Der Jugendmythos, den das NS-Regime zu konstruieren und nutzen versuchte, blieb letztendlich ohne echten Inhalt und verlor mit dem fortschreitenden Alter der Nationalsozialisten auch seine Authentizität. 20 In diesem Kontext fand auch die Kindheit und Jugend der jugendlichen Protagonistinnen und Protagonisten aus Unsere Mütter, unsere Väter und des jungen Soldaten Guido Hausmann aus Unser letzter Sommer statt. Das ist die Jugend, um die es in dieser Arbeit gehen soll. In Polen ist die Generation derer, die den Zweiten Weltkrieg als junge Frauen und Männer erlebt und überlebt haben, selbst zum Mythos geworden. Diese Generation der um 1920 Geborenen spielte eine wichtige Rolle in der Nachkriegsliteratur. Die wohl bekannteste Bearbeitung legte Roman Bratny, selbst Jahrgang 1921, etwa ein Jahrzehnt nach dem Ende des Krieges 1957 vor: Der dreiteilige Roman Kolumbowie. Rocznik 20., den der Autor zwischen 1955 und 1956 verfasste, ist noch heute Pflichtlektüre an polnischen Schulen und inspirierte in den 1970er-Jahren eine Fernsehserie, die ebenfalls auch heute noch regelmäßig im polnischen Fernsehen zu sehen ist. Bratnys Roman war es auch, der der Generation ihren Namen gab. 21 Es ist ebendiese Generation, der auch die Hauptrolle in Warschau ’44 zukommt. Der Mythos der Kolumbowie, also der ersten Generation,
18 Joachim Radkau. 1985. „Die singende und die tote Jugend. Der Umgang mit Jugendmythen im italienischen und deutschen Faschismus“. In: „Mit uns zieht die neue Zeit“. Der Mythos Jugend. Herausgegeben von Thomas Koebner, Rolf-Peter Janz und Frank Trommler, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 97–127, hier: S. 115. Allerdings wurde dieser Jugendmythos im Nationalsozialismus nicht konsequent genutzt und befördert. Vielmehr traf eine „Sehnsucht nach Reife und wetterfestem Mannestum“, also der „Blut-und-Boden-Mythos“ den Zeitgeist der ausklingenden 1920er-Jahre in Deutschland und bereitete den Boden für den nationalsozialistischen Führerkult. Ebd., S. 117. 19 Rudolf Heß. 1938. Reden, München, S. 176, zitiert nach: Joachim Schmitt-Sasse. 1985. „‚Der Führer ist immer der Jüngste‘ Nazi-Reden an die deutsche Jugend.“ In: „Mit uns zieht die neue Zeit“. Der Mythos Jugend. Herausgegeben von Thomas Koebner, RolfPeter Janz und Frank Trommler, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 128–149, hier: S. 143. 20 Vgl. Radkau, Die singende und die tote Jugend, S. 121. 21 Vgl. Zbigniew Jarosi´nski. 1992. „Pokolenia literackie.“ In: Słownik literatury polskiej XX wieku. Herausgegeben von Alina Brodzka et al., Wrocław: Zakład Narodowy im. Ossoli´nskich, S. 825–833, hier: S. 830. Der Dichter Tadeusz Ró˙zewicz, Jahrgang 1921 und ebenfalls den Kolumbowie zuzuordnen, befasste sich in seinem Gedicht Ocalony mit dieser Generation junger Menschen. Die Ocalały, also die Überlebenden bildeten eine literarische Generation, die im Zweiten Weltkrieg gegen die nationalsozialisti-
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die im freien Polen nach dessen Wiedergründung 1918 geboren wurde und sich als junge Erwachsene für den Erhalt dieser Freiheit einsetzte, spielt dort eine zentrale Rolle. Dass diese Kriegsgeneration einen zentralen Platz im Erinnerungsfilm in Deutschland und Polen einnimmt, ist keine ganz neue Entwicklung. Natürlich hat es auch schon in früheren Jahren Filme gegeben, die sich vor allem dem Schicksal der jungen Generation während des Kriegs widmeten. Prominentestes Beispiel auf deutscher Seite ist sicherlich Bernhard Wickis Antikriegsfilm Die Brücke. In den populärsten polnischen Filmen und Fernsehserien der Nachkriegszeit, die sich mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigten, spielten Jugendliche zunächst eher eine Nebenrolle. Die eben erwähnte Verfilmung des Romans von Roman Bratny, Kolumbowie. Rocznik 20. 1970 als Fernsehserie unter der Regie von Janusz Morgenstern bildet eine Ausnahme. Es ist also sehr wohl bemerkenswert, dass Jugendliche in jüngster Zeit immer weiter in den Mittelpunkt der filmischen Darstellung von Geschichte rücken. Diese Entwicklung wird sicherlich durch eine allgemeinere Verschiebung des Fokus der Erinnerungsfilme von großen Persönlichkeiten der Geschichte hin zu ganz normalen Menschen begünstigt. Sowohl in Polen als auch in Deutschland erschienen zahlreiche Filme und Serien, die sich ganz explizit den Erfahrungen der Jugend im Zweiten Weltkrieg widmen. 22 „[N]ach 1945 [war es] lange Zeit nicht die jugendliche Begeisterung für den Faschismus, sondern das Phänomen der alten Nazis, das die Öffentlichkeit beschäftigte.“ 23 Auch wenn eine Hinwendung zur Jugend im Nationalsozialismus stattgefunden hat – die Beschäftigung mit einer sich ehrlich für den Faschismus begeisternden Jugend steht weiterhin aus. Darstellungen junger Deutscher in aktuellen Erinnerungsfilmen sind
schen Besatzer gekämpft hatte, unter anderem auch im Warschauer Aufstand, und in der Nachkriegszeit ihr literarisches Debüt feierte. Ein deutsches Pendant, wenn auch ohne dieses Moment der Mystifizierung, war die Gruppe 47. Sie verfügte über ein besonderes Sendungsbewusstsein, denn diese „junge Generation“ sollte dazu beitragen mit ihrer Literatur ein neues Deutschland zu schaffen. Ihre Legitimation zog sie aus der Kriegserfahrung. Siehe auch Frank Trommler. 1985. „Mission ohne Ziel. Über den Kult der Jugend im modernen Deutschland.“ In: „Mit uns zieht die neue Zeit“. Der Mythos Jugend. Herausgegeben von Thomas Koebner, Rolf-Peter Janz und Frank Trommler, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 14–49, hier: S. 45 f. 22 Dazu gehören neben den hier behandelten Filmen beispielsweise Die Kinder der Villa Emma (2016), Die Freibadclique (2017), Nebel im August (2016), oder auch Sophie Scholl – Die letzten Tage (2005), der eine Ausnahme bildet, da er sich auf die bekannte Widerstandskämpferin Sophie Scholl konzentriert. In Polen zu nennen sind unter anderem Morgen gehen wir ins Kino (2007), Operation Arsenal – Kampf um Warschau (Kamienie na szaniec, 2014) sowie die Serien Czas Honoru und Wojenne Dziewczyny. 23 Radkau, Die singende und die tote Jugend, S. 97 – Hervorhebung im Original.
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kein Erklärungsversuch und dienen weniger einem Verstehen der Beweggründe, die Jugendliche in die Arme des Nationalsozialismus trieben. Vielmehr bekräftigen sie das Motiv einer verführten Jugend, die Opfer eines verbrecherischen Systems wurde, in dem allein die äußeren Umstände die Entwicklung des Einzelnen lenkten. Dieser tragische, unverschuldete Verlust der Jugend appelliert an das Mitgefühl der Zuschauer. 24 Schon in der Fokussierung auf Jugendliche sind also zwei grundlegende Erfolgsfaktoren des modernen Erinnerungsfilms angelegt: die Emotionalisierung und die Privatisierung der Geschichte. Die Charaktere zeichnen sich durch ihre Typenauthentizität aus. 25 Es sind unbekannte Jugendliche und nicht große Persönlichkeiten der Vergangenheit, deren Geschichten erzählt werden. Ihre Träume und Ziele bewegen sich zwischen dem Wunsch nach Normalität und einem guten Leben (Unser letzter Sommer) und dem Streben nach etwas Höherem, nämlich als Helden für das Vaterland zu kämpfen (Warschau ’44, Unsere Mütter, unsere Väter). Über die Zeit des Nationalsozialismus in Coming-of-Age-Dramen zu erzählen, also am Beispiel ebenjener vermeintlich verführter, junger Menschen, die sich an der Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsenalter befinden, bietet daher die besten Voraussetzungen dafür, die deutsche Tätergeschichte in eine Opfergeschichte umzudeuten. 26 [I]n erstaunlicher Stetigkeit haben Jugendmythen die politischen Umbrüche des 20. Jahrhunderts mitbestimmt und der jeweiligen Attacke gegen Tradition und Macht die Aura des Elementaren, Neuen, Niegehabten verschafft. Wo immer die wirklichen Revolutionen ausblieben, beschwor man Mythen der Jugendlichkeit, um die radikale Ablösung von der Geschichte zu manifestieren. Jugendmythen sind leichter herzustellen als Revolutionen,
schreibt Frank Trommler. 27 Zu einem gewissen Grad lässt sich diese Feststellung auf Erinnerungsfilme wie Unser letzter Sommer, Warschau ’44 und Unsere Mütter, unsere Väter übertragen. Der Bruch mit Tabus und vermeintlichen Erinnerungsverboten ist fester Bestandteil der Marketingmaschinerie moderner Spielfilme über die Vergangenheit. Das Genre des Comingof-Age-Dramas unterstützt diese Loslösung von bisherigen Erzählkonventionen, immerhin ist ein Umbruch im Prozess des Erwachsenwerdens schon 24 Das diesen neueren Erinnerungsfilmen zentrale Motiv des Verlusts der Jugend fand sich interessanterweise auch schon in Hitlers nationalsozialistischer Jugendmythologie. Vgl. Radkau, Die singende und die tote Jugend, S. 109. 25 Vgl. Pandel, Authentizität, S. 31. 26 Vgl. auch Gerhard Jens Lüdeker. 2012. Kollektive Erinnerung und nationale Identität. Nationalsozialismus, DDR und Wiedervereinigung im deutschen Spielfilm nach 1989. München: ed. text + kritik, S. 193, der sich in seiner Dissertationsschrift vor allem der DDR-Erinnerung als Coming-of-Age-Story widmet. 27 Trommler, Mission ohne Ziel, S. 14.
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angelegt. Wie bereits im letzten Abschnitt gezeigt, beanspruchen die Macher der Erinnerungsfilme für sich und ihre Werke, dass sie anders als bisher über die Geschichte zu erzählen vermögen. Inwiefern die Erinnerungsfilme diesem Anspruch tatsächlich gerecht werden können und wollen, soll im weiteren Verlauf dieser Arbeit ebenfalls thematisiert werden.
3.1.1 Jugend als universelle Erfahrung – Unser letzter Sommer Michał Rogalskis Unser letzter Sommer spielt im Sommer 1943 fernab des großen Kriegsgeschehens im ostpolnischen Dörfchen Wroblew und erzählt die Geschichte des siebzehnjährigen deutschen Soldaten Guido Hausmann und des gleichaltrigen Polen Romek. Der eine wurde vor dem Stichtag seines Geburtsjahrgangs eingezogen und zum Militärdienst ins besetzte Polen geschickt – als Strafmaßnahme für das Hören von Jazzmusik, die den Nationalsozialisten als „entartet“ galt. 28 Der andere lebt mit seiner Mutter in demselben Dorf, in das es den jungen Deutschen verschlägt, und arbeitet als Heizer bei der Eisenbahn. Romek und Guido sind keine außergewöhnlichen Charaktere, sondern ganz normale Jugendliche. Unser letzter Sommer widmet sich detailliert ihren Wünschen und Träumen sowie der Entwicklung, die die beiden Jungen in den wenigen Tagen, für die der Film dem Publikum Einblick in ihre Leben gibt, durchlaufen. Die Hauptmotive sind, typisch für einen Film über das Erwachsenwerden, der Verlust der Unschuld und die erste Liebe, aber auch die Sehnsucht nach einem ganz normalen Leben. Die deutsch-polnischen Beziehungen im Besatzungsalltag Polens im Jahr 1943 spielen in Rogalskis Film eine elementare Rolle. Der Regisseur und Drehbuchautor sagte 2008 bei der Verleihung der Hartley-Merril Awards über seine Motivation, Unser letzter Sommer zu schreiben: Ich wollte über unmögliche Zusammentreffen erzählen [. . . ]. Es gibt hier einen polnischen und einen deutschen Jungen, ein jüdisches und ein polnisches Mädchen, aber auch Sowjets. Eine extreme Situation sorgt dafür, dass die Zeit zusammenschrumpft, man muss Entscheidungen schnell treffen und die Beziehungen werden intensiver. 29
28 Nach Radkau war ebendiese Begeisterung für das Neue, Exotische, das der Jazz verkörperte, „Kernstück jugendlicher Gegenidentitäten gegen die verordnete nationalsozialistische Kultur; neben den heißen Rhythmen der afroamerikanischen Musik verblaßte (sic) am Ende das völkische Pathos“. Radkau, Die singende und die tote Jugend, S. 120. 29 Paweł T. Felis. 2008. „Polak drugi w finale konkursu Hartley-Merrill.“ Gazeta Wyborcza, 13. September 2008, URL: http://wyborcza. pl/ 1,75410,5690450,Polak_ drugi_ w_ finale_ konkursu_ Hartley_ Merrill. html, Zugriff am 3. Oktober 2017.
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Die Wege von Guido und Romek kreuzen sich symbolisch und tatsächlich im Film einige Male. Eine Schlüsselszene stellt die versinnbildlichte Kreuzung der Wege der beiden Jungen dar, die sich im Film zweimal wiederholt: Die Zugstrecke, die Romek mit seiner Lokomotive bis zur Rampe des nahegelegenen Konzentrationslagers fährt, kreuzt eine unbefestigte Landstraße, auf der Guido gemeinsam mit seinem älteren Kameraden Odi Strasser auf einem Motorrad ebenfalls auf dem Rückweg vom Lager ist. In einer Art Machtprobe liefern sich die Jungen ein Wettrennen. Bei der ersten Begegnung bremst Romeks Vorgesetzter Leon im letzten Moment den Zug aus, bevor es zu einer Kollision kommen kann oder sie den Deutschen die Vorfahrt nehmen. Diese Szene wiederholt sich ganz zum Schluss des Films noch einmal, diesmal allerdings mit einem anderen Ausgang: Romek, der nun die Führung der Lok übernommen hat, zwingt Guido auf dem Motorrad zu einem abrupten Abbremsen. Dem Deutschen bleibt nichts, als dem Zug hinterher zu blicken. Die Szene entbehrt nicht einer gewissen Symbolik, spiegelt sie doch die Machverhältnisse zwischen den beiden bzw. zwischen Polen und Deutschen und deren Umkehr wider. Das erste Zusammentreffen der beiden aber findet an der Rampe des Konzentrationslagers statt, als Romek beim Klauen eines Koffers erwischt wird. Guido, der ihn anschließend zwischen den Güterwagons entdeckt, lässt den Gleichaltrigen laufen. Später bringt der Inhalt des Koffers, ein Grammophon mit Schallplatten voller Jazzmusik, die beiden Jungen abermals zusammen. Der von der durch das Fenster dringenden Musik angelockte Guido überrascht Franka und Romek in dessen Zimmer, in dem dieser gerade das Mädchen mit dem Fund zu beeindrucken versucht. 30 Es sind Szenen wie diese, in denen die Nationalität der Protagonisten in den Hintergrund tritt und die Jugendlichen vor allem Jugendliche sind. Die Zerbrechlichkeit dieses Zustands der Gleichheit wird deutlich, als die drei von Romeks Mutter und deren Lebensgefährten Leon entdeckt werden und die Machtverhältnisse der Besatzungssituation wieder evident werden: Leon, der sich beim Anblick des deutschen Soldaten unterwürfig gibt – er spricht den deutschen Soldaten in dessen Sprache an –, und Guido, der mit der Überheblichkeit des deutschen Besatzers gegenüber dem Besetzten agiert, wohlwissend, dass er sich aus seiner Machtposition heraus alles erlauben kann. Die Nationalität von Guido und Romek tritt für den Großteil des Films hinter ihren Rollen als Jugendliche zurück. Es ist zweitrangig, ob diese Jungen nun Deutsche oder Polen sind, ob sich die Geschichte im Zweiten
30 Eine Szene, die auch Guido-Darsteller Jonas Nay als zentral empfindet, vgl. Kruse, Jonas Nay: „Direkt ins Mark getroffen“.
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Weltkrieg im besetzten Polen oder zu einem beliebigen anderen Zeitpunkt in einem anderen Krieg abspielt. Das betonte auch die Jury 2008 anlässlich der Verleihung des bereits erwähnten Drehbuchpreises an Michał Rogalski. Das polnische Jurymitglied Feliks Falk begründet den Erfolg von Unser letzter Sommer mit der Universalität des Themas: Das war einfach der originellste und universellste Text, wenn auch nicht ohne Fehler zum Verbessern: genauso gut könnte es sich im Ersten Weltkrieg oder im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg abspielen. 31
Die Universalität der Erfahrung der Jugend, der Wunsch nach Normalität und universell übertragbaren Wünschen nach der Realisierung eines selbstbestimmten Lebensentwurfs sind der Kern dessen, worum es Regisseur Rogalski ging und die diesen Film auch transnational und über Generationen hinweg anschlussfähig machen. Der Aspekt der Jugend wird bei den Hauptcharakteren Romek und Guido auf vielerlei Ebenen akzentuiert. Einerseits wird diese Jugendlichkeit durch ihr jugendliches Aussehen und ihr eigenes Verhalten offensichtlich. Sie sind unsicher, zugleich draufgängerisch und wenig um die möglichen Konsequenzen ihres Handelns besorgt, siehe beispielsweise die erwähnten Motorrad- und Lokomotivrennen oder Guidos Ausflüge auf den Speicher des GendarmeriePostens, wo er heimlich die verbotene Jazzmusik hört. Aber auch durch Fremdcharakterisierung und das Verhältnis zu anderen Personen wird ihre Charakterisierung als Jungen gefestigt. Bei Romek passiert dies insbesondere im Verhältnis zur Mutter, aber auch zu deren Geliebten und seinem Vorgesetzten Leon, bei Guido sind es die polnische Küchenfrau Teresa und die deutlich älteren Kameraden. Geschichte wird auch im Erinnerungsfilm von Männern erzählt. 32 Im Fokus der Erzählung stehen zwei Jungen an der Schwelle zum Mannesalter. 33 Eine weniger prominente Rolle nimmt die Perspektive der Mädchen und Frauen in Unser letzter Sommer ein. Die Charaktere der polnischen Bauerstochter Franka und des jüdischen Mädchens Bunia sind nicht stark ausdifferenziert und dienen hauptsächlich als weibliche Gegenstücke zu
31 Paweł T. Felis. 2008. „Szenariusze nie do szuflady.“ Gazeta Wyborcza, 19. März 2008, URL: http://wyborcza. pl/ 1,75410,5040278. html, Zugriff am 3. Oktober 2017. 32 Da hilft es auch nicht, dass die männlichen Filmemacher sich auf die Erlebnisse der eigenen Großmütter beziehen oder männliche Rezensenten ihnen einen Wunsch attestieren, durch die Zurückstellung der weiblichen Charaktere deren Opferstatus zu untermauern. Vgl. bspw. Bartosz Staszczyszyn. 2016. „Letnie przesilenie.“ Culture.pl, 20. April 2016, URL: http://culture. pl/ pl/ dzielo/ letnie- przesilenie, Zugriff am 27. Februar 2017. 33 Diese Fokussierung des Jugendbegriffs auf die männliche Jugend, weniger die weibliche, stellt auch Trommler fest. Vgl. Trommler, Mission ohne Ziel, S. 20.
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Guido und Romek. 34 Ihre Träume und Wünsche bleiben dem Zuschauer weitestgehend verborgen. In seiner Rezension befindet Ralf Schenk, dass „die beiden Mädchen [. . . ] eher holzschnitthaft gezeichnet“ seien. „Sie wirken wie Stichwortgeberinnen, dramaturgische Mittel zum Zweck.“ 35 Franka ist, wie Rogalski in einem Interview verrät, „wie viele Frauen aus der tiefsten Provinz: sie möchte gerne ein anderes Leben führen. Das bietet sich durch ihr Treffen mit Guido, aber es ist nicht der richtige Weg“. 36 Die Beziehung zwischen Franka, Guido und Romek ist über weite Strecken des Films als Dreiecksbeziehung angelegt. Unser letzter Sommer beginnt mit Bildern von Romek, einem blonden und blauäugigen polnischen Dorfjungen, der mit Franka, einer ebenfalls blonden und blauäugigen, hübschen Bauerntochter mit langem geflochtenen Zopf durch hohes Schilf läuft. Es wird klar, dass auch Romek ein romantisches Interesse an dem Mädchen hat. Doch Franka verliebt sich in Guido und Romek trifft im Wald auf Bunia, die aus dem Deportationszug geflohen ist. Dieses Zusammentreffen ist es, das für ihn die Weichen seiner weiteren Entwicklung stellt. Fernab der großen Ereignisse der Weltgeschichte werden Guido und Romek in diesen Tagen im Sommer 1943 vor allem durch ihre Beziehungen zu Franka und Bunia vor Entscheidungen gestellt, die sie in ihrer Entwicklung entscheidend beeinflussen. So universell die Erfahrung der Jugend und des Erwachsenwerdens in Unser letzter Sommer auch angelegt ist und so zentral sie für die Charakterisierung der Hauptfiguren ist, so wenig darf dieser Aspekt doch darüber hinwegtäuschen, dass auch Rogalski in seinem Film vor der Problematik der De- und Rekonstruktion nationaler Hetero- und Autostereotype stand. Die Jugenderfahrungen und individuellen Entwicklungswege von Guido und Romek sind natürlich auch durch ihre jeweilige Nationalität geprägt. Diese deutsche und polnische Erfahrung soll im Folgenden genauer beleuchtet werden. 3.1.1.1 Eine deutsche Erfahrung: Guido Hausmann
Obgleich der siebzehnjährige Guido Hausmann ein ganz normaler Jugendlicher nach heutigen Maßstäben sein mag, so ist seine Figur im polnischen Erinnerungsfilm etwas Besonderes. Guido ist kein stereotyper deutscher
34 Auch die weiblichen Charaktere in Warschau ’44 und Unsere Mütter, unsere Väter bleiben erstaunlich flach. Filme, die über die Gräuel des Zweiten Weltkriegs aus einer weiblichen Perspektive berichten und in denen Frauen nicht nur als Mütter und Opfer von Kriegsverbrechen vorkommen, sind selten. 35 Schenk, Unser letzter Sommer. 36 farbfilm verleih, Unser letzter Sommer. Presseheft, S. 12.
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Soldat. Er ist das Nesthäkchen in einer Gruppe mittelalter Männer im Gendarmerie-Stützpunkt Wroblew, für das der Dienst im besetzten Polen eine Strafe für das Hören „entarteter Musik“ sein soll. Diese Merkmale heben ihn aus der Masse der in der Hitlerjugend organisierten Jugendlichen des „Dritten Reiches“ heraus, die nach dem „Gesetz über die Hitlerjugend“ von 1936 und der „Jugend-Dienstverordnung“ von 1939 nahezu alle jungen Menschen umfasste. Genau deshalb lohnt eine genauere Betrachtung dieses Charakters, der für einen Wandel in der Erinnerung im Film stehen kann. Guido Hausmann ist unangepasst, aber nicht politisch. Seine Geschichte darf nicht als politischer Widerstand gegen das System und seine Ideologie missverstanden werden, sondern vielmehr als ein Ausdruck des Strebens nach persönlicher Freiheit. Der Vergleich mit den auch unter dem Oberbegriff Edelweißpiraten bekannt gewordenen Jugendgruppen liegt nahe, die sich in losen Verbünden trafen, um Swing-Musik und Jazz zu hören. Schnell entsteht der Eindruck eines gewissen Organisationsgrades und einer gemeinsamen Agenda. Diese existierte allerdings nicht, auch wenn es zwischen den informellen, meist im städtischen Raum angesiedelten Jugendgruppen durchaus Parallelen gab. Insbesondere erinnert die Geschichte Guidos an die zunächst vor allem im bildungsbürgerlichen Milieu im norddeutschen Raum aktive Swing-Jugend, die sich vor allem ebendieser Musikrichtung sowie einem amerikanisch-englischen Lebensstil zuwandte. 37 Guidos norddeutscher Dialekt, seine Liebe für Jazzmusik und seine nicht sehr praktische Veranlagung – unter anderem scheitert er am Anzünden eines Lagerfeuers – machen es nicht unwahrscheinlich, dass seine Figur in der Nähe dieser Jugendbewegung zu verorten ist. Auch die zeitgenössische Beschreibung der Swing-Jugend durch die Reichsjugendführung bekräftigt diesen Eindruck: Schallplattenapparat und der ständige Erwerb der neu erscheinenden Tanzplatten gehört unbedingt zu einem Angehörigen der „Swing Jugend“. Die Schallplatte spielte die Rolle des Buches. [. . . ] Dementsprechend stehen die Angehörigen der „Swing-Jugend“ dem heutigen Deutschland und seiner Polizei, der Partei und ihren Gliederungen, der Hitler-Jugend, dem Arbeits- und Wehrdienst samt dem Kriegsgeschehen ablehnend oder zumindest uninteressiert gegenüber. Sie empfinden die nationalsozialistische Einrichtung als
37 Zur Swing-Jugend siehe bspw. Anne Neunzig. 2014. Staatsjugendorganisationen – Ein Traum der Herrschenden. Hitlerjugend / Bund Deutscher Mädchen und Freie Deutsche Jugend im Vergleich. Leipzig: Engelsdorfer Verlag, S. 125–130; eine gute Übersicht liefert auch die vom NS-Dokumentationszentrum in Köln getragene Website www.jugend1918-1945.de.
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einen „Massenzwang“. Das große Geschehen unserer Zeit rührt sie nicht, im Gegenteil, sie schwärmen für alles, was nicht deutsch, sondern englisch ist. 38
Eine Figur wie die des Guido Hausmann ist im polnischen Erinnerungsfilm durchaus bemerkenswert, denn sie ist angelegt, um ein untypischer Deutscher zu sein – dafür aber ein typischer Jugendlicher. Nichts an ihm ist konformistisch. In gewisser Weise ebnet dieser junge Deutsche den Weg, um auch im polnischen Erinnerungsfilm deutsche Soldaten als Opfer der Umstände darzustellen, denn Guido ist ein Opfer der nationalsozialistischen Ideologie. Der Dienst im besetzten Polen ist seine Strafe für den Verstoß gegen die Regeln. Sein Vergehen, das Hören sogenannter „entarteter“ Musik, ist aus heutiger Sicht erschreckend banal. Unter Zwang muss er unter der Führung eines neuen, sadistischen Oberleutnants immer weitreichendere Entscheidungen treffen. In dieser Entwicklung des jungen Deutschen sind einige Schlüsselmomente zentral, weil sie eine Ereigniskette in Gang setzen, im Verlaufe derer Guido ein anderer wird. Die Kamera lässt den Zuschauer durch eine Vielzahl von Nahaufnahmen an diesem Entwicklungsprozess und an Guidos Emotionen teilhaben. Ein Hauptmotiv in Rogalskis Coming-of-Age-Drama ist denn auch der Verlust der Unschuld. Der DUDEN kennt für den Begriff „Unschuld“ mehrere Definitionen: 1) das Unschuldigsein; das Freisein von Schuld an etwas; also entweder ein unschuldiges Wesen; das Unschuldigsein; Reinheit oder auch (auf einem Mangel an Erfahrung beruhende) Ahnungslosigkeit, Arglosigkeit, Naivität; 2) Unberührtheit, Jungfräulichkeit. 39 Der Verlust der Unschuld findet für Guido wie auch für Romek in beiderlei Sinne statt. Eine wichtige Rolle für den Verlust der Unschuld im ersten Sinne spielt der neue Oberleutnant, der die Führung der Truppe in Wroblew übernimmt und dessen erklärtes Ziel es ist, aus den Männern Soldaten zu machen. Es ist auch eine Maßregelung des Oberleutnants, die erst spät im Film, nämlich im letzten Drittel darüber Aufschluss gibt, warum Guido mit seinen siebzehn Jahren als deutlich jüngster Soldat in Wroblew stationiert ist. Dort fragt der Oberleutnant ihn, warum er schon eingezogen worden sei, sein Jahrgang sei doch erst im Herbst dran. Wegen des Hörens von Jazzmusik, entgegnet Guido „Aha, also doch ein Asozialer“, folgert der Oberleutnant. 40 Der Status als jüngster in der Truppe bringt Guido in eine durchaus privilegierte Position. So behandelt die Küchenfrau Teresa Guido 38 Denkschrift der Reichsjugendführung, September 1942, zitiert nach: Arno Klönne. 2014. Jugend im Dritten Reich: Die Hitler-Jugend und ihre Gegner. Paperback. Köln: PapyRossa Verlag. 39 Vgl. DUDEN. o. J. „Unschuld, die“ DUDEN.de, URL: https://www. duden. de/ rechtschreibung/ Unschuld, Zugriff am 8. Februar 2019. 40 Unser letzter Sommer, Min. 01:06:14–01:06:18.
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wie einen kleinen Jungen, wenn sie ihm die Uniform sauberwischt und ihn tadelt. Auch seine Kameraden, die allesamt deutlich älter sind, behandeln ihn wie einen Jungen. In den Szenen, in denen Guido mit dem Schäferhundwelpen des Gendarmerie-Postens spielt, wird durch die Parallele zwischen den beiden abermals die Tragik der Filmhandlung gespiegelt: beide sind noch jung und unschuldig, aber der Krieg und die Truppe sollen sie zu Wachhund und Soldat machen. Interessant ist dieses Bild auch deswegen, weil das Motiv des Deutschen mit seinem Hund, den er gemeinhin besser behandelt als andere Menschen, im polnischen Kino der Nachkriegszeit durchaus geläufig war. 41 Aber auch die erwachende Sexualität spielt eine wichtige Rolle in Guidos Charakterisierung als Heranwachsendem. Es ist nicht nur das zarte Anbandeln mit Franka, sondern auch die Tatsache, dass sich Guido eine Ausgabe der Illustrierten Zeitung aneignet, in der neben Klatsch und Tratsch über die im „Dritten Reich“ beliebte Schauspielerin Ruth Eweler auch Fotografien von Frauen in Badeanzügen zu sehen sind. Später nutzt er sie in seinem Versteck auf dem Dachboden als optische Stimulation zum Onanieren. Ein ähnliches Motiv findet sich beispielsweise auch schon 1991 in Heldenfrühling, einer Tragikomödie von Oliver Storz (Drehbuch) und Michael Kehlmann (Regie), in dem zwei Fünfzehnjährige in den letzten Kriegstagen eingezogen werden, aber ein größeres Interesse an den ersten Erfahrungen mit Mädchen und dem Erwachsenwerden als am Kampf haben. Guido, der durch seine Unbedarftheit und seinen Unwillen, sich gewissenhaft an der Ausführung seines Dienstes zu beteiligen, bislang gewissermaßen frei von persönlicher Schuld ist, lädt im Verlauf der Filmhandlung immer mehr Schuld auf sich. Kleinere Vergehen wie beispielsweise das Stehlen des Füllfederhalters aus dem Büro des SS-Manns Hübsch während der Verwirrung um Romek und den gestohlenen Koffer an der Rampe des Konzentrationslagers zeigen, dass Guido durchaus kein Musterschüler ist. Zunächst sieht es nicht so aus, als würde der Strafdienst im besetzten Polen aus dem unangepassten Jugendlichen einen treuen und tapferen Soldaten machen. Im Gegenteil. Wenig geläutert hört er heimlich auf dem Dachboden des Stützpunkts einen amerikanischen Radiosender, der seine geliebte Jazzmusik spielt. Bis zuletzt fühlt er sich an seinem Rückzugsort so sicher, dass er sogar die Kopfhörer des Radios in eine Metallschüssel legt, die ihm als Verstärker dient, und die verbotene Musik in Zimmerlautstärke hört. Seinen Status als Nesthäkchen, das von den älteren Soldaten mit
41 Vgl. Bernadetta Matuszak-Loose. 2011. „Bevorzugt und (un)beliebt: Bilder deutscher Frauen im polnischen und polnischer Frauen im deutschen Nachkriegsfilm.“ In: Deutsche und Polen: Filmische Grenzen und Nachbarschaften. Herausgegeben von Konrad Klejsa und Schamma Schahadat, Marburg: Schüren, S. 217–228, hier: S. 219.
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Nachsicht behandelt wird, nutzt er aus. Wo er aber zunächst noch die Möglichkeit hat, sich situativ gegen ein gewaltvolles Handeln zu entscheiden, und diese Möglichkeit auch nutzt – beispielsweise lässt er Romek dreimal laufen – schwinden mit dem Erscheinen des neuen Oberleutnants diese Entscheidungsfreiheiten. Dieser zwingt Guido beispielsweise dazu, einen Heuhaufen, in dem sich Menschen verstecken, anzuzünden. Wie schwer diese Schuld auf ihm lastet, wird in den darauffolgenden Gesprächen mit Odi klar. Odi: „Wat ist los, Kleener? Mach dir nicht immer so ’ne Gedanken.“ Guido: „Da war ein Kind drinne, Odi. Ein Kind, ich hab’s schreien hören.“ 42
Nahaufnahmen gewähren den Zuschauern einen genauen Blick auf die Emotionen, die sich in Guidos Gesicht abzeichnen und sind gewissermaßen Ersatz für einen Einblick in die Gedankenwelt des Jungen, die dem Publikum ansonsten verborgen bleibt. Als bei einem anschließenden Zusammentreffen von Guido mit Romek und Bunia im Wald das Gewehr des Deutschen in den Fluss fällt, versuchen Guido und Odi dies mit einer Notlüge zu vertuschen. Der Oberleutnant aber ist nicht so leicht zu überzeugen. Er packt Guido barsch im Schritt: Oberleutnant: „Du hast es weggeworfen, weil du nicht kämpfen willst, was? Ich habe dich beobachtet. Du bist ein Feigling. Wie im Urlaub ist es hier? Ihr geht jetzt alle das Gewehr suchen, bis es da ist. Kapiert?“ 43
Für die Notlüge des Jungen werden zwei polnische Partisanen erschossen, deren Leichen Guido im Waldboden vergraben muss. Die wohl schwerste Strafmaßnahme aber, die der Oberleutnant Guido auferlegt, ist die für seinen Umgang mit Franka. Der Oberleutnant, der Franka und Guido auf dem Dachboden des Gendarmerie-Postens in flagranti erwischt, also in dem Moment, der den Verlust der Unschuld im Sinne der Unberührtheit und Jungfräulichkeit symbolisiert, stellt Guido vor die Entscheidung: Er kann sich selbst vor einer Bestrafung durch das Kriegsgericht retten, wenn er wirklich bereit ist, alles zu tun. Diese Szene, die kurz vor Ende des Films einen Wendepunkt für Guido bringt, ist entscheidend für die Entwicklung des Jungen und schließt den Verlust seiner Unschuld im doppelten Sinne ab. Zum ersten Mal entscheidet Guido sich für eine Gewalttat, um sich selbst zu retten. Mit geröteten Augen und Gewehr in der Hand führt Guido die immer noch halbnackte Franka nach Hause. Auch sie weint und trägt ihre Kleidung im Arm vor sich. Zwei Kameraden und der Oberleutnant begleiten die beiden lachend durchs Dorf. Als die Gruppe
42 Unser letzter Sommer, Min. 00:45:05–00:45:13. 43 Unser letzter Sommer, Min. 00:57:23–00:57:43.
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am Hoftor von Frankas Elternhaus angekommen ist, dreht sie sich zu Guido um. „Verabschiede dich“, geheißt ihm der Oberleutnant lächelnd. 44 In diesem Moment ist Guido die Hilflosigkeit ins Gesicht geschrieben. Den Moment des Schusses zeigt Rogalski nicht, wohl aber wenig später aus der Froschperspektive einen aufgelösten Guido, der mit blutigen, verschmutzten Händen am Boden hockt, auf seine Hände starrt und diese zu Fäusten ballt. Für sein im Sinne des Oberleutnants vorbildliches Verhalten erhält Guido wenig später eine Beförderung. Er hat gelernt, sein eigenes Leben über das anderer zu stellen. Ganz zum Mann geworden ist er aber noch immer nicht. Beim Annähen der neuen Abzeichen auf seine Uniform stellt er sich wieder so ungeschickt an, dass die Küchenfrau Teresa ihm die Uniform abnimmt und ihm hilft. Sie fragt ihn: „Zuhause sind sie stolz auf dich, oder?“ 45 Die Figur des Guido lädt dazu ein, den Jungen hinter der Uniform zu sehen, der für eine Ideologie einstehen muss, die er nicht vertritt, der unfreiwillig zum Täter wird und damit gewissermaßen selbst zum Opfer des Systems und der Umstände, aus denen er keinen Ausweg findet. Seine Figur steht damit für die anderen Deutschen, die weder Überzeugungstäter noch Widerstandskämpfer waren, sondern einfach nur ganz normale Menschen – und sich doch schuldig machten. 3.1.1.2 Eine polnische Erfahrung: Romek
Unser letzter Sommer beginnt mit einer Traumsequenz des polnischen Teenagers Romek, in der er und Franka, die Tochter eines wohlhabenden Bauern aus dem Dorf, zusammen durch hohes Schilf gehen und er sie mit einem Grashalm kitzelt. Als Romek kurz darauf in seinem Kinderzimmer erwacht, beobachtet er durch einen Türspalt seine Mutter, die sich von ihrem Geliebten Leon verabschiedet. Nachdem er sich angezogen hat, tritt auch Romek in die Küche, in der die Mutter Karamellbonbons zubereitet, die sie hofft beim Fest am Fluss verkaufen zu können. Das düstere Haus, die Knappheit an Lebensmitteln und auch die Kleidung Romeks verraten, dass Mutter und Sohn in ärmlichen Verhältnissen leben – die Schnürsenkel reißen Romek beim Zubinden der Schuhe. Zum Abschied gibt die Mutter dem Sohn Karamellbonbons mit und ringt ihm unter Protest einen Abschiedskuss ab, wie ihn sonst nur Kinder der Mutter geben würden. Während Romek im Hof Wasser pumpt, unterhält er sich mit einem kleinen Nachbarsjungen, der mit einem Flugzeug Krieg spielt. Nicht nur gibt diese Szene Aufschluss über die sozialen und ökonomischen
44 Unser letzter Sommer, Min. 01:27:48–01:27:49. 45 Unser letzter Sommer, Min. 01:29:58–01:30:00.
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Verhältnisse, in denen Romek lebt. Der Zuschauer erfährt auch, dass es Romeks erster Arbeitstag im Lokschuppen ist und dass sein großer Traum ist, eines Tages die Zugstrecke nach Warschau zu fahren. Rogalski gibt seinem Publikum außerdem einen Einblick in das Verhältnis der Jugend in dem ostpolnischen Dorf zum Krieg, der zu diesem Zeitpunkt im Sommer 1943 noch weit weg ist und nicht bitterer Ernst, sondern ein Kinderspiel. Dass Romeks Traum Lokführer zu werden maßgeblich damit zusammenhängt, dass er dem im Krieg vermutlich gefallenen Vater nacheifert, eröffnet ein Gespräch zwischen Leon und Romek im Führerhaus der Lok wenig später. Romek ist ebenso wie Guido unpolitisch und folgt einem eigenen moralischen Kompass, der ihn allerdings keineswegs ohne Schuld lässt. Gewissermaßen ist Romek durch und durch Opportunist und in seinem Handeln weitaus skrupelloser als Guido. Ambivalent ist Romeks Verhältnis zu Jüdinnen und Juden. Augenscheinlich erkennt er wenig Verwerfliches daran, die Habseligkeiten von der Rampe des nahegelegenen Konzentrationslagers an sich zu nehmen oder später im Film sogar die Bahngleise entlang zu streifen, um dort nach Wertvollem zu suchen. Die Herkunft der Kleidungsstücke und Koffer ist ihm sehr wohl bekannt, löst aber scheinbar keinen inneren Konflikt aus. Wie von den Erwachsenen in seinem Umfeld vorgelebt, bereichert sich Romek an dem, was von den durch die Deutschen verschleppten und ermordeten Menschen übrigbleibt. Einzig im Streit mit der Mutter wirft er ihr vor, die Bluse zu tragen, die Leon von einer Leiche gefleddert habe, um den ungeliebten Vorgesetzten zu diskreditieren. Aber auch er hat versucht, Franka mit einem von der Rampe gestohlenen Halstuch zu beeindrucken. Als Romek auf der Suche nach Wertgegenständen auf einen schwerverletzten jungen Mann unter einer Bahnbrücke trifft, lenkt nicht die Sorge um das Leben des Juden, sondern die Angst, von den auf der Brücke patrouillierenden Deutschen entdeckt zu werden, sein Handeln. Getrieben von dieser Angst versucht Romek, die Schmerzensschreie des Juden zu ersticken, und hält ihm den Mund zu – nur um, als die Luft rein ist, entdecken zu müssen, dass der Mann unter seinen Händen gestorben ist. Das hindert den Polen aber nicht daran, dem Toten das schöne goldene Feuerzeug abzunehmen, mit dem er ihm kurz vorher noch eine letzte Zigarette anzünden wollte. Der Wendepunkt aber ist für Romek das Zusammentreffen mit der Schwester des toten jungen Mannes im Wald. Nachdem er Bunia, die ihm nicht mehr von der Seite weicht, zunächst sehr grob behandelt und an die Deutschen verraten will, entschließt er sich wenig später doch, ihr zu helfen. Der Ernst der Lage wird ihm erst richtig bewusst, nachdem die beiden am Fluss auf Guido treffen. Bunia wirft Romek vor, dass er die Chance, den Deutschen zu töten, nicht genutzt habe.
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Romek: „Ich wollte ihn am Leben lassen.“ Bunia: „Wenn du wüsstest, wie sie in Warschau wüten, hättest du das nicht getan.“ 46
Der junge Pole willigt schließlich ein, Bunia zu helfen, und versucht, sie bei einem alten Mann im Wald zu verstecken, von dem er weiß, dass dieser schon früher Hilfsbereitschaft für Juden gezeigt hatte. Die ungelenke Ausrede, die Romek gegenüber dem Alten benutzt, nämlich, dass es sich bei Bunia um eine Cousine aus Chełm 47 handle, war im besetzten Polen durchaus nicht unüblich. 48 An der Geschichte des alten Karpiuk wird deutlich, dass den Dorfbewohnern durchaus bekannt ist, dass immer wieder Juden die Flucht wagen und was mit ihnen passiert, wenn die Deutschen sie finden. Auf dem Dachboden erlebt Romek mit Bunia, die außer ihrem Körper keine Währung hat, mit der sie sich bei ihrem Retter bedanken könnte, sein erstes Mal. Auch hier nutzt Rogalski also das Motiv des Verlusts der Unschuld im körperlichen Sinne, den auch Guido mit Franka durchlebt. Am nächsten Morgen kommen russische Partisanen in die Hütte, die den alten Karpiuk erschießen und Bunia vergewaltigen. Romek, dessen Habgier ihm kurz zuvor zum Verhängnis wurde – als Bunia das Feuerzeug ihres Bruders bei Romek entdeckt, zerbrechen die zarten Bande zwischen den beiden – bleibt untätiger Zuschauer. Sein Versuch, Bunia zurückzuhalten, als diese sich den russischen Partisanen anschließt, bleibt erfolglos. Überwältigt von den Ereignissen bleibt Romek am Waldboden zurück und muss sich übergeben. Aus der Froschperspektive lässt Rogalski die Zuschauer an diesem Zusammenbruch teilhaben, nach dem Romek ein anderer wird. Trotzdem wird Romek im Laufe der Geschichte, anders als es von einem jungen Polen in einem polnischen Erinnerungsfilm über den Zweiten Weltkrieg zu erwarten wäre, nicht zum heldenhaften Widerstandskämpfer gegen die deutschen Besatzer, der sich außerdem noch für die Rettung der Juden einsetzte. Er wandelt sich zwar nach den Ereignissen in der Waldhütte des alten Karpiuk vom naiven, wehrlosen und phlegmatischen Jungen zum anpackenden jungen Mann, er wird härter und durchsetzungsfähiger und befreit sich und seine Mutter aus der Abhängigkeit von Leon. Moralisch aber ist Romek an den Erfahrungen nicht gewachsen. Als Held, der anderen hilft und sogar zum Judenretter wird, ist er gescheitert. Seine Arbeit für die Deutschen im Lokschuppen setzt er als Lokführer 46 Unser letzter Sommer, Min. 00:52:28–00:52:34. 47 Vgl. Unser letzter Sommer, Min. 00:59:30–00:59:44. 48 Für ein weiteres Beispiel siehe auch Stephan Lehnstaedt. 2017. Der Kern des Holocaust. Bełz˙ec, Sobibór, Treblinka und die Aktion Reinhardt. München: C. H. Beck, S. 118.
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fort – auf der Warschau-Strecke, auf der die Jüdinnen und Juden aus dem Warschauer Ghetto ins Vernichtungslager nach Treblinka geschickt werden. Auch ihm hat also ein Akt des Verrats eine Beförderung eingebracht: Er hat Leon verraten, der die gestohlenen Gegenstände von der Lagerrampe in einem Spint im Lokschuppen gelagert hatte. Auch Romek ist Teil des Systems geworden, indem er letztlich dessen Regeln befolgte. Der Verlust der Unschuld im moralischen wie im körperlichen Sinne ist somit auch prägendes Motiv für Romeks Wandlung und ein wichtiger Bestandteil der Jugend als universeller Erfahrung in Rogalskis Unser letzter Sommer.
3.1.2 Von unsterblichen Opfern zu sterblichen Helden – Warschau ’44 „Ich wollte diesen Film mit Jugend ausfüllen. Für mich ist Jugend Feuer. Also habe ich den Film mit Feuer gefüllt“ 49, sagte Regisseur Jan Komasa gegenüber dem Tygodnik Powszechny in einem Interview zu seinem Film Warschau ’44. Es ist daher wenig verwunderlich, dass der Jugend eine herausragende Rolle in Komasas Spielfilm zukommt. Bei Warschau ’44 handelt es sich um einen jener Filme über den Warschauer Aufstand, „die von der Liebe und Freundschaft, von den ersten wichtigen Lebensentscheidungen erzählen, also Geschichten über Jugendliche und für Jugendliche, die nicht zuletzt in der Sprache der Jugendlichen dargeboten werden“. 50 Der Verlust von Jugend und Unschuld wird hier ebenfalls zum großen Thema, allerdings mit einer anderen Konsequenz: der Markierung der jungen Aufständischen als sterblichen Helden. Der Einschätzung von Klaus Bachmann zufolge ging die Rechnung auf: „Auch wenn die Stilmittel oftmals Kritik hervorriefen, so überzeugten die Story, das Bild und das Spiel der jungen Schauspieler das oft junge Publikum, an das die Produktion adressiert war.“ 51 Dass der Warschauer Aufstand heute überhaupt einen positiven Identifikationspunkt für Polen darstellt, ist keine Selbstverständlichkeit und war bereits kurz nach seinem Ende hochumstritten. 52 Die Diskussion über den Sinn und Unsinn einer solchen Erhebung der Warschauer Bevölkerung gegen die deutschen Besatzer nimmt Komasa in seinem Spielfilm noch
49 50 51 52
Bła˙zejowska, Miasta nie da si˛e zabi´c. Korzeniewska, Liminalität und Post-Erinnerung, S. 188. Bachmann, Politische Debatten in Polen nach 1989, S. 19. Vgl. Paweł Kowal. 2018. „Warschauer Aufstand: Der Stadt ihre Identität und Polen seine Erinnerung wiedergeben.“ In: Jahrbuch Polen 2018: Mythen. Herausgegeben vom Deutschen Polen-Institut Darmstadt, Wiesbaden: Harrassowitz, S. 54–67.
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vor Ausbruch des Aufstandes auf. Sie spiegelt sich in einer Diskussion zwischen den jungen Aufständischen und Alicjas Eltern in deren Haus im Warschauer Umland wider, wo die Jugendlichen am Vorabend des Warschauer Aufstands einen letzten, unbeschwerten Sommertag verbringen und Stefan, die männliche Hauptfigur des Films, feierlich der Untergrundbewegung beitritt. Die prominente Platzierung der Debatte und deren Inszenierung setzen diese Auseinandersetzung mit einer Konfrontation der Alten mit den Jungen gleich. Der Schluss, den die Zuschauer daraus ziehen können, ist simpel: Der Aufstand war eine Initiative der Jugend, für den sich ausnahmslos alle Jugendlichen begeistern konnten und den sie gegen die mahnenden Stimmen der Erwachsenen durchgeführt haben. In die aktuellen geschichtspolitischen Entwicklungen in Polen fügt sich ein Film über den zentralen Erinnerungsort des Warschauer Aufstands hervorragend ein. Die Inklusivität, mit der bis in die 1990er-Jahre alle gesellschaftlichen Gruppierungen im Kontext des Zweiten Weltkriegs in Polen als positiv bewertet wurden, machte es laut Bachmann möglich, „dass eines der am meisten umstrittenen Ereignissen des Zweiten Weltkriegs, der Warschauer Aufstand, zu einem landesweiten, Generationenübergreifenden Mythos wurde, der nun als unzweifelhaft positives Ereignis in das kollektive Gedächtnis integriert wurde“. 53 Ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kommunismus ist der Aufstand ein wichtiger Teil des Narrativs des modernen Polens geworden, das mit den zwei wichtigsten „Gründungslügen“ der Volksrepublik zu brechen versucht: den Verbrechen der Roten Armee in Katy´n und dem Nicht-Eingreifen selbiger im Kontext des Warschauer Aufstands. 54 Die Erinnerung daran wurde im Kommunismus zunächst gänzlich unterdrückt und nach dem Tode Stalins in begrenztem Umfang geduldet, in der Spätphase des Kommunismus sogar durch das Errichten von Denkmälern, offiziellen Feierlichkeiten, Fernsehsendungen sowie der Umbenennung von Straßen zu Ehren der Helden des Warschauer Aufstands – nur, wie Paweł Kowal betont, eben nicht zu Ehren des Warschauer Aufstands. 55 Während es auch in der politisch zensierten Erinnerungskultur der Volksrepublik durchaus gängig war, die Aufständischen selbst zu ehren, so wurden der Aufstand und seine politischen Anführer verurteilt. „Die Auseinandersetzung um die Stellung des Warschauer Aufstands in der polnischen Nationaltradition sollte in den kommenden 50 Jahren zu einem Spiegelbild der politischen Geschichte Polens werden“, fasst Włodziemierz Borodziej die Debatte zusammen. 56 53 54 55 56
Bachmann, Politische Debatten in Polen nach 1989, S. 20. Vgl. Kowal, Warschauer Aufstand, S. 55. Vgl. ebd., S. 61. Borodziej, Der Warschauer Aufstand 1944, S. 208.
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Eine messianistische Bedeutungsebene, die sich hervorragend in das übergreifende Narrativ Polens als Christus der Nationen einfügt, bekam das Aufstandsgedenken in den 1960er und 1970er-Jahren durch die Deutungen Kardinal Stefan Wyszy´nskis und des Papstes Johannes Paul II, die das Opfer der Warschauer Bevölkerung in diesem aussichtslosen Kampf im Sommer 1944 in den Mittelpunkt stellten. 57 Auch Vertreter der Solidarno´s´c-Bewegung sahen ihren Kampf als Fortsetzung der Tradition der Aufständischen des Warschauer Aufstands 1944. 58 Der Warschauer Aufstand hat sich mittlerweile zu einer starken Marke entwickelt, deren Beschaffenheit Marcin Napiórkowski im Tygodnik Powszechny untersucht hat. 59 Als filmisches Material wurde der Aufstand zwar bereits viele Male aufgegriffen, zum Beispiel von Andrzej Wajda 1957 mit Der Kanal, von Andrzej Munk mit Eroica oder auch in der Fernsehserie Kolumbowie. Rocznik 20. In jüngster Zeit aber kamen viele Filme auf den Markt, die sich insbesondere mit den jungen Aufständischen oder einzelnen Gruppierungen, zum Beispiel den Pfadfindern in Operation Arsenal – Schlacht um Warschau (Kamienie na szaniec, 2014) beschäftigen und diese heroisieren. Am breitenwirksamsten waren wohl die Serie Czas Honoru mit sieben Staffeln (2008–2014), die in den Staffeln 1–6 chronologisch polnischen Soldaten (pol. Cichociemni) im Zweiten Weltkrieg von 1941–1945 folgt und deren gesamte 7. Staffel, abweichend von der vorherigen Chronologie, während des Warschauer Aufstands 1944 spielt. Michał Rogalski, der Regisseur und Autor von Unser letzter Sommer, war für Czas Honoru ebenfalls als Regisseur tätig und trat sogar einmal in einer Nebenrolle als Schauspieler auf. Eine Belebung des Aufstandsgedenkens und Aneignung für das nationale Narrativ Polens nach 1989 blieb dennoch zunächst aus. Das Museum des Warschauer Aufstands, das 2004 unter der Ägide des damaligen Oberbürgermeisters der Stadt Warschau und späteren Staatspräsidenten, Lech Kaczy´nski, eröffnet wurde, hob das Gedenken auf eine neue Stufe, die den Warschauer Aufstand als Freiheitskampf politisch legitimiert und die Singularität des Opfers der Aufständischen betont. 60 „Dank des Museums [des Warschauer Aufstands, Anm. JRG] und der wiederbelebten Erinne-
57 Vgl. Kowal, Warschauer Aufstand, S. 58 f. 58 Vgl. Nijakowski, Die polnische Erinnerungspolitik, S. 37. 59 Vgl. Marcin Napiórkowski. 2016. „Marka ‚Powstanie‘ i jej konsumenci.“ Tygodnik Powszechny, 30. Juli 2016, URL: https://www.tygodnikpowszechny.pl/marka-powstanie- i- jej- konsumenci- 34868, 6. Januar 2018; siehe auch Bachmann, Politische Debatten in Polen nach 1989, S. 21. 60 Vgl. Kowal, Warschauer Aufstand, S. 64 f. Vgl. aber auch Nijakowski, Die polnische Erinnerungspolitik, S. 47: Das Gedenken an den Aufstand findet der Autor grundsätzlich gut und richtig, aber es sollte nicht unreflektiert stattfinden, denn der Aufstand war nicht gut geplant und wurde ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung durchgeführt.
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rung an den Aufstand wurde dessen romantischer Mythos zu einem Gründungsmythos des modernen Warschaus“, befindet Kowal. 61 Genau diese Verbindung zieht auch Komasa, wenn er in der Schlussszene die Silhouette der brennenden Stadt 1944 mit der modernen Skyline Warschaus 2013 verschwimmen lässt. Ein Gründungsmythos ist der Warschauer Aufstand aber nicht mehr nur für die Warschauerinnen und Warschauer, sondern mittlerweile auch für die übrigen Bürgerinnen und Bürger Polens. Der Biuletyn Informacyjny, das zentrale Propagandaorgan der polnischen Heimatarmee, schuf schon am Tag nach dem Ende des Aufstands, also am 4. Oktober 1944, eine Verbindung zwischen dem Warschauer Aufstand und der Zukunft sowie dem Schicksal der polnischen Nation: „Polen sei nicht verloren, der Glaube an die Wiedererlangung der Unabhängigkeit das teuerste Testament des Aufstands“. 62 Gleichwohl wurden die Angehörigen der Heimatarmee mindestens in der ersten Dekade nach dem Aufstand nicht nur gesellschaftlich und beruflich geächtet, sondern teilweise auch verhaftet und gefoltert. 63 Die Bewertung des Warschauer Aufstands, der Heimatarmee und der Exilregierung war in der Zivilbevölkerung nach zwei Monaten der Qualen negativ, es wurde offen Kritik geübt. 64 Komasa verheimlicht diesen Dissens in der Bevölkerung nicht. Als Stefan und seine Einheit in einer Feuerpause helfen, ein Krankenhaus zu evakuieren, werden sie im Strom von zivilen Flüchtlingen beschimpft. Eine alte Frau sagt, es tue ihr leid um die Jungs. Ein Mann beschwert sich, dass sie die Stadt in Schutt und Asche gelegt haben. Komasa greift dieser Diskussion aber wie bereits erwähnt in Warschau ’44 schon in den ersten 25 Filmminuten vor, indem er sie als ein Streitgespräch zwischen den Jungen und den Alten mit klar verteilten Rollen inszeniert. Während Herr Saski, Alicjas Vater, davon überzeugt ist, dass ein Aufstand sinnlos wäre und die Russen zwar kommen würden, aber dann eben auch blieben, teilen die Jungen seine Bedenken nicht. Sie setzen ihre Hoffnung auf den Westen und darauf, dass Polen im Herzen Europas liege. Der Vater warnt, dass dem Westen doch das Schicksal Polens egal sei. Die Polen hoffen auf Stalins Hilfe, aber noch habe man keine Gespräche aufgenommen. Man kommt nicht umhin, in dieser Hoffnung der Jugend auf den Westen auch eine Parallele zu Polens jüngster Geschichte nach 1989 zu ziehen, als der Westen und Europa abermals als Hoffnungsort vor allem für die junge Generation dienten.
61 62 63 64
Kowal, Warschauer Aufstand, S. 67. Borodziej, Der Warschauer Aufstand 1944, S. 205. Vgl. ebd., S. 210. Vgl. ebd., S. 204.
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Warschau ’44 folgt Stefan, einem jungen Polen, der zusammen mit seiner alleinerziehenden Mutter, einer ehemals gefeierten Schauspielerin, und dem kleinen Bruder im besetzten Warschau lebt. Der Vater, ein polnischer Major, ist im Krieg gefallen. Ein altes Foto und die Uniform, die Stefan nach seiner Entscheidung, sich der Untergrundarmee anzuschließen, aus dem Versteck im Schrank holt, erinnern an den fehlenden Vater, dessen Rolle Stefan im Haus einnehmen musste. Gewissermaßen hat er wichtige Schritte des Prozesses des Erwachsenwerdens, um den es auch in Komasas Warschau ’44 geht, damit schon vollzogen. Verantwortungsvoll sorgt er durch seine Arbeit beim Schokoladenfabrikanten E. Wedel für den Unterhalt der Familie und kümmert sich liebevoll um den kleinen Bruder, dem er ein Vorbild ist. Stefan ist unpolitisch und zunächst nicht von der Idee eines Engagements im Untergrund begeistert. Seine Meinung ändert er maßgeblich unter dem Einfluss seiner Jugendfreundin Kama. Im Laufe des Films entwickelt sich der anfangs am organisierten Widerstand desinteressierte Stefan zu einer Kampfmaschine, die in waghalsigen Manövern und ohne Reue deutsche Soldaten erschießt. Als Stefan verwundet aus seinem Versteck mit ansehen muss, wie seine Mutter und sein kleiner Bruder auf offener Straße von einem deutschen Soldaten erschossen werden, traumatisiert ihn dieses Erlebnis schwer. In einer Art Trance stolpert er durch den Aufstand und entspricht in dieser Phase eher dem Bild eines Antihelden: Antihelden sind Underdog-Figuren, durch die die Geschichte perspektiviert wird und die im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, denen aber die Situationsmächtigkeit, die überdurchschnittlichen moralischen Qualitäten und Fähigkeiten des Helden fehlen und denen manchmal sogar das Merkmal der Aktivität genommen wird. 65
Teile des Films werden infolgedessen aus der Perspektive der beiden weiblichen Hauptfiguren Alicja „Biedronka“ und Kama erzählt, die ebenfalls im Untergrund aktiv sind. Die romantische Dreiecksbeziehung zwischen den drei jungen Menschen ist ein zentraler Bestandteil des Films. Liebesgeschichten wie dieser kommt im Historienfilm eine besondere Bedeutung zu: „Erotik und tiefe Gefühle bauen die Brücke zur Gegenwart von einer Vergangenheit, die akribisch in Kostümen, Ausstattung und Drehorten konstruiert wird – authentisch, sagen die Macher dazu.“ 66 Stefan scheint hin und hergerissen zwischen seiner Jugendfreundin Kama und der schönen Alicja, die er im Untergrund kennenlernt. Mit Kama hat Stefan in den
65 Jens Eder. 2012. „Antiheld.“ Lexikon der Filmbegriffe, URL: https://filmlexikon. unikiel. de/ index. php? action= lexikon& tag= det& id= 910, Zugriff am 23. Mai 2020. 66 Wirtz, Alles authentisch, S. 16.
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Trümmern eines besetzten Hauses Sex, Regisseur Komasa aber lässt keinen Zweifel daran, dass das Herz des Jungen eigentlich Alicja gehört. Am Ende des Films ist sie es, die er auf der Sandbank in der Weichsel zu sehen glaubt. Zwischen die beiden ungleichen Freundinnen treibt der Machtkampf um Stefans Gunst einen Keil. Gerettet wird er zum ersten Mal durch Alicja, die für ihn mehrfach ihr eigenes Leben riskiert und von ihrer Einheit desertiert. Doch dieses Opfer hält Stefan nicht davon ab, sich wieder den Aufständischen anzuschließen, als sein Zustand es zulässt. Der Streit zwischen Alicja und Kama bricht offen aus, als die beiden während einer Feuerpause bei der Evakuierung eines Krankenhauses zusammenarbeiten müssen. Es bricht aus Kama heraus, dass, wenn alles vorbei sei, Menschen wie Alicja wieder alles haben und mit Leuten wie ihm, Stefan, zusammen sein werden, während Menschen wie sie ihnen Kaffee bringen. Für die aus einfachen Verhältnissen stammende Kama ist der Aufstand eine Möglichkeit, die Grenzen ihrer Herkunft hinter sich zu lassen und Anerkennung für ihre Fähigkeiten und Person zu erlangen. Moralisch fühlt sie sich Alicja, die aus gutem Hause kommt, bereits überlegen: „Du bist das Letzte. Eine gewöhnliche Hure, die ihre Leute im Stich lässt, weil sie nur an sich selbst denkt. Ich hasse dich.“ 67 Die erste halbe Stunde des Films zeigt das ruhige Leben der jungen Protagonisten, für die die Organisation im Untergrund Spaß und einen Ausbruch aus dem grauen Alltag bedeutet, eine Auflehnung gegen Eltern und Besatzer, die aber ohne Konsequenzen bleibt. Auch für Stefan ist der Untergrund eine Möglichkeit, vor der erdrückenden Liebe der Mutter zu fliehen. 68 Man habe die schönsten Mädchen, witzige Pseudonyme und eine Menge Spaß, verkündet Stefans alter Schulfreund Władek „Beksa“. Beinahe komisch wirkt auch der feierliche Treueschwur, den Stefan im Beisein der Freunde bei einem Besuch im Haus der Saskis leistet. Die Natur steht in diesen Julitagen in voller Blüte und spiegelt die sinnbildlich ebenfalls in der Blüte ihres Lebens befindlichen jungen Menschen. Alle tragen zur Feier des Tages ihre beste Sonntagskleidung, Stefan sogar die Militärstiefel des gefallenen Vaters. Die solle er das nächste Mal daheimlassen, das sei hier kein Zirkus, scherzt Zugführer Góral. Nach einem kurzen Schießtraining auf Büchsen, bei dem Stefan seine Fähigkeiten als guter Schütze beweisen kann, lassen die Freunde den Rest des Tages in der Sauna und mit einem Bad im See ausklingen. Diese Bilder stehen in einem deutlichen Kontrast zu den martialischen und actiongeladenen Kampfszenen, mit denen Ko67 Warschau ’44, Min. 01:32:14–01:32:24. 68 Vgl. auch Jakub Majmurek. 2014. „Majmurek: ‚Miasto ’44‘ – trzeba zabi´c t˛e miło´sc´?“ Krytyka Polityczna, 20. September 2014, URL: http://krytykapolityczna. pl/ kultura/ film/ majmurek- miasto- 44- trzeba- zabic- te- milosc/ , Zugriff am 5. Dezember 2018.
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masa den Aufstand reinszeniert. Der Film, der geprägt ist von Bildern schöner, junger Menschen, die auch inmitten der Trümmer der Stadt eine Illusion der Unverwundbarkeit, der eigenen Unsterblichkeit aufrechterhalten und statt zu verzagen, singen, tanzen, lieben und kämpfen, nutzt diese Kontraste gezielt als Stilmittel. Dass der Aufstand kein Kinderspiel ist, zeigen die drastischen Bilder, die wenige Minuten darauf folgen und in starkem Kontrast zu der verhältnismäßig heilen Welt stehen, in der sich die Jugendlichen noch kurz zuvor befanden. Sie symbolisieren den Verlust der Unschuld dieser Generation: Explosionen, Blut, Tote – der Aufstand. Einer anfänglichen Begeisterung angesichts schneller Erfolge folgt die Desillusionierung, als sich die Jugendlichen der ernsten Konsequenzen ihrer Situation gewahr werden. Kobra: „Ich hab’ gedacht ihr seid erwachsen. Glaubt ihr, der Krieg ist nur ein Spiel? In dem man nicht sterben kann? Gut, dann spielt. Ich wecke dann die auf, die schon im Sarg liegen.“ 69
Auch anderen Soldaten der Untergrundarmee entgeht nicht, dass die Gruppe der Freunde um Stefan, Kama und Alicja noch sehr jung ist, ja fast noch Kinder. 70 Aus ihren Reihen überleben erstaunlicherweise fast alle den Kampf bis kurz vor Ende des Aufstands. Dieser Umstand trägt natürlich zur Tragik der Geschichte bei, denn wer so lange durchgehalten hat, dessen Tod in den letzten Tagen des Aufstandes wirkt umso sinnloser. Und so sterben bis auf Stefan alle Freunde einen Heldentod kurz vor Ende des Films: Góral erschießt sich selbst. Kobra und Beata jagen sich mit einer Handgranate in die Luft, statt sich der Justiz des Deutschen aus der Dirlewanger-Einheit zu ergeben – wohl auch in der Hoffnung, den Deutschen bestenfalls mit in den Tod zu reißen. Bei dem Versuch, Stefan zu schützen, wird Kama von einem deutschen Panzer ins Visier genommen und direkt in den Bauch geschossen. Der bereits tödlich verwundete Beksa wird kurz darauf in der direkten Konfrontation mit zwei deutschen Soldaten von diesen misshandelt und getötet. Beksa: „Meine Herren, hier bin ich. Ihr seid alle zu meinem Geburtstag eingeladen. Vor wenigen Stunden bin ich 19 Jahre alt geworden. 19 Jahre. Ich hab’ nicht erwartet, dass ich so gefeiert werde. Ihr Idioten könnt uns aber nicht alle umbringen, das schafft ihr nicht. Ihr tut mir leid. Das wird euch die Welt niemals verzeihen! Stefan, lauf endlich weg! Kannst du das nicht besser? Es lebe die Freiheit, ihr Scheißkerle!“ 71
69 Warschau ’44, Min. 00:37:32–00:37:47. 70 Warschau ’44, Min. 01:14:38. 71 Warschau ’44, Min. 01:46:11–01:47:08.
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Die Betonung der Tragik des Schicksals der jungen Aufständischen – die Ermordung Beksas an seinem 19. Geburtstag markiert die Jugend der Protagonisten noch einmal besonders – die sich für Freiheit, ihre Stadt und auch ihre Freunde opfern, ist überdeutlich. Dennoch bekommt der Tod der Freunde einen Sinn, indem sie Stefan das Überleben ermöglichen, der in der Schlussszene auf einer Sandbank in der Weichsel vor der Kulisse des brennenden Warschaus bei Nacht sitzt, das sich allmählich in die pulsierende, moderne polnische Metropole bei Tag verwandelt. In diesem Film über das Erwachsenwerden im Krieg darf nur einer der Freunde erwachsen werden. Das Mystische, Märchenhafte am Aufstand und dem Selbstverständnis der jungen Generation der Aufständischen wird in einer Szene verdeutlicht, in der Alicja Kindern im Krankenhaus ein Märchen über einen bösen Mann und unterdrückte junge Menschen in einer Stadt erzählt, die von Freiheit träumen: Alicja: „Es war einmal vor langer Zeit, da lebte in einer Stadt hinter hohen Bergen und dichten Wäldern ein kleiner Junge. Er hatte eine Familie und viele, viele Freunde. Sie haben gemeinsam gespielt und getanzt und Spaziergänge gemacht und auch gemeinsam gelernt. Eines Tages kam ein böser König. Er wollte über die ganze Welt herrschen und hat deshalb auch ihr Land überfallen. Er hat befohlen, dass alles verboten ist. Ihr dürft nicht mehr spielen, ihr dürft nicht mehr lernen, ihr dürft gar nichts mehr machen. Aber es gab eine Sache, die konnte er ihnen nicht verbieten. Er konnte ihnen nicht verbieten, von dem Tag zu träumen, an dem sie ihre Freiheit zurückerlangen würden.“ 72
Ganz offensichtlich ist der böse König eine Metapher für Adolf Hitler und die Stadt, von der Alicjas Märchen handelt, ist Warschau. Durch diesen Kampf für die Freiheit, die sie für künftige Generationen gesichert haben, wird ihrem Sterben ein Sinn gegeben. Sie werden von Opfern, die sich selbst unsterblich wähnten und dennoch in den Kämpfen umgekommen sind, zu sterblichen Helden, deren Tod für ein freies Polen einen Sinn erhält und die dadurch letztlich doch unsterblich werden. Zielgruppe dieser „Uminterpretation der Aufständischen von Opfern zu Helden“ 73, in deren Folge „sie immer mehr zu Freiheitskämpfern und Vorbildern für die Jugend stilisiert – und damit gleichzeitig zu Helden“ 74 gemacht wurden, ist die heutige Generation junger Polinnen und Polen.
72 Warschau ’44, Min. 01:26:38–01:27:22. 73 Bachmann, Politische Debatten in Polen nach 1989, S. 20. 74 Ebd., S. 21.
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3.1.3 Von schuldhaften Tätern zu unschuldigen Opfern – Unsere Mütter, unsere Väter Unsere Mütter, unsere Väter erzählt die Geschichte von fünf Freunden, die zu Beginn des Russlandfeldzugs 1941 in Berlin Abschied nehmen. Zwei von ihnen, die Brüder Wilhelm und Friedhelm Winter, gehen als Soldaten an die Ostfront. Charlotte wird ihrer Einheit als Frontkrankenschwester folgen. Greta und ihr jüdischer Freund Viktor bleiben zunächst in Berlin zurück. Für sie alle ist der Krieg, wie auch für die jugendlichen Aufständischen in Komasas Warschau ’44, ein großes Abenteuer, an dessen schnelles und siegreiches Ende sie zu Beginn des Russlandfeldzugs noch glauben. Die Konsequenzen ihres Handelns, mit dem sie sich und andere in Lebensgefahr bringen können, spielen keine große Rolle. Die jungen Männer und Frauen, die allesamt zwischen 1920 und 1923 geboren wurden – darüber gibt eine Einblendung ganz am Ende des dritten Teils der Miniserie Aufschluss – befinden sich an der Schwelle zwischen Jugend und Erwachsenenalter. Im Vergleich zu den jungen Protagonisten aus Unser letzter Sommer oder Warschau ’44 sind sie allerdings bereits eher am oberen Ende der Altersspanne zu verorten, innerhalb derer man gemeinhin von Jugend spricht. Erzählt wird die Geschichte von Wilhelm Winter, einem der fünf Freunde, der selbst als Soldat der Wehrmacht in Frankreich, Polen und Russland gekämpft hat. Seine Voice-Over dienen zur Strukturierung des Plots, indem er wichtige Kriegshandlungen, Daten und Orte erklärt, aber auch moralische Bewertungen des Verhaltens der eigenen Generation vornimmt. Die Filmszenen selbst pendeln mit einer gewissen Regelmäßigkeit zwischen den parallelen Handlungssträngen der Einzelschicksale der fünf Freunde, die sich immer wieder überkreuzen. Die Rolle des sensiblen und schöngeistigen Friedhelm Winter, der den französischen Lyriker Rimbaud und den nicht unumstrittenen, nationalistischen Schriftsteller Ernst Jünger 75 liebt und der schließlich zu einem 75 Wie Süselbeck feststellt, legt Kolditz Wilhelm Winter sogar ein Ernst-Jünger Zitat in den Mund: „Es hieße immer, der Krieg bestünde aus dem Kämpfen, doch das sei falsch – es sei das Warten. Abermals handelt es sich dabei um ein Bonmot, das seinen Ursprung im festgefahrenen Grabenkrieg von 1914–1918 hat, das aber mit den Ereignissen nach 1941 überhaupt nicht in historischen Einklang zu bringen ist.“ Jan Süselbeck. 2013. „Fünf Freunde.“, literaturkritik.de, Nr. 4, April 2013, URL: https:// literaturkritik. de/ id/ 17761, Zugriff am 19. Juni 2019. Durch diese Assoziation mit dem umstrittenen Schriftsteller Ernst Jünger gewinnt die Figur des Friedhelm an Authentizität, denn dass der nationalistische Schriftsteller bei Jugendlichen im „Dritten Reich“ populär war, ist nicht unrealistisch. Weiterhin gewinnt die Charakterisierung Friedhelms als Bücherwurm und Intellektuellem dadurch an Ambivalenz. Für die heutige Jugend kann ein Bewunderer Jüngers schließlich kaum eine positive Identifikationsfigur sein. Ob Jugendliche heute aber mit Jünger überhaupt etwas anzufangen wissen, darf bezweifelt werden.
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willfährigen Diener des Systems wird, ähnelt der des Albrecht Stein, den Schauspieler Tom Schilling bereits in Napola – Elite für den Führer verkörperte. Überzeugter Nationalsozialist ist Friedhelm Winter aber deswegen, wie auch alle anderen der fünf Freunde, nicht. Mit seiner im Verlauf des Films mehrfach wiederholten Feststellung, dass der Krieg nur das Schlechteste in ihnen allen hervorbringen werde, prophezeit er schon zu Beginn des Films die Entwicklung seines und der anderen Charaktere. Klar wird, dass keine intrinsische Motivation, sondern die äußeren Umstände dafür verantwortlich gemacht werden. Die jungen Menschen werden so von Tätern, die sich schuldig gemacht haben, selbst zu Opfern des Systems umgedeutet. Friedhelms Charakter wird in dem ebenfalls feinsinnigen jungen Soldaten Martin gespiegelt, den Friedhelm und seine Kameraden zynisch nur Zwei nennen. Zu gering ist ihr Vertrauen in das Überleben der unerfahrenen Neuankömmlinge, als dass es sich lohnen würde, ihre Namen zu lernen. „Je älter der Krieg, desto jünger die Soldaten“ bemerkt Friedhelm. 76 Während seines ersten Manövers nässt Martin sich ein, bei einer Erschießung zielt er daneben. Der junge Mann, der Philosophie studieren will, und Friedhelm kommen trotzdem immer wieder zusammen. Als die beiden zusammen eine Telegrafenstation erobert haben und dort bis zur Dunkelheit abwarten müssen, erzählt Martin seine Geschichte. Die Wartezeit nutzt er, um einen Brief an seine Mutter zu schreiben: „Ich schreib ihr, dass ich auch das Sommersemester nicht bei Professor Heidegger besuchen werde“ und fügt hinzu: „Ich kann nicht sterben“. Seine Mutter, die ihn erst in hohem Alter bekommen und allein großgezogen hat, habe versucht, beim Wehrersatzkommando seinen Einzug zu verhindern, woraufhin sie wegen „Pflichtvergessenheit“ eine Nacht festgehalten wurde. „Mutige Frau“ kommentiert Friedhelm. Als die beiden aufstehen und Martin sich aufrichtet, wird er von einer Kugel in den Kopf getroffen. 77 Durch dieses Einzelschicksal wird nicht nur der Soldat als Junge und Sohn, der noch sehr an seiner Mutter hängt, markiert. Auch der Schmerz der Mütter, die ihre Söhne in den Krieg schicken mussten, wird thematisiert und stützt die Umdeutung der Deutschen als Opfer dieses von den Nationalsozialisten angezettelten Krieges. Dass nicht wenige sicherlich auch Stolz empfunden haben dürften, wenn das eigene Kind für das Vaterland in den Krieg zog, wird nicht erzählt. Die Eltern-Kind-Beziehung spielt in der Fremdcharakterisierung der männlichen Protagonisten von Unsere Mütter, unsere Väter eine wichtige Rolle. Auch Friedhelms und Wilhelms Mutter durchlebt den gerade beschriebenen Schmerz. Obgleich die Brüder
76 Unsere Mütter, unsere Väter, Teil 2, Min. 00:09:39–00:09:42. 77 Unsere Mütter, unsere Väter, Teil 2, Min. 01:01:19–01:02:34.
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Winter bereits 21 und 18 Jahre alt sind und Wilhelm sich in der Wehrmacht schon eine Karriere aufgebaut hat, sind sie in Beziehung zu ihren Eltern – dem strengen Vater, der den älteren Bruder dem sensiblen Friedhelm vorzieht, und der Mutter, die sich vor allem um den Jüngeren sorgt – noch nicht vollständig erwachsen: Sie werden so als Jugendliche und Kinder ihrer Eltern fremdcharakterisiert. Auch ihr jüdischer Freund Viktor lebt noch bei seinen Eltern. Er arbeitet bei seinem Vater, der im Ersten Weltkrieg als Offizier für Deutschland gekämpft hatte, in der Schneiderei. Den Abnabelungsprozess von den Eltern und letzten Schritt des Erwachsenwerdens hat auch er noch vor sich. Während Friedhelm sein Heil darin findet, sich dem System zu unterwerfen, und zum scheinbar gewissenlosen Mörder wird, durchläuft sein Bruder Wilhelm eine gegenteilige Entwicklung. Zu Beginn des Films ist der Älteste der fünf Freunde ein erfolgreicher und dekorierter Soldat der Wehrmacht, der bereits eine Karriere bei seinen Einsätzen an der Westfront in Frankreich und in Polen gemacht hat. Er hat es bereits bis zum Leutnant der Windhund-Kompanie gebracht. Diese Information dient auch der Authentifizierung, denn die Einheit, auch Windhund-Division genannt, gab es tatsächlich: Als 16. Infanterie-Division der Wehrmacht nahm sie ab Frühsommer 1941 am Russlandfeldzug teil. Nicht unumstrittene Denkmäler erinnern noch heute an die Soldaten. 78 Wilhelm Winter steht für soldatischen Gehorsam, aber auch für den Mythos der sauberen Wehrmacht. Seine Entwicklung zum Deserteur und schließlich Mitglied eines Strafbataillons ist insofern nur logisch. Im Angesicht der Kriegsverbrechen der deutschen Truppen an der Ostfront kann er seinen Dienst fürs Vaterland nicht mehr vertreten und entzieht sich bei einem Manöver, nach dem er totgeglaubt wird, dem weiteren Frontdienst. Stattdessen führt er ein einfaches Leben in einer verlassenen Waldhütte, deren Inneres noch überdeutlich vom Leben und Schicksal der Vorbesitzer berichtet: Faulende Lebensmittel und Blutspritzer auf den an der Wand befestigten Familienfotografien erzählen die Geschichte eines forcierten und plötzlichen Verlassens. Auch die weibliche Perspektive wird in Unsere Mütter, unsere Väter beleuchtet – schließlich ist der bereits im Titel formulierte Anspruch des Films, auch die Geschichte der Mütter und Großmütter zu erzählen. Exemplarisch werden Frauenschicksale an den beiden weiblichen Hauptfiguren
78 Siehe beispielsweise die Diskussion um die Kriegsgräberstätte im nordrhein-westfälischen Vossenack. Stephan Johnen. 2012, „‚Kein Ort für Verehrung‘: Mahnmal der ‚Windhund-Division‘ umstritten.“ Aachener Zeitung, 22. November 2012, URL: http://www.aachener-zeitung.de/lokales/dueren/kein-ort-fuer-verehrung-mahnmalder- windhund- division- umstritten- 1. 459458, Zugriff am 2. Juli 2018.
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Greta und Charlotte dargestellt. Greta, die zu Beginn der Filmreihe als Bedienung im Alten Fritz arbeitet, mit dem Juden Viktor liiert ist und sich nicht darum kümmert, dass sie dabei in den Augen der nationalsozialistischen Ideologie „Rassenschande“ begeht, träumt von einer Karriere als Schlagersängerin. Ihre Chance erhält sie, als sie eine Affäre mit dem Obersturmbannführer Dorn beginnt. Als Greta del Torres wird sie mit dem Lied Mein kleines Herz zum Star. Die Figur der Greta erinnert an die der Sängerin Lili Marleen aus Rainer Werner Fassbinders gleichnamigem Film Lili Marleen (1981). Gretas Verhalten ist opportunistisch, aber nicht nur selbstsüchtig. Durch ihre Kontakte versucht sie, ihrem Freund Viktor zur Flucht zu verhelfen und wähnt sich trotz ihrer Affäre mit Dorn in der moralischen Überlegenheit. Anders als der Rest der Freunde bleibt Greta in Berlin zurück. Ein Augenöffner für sie wird ihr Besuch an der Ostfront, wo sie zum längeren Bleiben gezwungen zum ersten Mal mit der Realität des Krieges konfrontiert wird und die Welt um sich zu hinterfragen beginnt. Aufgrund ihrer prominenten Stellung fühlt sie sich als Protegé eines hohen NS-Funktionärs sicher genug, um sogar öffentliche Zweifel am vom NS-Regime bis zuletzt propagierten „Endsieg“ zu äußern. Ihre Affäre zu Obersturmbannführer Dorn, von dem sie schwanger wird, wird für Greta aber zum Verhängnis, als sie beschließt, seiner Frau von diesem Ehebruch zu berichten. Dorn lässt sie festnehmen und misshandelt sie, als er von der Schwangerschaft erfährt. Sie verliert das Kind und wird kurz vor der Befreiung im Frauengefängnis erschossen. Charlottes Geschichte beginnt mit einer kindlich-naiven Begeisterung für den Krieg und den Dienst am Vaterland. Ihre Ausbildung zur Krankenschwester hat sie mit Bestnote absolviert. Die zwanzigjährige Charlotte, genannt Charly, folgt der Einheit der Gebrüder Winter als Frontkrankenschwester in den Osten. Ihr regelkonformes Verhalten beginnt sie zu hinterfragen, als ihr die Konsequenzen ihrer Denunziation der jüdisch-ukrainischen Ärztin Lilija bewusst werden. Lilija hatte sich unter falscher Identität in Charlottes Lazarett versteckt gehalten und der jungen Deutschen geholfen, ihre Aufgaben als Krankenschwester zu meistern. Für Charlotte ist die Erkenntnis der Konsequenzen ihres Handelns ein Wendepunkt. Sie distanziert sich Schritt für Schritt von der Ideologie und den Vorgaben der Heeresleitung, lässt sich von ihrem Gewissen leiten und tut gewissermaßen Buße, indem sie sich besonders der russischen Hilfskrankenschwester Sonja annimmt. Charlotte, die schon lange in Wilhelm verliebt ist, beginnt nach dessen vermeintlichem Tod eine Affäre mit dem deutlichen älteren Lazarettsarzt, Dr. Jahn. Als schließlich die Rote Armee einrückt, wird Charlotte im Lazarett zurückgelassen und von einem Soldaten der Roten Armee vergewaltigt. Gerettet wird sie von Lilija, der jüdischen Ärztin, die sich der Roten Armee angeschlossen hat. Die Beispiele der Greta und
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Charlotte zeigen: Sexualität und der Wunsch nach körperlicher Nähe sind in Unsere Mütter, unsere Väter klar weiblich. Ihre Sexualität ist für die Frauen Wunsch, Währung und Angriffsfläche zugleich. Während die Liebesbeziehungen zwischen Charlotte und Wilhelm sowie Greta und Viktor durchaus einen Platz im Plot einnehmen, stehen sie aber nicht im gleichen Maße im Fokus wie dies bei Unser letzter Sommer und vor allem Warschau ’44 der Fall ist. Als die überlebenden Freunde – Viktor, Wilhelm und Charlotte – nach der Kapitulation in den verlassenen Räumlichkeiten des Alten Fritz in Berlin noch einmal zusammenkommen, sind sie gebrochene Persönlichkeiten. Ihre Lebensentwürfe und Selbstkonzepte, die sie einige Jahre zuvor für sich gezeichnet hatten, liegen genauso in Trümmern wie Deutschland. Der zur zynischen Kampfmaschine gewordene Friedhelm und die opportunistische, egozentrische Greta haben den Krieg nicht überlebt und somit ihre Strafe bekommen. Unschuldig aber gehen vor allem Charlotte und Wilhelm nicht aus dem Kriegsgeschehen, auch wenn sie am Ende geläutert erscheinen. Thematisiert wird von den Machern von Unsere Mütter, unsere Väter aber weniger diese individuelle und kollektive Schuld, als vielmehr die Tragik der Situation dieser gebrochenen jungen Menschen, deren jugendliche Leichtigkeit im Angesicht des Krieges unwiederbringlich verschwunden ist. Die Botschaft des Films ist deutlich: Auch unsere Mütter und Väter haben Verständnis und sogar Mitleid verdient, denn sie sind selbst zu Opfern des nationalsozialistischen Systems geworden. Es ist Mitgefühl mit diesen deutschen Opfern des nationalsozialistischen Regimes, dem auch die Protagonisten des Films anfangs mit Begeisterung gedient haben, das Unsere Mütter, unsere Väter kolportieren will. Wie in diesem Kontext die Frage nach der Täterschaft in Bezug auf die Vernichtung der Juden oder den Vernichtungskrieg im Osten beantwortet werden soll, bleibt offen. Wie auch der Anti-Kriegsfilm Die Brücke von Bernhard Wicki aus dem Jahre 1959 thematisiert vor allem der letzte Teil von Unsere Mütter, unsere Väter: Ein anderes Land den fanatischen Glauben an den Endsieg, der die Jüngsten maßgeblich prägte. Durch die alle Lebensbereiche durchdringende Ideologie des Nationalsozialismus und eine beinahe lückenlose Sozialisierung im System der Hitlerjugend waren diese Jugendlichen bis zum Ende vom Sieg des „Dritten Reiches“ überzeugt. Drei Szenen in der Miniserie verdeutlichen dies besonders. Die erste spielt sich an der Ostfront ab, als Neuankömmlinge in Friedrichs und Wilhelms Einheit begeistert den Kampffliegern zujubeln: „Das sind unsere. Los gebt’s ihnen, Jungs! Fresst Kruppstahl!“. 79 Die zweite ist ein Zusammentreffen Friedhelms, der 79 Unsere Mütter, unsere Väter, Teil 2, Min. 00:33:54–00:33:04.
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kriegsversehrt von der Front zurückgekehrt ist, mit zwei Jungen im Alten Fritz. Die beiden sprechen ihn an, ob er 1941 in Russland dabei gewesen sei und entdecken seine Auszeichnungen. Bei der Jugend, so macht diese Szene deutlich, sind die Kriegsbegeisterung und die Propaganda der Wochenschau fest verwurzelt. Der Glaube an den „Endsieg“ ist noch unumstößlich. Die Lust am Gedanken, die vermeintlichen Feinde zu töten, treibt die Jungen. Von Friedhelms Attitüde, der die ganze Zeit über nur stumm dagesessen hat und ihre Begeisterung augenscheinlich nicht teilt, sind sie enttäuscht. Der Wirt wirft die beiden hinaus. Auf dem Weg hinaus wendet sich einer der beiden an Friedhelm, den er offensichtlich als Soldat für einen Versager hält, und verkündet, dass er selbst in einem Jahr 17 werde und es ihm dann sicher gelingen werde, mehr feindliche Soldaten zu töten als Friedhelm. „Sowas versaut uns den Krieg“ ruft der Junge zum Abschied noch. 80 Die dritte Szene zeigt Friedhelm in den letzten Tagen des Krieges, als dieser eigentlich schon vorbei ist, bei seinem zweiten Einsatz an der Front. Friedhelm opfert sich anstelle der kriegsbegeisterten Jungen, die ihm von seiner Truppe übriggeblieben sind, und bewahrt sie so davor, sich sinnlos fürs Vaterland zu opfern – gewissermaßen ein später Heldentod nach heutigen Maßstäben. Diese Umdeutung der Jugendlichen aus Unsere Mütter, unsere Väter von schuldhaften Tätern zu unverschuldeten Opfern des Systems erinnert zumindest in ihren Grundzügen an den Langemarck-Mythos der Zwischenkriegszeit, der das Gedenken an die jungen Gefallenen des Ersten Weltkriegs überhöhte. So wurde „[v]or allem die todgeweihte ‚Jugend von Langemarck‘ zum Ursprungsmythos des Nationalsozialismus erhoben – einem Todesmythos von ewiger Jugend, der über die Märtyrergestalten von Leo Schlageter, Horst Wessel und Herbert Norkus mit der Gegenwart verknüpft wurde“. 81 Aktualität gewinnt auch Erich Maria Remarques Vorwort zu Im Westen nichts Neues, das 1928 den Zeitgeist traf und es mutmaßlich auch heute wieder täte: „Dieses Buch soll weder eine Anklage noch ein Bekenntnis sein. Es soll nur den Versuch machen, über eine Generation zu berichten, die vom Kriege zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam.“ 82 Moderne Erinnerungsfilme wie Unsere Mütter, unsere Väter knüpfen an dieses Gefühl an, dass der Krieg eine Generation gewissermaßen ihrer Jugend und einer selbstbestimmten Zukunft beraubt und sie gegen ihren Willen ganz entscheidend im Negativen geprägt hat.
80 Unsere Mütter, unsere Väter, Teil 2, Min. 01:17:15–01:18:15. 81 Radkau, Die singende und die tote Jugend, S. 118. Das Leben von Herbert Norkus diente Karl Aloys Schenzinger als Vorbild für den Propagandafilm Hitlerjunge Quex. 82 Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues, 1928, zitiert nach: Trommler, Mission ohne Ziel, S. 42.
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Rezensionen zu anderen Erinnerungsfilmen wie beispielsweise Unser letzter Sommer untermauern diesen Eindruck und zeigen, dass dieser Gedanke nicht nur in Deutschland, sondern auch in Polen verstanden wird. 83 Die jungen Protagonisten und ihre Geschichten, von denen Unsere Mütter, unsere Väter erzählt, bestärken dieses wiederentdeckte, identitätsstiftende Opfernarrativ einer verführten Generation. Auch hier wird mit der Tragik ihrer Situation gespielt, den vermeintlich Unverdorbenen, denen zu Beginn der Filmhandlung noch alle Wege offenstehen, um ihre Träume zu verwirklichen, die aber unerfüllt bleiben müssen. In seiner Analyse nationalsozialistischer Reden an die Jugend verwendet Joachim Schmitt-Sasse einen Begriff Thomas Manns, nämlich den der „ratlosen Zukunftsfülle“, um die „besondere Verführbarkeit der Jugend“ zu verdeutlichen, die der nationalsozialistische Jugendmythos hervorragend anzusprechen wusste. 84 Der Mythos einer verführten Jugend spiegelt sich auch im modernen Erinnerungsfilm. Der Fokus auf junge Menschen lädt allerdings ebenso dazu ein, diese Verführbarkeit in eine Umkehr von Täter- und Opferrollen zu übersetzen, d. h. die Schuld der jungen Kriegsgeneration, also der heutigen Großmütter und Großväter zu mindern – denn sie wussten ja nicht, was sie taten. Besonders evident wird dies bei Philipp Kadelbachs Unsere Mütter, unsere Väter, aber auch die Rolle des Guido Hausmann in Unser letzter Sommer lädt zu einer solchen Deutung ein. 85 Die vermeintliche Verführung einer Jugend, der so zumindest ein großer Teil der Verantwortung für ihr Handeln abgesprochen wird, ist in diesen Filmen eine zentrale Funktion des Jugendmotivs. Die Jugendlichen sind weniger aktive Subjekte der Geschichte, denn passive Objekte eines mörderischen Systems, als deren Opfer sie erinnert werden. Insbesondere die Charaktere in Unsere Mütter, unsere Väter wurden so wahrgenommen. Jeder von ihnen ist ambivalent: Sie begehen Heldentaten und machen sich doch schuldig. 86 Diese revisionistische Rhetorik im filmischen Narrativ greift Argumentationsstrukturen der deutschen Vertriebenenverbände ´ 83 Vgl. bspw. Barbara Hollender. 2016. „Swiat wyprany z uczu´c.“ Rzeczpospolita, 18. April, 2016, URL: http://www. rp. pl/ Film/ 304189875- Swiat- wyprany- z- uczuc. html#ap- 2, Zugriff am 3. April 2017; Alexandra Seitz. 2015. „Die Verrohung der Welt ist vorangeschritten.“ Badische Zeitung, 22. Oktober 2015, URL: http://www. badische- zeitung. de/ kino- 11/ die- verrohung- der- welt- ist- vorangeschritten- - 112837743. html, Zugriff am 27. März 2017. Mehr zu diesem Themenkomplex in Kapitel 4.1.1. 84 Schmitt-Sasse, „Der Führer ist immer der Jüngste“, S. 145. Zwar mache dieser Umstand Jugend auch heute noch besonders anfällig für extreme politische Ideologien, zeige aber auch Wege auf, um derlei Entwicklungen entgegenzutreten. Ebd., S. 146. 85 Diese Deutungsmöglichkeit wird von Rezensenten aufgenommen, wie in der Analyse der Rezeptionskontexte deutsch-polnischer Erinnerungsfilme im letzten Abschnitt dieser Arbeit deutlich werden wird. 86 Vgl. Assmann, Unbehagen, S. 37.
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auf, die sich selbst in der Vergangenheit gern als Hitlers letzte Opfer geriert haben. Der Schritt zu einer Gleichsetzung dieses deutschen Opferschicksals mit dem der eigentlichen Opfer des nationalsozialistischen Regimes, nämlich den Jüdinnen und Juden, den unterdrückten Völkern Osteuropas, den Homosexuellen, Oppositionellen, geistig Kranken und Unangepassten ist nur noch ein kleiner. Sie spiegelt zudem den Wunsch, die eigenen Familienmitglieder nicht in Verbindung mit Gräueltaten des Nationalsozialismus zu bringen. Oder wie Harald Welzer es im Titel seiner vieldiskutierten Studie formulierte: Opa war kein Nazi. Und wenn doch, dann ein Unfreiwilliger.
3.2 Deutsche und polnische Selbst- und Fremdbilder Von besonderem Interesse ist in der Analyse einer Transnationalisierung der Erinnerung im Film, was mit den nationalen Erinnerungsfiguren und -konventionen passiert, wenn sie auf den transnationalen Prüfstand gestellt werden. Notwendigerweise berührt diese gründliche Inspektion vor allem nationale Selbst- und Fremdbilder, also Auto- und Heterostereotypen, die ihren nationalen Kontexten enthoben nicht mehr unangefochten bleiben können. Das betrifft die Darstellung von Personen und sozialen Gruppen, aber auch historischer Ereignisse, die mittels etablierter Erinnerungsfiguren kolportiert werden, welche innerhalb einer nationalen Erinnerungskultur weitgehend unterbewusst funktionieren, jedoch in einem transnationalen Kontext bewusst gemacht und hinterfragt werden können. Die dominierenden Tendenzen im modernen Erinnerungsfilm in Deutschland und Polen zur Erinnerung des Zweiten Weltkriegs sollen im Folgenden anhand ausgewählter Beispiele aus den hier betrachteten Spielfilmen analysiert werden. Der Begriff der Stereotype, den der Politikjournalist Walter Lippmann 1922 87 erstmals in die soziologische Forschung einführte, ist nach wie vor ein ertragreiches Forschungsfeld für die Sozialpsychologie und verwandte Disziplinen, die sich in der einen oder anderen Form mit Gruppenprozessen beschäftigen. In der menschlichen Wahrnehmung nehmen Stereotype eine zentrale Rolle als Werkzeuge zur Kategorisierung und Generalisierung in einer komplexen Umwelt ein. Stereotype haben nach Henri Tajfel
87 Vgl. Walter Lippmann. 1998. Public Opinion. New Brunswick: Transaction Publishers. Erstveröffentlichung: New York: Macmillan, 1922. Mit einer neuen Einführung von Michael Curtis.
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immer eine kognitive, eine evaluative und eine emotionale Komponente. 88 Eine Vielzahl von unterschiedlichen Definitionen von Stereotypen hilft dabei, den unterschiedlichen Erkenntnisinteressen der forschenden Disziplinen Rechnung zu tragen. 89 Nach Fröhlichs Wörterbuch Psychologie sind Stereotype [a]llgemeine Bezeichnungen für relativ überdauernde und starre, festgelegte Sichtweisen bzw. ihnen zugrundeliegende Überzeugungen in bezug auf Klassen von Individuen, bestimmte Gruppen oder Dinge, die von vornherein festgelegt sind und nicht einer aktuellen Bewertung entstammen. Man kann sie auch als komplexe Formen des Vorurteils bezeichnen. Der entscheidende Unterschied liegt darin, daß Vorurteile meist als Einstellungen klassifiziert, Stereotype jedoch als Überzeugungen eingestuft werden. 90
Stallybrass definierte Stereotype als an over-simplified mental image of (usually) some category of person, institution or event which is shared, in essential features, by large numbers of people. . . Stereotypes are commonly, but not necessarily, accompanied by prejudice, i.e. by a favorable or unfavorable predisposition toward any member of the category in question. 91
Für die vorliegende Arbeit ist die Idee kultureller Stereotype maßgeblich, also der in einer jeweiligen Kultur verankerten und innerhalb der Mitglieder dieser Gemeinschaft geteilten, oft negativen Stereotype über die Zugehörigen einer anderen Gruppe. In der Regel wird diese andere Gruppe und ihre Mitglieder als besonders homogen bis hin zur Depersonalisierung wahrgenommen. Die geteilten Stereotype tragen innerhalb einer Gruppe zur Festigung ihrer Identität und ihres Zusammenhalts bei. Diese Fremdbilder wirken nicht nur im Jetzt, sondern haben auch eine historische Komponente: „Viele Stereotype werden von ihren Trägern durch die Vergangenheit legitimiert, erklärt, gerechtfertigt.“ 92
88 Henri Tajfel. 1982. „Social Psychology of Intergroup Behavior.“ Ann. Rev. Psychol. Vol. 33, S. 1–39; aber auch Hans Henning Hahn. 2013. „‚Mit denen da kann man sich einfach nicht vertragen‘ Methodische Überlegungen zur Rolle von Stereotypen in Versöhnungsprozessen.“ Kirchliche Zeitgeschichte, Bd. 26, Nr. 1, S. 63–72. 89 Für eine Übersicht der produktivsten Phase der Stereotypenforschung siehe bspw. Tajfel, Social Psychology of Intergroup Behavior. 90 Werner D. Fröhlich. 2005. Wörterbuch Psychologie. 25. Auflage, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, S. 455 – Hervorhebung im Original. 91 Stallybrass, 1977, S. 601, zitiert nach Tajfel, Social Psychology of Intergroup Behavior. 92 Vgl. Hahn, Stereotypen in Versöhnungsprozessen, S. 64. Man kann natürlich aber auch die Frage stellen, ob die Homogenität, die in der deutschen und polnischen Gesellschaft durch die Verwendung dieser Gruppenbezeichnungen „Deutsche“ und „Polen“ vorausgesetzt bzw. künstlich erzeugt wird, die Realität gut genug abbildet. Zudem ist es natürlich schwierig, eine Identität der Gruppe der Polen und der Deutschen
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Es ist deswegen kaum verwunderlich, dass Erinnerungsfilme in der Verbreitung von Stereotypen eine wichtige Funktion einnehmen und ihrerseits auch zur Vereinfachung der Kommunikation auf Stereotype zurückgreifen. Filme reproduzieren und verfestigen somit Stereotype, auch nationaler Art, die in der Gesellschaft zum Entstehungszeitpunkt der Filme existieren. Sie tragen somit zu ihrem Fortbestehen bei. Jenseits dieser reproduzierenden Funktion haben Filme potenziell aber auch die Macht, selbst Stereotype zu produzieren und zu verbreiten bzw. existierende Stereotype infrage zu stellen und somit Antistereotype zu schaffen. 93 Auch die Rezeption von Figuren im Film folgt den Gesetzen der sozialen Wahrnehmung und hat zur Folge, „dass wir Figuren [im Film, Anm. JRG] dieselben Eigenschaften zuschreiben wie Menschen und auf sie häufig ähnlich reagieren“. 94 Inwiefern Unser letzter Sommer, Unsere Mütter, unsere Väter und Warschau ’44 dieses inhärente Potenzial hinsichtlich der Re- und Dekonstruktion nationaler Stereotype nutzen, soll im Folgenden untersucht werden. Zunächst sollen dazu die Bilder, die in modernen Erinnerungsfilmen in Deutschland und Polen von Deutschen gezeichnet werden, beleuchtet werden. Dabei interessieren sowohl die Selbst- als auch die Fremdbilder, denn wie Hans Henning Hahn feststellt, liefern Heterostereotype auch wichtige Informationen über ein implizites Selbstbild. 95 Das heißt, dass die Darstellung der Anderen im Film ebenso Rückschlüsse auf die Autostereotype der Erinnerungsgemeinschaft zulässt. Menschen neigen dazu, in komplexen Situationen Figuren und ihr Handeln binär zu deuten, d. h. entweder als gut oder böse, moralisch oder amoralisch. 96 In Bezug auf die Deutschenbilder im deutschen und polnischen Erinnerungsfilm soll dabei unter anderem die lange gepflegte Differenzierung zwischen der vermeintlich sauberen Wehrmacht und der Waffen-SS in den Fokus genommen werden.
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zur Zeit des Zweiten Weltkriegs mit den Menschen, die sich diesen Gruppen heute zuordnen, zu finden. Intragruppenidentität heute wie über die Zeit hinweg sowie Intergruppendifferenz sind zu einem großen Teil Konstrukt und müssen daher hinterfragt werden. Vgl. Król, Obraz Niemców w polskim filmie fabularnym, S. 130; für ein Anwendungsbeispiel von Spielfilmen zur Anregung, Stereotype zu hinterfragen siehe bspw. Nicole Coleman. 2016. „Filmische Stereotype im interkulturellen Landeskundeunterricht: Theorie und Praxis.“ Die Unterrichtspraxis / Teaching German, Vol. 46, Nr. 1, S. 47–56. Jens Eder. 2014. Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse. 2. Auflage, Marburg: Schüren, S. 192. Vgl. Hahn, Stereotypen in Versöhnungsprozessen, S. 65. Vgl. Ebbrecht, Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis, S. 252; Harald Welzer. 2016. Täter: Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. 7. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, S. 21.
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Ebenso soll der Topos der „ganz normalen Männer“ in der Analyse eine Rolle spielen. Im nächsten Schritt soll untersucht werden, welche Bilder in den Erinnerungsfilmen von Polen vermittelt werden. Das Spektrum reicht vom patriotischen Widerstandskämpfer, wie er beispielsweise in Warschau ’44 zu finden ist, über unzivilisierte Antisemiten, wie sie die Partisanen in Unsere Mütter, unsere Väter verkörpern, bis hin zu opportunistischen Kollaborateuren, wie sie vor allem in Michał Rogalskis Unser letzter Sommer auftreten, aber auch in der polnischen Landbevölkerung in Kadelbachs Unsere Mütter, unsere Väter, weniger jedoch in Komasas Warschau ’44 zu finden sind. Weiterhin ist von Interesse, wie die Beziehungen zwischen Deutschen und Polen zueinander während der Zeit der Besatzung im modernen Erinnerungsfilm dargestellt werden. Eine besondere Kategorie bilden hier sicherlich die Liebesbeziehungen zwischen deutschen Soldaten und polnischen Frauen im besetzten Polen, die trotz des Verbots Besatzungsalltag waren. Der Coming-of-Age-Film bietet für diese Erzählungen eine ideale Plattform. Teil dieser deutsch-polnischen Beziehungen ist aber auch sexualisierte Gewalt, wie sie der Polin Alina Bigaj in Unsere Mütter, unsere Väter durch einen deutschen Bauern widerfahren ist, dem sie als Ostarbeiterin im „Dritten Reich“ Kinder gebären sollte. Natürlich aber können diese deutsch-polnischen Beziehungen kaum vollständig ohne Einbeziehung der jüdischen und der sowjetischen Seite betrachtet werden, die zumindest in Kürze ebenfalls Erwähnung finden soll.
3.2.1 Deutschenbilder: Das stereotyp Böse oder verkannte Opfer? Welches Bild der Deutschen konstruiert der moderne Erinnerungsfilm in Deutschland und Polen heute? Angesichts des beispiellosen Terrors und des Grauens, das die nationalsozialistische Expansions- und Vernichtungspolitik in der nur zwölf Jahre währenden Herrschaft Adolf Hitlers und seiner Verbündeten über Europa und die Welt brachte, erstaunt es wenig, dass sich im Spielfilm das Bild des Nazis als das stereotyp Böse eingeprägt hat. Das gilt auch für Filme, die sich nicht explizit dem Zweiten Weltkrieg widmen, wie Tobias Ebbrecht unter anderem am Beispiel der Indiana Jones-Filme von Steven Spielberg zeigt. 97 Diese filmischen „Darstellungen von Nazitätern aus amerikanischen Antinazifilmen“ haben einen beinahe ebenso großen Einfluss „als Referenzpunkt für gegenwär97 Vgl. Ebbrecht, Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis, S. 252. – So steht der Held der Abenteuerfilmreihe im ersten Teil Jäger des verlorenen Schatzes auf der Jagd nach der verschollenen Bundeslade dem Gestapo-Major Toht gegenüber.
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tige Täterdarstellungen“ entwickelt, wie die gängigen „nationalsozialistischen Selbst- und Fremdbilder“, die ironischerweise die heutige Darstellung des mythischen Nazis im Film bereits vorweggenommen haben. 98 Angesichts der weltweiten Gültigkeit dieser Darstellungen kann man hier zweifelsohne bereits von einer Transnationalisierung sprechen, die aber nicht einer gewissen Problematik entbehrt. Dass durch diese geschlossene Darstellung der nationalsozialistischen Vergangenheit und ihrer Akteure die bewusste Auseinandersetzung mit den Mechanismen leiden kann, die den gesellschaftlichen Entwicklungen des „Dritten Reiches“ zugrunde lagen, ist ein gelegentlich angebrachter Kritikpunkt. 99 In den letzten Jahren hat sich Erinnern im Film weg von den großen Persönlichkeiten der Weltgeschichte 100 hin zu ganz normalen Menschen und deren Alltag in außergewöhnlichen Zeiten entwickelt. Durch die Fokussierung auf ganz normale Männer, um den bereits zum geflügelten Wort gewordenen Titel des bekannten Buches des Historikers Christopher R. Browning 101 zu bemühen, kann diese Problematik zum Teil aufgelöst werden. Den Mythenmachern eröffnet sich durch diesen Wandel weg von dem Publikum wohlbekannten großen Persönlichkeiten hin zu ebenjenen normalen Menschen zudem die Möglichkeit, die Filmfiguren freier zu gestalten und auch widersprüchliche Motivationen und Charakterentwicklungen abzubilden. 102 Nicht alle nutzen diese Möglichkeiten gleichermaßen. Besonders aber in Michał Rogalskis Unser letzter Sommer, dessen jugendliche Protagonisten sich fernab des großen Kriegsgeschehens in einem polnischen Dorf bewegen, wird die erwähnte Refokussierung und die damit einhergehende Freiheit der Ausgestaltung der Filmcharaktere evident. Gleichzeitig eröffnet dieser Perspektivwechsel jedoch auch Räume für eine Umkehr der Täterund Opferrollen, wie in Ansätzen in der differenzierteren Darstellung der deutschen und polnischen Charaktere in Unser letzter Sommer und der Umdeutung deutscher Täter in Philipp Kadelbachs Unsere Mütter, unsere Väter deutlich wird. 98 Ebd. 99 Vgl. Hesling, The past as story, S. 198–199. 100 Vgl. Toplin, The Filmmaker as Historian, S. 1220 f. – Natürlich gibt es aber weiterhin vereinzelt Filme, die sich um derlei große Persönlichkeiten drehen. Ein gutes Beispiel ist der Film Die dunkelste Stunde aus dem Jahr 2017. Hauptdarsteller Gary Oldman erhielt für seine Interpretation des Winston Churchill 2018 den Oscar als bester Schauspieler. 101 Christopher R. Browning. 2016. Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen. 8. Auflage, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag. 102 Freilich muss beachtet werden, dass diese Kunstfiguren trotz ihrer realen Inspirationen Produkte der heutigen Zeit sind, die konstruiert wurden, um eine bestimmte Botschaft zu vermitteln.
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Innerhalb der hier untersuchen Filmbeispiele kommt dem eben erwähnten Stereotyp des sadistischen Nazis die Darstellung der Deutschen in Jan Komasas Warschau ’44 am nächsten. Die Parallelen zum Deutschenbild im polnischen Film früherer Jahre, das von kommunistischer Propaganda geprägt war, sind offensichtlich: Die Deutschen sind blonde, blauäugige, hochgewachsene, überhebliche, brutale, fanatische, blutrünstige Soldaten und bleiben über den gesamten Verlauf des Films eindimensional. 103 Sie gehören zur Kulisse, vor der sich die Filmhandlung abspielt, deren Protagonisten polnische Widerstandskämpfer sind. 104 Es beginnt mit dem deutschen SS-Mann Hermann, der gemeinsam mit seiner polnischen Geliebten Schokolade bei der bekannten Warschauer Schokoladenfabrik E. Wedel besorgt. Sein Auftritt ist ein klares Zeichen, das das in vorherigen Szenen bereits angedeutete herrschende Machtgefüge im besetzten Warschau bestätigt. Die Wahl der Sprache spielt in diesem Kontext eine bedeutende Rolle. Der SS-Mann gibt seine Anweisungen auf Deutsch, in der Annahme, dass alle ihn verstehen werden. Auf Stefans Unwillen, sich seinen Befehlen zu beugen, reagiert der Deutsche mit willkürlicher Gewalt und verpasst dem jungen Polen einen Peitschenhieb ins Gesicht. Die Worte, die Regisseur und Drehbuchautor Komasa dem SS-Mann in den Mund legt, sind wie viele weitere Äußerungen dieser Art pathetisch und greifen zukünftigen politischen Entwicklungen beinahe prophetisch vorweg. Hermann: „Was für ein Blick. Wo kommt diese menschliche Verbissenheit und dieser Hass her, du Schwein. Du verstehst jedes meiner Worte. Oder? Wollt ihr wirklich so sehr, dass wir aus dieser Stadt raus sind? Kein Problem. Unseren Platz übernehmen dann die Kommunisten aus Russland. Dann werdet ihr uns noch vermissen.“ 105
Willkürliche Gewaltexzesse sind es auch, die im weiteren Verlauf des Films das Bild deutscher Soldaten prägen, deren Charaktere ansonsten wenig ausdifferenziert bleiben. Eine Ausnahme bildet die Figur des verwundeten
103 In diesem Kontext erzählte Regisseur Władysław Pasikowski in einem Interview zu seinem Film Pokłosie eine aufschlussreiche Anekdote. Sein Sohn, der Kulturwissenschaften studiere, habe ihn vor Kurzem gefragt, ob er wisse, „dass der reguläre Deutsche in polnischen Kriegsfilmen kein Gesicht habe, weil er das universelle, anonyme Böse repräsentiere.“ Er, Pasikowski, habe darauf geantwortet, „dass der Deutsche kein Gesicht hat, weil ihn der Stuntman Staszek gespielt hat, weil es kein Geld für einen Schauspieler gab“. Subbotko, Pasikowski: Nasz naród nie jest wybrany. 104 Vgl. Król, Obraz Niemców w polskim filmie fabularnym, S. 151, siehe auch ebd. S. 167 zum stereotypen Feindbild der Deutschen, die unter anderem als fanatisch, dumm, betrügerisch und als dem Alkohol sehr zugetan dargestellt wurden; diese negativen Merkmale galten auch für deutsche Frauen. 105 Warschau ’44, Min. 00:07:27–00:07:52.
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Wehrmachtssoldaten Johann Kraus, gespielt von Max Riemelt. Auch Kraus verbreitet antipolnische Parolen, als er im Lazarett auf den verwundeten Kobra und seine Truppe trifft. Johann Kraus: „Hä, noch nie ’nen Deutschen gesehen? Hier! Wir werden euch alle vernichten. Einen nach dem anderen. Ihr werdet alle verrecken. Ihr dreckigen Polacken. Niemand wird euch helfen.“ 106
Obgleich Kraus die nationalsozialistische Ideologie ebenfalls tief verinnerlicht zu haben scheint, zeigt er doch ein Gewissen. Als im weiteren Verlauf des Aufstands Männer der SS-Sondereinheit Dirlewanger in das Lazarett eindringen, versucht er, Kobra und Beata vor der Erschießung zu retten. Johann Kraus: „Nicht schießen. Nicht schießen. Ich bin Deutscher. Johann Kraus, zweite Einheit, Wachtbataillon. Der Pole hat mir nichts getan. Sie haben mich gut behandelt.“ Dirlewanger-Soldat: „Ich füge ihm doch kein Leid zu. Ich will nur wissen, ob hier irgendwelche Verbrecher sind. Bist du ein Verbrecher?“ 107
Auch in der Produktion des polnischen Regisseurs Komasa wird also die in der deutschen Erinnerungskultur etablierte Unterscheidung zwischen der sauberen Wehrmacht und der skrupelloseren SS gemacht. Johann Kraus steht als Wehrmachtssoldat für die anderen Deutschen, die zwar auch glühende Nationalsozialisten waren, aber trotz allem so etwas wie Menschlichkeit und ein Gewissen zeigten. Auch nachdem er sich der SS-Sondereinheit Dirlewanger angeschlossen hat, bleibt Kraus dieser Ausnahmedeutsche in Komasas Film, der aufgrund seiner Sonderstellung umso außergewöhnlicher erscheinen muss. Als er später noch einmal auf Stefan trifft, der neben einem Leichenberg im Krankenhaus, in dem Alicja Verwundete gepflegt hat, kauert, erkennt er ihn wieder und lässt den Polen durch einen willentlichen Fehlschuss am Leben. Max Riemelt selbst sieht in seiner Rolle als Wehrmachtssoldat Johann Kraus in Warschau ’44 eine Differenzierung der Charakterisierung der Deutschen im Film, die durch die SS-Sondereinheit Dirlewanger ansonsten dem Stereotyp entsprechen, das in Polen vom sadistischen Nazi vorherrscht: Um das zu differenzieren, was die SS war und die deutsche Armee, haben sie noch eine kleine Geschichte mit eingebaut. Da war ich dann der Wehrmachtsoldat, der von der SS mitgeschliffen wird, um dieses Killerkommando zu unterstützen. Also was für absurde Welten innerhalb dieser absurden Welt auch noch möglich waren. Die Dreharbeiten waren ziemlich gut. Wir haben auch noch auf Film gedreht und es waren alles ganz junge Leute. 108 106 Warschau ’44, Min. 01:14:03–01:14:13. 107 Warschau ’44, Min. 01:35:07–01:35:39. 108 Jörg Taszman. 2015. „Stark inszenierte Trauerarbeit.“ Deutschlandfunk Kultur, 1. August 2015, URL: http://www. deutschlandfunkkultur. de/ warschau- 44-
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Dass die Unterscheidung zwischen einer sauberen Wehrmacht im Kontrast zur unmoralischen SS artifiziell war, ist spätestens seit der Kontroverse um die Wehrmachtsausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944 109 (1995–1999) und Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944 110 (2001–2004), gesellschaftlicher Konsens in Deutschland. 111 Anders als Philipp Kadelbach in Unsere Mütter, unsere Väter läuft Komasa aber auch nicht Gefahr, das Stereotyp des Deutschen als sadistischen Nazi gegen ein Bild der Deutschen, einschließlich der Soldaten der Wehrmacht, als Opfer des nationalsozialistischen Systems einzutauschen. Letztlich prägen doch die Männer der SS-Sondereinheit Dirlewanger das Bild der Deutschen während der Kampfhandlungen in Warschau ’44. Die Sondereinheit, die ursprünglich aus Wilddieben bestand, wurde im Kriegsverlauf stark erweitert – ab 1943 auch um verurteile Straftäter und Asoziale aus Konzentrationslagern sowie zur Bewährung verurteilte Angehörige der SS. Ab Sommer 1944 hatte sie den Status einer SS-Sonderbrigade. Die SS-Sondereinheit Dirlewanger war für ihre besonders brutale Vorgehensweise bekannt. Sie zeichnete für das Massaker im Warschauer Stadtteil Wola verantwortlich und nutzte Frauen und Kinder als menschliche Schutzschilde bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstands. Eine Szene dieser Art wird auch in Warschau ’44 nachgestellt. Ein besonderes Zeichen für die Stellung dieser Männer in der polnischen Erinnerung an den Warschauer Aufstand ist, dass es für sie im Polnischen ein eigenes Wort gibt: Dirlewangerowiec. Die Massaker an der Zivilbevölkerung bewertete schon Hanns von Krannhals, der 1964 die erste und lange Zeit einzige deutschsprachige Abhandlung über den Warschauer Aufstand verfasste, als für den Verlauf der Kämpfe sinnlos, was „nur noch das Gewicht der Schuld bei den unmittelbar anwesenden Verantwortlichen“ erhöhe. 112 Und trotzdem stellte Hellmuth Auerbach schon 1962 für die Erinnerung an die SS-Sondereinheit Dirlewanger in Deutschland die Tendenz fest,
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stark- inszenierte- trauerarbeit. 2165. de. html? dram:article_ id= 327181, Zugriff am 5. März 2018. Hamburger Institut für Sozialforschung. Hrsg. 1997. Vernichtungskrieg: Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944. Ausstellungskatalog. Hamburg: Hamburger Edition. Hamburger Institut für Sozialforschung. Hrsg. 2002. Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944. Ausstellungskatalog. Hamburg: Hamburger Edition. Das heißt natürlich noch lange nicht, dass in den Familienerzählungen deutscher Wehrmachtsangehöriger die eigenen Väter und Großväter als Helfer im Vernichtungskrieg, als Beförderer des Holocaust für schuldig befunden werden. Hanns von Krannhals, 1964, zitiert nach: Borodziej, Der Warschauer Aufstand 1944, S. 125.
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„gerade diesen Verband nachträglich in das Licht verharmlosender Räuberromantik zu rücken“. Dies könnte nach Meinung des Autors „angesichts seiner verbrecherischen Taten nicht unwidersprochen bleiben“. 113 Auch wenn oder gerade weil die SS-Sondereinheit Dirlewanger wie auch der Warschauer Aufstand in der deutschen Erinnerungskultur heute eine untergeordnete Rolle spielen, scheint die Gefahr einer Romantisierung aktuell nicht mehr akut. Die Differenzierung zwischen Kraus und den Angehörigen der SS in Warschau ’44 für ein Zeichen eines grundsätzlichen Wandels der polnischen Erinnerungskultur im Film hinsichtlich der Darstellung der Deutschen zu halten, wäre allerdings verfrüht. Wie Krzysztof Ruchniewicz 2008 in einem etwas anderen, aber übertragbaren Kontext darlegt, lässt sich daraus nicht ohne Weiteres der Schluss ziehen, hier werde eine Unterscheidung zwischen „normalen“ Deutschen und den Nationalsozialisten gemacht. In der polnischen Wahrnehmung gebe es diese Unterscheidung nicht. 114 Dennoch kommt Ruchniewicz zu dem Schluss, dass – trotz Versuchen der polnischen Rechten, das „deutsche Schreckgespenst“ politisch zu nutzen – das Stereotyp des feindlichen und gefährlichen Deutschen allenfalls eine verblassendes in einer Reihe von stereotypen Vorstellungen ist. 115
Eine andere Situation präsentiert sich bei Unsere Mütter, unsere Väter, wo ebengerade der Mythos von der sauberen Wehrmacht eine zentrale Rolle spielt, der ganz offensichtlich auch durch den umfassenden gesamtgesellschaftlichen Diskurs und die Aufarbeitung der Verbrechen der deutschen Wehrmacht im Kontext des Vernichtungskrieges im Osten im Rahmen der bereits erwähnten Ausstellungen nicht aus der kollektiven Erinnerung der Bundesrepublik verschwunden ist. Im Gegenteil: Philipp Kadelbachs Unsere Mütter, unsere Väter und die begleitende Debatte suggerieren vielmehr, dass eine Distanzierung von den Verbrechen des „Dritten Reiches“ durch die zunehmende Unterscheidung zwischen Nationalsozialisten und den anderen Deutschen stattfindet. Zwar wurde Unsere Mütter, unsere Väter für den vermeintlichen Bruch mit Tabus – dazu gehören beispielsweise die schonungslose Darstellung der Verbrechen der Wehrmacht im Osten oder die Gleichgültigkeit der Deutschen gegenüber dem Verschwinden
113 Hellmuth Auerbach. 1962. „Die Einheit Dirlewanger.“ Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jahrgang 10, Heft 3, S. 250–263, hier: S. 250. 114 Vgl. Krzysztof Ruchniewicz. 2008. „Stehlen die Polen immer noch die deutschen Autos? Zur Aktualität der polnisch-deutschen Stereotype.“ Polen-Analysen Nr. 40, 21. Oktober 2008, URL: http://www. laender- analysen. de/ polen/ pdf/ PolenAnalysen40. pdf, Zugriff am 12. Juli 2018, S. 2–8, hier: S. 5. 115 Ebd.
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ihrer jüdischen Nachbarn – durchaus gelobt. 116 Aber: Die Nazis, das sind in der Miniserie nicht die fünf Protagonisten, die trotz einer Jugend im Nationalsozialismus die nationalsozialistische Ideologie augenscheinlich nur sehr bruchstückhaft verinnerlicht haben. Auch die meisten Kameraden von Wilhelm und Friedhelm bei der Wehrmacht sind gewissenhafte Soldaten, die keineswegs den Eindruck fanatischer Rassenideologen erwecken. Die stereotypen, sadistischen Nazis, die das Böse im von Ebbrecht beschriebenen Sinne verkörpern, das sind die anderen – die SS-Männer und die Gestapo, die als Gegenspieler der fünf Hauptfiguren auftreten. Da ist zum einen der SS-Obersturmbannführer Hiemer, der mit der Vernichtung der Juden im Osten beauftragt ist und beim ersten Zusammentreffen mit Wilhelms und Friedhelms Truppe ein kleines jüdisches Mädchen, das Friedhelm retten will, ohne Skrupel erschießt. Er entspricht ideal dem Stereotyp des sadistischen Fanatikers, der mit Eifer die nationalsozialistische Idee umsetzen will. Friedhelm Winter, der sich im Verlauf des Krieges zum gewissenlosen Krieger entwickelt, wird ihm bei seinem zweiten Einsatz an der Ostfront unterstellt. Die Befehle Hiemers, der unter anderem zu Beginn des dritten Teils von Unsere Mütter, unsere Väter im besetzten Polen zur „Hasenjagd“ 117 auf einen flüchtenden Jungen bläst, führt Friedhelm ohne Zögern aus. Als aber das Leben seines Freundes Viktor Goldstein gegen das seines Vorgesetzten Hiemer steht, erschießt Friedhelm den SS-Mann und stellt dadurch die Loyalität zum Jugendfreund über seinen soldatischen Gehorsam. Zum anderen spielt der korrupte und opportunistische SS-Sturmbannführer Dorn, der für die Gestapo arbeitet, eine zentrale Rolle im Gefüge zwischen Gut und Böse in Unsere Mütter, unsere Väter. Eingeführt wird er bereits zu Beginn der Filmhandlung, als er die Abschiedsfeier der fünf Freunde im Hinterzimmer des Alten Fritz auflöst, weil dort Swing gehört würde – im Beisein von Juden. Später beginnt er mit Greta, der er eine große Karriere als Sängerin verspricht, eine Affäre. Den Nebenbuhler Viktor zieht er aus dem Verkehr, indem er vorgibt, ihm auf Gretas Bitte hin Papiere für seine Ausreise zu besorgen. Tatsächlich lässt er Goldstein festnehmen und ins KZ Sachsenhausen 116 Unsere Mütter, unsere Väter greift derweil auch Themen und Stereotype auf, die so auch im Nationalsozialismus ihren Platz gehabt haben dürften. So erklärt einer der Kameraden Friedhelm, dass sein Vater infolge der Wirtschaftskrise der Weimarer Republik lange arbeitslos gewesen sei. Die Kinder hätten daher früh jagen gehen müssen, um für Nahrung zu sorgen. Erst als Hitler an die Macht kam, wurde es besser und der Vater fand wieder eine Beschäftigung. 117 Der Begriff Hasenjagd bezeichnet euphemistisch Kriegsverbrechen wie die Massaker in Celle, Krems und Mauthausen 1945. Der Film Hasenjagd – Vor lauter Feigheit gibt es kein Erbarmen beschäftigte sich 1994 mit der Mühlviertler Hasenjagd, der Ermordung von über 400 sowjetischen Kriegsgefangenen in der Endphase des Krieges im KZ Mauthausen.
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bringen. Dorns Handeln ist im mehrfachen Sinne unmoralisch: Er nutzt das nationalsozialistische System zu seinen Gunsten, ohne überzeugter Nationalsozialist zu sein. Er begeht über Jahre Ehebruch mit Greta, die dadurch einige Freiheiten genießt. Als Greta sich entschließt, seiner Frau davon zu berichten, lässt er sie ins Gefängnis werfen. Auch Gretas Beichte, sie sei schwanger, vermag ihn nicht zu erweichen – im Gegenteil. Nur noch mehr hätte dieser Beweis für seine Untreue sein dem Ideal der nationalsozialistischen Familie entsprechendes Selbstbild ins Wanken gebracht. Der Opportunist Dorn, vor die Wahl gestellt, mit dem nationalsozialistischen System unterzugehen und sich und seine Familie durch Erschießung einer Strafverfolgung zu entziehen, oder sich in einem neuen Deutschland unter Verleugnung seiner nationalsozialistischen Vergangenheit eine Existenz aufzubauen, entschließt sich für den Neuanfang. Den vermeintlichen Rettungsversuch Viktors nutzt er, um gegenüber den Alliierten seine innere Opposition zum nationalsozialistischen System zu belegen. Dorn versucht sowohl bei Greta kurz vor deren Erschießung im Gefängnis eine Bestätigung seiner Version der Ereignisse zu erlangen, als auch später, als er im Amtszimmer in Berlin auf den zurückgekehrten Viktor trifft, diese Geschichte auszunutzen. Dorn steht somit für den opportunistischen Nazikader, der die nationalsozialistische Identität wie eine alte Haut ablegt, seine Uniform symbolisch verbrennt, um sich im Nachkriegsdeutschland eine neue Karriere und ein neues Leben aufzubauen – unterstützt und gefördert durch die alliierten Besatzer, die auf die Expertise beim Aufbau eines neuen Deutschlands angewiesen waren. Für diesen Typus steht im weitesten Sinne auch die neue Bewohnerin der Wohnung der Goldsteins, die bei Gretas erstem Besuch 1943 noch überzeugt antisemitische Parolen von sich gegeben hatte, jedoch bei Viktors Besuch 1945 in der ehemaligen Wohnung der Eltern vorgibt, nie etwas gegen diese Juden gehabt zu haben. Die Bemerkungen gegenüber ihren Töchtern aber relativieren dieses Lippenbekenntnis und zeigen, dass auch nach dem Ende des „Dritten Reiches“ Teile der nationalsozialistischen Ideologie und vor allem ein tiefverwurzelter Antisemitismus in den Köpfen der „ganz normalen Menschen“ in Deutschland fortbestanden. Bezeichnenderweise ist diese Frau eine Angehörige einer schwächeren sozialen Schicht und nimmt wie auch Hiemer und Dorn im Figurengefüge von Unsere Mütter, unsere Väter damit eine Sonderstellung ein. Allerdings bleiben Figuren wie diese Randerscheinungen. Das Bild der Deutschen während des Zweiten Weltkriegs prägen die dem Berliner 118 Bildungsbürgertum entstammenden, während des Krieges desillusionierten und geläuterten, sinnbildlichen Mütter und Väter – 118 Auch die Fokussierung auf die Großstadt Berlin entspricht einem Trend im Geschichtskino seit Ende der 1990er-Jahre, wie Bösch feststellt – vgl. Bösch, Film,
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Wilhelm, Charlotte, Viktor, Greta und Friedhelm –, deren Verhalten zwar auch nicht immer heldenhaft, aber letztendlich nicht von Grund auf böse ist. Einen weitreichenderen Versuch, ein differenziertes Bild der Deutschen und Polen im Zweiten Weltkrieg zu zeichnen, unternimmt zweifelsohne Michał Rogalski in Unser letzter Sommer, indem er sie eben nicht nach einem binären Schema als gute Polen und böse Nazis gegenüberstellt. Vielmehr ist Rogalskis Film ein sehr eindrückliches Argument für den Topos der ganz normalen Männer, wie ihn Christopher R. Browning in seinem vielbeachteten Buch Ganz normale Männer über das Polizeibataillon 101 in Ostpolen beschrieben hat. 119 Ein wichtiger Faktor ist das hohe Durchschnittsalter der Truppe in Wroblew, die weder besonders ideologisiert noch besonders soldatisch auftritt. Dem stereotypen Bild eines militärisch strengen, sadistischen Nazis entsprechen die Männer, die nackt in einen Fluss springen und sich amüsieren, die gemeinsam ein Fußballspiel veranstalten und sich beim Abendbrot nach dem gemeinsamen Tischgebet mit derben Witzen über den neuesten Klatsch aus der Illustrierten Zeitung unterhalten so gar nicht. Im Gegenteil: Harmloser könnten sie kaum sein, die Deutschen in Unser letzter Sommer. Odi und Guido widersetzen sich während einer Suchaktion sogar ganz bewusst dem Befehl, am Flussufer nach entflohenen Juden zu suchen, und machen lieber Pause. Dem Stereotyp des obrigkeitshörigen Deutschen, der Befehle ausführt, ohne sie zu hinterfragen, entspricht das nicht. Die Grußformel „Heil Hitler“ wird man in Unser letzter Sommer nicht hören, auch wenn sie die Wand des Gendarmerie-Stützpunkts schmückt. Eike Geisel macht diese Entdeckung des „guten Nazis“ im Jahre 1994 aus, als Steven Spielbergs Film über den Fabrikanten, Nationalsozialisten und Judenretter Oskar Schindler das Bild des „moralisch zweifelsfreien Täters“ geprägt hat: „Nach dem Deutschen, der gut sein konnte, weil er besser verdiente, sollten nun aus besonde-
NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft, S. 22. Weitere Beispiele für diesen Großstadtkult sind Dresden oder die Erfolgsserie Babylon Berlin, die sich in bislang drei Staffeln mit dem Berlin der 1920er-Jahre bis zum Erstarken der Nationalsozialisten auseinandersetzt – in der Hauptrolle Volker Bruch, der in Unsere Mütter, unsere Väter den Wilhelm Winter spielt, als Kriminalkommissar Gereon Rath. Dieser Trend setzt sich auch in Warschau ’44 im polnischen Kino fort. Unser letzter Sommer bricht mit dieser Konvention, indem sich der Film auf die ostpolnische Provinz konzentriert. Diese scheint, wenn man an Pokłosie, Woły´n oder Ró˙za denkt, im polnischen Geschichtskino der Gegenwart wieder eine wachsende Rolle einzunehmen. 119 Vgl. Browning, Ganz normale Männer; Goldhagens Buch Hitlers willige Vollstrecker von 1996 basiert interessanterweise auf derselben Datengrundlage. Daniel Jonah Goldhagen. 2012. Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. 1. Auflage, Pantheon-Ausgabe 2012, München: Pantheon-Verlag.
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rem Anlaß jene Deutschen gefeiert werden, die ein weiches Herz hatten, das unter einem Eisernen Kreuz schlug.“ 120 Bilder dieser Art, d. h. der sympathischen deutschen Soldaten, die im besten Falle wie die Wehrmachtsmänner in Unsere Mütter, unsere Väter auch noch schöngeistige Philosophen sind, lassen sich laut Król bereits in den fünfziger und sechziger Jahren im polnischen Kino beobachten. 121 Den guten Nazi durfte es in der kommunistischen Propaganda Volkspolens aber natürlich eigentlich nicht geben. Wilm Hosenfeld, der deutsche Offizier, der dem jüdischen Komponisten Władysław Szpilman bei seinem Überlebenskampf in Warschau half, wurde aus der ersten Verfilmung der Erinnerungen Szpilmans unter dem Titel Miasto nieujarzmione (Unbesiegte Stadt) 1950 getilgt. 122 In der Verfilmung desselben Stoffs in Roman Polanskis Der Pianist spielt Hosenfeld eine entscheidende Rolle. Fortgesetzt wird die Fokussierung auf die ganz normalen Männer in Unser letzter Sommer durch das direkt aus der Forschungsliteratur inspirierte Motiv der Judenjagd, also der Suche nach geflüchteten Juden und Partisanen, zu der der Oberleutnant bläst: „Und ich hoffe, meine Herren, Sie bringen mir Beute“. 123 Dieses Motiv der Jagd auf Juden findet sich laut Król bereits im polnischen Film Menschenjagd (Naganiacz) aus dem Jahr 1964. 124 Auch Browning beschreibt sie als „eine wichtige und statistisch signifikante Phase der ‚Endlösung‘“ und „in psychologischer Hinsicht ein Schlüsselelement zur Erforschung der Mentalität der Täter“. 125 Der Oberleutnant, gespielt von Steffen „Schortie“ Scheumann, entspricht in seinem Verhalten am ehesten dem Stereotyp des sadistischen Nazis und bildet den 120 Eike Geisel. 2015. „Runder Tisch mit Eichmann.“ In: Eike Geisel. Die Wiedergutwerdung der Deutschen. Essays & Polemiken. Herausgegeben von Klaus Bittermann, Berlin: TIAMANT, S. 21–31, hier: S. 21; Weiter schreibt Geisel an anderer Stelle: „Sozusagen als Wiedergutmachung für die Invasion der Alliierten befreiten die einstigen Befreier der Opfer nun auch die Täter. Mit Spielbergs ‚Schindlers Liste‘ kurierten sie die Deutschen von einem unguten Gefühl, das die davon Befallenen längst selbst als krankhafte Regung diagnostiziert und deshalb als Schuldkomplex bezeichnet hatten.“ Eike Geisel. 2015. „Die Protokolle der Rächer von Zion oder die neuen ‚Opfer der Opfer‘“. In: Eike Geisel. Die Wiedergutwerdung der Deutschen. Essays & Polemiken. Herausgegeben von Klaus Bittermann, Berlin: TIAMANT, S. 115–126, hier: S. 116. Geisel postuliert in seinen Essays zudem polemisch, dass die Deutschen ihre nationale Identität auf der Asche der ermordeten Juden aufbauten, die so Jahrzehnte nach ihrer Ermordung instrumentalisiert würden. 121 Vgl. Król, Obraz Niemców w polskim filmie fabularnym, S. 148 f. – Gleichwohl wurden die deutschen Besatzer im polnischen Film auch häufig als link und wenig intelligent dargestellt; ganz im Gegensatz zu den polnischen Widerstandskämpfern. Ebd., S. 152 f. 122 Vgl. Ebd., S. 155. 123 Unser letzter Sommer, Min. 00:41:39–00:41:44. 124 Vgl. Król, Obraz Niemców w polskim filmie fabularnym, S. 149. 125 Browning, Ganz normale Männer, S. 178.
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Gegenpol zu Guido und seinen gutmütigen Kameraden. 126 Wenngleich der Habitus stimmt – äußerlich erinnert der Oberleutnant nicht an das Stereotyp des hochgewachsenen Deutschen mit blondem Haar, den man aus polnischen Filmen kennt und dessen Bild Rogalski bewusst nicht reproduzieren wollte. 127 Durch diesen Versuch, weder auf deutscher noch auf polnischer Seite die Rollen mit stereotypischen Schauspielern zu besetzen, kam es zu einer Besetzung wie der von Scheumann, die laut Rogalski eine totale Überraschung war, „besonders in Deutschland, das Schortie hauptsächlich als Comedy-Schauspieler kennt“. Er wisse nicht, wie es den deutschen Zuschauern gehe, aber das polnische Publikum sei begeistert, „weil man von solch einem Gesicht nichts Böses erwartet und dennoch passiert es“. 128 Selbst der Oberleutnant entspricht in seinem Handeln nach Meinung des Darstellers Scheumann dem Bild der ganz normalen Männer: „In ‚Unser letzter Sommer‘ erlebt der Zuschauer einen ganz normalen Kriegsverbrecher, der zur Arbeit geht und seinen Dienst versieht [. . . ] Ich finde Gewalt, die beiläufig passiert, noch erschreckender.“ 129 Gleichwohl greifen die Regisseure der Erinnerungsfilme natürlich auch auf stereotype Darstellungen zurück. Ein gutes Beispiel ist das bereits erwähnte Motiv des Deutschen mit seinem Hund, den er vermeintlich besser behandelt als Menschen. In Unser letzter Sommer findet es sich in Gestalt der bereits angesprochenen Szenen wieder, in denen Guido mit einem Schäferhundwelpen spielt. Dieses Motiv verfügt über eine historische Basis und hat im polnischen Film eine gewisse Tradition. 130 Reale Vorbilder für diese Erzählfigur finden sich unter anderem in den Überlieferungen aus den Vernichtungslagern der Aktion Reinhardt, wo ein Lagerkommandant seinen Hund mit den Worten „Mensch, fass den Hund“ auf Jüdinnen und Juden hetzte. 131 Dieses Motiv bemüht auch Jan Komasa in Warschau ’44: Dort beobachtet Stefan in der Straßenbahn im Bereich, den nur Deutsche betreten dürfen, eine Frau, die sich mit einem kleinen Hund auf ihrem
126 Einzige weitere Ausnahme ist die Figur des Generals der Reichsbahn, Gruber, der ebenjenes Militaristische an den Tag legt, dessen Figur aber nicht weiter ausdifferenziert wird. Wie auch in Unsere Mütter, unsere Väter sind die Nazis also hier eine Ausnahmeerscheinung. Zur Figur des miltaristischen Deutschen, die auch ins Lächerliche gehen kann, siehe auch Ebbrecht, Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis, S. 255. 127 Vgl. Cichmi´nski, Debiutujacy ˛ re˙zyser i scenarzysta postrzegany jest jak hochsztapler. 128 Interview mit Michał Rogalski, Bonusmaterial zur DVD zu Unser letzter Sommer, Min. 00:07:00–00:07:42. 129 Simon Rayss. 2015. „‚Schortie‘ gibt den Nazi-Offizier.“ Märkische Online Zeitung, 18. Oktober 2015, URL: http://www.moz.de/artikel-ansicht/dg/0/1/1429935, Zugriff am 3. April 2017. 130 Vgl. Matuszak-Loose, Bevorzugt und (un)beliebt, S. 219. 131 Lehnstaedt, Der Kern des Holocaust, S. 101.
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Schoß beschäftigt – während die Polen sich nur hinten, außen an die Bahn hängen dürfen. Der militärische Drill, der das Bild deutscher Soldaten im Film lange prägte, ist in Unser letzter Sommer in einem deutlich geringeren Ausmaß vorhanden als beispielsweise in Dennis Gansels Film Napola – Elite für den Führer über zwei sehr unterschiedliche Jungen, die auf einer Nationalpolitischen Lehranstalt (Napola) ausgebildet werden. Bis in sprachliche Details, wenn zum Beispiel von den „Jungmännern“ die Rede ist, wird die Identifikation der Schüler und Lehrer der Napola mit der NS-Ideologie verdeutlicht. Unser letzter Sommer aber erzählt auch sprachlich von ganz normalen Männern, die keinen besonderen Eifer an den Tag legen, die nationalsozialistische Ideologie zu verwirklichen und zu leben. Stattdessen prägen eine teils derbe Sprache und Alltäglichkeiten die Tage der Truppe in Wroblew – teilweise so sehr, dass die Ernsthaftigkeit der Situation in Vergessenheit gerät. „Ihr seid hier nicht im Urlaub, ihr seid hier in Polen!“, muss Hauptmann Müller sie ermahnen. Sprache erfüllt in der Charakterisierung der Filmfiguren eine wichtige Funktion. Im Gegensatz zu den bildungsbürgerlichen Jugendlichen in Unsere Mütter, unsere Väter kennzeichnet die ganz normalen Männer in Unser letzter Sommer eine derbe Sprache, die von einem eher einfachen Bildungshintergrund zeugt. Zum authentischen Bild des Deutschen gehört es denn auch, dass diese über die Polen als „Polackensau“ 132, „Polacke“ 133, oder wie in Komasas Warschau ’44 als „gottverdammte Scheißpolacken“ und „gottverdammte Dreckspolacken“ 134 sprechen. Gleichermaßen werden Juden von Polen mit dem 135 ˙ ˙ pejorativen „Zydki“ (korrekt wäre Zydzi) und sowjetische Partisanen als 136 „Ruscy“ (korrekt wäre Rosjaninie) bzw. die Soldaten der Roten Armee von den Deutschen in Unsere Mütter, unsere Väter als „Iwan“ 137 bezeichnet. Auch sprachlich werden die Polen und Deutschen im Erinnerungsfilm so als ganz normale Menschen markiert, die sich in der authentischen, wenn auch aus heutiger Perspektive politisch völlig inkorrekten Sprache ihrer Zeit ausdrücken. 138
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Odi zu Romek in Unser letzter Sommer, Min. 00:13:47–00:13:49. Odi zu Romek in Unser letzter Sommer, Min. 01:02:51–01:02:55. Johann Kraus in Warschau ’44, Min. 01:13:43–01:13:48. Leon im Gespräch mit Romek, Unser letzter Sommer, Min. 00:14:39–00:14:40. Romek zu Bunia, Unser letzter Sommer, Min. 01:11:02–01:11:03. Unsere Mütter, unsere Väter, Teil 1, Min. 00:49:56–00:49:58. Die pejorativen Bezeichnungen beziehen sich auf Russen. Es wird allerdings nicht klar, ob es sich bei den sowjetischen Partisanen in Unser letzter Sommer tatsächlich um Russen, oder um andere Angehörige der Sowjetunion handelt. Ebenso wenig wird diese Differenzierung in Unsere Mütter, unsere Väter konsequent vorgenommen.
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In der Gesamtbetrachtung des Deutschenbildes im modernen Erinnerungsfilm muss man Jan Süselbeck beipflichten: Der deutsche Film – oder auch von der deutschen Filmförderung mitproduzierte internationale Filme, die deutsche Themen verhandeln – haben längst mit Erfolg begonnen, das globale Bild der Deutschen mithilfe fiktionaler Umerzählungen der NS-Geschichte im „positiven“ Sinne zu verändern
– zum Beispiel eine Empathie für deutsche Täter zu erzeugen, wie es Kadelbach in Unsere Mütter, unsere Väter gelingt. 139 Bösch bezeichnet dieses Phänomen als „großzügige moralische Rehabilitierung“, die die Kriegsgeneration im neuen deutschen Film durchläuft. 140 Und auch Ruchniewicz stellt fest: Trotz aller Vorbehalte und Widerstände psychologischer Natur wurde das Bild des Deutschen in den 1940er Jahren in den Augen der Polen im letzten Jahrzehnt um den Aspekt des Leidens und des Opferseins (von Bombardierungen oder Aussiedlungen) ergänzt. 141
Das schlägt sich auch im modernen Spielfilm nieder, wie Unsere Mütter, unsere Väter aber eben auch die polnisch-deutsche Koproduktion Unser letzter Sommer aus der Feder des polnischen Regisseurs Michał Rogalski zeigen. Durch die Fokussierung in Rogalskis Werk auf den deutschen Soldaten Guido Hausmann, dessen Jugend und Unschuld ihn auch nach dem Mord an dem polnischen Bauernmädchen Franka noch als Opfer des nationalsozialistischen Systems dastehen lassen, und die ganz normalen Männer der Truppe in Wroblew, deren Auftreten kaum ferner dem Stereotyp des deutschen Soldaten sein könnte, fällt es verhältnismäßig leicht, in ihnen nicht nur die kaltblütigen Täter eines verbrecherischen Systems zu sehen. Etablierte Täter-Opfer-Dichotomien zu hinterfragen ist also nicht nur eine Entwicklung, die im deutschen Film zu beobachten ist, sondern vielmehr ein transnationaler Trend, der sich durch die Fokussierung auf die Geschichte ganz normaler Menschen verstärkt.
3.2.2 Polenbilder: Zwischen Widerstand und Kollaboration Wo aber bewegt sich die filmische Repräsentation Polens im modernen deutschen und polnischen Erinnerungsfilm? In Bezug auf die neueste Geschichte dominiert nach wie vor das Bild Polens als Opfer, das über Jahrhunderte Spielball der geopolitischen Interessen seiner mächtigen 139 Süselbeck, War Sells, But Who’s Buying? S. 36 f. 140 Bösch, Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft, S. 24. 141 Ruchniewicz, Stehlen die Polen immer noch die deutschen Autos? S. 6.
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Nachbarn war – zumindest in Polen selbst. Für die Bundesrepublik beobachtet Kochanowska-Nieborak ein „gegenseitige[s] Bedingungsverhältnis zwischen den negativen Stereotypen über Polen und der fehlenden Verankerung des Opferstatus der Polen als Opfer der deutschen Besatzung im deutschen kollektiven Gedächtnis“. 142 Nachdem Polen nach der langen Zeit der Teilungen 1918 im Zuge des Versailler Vertrages wieder als eigenständiger Staat entstanden war, fand es sich nur zwei Jahrzehnte später schon wieder in seiner Existenz im Westen von der Lebensraumpolitik des „Dritten Reiches“ und der sowjetischen Expansionspolitik aus dem Osten bedroht. Auf eine beinahe sechs Jahre währende Besatzungspolitik der deutschen Nationalsozialisten, die auf polnischem Boden das Projekt der Vernichtung des europäischen Judentums und anderen, der nationalsozialistischen Ideologie nach als „unwert“ eingestuften Lebens realisierten, folgte eine vier Jahrzehnte andauernde Einverleibung in die sowjetische Einflusssphäre. Diese Phase prägte nicht nur massiv das Selbstbild der polnischen Nation, sondern auch die Fremdbilder der Deutschen und der Russen. Wie am Beispiel der Erinnerung an den Warschauer Aufstand, aber auch des Massakers von Katy´n deutlich wird, war Erinnern und Vergessen in dieser Zeit der kommunistischen Herrschaft mehr denn je politisch motiviert und schreckte neben der Inkaufnahme bewusster Leerstellen auch vor einer veritablen Geschichtsfälschung nicht zurück. Das negative Bild der Deutschen muss, so Król, zu einem gewissen Maß auch als Stellvertreter für während der Zeit des Kalten Kriegs nicht artikulierbare negative Bilder der Russen gelten, die laut offizieller Doktrin Freunde waren. 143 Vor diesem Hintergrund ist die polnische Erinnerungskultur und der sie immer noch prägende Opfermythos sowie die etablierten und sich gerade neu konstituierenden Vergangenheitsbilder und auch die filmischen Repräsentationen der Geschichte zu sehen, die die Sehgewohnheiten der Zuschauer geprägt haben. Dennoch ist das in modernen Erinnerungsfilmen von Polen gezeichnete Bild nicht uniform, sondern variiert deutlich – nicht nur zwischen deutschen und nationalen Repräsentationen, sondern auch innerhalb polnischer Erinnerungsfilme zum Zweiten Weltkrieg. Neben der nach wie vor starken Selbstwahrnehmung als Opfer treten der heldenhafte Kampf für ein freies Polen im Warschauer Aufstand, die Heimatarmee und auch selbstkritischere Auseinandersetzungen mit dem weniger ruhmreichen
142 Anna Kochanowska-Nieborak. 2013. „Zur Relation von Versöhnung, Stereotypen, Geschichtspolitik und Erinnerungskultur am Beispiel der gegenwärtigen deutschpolnischen Beziehungen.“ Kirchliche Zeitgeschichte, Bd. 26, Nr. 1, S. 95–115, hier: S. 109. 143 Vgl. Król, Obraz Niemców w polskim filmie fabularnym, S. 168.
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Verhalten einiger während der Besatzungszeit in den Vordergrund. 144 Davon zeugen die hier exemplarisch untersuchten Filme und die darauffolgenden Reaktionen, die im folgenden Abschnitt besprochen werden sollen. Für dieses neue Selbstbewusstsein in der polnischen Erinnerungskultur steht zum Beispiel Warschau ’44. Wie bereits in den Ausführungen zur Rolle der Jugend im Film erwähnt, stehen die jugendlichen Aufständischen als Helden nicht nur der nachgeborenen Generationen von Warschauerinnen und Warschauern im Fokus, sondern als Vorbilder für ein ganzes Land: Der Warschauer Aufstand ist längst zum nationalen Mythos avanciert. Mit diesem neuen Selbstbewusstsein geht aber auch einher, dass ebenso die dunklen Seiten des Aufstands sichtbar gemacht werden. So sind nicht alle Führungspersönlichkeiten der Heimatarmee ohne Fehler. Der zunächst als eine Art edler Retter eingeführte Kapitän Karol aus der Barry-Gruppe, gespielt von Marcin Korcz, erweist sich als moralisch höchst zweifelhafter Opportunist. Für den Passierschein, den Alicja von ihm erbittet, soll sie ihn mit ihrem Körper bezahlen. Als sie sich wehrt, wirft er die junge Frau, seiner Sache sehr sicher, unsanft auf das Sofa in seinem Arbeitszimmer. Die versuchte Vergewaltigung verhindert Alicja nur, indem sie Karol mit einer Figur der Jungfrau Maria niederschlägt. 145 Auch der über viele Jahre der Besatzungszeit angestaute Zorn der polnischen Zivilbevölkerung auf die deutschen Besatzer wird thematisiert. Exemplarisch dafür ist ein polnischer Arzt, der im Lazarett mit einem Taschenmesser einen verwundeten deutschen Soldaten niedersticht, um durch diesen persönlichen Racheakt an einem Vertreter des Tätervolks seine von den Deutschen getötete Frau zu rächen. Weniger positiv und heroisch ist das Bild der polnischen Bevölkerung, das Michał Rogalski in Unser letzter Sommer zeichnet. Ein wichtiges Element des Polenbildes in diesem Erinnerungsfilm ist der in Polen wie auch in vielen anderen Teilen Europas verbreitete Antisemitismus. Als Romek zu seinem ersten Arbeitstag im Lokschuppen erscheint, sucht er dort nach Kuleszowa, seiner Ansprechperson. Durch ein Fenster beobachtet er, wie Leon im Hof einen Blutfleck mit Sand bedeckt. Wenig später streicht der Vorsteher den Namen Kuleszowas mit einem hämischen Lachen vom Belegungsplan und kommentiert: VORSTEHER: „Weißt du, Stefan, ich finde, Hitler ist, wie er ist, aber dafür, dass er uns endlich von den Juden befreit hat, dafür werden ihm die Polen ein Denkmal setzen. Stimmt’s?“ 146 144 Freilich haben es derlei selbstkritische Stimmen spätestens seit dem Regierungswechsel 2015 sehr schwer, Gehör und Fördergelder zu bekommen. 145 Man beachte auch die Symbolik dieser Szene, in der die junge Polin ihre Jungfräulichkeit mit der im katholischen Polen hochverehrten Mutter Gottes, der Jungfrau Maria, bewahrt. 146 Unser letzter Sommer, Min. 00:04:20–00:04:35.
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Später im Film erfährt das Publikum, dass die Kuleszowas Juden versteckt hielten. Das war im besetzten Polen verboten und nicht nur für die Versteckten, sondern auch für ihre Helferinnen und Helfer ein hohes Risiko. Dennoch haben sich viele Polinnen und Polen dieser Gefahr ausgesetzt. Unter den sogenannten Gerechten unter den Völkern 147 ist Polen stärker vertreten als jede andere Nation. Lange war die Erinnerung an diese Menschen ein Tabu. Das ändert sich gerade, ist aber nicht nur positiv zu bewerten, wird doch die Hilfsbereitschaft der Polinnen und Polen gegenüber ihren jüdischen Nachbarn im besetzten Polen zum Nachteil der Erinnerung an dunklere Episoden polnischer Geschichte während des Zweiten Weltkriegs generalisiert. So drohen die gerade erst aufgearbeitete Geschichte der Pogrome in Jedwabne und Kielce, die Geschichte von Kollaboration und Szmalcownikitum zur Vergangenheit einiger weniger zu werden, während das gute Polen der edlen Judenretter in den Vordergrund rückt. Auch eine Auseinandersetzung mit dem heute in Polen noch grassierenden Antisemitismus wird so deutlich erschwert. 148 In vielerlei Hinsicht ist diese Haltung der Polen gegenüber ihren jüdischen Mitbürgern sowie denen, die Juden auf der Flucht geholfen haben, die schon sehr früh in Unser letzter Sommer thematisiert wird, deswegen bezeichnend. Rogalski zeigt einerseits eindrücklich die Bruderschaft im Geiste einiger Polen mit dem antisemitischen Gedankengut der deutschen Nationalsozialisten, besonders augenfällig in der Person des Vorstehers im Lokschuppen. Andererseits aber zeigt der Regisseur auch die vielseitigen anderen Beweggründe, die hinter einer Kollaboration der polnischen Bevölkerung mit den deutschen Besatzern stehen konnten. Zwischen den beiden Polen eines offenen Antisemitismus und der Unterstützung jüdischer Mitbürger existiert eine beachtliche Grauzone, die Unser letzter Sommer ausführlich behandelt und deren Akteure durch einen gewissen Opportunismus und eine eher unpolitische Haltung geprägt sind. Die Verortung der einzelnen Filmcharaktere auf diesem Kontinuum variiert stark und ist zudem situativ bedingt verschieden. So ist beispielsweise nicht klar, ob Romeks Mutter 147 Der Titel „Gerechter unter den Völkern ist ein offizieller Titel, den Yad Vashem im Auftrag des Staates Israel und des jüdischen Volkes an Nichtjuden verleiht, die während des Holocaust ihr Leben aufs Spiel setzten, um Juden zu retten. Der Titel wird von einer Sonderkommission unter Leitung eines Richters am Obersten Gerichtshof gemäß einer Reihe von klar definierten Kriterien und Regeln vergeben.“ Yad Vashem. o. J. „Häufig gestellte Fragen.“ YadVashem.org, URL: https://www. yadvashem. org/ de/ righteous/ faq. html, Zugriff am 23. Mai 2020. 148 Auch international blieb diese Schwerpunktverlagerung in der Erinnerung an die polnisch-jüdischen Beziehungen im Zweiten Weltkrieg nicht unkommentiert, wie die Krise der polnisch-israelischen Beziehungen im Frühjahr 2018 im Zuge der Novellierung des IPN-Gesetzes verdeutlichte, deren Kontext und Verlauf bereits weiter oben erläutert wurde.
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oder ihr Geliebter Leon wirklich antisemitische Positionen vertreten. Klar ist aber, dass beide keinerlei Schuldgefühle plagen, sich an den Habseligkeiten der Juden zu bereichern – wohl wissend, dass dies verboten und vielleicht auch unmoralisch ist. Während viele der polnischen Filmfiguren also vor allem auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind und den Juden wenn auch nicht mit offenem Hass, dann doch mit einem latenten Antisemitismus und einer Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Schicksal begegnen, stellen die Judenhelfer, die Kuleszowas und der alte Karpiuk, die andere Seite der Medaille dar: die guten Polen, die für ihre Hilfsbereitschaft teuer bezahlen – nämlich mit ihrem Leben. Romeks Entwicklung ist eine Wanderung in dieser Grauzone. Einerseits hinterfragt auch er bis zur tatsächlichen Konfrontation mit geflüchteten Juden, nämlich mit Bunia und ihrem Bruder, nicht die Rechtmäßigkeit seiner Selbstbereicherung an auf der Zugstrecke verlorenen oder an der Rampe zurückgelassenen Dingen jüdischer Deportierter. Er ist auch nach dem Zusammentreffen mit der gleichaltrigen Jüdin Bunia und dem Austausch von Intimitäten bereit, als Lokführer auf der Warschau-Strecke zum indirekten Mittäter der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik zu werden. Zwar werfen ihn die Erlebnisse mit Bunia, der er zur Flucht verhilft, kurzzeitig wortwörtlich zu Boden. Dennoch ist dies nicht genug, um sein Verhalten zu prüfen und zu verändern. Romek wird, wie bereits in der Analyse seiner Coming-of-Age-Geschichte erwähnt, entgegen der Erzählkonventionen im polnischen Erinnerungsfilm nicht zum heldenhaften Widerstandskämpfer. Auch hier bestimmt das Motiv der ganz normalen Menschen das Bild, das Rogalski von der Vergangenheit der Menschen im besetzten Polen zeichnet. Das Bild Polens als einer ländlich geprägten Gesellschaft und der grassierende Antisemitismus spielen dabei in Unser letzter Sommer eine ebenso zentrale Rolle wie in Unsere Mütter, unsere Väter. Während aber Rogalski um ausgeglichene Bilder und eine differenzierte Darstellungsweise bemüht ist, greift Kadelbach in der Miniserie auf starke negative Stereotype zurück, die bereits seit Jahrzehnten den Blick der Deutschen auf das östliche Nachbarland prägen. Besonders präsent ist das Stereotyp der ärmlichen, rückständigen, ungebildeten und einfältigen polnischen Landbevölkerung, die sich durch einen latenten bis offen gelebten Antisemitismus 149 auszeichnet, den man bei den deutschen Protagonisten Wil149 Eine Erklärung für dieses verzerrte Weltbild findet ich in Brownings Ganz normale Männer. Dort erläutert der Autor, dass der Kontakt deutscher Besatzer auf Polen beschränkt war, die sie in ihrer antijüdischen Agenda unterstützten und „sich durch heftigen Antisemitismus bei den deutschen Besatzern lieb Kind zu machen“ versuchten. Das Weltbild der Deutschen ist dahingehend also verzerrt. Browning, Ganz normale Männer, S. 203.
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helm, Friedhelm, Greta und Charlotte nicht auszumachen vermag. Einen Schwerpunkt auf diesen Erzählstrang setzt der dritte Teil der Miniserie, der Alinas und Viktors Flucht und ihr Zusammentreffen mit Partisanen der polnischen Heimatarmee, denen sie sich anschließen, schildert. Dort wie auch im Kontakt mit der polnischen Bevölkerung müssen die beiden darauf achten, Viktors jüdische Identität zu verschleiern. Die Polen in Unsere Mütter, unsere Väter scheinen eine beinahe ebenso große Gefahr für Juden zu sein, wie es die deutschen Besatzer selbst waren. Der polnische Bauer, der Alina und Viktor zunächst Unterschlupf gewährt, zögert nicht, die beiden Flüchtigen an die deutschen Besatzer zu verraten, als sich eine Gelegenheit ergibt. Es sind Männer wie er, die nach der neuen Geschichtspolitik der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit nicht Teil der modernen polnischen Erinnerungskultur sein sollten; stattdessen setzt man auf eine fast exklusive Erinnerung an die Judenretter. Zwar stand es im besetzten Polen unter Strafe, Juden zu helfen, und der alte Bauer hätte sich und seine Familie durch diesen Akt der Nächstenliebe in Gefahr gebracht. Inwiefern aber diese Angst vor der eigenen Bestrafung die Entscheidung des alten Bauern beeinflusst hat und ob er in einem inneren Konflikt stand, bevor er die beiden verriet, wird im Film nicht näher erörtert. Gerade noch rechtzeitig bringt sein Sohn Alina und Viktor in den Wald zu den polnischen Partisanen, die sie nach einigen Prüfungen in ihre Gruppe aufnehmen. Das Polenbild in Unsere Mütter, unsere Väter ist insbesondere im Kontrast zu den deutschen Haupt- und Nebenfiguren tendenziös. 150 Insbesondere die Darstellung der in Polen verehrten Heimatarmee als ein primitiver und antisemitischer Haufen stieß in Polen auf Widerstand. Die Partisanen, die in einem Erdloch hausen, und deren vom polnischstämmigen Lukas Gregorowicz gespielten Anführer Jerzy, der von sich behauptet, er erkenne Juden am Geruch, begegnen den Neuankömmlingen mit Argwohn. Um zu verhindern, dass sich die Partisanen selbst vergewissern, ob der vermeintliche Deutsche Viktor beschnitten ist oder nicht, gibt Alina vor, mit ihm geschlafen zu haben. In der Gruppe der Polen in Unsere Mütter, unsere Väter, die sich durch einen offen artikulierten Antisemitismus auszeichnen, bildet sie damit die Ausnahme.
150 Genau das ist gewissermaßen aber auch Kern der Figur im Film: „Wahrnehmungen eines Gegenübers oder Informationen über Unbekannte rufen Urteile, Einstellungen, Gefühle und Verhaltensweisen hervor, die kaum jemals ‚objektiv‘ sind, sondern in der Regel ‚subjektiv‘ und ‚tendenziös‘. Derartige Tendenzen können durch Filme gezielt gesteuert werden. Ihre Berücksichtigung kann zur Erklärung beitragen, warum man bestimmte Informationen in ein Figurenmodell integriert, andere jedoch ignoriert.“ Eder, Die Figur im Film, S. 192.
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Sowohl das Verhalten der Partisanen, als auch ihre derbe Sprache stehen im starken Kontrast zu den Unterhaltungen der vergleichsweise weltgewandten Deutschen, deren Vertreter noch im Schützengraben über Philosophie diskutieren, aus dem bildungsbürgerlichen Milieu deutscher Großstädte stammen und über umfassende Fremdsprachenkenntnisse verfügen. Derweil philosophieren die polnischen Partisanen über das beste Rezept für das polnische Nationalgericht Bigos und verkünden, dass Juden ebenso schlimm seien wie die Kommunisten oder die Russen und man sie deswegen besser tot als lebendig sehe. Den Waggon des Deportationszugs mit jüdischen Insassen verschließt ein polnischer Partisan angewidert wieder. Ob nun willentlich oder nicht – zumindest in Ansätzen reproduziert Unsere Mütter, unsere Väter in Szenen wie diesen den Glauben an eine vermeintliche Überlegenheit der Deutschen gegenüber den polnischen Nachbarn, die auch ein Kern der NS-Rassenideologie war. Auch in der übrigen polnischen Landbevölkerung grassiert der Antisemitismus. Der Dreiteiler macht deutlich: Polnische Bauern, mit denen die Partisanen Handel betreiben, würden dies nicht tun, wenn sich in ihren Reihen Juden befänden. Gerade im Vergleich mit dem Bild der Landbevölkerung in Unser letzter Sommer wird der Unterschied augenfällig. Auch in Rogalskis Film sind die Polen größtenteils einfache Leute – Bauern, Küchenmägde, einfaches Personal bei der Bahn. Sie sind vielleicht Antisemiten und Kollaborateure, aber sie sind deswegen noch nicht im negativen Sinne primitiv. Und es gibt auch die guten Polen, die trotz der drohenden Strafe Juden retten und dafür mit ihrem Leben bezahlen. Diese Gratwanderung zwischen den verschiedenen Facetten polnischer Lebenswirklichkeit in der Besatzungszeit gelingt Kadelbach in Unsere Mütter, unsere Väter nicht. Gleichwohl fehlen weder in der ZDF-Miniserie noch in Unser letzter Sommer eindrückliche Bilder der polnischen Bevölkerung als Opfer deutscher Willkürherrschaft. Auch für die Polenbilder im modernen deutschen und polnischen Erinnerungsfilm über den Zweiten Weltkrieg lässt sich also feststellen, dass eine Ausdifferenzierung stattfindet, die nicht nur den polnischen Opfermythos bedient. Auf der einen Seite bedeutet dies, dass auch negative Polenbilder von Kollaboration und Mittäterschaft in die filmische Erinnerung integriert werden. In Polen ist die Beschäftigung mit diesen dunkleren Episoden polnischer Vergangenheit nach wie vor stigmatisiert und ein weitgehend auf die intellektuellen Eliten begrenzter Diskurs. Man beachte in diesem Kontext auch das damit verbundene Schlagwort der wina niezarzucalna, der unbegründeten Schuld. 151 Auf der anderen Seite wird die Erinnerung an heldenhafte Momente der polnischen Geschichte,
151 Vgl. Korzeniewska, Liminalität und Post-Erinnerung, S. 180.
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deren positive Deutung wie im Fall des Warschauer Aufstands über die Jahrzehnte unter anderem aus politischen Gründen nicht unumstritten war, befördert. Insbesondere letzteres entspricht der Vision der Vergangenheit, die regierungsnahe Medien in Polen derzeit verkünden, die das Bild des „guten Polen“ pflegen, das sich nach 1968 gemeinsam mit einer „Polonisierung des Holocaust“ in der polnischen Erinnerungskultur in Bezug auf den Holocaust verfestigte. 152 Grauzonen sind in dieser Geschichtsdeutung nicht vorgesehen: „Da Polen Juden gerettet haben, kann es nicht sein, dass Polen Juden ermordet oder an die Deutschen ausgeliefert haben.“ Polen wird somit in einem Akt des „ethnischen Essenzialismus“ zu einer „Republik der Gerechten“. 153 Die offizielle Geschichtspolitik stützt diesen Wandel. So wurde 2018 beispielsweise der 24. März zum Nationalen Gedenktag für die Polen, die Juden während der deutschen Besetzung gerettet haben, erklärt. 154 Die Fähigkeit der polnischen Gesellschaft, mit eigener Schuld umzugehen, bewertet die Warschauer Soziologin Marta Bucholc als wenig ausgeprägt. Daraus folgt, dass sie das Bewusstsein eigener Schuld viel schwerer erträgt als die deutsche und eine solche Schuld am liebsten von vornherein abstreitet. Die Handvoll Intellektueller und Gelehrter, deren Forschungen zur polnischen Schuld breitere Schichten der Bevölkerung erreicht haben, wird als Verräter, Lügner und Heuchler verleumdet, im besten Fall als Exhibitionisten und Speichellecker, die dem Westen gefallen wollen. 155
Der derzeitige Wandel in „der selbstkritischen polnischen Erinnerungskultur“ hat aber nicht nur innerpolnische Auswirkungen, sondern kann nach Einschätzung von Basil Kerski, Leiter des Europäischen Solidarno´s´c-Zentrums in Danzig, „das Vertrauen in zwischenstaatliche Beziehungen“ gefährden und sogar die politischen Verhältnisse in der gesamten Region aus dem Gleichgewicht bringen. 156 Eine Schwierigkeit besteht sicherlich darin, dass die regierende Partei Recht und Gerechtigkeit die Europäische Union als Teil der Erzählung der alten polnischen Eliten ausgemacht und zum Feindbild erklärt hat. Bucholc stellt fest: 152 Ebd., S. 181. 153 Marta Bucholc. 2018. „Anachronistische Wahrnehmungen: Zur Rolle der Erinnerung in der polnischen Politik.“ Aus Politik und Zeitgeschichte: Polen, 10–11/2018, S. 19–26, hier: S. 22. 154 Für einen Artikel über Polen, die Juden retteten, siehe Piotr Forecki. 2016. „Die Republik der Gerechten: Filme über Polen, die Juden retteten.“ Zeitgeschichte-online, Juli 2016, URL: http://zeitgeschichte- online. de/ thema/ die- republik- der- gerechten, Zugriff am 5. Dezember 2018. 155 Bucholc, Anachronistische Wahrnehmungen, S. 23. 156 Basil Kerski. 2018. „Polnische Widersprüche, europäische Widerspiegelungen: Was uns trennt, verbindet uns.“ Aus Politik und Zeitgeschichte: Polen, Nr. 10–11/2018, S. 4–8, hier: S. 6.
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Ohne Bedauern weist sie [die PiS, Anm. JRG] auch den europäischen Erinnerungsrahmen zurück, der nach dem Zweiten Weltkrieg mit großer Anstrengung geschaffen wurde, um im Namen des Friedens eine neue, inklusive europäische Identität zu schaffen. 157
Wohlgemerkt war dieses Projekt einer europäischen Identität durch die Teilung der Welt in eine westliche und eine sowjetische Einflusszone zunächst eines, das ohne offizielle polnische Beteiligung 158 vorangetrieben wurde, die es überhaupt erst seit dem Ende des Kalten Krieges 1989 und Polens „Rückkehr nach Europa“ geben konnte. Zuvor wurde europäische Geschichte nicht nur von den Gewinnern, sondern vor allem vom Westen geschrieben – teilweise gilt das bis heute. Nicht nur der deutsche Blick auf die geteilte Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs ist geprägt von negativen Polenbildern. Negative Stereotype der Polen fanden in der Bundesrepublik in den 1990er-Jahren unter anderem durch die prominenten Polenwitze des Komikers Harald Schmidt Ausdruck und Verbreitung. Autodiebe, Klempner und Spargelstecher – die Polenbilder im wiedervereinigten Deutschland waren diskriminierend und knüpften an das Bild der rückständigen Slawen an, das im nationalsozialistischen Deutschland vorherrschend war und in der menschenverachtenden Idee des „slawischen Untermenschen“ mündete. Dabei war das deutsche Polenbild nicht immer negativ geprägt. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die aufständischen Polen, die ganz im Sinne des Zeitgeistes für die Wiedererlangung der nationalen Souveränität kämpften, in Deutschland durchaus positiv bewertet. 159 Und auch die Gewerkschaftsbewegung Solidarno´s´c traf in der Bundesrepublik auf positive Resonanz. Wenn in Unsere Mütter, unsere Väter die Polen als rückständig, rüpelhaft, anarchistisch, antisemitisch, mordlustig und wirtschaftlich unterlegen dargestellt werden, dann werden Stereotype bemüht, die sich unter dem Stichwort „polnische Wirtschaft“ bis in die Zeit des 18. und 19. Jahrhunderts zurückverfolgen lassen und auch von den Eliten des nationalsozialistischen Terrorstaats instrumentalisiert wurden, um die Andersartigkeit der Deutschen und der Polen in den Köpfen der Deutschen zu verfestigen. 160
157 Bucholc, Anachronistische Wahrnehmungen, S. 25. 158 Zu den zumindest einer westlichen Öffentlichkeit weniger bekannten Fakten gehört, dass Polen die europäische Ebene sehr wohl in ihren Anfängen mitgestaltet haben – immerhin war einer der Gründerväter der Europäischen Bewegung und des Europarats, Józef Retinger, Pole. 159 Beate Kosmala. 2006. „Polenbilder in Deutschland seit 1945.“ Website der Bundeszentrale für politische Bildung, 13. Januar 2006, URL: http://www. bpb. de/ izpb/ 9704/ polenbilder- in- deutschland- seit- 1945, Zugriff am 11. Juli 2018. 160 Vgl. Kosmala, Polenbilder; siehe auch Ruchniewicz, Stehlen die Polen immer noch die deutschen Autos? S. 3.
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Auch wenn die Polenwitze mittlerweile nicht mehr so häufig erzählt werden, haben sich einige der damit verbundenen Stereotype gehalten. Das Gefühl deutscher Überlegenheit, das in ihnen mitschwang, ist noch spürbar, wenn auch die Darstellung der Polen in der Öffentlichkeit sympathischer geworden sind. Auch 25 Jahre später muss man Albrecht Lempp aber in seinem Befund zustimmen: „Das deutsche Desinteresse gilt den Polen in Polen. Das deutsche Interesse gilt den Polen in Deutschland.“ 161 Ein aktuelles Beispiel ist das in den Medien verbreitete Bild der schönen, wenngleich mitunter etwas billigen Polin, die als Altenpflegerin oder Putzfrau nach Deutschland kommt. Die Fernsehserie Magda macht das schon!, die seit 2017 sehr erfolgreich auf dem privaten Fernsehsender RTL läuft, widmet sich in bislang drei Staffeln allein diesem Thema. Dass der Grundton deutscher Arroganz und Überlegenheit sich auch im 21. Jahrhundert noch nicht vollends verflüchtigt hat, dafür ist auch die Darstellung der Polen und der geteilten Geschichte in Unsere Mütter, unsere Väter ein Indiz. 162 Allerdings ist das Polenbild vieler Deutscher noch immer vor allem durch Unwissen und die sehr begrenzten persönlichen Kontakte mit polnischen Arbeitsmigranten geprägt. Albrecht Lempp fasste die Problematik des Polenbildes der Deutschen vor einem Vierteljahrhundert treffend zusammen: Polen ist und bleibt für viele eine terra incognita oder eher ein schwarzes Loch. Um dieses schwarze Loch macht man lieber einen Bogen, denn dahinter lauern Schuldgefühle und die Schrecken des Holocausts. Die Instrumentalisierung deutscher Schuld und Kriegsverbrechen, die Isolierung im „Ostblock“, die parteipolitische Emotionalisierung der Themata Polen, OderNeiße-Grenze und deutsche Ostgebiete, all dies hat Polen zu etwas gemacht, dem sich nur die Motivierten, die Engagierten freiwillig nähern, jedenfalls im Westen Deutschlands. 163
Im Deutschland der Nachkriegszeit überlagerte lange das Trauma der Vertreibungen und der Verlust der deutschen Ostgebiete eine Ausein161 Albrecht Lempp. 2002. „West-östliche Bilder.“ In: Deutsche und Polen: zwischen Nationalismus und Toleranz; eine Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung am 24. und 25. November 1992 in Cottbus / Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung, Abt. Arbeits- und Sozialforschung – [Electronic ed.] – Bonn, 1993, URL: http://library. fes. de/ fulltext/ asfo/ 01013002. htm, Zugriff am 11. Juli 2018 – Hervorhebung im Original. 162 Vgl. Katarzyna Chimiak. 2014. „‚Unsere Mütter, unsere Väter‘ – Ein Beispiel für historische Unwissenheit und deutsche Stereotype.“ Zeitgeschichte-online, Juli 2014, URL: https://zeitgeschichte- online. de/ thema/ unsere- muetter- unsere- vaeter- einbeispiel- fuer- historische- unwissenheit- und- deutsche, Zugriff am 17. Januar 2015. Gleichsam kann man auch die noch immer grassierenden Vorurteile der schönen, aber billig gekleideten Polinnen, der autoklauenden Polen und die Polenwitze nennen. 163 Lempp, West-östliche Bilder.
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andersetzung mit der eigenen Vernichtungs- und Besatzungspolitik auf polnischem Boden und mit den polnischen Nachbarn selbst. Auch anderthalb Jahrzehnte nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union hat sich die Situation nur wenig geändert, wie die Ergebnisse des DeutschPolnischen Barometers 2018 suggerieren. 164 Hinsichtlich der polnischen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg besteht in Deutschland trotz intensiver Bearbeitung der gemeinsamen Geschichte durch Historikerkommissionen weiterhin eine erstaunliche Zahl an Leerstellen. Weder sind die Verbrechen der Wehrmacht an der polnischen Zivilbevölkerung in den ersten Kriegswochen einer breiten Öffentlichkeit in Deutschland bekannt, noch weiß sie um „die Ermordung der polnischen Intelligenz unter der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg [. . . ] etwa von der Erschießung mehrerer Tausend Professoren und auch Priester“. 165 Selbst die überarbeitete Version der umstrittenen deutschen Wehrmachtsausstellung ließ diese Leerstellen ungefüllt, was in Polen auf Unverständnis traf, wie Beate Kosmala beschreibt. 166 Festzustellen bleibt, dass die nationalen Stereotype von Polen und Deutschen, ganz gleich, ob im deutschen oder polnischen Erinnerungsfilm, immer auch im Spiegel des jeweils anderen konstruiert und dekonstruiert werden. Heldenhaft wirken die jungen Polen in Warschau ’44 im Angesicht ihrer deutschen Gegenspieler. Stefan, Kama und Alicja stehen für eine Glorifizierung der Vergangenheit, die aus wehrlosen Opfern wehrhafte Helden macht – ganz im Interesse einer nationalen Erzählung eines souveränen polnischen Staates, der sich durch Aufstände gegen feindliche Besatzungsregime behauptet hat. Primitiv wirken die polnischen Partisanen hingegen in Unsere Mütter, unsere Väter im Lichte der über Philosophie diskutierenden deutschen Wehrmachtssoldaten. Eine gemeinsame Linie ließe sich in dieser Entwicklung, wenn überhaupt, dann wohl nur in der Tendenz einer Schwerpunktverlagerung auf positive Auto- und negative Heterostereotypen der eigenen Nation ausmachen. Der gute Pole steht 164 Die Ergebnisse des Deutsch-Polnischen Barometers 2018 zeigen unter anderem, dass jeweils rund zwei Drittel der Polen und Deutschen nach 1989 noch nicht im Nachbarland waren, also keinerlei persönliche Erfahrungen mit dem Land des Anderen gemacht haben. Institut für Öffentliche Angelegenheiten, Körber-Stiftung & Konrad-Adenauer-Stiftung. 2018. Deutsche und Polen: Geteilte Vergangenheit, gemeinsame Zukunft? Ergebnisse des Deutsch-Polnischen Barometers 2018. URL: https://www. koerber- stiftung. de/ fileadmin/ user_ upload/ koerber- stiftung/ redaktion/ fokusthema_ der- wert- europas/ pdf/ 2018/ deutsch- polnisches- barometer/ DEPL- Barometer- 2018_ Ergebnisbroschuere_ Koerber- Stiftung. pdf, Zugriff am 7. Februar 2019, S. 5. 165 Kosmala, Polenbilder. 166 Vgl. ebd.
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dem bösen Nazi gegenüber, der gute Deutsche dem rückständigen und antisemitischen Polen. Versuche einer differenzierten Betrachtung wie sie Michał Rogalski in Unser letzter Sommer unternimmt, die aus diesen Opfer-Täter-Dichotomien auszubrechen versucht, bleiben die Ausnahme.
3.2.3 Deutsch-polnische Besatzungsbeziehungen Prägend für die Herausbildung der im vorangegangenen Kapitel beschriebenen Bilder von Deutschen und Polen waren die Dynamiken der deutschpolnischen Beziehungen im besetzten Polen, wie der Historiker Krzystof Ruchniewicz beschreibt: Das Verhältnis zwischen herrschender und unterworfener Nation legte die deutsch-polnischen Beziehungen in den vom Dritten Reich eroberten Gebieten von vornherein fest. Die aufgezwungene Ideologie, die Unterdrückung der Polen, die so weit ging, dass ihnen dauerhaft die nationale und menschliche Würde abgesprochen wurde, der offen räuberische und auf Vernichtung ausgelegte Charakter der Besatzung – all das bot keinerlei Anlass, das stereotype Bild des Deutschen als Feind infrage zu stellen. Vielmehr fügte es ihm neue Elemente hinzu: unerhörte Grausamkeit und einen ideologischen Fanatismus, der zu blindem Gehorsam führte. Es kam zu einer Gleichsetzung zwischen Deutschen und Nationalsozialisten. 167
Auch wenn bereits die oben untersuchten Polen- und Deutschenbilder einen gewissen Aufschluss über die deutsch-polnischen Beziehungen geben, so scheint eine gesonderte Betrachtung angesichts der zentralen Bedeutung doch lohnenswert. Schließlich eröffnet der Blick der Erinnerungsfilme auf die Geschichte ganz normaler Menschen Räume, um über die Normalität des Besatzungsalltags zu sprechen und auch Prozesse zur Sprache zu bringen, die auf den ersten Blick im Widerspruch zu den Grauen des Krieges stehen, nämlich Momente der Intimität und der großen Gefühle, die für das Genre des Coming-of-Age-Films ohnehin konstitutiv sind. Deutsch-polnische Beziehungen sind hier also vor allem in ihrem zwischenmenschlichen Sinne zu verstehen. Den intensivsten Blick auf diese Form der deutsch-polnischen Beziehungen versucht Michał Rogalski, der in Unser letzter Sommer eine Dreiecksbeziehung zwischen dem Deutschen Guido, der Polin Franka und dem Polen Romek konstruiert, aus der sich eine zarte Liebesbeziehung zwischen Guido und Franka entwickelt. Für die beiden Jugendlichen, die keine gemeinsame Sprache haben – immerhin versuchen es sowohl Guido
167 Ruchniewicz, Stehlen die Polen immer noch die deutschen Autos? S. 4.
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als auch Franka mit einigen Brocken Polnisch und Deutsch – wird die Jazzmusik zu einer gemeinsamen, verbindenden Leidenschaft. Die Liebesbeziehung zwischen Guido und Franka bahnt sich bereits früh an, als die beiden sich in der Küche der alten Schule, in der Guido und seine Einheit untergebracht sind, zum ersten Mal begegnen. 168 Franka hilft ihrem Vater, einem polnischen Bauern, die Lebensmittel an die Deutschen auszuliefern. Guidos Anwesenheit in der Küche, die eigentlich die Domäne der polnischen Küchenfrau Teresa ist, die das Stereotyp der berühmten Matka Polka 169 ideal bedient, ist eher dem Zufall geschuldet. Dieser Raum innerhalb der deutschen Unterkunft ist eigentlich polnisch dominiert. Auch auf der folgenden Szene im Hof, als die Mannschaft versammelt wird, um vom Hauptmann über die Ankunft des neuen Kommandanten informiert zu werden, wird das Interesse Guidos an Franka durch vielsagende Blicke zwischen dem jungen Deutschen und seinem Freund Odi angedeutet. Bis Franka und Guido aber tatsächlich ein Wort miteinander wechseln, wird es noch dauern. Auch als Guido und Odi zu Frankas Vater auf den Bauernhof fahren, um dort selbstgebrannten Schnaps für die Begrüßungsfeier ihres neuen Kommandanten zu besorgen, tauschen Franka und der junge Deutsche nur Blicke aus. Frankas Interesse an Guido ist dabei nicht offensichtlich. Sie unternimmt keine Flirtversuche, mit denen sie die durch die Besatzungssituation bestimmte Grenze zwischen ihnen beiden überschreiten würde. Erstmals macht Rogalski so subtil das Machtgefüge zwischen Besatzern und Besetzten spürbar. Odi, Guidos deutlich älterer Kamerad und väterlicher Freund, aber macht Franka als potenzielle Partnerin für Guido aus und fragt ihn, ob das nicht „ein Küken“ für ihn wäre. 170 Für ihn spielt die Nationalität des hübschen, polnischen Mädchens scheinbar keine Rolle, denn der Umgang mit ihr wäre im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie „Rassenschande“ gewesen. Dass derlei Verbindungen für viele deutsche Soldaten und polnische Frauen im besetzten Polen zur Normalität des Besatzungsalltags gehört haben, zeigt eine
168 Es ist das erste Zusammentreffen im Film. Da Unser letzter Sommer aber nur einen Ausschnitt von Guidos Zeit in Wroblew zeigt, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, dass die beiden sich vorher noch nie begegnet sind. 169 Abermals ein Beispiel für die Typenauthentizität der Charaktere in Unser letzter Sommer. Die Figur Matka Polka, also die Mutter Polin, pries schon Adam Mickiewicz in seinem Gedicht als Mutter der Nation, die für den Fortbestand der polnischen Werte, Sprache und nicht zuletzt für die Geburt neuer Generationen von Polen Verantwortung trägt, vgl. Joanna Jabłkowska und Magdalena Saryusz-Wolska. 2012. „KKK (Kinder, Küche, Kirche) und Mutter Polin. An- und abwesend. Weiblichkeitsmodelle in der deutschen und polnischen Kultur.“ In: Deutsch-Polnische Erinnerungsorte, Band 3: Parallelen. Herausgegeben von Hans Henning Hahn und Robert Traba, Robert. Paderborn: Ferdinand Schöningh, S. 337–359. 170 Unser letzter Sommer, Min. 00:16:00–00:16:01.
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Studie der Osteuropahistorikerin Maren Röger. 171 Die Sehnsucht nach Normalität und nach den kleinen Abenteuern des Lebens wiegt für Odi und Guido offenkundig stärker als die nationalsozialistischen Rassengesetze, denn der Krieg und strenge Oberbefehlshaber, die zur Räson hätten rufen können, sind weit weg. Auf den gemeinsamen Tanz beim Hören der verbotenen Jazzmusik in Romeks Zimmer folgt ein Flirt in der Küche des Gendarmerie-Stützpunkts, bei dem Guido erfährt, dass Romek nicht Frankas Freund ist. Bezeichnend für die Beziehung zwischen Franka und Guido ist das deutschpolnische Sprachgemisch, in dem die beiden sich unterhalten. Beide sind bestrebt, sich auf Augenhöhe zu begegnen, sich auf den anderen einzulassen und dessen Sprache, die sie nur bruchstückhaft beherrschen, zu sprechen. Bemerkenswert ist dieser Schritt vor allem für den deutschen Soldaten Guido, der sich im Besatzungsalltag auf seine Muttersprache verlassen kann, die von den einheimischen Polen verstanden werden muss. Als Guido im Hausarrest allein im Stützpunkt zurückbleibt, entdeckt er Franka durchs Fenster und lockt sie ins Haus. In seinem Versteck auf dem Dachboden hört er mit ihr zusammen die verbotene Jazzmusik und die beiden erleben ihr erstes gemeinsames Mal. Für Franka ist dieser zentrale Moment des Erwachsenwerdens auch ihr Todesurteil: Durch einen Lüftungsschacht wird der mittlerweile zurückgekehrte Oberleutnant auf die Jazzmusik aufmerksam und entdeckt die verbotene Verbindung. Die Thematisierung dieser verbotenen Liebe zwischen Guido und Franka ist aber kein Novum im Erinnerungsfilm, sondern Ausdruck des früher im polnischen Film verbreiteten Motivs der „Rassenschande“, das sich beispielsweise auch in Wajdas Eine Liebe in Deutschland (1983), in Marek Tomasz Pawłowskis Gerhard und Bronia – Eine verbotene Liebe (2002) und im Film Als Liebe ein Verbrechen war von Jan Rybkowski findet. Als Rybkowskis Film, dessen Alternativtitel Rassenschande war, 1968 in die Kinos der Volksrepublik Polen kam, fiel er schnell der Zensur der kommunistischen Machthaber zum Opfer. Das Bild des „Dritten Reiches“, in dem auch normale Menschen lebten, die zu Liebesbeziehungen zwischen Deutschen und Polen fähig waren, entsprach nicht dem antideutschen Propagandabild. 172 Wenngleich dieses Motiv der tragischen und verbotenen Liebesbeziehung zwischen Deutschen und Polen nach 1989 seinen Reiz verloren zu haben schien, 173 erlebt es im letzten Jahrzehnt eine Re171 Vgl. Maren Röger. 2015. Kriegsbeziehungen: Intimität, Gewalt und Prostitution im besetzten Polen 1939 bis 1945. Frankfurt am Main: Fischer; vgl. auch die Beschreibung in Browning, Ganz normale Männer, S. 196 f. 172 Vgl. Król, Obraz Niemców w polskim filmie fabularnym, S. 154 f. 173 Vgl. auch Matuszak-Loose, Bevorzugt und (un)beliebt, S. 225 f. – Die Autorin räumt allerdings ein, dass einige filmische Stereotype in Polen derzeit ein Comeback feiern.
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naissance, wie man nicht nur an Unser letzter Sommer, sondern auch an der deutschen Produktion Am Ende kommen Touristen erkennen kann. Vor moderner Kulisse spiegelt Am Ende kommen Touristen als HolocaustFilm der dritten Welle, d. h. als Film, der sich mit der Erinnerung an den Holocaust in der Gegenwart beschäftigt, das Motiv der zum Scheitern verurteilen Liebe zwischen einem Deutschen und einer Polin. Begünstigt wird diese Renaissance der verbotenen deutsch-polnischen Liebesbeziehungen während der Besatzungszeit als Motiv im Erinnerungsfilm einerseits durch eine Angleichung der Sehgewohnheiten des Publikums, das vom modernen Hollywoodkino geprägt ist und eine Liebesgeschichte erwartet, und andererseits auch durch den Fokus auf die Jugend: Aus einem Comingof-Age-Film ist die Geschichte der ersten unglücklichen Liebe kaum wegzudenken. Gleichwohl scheint offen thematisierte Sexualität aber nach wie vor den Seherwartungen des Publikums zu widersprechen, siehe beispielsweise die als unrealistisch und unpassend empfundenen Sex- und Kussszenen in Komasas Warschau ’44 174 oder die Rezension von Stadelmaier zu Rogalskis Unser letzter Sommer, der den Film, der in diversen Szenen auch die erwachende Sexualität der jugendlichen Protagonisten thematisiert, als „Hormonstau vor Holocaust-Kulisse“ 175 bezeichnete. Natürlich aber erstreckten sich die deutsch-polnischen Beziehungen im besetzten Polen auf alle Lebensbereiche. Nicht nur für junge Menschen prägend war die deutsche Willkür gegenüber den Besetzten. Während der Besatzungsalltag und das damit zusammenhängende Machtgefüge zwischen deutschen Besatzern und polnischen Besetzten eine zentrale Rolle in Unser letzter Sommer und in den ersten Szenen von Warschau ’44 spielen, wird dieser Aspekt in Unsere Mütter, unsere Väter weitaus oberflächlicher besprochen. Deutsche Willkür und Gewalt gegenüber der einheimischen Bevölkerung werden fast ausschließlich in Zusammenhang mit dem sadistischen SS-Obersturmbannführer Hiemer gezeigt, der eine Ausnahmefigur darstellt. Beim ersten Zusammentreffen mit Wilhelm und Friedhelm Winter im ersten Teil der Miniserie erschießt er kaltblütig ein jüdisches Mädchen, dem er zuvor noch ein Bonbon zum Trost gegeben hatte. Einige Jahre später nimmt Hiemer Friedhelm in seine Obhut und trägt zu dessen negativer Entwicklung bei. Bezeichnend ist besonders eine Szene aus dem letzten Teil der Miniserie, in der die deutschen Besatzer an der einheimischen, polnischen Bevölkerung ein Exempel statuieren und durch 174 Vgl. TVP VOD, Miasto 44: Jan Komasa o Powstaniu Warszawskim, Min. 8:14–8:33. 175 Philipp Stadelmaier. 2015. „Hormonstau vor Holocaust-Kulisse.“ Süddeutsche Zeitung, 22. Oktober 2015, URL: http://www. sueddeutsche. de/ kultur/ 2. 220/ dramahormonstau- vor- holocaust- kulisse- 1. 2703727, Zugriff am 28. Februar 2017.
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Abbildung 1: Hiemer fotografiert Friedhelm, wie dieser das Seil zieht, das den Polen am Galgen den Boden unter den Füßen wegzieht. An ihnen wollen die Deutschen ein Exempel statuieren (Screenshot aus Unsere Mütter, unsere Väter, Teil 3).
die Hinrichtung einiger den Gehorsam der anderen sicherstellen wollten. Friedhelm, der in dieser Szene das Seil zieht, welches den tödlichen Mechanismus am Galgen betätigt, spielt zwar eine Schlüsselrolle, dennoch tritt er nicht als Kopf dieser Operation auf. Hiemer, der die Befehle gibt, hält das Geschehen mit einem Fotoapparat fest (siehe auch Abb. 1). Dass derlei Kollektivstrafen gegenüber der polnischen Zivilbevölkerung an der Tagesordnung waren 176, wird kaum deutlich. Vielmehr bietet sich die Deutung an, dass der besonders sadistische Hiemer für ein solches Vorgehen steht, das wie sein Charakter selbst eher die Ausnahme als die Regel darstellt. In Warschau ’44 spielt diese Erinnerungsfigur ebenfalls eine Rolle, wenn sie auch eher den Hintergrund einer Szene ganz zu Beginn des Films bildet, in der Stefan zu seiner Arbeitsstelle bei E. Wedel fährt. Eine Durchsage auf Polnisch an die Einwohner von Warschau informiert darüber, dass jeder Widerstand gegen die deutschen Machthaber geahndet werde. Um ein Exempel zu statuieren, würden an diesem Tag weitere 40 Personen hingerichtet. An einem Balkon rechts im Bild hängt bereits ein Dutzend Leichname, die verdeutlichen, dass dies keine leere Drohung ist. Zwar wird in Komasas Film eine diffuse Vorstellung der deutschen Besatzer vermittelt, die im Hintergrund die Regeln für das Zusammenleben im besetzten Polen machen. Wie genau dieses Regelwerk aber aussieht,
176 Vgl. auch die Schilderungen in Browning, Ganz normale Männer; Welzer, Täter oder Lehnstaedt, Der Kern des Holocaust.
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bleibt vage und wird als Weltwissen der Zuschauer vorausgesetzt. In diesem Zusammenhang besonders interessant ist der Umgang der Erinnerungsfilme mit dem Thema Zwangsarbeit, das sowohl in Unsere Mütter, unsere Väter als auch in Warschau ’44 Erwähnung findet. In der deutschen Miniserie ist es die Figur der Alina Bigaj, an deren Beispiel die Verschleppung polnischer Zivilisten zur Zwangsarbeit nach Deutschland verdeutlicht wird. Nach ihrer gemeinsamen Flucht aus dem Deportationszug erzählt Alina Viktor, dass sie als Zwangsarbeiterin auf einem Bauernhof in Franken gearbeitet hat und dort vom Bauern vergewaltigt und als Leihmutter missbraucht wurde. 177 Obwohl ihr Schicksal für das von hunderttausend anderen sogenannten Ostarbeiterinnen steht, ist die Figur Alina Bigaj kein wehrloses Opfer, dem das Mitleid der Zuschauerinnen und Zuschauer zufällt. Gleichwohl ist die Figur der schönen und kämpferischen polnischen Partisanin im Vergleich zu den anderen polnischen Charakteren im Film äußerst positiv angelegt – wenngleich sie auch ein durchaus burschikoses Auftreten zeigt: Beispielsweise bedroht sie im Deportationszug einen Mitgefangenen mit einem Messer, als dieser versucht, sie von ihrem Fluchtplan abzuhalten. 178 Dass es sich bei Alinas Schicksal nicht nur um die Geschichte einer einzelnen Frau handelt, bleibt dem Weltwissen der Zuschauerinnen und Zuschauer überlassen. Die Erinnerung an Zwangsarbeit ist ein in Polen deutlich stärker verbreitetes Erinnerungsbild als in Deutschland, wo die Zwangsarbeit erst langsam einen Platz in der Erinnerungskultur findet. Dass es sich bei der Geschichte von Alina um ein Massenphänomen handelt und bis zu 1,6 Millionen polnische Zivilistinnen und Zivilisten sowie 300.000 Kriegsgefangene 179 in Deutschland Zwangsarbeit leisten mussten, verschweigt Kadelbach. Dabei war die Gefahr für Polinnen und Polen aufgegriffen und zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt zu werden, durchaus realistisch. Auch für die Hauptfiguren in Warschau ’44 ist diese Gefahr als Strafmaßnahme und Ausdruck deutscher Willkürherrschaft allgegenwärtig und real: Kama gibt Stefan zu verstehen, dass die Deutschen ihn nach Deutschland zur Zwangsarbeit verschleppen, wenn er ohne gültige Papiere aufgegriffen würde. 180
177 Im deutschen Film der 1980er-Jahre wurden Polen als Opfer von Zwangsarbeit bereits thematisiert, beispielsweise in Der Polenweiher (1986) oder Das Heimweh des Walerjan Wrobel (1991). 178 Im Übrigen bedienen Kadelbach und Kolditz hier auch das Stereotyp der Juden, die wie Lämmer zur Schlachtbank geführt werden. 179 Vgl. Bundesarchiv. 2010. „Polen – der Beginn der militärischen Expansion.“ Bundesarchiv.de, URL: https://www. bundesarchiv. de/ zwangsarbeit/ geschichte/ auslaendisch/ polen/ index. html, Zugriff am 4. Juni 2018. 180 Warschau ’44, Min. 00:08:27–00:08:32.
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Erstaunlich ist, wie sehr scheinbar alle Beteiligten mit der Besatzungssituation zu leben gelernt haben. Dass der Krieg in Polen schon seit fünf Jahren wütet, dass Polen bereits seit 1939 besetzt ist, das scheint die Menschen im Film Warschau ’44 in ihrem Alltag kaum mehr zu berühren. Sie haben sich arrangiert. Es sind derlei Darstellungen einer Normalität in Zeiten des Krieges, in denen man doch größte Ausnahmezustände erwartet, die irritieren und mit Sehgewohnheiten brechen. Die Berührungsängste zwischen deutschen Besatzern und polnischen Einheimischen sind minimal: Das Publikum der fußballspielenden, deutschen Soldaten sind polnische Dorfkinder. 181 Dennoch ist auch in Unser letzter Sommer das Machtgefüge klar, wenngleich es situativ bedingt mal mehr und mal weniger dominant und handlungsbestimmend ist. Eine zentrale Szene, in der ebendiese Dynamik zum Tragen kommt, ist der Abend, an dem Guido Romek und Franka in Romeks Zimmer überrascht. Während die drei in diesem Moment einfach nur Jugendliche sind, die gemeinsam Jazzmusik hören, sind sie im nächsten, als Leon und Romeks Mutter das Treffen unterbrechen, wieder Besatzer und Besetzte. Auch wenn die deutsch-polnische Dimension für die Betrachtung des Erinnerns und Vergessens im modernen Erinnerungsfilm in Deutschland und Polen konstitutiv ist, lässt sich der Zweite Weltkrieg selbstverständlich nicht auf eine deutsch-polnische Dimension reduzieren, die keinerlei äußeren Einflüssen unterlag. Um diese Einflüsse Dritter soll es im folgenden Unterkapitel gehen.
3.2.4 Die Darstellung Dritter Wenig überraschend besteht eine gewisse Uneinigkeit zwischen deutschen und polnischen Darstellungsweisen der jeweiligen Selbst- und Fremdbilder im Erinnerungsfilm fort. So wenig aber die reale Geschichte des Zweiten Weltkriegs sich in einem nationalen oder binationalen Vakuum abgespielt hat, so wenig kann ihre filmische Repräsentation auf Darstellungen Dritter verzichten. Es ist daher lohnend, auch die Darstellung einer Auswahl von Angehörigen weiterer Gruppen zu analysieren, die in der Konstruktion identitätsstiftender Vergangenheitsbilder der Deutschen und der Polen eine wichtige Rolle spielen. Eine Konstante im deutschen wie im polnischen Film ist immer wieder die Brutalität der Roten Armee, wobei oft der Eindruck erweckt wird, diese 181 Das entspricht auch den Beschreibungen der guten deutsch-polnischen Beziehungen, wie sie in Brownings Ganz normale Männer geschildert werden, vgl. Browning, Ganz normale Männer, S. 194 f.
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rekrutiere sich ausschließlich aus Russen. Auch in der zweiteiligen Dokumentation zu Unsere Mütter, unsere Väter wird dieses negative Stereotyp, das auch im Film selbst aufgegriffen wird, immer wieder betont: Die Russen als Vergewaltiger, die Russen und ihre Härte gegen die eigene Bevölkerung. 182 In dem Machtgefüge, das während des Zweiten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit in und über Polen herrschte, spielte Stalins UdSSR im Osten eine ebenso wichtige Rolle wie das nationalsozialistische Deutschland im Westen. Durch das geheime Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nicht-Angriffspakt wurde am 23. August 1939 das Schicksal der Staaten in der Region zwischen Deutschland und der Sowjetunion besiegelt. 183 Über vier Jahrzehnte sollte die sowjetische Besatzung den Alltag und auch die Erinnerungspolitik in der kommunistischen Volksrepublik Polen bestimmten. Das Erbe dieser kommunistischen Geschichtspolitik schlägt sich auch heute noch in der polnischen Geschichts- und Erinnerungskultur nieder, auch im modernen Erinnerungsfilm. Einerseits zeigt sich dieses Erbe durch Kontinuitäten, wie beispielsweise die eindimensionale filmische Darstellung der Deutschen im Zweiten Weltkrieg, die zu Zeiten der Volksrepublik Polen der kommunistischen Propaganda in die Hände spielte. Andererseits haben sich in deutlichem Kontrast zu etablierten Erzählweisen dieser Zeit Gegendarstellungen herausgebildet. Dazu gehören die positive Darstellung der polnischen Heimatarmee, der Kult um die verfemten Soldaten und die Thematisierung des sowjetischen Nicht-Eingreifens in den Warschauer Aufstand. Trotz der rechtzeitigen Ankunft sowjetischer Truppen auf der östlichen Weichselseite kamen diese den Einwohnern der polnischen Hauptstadt während des Warschauer Aufstands nicht zu Hilfe. Wie sehr die Aufständischen bis zuletzt auf diese Unterstützung gehofft hatten, thematisiert Jan Komasa in Warschau ’44. Erst nach Ende des sowjetischen Einflusses auf Polen 1989 konnte diese Thematik offen angesprochen werden. Wie schwierig sie gleichwohl noch ist, zeigt die Reaktion auf Komasas Film in Moskau: In Russland wurde der Film verboten. 184 182 Unsere Mütter, unsere Väter: Die Dokumentation. Regie: Annette von der Heyde, Peter Hartl, Anja Greulich, Steffi Schöbel. Deutschland: 2013. ZDF. Als Beispiel aus der Miniserie selbst kann die russische Hilfskrankenschwester Sonja dienen, die mehr oder minder freiwillig im deutschen Lazarett, in dem auch Charlotte arbeitet, Dienst leistet. Als die Rote Armee vorrückt, wird sie als Verräterin der Kollaboration mit dem Feind bezichtigt und erschossen. 183 Der 23. August ist heute europäischer Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus und des Stalinismus. Gelebt wird dieser Gedenktag allerdings in den wenigstens europäischen Ländern. 184 Vgl. Agnieszka Kazimierczuk. 2015. „‚Ró˙za‘ i ‚Miasto 44‘ zakazane w Rosji.“ Rzeczpospolita, 30. April 2015, URL: http://www.rp.pl/artykul/1197744--Roza--i--Miasto44- - zakazane- w- Rosji. html, Zugriff am 8. Mai 2017.
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Aber auch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Ende der damit einhergehenden Zensur blieben einige Themen gesellschaftliche Tabus. 185 Im polnischen Kino wurde erst nach 1989 „die Darstellung der Grausamkeit des Systems gegenüber Menschen, die ungewollt in die Mühlen der Geschichte geraten und dagegen hilflos sind“ 186, populär, d. h. die Beschäftigung mit dem Schicksal der Kinder und Frauen während des Zweiten Weltkriegs. Eine besondere Stellung nimmt dabei die Erinnerung an Vergewaltigungen durch Soldaten der Roten Armee und sowjetische Partisanen ein. Derlei Verbrechen, die vor allem Frauen und Mädchen widerfuhren, sind einendes Element polnischer und deutscher Kriegserfahrungen. Wojciech Smarzowskis Ró˙za war 2011 der erste Spielfilm, der die massenhaften Vergewaltigungen von Frauen im Nachkriegspolen durch Soldaten der Roten Armee thematisierte. 187 In Polen regte er zur Auseinandersetzung mit einem lange tabuisierten Thema an. Regisseur Smarzowski berichtet: „Aber nach den Vorführungen von ‚Ró˙za‘ haben die Menschen geschwiegen und in diesem Schweigen war eine Botschaft. Mütter haben begonnen mit ihren Töchtern über die Vergewaltigungen zu sprechen.“ 188 Der Film wurde aufgrund der Darstellungen der brutalen Vergewaltigungen der Masurin durch Soldaten der Roten Armee in Russland verboten. 189 Das Motiv jener Vergewaltigungen greifen auch die Filmemacher von Unser letzter Sommer und Unsere Mütter, unsere Väter auf. Die Jüdin Bunia wird vom Anführer der russischen Partisanen vergewaltigt, die sie und Romek durch Zufall in ihrem Versteck beim alten Karpiuk entdecken. Diese Szene entbehrt nicht einer gewissen Ambivalenz, schließt sich Bunia nach dem forcierten Geschlechtsverkehr in der Scheune doch der Partisanengruppe an. Ob es sich um einen Gewaltakt handelt, wie die deutsche Gehörlosenuntertitelung der DVD 190 suggeriert, oder ob Bunia die einzige ihr zur Verfügung stehende Pfund nutzt, um sich dem stärkeren Beschüt-
185 Zum Beispiel das Schicksal der Schlesier oder auch das Wolhynien-Massaker, vgl. auch Korzeniewska, Liminalität und Post-Erinnerung, S. 178–179. Letzteres wurde jedoch 2016 in Woły´n von Regisseur Wojciech Smarzowski, der schon mit seinem Film Ró˙za über die unmittelbare Nachkriegszeit und das Schicksal der Autochthonen in Masuren einen Tabubruch wagte, verfilmt. 186 Korzeniewska, Liminalität und Post-Erinnerung, S. 178. 187 Vgl. Redakcja Rzeczpospolity. 2012. „Western o z˙ołnierzu i Ró˙zy.“ Rzeczpospolita, 18. Februar 2012, URL: http://www. rp. pl/ artykul/ 811968- Western- o- zolnierzu- iRozy. html, Zugriff am 24. Juli 2017. 188 Kawczy´nska, „Woły´n“ to najtrudniejszy film w karierze Smarzowskiego. 189 Vgl. Kazimierczuk, „Ró˙za“ i „Miasto 44“ zakazane w Rosji. 190 Dort ist von „schmerzverzerrte[n] Frauenschreie[n]“ die Rede, Unser letzter Sommer, Min. 01:13:25.
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zer anzuschließen und ihr Überleben zu sichern, bleibt unklar. 191 Auch in Unsere Mütter, unsere Väter widerfährt den weiblichen Hauptcharakteren sexualisierte Gewalt. Während Greta ihren Körper notgedrungen als Währung nutzt und sich über eine Affäre 192 mit Sturmbannführer Dorn ihre Gesangskarriere als Greta del Torres sichert, wird Charlotte Opfer einer Vergewaltigung durch einen Soldaten der Roten Armee, als ihr Lazarett von der Front eingeholt wird. Lilija, die jüdische Ärztin, die sich im Lazarett versteckt gehalten und die von Charlotte einige Jahre zuvor verraten worden war, bewahrt die junge Deutsche vor Schlimmerem. Inwiefern hinter der Thematisierung dieser traumatischen Erinnerungen allerdings ein Sendungsbewusstsein zur Aufarbeitung des Erinnerungskomplexes steckt, darf angezweifelt werden. So vertritt Monika Hauser, Empfängerin des Alternativen Nobelpreises, in der taz die Meinung, dass die Vergewaltigungsinszenierung in Kadelbachs Unsere Mütter, unsere Väter nicht dazu dienen solle, eine echte Debatte anzustoßen, sondern vielmehr dazu, das deutsche Opfernarrativ zu verfestigen: Der ZDF-Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“ zeigt wieder einmal, dass das weit verbreitete Vorkommen von sexualisierter Gewalt an Frauen und Mädchen im Kontext des Zweiten Weltkriegs und nach Kriegsende immer noch kaum Beachtung erfährt. Vielmehr dient die Darstellung dieser Form der Gewalt gegen Frauen im Film vor allem als Stilmittel. 193
Klaus Bachmann hebt im Kontext der Vergewaltigungen deutscher Frauen während der Vertreibungen hervor, dass es vielerlei Deutungsmöglichkeiten dieses Geschehens gebe: Für die einen sind sie eine Erniedrigung des Kriegsgegners und sollen seine Moral untergraben, weil ihm damit klargemacht wird, dass er die am meisten schutzbedürftigen Mitglieder seiner Gemeinschaft nicht schützen kann. Für andere sind sie Teil einer ethnischen Strategie, die die Fähigkeit des Gegners zur Reproduktion seiner Gemeinschaft schwächen soll. Für wieder andere sind Vergewaltigungen eine Inbesitznahme von Trophäen, wobei die betroffenen Frauen dann implizit als Besitz des Feindes angesehen und angeeignet werden. 194
191 Schenk befindet, dass diese Passage „mit der obligatorischen Vergewaltigungsszene [. . . ] klischeehafte Züge [trägt]“. Schenk, Unser letzter Sommer. 192 Nicht immer ist der Geschlechtsverkehr einvernehmlich. 193 Monika Hauser. 2013. „Vermiedene Erinnerung.“ taz, 22. März 2013, URL: http:// www. taz. de/ !5070784/ , Zugriff am 17. September 2017. 194 Klaus Bachmann. 2008. „Versöhnungskitsch nach 10 Jahren – was davon übrig blieb.“ In: Erinnerungskultur und Versöhnungskitsch. Herausgegeben von Hans Henning Hahn, Heidi Hein-Kircher und Anna Kochanowska-Nieborak, Marburg: Herder-Institut, S. 21–32, hier: S. 26 f.
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So wichtig eine Thematisierung dieses Traumas auch ist, so sehr birgt eine dekontextualisierte Befassung mit diesem deutschen Opfernarrativ auch immer die Gefahr einer Relativierung deutscher Schuld am Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust. Gleichwohl müssen die Opfer Gehör finden dürfen. Einen vielleicht mit dem Effekt von Ró˙za vergleichbaren Tabubruch bezüglich der Vergewaltigungen durch Angehörige der Roten Armee gegen Ende des Zweiten Weltkriegs löste in Deutschland 2008 der Spielfilm Anonyma – Eine Frau in Berlin aus. Rezensionen zum Film stellten deutsche Frauen in eine Reihe der Opfer mit „Ungarinnen, Polinnen und Slowakinnen“. 195 Anja Lösel beispielsweise schreibt zur Bedeutung des Films im Stern, „er wühlt erneut auf, was viel zu lange verdrängt und vergessen war“. 196 In Polen war es durch die politischen Konstellationen während der Zeit der Volksrepublik nicht möglich, die Leidensgeschichte vergewaltigter Frauen öffentlich zu thematisieren. Denn wo es Opfer gibt, da müssen auch Täter sein. Für die Wissenschaft ist Sexualität und sexualisierte Gewalt in Zeiten des Krieges kein Neuland mehr. 197 Trotzdem sind die Opfer dieser Schändungen auch heute noch oft mit ihren schlimmen Erinnerungen allein. Ein offizielles Gedenken an sie gibt es nicht. Deswegen ist es so wichtig, auch Erinnerungsfilme, die dieser spezifisch weiblichen Kriegserfahrung ein Forum geben, näher zu beleuchten. Um noch einmal Monika Hauser zu bemühen: Es ist Zeit zu sprechen, damit die Kette von Gewalt und Trauma durch die Generationen hindurch unterbrochen wird – und die Töchter und Söhne und Enkel nicht immer wieder Täter- und Opferidentitäten reproduzieren müssen. 198
Ob aber die Erinnerungsfilme wie Unsere Mütter, unsere Väter die Erinnerung an die Vergewaltigungen nutzen, um ebenjene Täter-Opfer-Dichotomien zu durchbrechen, oder sie nicht doch vielmehr als Stilmittel verwenden, um Täter- und Opferidentitäten zu reproduzieren, muss bezweifelt werden. Schließlich werden nur die Vergewaltigungen der Frauen
195 Sven Felix Kellerhoff. 2015. „Für die Russen waren wir wie Freiwild.“ Welt.de, 3. März 2015, URL: https://www . welt . de / geschichte / zweiter - weltkrieg / article138008854 / Fuer - die - Russen - waren - wir - Freiwild . html, Zugriff am 17. September 2017. 196 Anja Lösel. 2008. „Und dann bedienten sich die beiden.“ Stern.de, 2. November 2008, URL: http://www. stern. de/ kultur/ film/ - anonyma- - - und- dann- bedienten- sich- diebeiden- - 3750268. html, Zugriff am 17. September 2017. 197 Siehe zum Beispiel auch die Forschungsliteratur zu Bordellen in den Konzentrationslagern, bspw. Robert Sommer. 2010. Das KZ-Bordell. Sexuelle Zwangsarbeit in nationalsozialistischen Konzentrationslagern. 2. Auflage, Paderborn: Ferdinand Schöningh. 198 Hauser, Vermiedene Erinnerung.
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der eigenen Nation thematisiert, nicht die der anderen. Die Opfer, das waren die eigenen Frauen, die Täter die Männer der Anderen. Bereits Reichspropagandaminister Goebbels nutzte diese Vergewaltigungen durch die Rote Armee, um Ängste vor dem Feind zu schüren. 199 Auch in Warschau ’44 schwingt das Motiv der Vergewaltigungen mit. Allerdings wird Alicjas Unschuld zunächst nicht von einem deutschen Soldaten oder einem sowjetischen Rotarmisten bedroht, sondern von einem Offizier der Untergrundarmee. Dass es ausgerechnet eine Replik der Jungfrau Maria ist, mit derer sich Alicja zur Wehr setzt und die hilft, die Unschuld der polnischen Widerstandskämpferin zu bewahren, entbehrt nicht einer gewissen Symbolik. In einer weiteren Szene gegen Ende des Films kehrt Komasa zur Thematik der Vergewaltigungen im Krieg zurück, als Alicja im Krankenhaus auf einen deutschen Soldaten der SS-Sondereinheit Dirlewanger trifft. Zwar lässt Komasa offen, ob der Soldat die junge Polin wirklich vergewaltigt oder nicht, aber einen anderen Schluss lässt diese Leerstelle im Film kaum zu. Auch in Wosiewiczs Był sobie dzieciak (Es war einmal ein Kind, 2013) spielen die Soldaten der Einheit Dirlewanger eine entscheidende Rolle in einem ähnlichen Kontext, wird doch der Protagonist Marek von einem dieser Männer missbraucht. Neben den Russen, die in allen hier untersuchten Erinnerungsfilmen eindimensional bleiben und negativ konnotiert sind, soll aber auch noch eine weitere Gruppe hier Erwähnung finden. Es ist die Gruppe der Ukrainer, die vor allem in Unsere Mütter, unsere Väter eine Rolle spielt. 200 Im besetzten Polen und den Ostgebieten unterstützten neben lokalen Hilfspolizisten der Schutzmannschaften im Baltikum, der Ukraine oder Belarus auch ausgewählte Soldaten der Roten Armee aus den deutschen Kriegsgefangenenlagern ab September 1941 die deutschen Nationalsozialisten als Hilfswillige. 201 Unter ihnen befanden sich vor allem „ethnic Germans, German-speakers, soldiers of non-Russian nationality who presumably hated the Communist regime“. 202 Viele von ihnen stammten aus der Ukraine, denn die Nationalsozialisten „suchten mit Vorliebe Ukrainer und 199 Vgl. Norman M. Naimark. 2012. „The Russians and Germans: Rape during the War and Post-Soviet Memories.“ In: Rape in Wartime. Genders and Sexualities in History. Herausgegeben von Raphaëlle Branche und Fabrice Virgili, London: Palgrave Macmillan, S. 201–219, hier: S. 201–202; siehe auch Kallis, Nazi Propaganda, S. 179. 200 Weder in Unser letzter Sommer noch in Warschau ’44 spielen Ukrainer eine Rolle. 201 Die Freiwilligkeit dieser Unterstützung ist nach wie vor ein umstrittenes Thema. Die desolaten Zustände in den Kriegsgefangenenlagern dürften zur Entscheidungsfindung beigetragen haben. Vgl. Peter Black. 2011. „Foot Soldiers of the Final Solution: The Trawniki Training Camp and Operation Reinhard.“ Holocaust and Genocide Studies, Vol. 25, Nr. 1 (Frühjahr 2011), S. 1–99, hier: S. 7; Browning, Ganz normale Männer, S. 82; Lehnstaedt, Der Kern des Holocaust, S. 45 f. 202 Black, Foot Soldiers of the Final Solution, S. 6.
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deutschstämmige Russen heraus, weil diese als potentiell wenig sowjetaffin galten“. 203 Umgangssprachlich wurden sie als Trawniki bezeichnet – nach dem Ausbildungslager in Trawniki im Distrikt Lublin, in dem sie für ihre Aufgabe vorbereitet wurden. 204 Auch die Bezeichnungen „Ukrainer“, von Kommandanten wie Opfern gleichermaßen genutzt, und „askaris“ nach dem in den afrikanischen Kolonien verwendeten Begriff für einheimische Soldaten oder Polizisten der Kolonialtruppen waren üblich. 205 Peter Black argumentiert, „[t]he Trawniki-trained guards were necessary to the implementation of Operation Reinhard (sic): they inflicted some 28 percent of the human loss sustained by the European Jews during World War II“. 206 Im ersten Teil der Miniserie Unsere Mütter, unsere Väter fallen diese ukrainischen Hilfspolizisten, gekennzeichnet durch eine Armbinde in den ukrainischen Nationalfarben gelb und blau, während einer Säuberungsaktion durch ihre besondere Brutalität gegenüber der jüdischen Zivilbevölkerung auf. Auffällig ist der Kontrast zu den anwesenden Deutschen: die Wehrmachtssoldaten Friedhelm, Wilhelm und ihr Kamerad Koch sind angesichts der Brutalität der Ukrainer entsetzt und wollen die Deportation eines kleinen Mädchens verhindern. Selbst SS-Sturmbannführer Hiemer, der die Säuberungsaktion des Sicherheitsdienstes koordiniert und hier zum ersten Mal auf Friedhelm Winter trifft, wirkt dank seiner Uniform und seines Habitus trotz seiner sadistischen Züge feiner als die ukrainischen Hilfspolizisten, die in einfacher Kleidung und mit roher Gewalt auftreten. Auch hier dienen also die Slawen als Negativbeispiele, als deren Gegenteil das Bild der ehrhaften deutschen Wehrmachtssoldaten konstruiert wird. Auch im Lazarett von Charlotte sind Ukrainerinnen als Hilfskrankenschwestern angestellt. Die erste Hilfskrankenschwester, die Charlotte selbst auswählt, ist Lilija. Als sich herausstellt, dass Lilija Jüdin ist, meldet Charlotte dies pflichtbewusst. Später kämpft sie mit ihrem Gewissen, die loyale Lilija verraten zu haben. Entsprechend verändert ist das Verhalten Charlottes gegenüber der zweiten sowjetischen Hilfskrankenschwester in ihrer Obhut: Gemeinsam mit Sonja lernt sie Russisch und versucht Buße für ihren Verrat an Lilija zu tun. An dieser Stelle sei noch einmal an Meghan O’Dea erinnert, die postulierte, dass die deutsch-polnischen Beziehungen nicht ohne Einbezug einer dritten, jüdischen Seite verstanden werden können. Wie insbesondere in den Ausführungen zu deutschen und polnischen Selbst- und Fremdbildern
203 Lehnstaedt, Der Kern des Holocaust, S. 45. 204 Für eine Beschreibung der Hilfspolizisten vgl. bspw. Browning, Ganz normale Männer, S. 82. 205 Black, Foot Soldiers of the Final Solution, S. 4–5. 206 Ebd., S. 44 – Hervorhebung im Original.
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deutlich wurde, spielt es im Hinblick auf Erinnerung als identitätsstiftendes Element eine sehr große Rolle, wie die Einstellung zu Jüdinnen und Juden dargestellt wird. Claude Lanzmanns Shoah löste unter anderem deswegen einen solchen Skandal in Polen aus, weil der Regisseur die Ansicht vertrat, dass der Holocaust nur möglich gewesen sei, weil er in Polen auf einen fruchtbaren, antisemitischen Boden fiel. Auch wurde die Darstellung der Polen in Lanzmanns Dokumentarfilm angeprangert, denn hauptsächlich wurden einfache Arbeiter und Bauern interviewt, die ungefiltert ihre Meinung kundtaten und kein positives Bild der polnischen Nation zeichneten. 207 Unsere Mütter, unsere Väter greift auf ähnliche Bilder zurück und reproduziert dieses Stereotyp Polens als eines Landes voller primitiver, ungebildeter und zutiefst antisemitischer Bauern. 208 Insbesondere der Antisemitismus der polnischen Bevölkerung unterscheidet diese von den Deutschen, die zwar irgendwo im Hintergrund die Judenvernichtung vorantreiben, aber so gut wie nie durch antisemitische Parolen auffallen – ausgenommen die beiden Antagonisten Hiemer und Dorn. Für Greta, Charlotte, Friedhelm und Wilhelm scheint zudem kein Widerspruch in der Unterstützung des „Dritten Reiches“ mitsamt dem Krieg und der Freundschaft zum Juden Viktor Goldstein zu bestehen. Die jüdische Perspektive wird durch Viktor und seine Eltern verkörpert, die dem Bild der assimilierten Juden des Bildungsbürgertums entsprechen, das auch schon in Holocaust dominierte 209. Insbesondere der Vater, der im Ersten Weltkrieg Soldat war und sich als Deutscher fühlt, will lange Zeit nicht wahrhaben, welche Gefahr von der antisemitischen Politik des „Dritten Reiches“ ausgeht und näht pflichtbewusst die Judensterne an die Kleidung der Familie. Viktors Eltern wie auch die anderen Juden, die gemeinsam mit Viktor im Deportationszug nach Auschwitz transportiert werden sollen, erfüllen gewissermaßen das Stereotyp der passiven Juden, die sich nicht gegen ihr Schicksal zur Wehr setzten. Dieses jüdische Schicksal spielt in Kadelbachs Unsere Mütter, unsere Väter aber nur eine nachrangige Rolle. So werden beispielsweise Viktors Erfahrungen im Konzentrationslager nicht explizit thematisiert. Auch die massiven Einschränkungen des alltäglichen Lebens, denen sich deutsche Jüdinnen und Juden bereits vor dem Beginn der Filmhandlung 1941 gegenübersahen, betreffen Viktor in seinem Alltag scheinbar kaum. Weiterhin trifft er sich mit seinen Freunden 207 Für eine Diskussion siehe bspw. Kowitz-Harms, Die Shoah im Spiegel öffentlicher Konflikte. 208 Die polnischen Reaktionen auf Lanzmanns Shoah erinnern stark an die Debatte, die Unsere Mütter, unsere Väter 2013 in Deutschland und Polen ausgelöst hatte. Die Erinnerungsdebatten heute sind also immer auch im Kontext älterer, ähnlicher Diskussionen zu sehen, die sie beeinflussen und partiell widerspiegeln. 209 Vgl. Bösch, Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft, S. 6.
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und führt eine Beziehung mit Greta. Vor der detaillierten Schilderung der Schicksale und Schicksalsschläge, die Friedhelm, Wilhelm, Greta und Charlotte durchleben, tritt diese jüdische Erfahrung in den Hintergrund. Das ist zunächst erstaunlich, schließlich ist der Holocaust keineswegs eine Randnotiz der deutschen Geschichte und untrennbar mit dem Zweiten Weltkrieg verbunden. Allerdings liegt der Fokus der Macher von Unsere Mütter, unsere Väter erklärtermaßen auf dem Schicksal der Eltern und Großeltern der heutigen Deutschen, die die Filmemacher mit ihrem Dreiteiler erreichen wollen. Für diese Schicksale stehen Wilhelm, Friedhelm, Charlotte und Greta – nicht ihr jüdischer Freund Viktor Goldstein. Vielmehr dient seine Geschichte, die etablierte Narrative repliziert und sich die Ikonografie des Holocaust zunutze macht – die Deportationszüge, die blau-weiß gestreifte Kleidung der Insassen deutscher Konzentrationslager, die Judensterne –, zur Fremdcharakterisierung der anderen Protagonisten. Auch in den schwierigsten Situationen stehen die jungen Deutschen zu ihrem jüdischen Freund Viktor, dessen jüdische Identität für ihre Beziehung zueinander keine Bedeutung zu haben scheint – und genau das ist bedeutsam, wenn auch wenig wahrscheinlich. Friedhelm rettet Viktor sogar das Leben, indem er Hiemer erschießt. Greta versucht, ihm über Dorn neue Papiere zu beschaffen. Friedhelm, Wilhelm, Greta und Charlotte sind allesamt anständig geblieben – ein Urteil, das sich sicher viele Angehörige der dritten Generation über ihre Großmütter und Großväter wünschen. Dieser Wunsch begleitet die Gesellschaft im Nachkriegsdeutschland schon lange 210 und prägt weiterhin die filmischen Darstellungen der Deutschen in Erinnerungsfilmen im Kontext des Zweiten Weltkrieges. Die Nazis sind in Kadelbachs Film Ausnahmeerscheinungen, verkörpert durch Hiemer und Dorn, die in ihren persönlich motivierten, durch Rache- oder Bereicherungsgelüste getriebenen Unrechtshandlungen für das nationalsozialistische System stehen. Die breite Masse aus Mitläufern und Mittätern bleibt gesichtslos im Hintergrund. Die fünf Freunde aber haben die moralische Bewährungsprobe bestanden, der sie sich im Nationalsozialismus
210 Der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Kurt Schumacher, formulierte es kurz nach Kriegsende auf dem Parteitag der SPD 1946 in Hannover so: „Wenn jemand von draußen nach Deutschland kommt, dann erlebt er sicher, wenn er fühlen kann und wenn er Fingerspitzengefühl hat, wenn er seelisch in den Anderen eindringen kann, das eine große Wunder, daß nach 12 Jahren Diktatur noch so viele Menschen innerlich anständig geblieben sind.“ Sozialdemokratische Partei Deutschlands. 1947. Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 9. bis 14. Mai 1946 in Hannover. Hamburg: PhönixVerlag, URL: http://library. fes. de/ parteitage/ pdf/ pt- jahr/ pt- 1946. pdf, Zugriff am 29. Mai 2019. – Hervorhebung im Original.
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stellen mussten, und sich für die Menschlichkeit entschieden – ebenfalls ein in den letzten Jahren verbreitetes Bild. 211 Auch in Komasas Warschau ’44 dienen Juden eher zur Charakterisierung der polnischen Filmfiguren als heldenhafte Widerstandskämpfer, die als ersten Akt in ihrem Kampf gegen die deutschen Besatzer Jüdinnen und Juden aus einem verschlossenen Raum befreien und einen der jüdischen Jungen in ihre Reihen aufnehmen – der den weiteren Film über seine Armbinde mit Davidsstern tragen wird. Einzig in Unser letzter Sommer wird differenzierter mit dem deutsch-jüdisch-polnischen Beziehungsdreieck umgegangen, indem sowohl offener Antisemitismus, Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Juden sowie Hilfsbereitschaft thematisiert werden. Die jüdische Perspektive vertritt Bunia, der auf dem Weg ins Vernichtungslager die Flucht aus dem fahrenden Deportationszug gelungen ist. Obgleich das Lager selbst niemals sichtbar gemacht wird, zeigen die Erzählungen Romeks doch, dass die einheimische polnische Bevölkerung sich der Existenz der Mordstätte und des Schicksals der Jüdinnen und Juden, die von den deutschen Besatzern dorthin verschleppt und auf der Flucht vor diesem Ort wieder eingefangen werden, durchaus bewusst ist. Deutlich wird, dass die deutsch-polnische Dimension nur ein kleiner Ausschnitt aus einem viel komplexeren Beziehungsgeflecht ist, das im Erinnerungsfilm allerdings oft auf stereotype und wenig komplexe Darstellungsweisen reduziert wird. Insbesondere russische bzw. sowjetische und jüdische Filmfiguren haben eine dezidierte Funktion und dienen oftmals hauptsächlich zur Konstruktion eines bestimmten Selbst- oder Fremdbildes, d. h. eines bestimmten Deutschen- oder Polenbildes. Gleichwohl waren sie reale Akteure im Zweiten Weltkrieg, ohne die sich viele Elemente der deutsch-polnischen Beziehungen nicht erklären lassen.
3.3 Inszenierung und Authentifizierungsstrategien Der Zauber des modernen Spielfilms als Medium der Vergangenheitsvergegenwärtigung fußt nicht zuletzt auf seiner Verbindung visueller und auditiver Elemente, durch die die Gesamterzählung erst ihren ganz spezifischen Charakter erhält. Die auffälligsten Merkmale der untersuchten Filme sollen im Folgenden exemplarisch für größere Entwicklungen im deutschen und polnischen Erinnerungsfilm im Kontext seiner Transnationalisierung diskutiert werden. Einer der wohl wichtigsten Faktoren für den Erfolg oder Misserfolg des Spielfilms als Erinnerungsfilm, nämlich die
211 Vgl. Bösch, Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft, S. 24.
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gefühlte Authentizität, spielt dabei eine ganz entscheidende Rolle. Denn auf dieser visuellen und auditiven Ebene werden wichtige Weichen gestellt, um die Illusion von Wahrhaftigkeit herzustellen, ein Gefühl des „So könnte es gewesen sein!“ Aber auch die Mechanismen von Personalisierung und Emotionalisierung der Geschichte schlagen sich in der Inszenierung von Vergangenheit im Spielfilm nieder und sollen in diesem Unterkapitel nicht unbeachtet bleiben. Zunächst aber gilt es, die Beziehung zwischen Filmund Ereignisgeschichte sowie bereits etablierter Darstellungs- und Sehgewohnheiten zu beleuchten, die sich in der narrativen Struktur der Filme widerspiegeln.
3.3.1 Verortung der Ereignis- in der Filmgeschichte Moderne Spielfilme, die sich mit der Vergangenheit beschäftigen, tun dies immer aus der Perspektive der Gegenwart. Sie bzw. ihre Macher verfolgen mit der Art und Weise, wie Geschichte inszeniert wird, ein bestimmtes Ziel, das durch gegenwärtige Bedürfnisse geprägt ist. 212 Welche Episoden der Vergangenheit erzählt und aus welchem Blickwinkel sie beleuchtet werden, ist also immer momentanen Anforderungen an ein historisches Narrativ geschuldet. Die Filmemacher sind dabei nicht vollkommen frei, sondern gesellschaftlichen Normen und Zwängen unterworfen: Ein noch so authentisch inszenierter Film, der mit authentischen Requisiten, Orten und Musik arbeitet, würde ohne das passende Narrativ nicht als authentisch wahrgenommen. Die gewählte Erzählweise ist also ebenfalls von großer Bedeutung. 213 Dazu gehört neben dem Anfang, dem Ende, dem Mittelpunkt und den Kausalbeziehungen im Filmgeschehen auch die Erzählstruktur der Filme, die linear oder nicht linear, offen oder geschlossen sein kann. Um als authentisch wahrgenommen zu werden, müssen die filmischen Narrative die Sehgewohnheiten und Erwartungen der Zuschauerinnen und Zuschauer mindestens zu einem gewissen Maß spiegeln und bestätigen.
212 „Die Vergangenheit ist ja bekanntlich nicht von sich aus schon Geschichte, sondern sie wird es erst in einem sinn- und bedeutungsvollen Zusammenhang mit der Gegenwart und der dort das menschliche Handeln und Leiden bestimmenden Zukunftsperspektive.“ Jörn Rüsen. 2020. Geschichte denken: Erläuterungen zur Historik. Wiesbaden: Springer VS, S. 96. Wie Brauer und Lücke feststellen: „Vergangenheit, so die Annahme der konstruktivistischen Theorie der 1990er Jahre, ist stets eine Rekonstruktion von der und für die jeweilige Gegenwart und deshalb auch Wandlungen unterworfen.“ Brauer & Lücke, Emotionen, Geschichte und historisches Lernen, S. 20. 213 Vgl. Schlanstein, Echt wahr! Annäherungen an das Authentische, S. 213.
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Es ist daher nicht verwunderlich, dass moderne Spielfilme über den Zweiten Weltkrieg Motive und Erzähltraditionen aufgreifen, die das Genre bereits in früheren Jahren geprägt haben. Dadurch beschränkt sich natürlich ihr Potenzial, innovative Denk- und Deutungsweisen zu etablieren und aus etablierten Denk- und Deutungsmustern auszubrechen. 214 Unser letzter Sommer, Warschau ’44 und Unsere Mütter, unsere Väter greifen an vielen Stellen etablierte Sehgewohnheiten der Zuschauer auf und sind nicht die ersten Spielfilme ihrer Art, die sich mit den deutsch-polnischen Beziehungen während des Zweiten Weltkriegs befassen. In den sich transnationalisierenden Kontexten, in denen Erinnerungsfilme heute bestehen müssen, treten jedoch die Leerstellen im historischen Narrativ deutlicher zutage, die in einem nationalen Rahmen kaum aufgefallen wären. Das beste und prominenteste Beispiel ist wohl Unsere Mütter, unsere Väter. Die Filmhandlung setzt im Juni 1941 ein, am Vorabend des Beginns des Russlandfeldzugs der deutschen Wehrmacht. Die jungen Protagonisten leben in der deutschen Hauptstadt Berlin ein normales, vom Kriegsgeschehen bislang scheinbar vollkommen unberührtes Leben. Es entsteht der Eindruck, dass der Zweite Weltkrieg für Greta, Charlotte, Wilhelm, Friedhelm und Viktor – und somit auch für den Rest der Deutschen – erst mit diesem Sommer beginnt. Damit reproduziert die Filmhandlung ein Narrativ, das bereits die nationalsozialistische Propaganda kennzeichnete. Dass der Zweite Weltkrieg im Osten viel früher begann, nämlich mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939, gehört nicht zur Lebenswirklichkeit der Protagonisten im Film und mutmaßlich spielte dieser Aspekt auch in einem Großteil der deutschen Familienerzählungen keine Rolle. Diese doch substantielle Leerstelle, die in einem rein nationalen Kontext wohl kaum aufgefallen wäre, weil sie etablierten Erzählmustern in Deutschland nicht widerspricht, sondern diese vielmehr bestätigt, sorgte im Nachbarland Polen für erhebliche Entrüstung. 215 Dort ist der 1. September 1939 zentraler Erinnerungsort und markiert den Beginn einer sechs Jahre währenden Besatzungszeit, während derer rund 5,9 Mio. Polinnen und Polen,
214 Dieser Aspekt soll in Kapitel 3.4 erneut aufgegriffen werden. 215 Vgl. bspw. Tomasz Szarota. 2014. „Geschichtsunterricht im Deutschen Fernsehen – erteilt von einem Lehrer mit Gedächtnisschwund.“ Zeitgeschichte-online, Juli 2014, URL: https://zeitgeschichte- online. de/ thema/ geschichtsunterricht- im- deutschenfernsehen- erteilt- von- einem- lehrer- mit- gedaechtnisschwund, Zugriff am 17. Januar 2015; Magdalena Saryusz-Wolska und Carolin Piorun. 2014. „Verpasste Debatte: Unsere Mütter, unsere Väter in Deutschland und Polen.“ Zeitschrift Osteuropa, 64. Jg., Nr. 11–12/2014, S. 115–132, hier: S. 127; Krzemi´nski, Der polnische Lückenbüßer.
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darunter ca. 3 Mio. Jüdinnen und Juden, ermordet wurden. 216 Gleichzeitig bedient der ZDF-Dreiteiler, wie bereits in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt, eine Vielzahl negativer Heterostereotypen in Bezug auf Polen, die ebenfalls zur Ablehnung des in Unsere Mütter, unsere Väter reproduzierten Narrativs in Polen beitrugen. Während das Augenmerk auf die deutschen Opfer gelenkt wird, ist von den Opfern der Deutschen nicht viel zu sehen. Die Vernichtung der Juden in den Konzentrations- und Vernichtungslagern, die das nationalsozialistische Regime vor allem im besetzten Polen errichtete, und das Leid der polnischen Bevölkerung unter der deutschen Besatzungsherrschaft sind im Film eher eine Randerscheinung, deren Bedeutung oftmals erst durch entsprechendes Weltwissen der Zuschauerinnen und Zuschauer deutlich wird. Unsere Mütter, unsere Väter umfasst im Vergleich zu den anderen hier betrachteten Erinnerungsfilmen die längste Zeitspanne der Ereignisgeschichte, verteilt auf drei Teile und insgesamt 270 Filmminuten, während derer die Filmhandlung entwickelt und die verschiedenen Handlungsstränge, die den Einzelschicksalen der fünf Freunde folgen, zusammengeführt werden. Beginn der Handlung ist, wie bereits beschrieben, der Sommer 1941, als Friedhelm, Wilhelm und Charlotte sich vor ihrer Abreise an die Ostfront von den Freunden Greta und Viktor verabschieden. Jeder von ihnen nimmt einen Abzug eines an diesem Abend entstandenen Fotos mit auf die Reise, das die Erinnerung an die Freunde bewahren soll (siehe Abb. 2).
Abbildung 2: Das Gruppenfoto der fünf Freunde im Schützengraben an der Ostfront (Screenshot aus Unsere Mütter, unsere Väter, Teil 1).
216 Vgl. Waldemar Grabowski. 2018. „Straty osobowe II Rzeczypospolitej w latach II wojny ´swiatowej: Czy mo˙zna ustali´c dokładna˛ liczb˛e?“ BIULETYN IPN, Nr. 9 (154), September 2018, S. 28–33.
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Diesem friedlichen Start stehen drastische Bilder des Kriegsgeschehens an der Ostfront gegenüber. Ein analoges, dramaturgisches Vorgehen wählen Jan Komasa in Warschau ’44 oder auch Joseph Vilsmaier in Stalingrad (1993). Über vier Jahre hinweg zieht sich dann die Filmhandlung, vornehmlich an der Ostfront und manchmal in Berlin, deren Ende ein Zusammentreffen der verbliebenen Freunde Wilhelm, Viktor und Charlotte in ihrer früheren Stammkneipe Zum Alten Fritz nach der Kapitulation Deutschlands ist – dem Ort, wo sich ihre Wege vier Sommer zuvor trennten. Notwendigerweise ist Unsere Mütter, unsere Väter als Mehrteiler dramaturgisch anders aufgebaut als klassische Spielfilme. Die drei ineinandergreifenden Teile nehmen durch Cliffhanger am Ende des ersten und zweiten Teils und durch eine Zusammenfassung zu Beginn des zweiten und dritten Teils aufeinander Bezug. Der Spannungsbogen muss sich so also nicht über einen einzigen neunzigminütigen Spielfilm entfalten, sondern über die insgesamt 270 Minuten tragen. Im Kontrast zu den vier Kriegsjahren bei Unsere Mütter, unsere Väter erzählt Unser letzter Sommer von nur wenigen Tagen oder Wochen im Leben zweier Jungen fernab des Krieges im besetzten Polen im Sommer 1943 um das Fest der Sommersonnenwende herum. Die großen Ereignisse der Geschichte finden dort nicht statt oder zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt. Während der Krieg die Jugendlichen in Warschau ’44 schnell einholt, bleibt er für die Protagonisten in Rogalskis Unser letzter Sommer weit entfernt. Das gilt nicht nur für Guido und seine älteren Kameraden, sondern auch für die polnische Zivilbevölkerung. Es sind Momente wie der am Fluss, als Kampfflieger über Odis und Guidos Köpfen am Himmel hinwegfliegen, die daran erinnern, dass der Zweite Weltkrieg bereits seit vier Jahren in Europa wütet. Odi: „Was meinst du? Sind das unsere, oder die Amis?“ Guido: „Weiß nicht, Amis?“ Odi: „Vielleicht sind sie gerade auf dem Weg zu deiner Mutter, um sie zu bombardieren? So ist Krieg. Sie uns, wir sie.“ 217
Der Krieg in Unser letzter Sommer findet anderswo statt. Er wird im Film nur angedeutet und in diesen symbolischen Andeutungen wird klar, dass er auch für die Menschen vor Ort nicht Teil ihrer Lebenswirklichkeit ist. Da ist der kleine polnische Junge, der mit dem Modellflugzeug einen Bombenangriff nachspielt. Da sind die amerikanischen Flugzeuge, die über Odi und Romek am Fluss hinwegfliegen und anderswo ihre Bomben fallen lassen. Aber die Idylle des Sommers ist in Rogalskis Film ebenso vergänglich wie die jugendliche Unschuld seiner Protagonisten. Dem Publikum aller217 Unser letzter Sommer, Min. 00:49:26–00:49:40.
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dings mag bekannt sein, dass der Krieg sich spätestens im Sommer 1943 wendete: Die deutsche Großoffensive Zitadelle im Juli 1943, die auch in Unsere Mütter, unsere Väter eine Rolle spielt, war die letzte ihrer Art an der Ostfront. Mit der Sommeroffensive der Sowjetunion ab Juni 1944 begann der Vormarsch der Roten Armee gen Westen; zu Jahresende erreichten sie die Grenze des Deutschen Reiches. Der scheinbar unbeschwerte Sommer 1943, den Guido, Romek und Franka erleben, ist also auch in dieser Hinsicht ein Wendepunkt. Gleichwohl nimmt auch Unser letzter Sommer Bezug auf reale Ereignisse der Geschichte, vor deren Hintergrund das Handeln der Filmcharaktere zu verstehen ist. Einerseits ist das der Aufstand im Warschauer Ghetto, der am 19. April 1943 ausbrach und rund 60.000 Jüdinnen und Juden das Leben kostete, „mehrere tausend vor Ort, etwa 50.000 in Treblinka“. 218 Das jüdische Mädchen Bunia, das sich für einen Teil seiner Flucht mit Romek verbündet, führt dieses zentrale Ereignis in einer Randbemerkung gegenüber dem polnischen Jungen ein. Sie wirft Romek vor, dass er den deutschen Soldaten Guido nicht hätte am Leben lassen sollen, als er die Chance hatte, ihn zu erschießen. Sie hätte es nicht getan, und er auch nicht, wenn er wüsste, wie die Deutschen in Warschau gewütet hätten. 219 Eine Grundkenntnis des Aufstands im Warschauer Ghetto als eines zentralen Erinnerungsortes des Zweiten Weltkriegs sowohl in der deutschen als auch der polnischen Erinnerungskultur wird hier als seitens des Publikums bekanntes Weltwissen vorausgesetzt. Andererseits spielt die deutsche Vernichtungspolitik in Polen im Rahmen der Aktion Reinhardt eine wichtige Rolle. Durch das Begleitmaterial zum Film erschließt sich, dass es sich bei dem nahegelegenen Lager um das Konzentrations- und Vernichtungslager Treblinka handelt. Treblinka, das neben Sobibór, Bełz˙ec und Majdanek als letztes der Vernichtungslager der Aktion Reinhardt errichtet worden war und wo binnen eines Jahres ca. 870.000 Menschen 220 ermordet wurden, wurde am 2. August 1943 zum Schauplatz des ersten und größten Aufstands in einem der deutschen Vernichtungslager im besetzten Polen. Nach dem Aufstand wurde das Lager vollends geschlossen. Das größte der vier Vernichtungslager der Aktion Reinhardt stand zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits vor der Auflösung. Es ist unwahrscheinlich, dass die einheimische Bevölkerung in den umliegenden Dörfern davon nichts mit-
218 Włodzimierz Borodziej. 2010. Geschichte Polens im 20. Jahrhundert. München: C. H. Beck, S. 210. Der Großteil der Jüdinnen und Juden aus dem Warschauer Ghetto war bereits während der Großen Aktion im Rahmen der Aktion Reinhardt zwischen Juli und September 1942 nach Treblinka deportiert und ermordet worden. 219 Unser letzter Sommer, Min. 00:52:28–00:52:34. 220 Vgl. Lehnstaedt, Der Kern des Holocaust, S. 85.
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bekommen haben soll, existieren doch Berichte über den Verwesungsgeruch und den Gestank der ab März 1943 durchgeführten Exhumierungen und Verbrennungen der Leichen. Auch Treblinka I, das vornehmlich als Zwangsarbeitslager genutzt wurde, wurde angesichts der nahenden Front am 23. Juli 1944 von SS- und Trawniki-Männern liquidiert. 221 Dieses Ereignis befindet sich in Bezug auf die Filmhandlung in Unser letzter Sommer noch in der Zukunft. Dennoch ist es Teil der unausgesprochenen Rahmenhandlung des Films, der immer wieder das vorausgesetzte Weltwissen seiner Zuschauerinnen und Zuschauer bemüht, ohne welches die Tiefe der Filmhandlung nicht greifbar wird. Gleichermaßen verhält es sich mit der systematischen Ermordung der Juden durch die berüchtigten Einsatztruppen im Jahr 1942, auf die Hauptmann Müller anspielt, als er dem neuen Oberleutnant berichtet, dass die Einsatztruppen das „Judenproblem“ bereits im vergangenen Jahr gelöst hätten. 222 Anders als bei Unsere Mütter, unsere Väter aber dienen die so entstehenden Leerstellen bei Rogalski nicht der Weichzeichnung der Geschichte, sondern vielmehr einer Auseinandersetzung mit selbiger. Auch oder gerade für Unser letzter Sommer ist also eine Übersetzungsleistung durch das Publikum notwendig, denn erst durch ein entsprechendes Weltwissen wird das Grauen, das die unsichtbare Kulisse für Rogalskis Film bildet, spür- und greifbar. Wieder anders stellt sich die Situation im Fall von Warschau ’44 dar. Der Film greift, wie der Titel schon verrät, einen der wichtigsten und umstrittensten Momente polnischer Geschichte im Zweiten Weltkrieg auf: Den Aufstand der polnischen Heimatarmee in Warschau, der am 1. August 1944 im Rahmen der polenweiten Aktion Burza (dt. ‚Sturm‘) begann und die Befreiung Polens von der deutschen Besatzung zum Ziel hatte. Es ist nicht der erste Film, der sich diesem Thema widmet. Teilaspekte des Warschauer Aufstands waren bereits Jahre zuvor verfilmt worden. Ein moderner Spielfilm aber, der die 63 Tage des Aufstands schildert, wurde erst mit Komasas Werk vorgelegt. Die Filmhandlung setzt einige Tage vor Beginn des Warschauer Aufstands ein und inszeniert über rund 130 Minuten die 63 Tage des Warschauer Aufstands. Über den Kontext des Aufstands lässt der Film wenig im Unklaren, wird doch noch vor Beginn in einem Vorspann auf den geschichtlichen Kontext der seit fünf Jahren währenden Besatzungszeit und das Leid der polnischen Bevölkerung hingewiesen. Am Ende der Filmgeschichte rettet sich der Protagonist Stefan auf eine Sandbank in der Weichsel und betrachtet von dort erschöpft die 221 Für eine detaillierte Beschreibung vgl. bspw. Lehnstaedt, Der Kern des Holocaust. 222 Unser letzter Sommer, Min. 00:27:36–00:27:49; etwa 1,8 Mio. Jüdinnen und Juden fielen der Aktion Reinhardt zum Opfer, bis 1943 war Polen quasi „judenfrei“, vgl. Lehnstaedt, Der Kern des Holocaust, S. 85, 87.
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Skyline von Warschau. Das Bild des kämpfenden Warschaus in Ruinen und Flammen wird langsam von der heutigen Skyline der polnischen Hauptstadt mit seinen modernen Wolkenkratzern und dem Kulturpalast im Zentrum überlagert. Langsam wird auch die Nacht zum Tag. Diese sehr symbolische Brücke verknüpft bildgewaltig den Warschauer Aufstand mit der Identität der Stadt heute, die dadurch zu einem mythischen Phönix wird, der aus der Asche zu neuem Glanz aufsteigt. Etablierten Sehgewohnheiten folgend zeigen alle Filme eine weitestgehend lineare und relativ geschlossene Handlung, die trotz der durch die Geschichte vorgegebenen Rahmenbedingungen noch Spielraum für die Fantasie der Zuschauerinnen und Zuschauer bietet. Durch die stark auf die fiktiven Charaktere fokussierte Handlung erhalten auch die Mythenmacher ein gewisses Maß an Freiheit in der Interpretation der Geschichte und eröffnen Räume für Spekulationen: Wie ging das Leben von Guido und Romek wohl nach dem Sommer 1943 weiter? Ist Bunia die Flucht geglückt? Was ist aus Stefan nach seiner Rettung auf die Sandbank in der Weichsel geworden? Hat Alicja den Aufstand wirklich nicht überlebt? 223 Wie haben sich die Leben von Viktor, Wilhelm und Charlotte im Nachkriegsdeutschland weiterentwickelt? Wurde aus Wilhelm und Charlotte trotz allem noch ein Paar? Und ging Viktor angesichts des fortwährenden Antisemitismus und der Fortbeschäftigung führender nationalsozialistischer Funktionäre wie Gestapo-Mann Dorn im Nachkriegsdeutschland wie viele andere Jüdinnen und Juden nach Israel? Die Einblendung der Geburts- und Sterbedaten am Ende von Unsere Mütter, unsere Väter regt zu einer Auseinandersetzung mit dem Schicksal der fiktiven Charaktere und den realen Zugehörigen der Erlebnisgeneration an, für die Gretas, Friedhelms, Charlottes, Viktors und vor allem Wilhelms Geschichte stellvertretend stehen, macht sie doch überdeutlich, dass ihre Stimmen schon größtenteils verstummt sind – nur das Sterbedatum des mittlerweile schon über 90-jährigen Wilhelm fehlt im Abspann des Films. Die Botschaft der Filmemacher ist bekannt und unmissverständlich: Das Zeitfenster für einen intergenerationellen Dialog schließt sich – nutzt es!
223 Diese Frage beschäftigte zahlreiche Userinnen und User in Internetforen, die sich zum Film austauschten. Am Ende des Films sieht Stefan neben sich auf der Sandbank Alicja. Einige Einstellungen später aber ist nur eine Figur auf der Sandbank vor der brennenden Stadt zu erkennen.
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3.3.2 Die visuelle Ebene So wichtig die Geschichte ist, die ein moderner Erinnerungsfilm zu erzählen hat, so wichtig sind auch die Bilder, mit denen diese Geschichte erzählt wird. Die visuelle Ebene spielt daher eine zentrale Rolle im Erinnerungsfilm, der seine Botschaft zuerst über Bilder vermittelt. Wie bereits beschrieben, orientieren sich die drei hier im Zentrum stehenden Erinnerungsfilme hinsichtlich der Länge und des Aufbaus der Filmhandlung grob an mittlerweile global standardisierten Sehgewohnheiten, die die Filme für verschiedene Publika weltweit anknüpfbar machen. Auch in ihrer Bildsprache greifen Rogalski, Kadelbach und Komasa Trends auf, die Teil und Ausdruck einer Transnationalisierung der modernen Spielfilmproduktion sind. Neben der Illusion von Authentizität, die sich durch alle Ebenen der Erinnerungsfilme zieht, steht auch die visuelle Inszenierung im Dienst der Emotionalisierung, Privatisierung und Dramatisierung der Vergangenheitsbilder. Gelegentlich ist in diesem Kontext auch von einer Hollywoodisierung des Holocaust oder sogar von einem Hollycaust die Rede. 224 Nicht selten geht mit der Feststellung, ein Film bediene sich der Hollywoodisierung des Holocaust, auch der Vorwurf einher, dass dem Thema nicht der gebührende Respekt gezollt werde. Auch für die filmische Darstellung der deutsch-polnischen Beziehungen während des Zweiten Weltkriegs hat diese Debatte unmittelbare Bedeutung. Der angemessene filmische Umgang mit diesen schwierigen Themen der neueren Geschichte ist eine Gratwanderung, die schon in den 1970er und 1980er-Jahren in den Fokus der Öffentlichkeit rückte. Auf der einen Seite des Spektrums stand Marvin Chomskys vielbeachtete Serie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiß, deren essentielle Rolle für die gesamtgesellschaftliche Diskussion der Vernichtung der Jüdinnen und Juden durch das nationalsozialistische Deutschland immer wieder betont wird. Diese Bedeutung ist kaum zu überschätzen, hat sich im deutschen aber auch im polnischen Sprachraum doch erst dadurch der Begriff Holocaust für dieses Menschheitsverbrechen etabliert. Aber auch jüngere, das Genre prägende Spielfilme wie Steven Spielbergs Schindlers Liste und Roman Polanskis Der Pianist aus Hollywood haben Sehgewohnheiten und Wissen über die Zeit des Zweiten Weltkriegs entscheidend beeinflusst. Es ist kein Zufall, dass es ebendiese Filme sind, die auch von den im vorhergegangenen Kapitel betrachteten Mythenmachern und Mythenmittlern als bedeutsam für ihr Wissen um und ihren Umgang mit dem Thema zitiert werden. Auf der anderen Seite
224 Vgl. bspw. Stimmel, Between Globalization and Particularization, S. 98.
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des Spektrums steht exemplarisch für einen deutlich nüchterneren Umgang mit dem Holocaust das Werk des französischen Filmemachers Claude Lanzmann und das von ihm postulierte Bilderverbot 225, dessen Einfluss auf Michał Rogalskis Unser letzter Sommer im Folgenden noch diskutiert wird. Lanzmanns Herangehensweise an die Vergangenheit in seinem Dokumentarfilm Shoah war es, eben keine Neuinszenierung der Geschichte zu versuchen und keine Archivbilder der Täter zu verwenden, sondern durch Zeitzeugeninterviews und aktuelle Bilder der authentischen Stätten der ehemaligen Vernichtungslager, deren Spuren oft noch bestmöglich von den Verantwortlichen selbst beseitigt worden waren, bewusst die NichtNacherfahrbarkeit des Schicksals der deportierten und ermordeten Juden zu verdeutlichen. Das mag dem Thema gerechter werden, macht aber eben kein Eventkino. Genau das jedoch war das Ziel der Mythenmacher von Unsere Mütter, unsere Väter und auch Warschau ’44. Es ist daher nur folgerichtig, dass gerade diese Filme sich besonders stark an etablierten Erzähl- und Sehgewohnheiten der Zuschauer orientieren, die maßgeblich durch das in der westlichen Welt omnipräsente Hollywoodkino geprägt sind. Die wichtigen Hauptzutaten, nämlich bildgewaltig dargestellte, actionreiche Gefechte, schöne und junge Menschen sowie eine Liebesgeschichte, zu deren Gunsten die Vergangenheit manchmal zur reinen Rahmenhandlung degradiert 226 werden kann, finden sich auch in den hier untersuchten, deutsch-polnischen Erinnerungsfilmen. Diese Annäherung in der Rezeptur erfolgreicher Erinnerungsfilme kann als Folge einer Transnationalisierung und Ausdruck der Multidirektionalität von Erinnerung verstanden werden. Etablierte Erzählmuster und Vergangenheitsbilder aufzugreifen und damit Erwartungen der Zuschauer zu erfüllen muss aber nicht immer mit einer Hollywoodisierung der Geschichte einhergehen, wie das Beispiel Unser letzter Sommer zeigt. Michał Rogalskis Inszenierung orientiert sich in seiner Philosophie, nämlich den Holocaust nicht zu verbildlichen und nur mittelbar das Grauen des Krieges zu zeigen, am Meisterwerk des 2018 ver-
225 Die filmische Darstellbarkeit des Holocaust wurde durch Schindlers Liste neu ausgehandelt, wo zwar keine Reinszenierung der Vergasungen, wohl aber ein auf das Weltwissen des Publikums spekulierendes Zeigen der Duschen auf Zuspruch traf und somit das Ende des Bilderverbotes markierte, vgl. Bösch, Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft, S. 20. Zum Bilderverbot bei Lanzmann vgl. Dominick LaCapra. 1997. „Lanzmann’s ‚Shoah‘: ‚Here There Is No Why‘.“ Critical Inquiry, Vol. 23, Nr. 2, S. 231–269. 226 Vgl. auch Pakiers Analyse von Aimée & Jaguar in Pakier, European Holocaust Memory.
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storbenen Filmemachers Claude Lanzmann, der mit Shoah eines der wichtigsten Filmdokumente zum Holocaust schuf. Auch inhaltlich stand Shoah Pate: Rogalski zeigte sich beeindruckt von der Figur des Eisenbahners, den Lanzmann für seinen Film interviewte. Der Mann hatte auch ca. 40 Jahre nach den Ereignissen schwer an seiner Beteiligung an der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten gegenüber den Jüdinnen und Juden zu tragen. Schließlich war er es, der die Züge und ihre Insassen zum Lager fuhr. 227 Seine Geschichte hatte unmittelbaren Einfluss auf die Figur des Leon, aber auch des jungen Romek, eine der beiden männlichen Hauptrollen. Beide Filmcharaktere arbeiten bei der Eisenbahn: Leon als Zugführer, Romek zunächst als sein Heizer. Romeks großer Traum ist es, Züge auf der Warschau-Strecke zu fahren, über die die Deportationszüge nach Treblinka fahren. Am Ende des Films sitzt er gedankenverloren auf den Schienen und ist diesem Ziel durch skrupelloses, opportunistisches Verhalten einen bedeutenden Schritt nähergekommen. Er ist nun selbst der Führer der Lok – und nimmt dafür in Kauf, Kollaborateur der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik zu sein. Ein besonders prägnantes Beispiel für die enge Verbindung zwischen Unser letzter Sommer und Shoah findet sich in der Kameraeinstellung bei der Einfahrt der Lok von Leon und Romek auf das Lagergelände an die Desinfektionsrampe, bei der der Zuschauer die Perspektive des Lokführers einnimmt. Sie ist beinahe identisch mit den dokumentarischen Filmaufnahmen, die Lanzmann 1974–85 bei seinen Fahrten entlang der ehemaligen Zugtrassen zu den Vernichtungslagern für Shoah gedreht hatte (siehe Abb. 3). Bei seiner Veröffentlichung 1986 hatte Shoah in Polen wie weiter oben bereits beschrieben für einen Skandal gesorgt. 228 Diesen Skandal löste Rogalskis Unser letzter Sommer bei seiner Veröffentlichung in Polen 2016 freilich nicht aus. Wohl aber sah sich der Regisseur im Nachgang mit Anfeindungen konfrontiert. 229 Um den Holocaust dennoch zu thematisieren, bedient sich Rogalski einiger Symbole, die für die Ermordung der Juden international ikonografische Bedeutung gewonnen haben. 230 Auch hier kann man von einer Transnationalisierung der visuellen Ebene der Erinnerung sprechen, für die das Beispiel der Koffer emblematisch ist. Geht man heute irgendwo auf der Welt in ein beliebiges Museum zum Holocaust, so wird man mit an
227 Vgl. Kuba Armata. 2016. „Histori˛e tworza˛ zwykli ludzie.“ Magazyn Filmowy, Nr. 56 (April 2016), S. 42–43, hier: S. 43. 228 Für eine Diskussion siehe Kowitz-Harms, Die Shoah im Spiegel öffentlicher Konflikte. 229 Eine Besprechung der Rezeption des Films findet im finalen Abschnitt dieser Arbeit statt. 230 Zur audiovisuellen Ikonografie des Holocaust im Film vgl. auch Stiglegger, Auschwitz-TV.
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Abbildung 3: Links die Anfahrt zum Lager aus der Perspektive der Lok von Romek und Leon. Rechts Lokführer Leon in der Pose, in der auch Lanzmann seinen polnischen Eisenbahner zeigte (Screenshots aus Unser letzter Sommer).
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eines sehen: leere Koffer mit einer weißen Aufschrift, die an ihre Besitzer und deren Herkunft erinnert. 231 Auch Rogalski benutzt dieses Symbol in Unser letzter Sommer, wo ein geklauter Koffer das erste Zusammentreffen von Guido und Romek markiert. Romek, der nahe der Rampe einen der Koffer an sich nimmt, den SS-Mann Hübsch kurz zuvor dort abgestellt hatte, wird dabei von Odi, Guido und Hübsch erwischt. Erschreckend ist der natürliche Besitzanspruch, der von den Deutschen auf die von den Juden zurückgelassenen Gegenstände er231 Sei es das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz, das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig, oder die Pinkas-Synagoge in Prag – ebenfalls häufig zu sehen sind Kleidungsstücke wie zum Beispiel Schuhe, die in Auschwitz und anderen Konzentrations- und Vernichtungslagern gesammelt wurden und heute den Besuchern der Gedenkstätten Mahnmal sind, dass an dieser Stelle Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Menschen zuerst ihres Hab und Gutes, dann ihrer Würde und schließlich ihres Lebens beraubt wurden.
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hoben wird: Romek wird als Kofferdieb verfolgt. Auch der Umgang von Romeks Mutter mit dem Koffer, den sie erst hinter vorgezogenen Gardinen zu öffnen wagt, ist beachtlich. Auf die anfängliche Freude über vermeintlich im Futter versteckte Wertgegenstände folgt Enttäuschung. Die Fotos der jüdischen Familie, der dieser Koffer gehörte, wirft sie ins Herdfeuer. Für die Polin sind diese Erinnerungen wertlos und potenziell gefährlich, würden sie in ihrem Hause aufgefunden. Es ist allen Beteiligten klar, dass die Besitzer nicht mehr zurückkehren werden, um diesen Koffer oder seinen Inhalt zurückzuverlangen. Mitleid für die Opfer oder eine kritische Beschäftigung mit dem Schicksal der Vorbesitzer findet auffällig nicht statt – weder bei Romek und seiner Mutter, noch bei Guido oder Odi. Wer keine Fragen stellt, der kann auch keine unangenehmen Antworten erhalten. So arbeitet Rogalski immer wieder mit Symbolen, die die Zuschauer kennen, weil sie längst zur internationalen Ikonografie des Holocaust gehören – die leeren Züge, die Schienen, die Rampe, die Koffer, die Menoras in Hübschs Häuschen. Die Lager und die Gaskammern zeigt er nie, wohl aber wird das Schicksal und die Verbrennung der Juden symbolisiert durch die Verbrennung der Fotografien im Herdfeuer; durch das Anzünden des Heuhaufens, in dem sich Menschen verstecken, die aber niemals sichtbar gemacht werden. Es ist einiges an Weltwissen notwendig, um diese Andeutungen zu verstehen. 232 Auch Komasa und Kadelbach bedienen sich in Warschau ’44 und in Unsere Mütter, unsere Väter der Ikonografie des Holocaust: Die Jüdinnen und Juden, die von Stefans Einheit zu Beginn des Aufstands befreit werden, tragen die typischen blau-weiß gestreiften Anzüge der Insassen deutscher Konzentrationslager. Auch die Personen, die gemeinsam mit Viktor und Alina im Zug von Deutschland nach Osten deportiert werden, lassen sich bisweilen durch diese Kleidung als Gefangene der Konzentrationslager identifizieren.
232 Inwiefern die Zielgruppe über dieses Weltwissen verfügt, ist allerdings fraglich: Eine Studie der Körber-Stiftung aus dem Jahr 2017 brachte zutage, dass 4 von 10 Schülerinnen und Schüler nicht wissen, wofür Auschwitz steht – Auschwitz, das Konzentrations- und Vernichtungslager, das wie kein anderer Ort zum Symbol des Holocaust geworden ist. Körber-Stiftung. Hrsg. 2017. Ergebnisse der forsa-Umfrage „Geschichtsunterricht“. 5. September 2017, URL: https://www.koerber-stiftung. de/ fileadmin/ user_ upload/ koerber- stiftung/ redaktion/ handlungsfeld_ internationale- verstaendigung/ pdf/ 2017/ Ergebnisse_ forsa- Umfrage_ Geschichtsunterricht_ Koerber- Stiftung. pdf, Zugriff am 20. Oktober 2017; aber auch: Stern. 2012. „Jeder fünfte jüngere Deutsche kennt Auschwitz nicht.“ Stern.de, 25. Januar 2012, URL: http://www. stern. de/ politik/ geschichte/ befragung- von- 18- - bis- 30- jaehrigenjeder- fuenfte- juengere- deutsche- kennt- auschwitz- nicht- 3523458. html, Zugriff am 12. Februar 2017. Vgl. aber auch Holger Thünemann. 2018. „Auschwitz unbekannt? Überlegungen und Thesen zum Umgang mit NS-Vergangenheit und Holocaust in Gedenkstätten.“ geschichte für heute 2/2018, S. 26–34, hier insbesondere S. 26 und S. 33. Thünemann thematisiert in seinem Beitrag auch die methodischen Fallstricke der Studie der Körber-Stiftung.
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Ein 2008 von Mark Herman verfilmtes Buch des irischen Schriftstellers John Boyne rekurriert schon im Titel auf diese typische Bekleidung: Der Junge im gestreiften Pyjama. Diese Nutzung von Bildern, die den Zuschauerinnen und Zuschauern wohlbekannt sind, appelliert einerseits an die Sehgewohnheiten des Publikums und befördert außerdem die wahrgenommene Authentizität der Filmbilder. Authentische Bilder zu erzeugen, die das Vergangene vermeintlich nacherlebbar machen, ist eine der zentralen Aufgaben des modernen Erinnerungsfilms. In Rogalskis Unser letzter Sommer wurde auch die Kulisse entsprechend präpariert. So soll beispielweise das Haus, in dem die Truppe stationiert ist, eine alte Schule darstellen, die durch Schriftzüge an der Wand wie „Heldisch sein heißt Rasse haben“ oder „Unser Gruß heißt Heil Hitler“ in einen Gendarmerie-Stützpunkt umgewandelt wurde. Von dem ersten Leben des Hauses als Schule zeugen die Exponate auf dem Dachboden und Schulbänke, die hinter dem Haus gestapelt sind. Auch der soziale Habitus der Soldaten und im kollektiven Gedächtnis fest verankerte und als authentisch akzeptierte Szenen werden im Film nachgestellt, um die mühsam erzeugte Illusion des Authentischen aufrechtzuerhalten. Weiterhin sind es kleine Details, die eine Verknüpfung zwischen Filmhandlung und realer Vergangenheit schaffen und so authentifizierende Wirkung entfalten, wie die beim Abendessen verlesenen Nachrichten aus der Illustrierten Zeitung zur Ehe der Schauspielerin Ruth Eweler, die sich in der Zeit des Nationalsozialismus tatsächlich großer Beliebtheit erfreute. Derlei Bezugnahme auf berühmte, zeitgenössische Persönlichkeiten gibt es häufiger: In Unsere Mütter, unsere Väter wird in einem Gespräch zwischen Greta und Viktor die Ehe des Schauspielers Heinz Rühmann mit einer Jüdin behandelt; Stefan vergleicht in Warschau ’44 seine Mutter mit der bekannten Schauspielerin Greta Garbo. Um die bestmögliche Illusion von Authentizität zu erzeugen, begnügen sich moderne Erinnerungsfilme aber nicht nur mit Verweisen auf die Wirklichkeit und möglichst detailgetreu nachgestellten Szenen, sondern flechten auch zeitgenössisches Archivmaterial in ihre Spielfilme ein. Das kann auf unterschiedliche Art und Weise geschehen. Sehr subtil aber doch zentral für die Handlung arbeitet auch Unser letzter Sommer mit authentischen Bildern, d. h. mit Archivbildern, nämlich mit Fotografien jüdischer Familien aus dem Archiv des Projekts And I still see their faces, das 1994 von der Shalom Foundation ins Leben gerufen wurde und Fotografien polnischer Jüdinnen und Juden sammelt. 233 233 Mehr Informationen zum Projekt And I still see their faces . . . finden sich auf der Website der Shalom Stiftung, URL: http://shalom.org.pl/en/projects/i-ciagle-widzeich- twarze/ , Zugriff am 9. Juli 2018.
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Abbildung 4: Links die symbolische Verbrennung der Fotos einer jüdischen Familie im Herdfeuer. Rechts: Romek betrachtet das den authentischen Fotografien nachempfundene Familienfoto von Bunias Familie aus der Brieftasche ihres Bruders (Screenshots aus Unser letzter Sommer).
Diese Fotografien spielen eine zentrale Rolle in der bereits oben erwähnten Szene, in der Romek und seine Mutter durch den Inhalt des Koffers gehen, den Romek von der Rampe erbeutet hat. Neben dem Plattenspieler und den Schallplatten mit Jazzmusik ist auch ein Familienalbum Teil des Kofferinhalts. Die Fotografien, die Romek faszinieren und die er als seine reklamiert, wirft seine Mutter ins Herdfeuer. Die Brücke zwischen diesen authentischen Fotografien und der Filmhandlung, die dadurch ganz nebenbei auch ein Element der Privatisierung hinzugewinnt, bildet etwas später ein Familienfoto aus dem Portemonnaie von Bunias Bruder, auf dem in ähnlicher Weise die Familie der Geschwister dargestellt ist. Diese Fotografie aber, auf der die Schauspielerin Maria Semotiuk und ihr Kollege Bartłomiej Kotschedoff zu sehen sind, ist offensichtlich nicht
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authentisch, sondern den authentischen Fotografien nur nachempfunden (siehe Abb. 4.). Ebenso wenig authentisch, für die Filmhandlung aber gleichwohl ein wichtiger Ankerpunkt ist die Schwarz-Weiß-Fotografie der fünf Freunde aus Unsere Mütter, unsere Väter, die am Abschiedsabend in Berlin entstand. Sie ist eine Momentaufnahme der Unbeschwertheit und der Jugend und zugleich Erinnerung an deren Vergänglichkeit. Jeden der fünf Freunde hat ein Abzug dieses Fotos auf seiner Reise begleitet. Eine zentrale Rolle spielen aber auch authentische Archivbilder. In regelmäßigen Abständen wird die Filmhandlung durch Originalfilmaufnahmen von der Front im Osten unterbrochen. Die zeitgenössischen Aufnahmen, die mit einem Voice-Over Volker Bruchs als Wilhelm Winter unterlegt sind, dienen als strukturierendes Element, das den Zuschauern hilft, die fiktive Filmhandlung zeitlich und geografisch in den historischen Verlauf der Kriegshandlungen einzuordnen. In jedem Teil der drei Teile von Unsere Mütter, unsere Väter kommen sie mehrmals vor, besonders häufig im letzten Teil. Durch einen schwarzen Rahmen werden sie zusätzlich deutlich von den sonstigen Filmaufnahmen abgegrenzt. Gleichzeitig verbinden die Schwarz-Weiß-Aufnahmen die historische Wirklichkeit mit der fiktiven, in Farbfilm gedrehten Filmhandlung, denn die auf die Archivbilder nachfolgenden Farbbilder greifen die Szenen des Archivmaterials teilweise nahtlos auf. Es entsteht der Eindruck, als würde man vom Betrachten der Aufnahmen einer fernen Zeit direkt in diese zurückversetzt, um sie hautnah mitzuerleben. Die Archivaufnahmen sind also wichtiges Element der Authentifizierung, das allerdings nicht einer gewissen Problematik entbehrt. Wie in vielen ähnlichen Fällen dieser Art ist die relativ unreflektierte Nutzung von Bildern, die die Täter des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust gefertigt haben, um ihre Perspektive zu festigen und zu verbreiten, nicht unstrittig. 234 Diese sehr öffentlichen Bildaufnahmen werden begleitet von den sehr privaten Voice-Overs Wilhelm Winters, der in den tagebuchähnlichen Textpassagen das Kriegsgeschehen bewertet. Deutlich wird dadurch seine sich ändernde Einstellung zum Krieg. Während er zu Beginn der Offensive im Osten noch davon spricht, dass es eine Lust sei, vorzudringen, plagt ihn 1944 die Angst, dass die Hoffnung auf einen Sieg zurückkehren könnte. Durch diese Einschübe erhält der Film umso mehr Glaubwürdigkeit als Ego-Dokument, als private Erzählung des letzten der fiktiven fünf Freunde, der noch am Leben ist und seinen Enkelinnen und Enkeln
234 Vgl. beispielsweise die Diskussion zu Der Pianist in Ebbrecht, Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis, S. 174, aber auch S. 87–122.
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vom Krieg berichtet. Aber nicht nur auf visueller Ebene finden Originaldokumente aus dem Zweiten Weltkrieg in Unsere Mütter, unsere Väter Verwendung: Neben den Originalbildern ist im dritten Teil der Miniserie während der Evakuierung von Charlottes Lazarett auch eine Originalansprache von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels an die deutsche Armee zu hören, in der er Durchhalteparolen verbreitet. 235 Zudem hört Sturmbannführer Dorn gemeinsam mit Frau und Tochter einen britischen Radiobeitrag, in dem über den Einmarsch der Roten Armee ins Deutsche Reich und das Aufeinandertreffen mit den amerikanischen Truppen am 25. April 1945 bei Torgau berichtet wird. 236 Mit derlei authentischen Bildern und nachgestellten Szenen, die Sehgewohnheiten und Erwartungen der Zuschauer bestätigen und aufgreifen, verhält es sich wie mit den oben skizzierten realen Ereignissen und Elementen der Geschichte, die in den ansonsten fiktiven Filmplot eingeflochten werden, um diesem Glaubwürdigkeit und Authentizität zu verleihen. Diese genrespezifischen Authentifizierungsstrategien machen sich selbst kontrafaktische, größtenteils fiktive Filme wie Quentin Tarantinos Inglourious Basterds zunutze, um eine Verknüpfung zur realen Vergangenheit herzustellen und einen Film erfolgreich als Erinnerungsfilm zu platzieren. 237 Wo auf der visuellen Ebene die Grenzen zwischen Innovationspotenzial und Erfüllung dieser Erwartungen liegt, ist schwer zu sagen. Ausgetestet hat sie Jan Komasa mit seiner modernen, aber auch nicht unumstrittenen Verfilmung des historischen Filmstoffs für Warschau ’44. Weitgehend verzichtet Jan Komasa auf authentische Bilder der Realität und Archivbilder – die Aufnahmen der modernen Warschauer Skyline und eine Fotografie von Stefans verstorbenem Vater in Uniform ausgenommen. Vielmehr beschreitet der Filmemacher durch die Nutzung von modernen Elementen der Filmkunst neue Wege in der Darstellung des Warschauer Aufstands, die mit etablierten Sehgewohnheiten brechen und nicht überall auf Akzeptanz gestoßen sind. Dazu gehören die zahlreichen Szenen in SlowMotion, darunter auch eine Sexszene zwischen Kama und Stefan, und ein
235 Unsere Mütter, unsere Väter, Teil 3, Min. 01:04:18–01:05:20. 236 Unsere Mütter, unsere Väter, Teil 3, Min. 01:12:46–01:13:22. 237 Mit Martínez könnte man hier von Authentizität durch Referenz und Gestaltung sprechen, vgl. Martínez, Zur Einführung. Ein wenig lässt sich diese Strategie mit dem aus dem Marketing bekannten Product Placement vergleichen: Auch hier dienen authentische, in der realen Welt beheimatete Marken und Produkte – ob als Requisiten im Hintergrund platziert oder aktiv von den Schauspielern besprochen und genutzt – der Herstellung einer Illusion der Authentizität der Filmhandlung. Längst ist Geschichte im Film zum Verkaufsschlager geworden.
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großzügiger Umgang mit Computeranimationen. 238 Eindrücklich ist auch die Szene, in der die Kamera den Zuschauer während der Kampfhandlungen in die Perspektive des Schützen zwingt und die der bei Jugendlichen beliebten Egoshooter-Spielen gleicht. Komasa arbeitet, wie bereits oben beschrieben, mit starken bildlichen Kontrasten: Während zu Beginn des Films trotz einer bereits vier Jahre währenden Besatzung Warschaus unbeschwerte Momente an der Weichsel und vor der Kulisse der blühenden Natur möglich sind, prägen Zerstörung und Chaos weite Teile von Warschau ’44. Auch Komasa kommt aber nicht umhin, sich in der Erinnerungskultur fest etablierte Bilder des Aufstands zunutze zu machen, um die Authentizität des im Film Gezeigten zu untermauern. Dazu gehört beispielsweise das Nachstellen der eindrucksvollen Szene, in der ein eroberter deutscher Panzer in der Warschauer Altstadt inmitten einer jubelnden Menschenmenge explodiert, dabei etwa 300 Menschen in Stücke reißt und einen Regen aus Blut und Leichenteilen verursacht. Dieser Blutregen, der vom Himmel kam, wurde zu einer wichtigen Erinnerungsfigur des Aufstands (siehe Abb. 5). 239 Auch die Flucht der Aufständischen und der Zivilbevölkerung durch das Warschauer Kanalsystem, in das die Deutschen Karbid und Benzin schütteten und anzündeten, erlangte eine ähnlich essentielle Bedeutung in der filmischen Darstellung des Warschauer Aufstands. Unter anderem Andrzej Wajda beschrieb dieses Phänomen in seinem Film Der Kanal aus dem Jahr 1957. Borodziej befindet, dass „[d]ie Beschreibung dieses Infernos [. . . ] bisher nur der Literatur und dem Film gelungen [ist], der Historiker vermag hier kaum etwas hinzuzufügen“. 240 Auch Komasa greift dieses Motiv in Warschau ’44 auf, als Alicja und Stefan aus den umkämpf´ ten Teilen der Stadt durch die Kanalisation nach Stadtmitte/Sródmie´ scie fliehen. Der Filmemacher kombiniert dieses etablierte Motiv allerdings mit modernen Elementen der Filmtechnik: Die Panikattacke, die Alicja im unterirdischen Tunnelsystem erleidet, wird mit psychedelischen Bildern immer näher rückender Wände untermalt. Starke Bilder wie diese helfen, die Emotionalisierung der Geschichte durch den Spielfilm und eine Identifikation des Publikums mit den Protagonisten zu befördern. Die Kameraarbeit ist als Faktor in der Produktion dieser authentischen, emotionalen Bilder nicht zu unterschätzen. Durch die Nutzung einer 238 Hier ist maßgeblich die Arbeit von Richard Bain zu nennen, der bereits an Hollywood-Filmen wie Inception, King Kong oder Casino Royale gearbeitet hat – und somit in den Darstellungsweisen ebenfalls eine Hollywoodisierung des Erinnerungsfilms in Polen darstellt. 239 Vgl. Borodziej, Der Warschauer Aufstand 1944, S. 145 f. 240 Ebd., S. 182.
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Abbildung 5: Die blutverschmierte Alicja sucht in einem alten Auto Schutz vor den vom Himmel regnenden Leichenteilen (Screenshots aus Warschau ’44).
Handkamera und diverser Filter haben Rogalski und Kameramann Jerzy Zieli´nski für Unser letzter Sommer einen Effekt geschaffen, den sie selbst als Ästhetik des Fehlers (pol. estetyka bł˛edu) bezeichnen. 241 Diese Ästhetik des Fehlers verleiht dem Film seinen besonderen Charakter und unterstreicht auf der visuellen Ebene die Unsicherheit der Zeit und die Imperfektion der Charaktere. Vorbild für diese Technik war Wojciech Marczewskis Film Dreszcze (Schauder, 1981), der neben Terrence Malicks Der Baum des Lebens (2011) als filmisches Vorbild für Unser letzter Sommer diente. Wichtig war es Rogalski aber, nicht in den Kitsch abzuschweifen, der die Filme Malicks manchmal heimsuche. 242 Zudem waren für den Kameramann Zieli´nski die Fotografien der amerikanischen Künstlerin Sally Mann, vor
241 Vgl. PISF, Letnie przesilenie. Rozmowa z Michałem Rogalskim; FPFFGdynia, 40. FFG – Konferencja prasowa filmu „Letnie przesilenie“. 242 Vgl. Armata, Histori˛e tworza˛ zwykli ludzie, S. 43.
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allem ihr Album Deep South, eine Inspiration. 243 Auch Rogalski befindet Fotografie, moderne wie auch die der 1960er, 1970er oder 1980er für sehr inspirierend. Die Naturaufnahmen, die Unser letzter Sommer dominieren, geben dem Film etwas Lyrisches, das die Unschuld widerspiegelt, die auch die vier Protagonisten Guido, Romek, Franka und Bunia auszeichnet, und das in starkem Kontrast zu dem steht, was in nicht allzu großer Ferne hinter den Zäunen eines Konzentrations- und Vernichtungslagers passiert, aber nicht verbildlicht wird. Von der Natur inspiriert sind auch einige der Metaphern, die Rogalski nutzt. Beispielsweise die Spinnweben, die von Morgentau bedeckt auf den Wiesen in der Sonne glänzen, und die „wirkten wie Fallen in die die jungen Hauptdarsteller hineingeraten“. 244 Am Ende des Films, das Regisseur Rogalski selbst als impressionistisch betrachtet, weil die Erzählung eben keine lineare A-B-C-Narration sei 245, taucht diese Metapher der Spinne ein zweites Mal auf. Eine Besonderheit in Unser letzter Sommer ist der Blick durch das Fenster, der den Zuschauer immer wieder in die Position eines heimlichen Beobachters zwingt (siehe Abb. 6). Teilweise fangen diese Szenen ein, was Romek oder Guido von dem, was um sie herum geschieht, wahrnehmen. Fenster und Türen werden so zum Rahmen der Handlung, die das Sichtfeld der Protagonisten und der Zuschauer einschränken und die Teile im Verborgenen belassen. „Die Chiffre ‚Fenster‘ figuriert als Wahrnehmungsinstrument der Ausblendung und der Fokussierung. Das Fenster rahmt und transformiert die ‚Wirklichkeit‘“. 246 Fenster trennen einerseits das Innere, Private vom Äußeren, Öffentlichen bieten aber auch gleichzeitig einen Einblick oder Ausblick, der zwei Welten miteinander verbindet. Durch ein geöffnetes Fenster steigt Guido in das Zimmer von Romek, in dem der junge Pole mit der Bauerstochter Franka Jazzmusik hört und betritt damit eine andere Welt. Durch eine geschlossene und beinahe blinde Dachluke erspäht Romek nach dem Akt mit Bunia die herannahenden sowjetischen Partisanen, die kurze Zeit später die flüchtige Allianz zwischen der Jüdin und dem Polen aufbrechen. Wie Jürgen Wertheimer über das romantische Motiv des Fensters bemerkt, „tritt das Fenster als Ort der Überschneidung in Erscheinung, und jeder Blick durch ein Fenster beginnt zu einem Akt
243 Vgl. FPFFGdynia, 40. FFG – Konferencja prasowa filmu „Letnie przesilenie“, Min. 4:50–5:39. 244 farbfilm verleih, Unser letzter Sommer. Presseheft, S. 12; siehe auch Interview mit Michał Rogalski, Bonusmaterial zur DVD zu Unser letzter Sommer, Min. 00:10:51-00:11:26. 245 Vgl. Interview mit Michał Rogalski, Bonusmaterial zur DVD zu Unser letzter Sommer, Min. 00:08:37–00:08:54. 246 Jürgen Wertheimer. 2006. „Augenblicke durch Fenster.“ Études Germaniques, 2006/3, Nr. 243, S. 401–415, hier: S. 414.
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Abbildung 6: Blick durch ein Fenster des GendarmerieStützpunktes in Wroblew auf die Soldaten vor dem gemeinsamen Abendessen. An der Wand der Spruch „Heldisch sein heißt Rasse haben“. Rechts Guidos Blick aus dem Fenster auf die Wäsche im Garten und die draußen vorbeilaufende Franka (Screenshots aus Unser letzter Sommer).
der Grenzüberschreitung zu werden.“ 247 Teilweise beobachtet die Kamera die Protagonisten auch aus anderen, ungewöhnlichen Blickwinkeln und liefert beinahe unangenehme Einblicke in das ganz banal Private, beispielsweise wenn Guido auf dem Dachboden des Gendarmerie-Stützpunkts beim Onanieren beobachtet wird. Die Fensteraufnahmen aber sind rekurrierendes Element der bildlichen Inszenierung von Unser letzter Sommer. Den Tendenzen einer Emotionalisierung und Privatisierung von Geschichte tragen die Filme nicht nur durch derlei starke Szenen, sondern auch durch häufige Nahaufnahmen der Protagonisten Rechnung, in denen deren Emotionen im Vordergrund stehen. Während Guido den Heuhau-
247 Ebd., S. 403 – Hervorhebung im Original.
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fen, in dem sich Menschen versteckt halten, anzünden muss, fängt die Kamera seine ihm ins Gesicht geschriebenen Gefühle ein und bleibt auch in den darauffolgenden Szenen auf den jungen Soldaten fokussiert, der mit den Konsequenzen des eigenen Handelns kämpft. Auch in Warschau ’44 und in Unsere Mütter, unsere Väter finden sich ähnliche Szenen. Unsere Mütter, unsere Väter geht noch ein kleines Stück weiter, indem der Film das Publikum auch an der inneren Gedankenwelt der Filmfiguren teilhaben lässt, nämlich durch Voice-Over Wilhelm Winters im Schützengraben und seine tagebuchartigen Erzählungen. Auf der visuellen Ebene werden folglich durch ein geschicktes Einflechten authentischer Bilder, Symbole, nachgestellter Szenen oder einer detailgetreuen Kulisse nicht nur die Weichen dafür gestellt, dass ein Erinnerungsfilm als authentisch wahrgenommen wird. Auch auf einer emotionalen Ebene kann der Erinnerungsfilm durch eine entsprechende Kameraführung die Zuschauer leiten, ihnen also einen privaten Einblick in das Innerste der Filmcharaktere ermöglichen, sodass das Publikum mit den Protagonisten mitfühlen und sich mit ihnen identifizieren kann. Um aber dem nahezukommen, wonach die Zuschauer mutmaßlich beim Konsum von Geschichtsfilmen am meisten streben, nämlich einem Gefühl des Nacherlebens der Vergangenheit, bedarf es einer Kombination aus Bild und Ton: „Bilder und Töne, zumal bewegte Bilder und musikalische Effekte, haben eine große sinnliche Evidenz. Sie löschen Distanz, erwecken den Eindruck des authentischen Erlebens, so als sehe man mit den eigenen Augen, ‚wie es eigentlich gewesen ist‘“ 248. Im Folgenden soll daher untersucht werden, wie diese Verbindung aussehen kann.
3.3.3 Filmmusik Neben der visuellen spielt auch die auditive Ebene im Erinnerungsfilm eine wichtige Rolle. Eine ganz besondere Bedeutung kommt dabei der Musik zu, die seit Beginn der Filmgeschichte untrennbar mit letzterer verwoben ist. 249 Ein Großteil ihrer Magie erlangt Musik im Film dadurch, dass sie auf einer emotionalen Ebene zu wirken vermag. 250 Im Film kann sie vereinfacht gesagt zwei zentrale Funktionen einnehmen: Sie kann als
248 Hockerts, Zugänge zur Zeitgeschichte, S. 29. 249 Vgl. William O. Beeman. 1981. „The Use of Music in Popular Film: East and West.“ India International Centre Quarterly, Vol. 8, Nr. 1, Indian Popular Cinema: Myth, Meaning and Metaphor (März 1981), S. 77–87. 250 Vgl. Samuel L. Chell. 1984. „Music and Emotion in the Classic Hollywood Film: The Case of ‚The Best Years of Our Lives‘.“ Film Criticism, Vol. 8, Nr. 2, S. 27–38.
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Hintergrundmusik im Off als dramaturgisches Element mehr oder minder bewusst vom Zuschauer wahrgenommen, „der unterschwelligen Emotionalisierung der Filmhandlung“ dienen. 251 Sie kann aber auch sehr wohl als Musik im Film selbst Teil der Handlung sein. In allen drei exemplarisch untersuchten Filmen kommt eine Mischform dieser beiden Funktionen zum Tragen, wobei insbesondere der zweite Aspekt mitunter eine bedeutende Rolle in der Filmhandlung einnimmt. Filmmusik als Teil der Erzählung soll im Folgenden daher besonders berücksichtigt werden. Sowohl in Unser letzter Sommer als auch in Unsere Mütter, unsere Väter sind es der Jazz und die Swingmusik, die als zentrale Handlungselemente zur Charakterisierung der Protagonisten als nicht-konforme Jugendliche im NS-Staat dienen. Guido Hausmann wird, wie bereits beschrieben, für das Hören „entarteter“ Musik frühzeitig zum Dienst eingezogen und nach Polen geschickt. Seine Liebe zur Musik bringt ihn schließlich mit Franka und Romek zusammen, stürzt ihn und Franka letztendlich aber auch ins Verderben. Auch für die fünf Jugendfreunde aus Unsere Mütter, unsere Väter hat das Hören von Swingmusik des bekannten deutschen Musikers Teddy Stauffer im Hinterzimmer des Zum Alten Fritz eine wichtige Bedeutung, nimmt damit doch die Bekanntschaft Gretas mit Sturmbannführer Dorn der Gestapo ihren Lauf. Greta wird diese Begegnung sowohl eine große Karriere als Musikerin als auch das Todesurteil im Frauengefängnis in den letzten Tagen des „Dritten Reiches“ bescheren. Die Beziehung zu Dorn, die sie zu nutzen hofft, um ihren Geliebten Viktor Goldstein zu retten, bringt diesen ins Konzentrationslager Sachsenhausen. Als Greta del Torres veröffentlicht sie mit Unterstützung Dorns den Hit Mein kleines Herz, mit dem sie überall im Land bekannt wird. Nicht nur wird das Lied im Radio gespielt, Greta wird auch zur Aufheiterung der Truppe für einen Auftritt an die Ostfront geflogen, wo sie auf Wilhelm, Friedhelm und Charlotte trifft. Der klassische Filmsoundtrack zu Unsere Mütter, unsere Väter, der neben dem Lied, das Katharina Schüttler interpretiert, noch 41 andere rein instrumentale Tracks aus der Feder des schweizerischen Filmkomponisten Fabian Römer umfasst, ist auch losgelöst vom Film bei den gängigen Streaming-Plattformen verfügbar. 252 Eingespielt wurden die Stücke vom Slovak National Symphony Orchestra unter der Leitung von Allan Wilson und Vladimir Matrinka. Emotionalisierung und Dramatisierung stehen
251 Faulstich, Grundkurs Filmanalyse, S. 143. 252 Beispielsweise auf Spotify, Amazon Prime Music, Deezer oder Napster. Allein auf Spotify wurde der Song Mein kleines Herz bis März 2019 über 487.000-mal abgespielt, die anderen Titel des Soundtracks zwischen rund 5.000- und rund 86.000-mal.
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im Vordergrund der Filmmusik, wie Colosseum Records, die Plattenfirma selbst auf ihrer Internetpräsenz schreibt: Wie selten, versteht es Römers Musik, die drastische, tieftraurige Handlung zu tragen und zu unterstreichen. Sie akzentuiert die Momente, aber sie bleibt im Hintergrund. Und trotzdem prägt sie sich tief ins Gemüt ein. Als besonderen Bonus enthält die CD das von Hauptdarstellerin Katharina Schüttler gesungene berührende und nostalgische Lied „Mein kleines Herz“, das eine Art Leitthema für den 3-Teiler bildet. 253
Diese Besonderheit macht den Fall Unsere Mütter, unsere Väter hochinteressant. Gretas Lied wurde von der Berliner Produktionsfirma Hearos extra im Stil der 1940er-Jahre produziert und landete nach Ausstrahlung der Miniserie in der Kategorie Soundtrack auf Platz 1 der Download-Charts bei iTunes. 254 Es handelt sich also um ein Lied, das authentisch wirken soll und im Film diverse Male Anwendung findet, aber im Gegensatz zu Beispielen aus anderen Filmen ein Produkt des 21. Jahrhunderts ist. Sucht man bei Google nach „Greta Mein kleines Herz“, so finden sich als weitere Vorschläge unter den ähnlichen Suchanfragen Begriffe wie „Mein kleines Herz 1941“ oder „Mein kleines Herz Original“ – ein eindeutiges Zeichen dafür, dass die Illusion der Authentizität absolut gelungen ist. Die Funktion von Musik im Zweiten Weltkrieg war mannigfaltig – als Ablenkung für die Soldaten an der Front wie auch für die Daheimgebliebenen, aber auch als makabreres Mittel in den Lazaretten, um die Schreie der Verwundeten zu übertönen. Zu Beginn des zweiten Teils von Unsere Mütter, unsere Väter, als Charlotte darum bittet, einen Russen behandeln zu dürfen, erhält sie von Dr. Jahn die Antwort, man habe schon nicht genug Morphium für die eigenen Soldaten, sie solle einfach das Radio lauter drehen – und dort spielt Mein kleines Herz. Auch eine andere Schwester bittet Charlotte im Lazarett, die Musik lauter zu drehen. Eine ähnlich wichtige Rolle spielt der gleichnamige Soundtrack zum Film Był sobie dzieciak von Leszek Wosiewicz, der auch für den Film Kornblumenblau verantwortlich zeichnete. Das von Wojtek Waglewski gesungene und geschriebene Lied ist ebenfalls im Stil der 1940er gehalten und wie auch Mein kleines Herz extra für den Film komponiert worden. Die Melodie kehrt im Film als Hintergrund und Handlungselement immer wieder. Auch Wosiewiczs Film über einen jun-
253 Colosseum, o. J. „Unsere Mütter, unsere Väter.“ Colosseum Music Entertainment, URL: https://colosseum. de/ js_ albums/ unsere- muetter- unsere- vaeter/ , Zugriff am 12. April 2019. Im Film selbst wird bis auf Gretas Auftritte nur einmal im Zum Alten Fritz gesungen (Dann wollen wir wieder in die Heimat ziehen). 254 Vgl. Dan Contreanti. 2014. „Katharina Schüttler landet Nummer Eins-Hit.“ Berliner Zeitung, 21. Februar 2014, URL: https://www.bz-berlin.de/berlin/katharina-schuettler- landet- nummer- eins- hit, Zugriff am 4. Mai 2018.
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gen Polen, der sich den Kämpfen des Warschauer Aufstands zunächst nicht anschließen will und eine Affäre mit einer volksdeutschen Frau beginnt, die wie sich später herausstellt, mit den Männern der SS-Sondereinheit Dirlewanger kollaboriert, kann wie Warschau ’44 als eine Abhandlung über das Erwachsenwerden im Krieg, während des Warschauer Aufstands verstanden werden. Musik spielt auch in Unser letzter Sommer eine sehr wichtige Rolle – sowohl als zentrales Element der Handlung, als auch als Hintergrundmusik. Guido ist für das Hören „entarteter“ Musik nach Polen eingezogen worden; der Plattenspieler und die Jazzmusik, die Romek aus einem von einem jüdischen Opfer an der Selektionsrampe zurückgelassenen Koffer erbeutet hat, bringt die drei – Franka, Romek und Guido zum ersten Mal zusammen; schließlich lädt Guido Franka zum gemeinsamen Musikhören eines feindlichen Senders auf den Speicher des Quartiers der Gendarmerie ein: Die Musik, die sie zusammenbringt und bei ihrem ersten gemeinsamen Mal begleitet, ist es letztlich auch, die sie auseinanderbringt und Frankas Schicksal besiegelt, weil die Jazzklänge aus dem amerikanischen Sender im Radio über den Lüftungsschacht getragen und vom Oberleutnant entdeckt werden und sie verraten. Die Entscheidung Rogalskis, in Unser letzter Sommer kaum auf Musik zur emotionalen Steuerung der Zuschauer zurückzugreifen, war sehr bewusst: Es gibt ja kaum Musik in dem Film. Das war eine von mir bewusst getroffene Entscheidung. Für mich ist Musik ein emotionales Handicap. Wenn auf der Leinwand etwas Gefühlvolles passiert, dann kann die Musik viel dazu beitragen. Ich wollte das Publikum aber nicht auf gefühlvolle Weise „erpressen“. Daher gibt es nur zwei Stücke von Alexander, eines in der Mitte, und eines am Ende. Alexander [Hacke, Anm. JRG] hat eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet, aber es fühlte sich in gewisser Hinsicht angemessener an, wenig Musik zu verwenden. Es sollte keinen Wettbewerb zwischen der Musik und dem Film geben. 255
Dadurch werde der Film stärker, harscher und schwerer anzusehen, im Zuge dessen aber umso wirkungsvoller, so Rogalski. 256 Die Deutsche Filmund Medienbewertung FBW befindet: „Die Musik ist wohltuend zurückhaltend und entwickelt ihre Tonalität aus Maschinen- und Umweltgeräuschen mit eingewobenen Jazzklängen und -stücken“. 257 Eingerahmt 255 farbfilm verleih, Unser letzter Sommer. Presseheft, S. 12; siehe auch Interview mit Michał Rogalski, Bonusmaterial zur DVD zu Unser letzter Sommer, Min. 00:07:48– 00:09:20. 256 Interview mit Michał Rogalski, Bonusmaterial zur DVD zu Unser letzter Sommer, Min. 00:09:03–00:09:20. 257 Auszug aus der Jury-Begründung der FBW zur Verleihung des Prädikats besonders wertvoll, FBW, o. J. „Film Unser letzter Sommer | Deutsche Filmbewertung
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wird Unser letzter Sommer musikalisch von den Klängen des wehmütigen, polnischen Tangos Bez ´sladu (dt. ohne Spur), gesungen von Wiera Gran aus dem Jahr 1936. Das zeitgenössische Lied ist sowohl zu Beginn des Films als auch zu dessen Ende zu hören. Der Text erzählt von einer großen Liebe, die spurlos vergeht, und spiegelt damit die hoffnungslosen, ersten Lieben der beiden Hauptcharaktere Guido und Romek wider. Ein weiteres aussagekräftiges Beispiel für die Verknüpfung von Musik als Marker für Authentizität und als Handlungselement ist das Singen des Liedes Polenmädchen während eines Kameradschaftsabends in Unser letzter Sommer. Bei der Begrüßungsfeier für den neuen Oberleutnant stimmt ein Chor der Soldaten dieses bereits Ende des 19. Jahrhunderts verfasste und seit dem Ersten Weltkrieg in Soldatenkreisen beliebte Lied an. Der Text beschreibt das Zusammentreffen mit einem schönen polnischen Mädchen, um dessen ersten Kuss der Erzähler wirbt. Das Lied ist auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht aus dem Repertoire deutscher Volkslieder verschwunden: Schlagersänger Heino hat es Anfang der 1970er-Jahre neu vertont. Ein anderes eindrückliches Beispiel zeitgenössischen Liedgutes, das für die Doppelrolle der Musik im Film steht, ist das Singen des Fahnenlieds der Hitlerjugend im deutschen Spielfilm Napola – Elite für die Führer aus dem Jahr 2005. Die jungen Schüler der Nationalpolitischen Lehranstalt, der Napola in Allenstein, singen zum Appell dieses Lied, das 1933 veröffentlicht und im Propagandafilm Hitlerjunge Quex uraufgeführt wurde. Der Propagandafilm richtete sich an die formbaren Jugendlichen der NS-Zeit. Eine besondere Rolle kam dabei dem erwähnten Lied, dessen Text aus der Feder des Reichsjugendführers Baldur von Schirach stammte, zu. Unsere Fahne flattert uns voran 258 wird gewissermaßen zum Leitmotiv des Films, der durch geschickte Nutzung damaliger Filmkonventionen vor allem über die akustische Ebene Einfluss zu nehmen suchte. Besagtes Marschlied unterstreicht dabei den vermeintlich positiven Charakter der Hitlerjugend im Gegensatz zu den Kommunisten, deren Darstellung durch schrille Töne und mit Jazz-Motiven oder der Internationalen unterlegt wurden. 259 Heute ist das Fahnenlied, das durch den Film Hitlerjunge Quex als offizielle Hymne der Hitlerjugend popularisiert wurde, in Deutschland nach § 86a
und Medienbewertung FBW“ fbw-filmbewertung.com, URL: https://www. fbw- filmbewertung. com/ film/ unser_ letzter_ sommer, Zugriff am 26. Juni 2016. 258 Der offizielle Titel war Vorwärts! Vorwärts! schmettern die hellen Fanfaren. Das Lied ist weiterhin als Fahnenlied der Hitler-Jugend bekannt. 259 Vgl. Michael Rohrwasser. 2012. „Hitlerjunge Quex. Brüderhorden am Ende der Zwischenkriegszeit.“ In: Staat in Unordnung? Geschlechterperspektiven auf Deutschland und Österreich zwischen den Weltkriegen. Herausgegeben von Stefan Krammer, Marion Löffler und Martin Weidinger, Bielefeld: transcript Verlag, S. 139–153, hier: S. 145–147.
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StGB (Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen) verboten. In modernen Spielfilmen über Jugend im Nationalsozialismus wie Napola – Elite für den Führer findet es als authentifizierendes Element aber weiterhin Verwendung. Wie schon auf der visuellen Ebene beschreitet Jan Komasa in Warschau ’44 auch musikalisch neue Wege, die mit etablierten Seh- und Hörgewohnheiten brechen. Während Musik in ihrer Funktion als Handlungselement in Warschau ’44 wie auch in den anderen untersuchten Erinnerungsfilmen fester Bestandteil der zeitgenössischen Jugendkultur ist – es wird gesungen und getanzt – und insofern als Authentizitätsmarker verwendet wird, ist bei der Auswahl der Hintergrundmusik im Film ein klarer Bruch zu erkennen. So gehören nicht-zeitgenössische Werke wie Czesław Niemens AntiKriegssong Dziwny jest ten ´swiat von 1967, Katarzyna Sobczaks Był taki kto´s von 1964 und Marino Marinis Nie płacz, kiedy odjad˛e aus dem Jahr 1964 zu den Stücken, mit denen Komasa seinen Film zum Warschauer Aufstand untermalt. Noch mehr sticht das moderne elektronische Musikstück Hypnotixx von Jimek heraus, das die in Slow-Motion gedrehte Sexszene zwischen Kama und Stefan musikalisch verstärkt. Aber auch zeitgenössische Lieder wie O’KEY von Eugeniusz Bodo (1934), Złociste Chryzantemy (1939) von Janusz Popławski, oder Ju˙z nie zapomnisz mnie von Władysław Szpilman, dessen Memoiren Polanski in Der Pianist verfilmte, sind Teil der Filmmusik in Warschau ’44. Komasa verwendet auch zeitgenössische deutsche Titel wie den Militärmarsch Wenn die schwarze SS und die braune SA aufmarschiert (1933) oder Herz, du kennst meine Sehnsucht (1936) von Marta Eggerth. Während diese Lieder eher zur Untermalung der Handlung dienen, verhält es sich bei Umówiłem si˛e z nia˛ na dziewiat ˛ a, ˛ ursprünglich interpretiert von Eugeniusz Bodo, anders. Das Lied, das mindestens seit seiner Verwendung in Roman Polanskis Der Pianist einen hohen Wiedererkennungswert als authentisches, zeitgenössisches Lied haben dürfte, wird von den Jugendlichen beim nächtlichen Baden im See bei Alicjas Elternhaus in sommerlicher Idylle vor Ausbruch des Aufstands gesungen. Ähnlich verhält es sich mit dem Lied Złociste Chryzantemy, das mehrmals im Film in verschiedenen Funktionen vorkommt: Einerseits wird es bei der Hochzeitsfeier von Beata und Kobra von den tanzenden Gästen gesungen, andererseits ist es an anderer Stelle in der Originalversion von 1939 als Hintergrundmusik zu hören. Komasa nutzt Musik also nicht nur im Rahmen etablierter Mechanismen als Mittel zur Authentifizierung, Dramatisierung und Emotionalisierung der Geschichte im Film, sondern wie schon die ihm zur Verfügung stehenden visuellen Stilmittel auch, um mit Sehgewohnheiten zu brechen. Gleichwohl: Auch zu Warschau ’44 erschien ein klassischer, instrumentaler Soundtrack, den Antoni Komasa-Łazarkiewicz komponierte und der vom Orchester Sinfonietta Cracovia unter der
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Leitung von Szymon Bywalec eingespielt wurde. Ebenso wurde auch zu Warschau ’44 ein Titelsong komponiert. Miasto von Anna Iwanek, Pati Sokół und Piotr Cugowski ist allerdings mit Mein kleines Herz kaum zu vergleichen. Anders als der von Katharina Schüttler interpretierte Song zu Unsere Mütter, unsere Väter ist Miasto im Stil eines modernen Popsongs gehalten. Im zugehörigen Musikvideo werden zahlreiche Filmszenen aus Warschau ’44 verwendet und auch inhaltlich greift der Song, der von einer großen Liebe und einer zerstörten Stadt erzählt, die Erinnerung an den Warschauer Aufstand auf. Im Film selbst spielt der Song allerdings keinerlei Rolle – wohl aber in dessen Vermarktung – und ist daher ebenfalls als Teil der CD des offiziellen, 17-teiligen Filmsoundtrack zu hören. Auch in der Verwendung von Filmmusik lassen sich also Tendenzen beobachten, die über nationale Grenzen hinweg Gültigkeit zu haben scheinen. Filmmusik spielt, soviel ist klar, eine wichtige, unterstützende Rolle sowohl in der Emotionalisierung als auch in der Dramatisierung der Geschichte im Film, kann aber ebenso als Authentifizierungselement dienen und weit über die Funktion der Hintergrundmusik hinaus ein relevantes Handlungselement der Filmgeschichte sein.
3.4 Transnationalisierung und Intertextualität Filme werden erst in ihrem sozialen Kontext zu Erinnerungsfilmen. Es liegt daher nahe, Erinnerungsfilme im Kontext einer Transnationalisierung auch unter dem Gesichtspunkt der Intertextualität – oder genauer: einer transnationalen Intertextualität – zu betrachten. Diese Intertextualität übt auf verschiedenen Ebenen Einfluss auf den Erinnerungsfilm, nämlich in seiner Entstehung und Ausgestaltung genauso wie in seiner Rezeption. Viele der Mythenmacher der dritten Generation behaupten, in ihren Erinnerungsfilmen die Geschichte ihrer Großmütter und Großväter zu verarbeiten. Während das zum Teil der Wahrheit entsprechen und die Erinnerungen der Erlebnisgeneration den Anstoß zur filmischen Auseinandersetzung mit dem Thema geben mag, scheint ein mindestens ebenso großer Einfluss auf die Erinnerungsfilme aus dem nationalen und internationalen Fundus an Texten über den Zweiten Weltkrieg zu entstammen. Entsprechend lohnt es, Motivationen und Herangehensweisen der Mythenmacher an die Vergangenheit auch unter diesem Gesichtspunkt genauer zu untersuchen. Das schließt sowohl eine Berücksichtigung schriftlicher Quellen – Fachbücher wie Belletristik – als auch anderer audiovisueller Medien ein, die Filmemachern als Inspirationen für ihre Produktionen
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dienen. 260 Mit Texten sind also keineswegs nur literarische Texte im engsten Sinne gemeint, die in schwarzen Lettern auf weißem Papier niedergeschrieben wurden, sondern kulturelle Bedeutungselemente vielerlei Art, so auch Klassiker der Filmgeschichte. Filme nehmen in ihrer Repräsentation der Geschichte häufig auf andere Filme zum gleichen Thema Bezug, benutzen Darstellungsweisen, die früher schon gut funktioniert haben, und sind Produktionszwängen ihrer Zeit unterworfen, die ebenfalls einen Einfluss auf die Erzählweisen haben können. Diese Intertextualität sei aber, so Helsing, nicht auf den Film allein beschränkt, sondern weite sich auch auf andere gesellschaftliche Diskurse, Buchvorlagen, geschichtswissenschaftliche Berater usw. aus: „After all, the mechanism of intertextuality does not suddenly stop at the borders of cinema“. 261 Und man könnte auch hinzufügen: In Zeiten der Globalisierung macht sie auch vor nationalen Grenzen keinen Halt mehr. Diese potenziell transnationale Intertextualität erwächst aus und wirkt auf allen Ebenen des Erinnerungsfilms: in seiner Produktion, in seiner Narration und in seiner Rezeption. Sie muss daher auch aus der Perspektive der Filmschaffenden betrachtet werden, deren Biografien nicht unwichtig für die Art und Weise ihres Umgangs mit dem historischen Filmsujet sind. Nicht nur die Austragungsräume, sondern auch die Erfahrungsräume der Filmschaffenden stehen potenziell unter dem Einfluss einer Transnationalisierung. Besonders deutlich wird dies in internationalen Biografien, die wie bei Paweł Pawlikowski, dem Macher des oscarprämierten Films Ida, Witold Pasikowski, dem Regisseur des Skandalfilms Pokłosie oder Anna Justice, der Filmschaffenden hinter Die verlorene Zeit durch längere Auslandsaufenthalte gekennzeichnet sind. Robert Thalheim verfilmte in seinem Holocaustfilm der dritten Welle, Am Ende kommen Touristen, sogar einen Teil seiner eigenen, internationalen Biografie: die Zivildiensterfahrung in der Gedenkstätte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz und den Umgang mit deutsch-polnischem Erinnern heute. Aber auch ohne derlei eigene Emigrationserfahrungen sind die Berührungspunkte der jungen Generation von Filmschaffenden mit anderen Kulturen in einer sich globalisierenden Welt und einem Europa ohne Binnengrenzen mannigfaltig. Eine wichtige Quelle für Erinnerungsfilme heute spielt nach wie vor wissenschaftliche Fachliteratur. So berichtet es beispielsweise Michał Rogalski auf bereits erwähnter Pressekonferenz anlässlich der 40. Filmfestspiele
260 Vgl. Toplin, The Filmmaker as Historian. S. 1227. 261 Hesling, The past as story, S. 195.
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in Gdynia. Abgesehen vom dezidierten Fokus auf Normalität und Alltäglichkeit lässt sich in Szenen und Figuren aus Unser letzter Sommer unschwer eine Nähe zu Christoper Brownings Ganz normale Männer erkennen. Wenngleich Rogalski selbst dazu keine Angaben macht, so findet sie sich doch in einem Interview mit Schauspieler Steffen Scheumann, der in Unser letzter Sommer den Oberleutnant mimt. Er gibt an, zur Vorbereitung auf seine Rolle Daniel Goldhagens umstrittenes Buch Hitlers willige Vollstrecker gelesen zu haben. 262 Ob ihm auch die Debatte um Goldhagens Dissertationsschrift bekannt ist, ist nicht überliefert – auch wenn es schwierig gewesen sein dürfte, diese auszuklammern, hatte Goldhagen doch seinerzeit mit den Thesen seines Buches schon vor Veröffentlichung in Deutschland eine große Kontroverse ausgelöst, die er selbst in einem Vorwort zur deutschen Auflage aufgreift. 263 Interessanterweise bezieht sich Goldhagen auf dasselbe Quellenmaterial zum Polizeibataillon 101 in Ostpolen, das auch Browning für obengenanntes Buch nutzte. Zur Erinnerung: Eine der wichtigsten Währungen des modernen Erinnerungsfilms ist die Illusion der Authentizität, die er zu erzeugen vermag. Wenn es also darum geht, eine gefühlte Authentizität zu erzeugen und sich zu diesem Zweck auch professioneller, historischer Arbeitsmittel zu bedienen, begeben sich Filmemacher in gewisser Weise, wie bereits im Abschnitt zu den Produktionskontexten erläutert, auf das Terrain der Historiker. 264 Auch für den umstrittenen Film Pokłosie von Władysław Pasikowski diente eine wissenschaftliche Abhandlung als Inspiration, nämlich Jan Tomasz Gross’ ebenso umstrittenes Werk Nachbarn. Darüber hinaus bediente sich der Regisseur verschiedenster weiterer Quellen. Das einprägsame Bild des gekreuzigten Kalina am Scheunentor aber war eine Idee eines befreundeten Regisseurs, die nicht im direkten Kontext von Pokłosie, sondern schon Jahrzehnte zuvor entstand. Ebenso verhält es sich mit den Flammen, die zwischen den jüdischen Grabsteinen auf dem Feld der Kalinas das Getreide niederbrennen. Dieses Bild entstammt einer schon Jahrzehnte zurückliegenden Beobachtung Pasikowskis, bei der ein Arbeiter das Unkraut auf einem verlassenen jüdischen Friedhof niederbrennt. 265 Auch Memoiren sind unter den Quellen der Mythenmacher häufig zu finden. Nicht immer so eindeutig, wie bei Anna Justice, die für Die
262 Interview mit Scheumann, Bonusmaterial zur DVD zu Unser letzter Sommer, Min. 00:00:42–00:01:10. Dort spricht er fälschlicherweise von Hitlers willige Helfer. Scheumann erwähnt außerdem die autobiografischen Werke des Holocaustüberlebenden Marek Edelman als Quelle. 263 Vgl. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. 264 Vgl. bspw. Carnes, Shooting (Down) the Past; Toplin, The Filmmaker as Historian. 265 Vgl. Subbotko, Pasikowski: Nasz naród nie jest wybrany.
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verlorene Zeit auf die Lebenserzählungen des polnischen Auschwitz-Überlebenden Jerzy Bielecki Wer ein Leben rettet . . . : Die Geschichte einer Liebe in Auschwitz zurückgriff. Darin erzählt Bielecki von seiner Liebe zur Jüdin Cyla Cybulska und ihrer gemeinsamen Flucht aus dem Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. Deutsche Medien hatten die Geschichte bereits Ende der 1990er in den Printmedien und Dokumentationen aufgegriffen 266, in Polen waren die Erinnerungen Bieleckis bereits 1990 erschienen. Aber auch Jan Komasa griff für die erste Version des Drehbuchs zu Warschau ’44 auf Memoiren, nämlich die Pami˛etniki z˙ołnierzy Baonu „Zo´ska“, also Tagebücher der Soldaten des Bataillons „Zo´ska“, zurück. 267 Weniger eindeutig sind auf den ersten Blick die literarischen Einflüsse auf Unser letzter Sommer, doch sind sie zweifelsohne ebenso vorhanden. So ist eine der zentralen Szenen des Films, in der Soldat Guido Hausmann von den Jazz-Klängen aus Romeks Zimmer angelockt wird, wo dieser mit Franka gemeinsam die Platten aus dem Koffer von der Desinfektionsrampe hört, und die Musik in diesem Moment die drei Jugendlichen auf einer ganz grundlegenden Ebene verbindet. Für einen kurzen Moment sind die Hierarchien der Besatzungssituation vergessen, die Animositäten und Zweifel nebensächlich. Entlehnt ist diese Szene einem sehr ähnlichen Erlebnis, das der ehemalige polnische Zwangsarbeiter Leopold Tyrmand in seinem Buch U brzegów jazzu (dt. An den Ufern des Jazz) beschreibt. Im Schilf von den Klängen eines amerikanischen JazzLiedes angezogen, entdeckt der polnische Zwangsarbeiter in Deutschland einen deutschen Soldaten. Für einen kurzen Moment verbindet die Musik sie und alles scheint möglich – sogar eine Freundschaft. Doch der Moment vergeht und sie gehen wieder auseinander, zurück in die Rollen, die ihnen angesichts der herrschenden Machtverhältnisse zufallen: der eine als polnischer Zwangsarbeiter, der andere als deutscher Soldat. 268 So ähnlich ist es auch bei Romek und Guido, deren Wege sich für einen kurzen Moment kreuzen und wenn nicht Krieg wäre, dann wären sie vielleicht Freunde geworden. Diese mögliche Welt zumindest wird auch in der Rezeption des Films immer wieder eröffnet. Rogalskis Anspruch war, eine Geschichte jenseits der Schlagzeilen zu erzählen. Auch im polnischen Filmheft berichtet Rogalski über seine Be266 Vgl. bspw. Thilo Thielke. 1999. „Auf dem Boden der Hölle.“ Der Spiegel, Nr. 2/1999, S. 56–66 und die Dokumentation von Eine Liebe in Auschwitz von Jens Nicolai für Spiegel TV aus dem Jahr 2001, URL: https://www. spiegel. tv/ videos/ 169409- eineliebe- in- auschwitz, Zugriff am 23. Juni 2019. ´ 267 Kino Swiat, Pressbook Miasto 44, S. 5. Siehe außerdem die bereits in der Betrachtung der Mythenmittler erwähnten Einflüsse durch Mrówka na szachownicy und Z fałszywym ausweisem w prawdziwej Warszawie. 268 TVP Polonia. Interview mit Kulturalni.pl. Min. 5:24–6:01.
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weggründe, mit Unser letzter Sommer einen weiteren Film über den Zweiten Weltkrieg zu drehen – allerdings einen, der eine andere, nicht so von Stereotypen beladene Perspektive der Kriegszeit kolportiert. Dort erwähnt Rogalski eine weitere literarische Inspiration, nämlich Heinrich Bölls Aufenthalt in X, und ein dort erzähltes Gespräch zwischen einem deutschen Soldaten und einem ungarischen Mädchen: „Was denkst du?“ fragte sie ganz plötzlich. Es war wie ein sanfter, sehr sicherer Schuß, der das Ziel traf, in meinem Inneren einen Damm zerbrach, und noch ehe ich Zeit fand, schnell noch einmal ihr Gesicht zu sehen im Licht der aufblakenden Glut, sprach ich schon: „Ich denke gerade, wer in siebzig Jahren in diesem Zimmer liegen wird, wer auf diesem halben Quadratmeter hier sitzen oder liegen wird und was er wissen wird, von dir und mir. Nichts“, sagte ich, „er wird eben nur wissen, daß Krieg war.“ 269
Nun befänden wir uns an genau diesem Punkt, 70 Jahre später. Und er, Rogalski, wolle eben nicht, dass wir nur erinnerten, dass Krieg war, sondern den jungen Menschen ein Gesicht geben. 270 Insofern ist Rogalski mindestens ebenso sehr Moralist wie Experte des Vergangenen und historisch arbeitender Filmemacher, sein Ansatz lässt sich mit Hesling als postmodern bezeichnen: Postmodern fiction has to undermine the idea of an unproblematic past and awaken the reader to the ways in which cultural meanings are being produced, in order to have him question the processes with which we represent ourselves and our world to ourselves. 271
Rogalskis Herangehensweise an die Geschichte der Besatzungszeit ist sicherlich eine postmoderne, eine fast politische, die auch vor der Kontroverse nicht zurückschreckt. Damit sieht er sich selbst bezogen auf die zwei großen Filmschulen Polens nicht in der Tradition Andrzej Wajdas, sondern eher in der Tradition des schon 1961 verstorbenen polnischen Regisseurs Andrzej Munk, der für Eroica (1958) und Die Passagierin (1963, fertiggestellt von Witold Lesiewicz) bekannt wurde. Dieser stehe, so Rogalski, für eine „eher ironische Beschreibung der Wirklichkeit“. 272 Auch diese Tendenz begründet Rogalski in seiner Familiengeschichte: Als seine Großmutter während der Besatzungszeit einmal mit seinem Vater aus der ´ 269 Kino Swiat. 2016. Folder Edukacyjny Letnie Przesilenie. URL: http://www. kinoswiatedukacji. pl/ filmy/ letnie- przesilenie, Zugriff am 8. Juni 2016, S. 7; Zitiert nach dem deutschen Original: Heinrich Böll. 2017. „Aufenthalt in X (1950).“ In: „Wanderer, kommst du nach Spa . . . “. Erzählungen. Heinrich Böll, 47. Auflage. München: dtv. S. 93–104, hier: S. 99. ´ 270 Vgl. Kino Swiat, Folder Edukacyjny Letnie Przesilenie, S. 7. 271 Hesling, The past as story, S. 201–202. 272 Armata, „Histori˛e tworza˛ zwykli ludzie“, S. 43.
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Stadt hinaus in ein Feriendorf fuhr, erzählten ihr Nachbarinnen, dass ihr in Warschau zurückgebliebener Mann ihr untreu geworden sei. Die Großmutter setzte sich sofort mit dem Sohn in den Zug, fuhr nach Warschau zurück „und dort . . . die Stunde W. 273 Der 1. August 1944. Das ist doch reine Ironie“. 274 Auch in den Narrationskontexten also hat die persönliche Geschichte der Filmemacher, haben die Mythenmacher einen wichtigen Platz. Wie bereits im Kontext der Inszenierung erwähnt, ist der Einfluss von Claude Lanzmanns Meisterwerk Shoah auf Unser letzter Sommer nicht zu leugnen. Als weitere filmische Vorbilder zitiert Rogalski, wie ebenfalls schon beschrieben, Terrence Malicks Der Baum des Lebens (2011) und Wojciech Marczewskis Dreszcze (1981). Aus letzterem entlehnten Rogalski und Kammermann Jerzy Zieli´nski die Filmtechnik mit der Handkamera, die sie als Ästhetik des Fehlers bezeichnen. 275 Rezensenten erkannten aber durchaus auch andere Parallelen in Filmklassikern, beispielsweise in Edward Dmytryks Die jungen Löwen (1958) mit Marlon Brando und Dean Martin, der in parallelen Handlungssträngen dem Schicksal dreier junger Männer während des Zweiten Weltkriegs folgt und als einer der ersten Antikriegsfilme gilt. 276 Die Frage nach filmischen Einflüssen und Vorbildern gehört mittlerweile zum festen Repertoire der Journalisten in Interviews mit den Filmemachern. Jan Komasa nennt als die wichtigsten filmischen Inspirationen für Warschau ’44 die Filme Der Kanal von Wajda, Apokalypse Now, Wege zum Ruhm 277 und Der Soldat James Ryan 278. Als Regie-Vorbilder sieht er Martin Scorsese, Francis Ford Coppola und Roman Pola´nski 279, also neben zwei amerikanischen auch einen der großen polnischstämmigen Filmemacher, der mit Der Pianist Standards in der Verfilmung des Zweiten Weltkriegs gesetzt hat. Eine Vielzahl insbesondere der jungen Schauspieler, die an Erinnerungsfilmprojekten beteiligt sind, nannte in Interviews diesen Film ebenfalls als konstitutiv für ihr Verständnis der damaligen
273 Mit der Stunde W ist der Beginn des Aufstands um 17:00 Uhr am 1. August 1944 gemeint. 274 Armata, „Histori˛e tworza˛ zwykli ludzie“, S. 43. 275 Vgl. ebd. 276 Vgl. bspw. Jerzy Doroszkiewicz, der Unser letzter Sommer als polnische Version von Die jungen Löwen „oder auch ein subtileres ‚Pokłosie‘“ bezeichnet. Jerzy Doroszkiewicz. 2016. „Letnie przesilenie.“ poranny.pl, 23. April 2016, URL: http:// www. poranny. pl/ kultura/ recenzje/ a/ letnie- przesilenie- wideo,9910187/ , Zugriff am 28. Februar 2017. 277 TVP VOD, Miasto 44: Jan Komasa o Powstaniu Warszawskim, Min. 10:09–10:25. ´ 278 Kino Swiat, Pressbook Miasto 44, S. 15. 279 Ebd., S. 14.
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Zeit. Einflüsse von Der Soldat James Ryan meint Jan Süselbeck auch bei Philipp Kadelbachs Unsere Mütter, unsere Väter ausmachen zu können. Der Literaturwissenschaftler stellt fest, dass sich in Unsere Mütter, unsere Väter die „Emotionalisierungsstrategien und dramaturgischen Formen filmischer Gesamtdarstellungen, wie sie in Hollywood bereits Welterfolge erzielt haben“ finden lassen. 280 Jörg Gerle wiederum sieht als eindeutige Vorlage für Unsere Mütter, unsere Väter den Filmklassiker Im Westen nichts Neues, der hier von Drehbuchautor Stefan Kolditz als Blaupause genommen worden sei. 281 In seiner Bildsprache wiederum sei Unsere Mütter, unsere Väter inspiriert durch „die Erzählweise in amerikanischen Serien wie ‚Band of Brothers‘, ‚Homeland‘ oder ‚Mad Men‘“. 282 Alle genannten sind äußerst populäre Serien aus Hollywood, die ab Beginn der 2000er-Jahre realisiert wurden. Obgleich Erinnerungsfilme auf eine Vielzahl von nationalen und transnationalen Texten zurückgreifen, reklamieren viele der Mythenmacher für sich, die Geschichte anders darzustellen, als das in vielen der Spielfilme zuvor der Fall war, gar mit Tabus zu brechen. Einerseits möchte das Publikum etwas sehen, das es noch nicht kennt, andererseits will es seine Sehgewohnheiten und Erwartungen bestätigt sehen. Mythenmacher bewegen sich also immer im Spannungsfeld von Erneuerung und Bestätigung des Althergebrachten, um die Illusion der Authentizität aufrechtzuerhalten und gleichzeitig das Interesse des Publikums zu wecken. Wie viel Innovationspotenzial steckt also in Erinnerungsfilmen, die immerhin damit werben, mit etablierten Erzählweisen, Tabus und Stereotypen zu brechen? Viele gestalterische Möglichkeiten im Hinblick auf ein Geschichtsbewusstsein misst Ferro diesen Filmen nicht bei: „Sie sind lediglich die filmische Umsetzung einer Geschichtsanschauung, die von anderen entworfen wurde.“ 283 Sicherlich spiegeln Spielfilme häufiger Trends in der Erinnerungskultur, statt sie zu setzen. Ein Beispiel dafür ist Pasikowskis Pokłosie, der die Thematik des polnischen Antisemitismus und der Mittäterschaft aufgreift. Allerdings sind Erinnerungsfilme durchaus in der Lage, gesellschaftliche und auch geschichtswissenschaftliche Debatten auszulösen, wie Bösch un-
280 Süselbeck, War Sells, But Who’s Buying? S. 36. 281 Vgl. Jörg Gerle. o. J. „Unsere Mütter, unsere Väter (2012)“, Filmdienst.de, URL: http://www. filmdienst. de/ kinokritiken/ einzelansicht/ unsere- muetter- - unsere- vaeter- - 2012- ,541563. html, Zugriff am 27. November 2017. Süselbeck analysiert die Szenen, für die der Roman von Erich Maria Remarque Pate stand, eingehend in einer Rezension auf literaturkritik.de. Süselbeck, Fünf Freunde. 282 Kruse, Noch eine letzte Party. Während sich Wir waren wie Brüder / Band of Brothers auch mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt, sind die beiden anderen Beispiele zumindest inhaltlich nicht direkt übertragbar. 283 Ferro, Gibt es eine filmische Sicht der Geschichte?, S. 21.
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ter anderem am Beispiel von Väter und Söhne und dem IG Farben-Werk in Auschwitz sowie dem TV-Spielfilm Die Wannseekonferenz, aber auch der filmischen Darstellung des deutschen Widerstands zeigt. 284 Welche Teile der Geschichte im Film aufbereitet werden, ist eine Funktion von Selektivität und Interpretation – was nach Hesling wiederum einen gewissen Spielraum für Innovationen eröffnet, denn „the greater part of the past still waits to be transformed into audiovisual history“. 285 Aus der Perspektive der Filmproduzenten lohnt es, vor allem auf diejenigen erzählerischen Elemente in den Erinnerungsfilmen hinzuweisen, die vermeintlich revolutionär und ein Novum in der aktuellen Vergangenheitsdebatte sind. Ein Beispiel ist die Diskussion über die Kriegsgeneration anlässlich der Ausstrahlung von Unsere Mütter, unsere Väter, die in den Medien als Bruch in der Darstellung der Deutschen im Geschichtsfilm dargestellt wurde, nämlich als Rückeroberung des Rechts der Erinnerung der eigenen Opfer, der Deutschen als Leidtragenden des Kriegsgeschehens mehr als dessen Täter. Wie Wirtz ausführt, ist dies keineswegs eine neuere Entwicklung 286, sondern Norbert Frei hatte bereits zum 60. Jahrestag des Kriegsendes 2005 moniert, dass „sich die Unterschiede zwischen Tätern, Opfern und Mitläufern verwischen“ 287. Mit merklichem Stolz berichtet Drehbuchautor Stefan Kolditz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass man zum ersten Mal den Antisemitismus in der polnischen Heimatarmee aufgegriffen habe, was freilich kurz nach der Ausstrahlung der Miniserie zu einem diplomatischen Eklat zwischen Deutschland und Polen führte. Zu nennen sind aber auch die Debatte um polnische Schuld und Kollaboration in Unser letzter Sommer, Pokłosie oder Ida. Ein weiteres Beispiel ist die Erinnerung an die Vergewaltigungen durch die Rote Armee und das Schicksal der Masuren, die in Smarzowskis Ró˙za aufgegriffen werden. Spielraum für neue narrative Elemente oder aber ein neuartiges Arrangement etablierter Erzählstränge ist also, wie nicht nur der Fall Unser letzter Sommer zeigt, durchaus gegeben. Das kann auch auf das im Film bereits viele Male bearbeitete Thema des Zweiten Weltkriegs zutreffen. 2008 antwortete Rogalski anlässlich der Preisverleihung des Hartley-Merrill-Drehbuchpreises für Unser letzter Sommer auf die Frage, warum er (noch!) einen Film über den Zweiten Weltkrieg geschrieben habe, dass der Zweite Weltkrieg für ihn nur der Aufhänger sei. 288 Die Kernbotschaft der
284 285 286 287
Vgl. Bösch, Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft, S. 9; S. 10 f. Hesling, The past as story, S. 197. Vgl. Wirtz, Alles authentisch, S. 27. Norbert Frei. 2005. 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen. München: C. H. Beck, S. 14. 288 Vgl. Cichmi´nski, Debiutujacy ˛ re˙zyser i scenarzysta postrzegany jest jak hochsztapler.
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Filmgeschichte sei universeller. Darin ähneln die Beweggründe denen, die auch schon Wojciech Smarzowski für Ró˙za oder Paweł Pawlikowski für Ida anführten. Auch für sie war der Zweite Weltkrieg einem allgemeinen Trend entsprechend lediglich der Hintergrund für ihre Handlung, die nicht große Kriegsereignisse oder zentrale Figuren der Geschichte fokussiert. 289 Dieser Fokus von Erinnerungsfilmen auf ganz normalen Menschen wiederum ist ebenfalls nicht gänzlich neu, wie Marc Ferro an Beispielen aus den 1940ern und 1970ern zeigt, „mit denen sozusagen die Ära der anonymen Geschichte eingeleitet wird, also der Geschichte, die unter den Auswirkungen der ‚großen‘ Geschichte zu leiden hat, der Geschichte der Wirkungen von geschichtlichen Ereignissen und ihrer tragischen Konsequenzen“. 290 Auch der westdeutsche Film der 1980er-Jahre stellte diese Alltagsgeschichte in den Vordergrund, wurde jedoch in den 1990er-Jahren durch eine Fokussierung auf Eliten abgelöst, die lange den Erinnerungsfilm prägte. 291 Für den polnischen Film stellt Korzeniewska fest, dass „[d]ie Einwirkung des Kulturtraumas des Krieges“ anhält, was sich dadurch bemerkbar mache, „dass die deutsche Besatzung seit der Nachkriegszeit sein Zentralthema ist“. 292 Sie sieht wenig Innovationspotenzial im modernen, polnischen Film, der auch weiterhin eine Fortsetzung der Traditionen des polnischen Nachkriegskinos vor 1989 aufweise. Es lasse sich sogar „eine ‚merkwürdige Unfähigkeit‘ des polnischen Gegenwartskinos – insbesondere der jüngeren Generation der Regisseure – von der Geschichte anders zu reden“, als das in den Klassikern des polnischen Films getan wurde, ausmachen. 293 Obgleich aber die Darstellung der Vergangenheit im Film ähnlich geblieben sein mag – man erinnere sich auch an das weiter oben erwähnte Comeback einiger Erzählfiguren und Stereotype –, so ist doch die Deutung der Geschichte vielschichtiger geworden. Ähnlich sieht es Król, der feststellt, dass ein neues Bild der Deutschen im polnischen Film nicht existiere, aber anders als Korzeniewska Potenzial sieht, dass sich dies in Zukunft ändern könne. 294 Innovativ oder nicht – ein Punkt scheint im historischen Erinnerungsfilm für die Zuschauer dies und jenseits der Oder in allen Fällen nicht verhandelbar: die Authentizität der Geschichte. Oder besser: das, was eine
289 Vgl. Kaes, History and Film, S. 119. Außerdem Pakier, European Holocaust Memory, die das für Aimée & Jaguar feststellte. 290 Ferro, Gibt es eine filmische Sicht der Geschichte?, S. 21. 291 Vgl. Bösch, Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft, S. 23. 292 Korzeniewska, Liminalität und Post-Erinnerung, S. 168. 293 Ebd., S. 191, vgl. auch S. 189. 294 Vgl. Król, Obraz Niemców w polskim filmie fabularnym, S. 170.
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gelungene Illusion von Authentizität ausmacht. Transnationalisierung und Intertextualität spielen hier eine wichtige Rolle. Erzählfiguren, die sich wiederholen und damit verfestigen, bestätigen Sehgewohnheiten und Erwartungen des Publikums. Durch den Bezug auf bekannte, fiktionale oder nicht-fiktionale Texte (im Sinne von kulturellen Texten) erhöhen sich Glaubwürdigkeit und wahrgenommene Authentizität der Vergangenheit im Erinnerungsfilm. Nicht nur andere Filme, sondern auch belletristische und wissenschaftliche Literatur üben ihren Einfluss auf die Erinnerungsfilme aus. Ebenso verhält es sich mit persönlichen Erfahrungen der Regisseure, Ego-Dokumenten der Erlebnisgeneration und mündlich überlieferten Erzählungen ihrer Großmütter und Großväter. Intertextualität ist daher unbestritten ein wichtiger Faktor und ein wichtiges Wirkungsfeld in der Transnationalisierung von Erinnerungsfilmen. Deutlich wird, dass sich die Themenkomplexe Intertextualität und Transnationalisierung nicht eindeutig einer Stufe des Entstehungsprozesses eines Erinnerungsfilms zuordnen lassen. Vielmehr bewegen sie sich vor allem an der Grenze von Produktionskontexten sowie vor allem Narrationskontexten und Rezeptionskontexten – und um letztere soll es im dritten und finalen Abschnitt dieser Arbeit gehen.
3.5 Zwischenfazit: Stereotype und kein Ende Nationale Stereotype spielen nach wie vor eine überragende Rolle in der Strukturierung von Erinnerungsfilmen. Durch den persönlichen Kontakt, den die Reisefreiheit der Europäischen Union allen ihren Bürgerinnen und Bürgern möglich macht, könnte man zu dem Schluss kommen, dass Deutsche und Polen die Gelegenheit mehrfach genutzt haben sollten, ihr Bild des jeweils anderen (und vielleicht auch ihrer selbst) auf den Prüfstand zu stellen. Ernüchternd sind da die Zahlen, die suggerieren, dass Polen für viele Deutsche noch immer ein unbekanntes Land ist, während viele Polen bereits das westliche Nachbarland besucht haben – sei es für Urlaubsreisen oder zu Arbeitszwecken. 295 Zwar gibt es durchaus Tendenzen, die auf eine differenziertere Darstellungsweise des Anderen hindeuten. Doch diese De- und Rekonstruktion 295 Nicht unerwähnt bleiben sollte hier aber auch, dass zwischen der DDR und Polen zeitweise ein reger touristischer Austausch stattfand, der sehr wohl zu einem deutlich positiveren Polenbild in Ostdeutschland führte, vgl. auch Lempp, West-östliche Bilder; Ruchniewicz, Stehlen die Polen immer noch die deutschen Autos? S. 7. und Mateusz Fałkowski und Agnieszka Popko. 2006. „Niemcy o Polsce i Polakach 2000– 2006. Główne wnioski z badania.“ Instytut Spraw Publicznych, URL: http://www. isp. org. pl/ files/ 2230181550438527001151481324. pdf, Zugriff am 11. Juli 2018.
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von Hetero- und Autostereotypen sollte nicht überbewertet und keineswegs als universelle Entwicklung verstanden werden. Aktuelle geschichtspolitische Entwicklungen deuten eher auf eine Renationalisierung der Geschichte hin. Auf den ersten Blick mag dies in Anbetracht der sehr medienwirksam durchgeführten gesellschaftlichen und politischen Anpassungsprozesse der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit vor allem in Polen zutreffen. Aber die langsame Umdeutung der Deutschen vom Täter- zum Opfervolk, die angesichts öffentlichkeitswirksamer Bekundungen aus der Politik kaum mehrheitsfähig erscheint, hat in Formaten wie Unsere Mütter, unsere Väter auch längst (wieder) die deutschen Wohnzimmer erreicht. Auch auf der Ebene der Narrationskontexte ist das Streben nach einer möglichst perfekten Illusion von Authentizität handlungsleitend. Genrespezifische Authentifizierungsstrategien stellen ein übergreifendes Element dar – egal ob auf inhaltlicher, visueller oder auditiver Ebene. Das Innovationspotenzial moderner Erinnerungsfilme ist dadurch beschränkt, wollen Zuschauer doch ihre Sehgewohnheiten bestätigt sehen. Gleichwohl streben Mythenmacher danach, in ihren Werken Neues zu schaffen. Der Abbau von überholten Hetero- und Autostereotypen ist eines der erklärten Ziele der jungen Generation von Filmschaffenden, die in ihren Werken bereits auf einen großen Fundus von fiktionalen und non-fiktionalen Texten zum Zweiten Weltkrieg und den deutsch-polnischen Beziehungen in der Besatzungszeit zurückgreifen können. Im Sinne einer kritischen Erzählweise wird dieser aber von den Mythenmachern neu interpretiert, erweitert und infrage gestellt. Dieser Fundus ist nicht national begrenzt, sondern unterliegt transnationalen Einflüssen. Häufig sind deren Ursprünge im Hollywoodkino der Vereinigten Staaten von Amerika zu verorten. Jugend und Erwachsenwerden als übergreifende Motive erlauben es den Mythenmachern, gleich mehrere der Bedürfnisse an einen modernen Erinnerungsfilm zu befriedigen. Ganz normale Menschen statt großer Persönlichkeiten der Weltgeschichte bieten einen hohen Grad an Freiheit in der Ausgestaltung der Charaktere, die oftmals nicht einem konkreten Vorbild folgen, sondern in denen eine Vielzahl von Biografien zusammenfließt. Für die oftmals jungen Zuschauer bieten die von jungen Mythenmittlern dargestellten Charaktere eine ideale Identifikationsfläche. Die Universalität ihrer Erfahrungen – des Erwachsenwerdens, der Suche nach einem Platz in der Welt, der ersten, tragischen Liebe und des Verlusts der Unschuld im mehrfachen Sinne – dürften diesen Effekt nur noch verstärken. Sowohl eine Emotionalisierung als auch eine Privatisierung der Erinnerung im Film wird dadurch erleichtert. Gleichzeitig bieten ebendiese Figuren eine besonders gute Projektionsfläche für die Umkehr von Täter- und Opferbildern, die vor allem auf Seiten der deutschen Erinnerungskultur genutzt wird.
Rezeptionskontexte
4. Rezeption der Filmgeschichte
Erinnerungsfilme müssen produziert werden, sie müssen inszeniert und mit Inhalten gefüllt werden. Zum Erinnerungsfilm wird ein Spielfilm aber erst in seinem sozialen Kontext. 1 Kein Film wird allein deswegen als Erinnerungsfilm bewertet, weil er sich eines historischen Themas annimmt. Eine entscheidende Rolle in diesem Prozess spielen die Rezeptionskontexte eines Films, d. h. seine Vermarktung und Platzierung im Kontext anderer Erinnerungsfilme und gesellschaftlicher Debatten über die Vergangenheit. Im folgenden Kapitel sollen diese Kontexte untersucht werden, innerhalb derer Spielfilme über die Vergangenheit rezipiert werden. „Die Rezeption von Schindlers Liste zeigte, wie sehr das Medium Spielfilm mittlerweile als ein legitimes Mittel zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit galt“, schreibt Frank Bösch über den Erinnerungsfilm der 1990er-Jahre. 2 Gemeint ist damit die Rezeption des Films in der Presse, welche als Spiegel und Macher öffentlicher Meinung gleichermaßen ein Abbild gesellschaftlicher Erinnerungskonjunkturen ist. Auch Unser letzter Sommer, Unsere Mütter, unsere Väter und Warschau ’44 haben ein beachtliches Presseecho ausgelöst, das zu analysieren ein Teil der Aufgabe dieses Kapitels ist. Dabei ist von besonderem Interesse, in welche größeren gesamtgesellschaftlichen Debatten über die Vergangenheit die Filme in Deutschland und Polen eingebettet werden und welche Brüche und Kontinuitäten sich im Sinne einer Transnationalisierung der Erinnerungskultur beobachten lassen. Diese Debatten können bereits seit Jahrzehnten geführt werden, wie zum Beispiel die Schulddebatte im Kontext von Kollaboration mit den deutschen Besatzern während des Zweiten Weltkriegs in Polen, oder aber ganz aktueller und universeller Natur sein, wie die aktuelle Flüchtlingssituation in Europa, in deren Kontext beispielsweise Unser letzter Sommer auf Resonanz traf. 1 Erll & Wodianka, Film und kulturelle Erinnerung. 2 Bösch, Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft, S. 19 – Hervorhebung im Original.
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Rezeption der Filmgeschichte
Sicher ist, dass die Rezeption moderner Erinnerungsfilme in Deutschland und Polen auch im Kontext der Filmlandschaft, die die Sehgewohnheiten der Zuschauer geformt hat, untersucht werden muss. Immer noch steht aber die Rezeptionsforschung vor einer unlösbaren Frage, denn „[w]as das Publikum am Ende aus Geschichtsfilmen mitnimmt, kann selbst die Medienwirkungsforschung bis heute nicht ermitteln“ 3 – klar ist aber, dass Informationen über die Geschichte angeeignet werden 4. Auch diese Arbeit wird das Grundproblem, das angesichts einer sich ständig und rasant wandelnden Medienlandschaft immer mehr an Komplexität gewinnt, nicht lösen. Wohl aber kann eine Analyse der Rezeptionskontexte fruchtbar gemacht werden, in welche die Filme eingebettet und innerhalb derer sie rezipiert werden. Nach Bösch sind „Spielfilme zumindest Erinnerungsangebote, deren kollektive Anerkennung die breite Öffentlichkeit bei ihrer Ausstrahlung aushandelt – sei es per Fernbedienung oder Kinobesuch, durch Gespräche über sie oder durch veröffentlichte Kritiken“. 5 Bevor Erinnerungsfilme einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden, sind es meist Journalisten und Fachleute, die auf Filmfestspielen und in Sondervorführungen zuerst das Endprodukt der Mythenmittler und Mythenmacher betrachten und evaluieren können. Von ihrem Votum hängt viel ab, denn ihre positiven oder negativen Rezensionen können den weiteren Werdegang eines Erinnerungsfilms stark beeinflussen. Ent-
3 Lindner, 2007, S. 223; zitiert nach Fischer & Schuhbauer, Geschichte in Film und Fernsehen, S. 35. 4 Siehe auch den Beitrag in Geschichte in Wissenschaft und Unterricht von Sabine Moller zur Filmwirkungsforschung, in dem die Autorin aufzeigt, wie sich die verschiedenen Forschungsansätze der letzten hundert Jahre gewinnbringend zusammenführen ließen, um den Einfluss von Spielfilmen auf das Geschichtsbewusstsein besser zu verstehen. Sabine Moller. 2013. „Movie-Made Historical Consciousness. Empirische Antworten auf die Frage, was sich aus Spielfilmen über die Geschichte lernen lässt.“ Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 64, Heft 7/8 2013, S. 389–404. Ebenfalls aufschlussreich ist die in derselben Ausgabe beschriebene Studie von Andreas Sommer, mit der der Autor die Forschungslücke zur Wirkung von Filmen auf die Bildung von Geschichtsbewusstsein zu schließen versucht, die er in einem bis dato geringen Interesse der Geschichtswissenschaften und einer uneinheitlichen und lediglich sporadischen Befassung der Sozialwissenschaften an der Thematik begründet sieht. Andreas Sommer. 2013. „‚Da kommt das Bild aus dem Film‘. Eine empirische Studie zur Rezeption und Wirkung von Historienfilmen.“ Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 64, Heft 7/8 2013, S. 427–440. Auch informativ sind die Ergebnisse der Untersuchung von Christoph Kühberger et al. zum Umgang mit Geschichte und Spielfilm unter Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe I, die 2010 bis 2012 in Österreich durchgeführt und in dem Band Geschichte denken 2013 publiziert wurde. Christoph Kühberger. Hrsg. 2013. Geschichte denken. Zum Umgang mit Geschichte und Vergangenheit von Schüler / innen der Sekundarstufe I am Beispiel „Spielfilm“. Empirische Befunde – Diagnostische Tools – Methodische Hinweise. Innsbruck u. a.: StudienVerlag. 5 Bösch, Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft, S. 1.
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sprechend bemüht sind die Produktionsfirmen, die Pressestimmen über umfangreiche Pressemappen, Begleitmaterial und eine gezielte Nutzung der individuellen Strahlkraft der Mythenmacher und Mythenmittler positiv zu beeinflussen. Und entsprechend relevant ist die Untersuchung der so entstandenen Rezensionen 6, um einen Eindruck von der Rezeption der Erinnerungsfilme zu erlangen. Besser verständlich gemacht werden können die den Rezeptionskontexten zugrundeliegenden Prozesse, wenn eine Analyse auch unter Berücksichtigung sozialpsychologischer Prozesse stattfindet, wie sich bereits in der Betrachtung von Stereotypen im Film andeutete. Bei ebenjener Analyse sollte der Versuchung widerstanden werden, von der eigenen Rezeption auf die der Zuschauer zu schließen, denn notwendigerweise lesen sie die Filme anders, als es aus einer wissenschaftlich geleiteten Perspektive der Fall ist. Man müsse vielmehr beachten, so Janet Staiger, dass die Geschichte sowohl die Publika als auch die kulturellen Texte, die diese rezipieren, hervorbringe und beide daher nur in ihrem Kontext verständlich werden. Zudem solle man nicht der Versuchung erliegen, eine gewisse Homogenität innerhalb der Publika anzunehmen, d. h. zu denken, alle Zuschauer verstünden einen Film auf die gleiche Art und Weise. 7 Nicht nur sind Publika heterogen, sondern auch die Botschaften, die ein Film als kultureller Text vermittelt, haben nicht nur eine mögliche Lesart – wenngleich auch eine dieser möglichen Lesarten dominant sein mag und durch die Vermarktung und Platzierung des Films begünstigt werden kann. Ferner muss man davon ausgehen, dass ein und derselbe Film zu verschiedenen Zeitpunkten anders rezipiert wird. Interessant ist in diesem Zusammenhang beispielsweise, dass Rogalski und sein Team berichten, dass während der Filmvorstellungen von Unser letzter Sommer in Deutschland 2015, als das Thema der Flucht vieler Millionen Menschen vor Krieg, Verfolgung und Hunger nach Europa virulent war, der Aspekt der Fluchterfahrung der Jüdin Bunia immer wieder aufgegriffen wurde – obgleich diesem Teil der Erzählung im Film nur verhältnismäßig wenig Raum gegeben wird. 6 In dieses Kapitel fließen die Ergebnisse der Auswertung von rund 130 Artikeln aus Deutschland, Polen und vereinzelt auch anderer Provenienz zu den drei hier beispielhaft untersuchten Erinnerungsfilmen, hinzu kamen Pressemappen und Material für den Schulunterricht. Hier lässt sich beobachten, dass die deutsche Produktion Unsere Mütter, unsere Väter ein besonders großes Medienecho in Deutschland hervorgerufen hat, aber auch in Polen rezipiert wurde, während über Warschau ’44 vor allem in den polnischen Medien berichtet wurde. Die polnisch-deutsche Koproduktion Unser letzter Sommer hingegen scheint in beiden Ländern etwa gleich viel mediale Aufmerksamkeit erhalten zu haben. 7 Vgl. Janet Staiger. 1992. „Film, Reception and Cultural Studies.“ The Centennial Review, Vol. 36, Nr. 1, S. 89–104.
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Moderne Erinnerungsfilme werden zudem in den verschiedensten Kontexten konsumiert. Sie können im Kino auf der großen Leinwand ausgestrahlt werden, womöglich in 3D-Technologie, was ein plastisches Nacherleben der Filmhandlung befördern soll. Sie können bequem zu Hause im Fernsehen gesehen werden, allein oder gemeinsam. Immer üblicher wird es zudem, Filme im zeitlichen Umfeld ihrer Ausstrahlung auch in den Mediatheken der Fernsehsender zur Verfügung zu stellen. Alle hier untersuchten Erinnerungsfilme sind außerdem bei den Streaming-Diensten wie Amazon Prime, Netflix oder Maxdome verfügbar. Der Zuschauer kann die Filme dort vollkommen unabhängig von der Tageszeit, an einem Stück oder mit Unterbrechungen immer wieder sehen, dabei Szenen wiederholen oder überspringen und zwischen Tonspuren hin und herwechseln. Theoretisch ist der Konsum der Vergangenheitsbilder im Erinnerungsfilm dadurch völlig entgrenzt – denn anders als bei DVD oder Blu-Ray ist kein spezielles Abspielgerät notwendig. Auch das Smartphone, das viele Menschen, insbesondere die Zielgruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, heutzutage ständig bei sich tragen, ist technisch in der Lage, dieses Seherlebnis möglich zu machen. Alle diese vielschichtigen Faktoren gilt es zu beachten, möchte man sich der Rezeption von Erinnerungsfilmen nähern. Zu Beginn soll zunächst die Vermarktung der Spielfilme betrachtet werden, die den Boden für eine Rezeption als Erinnerungsfilme bereitet.
4.1 Vermittlung und Vermarktung von Vergangenheitsbildern Geschichte im Film ist längst zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor geworden. Entsprechend groß ist das Interesse der Filmemacher, ihre Werke so gut wie möglich zu platzieren. Einen wesentlichen Beitrag zur Wahrnehmung eines Films als Erinnerungsfilm tragen Produktionsfirmen und Filmverleihe durch die gezielte Vermarktung eines Films bei. Dazu gehören nicht nur der Zeitpunkt der Veröffentlichung in Kino, Fernsehen oder auf DVD, sondern viele weitere Faktoren wie die Auswahl des Filmtitels, ein gezieltes Marketing, Pressebegleitung und vieles mehr. Immer häufiger werden Historienfilme nicht einfach nur „konsumiert“, sondern die Zuschauer nutzen zunehmend auch begleitende Medienangebote, die ihnen vor allem online nahegelegt werden: Hintergrundinformationen zum Film, Interviews mit Schauspielern, Gespräche mit Zeitzeugen und Experten, Bücher und Filme sowie sonstiger Content. 8
8 Satjukow & Gries, Hybride Geschichte und Para-Historie, S. 16.
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Viele dieser Faktoren lassen sich zu einem erheblichen Maß durch die Verantwortlichen steuern. Sie setzen sozusagen den „Mythomotor“ Film erst in Gang und bringen ihn auf Kurs. Die Möglichkeiten, die Produktionsfirmen und Filmverleihe haben, um Filme als Erinnerungsfilme zu vermarkten, sind notwendigerweise durch gegenwärtige Vergangenheitsdiskurse und gesellschaftliche Prädispositionen bedingt. Ein Film kann zum Zeitpunkt seiner Erstausstrahlung nicht den sprichwörtlichen Nerv der Zeit treffen und vorerst als Erinnerungsfilm scheitern, durchaus aber zu einem späteren Zeitpunkt auf Zuschauerbedürfnisse treffen, die ihn zum Erinnerungsfilm umdeuten. Im Folgenden sollen zwei Hauptfaktoren in den Fokus gestellt werden, um die Relevanz der Vermarktung für die Transnationalisierung der Erinnerungsfilme und der durch sie verbreiteten Geschichtsbilder besser zu verstehen. Warschau ’44 war in seiner Vermarktung als Eventkino angelegt. Ebenso verhielt es sich im Falle der deutschen Produktion Unsere Mütter, unsere Väter. Diese beiden Filme stehen für einen allgemeinen Trend, Geschichte im Spielfilm immer mehr zum Fernseh- und Kinoevent zu machen. „Die Interpretation von Geschichte durch die Massenmedien ist ein Teil der Erinnerungskultur. Dazu gehört auch die Produktion und Vermarktung von Geschichtsfilmen.“ 9 Mit gigantischen Werbeplakaten wurde im Kontext der Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Warschauer Aufstands 2014 für Warschau ’44 geworben (siehe Abb. 7). Der Film wurde am 1. August 2014 im Rahmen der offiziellen Feierlichkeiten am symbolischen Ort im Warschauer Nationalstadion im Beisein von Zeitzeugen uraufgeführt. In die Kinos kam Warschau ’44 erst einige Wochen später, nämlich am 19. September 2014. Dass Komasas Film in die bereits etablierten Erinnerungspraktiken zum Aufstandsgedenken integriert wurde, bestätigt und befördert seine Bedeutung für die Vermittlung von historischem Wissen zum nationalen Erinnerungsort Warschauer Aufstand. Der Zeitpunkt und der Ort der Uraufführung eines Erinnerungsfilms können einen großen Einfluss auf seinen Erfolg und seine Rezeption haben. In einem Kontext, in dem das geschichtliche Ereignis bereits im Fokus der Aufmerksamkeit steht, fällt ein Erinnerungsfilm, der das geschichtliche Wissen in emotionalisierter, personalisierter und dramatisierter Art und Weise am Einzelschicksal jugendlicher Protagonisten zu erzählen vermag, auf sehr fruchtbaren Boden. Ebenso lassen sich mit einem symbolischen Ort und Zeitpunkt einer Uraufführung geschichtspolitische Zeichen setzen. So feierte der Film Historia Roja über den verfemten Soldaten
9 Saryusz-Wolska & Piorun, Verpasste Debatte, S. 131.
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Abbildung 7: Filmplakat zu Warschau ’44 am elfstöckigen PAST-Gebäude, seit 2000 Sitz verschiedener Veteranenorganisationen der Heimatarmee in der Warschauer Zielna Straße 39 (privates Foto, Rebecca Großmann).
Mieczysław „Rój“ Dziemieszkiewicz 2016 am 29. Februar, also am Vorabend des nationalen Gedenktages für die verfehmten Soldaten, in der Kinoteka im Warschauer Kulturpalast Premiere. Die verfemten Soldaten, die als Widerstandskämpfer für ein freies Polen insbesondere in den nationalkonservativen Kreisen der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit als Helden verehrt werden, hatten sich auch gegen die kommunistischen Besatzer aufgelehnt und waren unter den nach dem Krieg in Polen herrschenden Kommunisten verfolgt worden. Dass dieser Film also im Kulturpalast, dem Geschenk Stalins an die Polen, seine Premiere feierte,
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entbehrte nicht einer gewissen Ironie, die auch Staatspräsident Andrzej Duda anlässlich der Premierenfeierlichkeiten bemerkte. 10 Das Fernseh- oder Kinoevent besteht nicht nur aus der Ausstrahlung der Filme selbst, sondern wird durch Dokumentationen und bereits im Zusammenhang mit den Produktionskontexten erwähnte Talkrunden ergänzt, in denen oftmals die Mythenmittler als fiktive Zeitzeugen zu Wort kommen. Saryusz-Wolska und Piorun bezeichnen dieses Phänomen als „Konvergenzkultur“, für die Kadelbachs Unsere Mütter, unsere Väter ein Paradebeispiel sei. 11 Nicht nur für die Veröffentlichung in Deutschland im Frühjahr 2013, sondern auch für die Ausstrahlung in Polen im Sommer 2013 trifft diese Feststellung zu. Die TV-Miniserie wurde von Dokumentationen und Talkrunden umrahmt, diente darüber hinaus aber auch im Internet und in den Printmedien als Anstoß zur Diskussion individueller Erinnerungen wie auch der kollektiven Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den Vernichtungskrieg im Osten. Ein Motion Comic, der die Vorgeschichte der fünf Freunde aus Unsere Mütter, unsere Väter erzählt, war per App auf Smartphone und Tablet kostenlos abrufbar. 12 Ein Angebot, das sich ganz klar an die Generationen Y und Z, also an die Digital Natives richtet, deren Aufmerksamkeit mit klassischen digitalen und analogen Begleitangeboten, wie beispielsweise eines Live-Chats mit den ZDF-Redakteuren, nicht mehr so leicht gewonnen werden kann. Unter dem Hashtag #umuv sollten vor allem die jüngeren Zuschauer dazu angeregt werden, sich auch im Internet über die Miniserie auszutauschen. Begleitmaterialen im Internet, zum Beispiel Unterrichtsmaterialien, Interviews mit Schauspielern oder Regisseuren, Statements von Zeitzeugen usw. verstärken den „Gestus des Authentischen der Event-Filme“ nochmal. 13 Diese Nutzung des Internets als zweitem Medium, in dem die Diskussionen um die Filme fortgeführt werden und durch ein Rahmenprogramm ergänzt werden, bewertet Schlanstein als „eine sich selbst fortschreibende Authentisierung des Themas und seiner Inhalte“. 14
10 Vgl. Stowarzyszenie Filmowców Polskich. 2016. „Prezydent RP na uroczystej premierze ‚Historii Roja‘.“ Stowarzyszenie Filmowców Polskich, 1. März 2016, URL: https://www. sfp. org. pl/ 2016/ wydarzenia,5,22759,0,1,Prezydent- RP- na- uroczystejpremierze- Historii- Roja. html, Zugriff am 8. Dezember 2018. 11 Saryusz-Wolska & Piorun, Verpasste Debatte, S. 120. 12 Der Motion Comic erzählte unter anderem, wie sich die Freunde kennenlernten und untermauert die Charakterisierung der Brüder Winter als anständig und der nationalsozialistischen Ideologie immun: Die beiden helfen Viktor, der von Angehörigen der Hitler-Jugend verfolgt wird. 13 Wirtz, Alles authentisch, S. 22. 14 Schlanstein, Echt wahr! Annäherungen an das Authentische, S. 221.
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Gewissermaßen schließt sich mit den Rezeptionskontexten ein Kreis, denn insbesondere in der Vermarktung treten die Figuren der Mythenmittler und der Mythenmacher wieder in den Vordergrund und ihre zentrale Funktion wird deutlich. Ihre persönlichen Verknüpfungen mit dem Vergangenheitsstoff, mit dem sich ein potenzieller Erinnerungsfilm befasst, sind beliebtes Thema in den zahlreichen filmbegleitenden Interviews in Print- und Onlinemedien, Radio oder TV. Die bereits erwähnten Talkrunden, die sich üblicherweise mit tagespolitischem Geschehen beschäftigen, sind nur ein möglicher Ort für die daraus resultierenden Vergangenheitsdebatten. Dieses Phänomen lässt sich insbesondere im Zusammenhang mit dem sogenannten Eventkino beobachten, d. h. bei Filmen wie Unsere Mütter, unsere Väter oder Warschau ’44, deren Ziel neben einer möglichst hohen Zuschauerquote auch der Anstoß einer gesamtgesellschaftlichen Debatte ist. Regisseur Jan Komasa und die Hauptdarsteller Anna Próchniak und Józef Pawłowski diskutierten im polnischen Frühstücksfernsehen den Warschauer Aufstand, Schauspielerin Christiane Paul sprach bei Markus Lanz über den Zweiten Weltkrieg. Das Format des Eventkinos bzw. des Fernsehevents beschränkt sich keinesfalls nur auf Kadelbachs Miniserie. ZDF-Intendant Thomas Bellut betonte im Oktober 2018: „Die Event-Fiction ist ein Markenzeichen des ZDF für herausragendes zeitgeschichtliches und historisches Erzählen.“ Ziel des Senders müsse es sein, alle Generationen zu erreichen. 15 Dass die Vermarktung eines Erinnerungsfilms als Eventkino aber keine Zwangsläufigkeit ist, lässt sich exemplarisch hervorragend an der deutschen Fernsehausstrahlung von Unser letzter Sommer erkennen, die von einem Fernsehevent weit entfernt war. Die späte Ausstrahlung um 22:45 Uhr an einem Dienstagabend in der Reihe Filmdebüt im Ersten am 13. Juni 2017 und ferner die fehlende Einbettung der Geschichte in den historischen Kontext zeigen dies überdeutlich. Entsprechende TV-Dokumentationen zur Besatzungszeit in Polen stehen spätestens seit Unsere Mütter, unsere Väter sendefertig zur Verfügung, eine der zahlreichen Talkrunden, die es in den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten beinahe täglich gibt, hätte das Thema sicherlich während des Sommerlochs aufgreifen können. Auch bei seinem Kinostart hatte es Unser letzter Sommer nicht leicht. Während der Film in Deutschland bereits im Oktober 2015 in die Kinos kam, wurde er in Polen erst im April 2016 einem breiteren Publikum zugänglich gemacht, weil der Film einerseits nicht leicht zu verkaufen war und man zunächst die
15 ZDF Presse und Information. 2018. „ZDF setzt mit Event-Fiction Maßstäbe. Intendant Bellut: ‚Wir müssen alle Generationen erreichen‘.“ Presseportal des ZDF, 5. Oktober 2018, URL: https://presseportal. zdf. de/ pressemitteilung/ mitteilung/ zdf- setztmit- event- fiction- massstaebe/ , Zugriff am 11. Oktober 2018.
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Filmfestivals besuchen wollte 16 und andererseits die Förderregularien in Deutschland einen Start in 2015 erforderlich machten 17. Dabei hatte Unser letzter Sommer mit seiner internationalen Premiere bei den Filmfestspielen in Montreal 2015 alle Chancen, als ein transnational wirksamer Erinnerungsfilm wahrgenommen zu werden. Die oben skizzierten Mechanismen der Filmvermarktung sind nicht nur Eventfilmen vorbehalten, sondern werden auch von leiseren Filmen wie Unser letzter Sommer benutzt, die nicht das Potenzial zum Event- oder Skandalfilm haben. Interviews mit den Hauptdarstellern Jonas Nay, Urszula Bogucka, Filip Piotrowicz, Bartosz Topa, Agnieszka Krukówna und Steffen Scheumann erschienen in deutschen und polnischen Print- und Onlinemedien. Für die deutschen Produzenten wurde stellvertretend Thomas Jeschner porträtiert, und in der großen polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza erschien ein großes deutsch-polnisches Interview mit Regisseur Michał Rogalski. Ausgewählte Interviews sind zudem als Zusatzmaterial auf der DVD zum Film verfügbar. Gleichwohl schien schon bei der Vermarktung des Films die Platzierung als Erinnerungsfilm eher zögerlich: Ein Gewinnspiel, das den Kinostart in Deutschland begleiten sollte, fragte nach der polnischen Hauptstadt und lockte mit einer Reise nach Krakau als Hauptgewinn. Weitere Gewinnspiele zu den DVD-Veröffentlichungen auf der deutschen Facebook-Seite 18 zum Film und der polnischen Facebook-Seite des PISF 19 vermieden schließlich jeglichen Bezug zur Filmthematik. Stattdessen fragte man die FacebookGemeinde, was sie am liebsten am Sommer möge bzw. nach dem Filmfestival, auf dem Unser letzter Sommer für das beste Drehbuch ausgezeichnet wurde sowie nach dem Autor dieses Drehbuchs. Die richtige Marketingstrategie, ästhetische Filmplakate, aufregende Trailer und der perfekte Zeitpunkt für den Launch sind wichtige Elemente in der Vermarktung eines Erinnerungsfilms. Eines der auffälligsten Merkmale in der Vermarktung eines Films aber ist sein Titel, der hier exemplarisch für die vielschichtigen Vermarktungsstrategien genauer betrachtet werden soll. Der Titel eines Erinnerungsfilms soll nicht zuletzt 16 Produzent Maciej Strzembosz, FPFFGdynia, 40. FFG – Konferencja prasowa filmu „Letnie przesilenie“, Min. 24:42–24:52. 17 Persönliche Korrespondenz mit Thomas Jeschner, Sunday Filmproduktions GmbH, E-Mail vom 31. August 2017. 18 Vgl. den Post auf der Facebook-Seite zum Film vom 13. Mai 2016, in dem die User um ein Like und einen Kommentar dazu, was sie am Sommer am liebsten mögen, gebeten werden. Siehe auch den Post vom 23. Oktober 2015, wo nach der Geburtsstadt von Jonas Nay gefragt wurde, URL: https://www. facebook. com/ unserletztersommer/ , Zugriff am 7. März 2017. 19 Vgl. Facebook-Seite des PISF, Post vom 31. August 2016, URL: https://www. facebook. com/ InstytutFilmowy/ photos/ a. 193877073988707/ 1254442137932190/ ? type= 3& theater, Zugriff am 7. März 2017.
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das Interesse der Zuschauerinnen und Zuschauer wecken. Der Titel, unter dem ein Film veröffentlicht wird, muss dabei nicht unbedingt der Arbeitstitel des Filmprojekts sein, unter dessen Mantel der Film produziert wurde. So wurde auch in Deutschland das Projekt Letnie przesilenie in seiner deutschen Übersetzung als Sommersonnenwende bzw. unter dem internationalen Titel Summer Solstice gehandelt. Erst später entschied man sich aus Marketinggründen, den Titel für den deutschen Markt in Unser letzter Sommer zu ändern. 20 Im Interview mit Audiovisualni.pl erklärt Rogalski zum Originaltitel Letnie przesilenie: „Der Titel selbst bezieht sich auf die Zeit des Wandels, einen Zeitraum – verbunden mit einem Feiertag – wenn es den Leuten so vorkommt, dass ihnen mehr erlaubt ist als normalerweise.“ 21 Die Sommersonnenwende am 21. Juni eines jeden Jahres markiert den Tag, an dem die Sonne ihren höchsten Stand erreicht. Danach werden die Tage wieder kürzer und die Nächte länger, alles ändert sich. Nach astronomischer Definition beginnt mit diesem Tag der Sommer. Der Tag der Sommersonnenwende hatte als mystischer Tag in der slawischen Religion einen festen Platz, aber auch in der altgermanischen Tradition, auf die der Nationalsozialismus rekurrierte. Sonnenwendfeiern erlebten bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Renaissance durch die Jugendbewegung 22 und wurden integraler Teil der nationalsozialistischen Mythologie, 23 der auch in der heutigen rechtsradikalen Szene noch gepflegt wird. Der Titel von Rogalskis Coming-of-Age-Drama entbehrt aber auch nicht einer gewissen Tragik, markiert er doch einen Wendepunkt und verdeutlicht, dass nach diesem Sommer, der Jahreszeit, in der die Natur in ihrer vollen Blüte und Pracht steht, so wie auch die jugendlichen Protagonisten in der Blüte ihrer Jugend sind, alles anders wird. Auf den Sommer folgt der Herbst, mit dem ein Ende verbunden ist. Der polnische Journalist Krzysztof Połaski greift in seiner Rezension den deutschen Filmtitel, den er sehr treffend findet, auf. Denn für die drei Protagonisten „war es tatsächlich der letzte Sommer dieser Art. Sie sind gegen ihren Willen erwachsen geworden und nach fremden Maßstäben. Obwohl sie versucht haben, sich zu verteidigen, mussten sie nachgeben. [. . . ] Selbst wenn sie den Krieg
20 Persönliche Korrespondenz mit Thomas Jeschner, Sunday Filmproduktions GmbH, E-Mail vom 31. August 2017. 21 Anna Kilian. o. J. „Michał Rogalski – wywiad o filmie Ostatnia akcja.“ Audiowizualni.pl, URL: http://www. audiowizualni. pl/ index. php/ aktualnosci/ polecane- wywiady/ wywiady- spis- alfabetyczny/ 1810- michal- rogalski- wywiad- o- filmie- ostatniaakcja, Zugriff am 4. November 2017. 22 Vgl. Rüdiger Sünner. 1999. Schwarze Sonne. Entfesselung und Missbrauch der Mythen in Nationalsozialismus und rechter Esoterik. Freiburg im Breisgau: Herder Verlag, S. 24. 23 Vgl. ebd., S. 80.
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überleben, werden sie tot sein, denn ihr wichtigstes Teilchen – vielleicht die Seele – starb im Sommer 1943.“ 24 Angesprochen wird mit dem deutschen Titel aber nicht nur das Schicksal der Protagonisten, sondern auch eine imaginäre Erinnerungsgemeinschaft, die über die nationalen Grenzen hinausgeht. Die Personen, deren letzter Sommer hier gemeint ist, sind nicht zuvorderst Polen oder Deutsche. Vielmehr tritt auch hier die Nationalität in den Hintergrund und die Erfahrung einer nationenübergreifenden jungen Kriegsgeneration wird in den Vordergrund gerückt. Zu sehr jedoch sollte man sich nicht durch den deutschen Titel Unser letzter Sommer fehlleiten lassen, der eine gewisse Nähe zur zwei Jahre zuvor veröffentlichten Miniserie Unsere Mütter, unsere Väter aufweist, welcher ebenfalls auf eine imaginäre, vergangene (und gegenwärtige) Gemeinschaft verweist. Der Titel Unsere Mütter, unsere Väter deutet bereits auf die Kernabsicht der Filmemacher, mit ihrem Projekt den intergenerationellen Dialog in deutschen Familien anzuregen. Das Hauptaugenmerk liegt auf einem nationalen Publikum im Sinne einer imagined community 25 nach Benedict Anderson, die hier vorausgesetzt wird. Anders als bei Rogalski ist dieses Wir aber nicht transnational-inklusiv, sondern national-exklusiv: Es sind nur die Mütter und Väter der Deutschen, die gemeint sind und deren Vergangenheit besprochen werden soll. Ralf Wiegand befindet in seiner Rezension in der Süddeutschen Zeitung: „Unsere Mütter, unsere Väter ist ein bleischwerer Titel, und es hat eine Menge Diskussionen gegeben, ein regelrechtes Namens-Casting mit 30, 40 Vorschlägen. Aber man kann den Titel sogar gut finden“. 26 Produzent Nico Hofmann begründet diese Titelentscheidung damit, dass es sich ja in dem Film um seinen Vater und seine Mutter handle, und er daher Unsere Mütter, unsere Väter treffender als beispielsweise Der Krieg der Deutschen oder Der Krieg empfunden habe. 27 Neben dem Gesamttitel der Miniserie verfügen die einzelnen Teile ferner über eigene Titel, die die Erlebnisse der Kriegsgeneration abgrenzen und deren Andersartigkeit und Wandel aufgrund der äußeren Umstände betonen: Eine andere Zeit, Ein anderer Krieg, Ein anderes Land. 24 Krzysztof Połaski. 2016. „‚Letnie przesilenie‘. Nasze ostatnie lato [Recenzja].“ Telemagazyn.pl, 26. April 2016, URL: https://www. telemagazyn. pl/ artykuly/ letnie- przesilenie- nasze- ostatnie- lato- recenzja- 50243. html, Zugriff am 6. Dezember 2018. Diese Anspielung auf den deutschen Titel ist auch ein schönes Zeichen dafür, dass eine transnationale Rezeption stattgefunden hat. 25 Benedict Anderson. 2006. Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. Überarbeitete Auflage. London: Verso. 26 Ralf Wiegand. 2013. „Als sei alles gestern passiert.“ Süddeutsche Zeitung, 16. März 2013, URL: http://www. sueddeutsche. de/ medien/ 2. 220/ unsere- muetterunsere- vaeter- im- zdf- als- sei- alles- gestern- passiert- 1. 1626004, Zugriff am 3. Oktober 2016. 27 Vgl. Freidel et al., Filmproduzent Nico Hofmann im Gespräch.
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Ein Beispiel für die Emotionalisierung der Erinnerung im Film ist der Untertitel zu Jan Komasas Warschau ’44, im polnischen Original Miasto 44, also dt. ‚Die Stadt 44‘. Der Untertitel Miło´s´c w czasach apokalipsy, also Liebe in Zeiten der Apokalypse, wurde in seiner offiziellen deutschen Version durch Liebe. Widerstand. Apokalypse. ersetzt, büßt aber seine Grundelemente nicht ein. Gleichsam wird der Ausnahmezustand betont und eine Emotionalisierung der Geschichte befördert, insbesondere durch die Verwendung der gegensätzlichen Begriffe Liebe und Apokalypse. Die Apokalypse ist laut DUDEN ursprünglich ein aus der Religion entlehnter Begriff, der eine „Schrift [bezeichnet], die sich in Visionen, Träumen, Abschiedsreden, Weissagungen mit dem kommenden Weltende befasst“. Gleichzeitig kann die Apokalypse aber auch im bildungssprachlichen Gebrauch als ‚Untergang; Unheil; Grauen‘ verwendet werden. 28 So ist sie auch im Zusammenhang mit Komasas Film zu verstehen, denn gemeint ist natürlich der Untergang der polnischen Hauptstadt, der durch seine Mystifizierung auch das Ende einer Ära versinnbildlicht. So spielt also auch der Filmtitel eine nicht unwesentliche Rolle in der Rezeption eines Spielfilms, obgleich er im Gesamtgefüge der Vermittlung und Vermarktung von Vergangenheitsbildern im Film nur ein Element von vielen ist, die in ihrem Zusammenspiel die Voraussetzungen dafür schaffen, dass ein Film als Erinnerungsfilm rezipiert werden kann – auch über nationale Grenzen hinweg.
4.1.1 Der Zauber der Jugend und die Illusion des Authentischen „Da gibt es wohl Gefühle“, sagt der Oberleutnant. „Überall Krieg, die Welt bricht zusammen.“ 29 Jugend, das Erwachsenwerden im Krieg, die erste Liebe und große Gefühle – das ist das Erfolgsrezept der hier betrachteten Erinnerungsfilme. Die Jugend der Protagonisten ist auch in den Rezensionen oft aufgegriffenes Element der betrachteten Filme. „Drei schöne, (noch) unschuldige junge Menschen, erste Liebe, sexuelles Erwachen . . . Erst mal hören sie Swing und tanzen dazu – als Metapher für Freiheit in Zeiten der Diktatur“, schreibt beispielsweise Jens Müller in der taz über die Hauptcharaktere aus Unser letzter Sommer. 30 Dass das Alter der Heldinnen und Helden eine wesentliche Rolle spielt, ist wenig verwunderlich,
28 DUDEN. o. J. „Apokalypse, die.“ DUDEN.de, URL: https://www. duden. de/ rechtschreibung/ Apokalypse, Zugriff am 31. Mai 2018. 29 Unser letzter Sommer, Min. 01:26:24–01:26:32. 30 Jens Müller. 2017. „Streitende Nachbarn.“ taz, 13. Juni 2017, URL: http://www.taz.de/ !5416481/ , Zugriff am 14. Juni 2017.
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handelt es sich doch um Coming-of-Age-Dramen, die sich mit dem Erwachsenwerden in schwierigen Zeiten auseinandersetzen. 31 Aus dem Alter der Filmfiguren und der zugrundeliegenden Ereignisgeschichte ergibt sich auch die wahrgenommene Tragik der Filmgeschichte: Junge Menschen werden durch die Umstände des Krieges, in den sie durch einen Fehler des Schicksals hineingeboren wurden, vermeintlich um ihre Chance auf ein erfülltes Leben gebracht. Die Einzelschicksale der Protagonisten stehen dabei für die kollektive Erfahrung einer gesamten Generation und bieten zugleich eine Projektionsfläche für große Gefühle. Das Motiv der Jugend kann in den Filmen ganz unterschiedliche Funktionen erfüllen. Es kann beispielsweise als universelle Erfahrung Erinnerung auf eine Ebene jenseits der Nation heben. So befindet die Sächsische Zeitung zu Rogalskis Unser letzter Sommer, der Film „beschreibt auf zurückhaltende Weise das Sterben von Träumen einer Generation, die das Jungsein verbindet, die Nationalität nicht“. 32 Jugend kann zur Umdeutung nationaler Mythen von Opfern zu Helden genutzt werden, sie kann aber auch den Weg bereiten, um Tätererfahrungen in Opfererfahrungen zu überführen. Geschichte wird aus der Perspektive und den Bedürfnissen der Gegenwart entsprechend erzählt. Jugend und ihre Vergänglichkeit sind ein Motiv, das in heutigen Erinnerungsfilmen nicht nur mitschwingt, sondern das auf allen Ebenen bewusst gemacht wird – sei es in der Handlung, in den Bildern schöner und todgeweihter junger Menschen oder in den Dialogen, in denen nicht zufällig das Alter der Hauptfiguren explizit Erwähnung findet. Sowohl in Warschau ’44 als auch in Unsere Mütter, unsere Väter feiert einer der Nebencharaktere im Laufe der Handlung einen tragischen Geburtstag: Beksa wird während des Warschauer Aufstands 19 Jahre alt, ein verwundeter Soldat der Gespensterdivision in Unsere Mütter, unsere Väter berichtet Charlotte im Lazarett, dass an diesem Tag sein 21. Geburtstag sei. Der Verlust der Unschuld ist ein in den Rezensionen häufig aufgegriffenes Motiv – vor allem in den deutschen Kommentaren. 33 Aber auch polnische Kommentatoren sprechen dieses Motiv in starken Metaphern 31 Die inhaltlichen Aspekte des Jugendfokus wurden bereits im vorangegangenen Abschnitt erörtert. 32 Sächsische Zeitung. 2015. „Träume hier und dort“, Sächsische Zeitung, 22. Oktober 2015, URL: http://www. sz- online. de/ nachrichten/ traeume- hier- und- dort3229897. html, Zugriff am 3. April 2017. Die Sächsische Zeitung betont auch in besonderer Weise die persönliche Beziehung Rogalskis zum Film, indem sie die Widmung an dessen Großmutter der Rezension voranstellt und die emotionale Verbindung hervorhebt. 33 Siehe zu Unser letzter Sommer beispielsweise Müller, Streitende Nachbarn, oder auch Peter Zander. 2015. „Verlust der Unschuld – ‚Unser letzter Sommer‘.“ Berliner Morgenpost, 22. Oktober 2015, URL: http://www. morgenpost. de/ kultur/ article206312175/
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an: „Młodo´sc´ ich obu zostanie zło˙zona na ołtarzu wojny“, ihrer beider Jugend wird auf dem Altar des Krieges geopfert, Unschuldige gebe es in Unser letzter Sommer nicht, so Bartosz Staszczyszyn auf Culture.pl. 34 Schuld an der Verrohung der Jugend sind die Erwachsenen, die diese feindliche Umwelt, in der die jungen Menschen aufwachsen, erst geschaffen haben. 35 Besonders stark ist dieses Motiv in Unser letzter Sommer. 36 Aber auch für Warschau ’44 stellt Jakub Majmurek den bedrückenden Wandel der unschuldigen Jugend in „Zombies“ 37 angesichts der harten Realität des Warschauer Aufstands in den Fokus: „[D]ieses Dreieck [aus Stefan, Kama und Alicja, Anm. JRG] und die Struktur des Melodramas fällt in sich zusammen wie ein Kartenhaus im Feuer des Aufstands. Der Regisseur zeigt treffend, was für ein Schock der Beitritt zu den echten Stadtpartisanen für die sich im Grunde in der Konspiration nur amüsierende Jugend war.“ Für viele Jugendliche war die Teilnahme am Aufstand zunächst nur ein großes Abenteuer, das es ermöglichte, etwas gegen die deutschen Besatzer zu tun, das die Alten nicht zu tun wagten. 38 Wi´sniewska lobt, „dass die Aufständischen nicht eindimensional heldenhaft sind, dass sie im Prinzip Kinder sind, dass es, wenn man sie anschaut, schwer ist, sich nicht zu fragen, wer zum Teufel gedacht hat, dass ein Aufstand mit dieser Bande Amateure irgendeinen Sinn hat“. Gleichwohl befindet sie, dass „Warschau ’44 ein unentschiedener Film ist, der zwischen dem Mythos über die Schönen und Jungen, die im Aufstand gekämpft haben, und der Untergrabung dieses Mythos steht“. 39
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Verlust- der- Unschuld- Unser- letzter- Sommer. html, Zugriff am 22. Oktober 2015. Zu Unsere Mütter, unsere Väter siehe Leick, Die Wunde der Vergangenheit, S. 136. Staszczyszyn, Letnie przesilenie. Vgl. Staszczyszyn, Letnie przesilenie; Nils Michaelis. 2015. „Deutsch-polnisches Kriegsdrama: Romanze am Todesgleis.“ Vorwärts, 23. Oktober 2015, URL: https:// www.vorwaerts.de/artikel/deutsch-polnisches-kriegsdrama-romanze-todesgleis, Zugriff am 28. Februar 2017. Zum Beispiel Gregor Ries. 2015. „Kinokritiken: Unser letzter Sommer.“ Echo online, 22. Oktober 2015, URL: http://www.echo-online.de/freizeit/kino/kinokritiken/unserletzter- sommer_ 16308014. htm, Zugriff am 22. April 2017; Seitz, Die Verrohung der Welt; José Garcia schreibt von der „verhängnisvolle[n] Wirkung auf junge Menschen“, die der Krieg in Unser letzter Sommer entfaltet und die Zuschauer zum Mitfühlen anregt. José García. 2015. „Unser letzter Sommer.“ ZENIT, 30. Oktober 2015, URL: https://de. zenit. org/ articles/ unser- letzter- sommer/ , Zugriff am 3. April 2017; Sächsische Zeitung, Träume hier und dort. Siehe aber auch Agnieszka Wi´sniewska. 2014. „Białoszewski w Muzeum Powstania Warszawskiego.“ Krytyka Polityczna, 2. Oktober 2014, URL: http://krytykapolityczna. pl/ kultura/ film/ bialoszewski- w- muzeum- powstania- warszawskiego/ , Zugriff am 3. April 2017. Majmurek, „Miasto ’44“ – trzeba zabi´c t˛e miło´s´c? Wi´sniewska, Białoszewski w Muzeum Powstania Warszawskiego.
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Insbesondere in der Berichterstattung zu Unsere Mütter, unsere Väter findet sich auf deutscher Seite eine Vielzahl von Artikeln, die auf die familiären Bezüge der Filmemacher zum Sujet des Zweiten Weltkriegs rekurrieren. So teilen beispielsweise Nico Hofmann und der Historiker Götz Aly in der Zeit ihre Erinnerungen an die eigene Familiengeschichte. Auch wenn der Historiker Aly dem Film kein allzu gutes Zeugnis ausstellt – der Sohn Aly tut es sehr wohl, denn er habe, so sagt er, seinen Vater und seine Mutter in diesem Film wiedererkannt. 40 Auch das Motiv des Verlusts der Unschuld verfängt offenkundig. Ralf Weigand urteilt in der Süddeutschen Zeitung über Unsere Mütter, unsere Väter: „Sie verlieren, wenn nicht ihr Leben, so doch ihre Moral, ihre Ideale, ihre Unschuld. [. . . ] Aber aus dieser vom Krieg verzehrten Jugend ist keine Generation traumatisierter Rächer geworden. Sie begründete stattdessen den längsten Frieden, den dieses Land je erleben durfte. Sie wurden, trotz allem, Mütter und Väter. Man staunt darüber, nach diesem Film.“ 41 In Kommentaren wie diesem schwingt die Hoffnung mit, dass Menschen nicht inhärent böse sind, sondern erst durch äußere Einflüsse bedingt, hier durch den Zweiten Weltkrieg, falsche und unmoralische Entscheidungen treffen. Diese Milde gegenüber jungen Menschen spiegelt sich auch in anderen Lebensbereichen, bezeichnenderweise auch im Strafrecht, wo Jugendliche und junge Erwachsene eine Sonderbehandlung genießen und nicht im selben Maß als schuldfähig gesehen werden wie Erwachsene. Sowohl in Deutschland als auch in Polen gibt es seit 1923 bzw. 1982 ein spezielles Jugendstrafrecht, das die Straftaten jugendlicher Delinquenten milder bewertet und einen erzieherischen Auftrag verfolgt. Gewissermaßen teilen die Mythenmacher der Erinnerungsfilme dieses pädagogische Sendungsbewusstsein. Die Jugend als positive und universelle Erfahrung kann so über Generationen und Nationen hinweg Brücken bauen. Der Jugend kann man leichter verzeihen, denn sie wusste ja nicht, was sie tat. Aber, wie Ulrich Herbert in der taz betont: Unsere Väter und unsere Mütter waren eben nicht nur junge Leute, die einfach nur leben wollten, es wegen des Krieges aber nicht konnten, wie es der Film suggeriert. Es handelte sich um eine hoch ideologisierte, politisierte Generation, die den deutschen Sieg, den Sieg des nationalsozialistischen Deutschlands wollte, weil sie ihn für richtig hielt. 42
An dieser Stelle sei auch bemerkt, dass es kaum Filme über alte Menschen und ihr Schicksal während des Zweiten Weltkriegs gibt. Wenn diese Men40 Vgl. Cammann & Soboczynski, Vereiste Vergangenheit. 41 Wiegand, Als sei alles gestern passiert. 42 Ulrich Herbert. 2013. „‚Unsere Mütter, unsere Väter‘: Nazis sind immer die anderen.“ taz, 21. März 2013, URL: https://taz. de/ !5070893/ , Zugriff am 7. März 2018.
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schen in Filmen dieses Genres vorkommen, dann meist als Randfiguren. Hauptrollen kommen jungen Menschen zu, sehr häufig der Jahrgänge der 1920er. Filme über Seniorinnen und Senioren in den Hauptrollen werden zwar in den vergangenen Jahren immer populärer, 43 gleichwohl wird man Filme über die Großeltern der heutigen Alten im Zweiten Weltkrieg lange suchen. Die Alten bleiben ohne Namen und Gesicht, ihre Geschichte verstummt. Auch die Zukunft der Vergangenheit gehört der Jugend. Geschuldet ist dieses Vorgehen sicherlich Marktkonjunkturen. Jugendliche Hauptdarsteller sprechen mutmaßlich eine größere Zielgruppe an, können sie doch sowohl den gleichaltrigen Zuschauern einen Identifikationspunkt bieten als auch Angehörigen der Erlebnisgeneration ein Nacherleben der eigenen Jugend ermöglichen, indem sie deren reale Jugenderinnerungen auf der Leinwand nachstellen. Kommt den Alten doch eine gewichtigere Rolle im Erinnerungsfilm zu, dann handelt es sich oftmals um Filme der dritten Welle. In diesen Filmen treten die Alten als Zeitzeugen im Heute auf, die sich an den Zweiten Weltkrieg und den Massenmord an den Juden zurückerinnern. Beispiele sind unter anderem Am Ende kommen Touristen oder der kanadische Film Remember (2015), in dem ein demenzkranker, 90-jähriger Auschwitz-Überlebender sich auf die Suche nach dem SS-Mann macht, der seine Familie ermordete – nur um festzustellen, dass er selbst dieser SS-Mann ist und seine jüdische Identität eine Lüge. Auch die Alten in Pokłosie übernehmen diese Rolle der Zeitzeugen. Sie legen Zeugnis über Geschehnisse aus ihrer eigenen Jugend ab. Auch in diesem Fall sind es also die Kinder der 1920er, die den Zuschauern Zugang zu der Geschichte des Zweiten Weltkriegs bieten – aber eben aus einer zeitlichen Distanz und einer anderen Lebensphase heraus. Und so spielen ältere Menschen gleichwohl eine sehr gewichtige Rolle in der Authentifizierung ihrer vermeintlichen Jugenderinnerungen, die die Erinnerungsfilme auf die Leinwand bringen wollen. Nicht ohne Grund betonten sowohl die Macher von Unsere Mütter, unsere Väter als auch von Warschau ’44 die enge Zusammenarbeit mit Angehörigen der Erlebnisgeneration, die in ihren Testimonials beteuerten, dass die Filme ihre eigenen, authentischen Jugenderlebnisse bestmöglich wiedergäben. Sowohl in der Vermarktung als auch in der Rezeption spielte dieser Faktor eine entscheidende Rolle. 44
43 Die Zielgruppe wächst durch den demografischen Wandel, vgl. bspw. Ursula März. 2015. „Halb totgelacht.“ ZEIT Online, 27. September 2015, URL: http://www. zeit. de/ 2015/ 39/ senioren- komoedie- kino- tv- am- ende- ein- fest, Zugriff am 6. Dezember 2018. 44 Vgl. bspw. die Kommentare von Zeitzeugen im Presseheft zu Warschau ’44, Kino ´ Swiat. Pressbook Miasto 44. In der Vermarktung von Warschau ’44 beteuerten Zeit-
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Weniger dieser Gestus der Authentizität, der Spielfilme wie Unsere Mütter, unsere Väter umgibt, denn die Rezeption der Erinnerungsfilme als authentische Dokumente der Vergangenheit erstaunt: „Vor allem die eher konservativen Feuilletons interpretierten die Spielfilme im hohen Maße als historische Realitätsabbildungen.“ 45 Die Idee eines Generationendialogs, der essentieller Bestandteil der Marketingstrategie der Macher von Unsere Mütter, unsere Väter war, spiegelte ein besonderes Redaktionsprojekt der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wider, in denen die jungen Journalisten der Enkelgeneration ihre Eindrücke nach dem Sehen der Miniserie reflektierten und gemeinsam mit Frank Schirrmacher Produzent Nico Hofmann interviewen. 46 Auch der Spiegel befindet, dass „[d]er ZDF-Dreiteiler ‚Unsere Mütter, unsere Väter‘ [. . . ] mit einem ebenso widersprüchlichen wie emotionalen Blick auf die Kriegsjahre – und [. . . ] über die Generationen hinweg einen neuen Meilenstein deutscher Erinnerungskultur“ setzt. 47 Schirrmacher schrieb in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zudem: „Man braucht sechs Augenpaare, um diesen Film zu sehen. Sechs Augenpaare, die nichts anderes wären als die Blicke dreier Generationen: Großeltern, Eltern, Kinder. Sie müssen gemeinsam sehen, was auf dem Bildschirm geschieht.“ Er ruft dazu auf, die ganze Familie vor dem Fernseher zusammenzuholen und gemeinsam diesen Film zu sehen. 48 Deutlich wird, dass Kadelbachs Miniserie als authentisches Dokument über die Kriegsgeneration gewertet wird, dessen Konsum ein besseres Verständnis dieser Menschen erzeugen und somit eine Brücke zur Gegenwart bauen könne, an der diese Generation noch teilhat. Bösch stellt fest, dass „die Filme der letzten Jahre im höheren Maße als zuvor [beanspruchen, Anm. JRG], Beiträge zu einer quellenfundierten Geschichtsrekonstruktion zu sein. In vielen Fällen legten sie wie Historiker vorab ihre Quellen offen und warben mit der Genauigkeit der historischen Rekonstruktion, was als Gütezeichen galt.“ 49 Der Trumpf in der Hinterhand der Macher von Erinnerungsfilmen ist aber nach wie vor der Zeitzeuge, der möglichst öffentlichkeitswirksam bestätigt, dass es genauso gewesen sei. 50 Diese Testimonials gehören zu den wichtigsten Authenti-
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zeugen zudem in kurzen Videos, wie gut der Film ihre Erinnerungen wiedergebe. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung wiederum rief in einem Spezial zu Unsere Mütter, unsere Väter Zeitzeugen dazu auf, über ihre Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg zu berichten. Bösch, Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft, S. 26. Vgl. Freidel et al., Filmproduzent Nico Hofmann im Gespräch. Leick, Die Wunde der Vergangenheit, S. 134. Schirrmacher, Die Geschichte deutscher Albträume. Bösch, Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft, S. 25. Dass diese Erinnerungen 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verfälscht sein können und eventuell sogar Lücken in der Erinnerung durch Bilder aus popu-
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fizierungsstrategien des modernen Erinnerungsfilms sowohl in Deutschland als auch in Polen. Es ist also nur konsequent, wenn Filmemacher versuchen, auch den Seherwartungen dieser Zeitzeugengeneration Rechnung zu tragen. Majmurek befindet in seiner Rezension zu Warschau ’44, dass der Film „den ehemaligen Aufständischen sehr treu ist in dem Sinne, dass er den Aufstand konsequent aus ihrer Perspektive zeigt“. Gleichwohl orientierten sich die Filmemacher auch an den Seherwartungen der jungen Generation heute, der Film sei somit auch ein Abbild der sich wandelnden Erinnerungskultur an den Warschauer Aufstand. Deutlich werde dies, so Majmurek in Warschau ’44, vor allem an den emanzipierten Frauen in Komasas Film. 51 Gleichzeitig spielen auch die jugendlichen Protagonisten eine zentrale Rolle in der Authentifizierung der Filmgeschichte. Wenn Jens Müller in der taz feststellt, dass Jonas Nay, der in Unser letzter Sommer die Hauptrolle des Guido Hausmann spielt, „ja regelmäßig diese etwas naiven, leicht verpeilten Romantiker, die über die ungeahnte Unanständigkeit auf dieser Welt noch so aufrichtig großäugig staunen können“ verkörpere 52, dann deutet sich bereits an, wie zentral die jungen Mythenmittler im Erinnerungsfilm sind. Nur durch sie lassen sich Naivität, Jugend und Unschuld im Angesicht einer grausamen, feindlichen Umwelt glaubwürdig vermitteln und letztlich ein Umfeld zur Neubewertung und eventuellen Umkehr der Täter- und Opferbilder schaffen. Sie bilden die Schnittstelle, an der die Konzentration auf Jugendliche im Erinnerungsfilm neben einer Emotionalisierung und Personalisierung auch zur Illusion der Authentizität beiträgt. An ihrem authentischen Spiel wird nicht selten auch die Authentizität der Charaktere im Film festgemacht. 53 Über die Zugehörigkeit der Mythenmacher und Mythenmittler zur dritten Generation und deren Implikationen wurde im Abschnitt zu den Produktionskontexten moderner Erinnerungsfilme bereits berichtet. Durch Zeitungs- und Fernsehinterviews oder auch als Ersatzzeitzeugen in den einschlägigen Formaten spielen sie auch in der Vermarktung und anschließenden Rezeption der Erinnerungsfilme eine Schlüsselrolle. Wie Peter von Becker im Tagesspiegel über die vielfach ausgezeichneten Protagonisten von Unsere Mütter, unsere Väter befindet:
lären Spielfilmen gefüllt wurden, ist der Erinnerungsforschung längst bekannt, siehe zum Beispiel Welzer. Das Wissen um diese Verfälschungen aber macht die Zeitzeugen nicht weniger glaubhaft. 51 Majmurek, „Miasto ’44“ – trzeba zabi´c t˛e miło´s´c? 52 Müller, Streitende Nachbarn. 53 Vgl. beispielsweise Połaski zu Maria Semotiuk als Bunia in Unser letzter Sommer, Połaski. „Letnie przesilenie“. Nasze ostatnie lato [Recenzja].
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Die einseitigen Schurken, den skrupellosen SS-Zyniker und den sadistischen Feldwebel, die gab es als Stereotypen auch diesmal wieder. Doch Schauspieler und Gesichter wie Volker Bruch und Tom Schilling als das junge Brüderpaar Winter oder Miriam Stein als furiose, fanatische, zweifelnde, verzweifelnde Kriegskrankenschwester Charlotte wird man so schnell nicht vergessen. 54
An dieser Stelle finden sich aber auch Fallstricke, denn die heutigen Schauspieler, die als Mythenmittler die Erfahrungen einer Generation vermitteln sollen, die in Zeiten von Entbehrung und Krieg aufwachsen musste, vermögen dieses Bild eben nicht immer und nicht in allen seinen Facetten authentisch darzustellen. So lautete ein häufig angebrachter Kritikpunkt an Komasas Warschau ’44, den unter anderem Tilmann Gangloff in der Frankfurter Rundschau aufgriff: Auch die jugendlichen Helden sind ausgesprochen proper und sehen über weite Strecken des Films viel zu frisch gewaschen aus, um tatsächlich das unvorstellbare Leid, dass [sic] die Warschauer Bevölkerung in jener Zeit erdulden musste, zu repräsentieren. 55
Und auch Philipp Stadelmaier befindet für das Auftreten der Schauspieler in Unser letzter Sommer, dass es weniger gelungen ist und darin sehr an Unsere Mütter, unsere Väter erinnere: „Stets adrett frisiert, erinnern sie an Teilnehmer der Aufführung einer Schultheater-AG, und die platten Bilder spiegeln ständig ihre Kulissenhaftigkeit.“ 56 Hier zeigt sich die Zweischneidigkeit des Motivs der verlorenen Jugend, das sich einerseits eignet, um die Tragik des Krieges aufzuzeigen und um vermeintliche Erinnerungen einer langsam verschwindenden Erlebnisgeneration für ein Publikum, das jetzt im Alter der Filmfiguren ist, mit schönen jungen Schauspielern auf die Leinwand zu bringen. Es birgt nämlich andererseits auch die Gefahr, dass vor der Filmhandlung voller junger Menschen in der Blüte ihrer Jugend, die in eine zum Scheitern verurteilte Liebesgeschichte involviert sind, der ernste historische Hintergrund zweitrangig wird. 57 54 Peter von Becker. 2013. „Der Krieg als Schlüssel der Erinnerung.“ Tagesspiegel, 25. März 2013, URL: https://www. tagesspiegel. de/ meinung/ unsere- muetter- unserevaeter-der-krieg-als-schluessel-der-erinnerung/7976018-all.html, Zugriff am 11. Dezember 2018. 55 Tilmann P. Gangloff. 2015. „Auf sie mit Gebrüll.“ Frankfurter Rundschau, 2. August 2015, URL: http://www. fr. de/ kultur/ netz- tv- kritik- medien/ tv- kritik/ warschau44- zdf- auf- sie- mit- gebruell- a- 448619, Zugriff am 8. Mai 2017; Wi´sniewska, Białoszewski w Muzeum Powstania Warszawskiego. 56 Stadelmaier, Hormonstau vor Holocaust-Kulisse. 57 Siehe auch Pakier, European Holocaust Memory. Eine Liebesgeschichte ist im populären Spielfilm wichtiger Teil des Erfolgsrezepts. Nicht überall wird die Verbindung des Coming-of-Age-Dramas mit seiner obligatorischen Liebesgeschichte für das ernste Thema des Zweiten Weltkriegs als passend empfunden, siehe auch Stadelmaier, Hormonstau vor Holocaust-Kulisse.
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Die wahrgenommene Authentizität eines Erinnerungsfilms ist für seinen Erfolg zentral und speist sich neben der Erfüllung der Seherwartungen des Publikums auch aus historischer Genauigkeit der im Film dargestellten Vergangenheitsbilder. Um sich gerade nicht an historischen Fakten messen zu müssen, hat Rogalski sich bewusst für einen unkonkreten Ort in Ostpolen zu einem nicht näher spezifizierten Datum im Sommer 1943 entschieden: Ich wollte eine Synthese dieser Zeit zeigen. Die Geschichte spielt im Sommer 1943 irgendwo in Polen. Wenn man die Orte und Daten zu detailliert angibt, gibt man sich als omnipotent aus, aber man kann nicht alles aus dieser Zeit und Umgebung in Erfahrung bringen. Historiker würden vielleicht Dinge widerlegen. Ich wollte eher eine generelle Ära in Polen während des Krieges erschaffen. 58
Während Michał Rogalski in Unser letzter Sommer davon absieht, einen realen Ort und Zeitpunkt für das Geschehen zu wählen, um die Illusion von Authentizität nicht zu gefährden, steht der Ansatz der Macher von Unsere Mütter, unsere Väter dem diametral entgegen. Die explizite Bezugnahme auf reale Elemente – Personen, Orte, spezifische Gruppierungen der Wehrmacht (z. B. die Windhund-Division, die Gespensterdivision oder das Strafbataillon 500) und Ereignisse des Kriegsgeschehens (beispielsweise das Unternehmen Zitadelle) – leistet in ihrer Durchmischung mit den fiktiven Charakteren der Filmhandlung einen wichtigen Beitrag zur gefühlten Authentizität der Erzählung und ist ein elementares Werkzeug der Mythenmacher in Unsere Mütter, unsere Väter. Diese Details bieten allerdings auch eine Angriffsfläche, um die historische Faktizität des Films auf die Probe zu stellen. Das Beispiel Unsere Mütter, unsere Väter zeigt auch abermals, wie subjektiv die wahrgenommene Authentizität eines Films ist. Besonders die Geschichte von Viktor bewertet Frank Schirrmacher in seiner Rezension als authentisch und zählt sie „zu den berührendsten Momenten dieses Films. Er zeigt, anders, als es unsere Hollywood-Phantasie uns einredet, dass die Opfer in Wahrheit vollständig allein und einsam waren.“ 59 Dass Authentizität eine subjektive Bewertung ist, wird gerade hier überdeutlich, denn es war dieser Handlungsstrang, der in Polen auf besondere Gegenwehr stieß, weil er als Geschichtsfälschung, also vollkommen unauthentisch empfunden wurde. 60 Auch bei der Bewertung der Vergangenheitsbilder im Film herrscht also ein Regime der gefühlten Fakten. Wahr 58 farbfilm verleih, Unser letzter Sommer. Presseheft, S. 11. Siehe auch Interview mit Rogalski, Bonusmaterial auf der DVD zu Unser letzter Sommer, Min. 00:03:59–00:04:51. 59 Schirrmacher, Die Geschichte deutscher Albträume. 60 Vgl. bspw. Krzemi´nski, Der polnische Lückenbüßer.
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ist, was der gefühlten Wahrheit entspricht. Erinnerungsfilme gliedern sich auch hier in gesamtgesellschaftliche Trends ein, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts von der Politik bis in die Zivilgesellschaft hinein in vielen Teilen der Welt das Denken und Handeln der Menschen verändern. Der Philosoph Slavoj Žižek schrieb kürzlich über den heute vielproklamierten „Tod der Wahrheit“, dem eine verklärte Vergangenheit entgegengestellt werde, in welcher Geschichte „richtig“ zu erzählen vermeintlich leichter gewesen sei: Die Vergangenheit war nicht ‚aufrichtiger‘, vielmehr war die ideologische Hegemonie viel stärker als heute. Statt des Gewimmels an lokalen ‚Wahrheiten‘ herrschte damals eine Wahrheit bzw. eine grosse [sic] Lüge vor. Im Westen war dies die Wahrheit der liberal-demokratischen Meistererzählung.
Das, was die Menschen nun vermissten, sei die Sicherheit, die ihnen die eine große Meistererzählung geboten hat – egal, wie sehr sie vielleicht auf einer Lüge basierte. 61 Von einer multiperspektivischen Erzählung der Geschichte, auch aus Sicht der Verlierer, könnten aber alle nur profitieren. Diese Multiperspektivität erkennt Anna Felskowska bei Unser letzter Sommer, denn sowohl Romek als auch Guido seien glaubwürdige Charaktere, mit denen sich die jugendlichen Zuschauer hervorragend identifizieren könnten: vielschichtig, Fehler begehend trotz guter Absichten, menschlich. Vor ihrem Hintergrund präsentieren sich die Figuren junger Menschen, die in den neusten Filmen zu einem ähnlichen Thema geschaffen wurden – in Warschau ’44 oder Operation Arsenal – Schlacht um Warschau – außergewöhnlich unglaubwürdig. 62
Als größten Vorteil des Films empfindet sie, dass aufgrund der wenig stereotypisierten Darstellungsweise die polnischen Zuschauer sich auch mit dem deutschen Soldaten Guido identifizieren und mit ihm mitfühlen 61 Slavoj Žižek. 2018. „Fake-News, wohin das Auge reicht, und die Wahrheit ist am Ende? Mitnichten. Wir haben es mit vielen kleinen Wahrheiten zu tun, und das ist ein Fortschritt.“ Neue Zürcher Zeitung, 6. August 2018, URL: https://www. nzz. ch/ feuilleton/ fake- news- wohin- das- auge- reicht- und- die- wahrheit- ist- am- ende- mitnichtenwir- haben- es- mit- vielen- kleinen- wahrheiten- zu- tun- und- das- ist- ein- fortschritt- ld. 1408345, Zugriff am 21. September 2018. 62 Anna Felskowska. 2015. „RECENZJA | DODATNIE ‚LETNIE PRZESILENIE‘.“ Magazyn Filmowy, 16. September 2015, URL: http://filmoznawcy.ug.edu.pl/?p=636, Zugriff am 28. Februar 2017. In der Filmempfehlung auf EdukacjaFilmowa.pl rät Mostowska dazu, Rogalskis Film mit den beiden von Felskowska erwähnten, modernen Klassikern Operation Arsenal – Schlacht um Warschau und Warschau ’44 zu kombinieren, um Rogalskis subtilere Filmsprache zu verstehen, der keinen weiteren Film über polnische Helden erzählt. Jadwiga Mostowska. 2017. „Letnie przesilenie.“ edukacjafilmowa.pl, URL: http://edukacjafilmowa. pl/ letnie- przesilenie- 2014/ , Zugriff am 14. April 2019.
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könnten. Jugend als universelle Erfahrung wird somit zur Brücke zwischen den Kulturen, den Nationen und den Generationen. Sie ist das verbindende Element zwischen Filmgeschichte und den Mythenmittlern, Mythenmachern und Zuschauern der dritten Generation.
4.1.2 Gütesiegel für Geschichtsbilder Einen wichtigen Part in der Vermarktung von Filmen spielen Preise, mit denen die Mythenmacher und ihre Werke ausgezeichnet werden. Sie dienen als Gütesiegel, die den Zuschauern signalisieren, dass hier hochwertige Produkte verkauft werden, die auch von einer Jury von Expertinnen und Experten als herausragend bewertet wurden. Einige dieser Filmpreise und Auszeichnungen werden bereits vor Kinostart der Filme verliehen und können den Erfolg eines Films somit von Anfang an befördern – nicht umsonst feiern viele Filme ihre Premieren auf Filmfestivals – andere können ihre Wirkung als Marketinghelfer erst bei der DVD- und TV-Vermarktung der Spielfilme entfalten. Unser letzter Sommer reüssierte nicht nur bei nationalen Filmwettbewerben, sondern auch auf der internationalen Bühne. Bereits 2015 erlangte der Film beim World Film Festival in Montreal einen Preis für das beste Drehbuch, erfuhr also zuerst auf internationaler Ebene Anerkennung und wurde so erstmalig in einem transnationalen Kontext rezipiert. 63 Auf den Filmfestspielen in Gdynia wurde Unser letzter Sommer – und hier zeigt sich abermals die Gewichtung des Jugendthemas und der Erfahrung des Erwachsenwerdens als zentralem Punkt des Films – mit dem Preis des Jugendrates der Stadt ausgezeichnet, den Goldenen Kätzchen (Złote Kociaki). Dieser Preis wird an Filme verliehen, die auf besondere Weise Themen behandeln, die für ein junges Publikum relevant sind. Außerdem wurde Kameramann Jerzy Zieli´nski mehrfach für seine Arbeit ausgezeichnet und auch Maria Semotiuk erhielt für ihre Rolle der Bunia den Goldenen Löwen bei den 40. Filmfestspielen in Gdynia. Auf den 23. Camerimage wurde Unser letzter Sommer zum besten polnischen Film gekürt. Nicht zu vergessen ist außerdem der Hartley-Merill Drehbuchpreis, den Rogalski
63 Vgl. bspw. Malwina Grochowska. 2015. „A Polish War Drama Reinterpreted.“ fipresci, URL: http://www. fipresci. org/ festival- reports/ 2015/ montreal/ a- polish- war- dramareinterpreted, Zugriff am 2. Mai 2018; Alissa Simon. 2015. „Film Review: ‚Summer Solstice‘.“ Variety, 9. September 2015, URL: http://variety. com/ 2015/ film/ festivals/ summer- solstice- review- 1201584758/ , Zugriff am 22. April 2017; Nathalie Petrowski. 2015. „De la guerre et du tricot.“ La Presse, 3. September 2013, URL: http:// www. lapresse. ca/ debats/ chroniques/ nathalie- petrowski/ 201509/ 03/ 01- 4897482- dela- guerre- et- du- tricot. php, Zugriff am 22. April 2017.
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bereits 2008 für sein Projekt Letnie przesilenie erhielt und mit dem die Erfolgsgeschichte des Films startete. Unsere Mütter, unsere Väter, der sich zu allererst an ein nationales Publikum richtete, gewann in Deutschland 2013 und 2014 viele der wichtigsten Fernsehpreise. Mit der Goldenen Kamera und dem Jupiter wurde die Miniserie 2014 sogar als Bester Fernsehfilm bzw. Bester deutscher TV-Film ausgezeichnet. Ferner erhielt Kadelbachs Werk 2013 auch den Deutschen Fernsehpreis in der Kategorie Bester Mehrteiler. Auch die Schauspieler wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Ebenso erhielten Regie, Szenenbild, Kostümbild, Stunts und Casting Auszeichnungen der Deutschen Akademie für Fernsehen. Unsere Mütter, unsere Väter bewies aber, dass es auch den globalisierten Maßstäben einer hollywoodisierten Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg standhalten kann und setzte sich bei den International Emmy Awards 64 auf internationaler Bühne in der Kategorie Miniserie durch. Zudem wurde die Miniserie mit dem pan-europäischen Prix Europa, 1987 von der Europäischen Kommission und dem Europaparlament begründet, und dem Prix de la meilleure fiction européenne ausgezeichnet. Auch auf dem asiatischen Markt konnte Kadelbachs Film reüssieren und gewann bei den Seoul International Drama Awards in der Kategorie Miniserie, 65 sowie die Goldene Magnolie auf dem Shanghai TV Festival. 66 Als Generation War – nota bene die besondere Betonung der Generationserfahrung des Krieges im für den internationalen Markt bestimmten Titel – wurde Kadelbachs Film 2014 auch in Amerika ausgestrahlt. Dort wurde die Serie ebenfalls diskutiert, wodurch sie neben der deutsch-polnischen Dimension eine weitere Ebene der Transnationalisierung erlangte. 67 Vergeblich versuchte der polnische Botschafter Ryszard Schnepf in Washington zu intervenieren und eine Ausstrahlung der Serie
64 Vgl. Film und Medien Stiftung NRW. 2014. „International Emmy Award for ‚Generation War‘ (‚Unsere Mütter, unsere Väter‘).“ filmstiftung.de, 26. November 2014, URL: https://www. filmstiftung. de/ en/ news/ international- emmy- award- for- generation- war- unsere- muetter- unsere- vaeter/ , Zugriff am 26. August 2018. 65 Vgl. UFA. 2013. „Unsere Mütter, unsere Väter gewinnt ‚Prix de la meilleure fiction européenne‘.“ UFA Presse, 16. September 2013, URL: https://www. ufa. de/ presse/ news/ ? s= / 53438/ UNSERE_ MÜTTER,_ UNSERE_ VÄTER_ gewinnt_ Prix_ de_ la_ meilleure_ fiction, Zugriff am 26. August 2018. 66 Vgl. Film und Medien Stiftung NRW, 2014. „NRW erfolgreich in Shanghai.“ filmstifung.de, 16. Juni 2014, URL: https://www.filmstiftung.de/news/nrw-mit-acht-filmenim- shanghai/ , Zugriff am 26. August 2018. 67 Für eine Bewertung vgl. Patrick Bahners. 2014. „Die keuschen, opferbereiten Arier.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. Januar 2014, URL: https://www. faz. net/ aktuell/ feuilleton/ debatten/ unsere- muetter- unsere- vaeter- in- amerika- die- keuschen- opferbereiten- arier- 12754284. html, Zugriff am 26. August 2018.
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in den USA zu verhindern. 68 Auch in Großbritannien, Australien und den Niederlanden schalteten sich die polnischen Auslandsvertretungen ein. 69 A. O. Scott von der New York Times machte in der Serie den Wunsch nach einer „moralischen Gleichsetzung von amerikanischer und deutscher Kriegserfahrung“ aus 70, als „an attempt to normalize German history“ und „a plea on behalf of Germans born in the early 1920s for inclusion in a global Greatest Generation“, d. h. der mythischen Generation derer, die während der Depression der 1920er-Jahre aufwuchsen und als Soldaten im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben. 71 Gleichwohl ziehen Kritiker wie Ella Taylor universelle Lehren aus dem Film, die Gültigkeit in vielen Gesellschaften haben könnten, in denen „das Erbe einer absolutistischen Ideologie bewältigt werden müsse“. 72 Insgesamt wurde die Miniserie in über 148 Länder verkauft. 73 Für eine Produktion, die immer wieder im Verdacht stand, die Geschichte renationalisieren zu wollen, ist das ein beachtlicher internationaler Erfolg, der zeigt, dass dieses Bild Deutschlands in der Welt durchaus transnationale Anknüpfungspunkte findet. Warschau ’44 wiederum konnte sich auf Filmwettbewerben ausschließlich im nationalen Umfeld beweisen. Auch Komasas Film erhielt ein Jahr vor Rogalskis Unser letzter Sommer in Gdynia den Preis des Jugendrates der Stadt, die Złote Kociaki. Zudem wurden die beiden weiblichen Hauptdarstellerinnen Anna Próchniak und Zofia Wichlarz mehrfach für ihre Rollen als Newcomerinnen ausgezeichnet. Auch beim größten polnischen Filmpreis, dem Orzeł (dt. Adler) zeigte sich Warschau ’44 auf den Gebieten Schauspiel, Szenografie, Kostüme und Schnitt erfolgreich. Die Special Effects des Films wurden unter anderem mit dem Goldenen Löwen in Gdynia ausgezeichnet. Weniger rühmlich ist aber die Auszeichnung mit der Schlange, die seit 2012 für die schlechtesten polnischen Filmproduktionen
68 Vgl. James Morrison. 2013. „Embassy Row: Poland protests film.“ The Washington Times, 14. April 2013, URL: https://www. washingtontimes. com/ news/ 2013/ apr/ 14/ embassy- row- poland- protests- film/ , Zugriff am 18. August 2018. 69 Vgl. Marcin Wojciechowski. 2014. „Informacja MSZ w zwiazku ˛ z publikacja˛ portalu wpolityce.pl nt. filmu ‚Nasze matki, nasi ojcowie‘.“, Ministerstwo Spraw Zagranicznych, 3. Januar 2014, URL: https://www. msz. gov. pl/ pl/ aktualnosci/ dla_ mediow/ sprostowania/ informacja_ msz_ w_ zwiazku_ z_ publikacja_ portalu_ wpolityce_ pl_nt_ _filmu_ _nasze_matki_ _nasi_ojcowie_ ?channel=www, Zugriff am 11. Dezember 2018. 70 Bahners, Die keuschen, opferbereiten Arier. 71 A. O. Scott. 2014. „A History Lesson, Airbrushed.“ The New York Times, 14. Januar 2014, URL: https://www. nytimes. com/ 2014/ 01/ 15/ movies/ generation- waradds- a- glow- to- a- german- era. html? _ r= 0, Zugriff am 18. August 2018. 72 Bahners, Die keuschen, opferbereiten Arier. 73 Vgl. Film und Medien Stiftung NRW. International Emmy Award for „Generation War“ („Unsere Mütter, unsere Väter“).
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Abbildung 8: Stefan und Alicja küssen sich im Kugelhagel, während um sie herum die Kämpfe toben (Screenshot aus Warschau ’44).
verliehen wird. Auch hier zeigte sich Komasas Film erfolgreich – für die Kussszene zwischen Alicja und Stefan im Kugelhagel (siehe Abb. 8). Allein eine sehr positive Bewertung eines Films auf nationaler Ebene empfiehlt ihn aber noch lange nicht zu Höherem auf transnationaler Ebene. Das zeigt sich zum Beispiel an den beiden polnischen Filmproduktionen Ida und Ró˙za, die trotz zahlreicher Auszeichnungen einen sehr unterschiedlichen Erfolg auf internationaler Ebene zu verzeichnen haben. Während Ró˙za außerhalb Polens nicht zu überzeugen vermochte, wurde Paweł Pawlikowskis Ida mit zahlreichen internationalen Preisen überhäuft, unter anderem mit einem Oscar. Innerhalb der letzten Jahrzehnte gewann noch eine Vielzahl weiterer Filme, die sich im engeren oder weiteren Sinn mit dem Zweiten Weltkrieg befassten, in verschiedenen Kategorien diesen in der westlichen Welt herausragenden Filmpreis. Dazu gehörten Die Fälscher, Son of Saul, Das Leben ist schön, Abbitte, Der Vorleser, Inglourious Basterds sowie Die dunkelste Stunde, Dunkirk, Schindlers Liste, Der Pianist und Der Soldat James Ryan. Aber nicht nur die Bewertung der Filme durch Expertenjurys ist ein Gütesiegel für Erinnerungsfilme. Um ihre Wirkung als „Mythomotoren“ entfalten zu können, ist eine große Reichweite unerlässlich. Diese hat in Deutschland innerhalb der ausgewählten Beispiele nur Unsere Mütter, unsere Väter erreicht. Die Serie erlangte bei der Erstausstrahlung zur Primetime des dritten Teils am 20. März 2013 24,3 % des Marktanteils. 74 Unser letzter Sommer
74 Vgl. Film und Medien Stiftung NRW. 2013. „Tagessieg: 7,63 Millionen sahen Finale von ‚Unsere Mütter, unsere Väter‘ im ZDF.“ filmstiftung.de, 21. März 2013, URL: https://www. filmstiftung. de/ news/ tv- tipp- unsere- mutter- unsere- vater- im- zdf/ , Zugriff am 26. August 2018.
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wie auch Warschau ’44 wurden von den Programmverantwortlichen bei ihrer Free-TV-Premiere ins späte Abendprogramm verschoben und erlangten entsprechend ernüchternde Einschaltquoten. Im Kino konnte Komasas Film in Polen immerhin 1.755.263 Besucher in die Kinosäle locken. 75 Die auflagenstarke liberale Zeitschrift Polityka legte ihrer Ausgabe 5/2015 eine kostenlose DVD des Films bei, die weiter zur Verbreitung des Erinnerungsstoffs beigetragen haben dürfte. Unser letzter Sommer konnte in Deutschland im Vergleich zu thematisch ähnlichen Filmen wie Agnieszka Hollands In Darkness eine ähnlich hohe Zuschauerzahl in die Kinosäle locken, erschöpfte sich allerdings nach 7.866 Besuchern. In Polen sahen 14.059 Personen Rogalskis Film. 76 Interessant ist, dass Rogalskis Erinnerungsfilm mehr als ein halbes Jahr früher in die deutschen Kinos kam als in die polnischen: Dort ließ die Kinopremiere bis April 2016 auf sich warten. Das Interesse an den beiden als Eventkino lancierten Erinnerungsfilmen Unsere Mütter, unsere Väter und Warschau ’44 war also ungleich höher als bei Rogalskis leiserer polnisch-deutscher Koproduktion. Aufgrund der unterschiedlichen Verbreitungskanäle sind die drei Filme allerdings sicherlich in diesem Punkt nur eingeschränkt vergleichbar. Eine interessante kulturelle Verschiedenheit in der Positionierung des Erinnerungsfilms im Gefüge der nationalen Geschichts- und Erinnerungspolitik macht sich an der Art des Endorsements der Filme in Deutschland und Polen bemerkbar. Als Beispiel soll zunächst Jan Komasas Warschau ’44 dienen. Die Schirmherrschaft 77 über den Film hatte der polnische Präsident Bronisław Komorowski, der auch an der Uraufführung am Vorabend des 70. Jahrestages des Warschauer Aufstands im Nationalstadium teilnahm. 78 2015 zeichnete Komorowski den Regisseur Jan Komasa mit
75 Vgl. Europäische Audiovisuelle Informationsstelle. o. J. „LUMIERE: Film: Miasto 44.“ Datenbank über Filmbesucherzahlen in Europa, URL: http://lumiere.obs.coe.int/web/ film_ info/ ? id= 49371, Zugriff am 13. April 2019. 76 Vgl. Europäische Audiovisuelle Informationsstelle. o. J. „LUMIERE: Film: Letnie przesilenie.“ Datenbank über Filmbesucherzahlen in Europa, URL: http://lumiere. obs. coe. int/ web/ film_ info/ ? id= 64862, Zugriff am 13. April 2019. Zum Vergleich: Agnieszka Hollands In Darkness sahen in Deutschland 7.204 Personen im Kino, in Polen ganze 1.181.455. Europäische Audiovisuelle Informationsstelle. o. J. „LUMIERE: Film: In Darkness.“ Datenbank über Filmbesucherzahlen in Europa, URL: http://lumiere. obs. coe. int/ web/ film_ info/ ? id= 40289, Zugriff am 13. April 2019. 77 Vgl. Schirmherrschaften im September 2013, Kancelaria Prezydenta RP. 2013. Archiwum Bronisława Komorowskiego / Patronaty Honorowe Prezydenta RP / Rok 2013 / Wrzesie´n 2013 r. Prezydent.pl, 31. August 2013, URL: http://www. prezydent. pl/ archiwum- bronislawa- komorowskiego/ patronaty/ rok- 2013/ art,3,wrzesien- 2013- r- . html, Zugriff am 6. Dezember 2018. 78 Vgl. Kancelaria Prezydenta RP. 2014. „Prezydent na pokazie filmu ‚Miasto 44‘.“ Prezydent.pl, 30. Juli 2014, URL: http://www. prezydent. pl/ archiwum- bronislawa- komo-
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dem silbernen Verdienstkreuz der Republik Polen aus – „für Verdienste um die Entwicklung der Kultur, für die Pflege der Erinnerung an die neueste Geschichte Polens“. 79 Das unterstreicht die politische Dimension, welche die filmische Umsetzung des Themas Warschauer Aufstand 2014 in Polen hatte. Es ist dort nicht unüblich, dass Staatsoberhäupter auf Antrag die Schirmherrschaft für Filme übernehmen. Das allein ist allerdings keineswegs ein Garant für die besondere Qualität des Films, wohl aber ein wichtiges geschichtspolitisches Signal, das die Filme aus der Masse heraushebt und den dort verbreiteten Vergangenheitsbildern ein außerordentliches Gewicht verleiht. Es ist daher wenig erstaunlich, dass die Erinnerungsfilme, die in den letzten Jahren unter die Schirmherrschaft des polnischen Präsidenten gestellt wurden, der neuen geschichtspolitischen Ausrichtung der Republik Polen Ausdruck verleihen. 80 Wie Warschau ’44 zeigt, geht dieser Trend nicht erst auf die nationalpopulistische Politik der Partei Recht und Gerechtigkeit zurück, sondern auch schon zu Zeiten der liberalen Vorgängerregierung der Bürgerplattform eine Rolle spielte. Insbesondere an einem Film über die sogenannten verfemten Soldaten, ˙ die Zołnierzy wykl˛eci, wird aber die Zuspitzung des geschichtspolitischen Diskurses deutlich. In der neuen Erinnerungskultur, die seit einigen Jahren in Polen etabliert wird, nimmt die Erinnerung an jene Angehörigen der polnischen Heimatarmee, die auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs weiter für ein freies Polen kämpften – nun gegen die Besatzung der Sowjetunion – eine zentrale Rolle ein. Undifferenziert wird auch Personen als Helden und Widerstandskämpfer gegen die Feinde der polnischen Nation gedacht, die selbst Verbrechen begingen. Und so ist es nur folgerichtig, dass sowohl der aktuelle polnische Präsident Andrzej Duda als auch der bereits 2010 verstorbene Lech Kaczy´nski als Patrone des 2016 veröffentlichten und umstrittenen Films über die verfemten Soldaten, Historia Roja fungierten. Kaczy´nski hatte der Hauptfigur des Films, Mieczysław „Rój“ Dziemieszkiewicz, 2007 posthum den Verdienstorden Krzy˙z Komandorski z Gwiazda Orderu Odrodzenia Polski verliehen und dem Filmprojekt Jerzy Zalewskis auf Antrag des Präsidenten des Instituts für Nationales Geden-
rowskiego/aktualnosci/wydarzenia/art,2989,prezydent-na-pokazie-filmu-miasto-44. html, Zugriff am 6. Dezember 2018. 79 Kancelaria Prezydenta RP. 2015. „Dzi˛ekuj˛e za zasługi w drodze ku polskiej wolno´sci.“ Prezydent.pl, 3. Juni 2015, URL: http://www. prezydent. pl/ archiwum- bronislawakomorowskiego/ aktualnosci/ ordery- i- odznaczenia/ art,1451,dziekuje- za- zaslugi- wdrodze- ku- polskiej- wolnosci. html, Zugriff am 6. Dezember 2018. 80 Es ist ebenso wenig erstaunlich, dass Filme wie Unser letzter Sommer, Pokłosie, Ida, Ró˙za oder auch Agnieszka Hollands In Darkness, die ein kritischeres Bild der polnischen Geschichte zeichnen und sich nicht ohne Weiteres für den Bau einer nationalen Identität verwenden lassen.
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ken IPN, Janusz Kurtyka, seine Schirmherrschaft übertragen. 81 Um die Schirmherrschaft des Präsidenten Andrzej Duda bemühte sich der Regisseur selbst. 82 Anlässlich der Filmpremiere, die weitere sechs Jahre auf sich warten ließ, sagte Präsident Andrzej Duda 2016: Vielen Dank für diesen Film, dies ist ein großer Moment auf dem Weg zur Schaffung einer polnischen Kultur des Aufbaus unserer Identität, ihrer nächsten Elemente, nicht für uns, für zukünftige Generationen, denn das ist äußerst wichtig. 83
Neben dem Präsidenten nahmen auch der Kulturminister Piotr Gli´nski und der Verteidigungsminister Antoni Macierewicz an der Premiere am symbolischen Ort, der Kinoteka im Warschauer Kulturpalast teil. Während in Polen also das Staatsoberhaupt als moralische Instanz für die Geschichtsbilder im Film einsteht, setzt man in Deutschland auf eine unabhängige, allerdings von staatlichen Stellen besetzte Organisation – sprich: auf eine Behörde. Eine Schirmherrschaft von deutschen Staatsoberhäuptern für Erinnerungsfilme, die eine der aktuellen Geschichtspolitik dienliche Version der Vergangenheit popularisieren, ist nicht üblich. Hierzulande vergibt stattdessen die Deutsche Film- und Medienbewertung FBW Prädikate, Auszeichnungen, Empfehlungen und Gütesiegel von unabhängigen Jurys, deren insgesamt 85 Mitglieder von den Bundesländern benannt werden. 1951 wurde sie als Filmbewertungsstelle der Länder der Bundesrepublik Deutschland in Wiesbaden gegründet. 84 Nicht nur deutsche, sondern auch internationale Produktionen werden bewertet und mit den Prädikaten wertvoll und besonders wertvoll ausgezeichnet. Damit will
81 Vgl. Kancelaria Prezydenta RP. 2010. „Archiwum Bronisława Komorowskiego / Patronaty Honorowe Prezydenta RP / Rok 2010 / Pa´zdziernik 2010 r.“ Prezydent.pl, 8. März 2010, URL: http://www.prezydent.pl/archiwum-bronislawa-komorowskiego/ patronaty/ archiwum- patronatow/ rok- 2010/ art,9,pazdziernik- 2010- r- . html, Zugriff am 1. September 2018 – Die Verleihung des Patronats wurde im März 2010 bekanntgegeben und war für die Filmpremiere im Oktober 2010 vorgesehen. Im April 2010 kam Lech Kaczy´nski beim Flugzeugunglück von Smole´nsk ums Leben. 82 Vgl. Kancelaria Prezydenta RP. 2015. „Aktualno´sci / Patronat Honorowy / Rok 2016 / Marzec 2016 r.“ Prezydent.pl, 3. Oktober 2015, URL: http://www. prezydent. pl/ aktualnosci/ patronaty/ rok- 2016/ art,6,marzec- 2016- r. html, Zugriff am 1. September 2018. 83 Kancelaria Prezydenta RP. 2016. „Prezydent na premierze ‚Historii Roja‘: Dzi˛ekuj˛e za ten film.“ Prezydent.pl, 29. Februar 2016, URL: http://www.prezydent.pl/aktualnosci/ wydarzenia/art,132,prezydent-na-premierze-historii-roja-dziekuje-za-ten-film.html, Zugriff am 1. September 2018. Auch hier zog der Präsident eine starke Verbindung zwischen der jungen Generation an Soldaten der Heimatarmee, die als Vorbild für die heutige Generation von Polen dienen sollen: „Sie alle, jene Generation ist zum Geist und zum Symbol der heutigen jungen Generation geworden.“ 84 Vgl. FBW. o. J. „Historie | Deutsche Filmbewertung und Medienbewertung FBW.“ fbw-filmbewertung.com, URL: https://www. fbw- filmbewertung. com/ historie, Zugriff am 1. September 2018.
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die FBW „Orientierung im vielfältigen Angebot“ bieten, hat aber auch einen direkten Einfluss auf die Filmfinanzierung, ebnen die Auszeichnungen der FBW Produzenten doch den Weg zur Länderförderung und der Filmförderungsanstalt FFA. 85 Das Prädikat besonders wertvoll erlangte auch Rogalskis Unser letzter Sommer. 86 Aber auch in Deutschland, wo eine Schirmherrschaft durch Spitzenpolitiker nicht Usus ist, kann ein Endorsement seitens der Politik Erinnerungsfilmen einen staatstragenden Charakter verleihen, wie Bösch beispielhaft an der Teilnahme des Bundespräsidenten an der Filmpremiere von Schindlers Liste in Frankfurt festmacht. 87 Im Herbst 2017 griff Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einer Festrede zum 100. Jubiläum der UFA auch Kadelbachs Unsere Mütter, unsere Väter auf und bezeichnete es als ein Fernsehereignis, das in einer langen Reihe zeithistorischer Filme stehe. Steinmeier rückt Produzent Nico Hofmann als Verantwortlichen in den Vordergrund, denn „[e]r hat die Fernsehnation, die sich langsam zerstreut, vor dem Bildschirm versammelt, nicht, um Geschichte im Film zu sehen, sondern sich selbst in der Geschichte“ und attestiert dem Dreiteiler somit von höchster staatlicher Stelle ebenfalls eine identitätsstiftende Wirkung. 88
4.1.3 Erinnerungsfilme als Bildungshelfer Über die wachsende Rolle von Erinnerungsfilmen in der Vergegenwärtigung von Vergangenheitsbildern ist bereits einiges gesagt worden. Ihre Bedeutung zu leugnen fiele wohl auch Skeptikern immer schwerer. Kühberger konstatiert beispielsweise, dass davon ausgegangen werden [kann], dass die filmische Form der Geschichtsdarstellung jene ist, die den meisten Schüler / innen auch in Zukunft begegnen wird. Zudem gilt es zu beobachten, dass Filme über die Vergangenheit bei der
85 FBW. o. J. „Aufgaben & Ziele | Deutsche Filmbewertung und Medienbewertung FBW.“ fbw-filmbewertung.com, URL: https://www. fbw- filmbewertung. com/ aufgaben_ ziele, Zugriff am 26. August 2018. 86 Vgl. Auszug aus der Jury-Begründung der FBW zur Verleihung des Prädikats besonders wertvoll, FBW, Film Unser letzter Sommer | Deutsche Filmbewertung und Medienbewertung FBW. 87 Vgl. Bösch, Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft, S. 19 88 Frank-Walter Steinmeier. 2017. Rede des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier anlässlich der Festveranstaltung zum 100. Gründungsjubiläum der UFA am 15. September 2017. URL: http://www. bundespraesident. de/ SharedDocs/ Downloads/ DE/ Reden/ 2017/ 09/ 170915- UFA. pdf, Zugriff am 8. August 2018. Interessanterweise haben sich deutsche Politiker bisher in der Kontroverse um Erinnerung im Film und insbesondere um Unsere Mütter, unsere Väter aber sehr zurückgehalten.
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Tradierung von Erzählmustern und Bewertungen von vergangenem Geschehen eine entscheidende Rolle zukommt. Sie generieren innere Vorstellungsbilder, welche sich als schwer revidierbare „conceptions“ etablieren können und Geschichtsbilder mitbestimmen. 89
Sommer definiert innere Vorstellungsbilder als „jene Bilder, die uns vorwiegend beim Lesen eines fiktionalen Textes vor dem ‚geistigen Auge‘ erscheinen“ und fand in seiner Studie zur Rezeption und Wirkung von Historienfilmen Beispiele dafür, wie „diese inneren Vorstellungsbilder durch die Rezeption von historischen Spielfilmen beeinflusst werden“ können. 90 Wohl aber ist eine gewisse Vorsicht geboten, wenn Spielfilme mit historischem Sujet zur Vergegenwärtigung von Geschichte im Unterricht eingesetzt werden. Es ist mittlerweile nicht mehr unüblich, dass im Rahmen der Vermarktung historischer Spielfilme auch begleitende Bildungsmaterialien veröffentlicht werden, die diese Filme in einem schulischen Kontext nutzbar machen. Ein Problem drängt sich auf: Die während der Vermarktung der Filme beschworene Authentizität der Bilder und Ereignisse lädt dazu ein, Vergangenheitsbilder in Geschichtsfilmen unreflektiert als Abbildungen der Realität hinzunehmen. Dass es sich dabei allerdings lediglich um eine Illusion von Authentizität handelt, die angesichts der Natur des Spielfilms als Unterhaltungsmedium einer geschichtswissenschaftlichen Überprüfung kaum standhalten würde, wurde bereits mehrfach erwähnt. Paradoxerweise kann der Erinnerungsfilm selbst die Anregung sein, genau hier anzusetzen: Geschichtliche Spielfilme sind demnach weitaus mehr als lediglich ein Veranschaulichungsmedium. Versteht man sie als filmische Narration von Geschichte, kann eine Analyse dieser Geschichtserzählung dazu beitragen, einen reflektierten Umgang der Lernenden mit Geschichte zu fördern und sie zu einem kritischen Umgang mit geschichtskulturellen Deutungen von Geschichte in ihrer alltäglichen Lebensumwelt zu befähigen. 91
Dazu gehört beispielsweise der Umgang mit Geschichte als Konstrukt und der Wechsel von Perspektiven. Dabei lassen sich informelle und formelle Lernsituationen unterscheiden. Während in ersteren „Visualität und Dynamik des Spielfilms überwiegen“, aber mitunter zu einer unreflektierten Identifikation mit den Aussagen des Films führen können, muss die Illusion der Authentizität im institutionalisierten Bildungskontext gebrochen 89 Kühberger, Geschichte denken, S. 24. 90 Sommer, „Da kommt das Bild aus dem Film“, S. 427. 91 Britta Wehen. 2012. „Historische Spielfilme – ein Instrument zur Geschichtsvermittlung?“ Website der Bundeszentrale für politische Bildung, 11. September 2012, URL: http://www. bpb. de/ gesellschaft/ bildung/ kulturelle- bildung/ 143799/ historische- spielfilme? p= all, Zugriff am 2. September 2018.
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werden, um den Film für formelle Lernsituationen nutzbar zu machen. 92 Nichtsdestotrotz ist die Wirkung von einzelnen Geschichtsfilmen auf die Geschichtsbilder und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern in Studien nicht eindeutig nachweisbar 93 und nicht unumstritten, unter anderem weil der Erfolg von Geschichtsfilmen in den Kinos sich im Vergleich zu anderen Genres in Grenzen hält. 94 Harald Welzer hat in seiner Studie Opa war kein Nazi herausgearbeitet, dass der Effekt der Spielfilme als Vermittler von Vergangenheitsbildern für die Kinder- und Enkelgeneration, also auch für die hier im Fokus stehende dritte Generation, stärker wirkt als für die Erlebnisgeneration, wenngleich die filmischen Bearbeitungen der Vergangenheit auch dort Wirkung zeigen: Der Befund, dass gerade Spielfilme und Romane, also ausdrücklich fiktionale Erzeugnisse, als Quellen für historische Wirklichkeit betrachtet werden, ist vielleicht nicht sehr überraschend. [. . . ] Besonders der dem Spielfilm eigene Evidenzcharakter, dass er ohne didaktische Absicht Geschichten und Geschehensabläufe erzählt, scheint ihn gegenüber den absichtsvollen Vermittlungsformen in Gedenkstätten, Dokumentarfilmen usw. attraktiver und wirklichkeitshaltiger zu machen. 95
Das machen sich auch Kulturmittler zunutze. Ein Jahr vor Veröffentlichung von Warschau ’44 hat das polnische Adam Mickiewicz Institut auf seiner Internetpräsenz Culture.pl Filme zusammengestellt, die es den internationalen Lesern leichter machen sollen, sich Wissen über den Warschauer Aufstand anzueignen. Für viele Menschen außerhalb Polens ist der Aufstand weiterhin unbekannt. Das Kulturinstitut empfiehlt für dieses informelle Lernen über die Vergangenheit den Dokumentarfilm Powstanie warszawskie 96 von Jan Komasa, zusammengestellt aus Archivmaterial zweier Brüder, die am Aufstand teilnahmen. Zudem wird neben weiteren
92 Wehen, Historische Spielfilme – ein Instrument zur Geschichtsvermittlung? 93 Vgl. bspw. Wilhelm Hofmann, Anna Baumert und Manfred Schmitt. 2005. „Heute haben wir Hitler im Kino gesehen: Evaluation der Wirkung des Films Der Untergang auf Schüler und Schülerinnen der neunten und zehnten Klasse.“ Zeitschrift für Medienpsychologie, Nr. 17/2005, S. 132–146. 94 Vgl. bspw. Christian Kuchler. 2014. „Bespaßung vs. Behandlung: Kino und Geschichtsunterricht.“ Public History Weekly, 24. April 2014, URL: https://publichistory- weekly. degruyter. com/ 2- 2014- 15/ bespassung- vs- behandlung- kino- und- geschichtsunterricht/ , Zugriff am 2. September 2018. 95 Welzer, Moller & Tschugnall, Opa war kein Nazi, S. 133. 96 Seine Premiere feierte der Dokumentarfilm 2013 bei den Feierlichkeiten zum 69. Jahrestag des Aufstands, also in einem ähnlichen Kontext wie Komasas Spielfilm Warschau ’44 ein Jahr darauf. Auch Wosiewiczs Film hatte seine Kinopremiere in Polen am symbolischen Datum des 1. August 2013.
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auch Leszek Wosiewiczs Spielfilm Był sobie dzieciak empfohlen sowie weitere Erinnerungsfilme, darunter selbstverständlich auch Komasas ein Jahr nach Erscheinen des Artikels zur Veröffentlichung terminierter Spielfilm Warschau ’44. 97 Dieses Lernen über Geschichte mittels moderner Spielfilme ist aber nicht nur ein Phänomen, das in informellen Bildungskontexten außerhalb der Schule stattfindet. Wie Andreas Sommer in seiner Studie zur Rezeption und Wirkung von Historienfilmen konstatiert, hat „[a]uch die Geschichtsdidaktik [. . . ] bereits vielfach auf den Film als geschichtsbewusstseinskonstituierendes Element hingewiesen“. 98 Filmbegleithefte für den Unterricht sind in Deutschland recht verbreitet und werden von verschiedenen staatlichen oder gemeinnützigen Initiativen im Internet kostenfrei zur Verfügung gestellt. 99 Für den oscarprämierten Film Ida, der auch mit dem LUX Preis des Europaparlaments ausgezeichnet wurde, wurden begleitende Bildungsmaterialien zur Nutzung im Schulunterricht sogar in allen Sprachen der Europäischen Union erstellt. 100 Zu Unsere Mütter, unsere Väter existiert ein solches Sondermaterial nicht, wohl auch, weil eine insgesamt 270-minütige Miniserie nur bedingt im Schulunterricht behandelt werden kann. Der Anspruch der Filmemacher war es zudem, den intergenerationellen Dialog innerhalb der Familien anzuregen. Eine formalisierte Nutzung im Schulunterricht war nicht vorgesehen. Zu Warschau ’44 ist kein deutschsprachiges Material erhältlich, dafür aber umfangreiches, unter der Schirmherrschaft des Ministeriums für nationale Erziehung (Ministerstwo Edukacji Narodowej) vom polnischen Institut für nationales Gedenken (Instytut Pami˛eci Narodowej – IPN) und dem Museum der Geschichte Polens (Muzeum Historii Polski – MHP) ausgearbeitetes Lehrmaterial. Verfügbar gemacht wird das Material auf der Website zum Spielfilm, miasto44.pl und auf der Homepage des
97 Vgl. Culture.pl. 2013. „Crash Course on the Warsaw Uprising.“ Culture.pl, 22. August 2013, URL: https://culture. pl/ en/ article/ crash- course- on- the- warsaw- uprising, Zugriff am 19. August 2018. 98 Sommer, „Da kommt das Bild aus dem Film“, S. 428. 99 Vgl. bspw. das Filmbegleitheft zu Napola – Elite für den Führer vom Bernhard Wicki Gedächtnisfond, siehe auch Franz Günther Weyrich. 2005. Napola – Elite für den Führer. Ein Film von Dennis Gansel. Filmbegleitheft. München: Verband Druck und Medien Bayern, URL: http://bernhardwickigedaechtnisfonds. de/ wp- content/ uploads/ 2014/ 02/ napola. pdf, Zugriff am 7. Dezember 2018. Auch die Bundeszentrale für politische Bildung bietet Filmbegleithefte zu diversen Filmen, wie beispielsweise zu Am Ende kommen Touristen an, siehe auch Philipp Bühler. 2007. Filmheft. Am Ende kommen Touristen. Herausgegeben von Bundeszentrale für politische Bildung, URL: http://www. bpb. de/ system/ files/ pdf/ 1AUZJI. pdf, Zugriff am 30. Januar 2017. 100 Vgl. Europäisches Parlament, LUX Prize 2014 – Pedagogical kit – IDA.
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´ Filmverleihers Kino Swiat. Im Vorwort schreiben die Hauptverantwort˙ lichen, Małgorzata Zaryn und Kamila Sachnowska: Auf die Kinoleinwände kommt der lang erwartete Film über den Warschauer Aufstand. Er wird sicher von den jungen Polen überrannt, für die das Ethos des 1. August noch lebendig ist. Trotzdem unterliegt der Spielfilm den Gesetzen, die für ein künstlerisches Werk gelten, und der Regisseur ist nicht verpflichtet, die historische Buchstäblichkeit zu wahren. Das IPN und das MHP sind als Institutionen, die die Erinnerung schützen, bestrebt, den Zuschauern die Möglichkeit zu geben, ihr Wissen um Elemente zu ergänzen, die im Film fehlten. [. . . ] Wir hoffen, dass dieses Material eine Hilfe in der geschichtlichen Bildung der jungen Generation sein wird. 101
Das Lehrmaterial informiert spielerisch über die Symbole des Warschauer Aufstands und der polnischen Heimatarmee, stellt Biografien und Augenzeugenberichte der Aufständischen vor. Vorbereitete Unterrichtspläne für Schüler des polnischen gimnazjums, das der Mittelstufe entspricht, oder höherer Schulformen sollen Lehrkräfte dazu anregen, Komasas Film zur Besprechung des Aufstands zu verwenden. Die schriftlichen Quellen werden teilweise mit Archivfotografien, aber vereinzelt auch mit Fotos vom Filmset und Screenshots aus Warschau ’44 bebildert. Ein Beispiel ist das Bild eines Jungen der berühmten Szare Szeregi, die als Pfadfinder die Feldpost während des Aufstands übermittelten. 102 Bilderserien, die den Schülerinnen und Schülern die Situation in den einzelnen Warschauer Stadtteilen näherbringen sollen, bestehen teilweise zu mehr als 75 % aus Filmbildern, denen eine geringere Anzahl zeitgenössischer Fotografien aus der Zeit des Warschauer Aufstands gegenüber steht. Teilweise sind die Archivbilder so gewählt, dass sie vergleichbare Szenen aus dem Film legitimieren und deren Authentizität unterstreichen, beispielsweise das Hochzeitsfoto von Beata und Franciszek „Kobra“, dem ein Foto einer echten Hochzeit 1944 entgegensteht. 103 Filmbilder können tatsächliche Erinnerungsbilder „überlagern, weil sie sich doch so ähneln, um nicht zu sagen, sogar authentischer erscheinen“. 104 Wie Welzer betont auch Korzeniewska, dass filmische Narrationen genutzt werden, um eigene Erinnerungslücken zu schließen. 105 Dass also die bunten Filmbilder aus Warschau ’44 an ´ 101 Kino Swiat. 2014. „Miasto 44“ – Pakiet edukacyjny. URL: http://www. kinoswiatedukacji. pl/ filmy/ miasto- 44, Zugriff am 26. Juli 2017. Bis zur Abschaltung der offiziellen Filmwebsite miasto44.pl waren die Materialien auch dort verfügbar. 102 Vgl. Gabriela Sieroci´nska-Dec. 2016. „Materiały z´ródłowe. O Niepodległa.“ ˛ In: „Mi´ asto 44“ – Pakiet edukacyjny. Herausgegeben von Kino Swiat, URL: http://www. kinoswiatedukacji. pl/ filmy/ miasto- 44, Zugriff am 26. Juli 2017, S. 4. ´ ´ 103 Vgl. Kino Swiat, „Miasto 44“ – Pakiet edukacyjny, Material Nr. 24, Sródmie´ scie. 104 Wirtz, Das Authentische und das Historische, S. 194. 105 Vgl. Korzeniewska, Liminalität und Post-Erinnerung, S. 169 f.
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die Stelle der schwarz-weißen Archivbilder oder aber auch der weißen Flecken in der Erinnerung treten können, ist nicht ausgeschlossen. Hesling bemerkt, dass insbesondere das Fernsehen durch die kontinuierliche Ausstrahlung von Geschichtsbildern dazu beiträgt, dass diese Geschichte immer mehr Teil der Gegenwart wird. Er spricht von einem Kanon von Geschichtsbildern, der schwer aufzubrechen sei. 106 Die Nutzung von Filmbildern aus Warschau ’44 im begleitenden Unterrichtsmaterial zusammen mit authentischen Fotografien aus der Zeit des Aufstands ist in diesem Kontext also besonders interessant, denn es ist nicht unwahrscheinlich, dass diese Bilder in den kollektiven Kanon von Geschichtsbildern eingehen. Warschau ’44 wird in Polen mit großer Regelmäßigkeit mehrmals jährlich im öffentlich-rechtlichen Fernsehen (TVP, TVP Polonia, TVP Kultura usw.) ausgestrahlt. Für den deutschsprachigen Raum ist diese Frequenz vergleichbar mit Unsere Mütter, unsere Väter und der dazugehörigen Dokumentation. Auch zur polnisch-deutschen Koproduktion Unser letzter Sommer existieren begleitende Lehrmaterialien, die den Film für eine Nutzung im Schulunterricht empfehlen. Diese wurden durch die Verleihfirma farbfilm verleih in Form eines interaktiven PDFs bis zur Abschaltung der deutschen Website im Sommer 2018 online zur Verfügung gestellt. 107 Das interaktive PDF ist mit Videos, Hintergrundtexten und interaktiven Landkarten ausgestattet und soll Anregung zur Verwendung des Films im Schulunterricht geben. Viele der Arbeitsaufträge zielen darauf ab, dass die Schülerinnen und Schüler sich emotional in die Protagonisten hineinversetzen 108 sollen. Dieses Lernziel wird auch zu Beginn des Lehrmaterials formuliert: Trotz aller Widersprüchlichkeit, die in ihren Figuren angelegt ist, oder gerade wegen ihrer facettenreichen Darstellung laden Romek und Guido das jugendliche Publikum zur Identifikation ein. Sie vermitteln ihm einen Einblick in das Seelenleben der Menschen, die in dieser Zeit und an diesem Ort gelebt haben. 109 106 Vgl. Hesling, The past as story, S. 199. 107 farbfilm verleih. 2015. Unser letzter Sommer. Presseheft. 26 Seiten. Lisa Marie Gadatsch. 2015. Unser letzter Sommer. Interaktives Schulmaterial. Herausgegeben von farbfilm verleih. 35 Seiten. Online sind die Materialen weiterhin über Kinofreund.com verfügbar, URL: https://filme. kinofreund. com/ f/ unser- letzter- sommer, Zugriff am 20. August 2018. 108 Laut Brauer kann eine solche Aufgabenstellung, die „auf Perspektivwechsel“ abzielt und „Schüler_innen dazu auf[fordert], sich in die Lage der historischen Akteur_innen zu versetzen“ nur „solange produktiv im Sinne des historischen Lernens [sein], solange es bei einem Perspektivwechsel bleibt und nicht zu seiner Perspektivübernahme führt“. Juliane Brauer. 2019. „Gefühlte Geschichte? Emotionen, Geschichte und historisches Lernen.“ Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, Nr. 95, S. 272– 283; hier: S. 279–280. 109 Gadatsch, Unser letzter Sommer. Interaktives Schulmaterial, S. 2.
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Ausgearbeitet wurde das Konzept von Lisa Marie Gadatsch, einer Filmwissenschaftlerin und Pädagogin. Empfehlungen für Lehrkräfte zur Einbettung des Films in den Geschichts-, Ethik- sowie Deutsch- oder Kunstunterricht gehen den Arbeitsaufgaben voran. Insbesondere zum Lernen über den Holocaust, die nationalsozialistische Diktatur und speziell den Besatzungsalltag in Polen kann der Film helfen, historisches Wissen zu vermitteln. Auch wurde innerhalb der Schulkinowochen angeregt, den Film an Schulen zu zeigen. Genutzt wurde diese Möglichkeit allerdings kaum. 110 Die Nutzung der Filme und des Begleitmaterials erfolgt schließlich auf freiwilliger Basis und ist dem individuellen Engagement der Pädagogen überlassen. Außerdem existiert eine unabhängige, polnische Version der Lehrma´ terialien, die vom polnischen Filmverleiher Kino Swiat veröffentlicht und ebenfalls online zur Verfügung gestellt wird. Ausgearbeitet wurden die enthaltenen Unterrichtsentwürfe von Lehrkräften, nämlich vom Geschichtsund Gesellschaftskundelehrer Adam R˛ebacz, der auch für die internationalen Bildungsprojekte „Zwischen Ost und West“, „Polnischer Pfad in Berlin“ und „Polnischer Pfad in Dresden“ verantwortlich zeichnet. Außerdem leistete die Polnischlehrerin Małgorzata Wi´sniewska einen Beitrag. 111 Die Materialien sind eine Mischung aus Presseheft und Unterrichtsskizzen, die zu einer Filmanalyse und darüber hinausgehenden Befassung mit der Thematik der Besatzungszeit in Polen und dem Zweiten Weltkrieg, auch anhand von Quellenmaterial anregen sollen. Welcher Aspekt aber im Vordergrund steht, zeigt die Einleitung zur polnischen Version des Bildungsmaterials: Die ersten Informationen über den Film Unser letzter Sommer im von der ´ Verleihfirma Kino Swiat herausgegebenen Presse- und Bildungsmaterial gelten den bereits erwähnten Gütesiegeln, nämlich den zahlreichen Erfolgen des Films bei Filmfestivals und den Preisen, die die Produktionsfirma in vergangenen Jahren für andere Filme bereits errungen hat. 112 Erinnerungsfilme im Unterricht können also durchaus historisches Wissen vermitteln und darüber hinaus auch dazu dienen, Stereotype zu hinterfragen und die interkulturelle Verständigung zu fördern. 113 Erinnerungsfilme sind daher nicht nur Konsumgüter, sondern können im Rahmen kritischer Lernprozesse über die Vergangenheit eine wichtige Rolle einnehmen. Verstärkt wird dieser Prozess durch begleitend zu den Filmen entwickelte Materialien für den Schulunterricht, die eine durch Spielfilme unterstützte Vergegenwärtigung von Vergangenheitsbildern in-
110 Persönliche Korrespondenz mit Thomas Jeschner, Sunday Filmproduktions GmbH, E-Mail vom 31. August 2017. ´ 111 Vgl. Kino Swiat, Folder Edukacyjny Letnie Przesilenie. 112 Vgl. ebd. 113 Vgl. bspw. Coleman, Filmische Stereotype im interkulturellen Landeskundeunterricht.
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stitutionalisieren und professionalisieren können. Indem sie das Interesse der Öffentlichkeit an bestimmten historischen Themen wecken, können populäre Erinnerungsfilme so auch Türöffner für eine breitere Rezeption geschichtswissenschaftlicher Arbeiten sein. 114
4.2 Einbettung der Erinnerungsfilme in bestehende Vergangenheitsdiskurse 4.2.1 Opferdiskurse – Täterdiskurse: Die Schuld der anderen Ein Film wird erst in seinem sozialen Kontext zum Erinnerungsfilm. Von besonderer Bedeutung für die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg sind im deutsch-polnischen Kontext Opfer- und Täterdiskurse. Frühere oder parallel zur Ausstrahlung der Erinnerungsfilme geführte Diskurse über Opfer- oder Täterrollen sind deswegen für die Rezeption der Filme konstitutiv, prägen doch diese Debatten auch die Wahrnehmung der Spielfilme. Vornehmlich verläuft dieser Prozess nach wie vor auf einer nationalen Ebene. Durch die Verankerung der Erinnerungsfilme in einem transnationalen Kontext aber können auch die vormals rein national geprägten Vergangenheitsbilder zur Disposition stehen. Wie bereits erwähnt bieten insbesondere Coming-of-Age Filme fruchtbaren Boden für die Hinterfragung von Täter-Opfer-Dichotomien. Gern stellen die Mythenmacher ihre filmische Bearbeitung der Vergangenheit als völlig neuartig dar, als Bruch mit bisherigen Erzählweisen. „Auch die Filmwelt arbeitete in den letzten Jahren auffällig häufig mit dem Tabubegriff, um ihre Inhalte als spektakulär zu markieren“, wie Bösch feststellt. 115 Wo kein Tabu war, muss eines konstruiert werden. So geben beispielsweise auch die Mythenmacher von Unsere Mütter, unsere Väter vor, dass sie mit ihrem Film ein jahrzehntelanges Schweigen gebrochen hätten und nun endlich in deutschen Familien über die Erlebnisse der Mütter und Väter während des Zweiten Weltkriegs gesprochen werde. Dieses vermeintliche „,Brechen des Schweigens’ ist eine zentrale Pathosformel deutscher Erinnerungsgeschichte“, so Aleida Assmann. 116 Und tatsächlich löste Unsere Mütter, unsere Väter eine medienöffentliche Auseinandersetzung mit dem Krieg als Teil der eigenen Familiengeschichte aus. 117
114 115 116 117
Vgl. Bösch, Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft, S. 27. Ebd., S. 28. Assmann, Unbehagen, S. 39. Vgl. bspw. die Berichte von Journalisten der WELT zu den Kriegserinnerungen ihrer Großmütter und Großväter, Nikolaus Doll et al. 2013. „Unsere Großmütter, unsere
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Die vermeintliche Enttabuisierung der deutschen Opfererzählung, d. h. eine Hinwendung zu den Opfern der eigenen Nation, ist keine für Deutschland spezifische Entwicklung. Seit einigen Jahrzehnten lässt sich eine Veränderung in der Erinnerungskultur feststellen, die Aleida Assmann mit einer ethischen Wende begründet, nach der sich ein heilendes Vergessen verbitte. Opfer- und Tätererinnerungen „enden längst nicht mehr an den Grenzen der Nationen, sondern verschränken sich auf einer transnationalen und globalen Ebene“. 118 Es sind nicht mehr Ehre und Heldentum, die maßgeblich darüber entscheiden, welche Erinnerungen Eingang in das kollektive Gedächtnis einer Erinnerungsgemeinschaft finden. An ihre Stelle sind Trauma und Opfererfahrung getreten. Gruppen beanspruchen nun für sich die Opferrolle, um ihre Geschichte neu zu erzählen und ihre kollektive Identität neu zu definieren. So könne Trauma in Ehre umgewandelt werden. 119 Und ein vermeintlich schweres Trauma, einer ewigen Wunde gleich, die man „gelegentlich aufstechen [müsse, Anm. JRG], damit sie nicht eitert“ und deren einziges Heilmittel die Erinnerung scheine, schreibt der Spiegel auch der deutschen Nachkriegsgesellschaft zu. 120 Daraus ergeben sich für die Erinnerungsgemeinschaft Vorteile, denn der Opferstatus ist heutzutage mit Prestige behaftet. 121 In der individualisierten Gesellschaft genießen Opfer eine Sonderstellung, die sie über Kritik erhaben macht. Das unschuldige Opfer, das sich heute nicht mehr nur passiv seinem Schicksal ergeben haben muss, genießt durch die erlittenen Qualen und seelischen Narben eine moralische Autorität. Für diese Opfer gilt die Unschuldsvermutung. Sie haben Rechte und keine weiteren Verpflichtungen, müssen aber dem Bild des Opfers in der Öffentlichkeit gerecht werden, sind sie doch laut Klaus Bachmann für moderne Erinnerungsgemeinschaften Projektionsfläche für „jene Sehnsucht nach Reinheit, Wahrheit und Führung, die deren traditionelle Träger aus früheren Zeiten (der Fürst, der Staatsmann, der König, der Priester, Papst etc.) nicht mehr liefern können, weil sie vom alles durchdringenden Trend zur Rationalisierung im Weber’schen Sinne ‚entzaubert‘ wurden“ 122. Auch aus diesem Grund können die Protagonisten in Unsere Mütter, unsere Väter und auch Unser letzter Sommer kaum überzeugte Anhänger der NS-Ideologie
118 119 120 121 122
Großväter im Krieg.“ Welt.de, 24. März 2013, URL: https://www.welt.de/vermischtes/ article114713876/ Unsere- Grossmuetter- unsere- Grossvaeter- im- Krieg. html, Zugriff am 6. Oktober 2018. Assmann, Unbehagen, S. 48 Vgl. Assmann, Der lange Schatten, S. 76–81 Leick, Die Wunde der Vergangenheit, S. 135. Vgl. Bachmann, Versöhnungskitsch nach 10 Jahren, S. 30. Ebd., S. 29 f.; vgl. auch Assmann, Der lange Schatten, S. 80.
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sein, denn als Identifikationsfiguren für eine heutige Generation junger Deutscher würden sie dann nicht dienen können. 123 Sowohl in Deutschland als auch in Polen findet dieser Wandel zu heldenhaften Opfern statt, jedoch aus, wie Bachmann feststellt, ganz unterschiedlichen Motiven und vor dem Hintergrund sehr verschiedenartiger historischer Erfahrungen. Während in Polen die Wurzeln dieser Umdeutung in „der Romantik, dem Aufstandsmythos und dem Messianismus des 19. Jahrhunderts“ liegen, finden sie sich in der Bundesrepublik in der „gesellschaftlichen Individualisierung und ihre[n] medialen Auswirkungen“. Das Resultat aber ist laut Bachmann ähnlich: „Die Verabsolutierung des Opferstatus im gesellschaftlichen Diskurs“. 124 Gleichwohl ergeben sich Verständigungsprobleme: Da jede Seite ihre eigene Haltung auf die andere überträgt, erscheint der individualistische deutsche Opferdiskurs in Polen aber als Versuch, die Nation zu rehabilitieren, während die polnischen Versuche, auf nationale Mythen zu rekurrieren, in Deutschland als nationalistisch erscheinen. 125
Zur Personalisierung des Opfergedenkens leistete die Holocaust-Erinnerung und zur massenmedialen Verbreitung insbesondere die Ausstrahlung der amerikanischen TV-Serie Holocaust einen wichtigen Beitrag, die „however, established Jews as the central victims of the Nazis“. 126 Die neue Erinnerung an die eigenen Opfer in Deutschland und in Polen zehrt von den durch die Holocaust-Erinnerung etablierten Mustern, die sie im Sinne einer multidirektionalen Erinnerung auf die eigenen, nationalen Kontexte überträgt. Besonders erleichtert wird eine Neubewertung der etablierten TäterOpfer-Dichotomien durch die Fokussierung auf eine junge Generation, die durch eine der Jugend inhärente Unschuld bereits wichtige Grundlage für die Zuschreibung eines Opferstatus mitbringt. Dass diese aktiv von Rezensenten zur Umdeutung der Deutschen zu Opfern genutzt wird, zeigen die Reaktionen auf Unsere Mütter, unsere Väter, aber auch die Bewertung der Figur von Guido Hausmann in Unser letzter Sommer. So charakterisiert Nils Michaelis im sozialdemokratischen Vorwärts Guido als Opfer des nationalsozialistischen Systems: Zur gleichen Zeit erlebt Guido die Hölle auf Erden [. . . ] Als „Asozialer“ hat es der 17-Jährige in der abgestumpften Gesellschaft weitaus älterer Männer nicht leicht. [. . . ] Und aus Guido wird ohnehin nie ein kadergehorsamer Trä-
123 124 125 126
Vgl. Assmann, Unbehagen; Saryusz-Wolska & Piorun, Verpasste Debatte. Bachmann, Versöhnungskitsch nach 10 Jahren, S. 27. Ebd., S. 32. Feindt, From „flight and expulsion“ to migration, S. 557.
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ger des „weltanschaulichen“ Krieges, selbst wenn er auf Befehl zur äußersten Brutalität bereit ist. Er selbst ist er nur beim Musikgenuss. Und beim Flirten mit Franka. 127
Kritischer betrachtet die Figur des Guido Philipp Stadelmaier, der in Rogalskis Film im Hinblick auf die Verschiebung von Opfer- und Täteridentitäten eine Kontinuität zu Unsere Mütter, unsere Väter sieht: Am schlimmsten steht es um die Figur von Guido, dem jungen Wehrmachtssoldaten (Jonas Nay). Ein braver Junge mit großen Augen, der das alles nicht will und nur hier ist, weil er zu Hause entartete Musik gehört hat und strafversetzt wurde. Wie lieb er mit dem Kompaniehündchen spielt! Guido ist ein Guter, der zum Bösen gezwungen wird und sich seinem fiesen Oberleutnant unterwerfen muss. So arbeitet „Unser letzter Sommer“ mit Hochdruck am Bild des guten Deutschen, der das Pech hatte, damals zu leben und von den anderen, gewissen „Nazis“, verführt worden zu sein. Spätestens seit Nico Hofmanns TV-Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“ ist diese Geschichtslackierung, welche die heutige „freundliche“ Vormachtstellung Deutschlands in Europa begleitet, absolut hoffähiger Filmstoff. 128
Bemerkenswert ist, dass die Umdeutung der Deutschen zu Opfern hier einem polnischen Regisseur von einem deutschen Journalisten vorgeworfen wird. Während derlei Versuche aus Deutschland, die eigenen Großmütter und Großväter posthum zu entlasten, in Polen aus oben bereits erwähnten Gründen mit Misstrauen beobachtet werden, treffen Angriffe auf den polnischen Opfermythos auf heftigere Reaktionen auch in der polnischen Presse. Der Aufschrei nach der Ausstrahlung der Miniserie Unsere Mütter, unsere Väter, die in Polen als deutscher Versuch der Umdeutung der Geschichte gewertet wurde, in der Polen nun mindestens Mittäter des Holocaust wären und die Deutschen Opfer eines gesichtslosen, nationalsozialistischen Unrechtsstaates, reiht sich ein in eine Vielzahl ähnlicher deutsch-polnischer Missstimmungen in den vergangenen Jahren. Nur wenige Jahre zuvor hatte das Projekt eines Zentrums gegen Vertreibungen in Berlin alte Ängste in Polen geschürt, dass hiermit ein deutscher Revisionismus verbunden mit finanziellen Forderungen der Heimatvertriebenen über ihre verlorenen Besitztümer in den ehemaligen deutschen Ostgebieten einhergehen könnten. 129 Auch in diesem Kontext muss die Diskussion 127 Michaelis, Romanze am Todesgleis. 128 Stadelmaier, Hormonstau vor Holocaust-Kulisse. 129 Vgl. bspw. Claudia Kraft. 2004. „Die aktuelle Diskussion über Flucht und Vertreibung in der polnischen Historiographie und Öffentlichkeit.“ Zeitgeschichte-online, 1. Januar 2004, URL: https://zeitgeschichte- online. de/ themen/ die- aktuelle- diskussion- uber- flucht- und- vertreibung- der- polnischen- historiographie- und, Zugriff am 28. Juni 2013.
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um Unsere Mütter, unsere Väter gesehen werden, die polnische Selbstbilder ebenfalls infrage stellte. In vielerlei Hinsicht sind die verflochtenen deutsch-polnischen Debatten über das Zentrum gegen Vertreibungen und die TV-Miniserie von Kadelbach vergleichbar. Ein Beispiel sind emotionale Reaktionen, die 2013 eine Darstellung der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel in Häftlingskleidung auf der polnischen Zeitschrift Uwa˙zam Rze auslöste, die an das Bild der damaligen Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, erinnerte, die von demselben Magazin in SS-Uniform auf dem Rücken des Bundeskanzlers Gerhard Schröder reitend dargestellt wurde. Die 2017 und 2018 auf polnische Initiative erneut geführte Diskussion über Reparationsforderungen Polens gegenüber Deutschland zeigt abermals, wie präsent das Thema im Nachbarland noch immer ist bzw. von den politischen Meinungsführern gemacht werden kann. Schon 2016 stellte Monika Olejnik in der Gazeta Wyborcza zynisch fest, dass die Zeiten der Pädagogik der Scham vorbei seien, und bemerkte in Anlehnung an eine Äußerung des Vorsitzenden der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit, Jarosław Kaczy´nskis: Polen ist von den Knien auferstanden und kämpft um seinen guten Namen. Wir werden uns nicht für unsere Vorfahren schämen, die Verbrechen in Jedwabne und im Kielcer Pogrom begangen haben. 130
Zbigniew Mazur kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass sich Unsere Mütter, unsere Väter hervorragend in einen deutschen Opferdiskurs einreiht, wie er in seinem Artikel über die deutschen Enkelinnen und Enkel festhält. Gleichsam folgt die Miniserie dem Trend der Entlastung und Externalisierung von Schuld, indem Mitschuldige für die deutschen Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs gesucht werden. Unsere Mütter, unsere Väter hat sie in den Partisanen der Heimatarmee gefunden, deren durchdringender Antisemitismus sie zu Kollaborateuren des Holocaust machen soll. Während diese Umdeutungen es also den Deutschen erlauben, sich einer Gemeinschaft der Opfer anzuschließen, werden die Polen einer Gemeinschaft der Täter zugerechnet. 131 Auch Anna Kochanowska-Nieborak befindet, dass sich die Miniserie „musterhaft in die Entlastungsnarration ein[fügt], die von der Verleumdung der Polen begleitet und zugleich beglaubigt wird“. 132 Es handelt sich dabei aber nicht nur um Einschätzun-
130 Monika Olejnik. 2016. „Pedagogika bez wstydu. . . “ Gazeta Wyborcza, 26. August 2016, URL: http://wyborcza. pl/ 1,75968,20599687,goscinne- wystepy- w- piatekolejnik- pedagogika- bez- wstydu. html, Zugriff am 14. Oktober 2018. 131 Vgl. Zbigniew Mazur. 2013. „German Granddaughters, German Grandsons.“ Institute for Western Affairs’ Bulletin, Nr. 135/2013, S. 1–4. 132 Kochanowska-Nieborak, Zur Relation von Versöhnung, Stereotypen, Geschichtspolitik und Erinnerungskultur, S. 111.
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gen polnischer Kommentatorinnen und Kommentatoren. Dieser Meinung schließt sich prinzipiell auch Christiane Peitz im Tagesspiegel an: „Die Nazis sind immer die anderen. Sie taugen bestenfalls zu Randfiguren, so stereotyp wie die antisemitischen Polen und die blutrünstigen Russen.“ 133 Dieser Meinung teilt auch Ulrich Herbert in seinem Kommentar in der taz, in dem er insbesondere den Mangel an Begeisterung für das Nazi-Regime unter den jungen Hauptfiguren moniert, denn die sind ja immerhin „um 1920 herum geboren und gehören einer Generation an, die alle Sozialisationsinstanzen des NS-Staates durchlaufen hat und in der der Anteil der NS-Begeisterten besonders groß war“. 134 Einige der Debatten, die die Rezeption moderner Erinnerungsfilme in Deutschland und Polen noch heute prägen, liegen bereits viele Jahrzehnte zurück. Besonders interessant ist die Einordnung der hier untersuchten Erinnerungsfilme in den Kontext der sogenannten Bło´nski-Debatte, einer Diskussion über die polnische Rolle während des Holocaust, die auf einen Beitrag des Literaturhistorikers Jan Bło´nski im katholischen Wochenblatt Tygodnik Powszechny zurückgeht. Bło´nski veröffentliche dort am 10. Januar 1987 einen Essay mit dem Titel Biedni Polacy patrza˛ na getto (dt. Die armen Polen blicken aufs Ghetto). 135 Den Titel wählte Bło´nski in Anlehnung an das Gedicht des polnischen Literaturnobelpreisträgers Czesław Miłosz Armer Christ sieht das Ghetto, das er in ebenjenem Essay bespricht. Sowohl Unsere Mütter, unsere Väter als auch Unser letzter Sommer werden in Rezensionen in den Kontext dieser Debatte um polnische Schuld gestellt. 136 Die Debatte, die Bło´nskis Essay folgte, kann ebenfalls als eine Instanz von Transnationalisierung der Erinnerungskultur betrachtet werden, lenkte doch erst eine Auslandserfahrung und die Konfrontation mit anderen Vergangenheitsbildern den Blick des Autors auf eine Neubewertung der polnisch-jüdischen Beziehungen während des Zweiten Weltkriegs. In seinem Artikel fordert Bło´nski nicht weniger als ein Schuldeingeständnis von der polnischen Bevölkerung, wobei er „einen Unterschied zwischen Mit-Beteiligung und Mit-Schuld“ 137 macht. Diese polnische Mit-Schuld 133 Christiane Peitz. 2013 „Die Nazis sind immer die anderen.“ Tagesspiegel, 22. März 2013, URL: https://www. tagesspiegel. de/ meinung/ erinnerungskultur- zurns- zeit- die- nazis- sind- immer- die- anderen/ 7970318. html, Zugriff am 11. Dezember 2018. 134 Herbert, Nazis sind immer die anderen. 135 Vgl. Jan Bło´nski. 1987. „Biedni Polacy patrza˛ na getto.“ Tygodnik Powszechny, Nr. 2/1987. 136 Vgl. bspw. Tadeusz Płu˙za´nski. 2013. „Biedni Niemcy patrza˛ na getto.“ Niezale˙zna.pl, 25. Juni 2013, URL: http://niezalezna. pl/ 42815- biedni- niemcy- patrza- na- getto, Zugriff am 22. April 2018; Staszczyszyn, Letnie przesilenie. 137 Kowitz-Harms, Die Shoah im Spiegel öffentlicher Konflikte, S. 70.
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ist für ihn moralischer Natur, haben die Polen sich ja nicht aktiv an der Vernichtung der Juden beteiligt, sich wohl aber durch eine auf einem verbreiteten Antisemitismus fußende Gleichgültigkeit und mangelnden Widerstand schuldig gemacht. In ebenjenen Kontext betten Bartosz Staszczyszyn und Tadeusz Płu˙za´nski ihre Rezensionen zu Unser letzter Sommer und Unsere Mütter, unsere Väter ein und weiten diese in Polen vor 30 Jahren geführte Debatte über eine moralische Mitschuld auf die Vergangenheitsbilder der Deutschen im modernen Erinnerungsfilm aus. Staszczyszyn spielt durch die Nutzung der Phrase Biedny Niemiec patrzy na ramp˛e (dt. Der arme Deutsche blickt auf die Rampe) auf die Rolle Guidos an, der mit seiner Einheit ganz in der Nähe eines Konzentrationslagers stationiert und unter anderem zur Bewachung der Rampe eingeteilt ist. Seine Schuld ist bisweilen nur moralischer Natur, aber sie ist vorhanden, denn Widerstand gegen das System, dem er unfreiwillig dient, leistet er nicht. Płu˙za´nski kritisiert in seiner Rezension zu Unsere Mütter, unsere Väter neben der verzerrten Darstellung der guten Deutschen gegenüber den verdorbenen Polen vor allem die selektive Darstellung der Geschichte, die für Polen und polnisches Leid relevante Orte deutsch-polnischer Geschichte ausklammerten: den Überfall auf Polen am 1. September, die Ermordung polnischer Eliten oder die Ermordung vornehmlich politischer Gefangener aus Polen im Konzentrationslager Auschwitz in den ersten Jahren seines Bestehens. Er kommt zu dem Schluss: „Und der Titel der Serie könnte lauten: ‚Die armen Deutschen blicken aufs Ghetto‘. Schließlich waren sie es, die den Juden helfen wollten, trotz der polnischen antisemitischen Wildnis.“ 138 Marek Czy˙zewski wiederum stellt zunächst am Beispiel wissenschaftlicher Auseinandersetzungen eine Analogie zwischen der Debatte um das bereits erwähnte Buch Hitlers willige Vollstrecker von Daniel Goldhagen in Deutschland und der Diskussion um Jan Tomasz Gross’ Buch Angst in Polen fest. 139 Prozesse der Vergangenheitsbewältigung, die in Deutschland im Umgang mit der eigenen Schuld stattfanden, lassen sich demnach auch in Polen beobachten: „Discussing specific cases of violence, the book [Angst von J. T. Gross, Anm. JRG] was meant to cause a restorative shock and overcome the Polish version of ‚the inability to mourn‘ [eine Anspielung auf Die Unfähigkeit zu trauern von Alexander und Margarete Mitscherlich, Anm. JRG]“. In beiden Fällen wurde die jüdische Herkunft der
138 Płu˙za´nski, Biedni Niemcy patrza˛ na getto. 139 Vgl. Marek Czy˙zewski. 2009. „The Polish Debate around Fear by Jan Tomasz Gross from the Perspective of Intermediary Discourse Analysis.“ In: Justice and Memory: Confronting Traumatic Pasts: an International Comparison. Herausgegeben von Ruth Wodak und Gertraud Auer Borea, Wien: Passagen Verlag, S. 147–168.
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Autoren zum Hauptangriffspunkt der Kritiker, die den Inhalt der Bücher in den Hintergrund treten ließen. 140 Der Effekt jedoch war ein anderer. Statt einer Neubewertung der Erinnerungskultur in Polen erreichte das Buch eine Polarisierung, im Zuge derer die kleine Gruppe der Verfechter einer selbstkritischen Aufarbeitung der polnischen Vergangenheit bestärkt wurde, aber die weitaus größere Gruppe der Gegner einer solchen Vergangenheitsbewältigung sich auf ihre defensive Position zurückzog. 141 Diese Prozesse lassen sich auch in der Rezeption von „films and other anti-racist or ‚anti-anti-Semitic‘ artistic means of expression“ 142 erkennen. Insbesondere die polnischen Reaktionen auf Unser letzter Sommer, die zwischen Lob für die differenzierten Vergangenheitsbilder und Kritik an einer als anti-polnisch empfundenen Interpretation der Geschichte schwankten, stehen für diese Tendenz. Die polnisch-deutsche Koproduktion Unser letzter Sommer thematisiert gleich zu Beginn des Films den polnischen Antisemitismus, 143 dessen Darstellung den Kern der Kritik an Unsere Mütter, unsere Väter ausmachte, aber auch in polnischen Produktionen wie Ida oder Pokłosie für heftige Reaktionen gesorgt hatte. Der Vorarbeiter aus Romeks Lokschuppen sagt dort, dass die Polen Hitler nach dem Krieg ein Denkmal bauen würden, weil er sie von den Juden befreit habe. Regisseur Rogalski gibt im Interview mit der Gazeta Wyborcza zu, dass er mit diesem Satz die Zuschauer schockieren wollte. Er selbst habe derlei einprägsame Aussagen einige wenige Male im Leben selbst gehört und erinnere sich noch sehr gut an sie. 144 Die betonte Ausgewogenheit der Charaktere in Rogalskis Unser letzter Sommer, die eine Schwarz-Weiß-Zeichnung entlang etablierter Stereotype des bösen Nazis und des guten Polen vermeiden will, wurde in Polen aber auch positiv aufgenommen. So schreibt zum Beispiel Beata Zato´nska für das Onlineportal des staatlichen Senders TVP.info: Es gibt hier keine Trennung in schlechte Deutsche und gute Polen – unsere Landsleute entpuppen sich als Diebe und Opportunisten, so wie der Lokführer (Bartłomiej Topa), und unter den Deutschen sind solche, die zur Armee gehen mussten, aber nicht kämpfen und töten wollen. [. . . ] Das ist kein Massen- oder Unterhaltungskino, aber interessant und mit großer Kultur gemacht. 145
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Ebd. S. 148. Vgl. ebd. S. 161. Ebd. S. 161 f. Vgl. bspw. Müller, Streitende Nachbarn. Vgl. Kumór, „Letnie przesilenie“. Re˙zyser: To film o ludziach, nie o Polakach, Niemcach ˙ i Zydach [ROZMOWA]. 145 Beata Zato´nska. 2016. „‚Letnie przesilenie‘ – jazz, wojna i miło´sc´.“ TVP.info, 22. April 2016, URL: http://www. tvp. info/ 25011908/ letnie- przesilenie- jazz- wojnai- milosc, Zugriff am 8. Juni 2016.
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Auch Anna Felskowska kommt im Magazyn Filmowy der Universität Danzig zu dem Schluss: „Der Versuch, eine Geschichte aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs ohne übertriebene Vorurteile zu erzählen, ist wie ein Gang über ein Minenfeld. Den Machern von Unser letzter Sommer ist es gelungen, heil davonzukommen.“ 146 Deutsche und Polen gleichermaßen gehen zwar nicht unschuldig aus dem Film heraus, aber werden multiperspektivisch dargestellt. Möglicherweise, weil sie durch die Koproduktion beide in den Entstehungsprozess involviert waren und somit kein klares Bild des Anderen füreinander sein konnten, in dessen Licht die eigene Identität konstruiert werden könnte. Es muss also eine dritte Partei her – das gemeinsame Feindbild der Russen. Jens Müller schreibt dazu in der taz: „Und die Russen, die nicht koproduziert haben, sind nicht nur Mörder, wie der Oberleutnant, sondern auch Vergewaltiger.“ 147 Insbesondere unter den Vertretern eines traditionellen Polens macht sich eine kaum übersehbare Tendenz sichtbar, die messianische Idee Polens als Christus unter den Völkern wieder ins Zentrum des Handelns des polnischen Staates zu stellen. 148 Die Vergangenheit wird zu einem zentralen Identifikationspunkt der nationalen Identität erhoben, die sowohl für die Gegenwart als auch für die Zukunft Polens konstitutiv ist. Ausdruck dieses Gedankens ist beispielsweise die Überhöhung der verfemten Soldaten zu Vorbildern für die heutige polnische Jugend, wie Präsident Andrzej Duda sie anlässlich der Premiere des nicht unumstrittenen Filmes Historia Roja formulierte: „Sie alle, jene Generation wurde zum Geist und Symbol der heutigen jungen Generation.“ 149 Auch hier ist die Zugehörigkeit zu einer jungen Generation, der damaligen und der heutigen, verbindendes Element. Die Generation der Soldaten der Heimatarmee soll als Vorbild für die heutige Generation von Polen dienen. Dieser Wandel lässt sich auch durch den Wunsch der nationalkonservativen Regierung erklären, eine Zäsur zur europafreundlichen Erzählung der Vorgängerregierung zu markieren. Dazu gehört auch, dass der polnische Opfermythos sowie nationales Heldentum in den Fokus zurückkehren, die eine differenzierte Bewertung polnischen Handelns zu Zeiten der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs unterbinden.
146 Felskowska, RECENZJA | DODATNIE „LETNIE PRZESILENIE“ – meine Hervorhebung. 147 Müller, Streitende Nachbarn. 148 Vgl. bspw. Kaja Puto. 2018. „Fernab vom Zentrum. Die Enttäuschung der Jungen.“ In: POLSKA first. Herausgegeben von Andreas Rostek, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 41–58, hier: S. 42. 149 Kancelaria Prezydenta RP, Dzi˛ekuj˛e za zasługi w drodze ku polskiej wolno´sci.
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Für Aufsehen sorgte auch die Aussage des polnischen Premierministers Mateusz Morawiecki, der am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang 2018 im Kontext des sogenannten Holocaust-Gesetzes davon sprach, dass es auch polnische Täter gegeben habe, sowie „auch jüdische Täter, es gab russische Täter, ukrainische Täter – nicht nur Deutsche“. 150 Kurz darauf stellte Marek Kochan die Idee eines Polocaust-Museums in den Raum, das die Handlungen zur Vernichtung Polens als Nation dokumentieren solle – von den Teilungen über die Zwischenkriegszeit bis hin zur Volksrepublik Polen mit einem starken Fokus auf der nationalsozialistischen Besatzungspolitik und dem Generalplan Ost. 151 Auch die Vernichtung der polnischen Juden, deren Zugehörigkeit zum polnischen Volk laut Kochan besonders betont werden müsse, sollte behandelt werden. „Auschwitz-Birkenau kann als Symbol des kollektiven Leids der Polen jüdischer Konfession und anderer gezeigt werden – auch Katholiken, Protestanten und Altgläubige.“ 152 Mit großem Eifer scheinen die nationalkonservativen Kräfte in Polen alles daran zu setzen, sich nicht nur als erste, sondern auch als zahlenmäßig größte Opfergruppe des Zweiten Weltkriegs in einer Art Opferwettstreit 153 als tragische Sieger hervorzutun. Der Versuch, die Erinnerungskultur in Polen angelehnt an die Holocaust-Erinnerung an die jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik neu auszurichten, ist offensichtlich und spielt mit der gefühlten Wahrheit, dass bis dato eine angemessene Erinnerung an polnische Opfer des Zweiten Weltkriegs unterdrückt, ja tabuisiert worden sei. Das zeigt nicht nur der Begriff Polocaust, den Kochan verwendet. 154 Der Vizeminister für Kultur, Jarosław Sellin, erteilte der Idee Kochans allerdings eine rasche und deutliche Absage, auch wenn er durchaus die Meinung vertrat, dass Polen endlich beginnen müsse, der Welt seine eigene Geschichte zu erzählen. 155 Marcin Napiórkowski bewertet in der Krytyka Polityczna die Idee eines 150 taz. 2018. „‚Jüdische Täter‘ während der NS-Zeit.“ taz, 18. Februar 2018, URL: http:// www. taz. de/ !5485382/ , Zugriff am 5. Dezember 2018. 151 Für eine Analyse siehe auch Florian Peters. 2018. „‚Jüdische Täter‘ und polnische Retter. 50 Jahre nach dem März 1968 verstrickt sich Polens Rechtsregierung in ihren selbst konstruierten Mythen.“ Zeitgeschichte-online, 1. März 2018, URL: https:// zeitgeschichte- online. de/ kommentar/ juedische- taeter- und- polnische- retter, Zugriff am 5. Dezember 2018. 152 Marek Kochan. 2018. „Marek Kochan: Zbudujemy szybko Muzeum Polokaustu.“ Rzeczpospolita, 20. Februar 2018, URL: https://www. rp. pl/ Publicystyka/ 302199919Marek- Kochan- Zbudujmy- szybko- Muzeum- Polokaustu. html& preview= 1, Zugriff am 5. Dezember 2018. 153 Vgl. Jean-Michel Chaumont. 2001. Die Konkurrenz der Opfer. Genozid, Identität und Anerkennung. Lüneburg: zu Klampen. 154 Vgl. Kochan, Zbudujemy szybko Muzeum Polokaustu. 155 Vgl. Jacek Nizinkiewicz. 2018. „Sellin: Muzeum Polokaustu nie b˛edzie.“ Rzeczpospolita, 25. Februar 2018, URL: https://www. rp. pl/ Polityka/ 302259968- Sellin- Muzeum-
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Museums des Polocaust als „fortgeschrittenes Trollen“ 156, die nur ironisch gemeint sein könne. 157 Eine interessante Entwicklung stellt die Einbettung bestehender Opferdiskurse in die Flüchtlingssituation dar, die den europäischen Kontinent seit 2015 beschäftigt. So wurde der Film Unser letzter Sommer von VISIONKINO unter anderem zur Thematisierung der Situation von Geflüchteten im Schulunterricht empfohlen. 158 VISIONKINO ist eine gemeinnützige Gesellschaft zur Förderung der Film- und Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen, die unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Frank-Walter Steinmeier, steht und von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, der Filmförderungsanstalt, der Stiftung Deutsche Kinemathek sowie der Kino macht Schule GbR unterstützt wird. Auch Regisseur Michał Rogalski und Schauspieler Steffen Scheumann weisen in Interviews darauf hin, dass insbesondere bei Filmvorführungen in Deutschland die Diskussion im Nachgang auf die Flüchtlingssituation kam, und knüpfen diese Verbindung auch selbst: „Die Kriegsereignisse haben mich total an die jetzige Flüchtlingswelle erinnert [. . . ]. Der Film zeigt, wie der Krieg entwurzeln kann“, sagte Scheumann der Märkischen Online Zeitung. 159 Gruppierungen wie die Vertriebenen haben in Deutschland das Schicksal der heutigen Geflüchteten fruchtbar gemacht, um ihre eigene Geschichte erneut zu erzählen und sich in Gemeinschaft der Kriegsopfer und Flüchtlinge einzureihen. Die Verbindung und auch die Solidarität des Bundes der Vertriebenen, der Interessenorganisation der deutschen Heimatvertriebenen, mit ihren syrischen Schicksalsgenossen, erreichte im Herbst 2015, also pünktlich zur deutschen Uraufführung von Unser letzter Sommer am 22. Oktober 2015, ihren Höhepunkt. Aber wie Feindt feststellt: „Eventually the mnemonic pattern of a universalizing concept of
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Polokaustu- nie- bedzie. html, Zugriff am 5. Dezember 2018. Im selben Artikel spricht sich Sellin auch dafür aus, die zahlreichen Gedenktafeln für die Opfer des Nationalsozialismus in Polen abzuändern, auf denen bislang von den „hitlerowcy“ und „nazi´sci“ die Rede ist und auf denen seiner Auffassung nach von den Deutschen gesprochen werden sollte. Marcin Napiórkowski. 2018. „Muzeum Polokaustu to ´swietny pomysł!“ Krytyka Polityczna, 23. Februar 2018, URL: http://krytykapolityczna. pl/ kraj/ muzeum- polokaustu- to- swietny- pomysl/ , Zugriff am 5. Dezember 2018. Vgl. ebd. Vgl. Daniel Stümpfig. 2015. „Filmtipp Unser letzter Sommer.“ VISIONKINO.de, 28. August 2015, URL: https://www. visionkino. de/ filmtipps/ filmtipp/ movies/ show/ Movies/ all/ unser- letzter- sommer/ , Zugriff am 27. Februar 2017. Rayss, „Schortie“ gibt den Nazi-Offizier.
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victimhood and the analogy to ‚flight and expulsion‘ disappeared“. 160 Dass die Zwangsmigration syrischer Flüchtlinge den Erinnerungsort Flucht und Vertreibung ins Bewusstsein der deutschen Medienöffentlichkeit zurückholte, unterstreicht laut Feindt seinen zentralen Status in der deutschen Erinnerungskultur. 161 Statt einer Erinnerung an die erfolgreiche Integration der Vertriebenen in die bundesdeutsche Gemeinschaft, die auch im Kontext der Flüchtlingskrise in Europa nutzbar gemacht werden könnte, 162 gewinnt jedoch eher die anhaltende Traumatisierung und damit Verfestigung der Opferrolle in der Erinnerung an Flucht und Vertreibung in den letzten Jahren wieder an Bedeutung. Nicht zuletzt, weil sich nur so Ansprüche auf eine Heimat im Osten aufrechterhalten ließen. 163 Zudem hat diese Debatte die Aufmerksamkeit der Deutschen derart strukturiert, dass auch ein Erinnerungsfilm wie Michał Rogalskis Unser letzter Sommer in diesem Zusammenhang rezipiert wurde. 164 Ferner wurde zum Beispiel Die Flucht, ein Spielfilm aus dem Jahr 2007 über die Vertreibung einer ostpreußischen Gräfin zu Ende des Zweiten Weltkriegs und ihre Reise nach Deutschland, am 20. Juni 2016 im Rahmen des Thementags Flucht auf arte ausgestrahlt, was einmal mehr die Verbindung des Narrativs Flucht und Vertreibung zur aktuellen Flüchtlingskrise zeigt. Der 20. Juni ist seit 2015 ein bundesweiter Gedenktag für Opfer von Flucht und Vertreibung und bereits seit 1914 Weltgedenktag für Flüchtlinge. 160 Feindt, From „flight and expulsion“ to migration, S. 566. 161 Vgl. ebd., S. 553. 162 Es gab durchaus ernsthafte Versuche, das Schicksal der Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten im Lichte der Fluchterfahrungen von Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten wieder in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken. Einige dieser Versuche zielen auch auf einen Dialog zwischen den Vertriebenen und jungen Geflüchteten ab, der im Sinne einer Willkommenskultur für Verständnis für die Situation der Menschen werben soll, die heute aus vielerlei Gründen ihre Heimat verlassen müssen und in Deutschland Zuflucht suchen. Siehe z. B. auf dem Kanal von Deutschland 3000. Deutschland 3000. 2018. „Flucht 1945 und heute: 2 Generationen. 1 Schicksal.“ YouTube, 30. Januar 2018, URL: https://www. youtube. com/ watch? v= gqTvFWarSRU, Zugriff am 29. Oktober 2018. Deutschland3000 ist ein an junge Menschen gerichtetes Online-Angebot der öffentlich-rechtlichen Medienanstalten. Auf Facebook hat das Video über 5,4 Millionen Views erreicht und wurde fast 30.000-mal geteilt [Stand 29. 10. 2018]. Ein weiteres gutes Beispiel sind die Berichte auf jetzt.de, in denen sechs junge Menschen die Fluchtgeschichten ihrer Großeltern zum Ende des Zweiten Weltkriegs erzählen. Auch hier sei der Generationendialog und die Bedeutung der 3. Generation als Erzähler der Vergangenheit unterstrichen. jetzt.de. 2015. „Meine Oma, der Flüchtling: Sechs Protokolle über die Flucht vor 70 Jahren.“ jetzt.de, 26. Dezember 2015, URL: https://www. jetzt. de/ fluechtlinge/ meineoma- der- fluechtling- sechs- protokolle- ueber- die- flucht- vor- 70- jahren, Zugriff am 5. Mai 2016. 163 Vgl. Feindt, From „flight and expulsion“ to migration, S. 562. 164 Vgl. Kumór, „Letnie przesilenie“. Re˙zyser: To film o ludziach, nie o Polakach, Niemcach ˙ i Zydach [ROZMOWA]. Rayss, „Schortie“ gibt den Nazi-Offizier.
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In der Diskussion im Warschau ’44 ging es weniger um die Zuteilung von Opfer- und Täterrollen auf Polen und Deutsche, denn um die Bewertung des Warschauer Aufstands in der polnischen Geschichtserzählung. Jakub Majmurek gesteht in der Krytyka Polityczna, dass er sich davor gefürchtet habe, dass Warschau ’44 den Warschauer Aufstand zum Gründungsmythos des modernen Polens erheben und seine kritischen Aspekte vollkommen unbeachtet lassen könnte. Seiner Meinung nach aber ist der Film „eine kluge Stimme in den Diskussionen über den Aufstand“, der gerade auch diese oft weniger bekannten Punkte aufgreife und zeige, dass das romantische Ideal sehr bittere Konsequenzen für die Aufständischen und ihre Familien hatte. 165 Es handelt sich eher um einen innerpolnischen Diskurs, der seine Wurzeln in der direkten Folge des Warschauer Aufstands hat, dessen Bewertung als Erfolg oder Niederlage bereits damals heftig diskutiert wurde. Die Bewertung der moralischen Integrität der Aufständischen 166 und die stereotype Rollenzuweisung zwischen Deutschen und Polen spielte dabei keine Rolle. Eine transnationale Ebene erlangt die Debatte um den Film Warschau ’44 in seiner Deutung als polnische Antwort auf Unsere Mütter, unsere Väter in den deutschen Medien. 167 Täterund Opferdiskurse in einem deutsch-polnischen Kontext spielten in der Rezeption in Polen keine nennenswerte Rolle. Sowohl in Deutschland als auch in Polen befinden sich die Opfer- und Täterbilder mit Bezug auf den Zweiten Weltkrieg derzeit wieder spürbar im Wandel mit einer Tendenz, Schuld zu externalisieren und Angehörige der eigenen Nation in ein möglichst gutes Licht zu rücken. Deutlich wird, dass sowohl ältere als auch ganz aktuelle gesellschaftliche Debatten die Aushandlungen dieser Täter- und Opferrollen in den Erinnerungsfilmen und ihre Rezeption strukturieren. Diese Debatten können Diskussionen um eigene und fremde Schuld und Leid bereits vorweggenommen haben und die Einordnung der Erinnerungsfilme so in bestimmte Bahnen lenken, oder aber durch wahrgenommene Parallelen zu aktuellen Problemen
165 Majmurek, „Miasto ’44“ – trzeba zabi´c t˛e miło´s´c? 166 Diese Diskussion über antisemitische Verbrechen von Angehörigen der Heimatarmee während des Warschauer Aufstands wurde in Polen schon lange vor Unsere Mütter, unsere Väter geführt, ausgelöst durch einen Artikel des Journalisten Michał Cichy von 1993. Mit dem darauffolgenden polnischen „Historikerstreit“ zur Heimatarmee haben sich Dmitrów und Kulak auseinandergesetzt, vgl. Edmund Dmitrów und Jerzy Kułak. 2003. „Der polnische ‚Historikerstreit‘ zur Armia Krajowa.“ In: Die polnische Heimatarmee: Geschichte und Mythos der Armia Krajowa seit dem Zweiten Weltkrieg. Herausgegeben von Bernhard Chiari, Berlin: de Gruyter, S. 807–846. 167 Dieser Ausdruck des Phänomens des Versöhnungskitsches, der vor allem in der deutschen Rezeption des Films zutage trat, wird in Unterkapitel 4.2.3 näher behandelt.
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neue Verknüpfungen zu alten Narrativen schaffen und die Rezeption der Geschichte im Spielfilm so prägen.
4.2.2 Pädagogik der Scham Das Schlagwort der pedagogika wstydu 168, der Pädagogik der Scham, geistert schon seit längerer Zeit durch die polnischen Feuilletons. Es ist ein von der polnischen Rechten gern genutzter, derogativer Terminus für die von der liberalen Gazeta Wyborcza praktizierte Themensetzung und Berichterstattung zu historischen Themen und die von liberalen Politikern nach westlichem Vorbild praktizierte Auseinandersetzung mit polnischer Mittäterschaft und Schuld im Kontext des Zweiten Weltkriegs, zum Beispiel mit den Massakern in Jedwabne und Kielce. Auch in der deutschsprachigen Presse wird der Begriff Pädagogik der Scham in den letzten Jahren immer wieder benutzt, um konkret die Umgestaltung der Bildungs-, Geschichtsund Erinnerungspolitik der PiS-Regierung zu bezeichnen. 169 Seit die Partei Recht und Gerechtigkeit 2015 zunächst das Amt des Staatspräsidenten und dann die Regierung in Polen übernommen hat, ist das Ende der Pädagogik der Scham ein erklärtes Ziel. 170 Die Online-Zeitschrift Kultura Liberalna erklärt in ihrem Observatorium gesellschaftlicher Debatten den Begriff Pädagogik der Scham in ihrem Wörterbüchlein der Radikalismen folgendermaßen: (auch: Spucken auf die Polnischheit) – eine Redewendung, die nach Ansicht eines Teils der rechten Presse eine Art und Weise beschreibt, wie über die polnische Geschichte und polnische nationale Charakteristika gesprochen wird, die für die „Gazeta Wyborcza“ und die Eliten der Dritten Republik charakteristisch ist. Liberale und linke Kreise konzentrieren sich angeblich
168 Das Gegenstück zur Pädagogik der Scham bildet die Pädagogik des Stolzes, pedagogika dumy, deren Kern eine Konzentration auf positive nationale Werte wie Christentum und Patriotismus sein soll. Wie der Lehrerverband ZNS auf seiner FacebookSeite anlässlich der ursprünglichen Novellierung des IPN-Gesetzes in Polen am 28. Januar 2018 postete: „Pedagogika dumy narodowej albo ryzykujesz trzy lata.“ URL: https://www. facebook. com/ znpedupl, Zugriff am 14. Oktober 2018. 169 Vgl. bspw. Wojciech Osinski. 2017. „Heldentum statt ‚Pädagogik der Scham‘.“ Neues Deutschland, 8. September 2017, URL: https://www. neues- deutschland. de/ artikel/ 1063035. heldentum- statt- paedagogik- der- scham. html, Zugriff am 14. Oktober 2018; Lukas Latz. 2016. „Warschaus Welt.“ Süddeutsche Zeitung, 7. Dezember 2016, URL: https://www. sueddeutsche. de/ kultur/ kulturpolitik- warschaus- welt- 1. 3283971, Zugriff am 14. Oktober 2018. 170 Vgl. bspw. Paweł Wro´nski. 2015. „Prezydent Duda bierze si˛e za polityk˛e historyczna, ˛ czyli sko´nczy´c z ta˛ pedagogika˛ wstydu.“ Gazeta Wyborcza, 18. November 2015, URL: http://wyborcza. pl/ 1,75398,19204298,prezydent- duda- bierze- sie- za- polityke- historyczna- czyli- skonczyc. html, Zugriff am 14. Oktober 2018.
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ausschließlich auf die dunklen „Flecken“ der polnischen Geschichte, indem sie u. a. die Thesen Jan Tomasz Gross’ zum Thema der polnisch-jüdischen Beziehungen forcieren sowie Filme bewerben („Pokłosie“, „Ida“), die Polen nicht als Opfer des Zweiten Weltkriegs zeigen, sondern als Gewaltverbrecher (s. Grzegorz Górny, „Polacy na ławie oskar˙zonych“, „W Sieci“, 27 IV–3 V 2015., S. 38–41). Als Frucht dieser Handlungen betrachtete ein Teil der rechten Publizisten z. B. die unglückliche Erklärung des FBI-Chefs James Comey zum Thema der Mitverantwortung der Polen für den Holocaust. Zur „Pädagogik der Scham“ gehört auch, auf die angeblichen nationalen Schwächen der Polen hinzuweisen – Neid, Antisemitismus, Rückständigkeit. 171
In nationalkonservativen Kreisen ist das Portal als Sprachrohr der Linken und des Westens verschrien, werde es doch von George Soros, der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit, der Rosa-LuxemburgStiftung und Eurozine finanziert, das seinerseits aus deutschen Geldern bezahlt werde. 172 Die Kritik an einer Pädagogik der Scham, die durch eine Pädagogik des nationalen Stolzes ersetzt werden soll, ist Ausdruck einer Renationalisierung der Erinnerungskultur, die sich wieder stärker nationalem Heldentum und dem Topos Polens als Christus der Völker, das für die Sünden der anderen Völker leiden muss, zuwendet. Eine gemeinsam empfundene Schuld als Basis einer kollektiven Identität erscheint aus sozialpsychologischer Sicht zunächst widersinnig, wird doch aus der Zugehörigkeit zu und Identifikation mit einer Gruppe im Allgemeinen ein positiver Selbstwert abgeleitet. Solche Emotionen wie ein kollektives Gefühl der Schuld oder der Scham – obwohl sie oft in der öffentlichen Debatte auftreten, in den Mündern der Politiker und in Aussagen von Intellektuellen – sind in Gesellschaften, die in historische Verbrechen verwickelt sind, eine außergewöhnlich seltene Reaktion, 173
stellt Michał Bilewicz fest und führt ein Modell der Emotionsregulierung in Bezug auf historische Informationen ein. Am Beispiel der JedwabneDebatte in Polen zeigt er dessen Anwendbarkeit – und, dass trotz eines Appells der Politik an die kollektiven Emotionen von Schuld, Trauer und Scham angesichts der Taten ein kollektives Gefühl der Schuld, Trauer und Scham nicht erzeugt werden konnte, sondern der Appell vielmehr 171 Kultura Liberalna. o. J. „Słowniczek radykalizmów. Pedagogika wstydu.“ Obserwatorium Debaty Publicznej, URL: https://obserwatorium.kulturaliberalna.pl/slowniczek/ pedagogika- wstydu/ , Zugriff am 13. August 2018. 172 Vgl. bspw. Polonia Christiana. 2014. „Pedagogika wstydu si˛ega kolejnego poziomu.“ PCh24.pl, 2. September 2014, URL: https://www. pch24. pl/ pedagogika- wstydu- siegakolejnego- poziomu,25185,i. html, Zugriff am 14. Oktober 2018. 173 Michał Bilewicz. 2016. „(Nie)pami˛ec´ zbiorowa Polaków jako skuteczna regulacja emocji.“ Teksty drugie, 2016, Nr. 6, S. 52–67, hier: S. 57.
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auf Abwehrreaktionen, auf ein kollektives Nicht-Erinnern traf. Bilewiczs Vorschlag ist eine Abkehr von der emotionalisierten Sprache, mit der über Vergangenheit gesprochen wird. Den Trends, die vor allem Erinnerungsfilme setzen, entspricht dies allerdings nicht. In der Rezeption der hier untersuchten Erinnerungsfilme spielte der Topos der Pädagogik der Scham eine wichtige Rolle, beispielsweise in der Wahrnehmung von Unser letzter Sommer. Jakub Majmurek lobt die Vielschichtigkeit des Films, prophezeit aber auch in der Krytyka Polityczna, dass vor allem die Darstellungsweise der Deutschen und der Polen die öffentliche Debatte bestimmen werde, d. h. ob nicht die Deutschen „weißgewaschen“ würden und der Film „antipolnisch“ sei. 174 Ebendiese Vorwürfe gegenüber Rogalski thematisieren auch Waldemar Kumór und Philipp Fritz in einem deutsch-polnischen Interview mit dem Regisseur von Unser letzter Sommer in der Gazeta Wyborcza. Seine Gegner würfen ihm vor, dass sein Film wie Ida oder Pokłosie ein Produkt der Pädagogik der Scham sei. Für seine differenzierte Ausgestaltung der Charaktere in Unser letzter Sommer wurde Regisseur Rogalski von der Reduta Dobrego Imienia, die das in Erinnerungsfilmen kolportierte Bild Polens sehr genau in den Fokus nimmt, zum Feind der Nation erklärt. 175 Tadeusz Sobolewski befindet in der Gazeta Wyborcza, dass Rogalskis Film „zunächst das Märtyrerbild der nationalsozialistischen Besatzung [aufrechtzuerhalten] erschwert“. Und weiter: „Die Schicksale der jungen Gleichaltrigen – des polnischen Eisenbahners und des deutschen Soldaten – die im Laufe eines Tages beobachtet werden, sind symmetrisch. Beide durchlaufen eine blutige Initialisierung, beide werden Opfer von Gewalt und Demoralisierung von der eigenen Seite. Ihre Gesten der Solidarität sind vergeblich.“ 176 Janusz Wróblewski betont vor allem Guidos und Romeks geteilte Erfahrung der ersten unmöglichen Liebe und kommt in seiner Rezension zu Unser letzter Sommer in der Polityka zu dem Schluss, dass der Film zwar
174 Jakub Majmurek. 2017. „Co zobaczy´c w kinie na wiosn˛e.“ Krytyka Polityczna, 15. April 2016, URL: http://krytykapolityczna. pl/ kultura/ film/ co- zobaczyc- w- kiniena- wiosne/ , Zugriff am 28. Februar 2017. Siehe aber auch die Rezension von Magdalena Saryusz-Wolska, die diese zu gewollte Ausgewogenheit kritisch betrachtet. Magdalena Saryusz-Wolska. 2016. „Panu Bogu ´swieczk˛e, a diabłu ogarek. Recenzja filmu ‚Letnie przesilenie‘.“ Kultura Liberalna, 10. Mai 2016, URL: https://kulturaliberalna.pl/2016/05/10/panu-bogu-swieczke-diablu-ogarek-letnie-przesilenie-recenzja/ , Zugriff am 7. Januar 2017. 175 Vgl. Kumór, „Letnie przesilenie“. Re˙zyser: To film o ludziach, nie o Polakach, Niemcach ˙ i Zydach [ROZMOWA]. 176 Tadeusz Sobolewski. 2015. „Festiwal filmowy w Gdyni. Przymusowe bohaterstwo w ‚Karbali‘ i antyschematyczny schematyzm ‚Letniego przesilenia‘.“ Gazeta Wyborcza, 16. September 2015, URL: http://wyborcza. pl/ 1,75410,18823933,festiwal- filmowy- wgdyni- przymusowe- bohaterstwo- w- karbali. html, Zugriff am 13. August 2018.
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nicht besonders mutig und szenografisch eher künstlich sei. Das heiße aber noch lange nicht, „dass nicht Stimmen über die Ausübung der Pädagogik der Scham aufkommen werden“. 177 Und diese ließen tatsächlich nicht auf sich warten. So schreibt Jan Bodakowski auf Prawy.pl: Schon kann man auf den Kinoleinwänden in ganz Polen einen neuen Film mit einer antipolnischen Botschaft sehen. „Unser letzter Sommer“ haben Filmemacher aus Polen und Deutschland produziert. Die Filmemacher verwenden in ihrer Erzählung Stereotypen, die aus anderen antipolnischen Produktionen bekannt sind. Um ein weiteres Mal das Leid der Juden zu zeigen und die angeblichen Verbrechen, die durch Polen begangen wurden. 178
Auch an der fehlenden Darstellung des polnischen Widerstands stößt sich der Autor. Die Szene, in der Romek mit Bunia Guido am Fluss begegnet und die Gelegenheit, den Deutschen zu erschießen nicht ergreift, sieht Bodakowski als Symbol für die passive Haltung der Polen gegenüber den deutschen Besatzern, die der Film zum Ausdruck bringe. Für den Erfolg des Films macht er die erfolgreiche Anwendung der Stereotype der bösen Polen und der armen Juden verantwortlich. 179 Anders sieht das Jakub Majmurek, der insbesondere die Figur des Romek positiv hervorhebt, der als Antiheld einen Gegenpol zu den in den Fokus der Öffentlichkeit gerückten verfemten Soldaten darstelle und angesichts des politischen Klimas wertvolle Arbeit für das polnische Gedächtnis leiste. 180 Bartosz Staszczyszyn kommt auf Culture.pl zu dem Schluss, dass Rogalskis Film weniger mediale Aufmerksamkeit zuteilwurde, als er verdient habe. Für ihn hat das damit zu tun, dass weder „Patrioten, die im Kino filmische Lorbeeren suchen“, noch „Revisionisten, die nationale Schuld aufrechnen wollen“, mit dem Film zufrieden sein dürften: „‚Unser letzter Sommer‘ entkommt dem Journalismus in Richtung der Moral. Eine Geschichte über einen Krieg, aus dem die Unschuldigen nicht entkommen können“. 181 Ein Ende der Pädagogik der Scham, also der Befassung der liberalen Eliten Polens mit den dunkleren Kapiteln der polnischen Geschichte, forderte der damalige Oppositionsführer und Vorsitzende der Partei Recht und
177 Janusz Wróblewski. 2016. „Miło´sc´ niemo˙zliwa.“ Polityka, 19. April 2016, URL: http://www.polityka.pl/tygodnikpolityka/kultura/film/1657946,1,recenzja-filmu-letnie- przesilenie- rez- michal- rogalski. read, Zugriff am 3. Juni 2016. 178 Jan Bodakowski. 2016. „Letnie przesilenie – kolejny antypolski film“ Prawy.pl, 26. April 2016, URL: https://prawy. pl/ 30498- letnie- przesilenie- kolejny- antypolskifilm/ , Zugriff am 8. Januar 2017. 179 Vgl. ebd. 180 Vgl. Jakub Majmurek. 2016. „Czas na film o endeku z elit?“ Krytyka Polityczna, 6. Mai 2016, URL: http://krytykapolityczna. pl/ kultura/ film/ czas- na- film- o- endekuz- elit/ , Zugriff am 27. März 2017. 181 Staszczyszyn, Letnie przesilenie.
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Gerechtigkeit, Jarosław Kaczy´nski, bereits 2012. 182 Von dieser Pädagogik der Scham, in deren Geiste die polnische Jugend erzogen würde, profitierten nur die anderen – Deutsche, Litauer, Ukrainer. 183 Schon kurz nach seiner Amtseinführung hob der polnische Präsident Andrzej Duda bei einer Konferenz zur Neuausrichtung der polnischen Geschichtsforschung daher eine erfolgreiche Geschichtspolitik Polens auf seine Agenda. Unter anderem diente ihm Kadelbachs Unsere Mütter, unsere Väter als positives Beispiel dafür, wie Nationalstaaten über die Darstellung der Vergangenheit im Film in einer für sie günstigen Art und Weise die Wahrnehmung der eigenen Geschichte in der Welt beeinflussen können. 184 Die nationalkonservative Regierung hat seitdem politisch und Hand in Hand mit konservativ-nationalistischen, zivilgesellschaftlichen Akteuren wie beispielsweise der Reduta Dobrego Imienia die polnische Geschichtspolitik in die Ecke einer Pädagogik des nationalen Stolzes gerückt. 185 Wie Katrin Stoll, Sabine Stach und Magadalena Saryusz-Wolska zeigen, ist diese polenzentristische Geschichtspolitik kein Novum, sondern lässt sich in ihren Anfängen bis in die Zeit der polnischen Teilungen zurückverfolgen. Besonders interessant ist, dass die nationalkonservative PiS-Regierung in ihrer Herangehensweise und Ausgestaltung nationaler Geschichtspolitik partiell das Erbe der kommunistischen Machthaber der Volksrepublik weiterführt, als deren Gegenentwurf die Männer und Frauen um Parteichef Jarosław Kaczy´nski ihre Politik einer Vierten polnischen Republik eigentlich modellieren wollen. Insbesondere die ebenso kritische Herangehensweise an die Bearbeitung nationalhistorischer Themen ist Ausdruck dessen. Grundsätzlich war auch die Politik der liberalen Regierung unter Donald Tusk durch ein positives Geschichtsverständnis geprägt, das die Errungenschaften Polens beispielsweise in der Überwindung des Kommunismus für Gesamteuropa betonte. 186 Diesem Geschichtsbild wird von den Politikern der Partei Recht und Gerechtigkeit eine Gegengeschichte gegenübergestellt, welche
182 Vgl. Ludwika Wlodek. 2017. „Ein Instrument namens Erinnerung. 4. Polen: ‚Genug mit der Pädagogik der Scham‘.“ Ostpol, 21. Dezember 2017, URL: https://ostpol. de/ beitrag/ 5072- ein- instrument- namens- erinnerung, Zugriff am 14. Oktober 2018. 183 Vgl. Wprost. 2013. „Polaków uczy si˛e wstydu za swoja˛ ojczyzn˛e.“ wprost.pl, am 21. Juli 2013, URL: https://www. wprost. pl/ kraj/ 409406/ Polakow- uczy- sie- wstyduza- swoja- ojczyzne. html, Zugriff am 14. Oktober 2018. 184 Vgl. bspw. Wro´nski, Prezydent Duda bierze si˛e za polityk˛e historyczna. ˛ 185 Für eine Einordnung dieser Entwicklungen vgl. Stoll, Stach & Saryusz-Wolska, Verordnete Geschichte? 186 Vgl. ebd. Das heißt allerdings noch lange nicht, dass gesellschaftskritische Stimmen und Filme keinerlei Forum mehr haben. Der enorme Erfolg des Regisseurs Witold Smarzowski (unter anderem Ró˙za, Woły´n) mit Kler über die dunkle Seite der mächtigen polnischen Kirche hat auch über polnische Grenzen hinaus für Aufmerksamkeit gesorgt.
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die vorherrschende Interpretation der Ereignisse um[kehrt]: Der Erfolg des Runden Tisches von 1989 wird als eine verräterische Absprache der Opposition mit den kommunistischen Machthabern dargestellt, die führenden Akteure des Transformationsprozesses werden als käufliche Eliten beschrieben und die letzten hundert Jahre der polnischen Geschichte als Epoche ungebrochenen Heroismus erzählt. 187
Bislang vermag die linksliberale Opposition, die auch in sich zerstritten ist, dieser Gegengeschichte keine Gegen-Gegengeschichte entgegenzusetzen. Das gilt auch für den Film, der selten revolutionäre Ambitionen hinsichtlich der vorherrschenden Vergangenheitsbilder verfolgt: „There is much to suggest that Polish cinematography refers to the Holocaust and related topics that used to be a taboo mainly in an attempt to somehow restore ‚normality‘ after forty years of communism.“ 188 Korzeniewska und Korzeniewski kommen zu dem Schluss, dass es außer Ida kein Film in Polen nach 1989 geschafft habe, Auslöser eines öffentlichen Diskurses über die polnische Vergangenheit zu werden. 189 Das mag auf den ersten Blick angesichts der Kontroversen, die auch Filme wie In Darkness oder Pokłosie umgaben, irritieren – vor allem angesichts der Debatte um Vergewaltigungen polnischer Frauen in der Nachkriegszeit, wie sie erstmals Smarzowskis Ró˙za thematisierte. Gleichwohl ist die Zahl der Filme, die selbst Auslöser gesellschaftlicher Debatten waren und sich nicht nur als Beiträge zu bereits geführten Debatten herauskristallisieren, eher gering. Insbesondere Pasikowskis Film greift nur den bereits existierenden Diskurs um die Verbrechen von Jedwabne auf und war nicht selbst Anstoß dieser Debatte, die auf den Veröffentlichung Gross’ fußt. Das Schlagwort der Pädagogik der Scham ist zwar typisch für die polnische, erinnerungskulturelle Debatte, hat aber seine Entsprechungen in Deutschland. So nahm Produzent Nico Hofmann mit seiner Miniserie Unsere Mütter, unsere Väter ebenfalls eine Art Pädagogik der Scham in den Blick, die er als „Schuld-Sühne-Pädagogik“ bezeichnet und die seines Erachtens einer Auseinandersetzung mit den persönlichen Schicksalen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg auf emotionaler Ebene im Wege stehe. Diesen Weg soll Unsere Mütter, unsere Väter freiräumen und vor allem auf der Gefühlsebene wirken. 190 „Geschichte muss Gefühl transportieren“ 191 ist Hof187 Karol Franczak und Magdalena Nowicka. 2016. „Des Kaisers neue Kleider. Eine Analyse des aktuellen rechtskonservativen Geschichtsdiskurses in Polen.“ Zeitgeschichteonline, Juli 2016, URL: https://zeitgeschichte-online.de/thema/des-kaisers-neue-kleider, Zugriff am 17. Oktober 2018. 188 Korzeniewska & Korzeniewski, Personalization of Memory, S. 151. 189 Vgl. ebd. 190 Cammann & Soboczynski, Vereiste Vergangenheit. 191 Wiegand, Als sei alles gestern passiert.
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manns Diktum. Der Spiegel pflichtet ihm bei, denn für die junge Generation könne eine „Aufklärung nicht mehr über Wissen, über die Konfrontation mit dem harten Sachverhalt der realen Barbarei, sondern über das Gefühl“ allein funktionieren. Unsere Mütter, unsere Väter böte „das Gegengift eines emotionalen Erweckungserlebnisses“ gegen die bisherige Geschichtsvermittlung in formalen und nicht-formellen Bildungskontexten. 192 Der deutschen Erinnerungspolitik, die produktiv eine Auseinandersetzung mit den schwierigen Kapiteln der deutschen Geschichte fördern soll, um so der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland zu dienen, steht der oben beschriebene affirmativ-nationale Ansatz in Polen diametral entgegen. In Deutschland ist der Holocaust als Zentrum einer Politik des Bedauerns, der politics of regret, die nach Jeffrey K. Olick „a variety of practices with which many contemporary societies confront toxic legacies of the past“ 193 meint, weithin akzeptiert. Er ist zudem im deutsch-dominierten Europa als negativer Gründungsmythos der Europäischen Union anerkannt. Gleichwohl existieren weiterhin Stimmen, die einen Schlussstrich fordern und ein Ende der Erinnerung an deutsche Schuld in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust herbeiführen wollen. Die Schlussstrichdebatte wurde in Deutschland in der Nachkriegszeit schon mehrmals mehr oder weniger öffentlichkeitswirksam geführt. Einschneidender Moment war der Historikerstreit 1986/87, in dem die Rolle des Holocaust für die deutsche Erinnerungskultur Gegenstand war. 194 Besondere Aufmerksamkeit auch in einer nicht-akademischen Öffentlichkeit erlangte die Auseinandersetzung zwischen dem Publizisten Martin Walser und dem ehemaligen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden, Ignatz Bubis, die 1998 als Walser-Bubis-Debatte bekannt wurde. 195 Es ging dabei weniger darum, wie erinnert werden soll, sondern vielmehr
192 Leick, Die Wunde der Vergangenheit, S. 135. 193 Jeffrey K. Olick. 2007. The Politics of Regret. On Collective Memory and Historical Responsibility. New York: Routledge, hier: S. 122. Für eine Diskussion der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Terminus politics of regret siehe auch Mano Toth. 2015. „The Myth of the Politics of Regret.“ Millennium: Journal of International Studies, Vol. 43, Nr. 2, S. 551–566. 194 Der sogenannte Historikerstreit nahm seinen Anfang mit einem Artikel des Philosophen Jürgen Habermas, in dem dieser führende deutsche Historiker – allen voran Ernst Nolte, aber auch Michael Stürmer, Andreas Hillgruber und Klaus Hildebrand – attackierte, „denen er apologetische Tendenzen im Umgang mit dem Holocaust vorwarf“. Klaus Große Kracht. 2010. „Debatte: Der Historikerstreit, Version: 1.0.“ Docupedia-Zeitgeschichte, 11. Januar 2010, URL: https://docupedia.de/zg/kracht_historikerstreit_ v1_ de_ 2010, Zugriff am 3. November 2019. 195 Für eine Übersicht der Debatte siehe Frank Schirrmacher. 2000. Die Walser-BubisDebatte. Eine Dokumentation. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
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darum, ob eine Erinnerung an den Holocaust überhaupt einen Platz in der Erinnerungskultur des wiedervereinigten Deutschlands haben sollte. Manche Kritiker bezeichneten die Debatte auch als Normalisierungsdebatte. Sobald jedoch im deutschen Geschichtskino Tendenzen auftreten, die eine ähnliche Entwicklung vermuten lassen, wie sie von der polnischen Politik für das eigene Land vehement eingefordert wird, stößt dies an der Weichsel auf Unverständnis. Während eine affirmativ-nationale Geschichtspolitik in Polen gewünscht und gefördert wird, alarmiert sie aus deutscher Feder. Der konservative Publizist Piotr Zaremba stellt in Bezug auf Unsere Mütter, unsere Väter im Nachrichtenportal wPolityce fest, dass „die Deutschen sich konsequent, wenn auch Schrittchen für Schrittchen, mit derlei Werken ihr nationales Selbstwertgefühl reparieren“. 196 Er spricht sich aber, obgleich er das Bild der Vergangenheit in der Miniserie für falsch hält, dafür aus, die Filme in Polen zu zeigen. Nur gegen Dinge, die man kenne, könne man protestieren. Der Pädagogik der Scham, wie sie von der Gazeta Wyborcza propagiert werde, misst er eine Bedeutung bei, die allerdings durch den „gesunden Menschenverstand“ der Polen übertroffen werde. 197 Zbigniew Mazur stellte 2013 im Nachgang zur Diskussion um Unsere Mütter, unsere Väter fest, dass Polen dem von Deutschland auf die internationale Bühne getragenen Narrativ wenig entgegenzusetzen habe, weil Geschichtspolitik und Vergangenheitsbilder in der Öffentlichkeit keine große Rolle spielten. Compared to Germany’s effort, the Polish response looks fairly pathetic. The only valuable contribution are certain history inserts appearing in weeklies. There are hardly any signs of bringing own standards of collective historical memory into international circulation to speak of as efforts of this kind have been given a very low priority in foreign cultural policy. 198
Er folgert: What drives Germany to attach so much importance to internal as well as external historical policy is not its passion for the past but rather its determination to pursue vital national interests. This is a challenge which demands a proper response from Poland. 199 196 Piotr Zaremba. 2013. „Serial ‚Nasze matki, nasi ojcowie‘ to krok dalej w kierunku zapewniania Niemcom dobrego samopoczucia. Nale˙zy protestowa´c. Ale dlaczego nie pokaza´c tego Polakom?“ wPolityce.pl, 18. Juni 2013, URL: https://wpolityce. pl/ polityka/ 160013- serial-nasze- matki-nasi- ojcowie-to- krok- dalej- w- kierunku- zapewniania- niemcom- dobrego- samopoczucia- nalezy- protestowac- ale- dlaczego- nie- pokazac- tego- polakom, Zugriff am 14. Oktober 2018. 197 Vgl. ebd. 198 Mazur, German Granddaughters, German Grandsons, S. 3. 199 Ebd.
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Nach Auffassung des Vizeministers für Kultur, Jarosław Sellin, ist diese Schwäche der polnischen Geschichtspolitik vor allem in der Politik der linksliberalen Eliten begründet, die die Geschichtspolitik während ihrer Regierungszeit in der Dritten Republik nicht ernst genug genommen hätten. 200 Der Politologe Dawid Piekarz wiederum bringt diese mutmaßliche Passivität polnischer Geschichtspolitik mit dem Satz auf den Punkt: „[A]ls die Deutschen den Film ‚Unsere Mütter, unsere Väter‘ drehten, drehten wir ‚Pokłosie‘“. 201 Wie wichtig Deutschland als Bezugspunkt für die polnische Erinnerungskultur im Film noch immer ist, gerade auch für das nationalkonservative Lager, zeigt ein Interview mit Maciej Pawlicki, Produzent des Films Legionen (Legiony), einem Spielfilm über die polnischen Legionen des Ersten Weltkriegs, der im Herbst 2019 in die Kinos kam. Dieser erklärte gegenüber der wPolityce, dass er angesichts einer Attacke des polnischen Boulevardblatts Fakt 202 den Eindruck habe, die Deutschen seien beunruhigt darüber, dass Polen sich in Erinnerungsfilmen seinen Erfolgen zuwende. 203 Schon 2013 hatte Pawlicki gegenüber der Boulevardzeitung SuperExpress klar gemacht, dass er es in Bezug auf Unsere Mütter, unsere Väter für ein problematisches Produkt der Pädagogik der Scham halte, dass man über die Frage, ob die Miniserie „für Polen ein Schlag ins Gesicht“ sei, nachdenken müsse. Schließlich sei die darin angegriffene Heimatarmee ein Gründungsmythos des freien Polens, der Film daher die nächste Stufe einer antipolnischen Kampagne. [. . . ] Diese Serie ist ein Fall sehr bewusster Geschichtsfälschung. Der historische Berater, der hier gearbeitet hat, ist entweder ein skandalöser Ignorant, oder ein gemeiner Lügner. 204 200 PAP. 2018. „Sellin: polityk˛e historyczna˛ nale˙zy prowadzi´c za pomoca˛ trwałych instytucji.“ PAP.pl, 20. Mai 2018, URL: https://www . pap . pl / aktualnosci / news,1420817,sellin- polityke- historyczna- nalezy- prowadzic- za- pomoca- trwalychinstytucji. html, Zugriff am 15. Dezember 2018. 201 TVP Info. 2018. „Kiedy Niemcy kr˛ecili film ‚Nasze matki, nasi ojcowie‘ – my kr˛ecili´smy ‚Pokłosie‘.“ TVPInfo.pl, 2. Februar 2018, URL: https://www. tvp. info/ 35859340/ polska/ kiedy- niemcy- krecili- film- nasze- matki- nasi- ojcowie- my- krecilismy- poklosie/ , Zugriff am 14. Oktober 2018. 202 Fakt ist ein mit der deutschen BILD vergleichbares Format, das 2003 von der polnischen Tochterfirma des deutschen Axel Springer Verlags gegründet wurde. 203 Vgl. wPolityce. 2018. „Pawlicki dla wPolityce.pl o ataku ‚Faktu‘ na film ‚Legiony‘: ‚Wyglada ˛ na to, i˙z Niemcy si˛e denerwuja, ˛ z˙e Polacy zaczynaja˛ dba´c o swój patriotyzm‘.“ wPolityce.pl, 16. Mai 2018, URL: https://wpolityce. pl/ polityka/ 394516pawlicki- dla- wpolitycepl- o- ataku- faktu- na- film- legiony- wyglada- na- to- iz- niemcysie- denerwuja- ze- polacy- zaczynaja- dbac- o- swoj- patriotyzm, Zugriff am 14. Oktober 2018. 204 Bartłomiej Nakonieczny. 2013. „Maciej Pawlicki: Niemcy zabijali z przykro´scia?“ ˛ SuperExpress, 25. Juni 2013, URL: https://www. se. pl/ wiadomosci/ polityka/ niemieckiserial- nasze- matki- nasi- ojcowie- bardzo- swiadomie- faszuje- historie- niemcy- zabijali- z- przykr- aa- Y9w3- jpVY- v4Tp. html, Zugriff am 14. Oktober 2018.
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Und auch wenn Paweł Lisicki in Do Rzeczy 2014 die Frage stellte, wie man von einem Institut wie dem PISF, das auch Pokłosie finanziert habe, in einem Land, das Ida als Beitrag zu den Oscarverleihungen einreicht, eine angemessene Antwort auf Unsere Mütter, unsere Väter erwarten könne, wird die Haltung gegenüber den liberalen Eliten Polens und den westlichen Nachbarn überdeutlich. Die Verantwortlichen läsen fleißig Gazeta Wyborcza und seien durch die dort geübte Pädagogik der Scham geprägt. Als Horrorszenario entwirft Lisicki eine Welt, in der polnische Schüler durch Filme wie Unsere Mütter, unsere Väter über die Geschichte lernen – nach Lehrplänen, die Menschen wie Jan Tomasz Gross ausgearbeitet haben. 205 Die Pädagogik der Scham wird also gewissermaßen als besonders negativ konnotierte Art der politics of regret gefasst, die durch einen implizit deutschen Einfluss eine transnationale Dimension erlangt und einen Angriff auf die polnische Nation darstellt. Ein Novum ist diese Deutung nicht – Timothy Garton Ash sprach bereits früher von einer DIN-Norm der Vergangenheitsbewältigung 206 – wenngleich sie auch in ihrer dezidiert negativen Ausdeutung und Politisierung neue Dimensionen erreicht.
4.2.3 Versöhnungskitsch Die deutsch-polnische Nachkriegsgeschichte ist geprägt durch die Versuche der Normalisierung des Verhältnisses zwischen den Nachbarländern 207, die bis 1989 auf zwei Seiten des Eisernen Vorhangs standen, in ihrer neueren Geschichte aber unabdingbar miteinander verbunden sind. Zahlreiche politische Gesten sollten diesen Prozess der Versöhnung und Wiedergutmachung befördern: die Ostdenkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Brief der katholischen Bischöfe in Polen an ihre deutschen Glaubensbrüder 1965, der Kniefall Willy Brandts in Warschau 1970 und zahlreiche Kranzniederlegungen und Teilnahmen deutscher Staatsoberhäupter an polnischen Gedenkveranstaltungen zum Zweiten Weltkrieg. Weitere starke Symbole dieses Prozesses sind gemeinsame politische Gremien und Arbeitsgruppen wie beispielsweise die deutsch-polnische Schulbuchkommission (1972), der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag (1991) und das in diesem Zuge begründete
205 Vgl. Paweł Lisicki. 2014. „Tylko si˛e nie wychyla´c.“ Do Rzeczy, 1. Dezember 2014, URL: https://dorzeczy.pl/kraj/ 4975/ Tylko-sie-nie-wychylac. html, Zugriff am 14. Oktober 2018. 206 Vgl. Assmann, Unbehagen, S. 59. 207 Bis 1989 waren es drei Staaten, nämlich die Bundesrepublik Deutschland, die DDR und die Volksrepublik Polen.
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Deutsch-polnische Jugendwerk. Auch die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit, die unter anderem das Filmprojekt Jan Komasas unterstützt hat, sowie die Stiftung für deutsch-polnische Aussöhnung, die sich um die Entschädigungen für polnische Opfer des nationalsozialistischen Terrors, d. h. ehemalige Häftlinge und Zwangsarbeiter während des Zweiten Weltkriegs kümmert, gehören dazu. 208 Diese Symbolpolitik hat ein Ziel: Sie soll der Versöhnung zwischen den Polen und den Deutschen dienen. 209 Zusammenfassen lassen sich diese Akte eines öffentlichen Bedauerns unter dem bereits oben erwähnten Begriff der Politik des Bedauerns, die beispielsweise öffentliche Entschuldigungen, Gedenktage oder Denkmäler umfassen kann und einen potenziell identitätsstiftenden Charakter erlangt hat. 210 Auch die Inszenierung der gemeinsamen Geschichte im Spielfilm kann, ob von den Mythenmachern intendiert oder auch nicht, eine Rolle in diesem Aussöhnungsprozess spielen. Insbesondere, wenn zur im Sinne einer Authentizitätsillusion unabdingbaren historical correctness auch noch der Anspruch einer political correctness stößt, wie es der Fall in Rogalskis polnisch-deutscher Koproduktion Unser letzter Sommer war, kann die Inszenierung von Elementen des Versöhnungskitsches durchdrungen sein oder zumindest so rezipiert werden. Dies dürfte umso mehr der Fall sein, wenn bei den Rezipienten der Eindruck entsteht, dass im Film über Gebühr auf geschichtspolitische Befindlichkeiten des Anderen eingegangen wurde – zu Ungunsten der eigenen, nationalen Erzählung und positiven Selbstidentifikation. 211
208 Interessant ist, dass die Stiftung für deutsch-polnische Aussöhnung auch in aktuellen politischen Debatten einen Platz sucht, indem sie unter anderem auf ihrer Website ein Spendenkonto für die Familie des LKW-Fahrers Łukasz Urban einrichtete. Im Vorfeld des Terroranschlags auf dem Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 hatte der Attentäter Anis Amri Urban erschossen und seinen LKW gestohlen, den er anschließend in die Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche lenkte. 11 Menschen kamen dabei ums Leben (URL: http:// www. fpnp. pl/ index_ de. php, Zugriff am 2. Dezember 2018). 209 Als neueres Beispiel, das auch die Komplexität der Erinnerung in der deutschpolnischen Geschichte aufzeigt, kann das geplante Freundschaftszeichen zwischen Deutschland und Polen gelten. 2016 wollte die Bundesregierung den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag anlässlich seines 25. Jahrestages ehren. Angesichts der koalitionsinternen Differenzen über die Behandlung der Vertriebenen im Dokument scheiterte dieses Vorhaben aber. Stein des Anstoßes war, dass die Charta der Heimatvertriebenen zum „Versöhnungsdokument“ umgedeutet werden sollte, was bei den links der Mitte angesiedelten Parteien auf Gegenwehr stieß. Vgl. Annett Meiritz und Severin Weiland. 2016. „Freundschaftssignal an Polen fliegt von der Tagesordnung.“ Spiegel Online, 9. Juni 2016, URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundestag- union- und- spd- streiten- ueber- heimatvertriebene- a- 1096677. html, Zugriff am 10. Juni 2016. 210 Vgl. Toth, The Myth of the Politics of Regret, S. 554. 211 Vgl. bspw. Saryusz-Wolska, Panu Bogu ´swieczk˛e, a diabłu ogarek.
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Der Begriff des Versöhnungskitsches wurde vor über zwei Jahrzehnten vom deutschen Publizisten und Historiker Klaus Bachmann geprägt, der sich 1994 in einem Artikel in der taz darüber echauffierte, dass zwischen Deutschen und Polen viel von Versöhnung die Rede sei, es viele Gesten gebe, diese aber „hohle Gesten, die mit viel bittersüßer Begleitmusik Meinungsunterschiede zukleistern sollen. Mit einem Wort: Versöhnungskitsch“ seien. 212 Wenige Monate später legte Bachmann diese Thesen auch in der polnischen Tageszeitung Rzeczpospolita vor. 213 Für ihn war damals bereits klar: Eine Versöhnung zwischen Deutschen und Polen könne nur von den Polen ausgehen. Probleme müssten ausdiskutiert werden, denn durch sinnentleerte Lippenbekenntnisse ließen sie sich nicht lösen. Seitdem hat sich der Begriff fest im Wortschatz deutsch-polnischer Forschungen und auch im politischen Diskurs etabliert und inspirierte 2008 eine ganze Tagung am Marburger Herder Institut. Im zugehörigen Tagungsband setzt sich Bachmann selbst mit der Entwicklung seines Begriffs auseinander. Er kommt zu dem Schluss, dass aus dem Versöhnungskitsch ein – häufig nicht weniger kitschiger – Wettlauf um den Opferstatus geworden [ist], in dessen Rahmen sich die polnische Nation durch individualistische deutsche Opferansprüche bedrängt sieht, die sie als nationale Ansprüche fehlinterpretiert, während die deutsche Gesellschaft durch den polnischen Widerspruch gegen postnationale, individualisierte Ansprüche auf Anerkennung individueller Opferschicksale irritiert wird. 214
Diese Disbalance macht sich auch in der vor allem von nationalkonservativen Politikern in Polen gestellten Frage bemerkbar, inwiefern man wirklich von einer Versöhnung sprechen könne, wenn man die Entwicklung der deutsch-polnischen Nachkriegsbeziehungen betrachte. Sicher ist, dass sich der Begriff seit den 1960er-Jahren fest etabliert hat, sich allerdings im Zuge politischer und gesellschaftlicher Konjunkturen auch immer wieder gewandelt hat. Der eigentlichen Bedeutung des Wortes Versöhnung in seiner christlichen Prägung kommt mittlerweile dabei eine untergeordnete Rolle zu. So brachte der Rechtsruck in Polen 2015 Stimmen an die Macht, die sich durch die deutsch-polnische Versöhnung, wie sie bislang gelebt wurde, betrogen fühlen. Stattdessen eröffneten Politiker der Partei Recht und Gerechtigkeit den längst beigelegten Streit um Reparationszahlungen der Bundesrepublik Deutschland an Polen für die Verluste im
212 Klaus Bachmann. 1994. „Die Versöhnung muß von Polen ausgehen.“ taz, 5. August 1994, S. 12. 213 Vgl. ders. 1994. „Niemieccy rewan˙zy´sci i polski antysemityzm, czyli kicz pojednania. Marnowe szanse dialogu.“ Rzeczpospolita, 22. November 1994, URL: http://archiwum. rp. pl/ artykul/ 33767- Informacje. html, Zugriff am 14. Oktober 2018. 214 Bachmann, Versöhnungskitsch nach 10 Jahren, S. 32.
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Zweiten Weltkrieg neu – sicherlich in dem Wissen, dass diese Forderungen wenig Aussicht auf Erfolg haben, aber gleichwohl eine große innenpolitische Wirkung erzielen können. 215 Diese mit Reparationsforderungen verknüpften Zweifel an der deutsch-polnischen Versöhnung formulierte der PiS-Abgeordnete Arkadiusz Mularczyk im Mai 2018 so: Um von christlicher Versöhnung zu sprechen, muss es ein zweites Element der Versöhnung geben, das heißt eine Entschädigung, die es in den polnischdeutschen Beziehungen niemals gab. Im Gegenteil, Versöhnung war nur ein reiner Slogan, hinter dem sich nichts versteckte. 216
Bereits 2017 hatte Mularczyk sich zum Begriff der Versöhnung im deutschpolnischen Kontext dezidiert negativ geäußert: Ich denke, dass wir als Polen viele Jahre durch Phrasen von einer polnischdeutschen Versöhnung getäuscht wurden. [. . . ] Wollen wir uns als Nation, als Polen, von irgendeiner fiktiven Versöhnung täuschen lassen, oder wollen wir unsere eigenen Interessen verfolgen, eine Entschädigung für den Zweiten Weltkrieg einfordern, wie es viele Länder auf der Welt machen und gemacht haben? [. . . ] Und auf der anderen Seite stellt sich die Frage, ob Polen es sich leisten kann, weiterhin ein Land zu sein, das getäuscht wird und in einer Illusion der „Versöhnung“ lebt. 217
In Bezug auf Bachmanns Bemerkung zur Entwicklung des Versöhnungskitsches in Deutschland und Polen lässt sich also weitere zehn Jahre später feststellen, dass dessen Kern, nämlich die Versöhnung selbst, im Zuge einer wachsenden Disbalance der Perspektiven auf den Umgang mit der geteilten Geschichte mittlerweile vereinzelt infrage gestellt wird. Gleichwohl ist der Versöhnungskitsch als wichtiger Faktor aus den deutsch-polnischen Beziehungen keineswegs verschwunden. Versöhnungskitsch im Film, oder besser in der Rezeption von Erinnerungsfilmen scheint vor allem ein deutsches Phänomen zu sein, das in Polen in der öffentlichen Wahrnehmung scheinbar weniger relevant ist. Befördert wird diese Wahrnehmung im deutschsprachigen Raum durch eine entsprechende Umrahmung durch die Mythenmacher. Ein Beispiel sind Aussagen der Regisseurin Anna Justice, die angesichts ihrer Berüh˙ 215 Vgl. Robert Zurek. 2018. „Versöhnung: Errungenschaft oder Täuschungsmanöver?“ DIALOG, Nr. 124, 02/2018, S. 14–21. 216 Marek Bło´nski. 2018. „Mularczyk: sprawa reparacji wojennych tak˙ze na forum RB ONZ i przed TK.“ PAP.pl, 19. Mai 2018, URL: https://www. pap. pl/ aktualnosci/ news,1419725,mularczyk- sprawa- reparacji- wojennych- takze- na- forum- rb- onz- iprzed- tk. html, Zugriff am 12. November 2018. 217 Super Express. 2017. „Reparacje wojenne: Biuro Analiz Sejmowych wydało opini˛e.“ SuperExpress, 11. September 2017, URL: https://www. se. pl/ wiadomosci/ polityka/ reparacje- wojenne- biuro- analiz- sejmowych- wydalo- opinie- aa- eNFP- zUHU- y6pC. html, Zugriff am 12. November 2018.
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rungspunkte mit Polen im Kontext des Drehs von Die verlorene Zeit zu einer Liebhaberin der polnischen Kultur wurde. 218 Versöhnungskitsch ist aber auch ein Kritikpunkt, den beispielsweise die polnische Filmwissenschaftlerin Magdalena Saryusz-Wolska in ihrer Rezension zu Unser letzter Sommer anführt. 219 Eine polnisch-deutsche Koproduktion, die sich aufgrund dieser Konstellation schon anders, nämlich multiperspektivisch, mit erinnerungspolitischen Themen auseinandersetzen kann und muss, ist vor dem Urteil Versöhnungskitsch nicht gefeit. Insbesondere die deutschen Rezensionen betonen auffällig oft die vermeintliche Freundschaft, die zwischen Guido und Romek entsteht. 220 Dass die beiden Jungen keine Freunde, sondern lediglich flüchtige Bekannte sind, die auf unterschiedlichen Seiten stehen, nicht einmal eine gemeinsame Sprache haben und um die Gunst des Bauernmädchens Franka konkurrieren, ist dabei nicht weiter wichtig. In seinem Fazit zu Unser letzter Sommer schließt Jens Müller in der taz: „Ein bisschen vorhersehbar vielleicht, aber sonst alles richtig gemacht. Schön ausgewogen, angemessen differenziert. Den PiSern dürften der Film trotzdem – oder genau deshalb – nicht gefallen, siehe Danzig“. 221 Die Bezugnahme auf den Streit um das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig zeigt, dass die Erinnerungsfilme in einen weiteren Zusammenhang erinnerungspolitisch relevanter Debatten gestellt werden. Das Museum in Danzig war am 23. März 2017 eröffnet worden, um die Geschichte des Zweiten Weltkriegs aus einer europäischen Perspektive zu erzählen und sie in einen größeren, transnationalen Kontext einzubetten. Die nationalkonservative PiS-Regierung in Warschau hatte von Anfang an versucht das Projekt, das 2008 unter der Ägide des vormaligen Ministerpräsidenten Donald Tusk initiiert worden war, zu verhindern, weil es das polnische Leid nur ungenügend darstelle. Der Gründungsdirektor des Museums, Paweł Machcewicz, wurde bereits am 6. April 2017 durch eine Zusammenlegung mit dem noch nicht eröffneten Museum Westerplatte seines Amtes enthoben, um den Weg für eine patriotische Neuausrichtung des Museums des Zweiten Weltkriegs nach nationalkonservativen Vorstellungen frei zu machen. 222 218 Vgl. Philipps & Pfeiffer, Anna Justice: Liebe auf den ersten Blick. 219 Vgl. Saryusz-Wolska, Panu Bogu ´swieczk˛e, a diabłu ogarek. 220 Vgl. bspw. Ries, Kinokritiken: Unser letzter Sommer. In den polnischen Rezensionen findet sich diese Tendenz kaum, siehe aber auch das Interview mit Rogalski auf TVP Polonia. Interview mit Kulturalni.pl. 221 Müller, Streitende Nachbarn. Gemeint ist der Streit um das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig, dessen universalistische, pro-europäische und multiperspektivische Ausrichtung der nationalkonservativen Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) ein Dorn im Auge war. 222 Vgl. bspw. Judith Leister. 2017. „Ein Museum als Schlachtfeld.“ Neue Zürcher Zeitung, 23. Juni 2017, URL: https://www. nzz. ch/ feuilleton/ aktuell/ danziger- tauziehen-
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Moderne Versuche einer filmischen Aufarbeitung der Besatzungszeit in Polen können folglich in den Zusammenhang mit der Debatte um Versöhnungskitsch im Sinne Klaus Bachmanns eingeordnet werden, auch wenn sich Erinnerungsfilme wie Rogalskis Unser letzter Sommer ebenso gut als Schritt einer Versöhnung zwischen den Nationen, die nach Bachmann von Polen ausgehen muss, bewerten ließen. Die in den Rezensionen implizit hergestellten Verbindungen zu Versöhnungskitsch, einem Begriff, der explizit im deutsch-polnischen Aussöhnungskontext geprägt wurde, und den Erinnerungsfilmen zur gemeinsamen Vergangenheit zeigen, dass die Filme mehr sind als reine Unterhaltungsprodukte. „Wenn es in einem Film um die deutsche Besetzung Polens im Zweiten Weltkrieg geht, liegen die Nerven regelmäßig blank. In Polen“, 223 schreibt Jens Müller in der taz. Auf die Spitze getrieben hat den Versöhnungskitsch in filmischer Sicht aber die Inszenierung der beiden Erinnerungsfilme Unsere Mütter, unsere Väter und Warschau ’44, deren Ausstrahlung dies- und jenseits der Oder als Meilenstein der deutsch-polnischen Versöhnung dargestellt wurde. Zweifelsohne hat diese deutsch-polnische Diskussion um Unsere Mütter, unsere Väter und Warschau ’44 auch die Rezeption nachfolgender Erinnerungsfilme mit ähnlichem Sujet geprägt. So nimmt beispielsweise Müller in seiner Rezension zu Unser letzter Sommer auch ebenjene beiden Erinnerungsfilme als Bezugspunkt: „Die polnische Antwort auf ‚Unsere Mütter, unsere Väter‘ hieß ‚Warschau ’44‘ und zelebrierte den Heldenmut und die Opferbereitschaft der Heimatarmee vorbehaltlos pathetisch unter Einsatz aller filmischen Überwältigungsstrategien.“ 224 Auch Nico Hofmann, Produzent von Unsere Mütter, unsere Väter, sieht einen klaren kausalen Zusammenhang zwischen der Ausstrahlung der ZDF-Miniserie in Polen und der Verfilmung von Warschau ’44, wie er im Interview mit dem Haus der Geschichte erklärt: „Im Übrigen hat der Film in Polen [. . . ] eine neue Entwicklung bei polnischen Filmemachern ausgelöst: Sie produzierten 2015 (sic) mit Warschau ’44 einen millionenschweren Film zu demselben Thema, der im ZDF zu sehen war“. 225 Dass an der Geschichte, Warschau ’44 sei die polnische Antwort auf Unsere Mütter, unsere Väter nicht viel Wahres sein kann, verrät ein kurzer Blick auf die Entstehungsgeschichten der beiden Filme, an deren Realisierung über viele Jahre um- die- polnische- geschichte- ein- museum- als- schlachtfeld- ld. 1302384, Zugriff am 21. Mai 2019. Joachim von Puttkamer. 2017. „Europäisch und polnisch zugleich. Das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig.“ Zeitschrift Osteuropa, 67. Jg., Nr. 1– 2/2017, S. 3–12. 223 Müller, Streitende Nachbarn. 224 Ebd.; für ein polnisches Beispiel vgl. die Rezension zu Unser letzter Sommer von Felskowska, RECENZJA | DODATNIE „LETNIE PRZESILENIE“. 225 Peters, Interview mit Nico Hofmann, S. 113.
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parallel und vollkommen ohne Bezug aufeinander gearbeitet wurde. Die Vermarktung des polnischen Films als Pendant zum in Polen kritisch aufgenommenen ZDF-Dreiteiler offenbart aber, dass der Wunsch nach einer Illusion des dialogischen Erinnerns zweier gleichberechtigter Partner groß ist. 226 Für die deutsche Seite ist die Interpretation im Sinne eines Versöhnungskitsches attraktiv, der die Vorreiterrolle Deutschlands im Umgang mit historischer Schuld zementiert, für die polnische eine Interpretation im Sinne eines Strebens nach einem tatsächlich dialogischen Erinnern auf Augenhöhe. Die Illusion wurde aufwendig erzeugt und verfing, die Realität aber sieht anders aus. Dieses Beispiel soll im Folgenden näher betrachtet werden. Als im März 2013 die Miniserie Unsere Mütter, unsere Väter im ZDF erstausgestrahlt wurde, ließen die empörten Reaktionen aus Polen nicht lange auf sich warten. Sowohl die Darstellung der polnischen Heimatarmee als primitiv und durch und durch antisemitisch, als auch die in einem starken Kontrast dazu stehende Porträtierung der fünf jungen Deutschen als tragische Opfer eines nationalsozialistischen Unrechtsregimes, dessen Ideale sie nicht teilten, sorgte für Aufruhr. Insbesondere die zu Beginn dieser Arbeit geschilderte Szene, in der ein polnischer Partisan einen Güterzug öffnet und ihn beim Anblick der jüdischen Gefangenen mit den Worten „Besser tot als lebendig“ sofort wieder schließt, sorgte für Unmut. Über die Verstimmungen in Polen wurde zeitnah auch in den deutschen Medien berichtet, sodass einer interessierten deutschen Leserschaft die Reaktionen und erinnerungskulturellen Befindlichkeiten im größten, östlichen Nachbarland kaum verborgen bleiben konnten. Kto wytłumaczy Niemcom, z˙e AK to nie SS – Wer erklärt den Deutschen, dass die Heimatarmee nicht die SS war – lautete der Titel eines Artikels von Bartosz T. Wieli´nski 227 in der linksliberalen Tageszeitung Gazeta Wyborcza, den Paul Flückinger in seinem Beitrag im Tagesspiegel als Ausgangspunkt wählt, um die Irritationen in Polen zu erklären. 228 Wieli´nski wertet dort die negative Darstellung der polnischen Heimatarmee nicht als bewusste Geschichtsklitterung: „Ich denke nicht, dass die Deutschen gezielt einen Teil der Verantwortung für den Holocaust auf die Polen abwälzen wollten. Es ist eher ein Ergebnis von Ignoranz, die gleiche Dummheit wie im Falle deutscher Journalisten, die sich immer noch des Ausdrucks ‚polnische 226 Auf der Innenseite der DVD-Hülle zu Warschau ’44 ist beispielsweise Werbung für die DVD zu Unsere Mütter, unsere Väter zu finden. 227 Wieli´nski, Kto wytłumaczy Niemcom, z˙e AK to nie SS. 228 Vgl. Paul Flückinger. 2013. „Der Unterschied zwischen AK und SS.“ Tagesspiegel, 26. März 2013, URL: https://www. tagesspiegel. de/ politik/ unsere- vaeter- unsere- muetter- der- unterschied- zwischen- ak- und- ss/ 7983648. html, Zugriff am 11. Dezember 2018.
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Konzentrationslager‘ bedienen.“ 229 Ebenso setzte sich der Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Warschau, Konrad Schuller, mit den politischen und medialen Reaktionen, die der Ausstrahlung der Miniserie in Deutschland im März 2013 folgten, auseinander. Sein Artikel wirkt aber lediglich sechs Jahre später bereits wie ein Anachronismus: „In den Reaktionen auf ‚Unsere Mütter, unsere Väter‘ ist ein differenzierter Ansatz neben schrillen Tönen, die es natürlich auch gab, vorherrschend gewesen.“ Gebe es doch „in Polen selbst gerade eine bemerkenswerte Weiterentwicklung des lange Zeit einseitig-düsteren Deutschland-Bildes [. . . ]. Die Zeiten, in denen schäumende Nationalkonservative hier den Ton angaben, sind lange vorbei. [. . . ] Polen sieht genau hin, wenn es um Deutschland geht, und bemüht sich um differenzierte Urteile.“ 230 Die Entwicklungen, die Schuller beschreibt, kamen mit der Regierungsübernahme der Partei Recht und Gerechtigkeit zum Erliegen. Forderungen nach Reparationen und eine antideutsche Rhetorik prägen das Bild. 231 Aber natürlich gab es neben den gemäßigten Stimmen aus Polen auch schon 2013 krassere Reaktionen, wie beispielsweise das bereits erwähnte Cover des konservativen Magazins Uwa˙zam Rze, das die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel in schwarz-weiß vor einem Stacheldrahtzaun zeigte, bekleidet mit einem Kopftuch, der typischen blau-weiß-gestreiften KZ-Uniform und einer Häftlingsnummer auf der Brust – daneben in einem Dreieck ein „D“ für „Deutsche“, dem „P“ für „Polen“ nachempfunden. Der Titel lautete: „Geschichtsfälschung. Wie die Deutschen aus sich Opfer des Zweiten Weltkrieges machen“. 232 Als unmittelbare Reaktion kündigte das ZDF eine Dokumentation an, die den Besatzungsalltag in Polen thematisieren und schon im Juni 2013 ausgestrahlt werden sollte. Verantwortlich zeichneten
229 Wieli´nski, Kto wytłumaczy Niemcom, z˙e AK to nie SS. 230 Konrad Schuller. 2013. „Über Widerstand und Antisemitismus.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. April 2013, URL: https://www. faz. net/ aktuell/ feuilleton/ medien/ unsere- muetter- unsere- vaeter/ diskussion- in- polen- ueber- widerstand- und- antisemitismus- 12138685. html, Zugriff am 18. Januar 2015. 231 Das beeinflusst auch die Situation der deutschen Minderheit in Polen negativ, vgl. Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages. 2018. Sachstand: Die deutsche Minderheit in Polen, März 2018, URL: https://www. bundestag. de/ blob/ 557644/ 92ca9add09ba40210b2cd67ee21ec0d7/wd-2-022-18-pdf-data.pdf, Zugriff am 14. Dezember 2018. 232 FOCUS. 2013. „Polen reagiert auf ‚Unsere Mütter, unsere Väter‘: Merkel als KZ-Häftling auf dem Titelblatt des Magazins.“ FOCUS.de, 9. April 2013, URL: http://www. focus. de/ politik/ ausland/ polen- reagiert- auf- unsere- muetter- unsere- vaeter- merkelals- kz- haeftling- auf- dem- titelblatt- eines- magazins_ aid_ 956827. html, Zugriff am 11. April 2013.
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Alexander Berkel und Andrzej Klamt, also ein deutsch-polnisches Autorenduo. 233 Die Rezeption fand aber nicht nur auf einer zivilgesellschaftlichen, sondern auch auf wissenschaftlicher Ebene statt. Maren Röger fasste auf Zeitgeschichte Online 234 die polnischen Reaktionen zu Unsere Mütter, unsere Väter zusammen und machte so der geschichtswissenschaftlich interessierten Öffentlichkeit sowie der nicht-polnischsprachigen Fachwelt die Perspektive unseres Nachbarlandes zugänglich. Die Stimmen polnischer Journalisten wurden aber auch in der deutschen Presse veröffentlicht. Adam Krzemi´nski befindet in einem Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung hinsichtlich der Authentizität des historischen Narrativs, dessen sich Unsere Mütter, unsere Väter bedient: Realistisch wäre die Geschichte nämlich, wenn sie die Gruppe [der Partisanen, Anm. JRG] – anstatt sich dümmlich über den Bigos als Nationalgericht auszulassen – zum Schluss von den Sowjets überrennen, Viktor als Jude outen und in die Rote Armee aufnehmen, die Polen dagegen – ob Antisemiten oder nicht – entweder an Ort und Stelle liquidieren oder nach Sibirien verschleppen ließen. Aber dieser polnische Aspekt der deutschen Geschichte interessiert die ZDF-Filmemacher nicht, die ganze Episode ist ja ohnehin nur ein Platzhalter gewesen. 235
Aber hätte Polen auf eine deutsche Richtigstellung der Geschichte warten sollen? Historiker wie Zbigniew Mazur vertreten die Ansicht, dass Polen hier zu passiv agiert habe. Mazur kommt zu dem Schluss: „The job of shaping Poland’s views on history must not be entrusted to German granddaughters and German grandsons.“ 236 Vielmehr hätte sich eine polnische Geschichtspolitik als Teil einer polnischen Außenpolitik darum bemühen müssen, hier für Klarheit zu sorgen, anstatt durch die Ausstrahlung der Miniserie in Polen diese deutsche Weltsicht zu sanktionieren. 237 Im Juni 2013 konnten sich die polnischen Zuschauerinnen und Zuschauer
233 Vgl. Nik Afanasjew. 2013. „ZDF reagiert auf Polen-Kritik mit neuer Doku.“ Tagesspiegel, 11. April 2013, URL: https://www. tagesspiegel. de/ medien/ unsere- muetterunsere- vaeter- zdf- reagiert- auf- polen- kritik- mit- neuer- doku/ 8046566. html, Zugriff am 11. Dezember 2018. Die Dokumentation Kampf ums Überleben. Polen unter deutscher Besatzung ist auch Teil der DVD-Special-Edition von Unsere Mütter, unsere Väter. 234 Vgl. Themenschwerpunkt auf Zeitgeschichte-online, Maren Röger. Hrsg. 2014. „Polnische Reaktionen auf ‚Unsere Mütter, unsere Väter‘. Mit Texten v. T. Szarota, M. Urynowicz, P. Brudek u. K. Chimiak.“ Zeitgeschichte-online, Juli 2014, URL: https:// zeitgeschichte- online. de/ thema/ polnische- reaktionen- auf- unsere- muetter- unserevaeter, Zugriff am 18. Januar 2015. 235 Krzemi´nski, Der polnische Lückenbüßer. 236 Mazur, German Granddaughters, German Grandsons, S. 4. 237 Vgl. ebd.
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selbst davon überzeugen. Für die Entscheidung, Unsere Mütter, unsere Väter auch in Polen auszustrahlen, traf den damaligen Direktor des polnischen Staatsfernsehens TVP, Juliusz Braun, harsche Kritik insbesondere aus dem nationalkonservativen Lager. Politiker der Partei Recht und Gerechtigkeit forderten seinen Rücktritt, hatte er doch einen ihrer Meinung nach „verlogenen und antipolnischen“ Film zur besten Sendezeit im staatlichen Fernsehen zeigen lassen. 238 Braun selbst hatte sich nach der deutschen Erstausstrahlung an den Direktor des ZDF gewandt, mit dem der TVP seit Jahren eng kooperierte, um die allzu simplizistische Darstellung der Polen in Kadelbachs Dreiteiler anzuprangern. 239 Die Reduta Dobrego Imienia organisierte eine Unterschriftenaktion und Demonstrationen vor dem Warschauer Büro des ZDF und forderte Vertreter der polnischen Politik zu einem aktiven Eingreifen auf. Der Miniserie wird das Potenzial zugeschrieben, die beiden Nationen gegeneinander aufzubringen „was im heutigen Europa eine bewusste Zerstörung der bisherigen deutsch-polnischen Verständigung“ bedeute. 240 Die Gruppierung Studenten für die Republik forderte Braun auf, sich beim ZDF darum zu bemühen, dass die Serie Czas honoru in Deutschland ausgestrahlt werde. 241 Die zugehörige Facebook-Seite Czas honoru dla Niemiec, also Zeit der Ehre für Deutschland gefällt über 3.500 Personen. 242 Auch wenn Czas honoru bis heute nicht in Deutschland ausgestrahlt wurde, wurde ein polnischer Erinnerungsfilm öffentlichkeitswirksam zwei Jahre später in Deutschland gesendet: Warschau ’44. Die Ausstrahlung von Warschau ’44 bildete 2015 den Abschluss der ZDF-Themenreihe zum 70. Jahrestag des Kriegsendes und wurde von dem deutschen Fernsehsender als „Teil einer Kooperation des ZDF und des
238 wPolityce. 2013. „Politycy PiS domagaja˛ si˛e dymisji prezesa TVP, za dopuszczenie do emisji niemieckiego serialu ‚Nasze matki, nasi ojcowie‘.“ wPolityce.pl, 17. Juni 2013, URL: https://wpolityce. pl/ polityka/ 159938- politycy- pis- domagaja- sie- dymisji- prezesa- tvp- za- dopuszczenie- do- emisji- niemieckiego- serialu- nasze- matki- nasi- ojcowie, Zugriff am 11. Dezember 2018. 239 Vgl. Centrum Informacji TVP. 2013. „List prezesa TVP do dyrektora generalnego niemieckiej ZDF.“ TVP, 27. März 2013, URL: http://centruminformacji.tvp.pl/15789193/ list- prezesa- tvp- do- dyrektora- generalnego- niemieckiej- zdf, Zugriff 12. Dezember 2018. 240 Michał Jaranowski. 2013. „Serial ZDF mo˙ze mie´c reperkusje sadowe.“ ˛ Deutsche Welle, 7. April 2013, URL: https://www. dw. com/ pl/ serial- zdf- mo. ze- mie´c - reperkusje- sa˛ dowe/ a- 16726072, Zugriff am 12. Dezember 2018. 241 Radio Maryja. 2013. „List studentów do prezesa TVP Juliusza Brauna.“ Website von Radio Maryja, 25. Juni 2013, URL: http://www. radiomaryja. pl/ informacje/ list- studentow- do- prezesa- tvp- juliusza- brauna/ , Zugriff 12. Dezember 2018. 242 Vgl. die Initiative Czas Honoru dla niemieckich widzów auf Facebook, URL: https:// www. facebook. com/ CzasHonoruDlaNiemiec/ , Zugriff am 12. Dezember 2018; spannend ist, dass in all diesen Fällen eine filmische Antwort als angemessen erachtet wird.
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polnischen Senders TVP“ beschrieben. „Die intensive Zusammenarbeit entstand 2013 – ein gemeinsamer Schritt nach der kritischen Rezeption von ‚Unsere Mütter, unsere Väter‘ in Polen“. 243 Susanne Müller, Leiterin der ZDF-Hauptredaktion Spielfilm, befindet, dass Komasas Film für Zuschauer in Deutschland relevant sei, weil er ein im deutschen Geschichtsunterricht oftmals nur am Rande behandeltes Thema aufgreife, das in Polen von zentraler Bedeutung sei. Der Film wird dabei zu einem wichtigen Schlüssel in der Versöhnung zwischen Deutschen und Polen überhöht: In diesem Sinne ist „Warschau ’44“ ein wichtiger Film für das deutsche Publikum – er erzählt eine Geschichte aus Polen, deren historische Fakten in unseren Geschichtsbüchern keine ganz große Rolle spielen, in den polnischen umso mehr. Ein Film, der uns verstehen lässt, warum das deutsch-polnische Verhältnis kein leichtes war (und manchmal noch ist). Ein Film, der auch versöhnen kann. 244
Beate Schaaf befindet in derselben Pressemappe: „‚Warschau ’44‘ ist die seltene Gelegenheit, die tragischen Folgen der deutschen Besatzung aus polnischer Sicht und nächster Nähe zu erleben – und dann nicht mehr zu vergessen.“ 245 Sie geht außerdem auf die Jugend und die Normalität der Protagonisten ein, die sie so besonders machten. Eine entscheidende Rolle in dieser Entwicklung, also der Veröffentlichung von Komasas Film in Deutschland, reklamierte der polnische Publizist Tomasz Lis für sich, die allerdings nicht offiziell bestätigt ist. In einem Artikel in der deutschen Zeitung Die Welt hatte er im August 2014 dazu aufgerufen, dass Warschau ’44 im deutschen Fernsehen ausgestrahlt werden solle – schließlich habe der Film das Potenzial, ebenso viel zum deutschen Wissen über polnische Befindlichkeiten in der Erinnerungskultur beizutragen, wie es Unsere Mütter, unsere Väter ein Jahr zuvor in Polen getan hatte. Das Motiv des Versöhnungskitsches ist in seinem Aufruf, der in seiner Betonung des Versöhnungsgedankens als einem Wunder eine deutlich christliche Konnotation hat, besonders stark. So schreibt Lis: Die Deutschen sollten sich unbedingt diesen Film ansehen. Wir haben das Wunder der Versöhnung zwischen Polen und Deutschland der Vorstellungskraft unserer politischen Führer zu verdanken. Heute brauchen wir jedoch ein weiteres Wunder – das Wunder der Versöhnung zwischen unseren Völkern. 243 ZDF. 2015. Pressemappe: Warschau ’44, URL: https://presseportal. zdf. de/ pm/ warschau- 44/ , Zugriff am 5. März 2018. 244 Ebd. – meine Hervorhebung. Auch Nathalie Petrowski zieht in ihrer Rezension zu Unser letzter Sommer einen ähnlichen Schluss, nämlich dass der Film, der als polnischdeutsche Koproduktion entstand, „sert non seulement à jeter un nouvel éclairage sur une réalité dont on croyait connaître tous les aspects, mais ça sert aussi parfois à rapprocher d’anciens ennemis“. Petrowski, De la guerre et du tricot. 245 Ebd.
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Dafür sind jedoch Geschichtskenntnisse und Empathie notwendig, die ein Verständnis für unsere Emotionen, aber auch unsere Obsessionen möglich machen. 246
Damit weist Lis dem Erinnerungsfilm als Werkzeug der Vermittlung von historischem Wissen über nationale Grenzen hinweg eine Schlüsselrolle zu, ohne die Versöhnung kaum möglich ist. Im Anschluss an die Ausstrahlung des Spielfilms folgte die Ausstrahlung der ZDF-History Dokumentation „Warschau ’44“ – Die Dokumentation (2015) von Alexander Berkel und Annette von der Heyde. Als wissenschaftlicher Berater fungierte der Warschauer Geschichtsprofessor Jerzy Kochanowski. Anspruch der Dokumentation war es, zu vermitteln, „warum der Aufstand 70 Jahre nach Kriegsende immer noch ein nationales Trauma in Polen darstellt“. 247 Durch Originalaufnahmen der Aufständischen, im deutschen Fernsehen bis dato nicht ausgestrahlte Zeitzeugenberichte und Experteninterviews deutscher und polnischer Historiker sollte ein ausgewogenes Bild vermittelt werden. Auch hier wird das Bestreben um eine historical correctness im Bemühen um die political correctness überdeutlich: In Deutschland ist wenig bekannt über die historischen Fakten des Aufstands von 1944, noch weniger über die Emotionen, die das Thema immer noch weckt. Deshalb bietet das ZDF an diesem Abend mit dem Spielfilm und der Dokumentation einen besonderen Programmakzent, um damit auch ein Zeichen der Erinnerung und des gegenseitigen Verstehens zu setzen. 248
Vielen Deutschen sei, wie Kosmala feststellt, nach wie vor nicht klar, „wie groß die Sorge polnischer Intellektueller ist, dass das Leiden der polnischen Bevölkerung unter dem deutschen Besatzungsterror des Zweiten Weltkriegs immer weniger wahrgenommen werde“. 249 Dennoch traf auch dieser Akt des Versöhnungskitsches auf Misstrauen in nationalkonservativen Kreisen in Polen. Nach der Ausstrahlung von Warschau ’44 im deutschen Fernsehen im August 2015 kam es in Polen zu einer Diskussion darüber, inwiefern die dort gezeigte Version in ihrer Länge der in Polen gezeigten Fassung (Kino und DVD) gleiche. Die offizielle Website zum Film, miasto44.pl, greift diese Vorwürfe auf ihrer Startseite in einer der offiziellen Seite vorgeschalteten Information auf und gibt darüber Auskunft, dass der Film an sich identisch sei, aber 246 Tomasz Lis. 2014. „Zweierlei Erinnerung.“ Welt.de, 16. August 2014, URL: https:// www. welt. de/ print/ die_ welt/ debatte/ article131281981/ Zweierlei- Erinnerung. html, Zugriff am 11. Dezember 2018 – meine Hervorhebung. 247 ZDF, Pressemappe: Warschau ’44. 248 Ebd. 249 Kosmala, Polenbilder.
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die vorgeschalteten Informationen zu den Förderinstitutionen und eine Informationstafel, die die ausländischen Zuschauer über die politischen Umstände im besetzten Warschau informieren solle, zu den unterschiedlichen Spielzeiten geführt habe. 250 Die Inszenierung der Ausstrahlung des Films Warschau ’44 als Antwort auf Kadelbachs Unsere Mütter, unsere Väter legt wie erwähnt den Schluss nahe, dass hier ein Dialog zwischen den nationalen Erinnerungskulturen stattgefunden habe. Aber ist das tatsächlich so, oder befinden wir uns nicht vielmehr auf einer neuen Stufe des Versöhnungskitsches, der mit schönen, symbolischen Gesten aufwartet, aber ohne größeren Beitrag zur tatsächlichen Verständigung zwischen den Parteien bleibt? Aleida Assmann kommt zu dem ernüchternden Ergebnis, dass hier abermals ein Monolog anstatt eines dialogischen Erinnerns stattfand. 251 Dialogisches Erinnern verbindet nach Assmann „two nations through their common knowledge of a shared legacy of a traumatic past“. 252 Die Verschiedenheit der Erinnerungen in den Erinnerungsgemeinschaften der beteiligten Akteure sind dabei essentieller Bestandteil eines erfolgreichen dialogischen Erinnerns, das von den unterschiedlichen und teilweise widersprüchlichen Erinnerungen profitiert. Die Europäische Union mit ihrem Motto „United in Diversity“ böte dafür einen idealen Nährboden: „the transforming of solipsistic into dialogic memories“, wenngleich der Weg dorthin noch weit sein mag. 253 „Europäische Dialogfähigkeit steht und fällt mit dem Wissen um den eigenen Anteil an den Traumata der Anderen“, wie Assmann schreibt. 254 Der Fall Unsere Mütter, unsere Väter und auch Warschau ’44 sind ein gutes Beispiel für das Scheitern dieser Dialogizität. Sowohl in Deutschland als auch in Polen haben sich die vermeintlichen Reaktionen, Bekundungen von Schuldbewusstsein und Gelöbnis zur Besserung zuallererst an ein nationales Publikum gerichtet. Auch Saryusz-Wolska und Piorun kritisieren diesen vermeintlichen Versöhnungsdialog. 255 Erkennbar wird, dass Erinnerungsfilme von allen politischen Lagern als legitime Instrumente einer geschichtspolitischen Diplomatie anerkannt werden. Deutlich wurde diese dem Erinnerungsfilm beigemessene, politische Dimension schon 2013. So hält der Soziologieprofessor und Europa-
250 Vgl. die der Website zum Film vorangeschalteten Informationen www.miasto44.pl, Zugriff am 20. August 2018. 251 Vgl. Assmann, Unbehagen. 252 Assmann, From Collective Violence to a Common Future, S. 43. 253 Ebd. 254 Assmann, Unbehagen, S. 198. 255 Vgl. Saryusz-Wolska & Piorun, Verpasste Debatte.
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abgeordnete der Partei Recht und Gerechtigkeit, Zbigniew Krasnod˛ebski, Unsere Mütter, unsere Väter für ein „Element bewusster Geschichtspolitik“, die durch subtile Veränderungen des historischen Narrativs und das Erwecken von Sympathie für die Protagonisten, für die der Zuschauer Verständnis aufbringen und deren Handeln er gewissermaßen entschuldigen könne, vonstatten geht: „Dieser Film ist im Grunde ein weiterer Schritt zur Exteriorisierung des Nationalsozialismus – ja, die Nazis waren auch Deutsche, aber das sind nicht die Vorfahren der heutigen Deutschen.“ 256 Nicht nur wird die Verantwortung für diese Verschiebungen im Erinnerungsfilm an der Spitze der deutschen Politik angesiedelt, sondern auch polnische Politiker und Diplomaten schalten sich in die Diskussion ein. Der polnische Botschafter in Berlin richtete sich sowohl an die BILDZeitung, die in Hintergrundberichten über die Heimatarmee informiert hatte, als auch an den Direktor des ZDF. Botschafter Jerzy Marganski monierte in seinem Schreiben an das ZDF auch, dass man in dem Film nichts über den Warschauer Aufstand lerne. 257 Das polnische Außenministerium wurde zunächst, abgesehen von einem Tweet des damaligen Außenministers Radosław Sikorskis, nicht aktiv, veröffentlichet jedoch eine offizielle Stellungnahme zu den Aktivitäten des Ministeriums gegen die Darstellung der Heimatarmee in Unsere Mütter, unsere Väter, zu der es sich durch Nachfragen des Portals wPolityce.pl genötigt sah. 258 Sehr wahrscheinlich gibt es aktuell kaum ein besseres Beispiel für die Verflochtenheit von Erinnerungskulturen als das deutsch-polnische. Die Diskussion um Warschau ’44 und Unsere Mütter, unsere Väter ist Ausdruck dessen. Sie bietet nicht nur Aushandlungsräume für Vergangenheitsbilder, sondern hat diese sogar in den Gerichtssaal geholt: Das Geschichtsbild, das Kadelbachs Film kolportiert, steht seit einigen Jahren in Krakau vor Gericht. Bereits 2013 hatte die Reduta Dobrego Imienia, die sich den Schutz des guten Namens Polens in der Welt zur Aufgabe gemacht hat, vor einem 256 wPolityce. 2013. „NASZ WYWIAD. Prof. Krasnod˛ebski o niemieckim filmie z AK w tle: To element ´swiadomej polityki historycznej i ´swiadectwo przemiany pami˛eci.“ wPolityce.pl, 21. März 2013, URL: https://wpolityce.pl/polityka/153565-nasz-wywiadprof-krasnodebski-o-niemieckim-filmie-z-ak-w-tle-to-element-swiadomej-politykihistorycznej- i- swiadectwo- przemiany- pamieci, Zugriff am 12. Dezember 2018. 257 Vgl. wPolityce. 2013. „Ambasada RP w Berlinie bojkotuje niemiecki serial telewizji ZDF. Obraz Polaków jest ‚skrajnie niesprawiedliwy i obra´zliwy‘.“ wPolityce.pl, 27. März 2013, URL: https://wpolityce. pl/ polityka/ 153945- ambasada- rp- w- berliniebojkotuje- niemiecki- serial- telewizji- zdf- obraz- polakow- jest- skrajnie- niesprawiedliwy- i- obrazliwy, Zugriff am 12. Dezember 2018. 258 Vgl. Wojciechowski, Informacja MSZ w zwiazku ˛ z publikacja˛ portalu wpolityce.pl nt. filmu „Nasze matki, nasi ojcowie“.
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Gericht in Warschau versucht, gegen die deutsche Miniserie vorzugehen. Der Versuch scheiterte. 2016 brachten der ehemalige Soldat der Heimat˙ ´ armee, Zbigniew Radłowski, und der Swiatowy Zwiazek ˛ Zołnierzy AK, der Weltverband der Soldaten der Heimatarmee, unterstützt durch die Reduta Dobrego Imienia die deutschen Produzenten UFA Fiction und ZDF vor ein polnisches Gericht in Krakau. Überspitzt titelte der polnische Journalist Arkadiusz Jastrz˛ebski „AK kontra niemiecka ZDF“ (dt. Die AK gegen das deutsche ZDF). 259 Nachdem Einwände der Beklagten hinsichtlich der Zuständigkeit eines polnischen Gerichts mit dem Verweis „auf das wichtige gesellschaftliche Interesse“ und angesichts der Ausstrahlung von Unsere Mütter, unsere Väter in Polen zurückgewiesen worden waren, begann der Zivilprozess im Sommer 2016. 260 Gegenstand der Klage war „die Verletzung von Persönlichkeitsrechten, die als das Recht auf nationale Identität, Nationalstolz und nationale Würde und die Freiheit von Hassrede verstanden werden“. 261 Der Katalog an Forderungen war lang und umfassend, unter anderem sollten die AK-Symbole auf den weiß-roten Armbinden der Partisanen im Film retuschiert werden, die Macher sollten sich persönlich bei den betroffenen Veteranen und öffentlich auf allen Kanälen, auf denen die Miniserie weltweit ausgestrahlt wurde, entschuldigen, und klarstellen, dass die alleinige Schuld für den Holocaust bei den Deutschen liege. Zudem forderten die Kläger eine Summe von 25.000 PLN. 262 Ein Schlichtungsvorschlag des Gerichts von Anfang 2018 umfasste den Großteil dieser Punkte. 263 Im Dezember 2018 fiel das Urteil: 5.000 EUR Entschädigung für den Kläger und eine Entschuldigung. Ohne Probleme war der Prozess nicht verlaufen. Die Befragung des deutschen, beratenden Historikers Julius Schoeps per Videokonferenz im März 2018 musste unterbrochen werden, weil Zweifel an der Übersetzung entstanden und der Befragte einer Aufzeichnung seiner Aussagen nicht
259 Arkadiusz Jastrz˛ebski. 2018. „AK kontra niemiecka ZDF. Sad ˛ ws. gło´snego serialu ‚Nasze matki, nasi ojcowie‘.“ WP Wiadomo´sci, 17. Januar 2018, URL: https://wiadomosci. wp. pl/ ak- kontra- niemiecka- zdf- sad- ws- glosnego- serialu- nasze- matki- nasiojcowie- 6210370763995265a, Zugriff am 7. Dezember 2018. 260 PAP. 2018. „B˛edzie ugoda mi˛edzy twórcami serialu ‚Nasze matki, nasi ojcowie‘ a z˙ołnierzami AK? Proponuje ja˛ krakowski Sad ˛ Okr˛egowy.“ wPolityce.pl, 17. Januar 2018, URL: https://wpolityce. pl/ historia/ 377014- bedzie- ugoda- miedzy- tworcami- serialu- nasze- matki- nasi- ojcowie- a- zolnierzami- ak- proponuje- ja- krakowskisad- okregowy? strona= 2, Zugriff am 7. Dezember 2018. 261 PAP. 2018. „Proces ws. serialu ‚Nasze matki, nasi ojcowie‘. B. z˙ołnierz AK: kłamstwo i brak wiedzy historycznej.“ PolsatNews, 20. April 2018, URL: http://www. polsatnews. pl/ wiadomosc/ 2018- 04- 20/ proces- ws- serialu- nasze- matki- nasi- ojcowie- b- zolnierzak- klamstwo- i- brak- wiedzy- historycznej/ , Zugriff am 7. Dezember 2018. 262 Vgl. ebd. 263 PAP, B˛edzie ugoda.
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zugestimmt hatte. Ko-Produzent Benjamin Benedict, der im April 2018 in Krakau aussagte, wiederholte das Argument, dass in Unsere Mütter, unsere Väter die deutschen Verbrechen „so genau wie nie zuvor gezeigt wurden, keiner der Helden ist moralisch einwandfrei“. 264 Die Macher der Miniserie kündigten angesichts des Urteilsspruchs an, Berufung einzulegen. 265 Die Produzenten berufen sich auf die künstlerische Freiheit, die bei einem Spielfilm greife, denn Unsere Mütter, unsere Väter sei kein Dokumentar- oder Geschichtsfilm. Sie wehrten sich zudem erfolglos dagegen, dass bislang nur polnische Sachverständige – ein Filmwissenschaftler der Uni Łód´z und der Historiker Bogdan Musiał – befragt wurden, deren Unvoreingenommenheit die deutsche Seite bezweifelte. 266 Musiał fungierte als Berater zur Begleitdokumentation der Miniserie und konnte einige seiner Bedenken zum Drehbuch von Unsere Mütter, unsere Väter informell anbringen. Die Verfälschung der deutsch-polnischen Geschichte in Deutschland betrachtet Musiał als Fakt. Den Prozess in Krakau sieht der Historiker als positiven Beitrag zur innerpolnischen Debatte um negative, unwahre und antipolnische Klischees in Deutschland, auch wenn das Medienecho in Deutschland ausblieb. 267 Bis auf einige wenige Meldungen zu Beginn des Prozesses im Sommer 2016 268 und zur Urteilssprechung
264 In der polnischen Berichterstattung wurde Benedict nur als Benjamin B. erwähnt – wie es sonst bei Verbrechern üblich ist, vgl. Anna Pasek. 2018. „Kraków: sad ˛ przesłuchał producenta serialu ‚Nasze matki, nasi ojcowie‘.“ Dzieje.pl, 17. April 2018, URL: https://dzieje. pl/ aktualnosci/ krakow- sad- przesluchal- producenta- serialu- nasze- matki- nasi- ojcowie, Zugriff am 7. Dezember 2018. 265 Vgl. Spiegel Online. 2018. „ZDF in Polen wegen Serie ‚Unsere Mütter, unsere Väter‘ verurteilt.“ Spiegel Online, 28. Dezember 2018, URL: http://www. spiegel. de/ kultur/ tv/zdf-soll-wegen-unsere-muetter-unsere-vaeter-schmerzensgeld-zahlen-a-1245782. html, Zugriff am 28. Dezember 2018. 266 Vgl. Anna Pasek. 2017. „Kraków: proces ws. niemieckiego serialu; sad ˛ powołał biegłych, ZDF ich kwestionuje.“ Dzieje.pl, 23. August 2017, URL: https://dzieje. pl/ aktualnosci/ krakow- proces- ws- niemieckiego- serialu- sad- powolal- bieglych- zdf- ichkwestionuje, Zugriff am 7. Dezember 2018. 267 Vgl. Piotr Czartoryski-Sziler. 2016. „Prof. Musiał po zło˙zeniu zezna´n przed krakowskim sadem: ˛ Film ‚Nasze matki, nasi ojcowie‘ zafałszowuje prawd˛e. NASZ WYWIAD.“ wPolityce.pl, 21. November 2016, URL: https://wpolityce.pl/historia/316267prof- musial- po- zlozeniu- zeznan- przed- krakowskim- sadem- film- nasze- matki- nasiojcowie- zafalszowuje- prawde- nasz- wywiad, Zugriff am 7. Dezember 2018. 268 Es berichteten unter anderem der Spiegel, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, der Tagesspiegel und die Augsburger Allgemeine. Spiegel Online. 2016. „Produktionsfirma in Polen vor Gericht.“ Spiegel Online, 18. Juli 2016, URL: http://www. spiegel. de/ kultur/ tv/ unsere- muetter- unsere- vaeter- macher- in- polen- vor- gericht- a- 1103564. html, Zugriff am 7. Dezember 2018; Niklas Záboji. 2016. „Polnische Veteranen ziehen vor Gericht.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Juli 2016, URL: https://www.faz.net/ aktuell/ feuilleton/ medien/ klage- gegen- zdf- wegen- unsere- muetter- unsere- vaeter14349561. html, Zugriff am 7. Dezember 2018; Augsburger Allgemeine. 2018. „Pole verklagt ZDF wegen Trilogie ‚Unsere Mütter, unsere Väter‘.“ Augsburger Allgemeine,
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kurz nach Weihnachten 2018 269 stieß der Vorgang in Deutschland nicht auf Interesse. Eigentlich spannender Teil dieses Prozesses, bei dem Vergangenheitsbilder aus einem deutschen Film vor einem polnischen Gericht stehen, ist aber das Engagement der Reduta Dobrego Imienia, die sich bereits in diversen anderen Fällen als Vorreiterin eines nationalkonservativen Geschichtsbildes erwiesen hat. So war sie eine der heftigsten Kritikerinnen von Pawlikowskis Ida, veröffentlicht regelmäßig Beobachtungen über Pressereaktionen vor allem aus Deutschland zur polnischen ´ Geschichtspolitik und war durch ihren Vorsitzenden Maciej Swirski auch an der Novellierung des IPN-Gesetzes beteiligt, das als Holocaust-Gesetz für Wirbel und diplomatische Unstimmigkeiten mit den USA, Israel und der Ukraine sorgte. Im März 2021 bestätigte das Berufungsgericht in Krakau das Urteil aus 2018 teilweise: Die Macher der Serie müssen sich für die Darstellung der polnischen Heimatarmee entschuldigen. Der Ausgang ist angesichts der Ankündigung der Beklagten, gegen das Urteil Rechtsmittel einzulegen, noch nicht ganz klar. 270 Eines aber wird deutlich: Erinnerungsfilme und -serien werden in der deutschen und in der polnischen Öffentlichkeit als sehr wichtiges Element der nationalen Erinnerungskultur wahrgenommen, über die sich auch auf einer transnationalen Ebene Wissen vermitteln und Verständigung, vielleicht sogar Versöhnung, erreichen lässt. Ihre Wirkungsmacht wird als so groß eingeschätzt, dass über die filmisch kolportierten Vergangenheitsbilder auch vor Gericht gestritten wird.
19. Juli 2016, URL: https://www. augsburger- allgemeine. de/ panorama/ Pole- verklagtZDF- wegen- Trilogie- Unsere- Muetter- unsere- Vaeter- id38538372. html, Zugriff am 7. Dezember 2018. 269 Vgl. bspw. Spiegel Online. ZDF in Polen wegen Serie „Unsere Mütter, unsere Väter“ verurteilt; Frankfurter Allgemeine Zeitung. 2018. „Polnisches Gericht verurteilt ZDF zu Schadenersatz.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. Dezember 2018, URL: https:// www. faz. net/ aktuell/ feuilleton/ medien/ zdf- soll- wegen- unsere- muetter- unsere- vaeter- zahlen- 15963798. html, Zugriff am 5. Januar 2019; Oliver Das Gupta. 2018. „‚Es gab auch Antisemitismus in der polnischen Heimatarmee‘.“ Süddeutsche Zeitung, 29. Dezember 2018, URL: https://www. sueddeutsche. de/ politik/ streit- um- zdf- mehrteiler- es- gab- auch- antisemitismus- in- der- polnischen- heimatarmee- 1. 4269539, Zugriff am 5. Januar 2019. 270 Vgl. Spiegel Online. 2021. „Polnisches Gericht verurteilt Macher von ‚Unsere Mütter, unsere Väter‘ zu Entschuldigung.“ Spiegel Online, 23. März 2021, URL: https:// www.spiegel.de/kultur/tv/unsere-muetter-unsere-vaeter-gericht-in-polen-verurteiltmacher- zu- entschuldigung- a- 7d0860a5- 40cf- 4555- 94ad- 7410728c51ef, Zugriff am 9. Mai 2021.
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4.3 Aushandlungsräume für eine Transnationalisierung Insbesondere in der Rezeption von Erinnerungsfilmen werden im übertragenen Sinne Aushandlungsräume geschaffen und genutzt, die eine elementare Rolle für die Transnationalisierung von Vergangenheitsbildern im Film spielen. Diese transnationalen Aushandlungsräume können, müssen aber nicht, Basis eines dialogischen Erinnerns im Sinne Assmanns sein, das zur Verständigung zwischen Nationen beitragen kann. Während sich Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Eindruck der Internationalisierung seiner Politik auch in anderen Handlungsfeldern global ausrichtete, führten der „Druck von Europäisierung und Globalisierung“ in Polen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zu einer Ausrichtung nach innen. 271 Verstärkt hat sich dieser Effekt in den vergangenen Jahren noch durch die Geschichtspolitik der Partei Recht und Gerechtigkeit, die sich als Gegenentwurf der linksliberalen, europäisch ausgerichteten Politik der vorherigen Regierungen in Polen zu inszenieren versucht. Insbesondere die Politik der liberalen Bürgerplattform ist dabei im negativen Sinn Richtschnur für die geschichtspolitische Wende der Partei Recht und Gerechtigkeit. Das neue Narrativ der Regierungspartei von Jarosław Kaczy´nski orientiert sich entlang traditioneller, polnischer Werte und fällt vor allem bei den Verlierern der Transformation in Polen auf fruchtbaren Boden, für die das Wohlstandsversprechen, das ein Beitritt zur Europäischen Union und zur westlichen Wertegemeinschaft suggerierte, nicht in Erfüllung gegangen ist. Im Sinne der Retrotopia von Zygmunt Bauman suchen sie ihr Heil nunmehr nicht mehr in einer progressiven Vision der Zukunft, sondern in einer vermeintlich glorreichen Vergangenheit: Statt in eine ungewisse und allzu offensichtlich nicht vertrauenswürdige Zukunft investierte man alle Hoffnungen auf gesellschaftliche Besserung nunmehr in ein halbvergessenes Gestern, an dem man vor allem dessen vermeintliche Stabilität und folglich Vertrauenswürdigkeit schätzenswert fand. 272
Die lange propagierte Rückkehr nach Europa, die als Narrativ nach 1990 die polnische Politik dominierte und bereits in der Oppositionsbewegung zu Zeiten der Volksrepublik stark war, hat als alles begründendes Element der polnischen Politik ausgedient. Diese Stimmungsänderung machte sich bereits 2013 und 2014 bemerkbar, als sowohl Unsere Mütter, unsere Väter als auch Warschau ’44 erstmals ausgestrahlt wurden – um die hier untersuchten Erinnerungsfilme in diesen größeren Kontext einzuordnen. 271 Bachmann, Versöhnungskitsch nach 10 Jahren, S. 23. 272 Bauman, Retrotopia, S. 14.
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Seit den Parlamentswahlen im Oktober 2015, also kurz nach der Premiere von Unser letzter Sommer auf den Filmfestspielen in Gdynia, ist dieser Rechtsruck in der politischen Landschaft Polens offiziell angekommen. Zwar werden die meisten Filme heutzutage mit dem Ziel produziert, sie auch auf dem internationalen Filmmarkt verkaufen zu können, allerdings beziehen sich diese transnationalen Tendenzen eher auf technische Details als auf den Inhalt der Erinnerungsfilme. Erinnerungsfilme arbeiten daher oftmals mit international verständlichen Vergangenheitsbildern und sind somit ein gutes Beispiel für die Multidirektionalität der Erinnerung, vor allem an den Zweiten Weltkrieg. Elementarer Bestandteil dieser Erinnerung ist das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz, das international zur Chiffre für den Holocaust geworden ist. Diese multidirektionale Holocaust-Erinnerung hat auch auf deutsch-polnische Erinnerungsfilmfiguren im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg einen gewaltigen Einfluss, auch wenn diese nur indirekt die Vernichtung der Juden thematisieren. Wie stark Auschwitz als Chiffre für den Holocaust auch in der Rezeption der Filme wirkt, zeigen unter anderem Rezensionen zu Rogalskis Unser letzter Sommer, die das nahegelegene Konzentrationslager als Auschwitz identifizieren, 273 auch wenn schnell klar wird, dass es sich nicht um Auschwitz handeln kann und die offiziellen Filmbeschreibungen, beispielsweise des Filmverleihers farbfilm verleih, vom Konzentrationsund Vernichtungslager Treblinka sprechen. Die Botschaft, welche die Mythenmacher ihren Publika vermitteln wollen, ist häufig trotzdem an ein nationales Publikum gerichtet und arbeitet mit Bildern und Narrativen, die zuallererst für dieses nationale Publikum verständlich sind. Filmprojekte wie Wojciech Smarzowskis Ró˙za, das schon durch den Fokus auf die Autochthonen im Masuren der unmittelbaren Nachkriegszeit einen neuen Blick auf das Spannungsfeld deutscher und polnischer Nationalitäten wagt, sind die Ausnahme. Während die Macher von Unsere Mütter, unsere Väter mit ihrer Miniserie eine nationale Debatte zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Deutschland anstoßen wollten, gingen die Ziele Jan Komasas weit über die nationalen Grenzen Polens hinaus: Sein Film über den Warschauer Aufstand soll Menschen auf der ganzen Welt erreichen. 274 Der Rahmen dieses nationalen polnischen Erinnerungsortes erhält dadurch eine inhärent transnationale Komponente, ist die damit angesprochene polnische Diaspora schließlich Bindeglied zwischen der jeweiligen lokalen und der polnischen Erinnerungskultur. Wie auch Rogalski verweist Komasa 273 Vgl. bspw. Michaelis, Romanze am Todesgleis. ´ 274 Vgl. Kino Swiat, Pressbook Miasto 44, S. 6. – Hier bezieht sich der Regisseur vor allem auf die polnische Diaspora.
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auf universelle, aktuelle Bezugspunkte wie beispielsweise Aufstände und Kriege in der Ukraine oder in Syrien, die für eine junge Generation relevant sind, um die Vergangenheit im Film zu begreifen und für die eigene Gegenwart produktiv zu machen. Auch hier lassen sich transnationale Momente erkennen, die die Aushandlungsräume der Vergangenheitsbilder auf eine ihrer nationalen Verankerung übergeordnete Ebene verlagern. Rogalskis Unser letzter Sommer schließlich war bereits in seinen Produktionskontexten als polnisch-deutsche Koproduktion transnational angelegt, wie schon im ersten Abschnitt dieser Arbeit erläutert wurde. Das Ausmaß der Debatte, die ein Erinnerungsfilm auslösen kann, kann durch eine gezielte Vermarktung stark beeinflusst werden, wie die national als Eventkino bzw. Fernsehevent lancierten Erinnerungsfilme Warschau ’44 und Unsere Mütter, unsere Väter deutlich machen. Michał Rogalskis polnischdeutsche Produktion Unser letzter Sommer, obschon sehr erfolgreich auf Filmfestivals, erlangte keine vergleichbare Öffentlichkeit. Eine Aushandlung von Vergangenheitsbildern auf transnationaler Ebene scheint nach wie vor nicht massentauglich und kann, wenn überhaupt, dann nur über zeitlich versetzt stattfindende oder parallel verlaufende Erinnerungsdebatten auf nationaler Ebene passieren. Die Zusammenführung dieser nationalen Diskussionsstränge, deren natürliche Berührungspunkte eher einem interessierten, elitären Kreis vorbehalten scheinen, zu einem dialogischen Erinnern im Assmannschen Sinne bleibt eine Aufgabe für die Zukunft – insbesondere im Falle Deutschlands und Polens, wo dieser erinnerungskulturelle Diskurs noch immer nicht auf Augenhöhe geführt wird. Ulrike Baureithel kommt in der Freitag angesichts der Kontroverse um Unsere Mütter, unsere Väter zu dem Schluss: „von einer Transnationalisierung der Erinnerung, wie sie der französische Historiker [Marc Bloch, Anm. JRG] sich wünschte, kann auch fast 70 Jahre nach dessen Ermordung keine Rede sein. Das zeigt sich wieder einmal an der gerade aufgeflammten Empörung der Polen über unsere Gedenkkultur“. 275 Transnationalisierung im Erinnerungsfilm kann aber auch sehr greifbar werden, wenn Mythenmacher Reaktionen verschiedenster Publika aufnehmen und in den Produktionsprozess des Erinnerungsfilms einfließen lassen. Interessant ist der Fall des Films Był sobie dzieciak 276 von Leszek Wosiewicz, einem Film über den Warschauer Aufstand, der zu275 Ulrike Baureithel. 2013. „3. Generation Deutschland.“ der Freitag, 5. April 2013, URL: https://www. freitag. de/ autoren/ ulrike- baureithel/ 3- generation- deutschland, Zugriff am 18. August 2018. 276 Der Film konnte auch in seiner überarbeiteten Form nicht bei den Kritikern punkten. Als Beispiel die Rezension der Polityka: „Und trotzdem ist es besser, sich anlässlich des 1. August für „Kindchen“ ins Kino aufzumachen, als eine weitere von den heutigen Kinderlein vorbereitete Rekonstruktion der heldenhaften Niederlage anzuschauen.“
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nächst nicht in Polen, sondern auf internationaler Bühne gezeigt wurde: auf den Internationalen Filmfestspielen in Shanghai. Die Rückmeldungen des vornehmlich jungen, chinesischen Publikums nahm Wosiewicz mit und überarbeitete den Film, der vormals unter dem Arbeitstitel Taniec ´smierci (dt. Todestanz) veröffentlicht wurde. Auch für den Regisseur standen die Universalität der Erfahrungen, die der 18-jährige Marek im Film während des Aufstands macht, und die Übertragbarkeit auf gegenwärtige Kontexte, beispielsweise den Krieg in Afghanistan, im Vordergrund. 277 Auch in seinem Fokus auf ganz normale Menschen und ihre Erfahrungen in ungewöhnlichen Zeiten, auf das Erwachsenwerden im Krieg und die Darstellung des Protagonisten als Antihelden (zumindest zu Beginn des Films) 278 reiht sich Był sobie dzieciak in die Riege der Erinnerungsfilme, wie sie in dieser Arbeit im Fokus stehen, ein. „Das Wichtigste war für mich, über echte Menschen zu erzählen, die ihre Schwächen haben, manchmal richtig verachtenswert sind, aber auch schön und wunderbar sein können“, sagt Wosiewicz. 279 Es ist allerdings wichtig zu beachten, dass die Rezeption von Erinnerungsfilmen weder in Deutschland noch in Polen in einem ethnisch homogenen Raum stattfinden kann. Neben die dominanten Vergangenheitsdeutungen treten sowohl in Deutschland als auch in Polen andere Narrative, die zwar keinen direkten Einfluss auf die Geschichtspolitik nehmen, aber in Zeiten der Digitalisierung auch zu einer Pluralität innerhalb der Erinnerungskultur führen können. Das Internet bietet in Kommentarspalten, Sozialen Netzwerken und Blogs auch für Vertreterinnen und Vertreter von Minderheitenmeinungen die Möglichkeit, ihre Visionen mit der Welt zu teilen. Nicht zu unterschätzen ist der Einfluss der polnischen Diaspora, die mit etwa drei Millionen Zugehörigen in Deutschland eine der größ-
Zdzisław Pietrasik. 2013. „Recenzja filmu: ‚Był sobie dzieciak‘, re˙z. Leszek Wosiewicz.“ Polityka, 30. Juli 2013, URL: https://www. polityka. pl/ tygodnikpolityka/ kultura/ film/ 1550395,1,recenzja- filmu- byl- sobie- dzieciak- rez- leszek- wosiewicz. read, Zugriff am 19. August 2018. 277 Vgl. Katarzyna Bielas. 2013. „Film ‚Był sobie dzieciak‘, czyli folksdojczka i powstaniec.“ Gazeta Wyborcza, 1. August 2013, URL: http://wyborcza . pl / 1,75410,14366756,Film_ _ Byl_ sobie_ dzieciak_ _ _ czyli_ folksdojczka_ i_ powstaniec. html, Zugriff am 19. August 2018. 278 Vgl. Anna Kołodziejczak, Artur Gryz und Maciej Dowgiel. 2017. „Był sobie dzieciak.“ edukacjafilmowa.pl, URL: http://edukacjafilmowa. pl/ byl- sobie- dzieciak- 2013/ , Zugriff am 14. April 2019. 279 Polskie Radio. 2013. „‚Był sobie dzieciak‘ – prawdziwi ludzie kontra mit Powstania Warszawskiego.“ Polskie Radio, 22. Juli 2013, URL: https://www. polskieradio. pl/ 9/ 308/ Artykul/ 893805,Byl- sobie- dzieciak- prawdziwi- ludzie- kontra- mit- PowstaniaWarszawskiego, Zugriff am 19. August 2018.
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ten Gruppen von Menschen mit Migrationshintergrund stellt. 280 In Polen existiert eine, wenngleich deutlich kleinere, deutsche Minderheit, die 2011 immerhin 148.000 Menschen zählte und hauptsächlich in den Woiwodschaften Oppeln und Schlesien lebt. Wie aus einem Bericht des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages hervorgeht, hat sich seit der Regierungsübernahme der Partei Recht und Gerechtigkeit im Lichte der antideutschen Rhetorik auch die Situation der deutschen Minderheit verschlechtert, die zum Sündenbock gemacht und politisch marginalisiert wird. 281 2013 kam die Kopernikus-Gruppe, ein Zusammenschluss deutscher und polnischer Expertinnen und Experten der deutsch-polnischen Beziehungen zu dem Schluss: Wenn vor über zwanzig Jahren gesagt wurde, die Zukunft des europäischen Integrationsprojekts entscheide sich an der deutsch-polnischen Grenze und an der Qualität der zweiseitigen deutsch-polnischen Beziehungen, dann gilt dies angesichts der zentrifugalen Kräfte in der Union heute desto mehr. 282
In diesem Zusammenhang sind auch die Ergebnisse des Deutsch-Polnischen Barometers 2018 zu sehen, das das polnische Institut für Öffentliche Angelegenheiten gemeinsam mit der Körber-Stiftung und der KonradAdenauer-Stiftung erstellt hat. 283 Die deutsch-polnischen Beziehungen werden demnach immer noch maßgeblich durch die leidvolle Geschichte während des Zweiten Weltkriegs bestimmt, wie unter anderem die neuen Reparationsforderungen Polens gegenüber Deutschland bezeugen, die in der polnischen Bevölkerung auf Zustimmung treffen. Eine große Mehrheit der befragten Polen äußerte zudem die Meinung, dass polnische Opfer international nicht genug gewürdigt würden. 284 Das, wie auch die Ein-
280 Vgl. Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2014. 281 Vgl. Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages, Sachstand: Die deutsche Minderheit in Polen. Prominente Persönlichkeiten deutscher Herkunft wie beispielsweise der Kabarettist Steffen Möller spielen in derlei politisierten Debatten keine Rolle. 282 Kopernikus-Gruppe. 2013. Arbeitspapier XXIII: Die deutsch-polnische Agenda: Hausaufgaben erledigen. URL: https://www. deutsches- polen- institut. de/ politik/ kopernikus- gruppe/ arbeitspapier- xxiii/ , Zugriff am 18. August 2018. 283 Vgl. Institut für Öffentliche Angelegenheiten, Körber-Stiftung und Konrad-Adenauer-Stiftung. 2018. Deutsche und Polen: Geteilte Vergangenheit, gemeinsame Zukunft? Ergebnisse des Deutsch-Polnischen Barometers 2018. URL: https://www. koerber-stiftung.de/fileadmin/user_upload/koerber-stiftung/redaktion/fokusthema_derwert- europas/ pdf/ 2018/ deutsch- polnisches- barometer/ DE- PL- Barometer- 2018_ Ergebnisbroschuere_ Koerber- Stiftung. pdf, Zugriff am 7. Februar 2019. 284 Vgl. in diesem Kontext auch den Beitrag von Martin Aust aus dem Sommer 2018, in dem er für ein Denkmal für die Opfer des Vernichtungskriegs der Wehrmacht im Os-
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schätzung, dass die deutsch-polnischen Beziehungen weiterhin gut seien, traf bei den deutschen Befragten nur auf geringen Zuspruch. Sowohl Deutsche als auch Polen wünschten sich mehrheitlich, dass sich die Beziehungen mehr auf das Jetzt und auf die Zukunft denn auf die Vergangenheit konzentrieren sollten, wenngleich sich auch im Licht der nationalkonservativen Politik ein deutlicher Wandel in Polen bemerkbar macht. 285 In der aktuellen politischen Debatte in Polen hat die neuere deutschpolnische Geschichte folglich einen festen Platz. So ziehen die politischen Gegner des mächtigen Vorsitzenden der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit, Jarosław Kaczy´nski, Begriffe aus der Zeit des besetzten Polens heran, die den autokratischen Führungsstil und den politischen Umbau des Landes umschreiben sollen. In diesem Kontext fallen Begriffe wie „Blitzkrieg“, oder „‚Befriedung‘ der Justiz – wobei ‚Befriedung‘ im Vokabular der Nazis die Chiffre für ihre Mordaktionen gegen ganze Dörfer und Städte im besetzten Polen war“, bemerkt der Journalist und Auslandskorrespondent Konrad Schuller. 286 Auch der Ausdruck „Auschwitzlüge“, also die Leugnung des Holocaust, erfährt derzeit eine semantische Ausweitung, beispielsweise im Kontext der Novellierung des IPN-Gesetzes, in dessen Zuge die polnische Regierung ankündigte, den Ausdruck „polnische Konzentrationslager“ als Teil der Auschwitzlüge zu werten. 287 Auch die Darstellung der polnischen Heimatarmee in Unsere Mütter, unsere Väter wurde von der Reduta Dobrego Imienia in den Kontext der Auschwitzlüge gestellt. 288
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ten in Berlin argumentiert. In ebenjenem Artikel spricht sich Aust gegen ein Denkmal für die polnischen Opfer des Nationalsozialismus wie vom ehemaligen Präsidenten des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung, Florian Mausbach vorgeschlagen aus, weil dies lediglich zu einer weiteren Nationalisierung der Erinnerungskultur führen würde. Martin Aust. 2018. „Alle Toten verdienen denselben Respekt.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. August 2018, URL: https://www. faz. net/ aktuell/ feuilleton/ denkmal-fuer-osteuropaeische-opfer-des-zweiten-weltkriegs-15756702.html, Zugriff am 3. September 2018. Vgl. Institut für Öffentliche Angelegenheiten, Körber-Stiftung & Konrad-AdenauerStiftung, Deutsche und Polen, S. 7. Konrad Schuller. 2018. „Kaczykistan.“ In: POLSKA first. Herausgegeben von Andreas Rostek, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 11–12, hier: S. 11. Vgl. bspw. die Aussage des Vizeministers für Kultur, Jarosław Sellin. PAP. 2018. „Sellin: celem ustawy o IPN jest walka z ‚fałszywymi kodami pami˛eci‘.“ PAP.pl, 29. Januar 2018, URL: https://www.pap.pl/aktualnosci/news,1265710,sellin-celem-ustawyo-ipn-jest-walka-z-falszywymi-kodami-pamieci.html, Zugriff am 15. Dezember 2018. Redakcja „Reduta Online“. 2017. „‚Nasze Matki, nasi Ojcowie‘ – sad ˛ oddalił za˙zalenie ZDF.“ Magazyn Reduta Online, 31. Mai 2017, URL: http://www. anti- defamation. pl/ redutanews/nasze-matki-nasi-ojcowie-sad-oddalil-zazalenie-zdf/, Zugriff am 15. Dezember 2018.
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Trotz der europaskeptischen Politik in Warschau und einer erstarkenden rechtspopulistischen Partei in Deutschland, die Kompetenzen aus Brüssel in die nationalen Hauptstädte zurückholen wollen und eine Renationalisierung anstreben, wird Europa als Ort mnemonischer Praktiken für die Erinnerungskultur in Deutschland und Polen gleichsam in den nächsten Jahren mutmaßlich an Bedeutung gewinnen. Ein Musterbeispiel für die europäische Rahmung von Erinnerungskonflikten aus dem deutschpolnischen Kontext sieht Feindt im Diskurs zu Flucht und Vertreibung in der Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen. 289 Auch Rezensionen zu Erinnerungsfilmen rekurrieren immer wieder auf eine europäische Erinnerungsebene, die mit einer ausgewogenen Erinnerungspraxis gleichgesetzt wird, in der keine klaren Linien zwischen Opfern und Tätern im Sinne eines Schwarz-Weiß-Bildes der Vergangenheit gezogen werden. Hier wird Versöhnungskitsch von einer nationalen bzw. binationalen auf eine transnationale Ebene gehoben. Nicht immer gefällt das. So schreibt Łukasz Adamski über Unser letzter Sommer: „Alles ist abgewogen, höflich und auf den Geschmack des ‚europäischen Zuschauers‘ zugeschnitten, der in der Diktatur der Toleranz aufgewachsen ist.“ 290 Deutsche und polnische Vergangenheit wird also mit transnationalen Bildern aus einer nationalen Perspektive erzählt und dabei transnational vermarktet und rezipiert – vor diesem Hintergrund ist die Rezeption aktueller Spielfilme über die Geschichte im Zweiten Weltkrieg zu sehen. Nicht selten spiegeln die Erinnerungsfilme dabei gesellschaftliche Debatten über Vergangenheitsbilder sowie geschichtswissenschaftliche Trends wider. Teilweise lässt sich ein nahezu paralleler Verlauf zwischen Filmtrends und geschichtswissenschaftlicher Schwerpunktsetzung erkennen. 291 Diese Trends und Debatten reichen dabei immer häufiger über die Grenzen der Nation hinaus. 292 Gleichzeitig aber dämmen geschichtspolitische Entwicklungen eine Transnationalisierung der Vergan-
289 Feindt, From „flight and expulsion“ to migration, S. 563. 290 Łukasz Adamski. 2016. „‚Letnie przesilenie‘. Poprawno´sc´ polityczna w wojennym kinie. Recenzja.“ wPolityce.pl, 30. April 2016, URL: http://wpolityce.pl/kultura/291287letnie- przesilenie- poprawnosc- polityczna- w- wojennym- kinie- recenzja, Zugriff am 3. Juni 2016. 291 Vgl. Bösch, Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft. 292 Ein gutes Beispiel für solche grenzübergreifenden Entwicklungen ist die zunehmende Relevanz von Emotionen in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen, unter anderem auf der politischen Bühne. Nicht mehr Fakten, sondern Gefühle steuern das Verhalten von Politikern und Wählern. Die Emotionalisierung der Vergangenheit, wie sie durch die Fokussierung auf junge, sympathische Charaktere im modernen Erinnerungsfilm erreicht wird, ist also nur ein Ausdruck eines transnationalen Trends, der seine Wirkung in vielen weiteren Bereichen der Gesellschaft entfaltet. Die ebenso emotional geführte Debatte im Nachgang der Filmvorführungen ist die logische Folge.
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genheitsbilder ein, die vermeintlich nur in ihrer nationalen Ausrichtung für die nationale Identitätsbildung produktiv gemacht werden können. In diesem Spannungsfeld agieren die Macher moderner Erinnerungsfilme in Deutschland und Polen heute.
4.4 Zwischenfazit: Rezeption durch (trans-)nationale Linsen Die Rezeption moderner Erinnerungsfilme deutscher oder polnischer Provenienz ist vielschichtig, komplex und schwer zu erfassen. Deutlich wurde, dass bereits durch die Vermarktung eines Films die Weichen für seine Wahrnehmung als Element einer populären Geschichtsvermittlung gestellt werden. Nicht selten werden Erinnerungsfilme dabei nicht nur in informellen Bildungskontexten, sondern auch im Schulunterricht zur Vergegenwärtigung der Vergangenheitsbilder nutzbar gemacht. Die Bilder eines Erinnerungsfilms werden dabei stellenweise gleichgesetzt mit authentischem Archivmaterial. Das ist nicht unproblematisch. Inwiefern ein bestimmter Erinnerungsfilm im Schulunterricht zum Einsatz kommt, ist allerdings nach wie vor den Lehrkräften überlassen. Empfehlungen offizieller Stellen, vor allem in Deutschland, oder Endorsements politischer Entscheidungsträger, vor allem in Polen, können dem Vorschub leisten und eine im Film propagierte Erzählung sanktionieren – müssen es aber nicht. Zwischen den Narrativen der Erinnerungsfilme, also zwischen den Vergangenheitsbildern rund um die deutsch-polnischen Beziehungen zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, und heutigen gesellschaftspolitischen Debatten lassen sich zahlreiche Parallelen und Anknüpfungspunkte finden. Die Linsen, durch die die Erinnerungsfilme rezipiert werden, sind dabei weiterhin stark national eingefärbt. So sind es etablierte nationale Erinnerungsdiskurse, vor allem solche, die sich mit dem Opferstatus und der Schuld der eigenen Nation im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg befassen, in deren Kontext die Erinnerungsfilme in Deutschland und Polen eingebettet werden. Diese Debatten können älteren Datums sein, wie die bereits 30 Jahre zurückliegende Bło´nski-Debatte in Polen, der Historikerstreit in Deutschland in den 1980er-Jahren oder der „Versöhnungskitsch“ in den deutsch-polnischen Beziehungen seit den 1990er-Jahren; oder aber jüngeren Datums, wie beispielsweise der Streit um ein Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin zu Beginn des neuen Jahrtausends oder auch die Thematisierung der schwierigen Seiten polnisch-jüdischer Beziehungen in Jan Tomasz Gross’ Nachbarn. Der Film Pokłosie, der 2012 die durch Gross’ Arbeit ausgelöste Kontroverse um das Pogrom im nordostpolnischen Jedwabne aufgreift, ist dafür ein markantes Beispiel. Gross hatte in seinem
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Buch um die Jahrtausendwende ein dunkles und lange marginalisiertes Kapitel polnischer Geschichte aufgedeckt, nämlich die Ermordung der jüdischen Einwohner des polnischen Städtchens Jedwabne am 10. Juli 1941 durch ihre polnischen Nachbarn. Die Rezeption dieser Filme, zu denen Korzeniewska auch Agnieszka Hollands In Darkness zählt 293 und in die sich auch Episoden aus Rogalskis Unser letzter Sommer einordnen ließen, wird durch die Debatte um eine „Pädagogik der Scham“ vorstrukturiert, die insbesondere vom regierenden nationalkonservativen Lager vorangetrieben wird. Politische Konjunkturen sind für die Rezeption der Geschichtsbilder im Spielfilm nicht unwesentlich, und die politische Arena ist demnach ein wichtiger Aushandlungsraum für Vergangenheitsbilder im Film. Deutlich wird dies derzeit vor allem in Polen, wo Geschichtspolitik im Film eine immer stärkere Rolle spielt, Vergangenheitsbilder im Film durch das Staatsoberhaupt sanktioniert werden und Filmbilder sowohl in der formellen als auch in der informellen Geschichtsbildung eine wachsende Bedeutung erlangen. 294 Mitunter können sie, wie im Fall von Unsere Mütter, unsere Väter, beträchtliche politische Sprengkraft entwickeln, oder im Sinne eines „Versöhnungskitsches“ als Werkzeug der Völkerverständigung und Aussöhnung lanciert und rezipiert werden wie Warschau ’44. Auch in Deutschland werden Spielfilme als Bildungshelfer genutzt, um bestimmte Themen, nicht nur historischer Natur, zu vermitteln. Deutlich wird das am Beispiel der polnisch-deutschen Koproduktion Unser letzter Sommer und der seit 2015 in den europäischen Medien omnipräsenten Flüchtlingssituation, die auf den ersten Blick weder eine historische noch eine deutsch-polnische Dimension zu haben scheint. Warschau und Berlin stehen sich diametral gegenüber in ihrer Haltung zu einer gesamteuropäischen Regelung und ggf. einer Quotenregelung für die Aufnahme von Geflüchteten in den Mitgliedsländern der Europäischen Union. Rogalskis Film schien hier einen Nerv zu treffen. Dass das Drehbuch zu Unser letzter Sommer bereits 2008 geschrieben wurde und der Film 2013 abgedreht war, also lange bevor etwa eine Millionen Syrer in Europa, vor allem in Deutschland, Schutz vor dem Bürgerkrieg in ihrem Heimatland suchten
293 Vgl. Korzeniewska, Liminalität und Post-Erinnerung, S. 206. 294 Filmbilder können daher im Sinne von Horst Bredekamp als Bildakte gewertet werden, die in der Lage sind, selbst Geschichte zu machen und Geschichtsbewusstsein zu formen sowie „Realitäten zuallererst zu erzeugen. In diesem Sinne kommt ihnen eine von der Geschichtswissenschaft wie von der Kunstgeschichte noch viel zu wenig beachtete energetische und generative Potenz zu“, wie Gerhard Paul befindet. Gerhard Paul. 2014. „Visual History, Version: 3.0.“ Docupedia-Zeitgeschichte, 13. März 2014, URL: https://docupedia.de/images/3/38/Visual_History_Version_3.0_Gerhard_Paul. pdf, Zugriff am 8. September 2020.
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Rezeption der Filmgeschichte
und lange bevor Zehntausende Menschen täglich auf der Überfahrt von Afrika nach Europa im Mittelmeer ertranken, tat dem keinen Abbruch. Die gesteigerte Aufmerksamkeit für den Themenkomplex Flucht und Vertreibung färbte aber nicht nur die Rezeption von Unser letzter Sommer in Deutschland, sondern bot auch den deutschen Vertriebenen eine Gelegenheit, ihrer Geschichte und deren Erinnerung neue Aktualität und Dringlichkeit zu verleihen. Diese Entwicklung lässt sich einordnen in ein allgemeines Wiedererstarken apologetischer Deutungsmuster in Deutschland. Damit einher geht eine Umdeutung der Deutschen als Opfer, die in eine Konkurrenzsituation zu polnischen oder jüdischen Opfern des Nationalsozialismus treten. Auch in der Rezeption spielen die Faktoren Authentizität, Personalisierung und Emotionalisierung der Geschichte eine bedeutende Rolle. Auch hier ist der Generationen-Blickwinkel maßgeblich, der die Rezeption der Spielfilme beeinflusst, deren Macher wie Rezipienten einer Generation zugehörig sind und in den gleichaltrigen Protagonisten auf der Leinwand Identifikationsfiguren finden, deren historische Vorbilder in der Realität aber durch mindestens eine Generation von ihrer Lebenswirklichkeit entfernt sind. Die Brücken, die Erinnerungsfilme nutzen, indem sie bereits gut ausgetrampelte Pfade im kollektiven Gedächtnis neu beschreiten oder manchmal (wieder)aufbauen, dessen Stützen sie auch gelegentlich sind, spiegeln also auch größere gesamtgesellschaftliche Trends wider, die allerdings – trotz ihrer gesamteuropäischen oder vielleicht auch globalen Dimension – nur in nationalen Debatten zu funktionieren scheinen. Deutlich wird jedoch angesichts einer transnationalen Rezeption, dass Filme nur in ihrem plurimedialen Kontext zu Erinnerungsfilmen werden – und dieser Kontext ist heute nicht mehr länger nur auf eine nationale Ebene begrenzt. Inwiefern diese transnationalen Aushandlungsräume auch zur Entwicklung eines dialogischen Erinnerns genutzt werden und mit einer Transnationalisierung des Erinnerns in Deutschland und Polen einhergehen, steht auf einem anderen Blatt.
Fazit
5. Zwischen Transnationalisierung und Renationalisierung der Erinnerungskultur
Erinnerung im Film ist bewegt und bewegt gleichermaßen. Sie ist ein Produkt der Zeit, in der ein Film geschaffen wurde, und erweckt scheinbar authentische Momente der Vergangenheit wieder zum Leben. So bewegt sie die Zuschauerinnen und Zuschauer. Die Zauberformel des modernen Erinnerungsfilms hat sich kaum verändert, wenn auch die Interpretation und Ausgestaltung der einzelnen Ingredienzen sich über die Jahrzehnte den Bedürfnissen angepasst hat, die von der jeweils gegenwärtigen Erinnerungsgemeinschaft an sie gestellt wurden. Es ist vor diesem Hintergrund also vielleicht wenig verwunderlich, dass Erinnerungsfilme als Produkte ihrer Zeit in Zeiten von Globalisierung und Transnationalisierung auch von diesen Prozessen beeinflusst werden. Transnationalisierung der Geschichte im Spielfilm kann dabei auf vielen Ebenen stattfinden – von der Produktion des Erinnerungsfilms durch ein multinationales Team, über seinen Inhalt und seine Inszenierung, die versucht, nationale Hetero- und Autostereotypen zu durchbrechen, bis hin zur Rezeption der gezeigten Vergangenheitsbilder in einem entgrenzten Rahmen. Der Blick der Akteure dieses filmischen Erinnerns schweift bereits im Produktionsprozess immer wieder über den nationalen Tellerrand hinaus. Erinnern und Vergessen im modernen Europa finden nicht mehr im nationalen Vakuum statt. Besonders eindrücklich zeigte dies die Diskussion um Unsere Mütter, unsere Väter und Warschau ’44. Multinationale Produktionsbedingungen regen zur Auseinandersetzung mit in den nationalen Narrativen etablierten Selbst- und Fremdbildern an, wie besonders in Michał Rogalskis Unser letzter Sommer deutlich wurde. Gleichwohl treffen diese Erinnerungsfilme weiterhin auf spezifische nationale Kontexte, die durch frühere Erinnerungsdebatten vorgeprägt sind und innerhalb derer sie rezipiert werden. Produktionskontexte, Narrationskontexte und Rezeptionskontexte – der Prozess der Transnationalisierung kann auf all diesen Ebenen stattfinden und graduelle Veränderungen im Erinnern und Vergessen hervorbringen, muss es aber nicht. Die möglichen Aushandlungs- und Er-
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fahrungsräume für transnationalisierte Vergangenheitsbilder können auch ungenutzt und Erinnerungsdebatten in ihren nationalen Kontexten verhaftet bleiben. Gesamtgesellschaftlichen Trends folgend bewegen sich Erinnerungsfilme im modernen Europa und insbesondere in Deutschland und Polen somit stets im Spannungsfeld von Transnationalisierung und Renationalisierung der Geschichte, die gleichwohl eine verflochtene bleibt und innerhalb nationaler Grenzen nicht zu fassen ist.
5.1 Aushandlungs- und Erfahrungsräume im Erinnerungsfilm Im Erinnerungsfilm treten Filmemacher als Mythenmacher, Schauspieler als Mythenmittler und die Zuschauer als Rezipienten in eine Art Kommunikationsprozess, dessen Kern der „Mythomotor“ Film ist. Innerhalb dieses Kommunikationsprozesses ergeben sich immer neue Aushandlungs- und Erfahrungsräume für Vergangenheitsbilder, die in den letzten Jahrzehnten eine dezidiert transnationale Dimension bekommen haben. Erfahrungs- und Aushandlungsräume bedingen sich dabei gegenseitig. Wie im ersten Abschnitt dieser Arbeit deutlich wurde, wirken sich die persönlichen Hintergründe der am Entstehungsprozess eines Erinnerungsfilms Beteiligten merklich auf das Produkt Erinnerungsfilm aus. Von den persönlichen Motiven und Motivationen der Mythenmacher und den Entscheidungen, die im Produktionsprozess getroffen werden, hängen maßgeblich die Aushandlungsräume für Vergangenheitsbilder an diesem Punkt der Entstehung eines Erinnerungsfilms ab. Überhaupt kommt eine besonders wichtige Rolle in diesem Prozess den Mythenmachern und Mythenmittlern zu. Sie sind heute häufig Teil einer dritten Nachkriegsgeneration, einer Generation Postmemory, die über die Kriegserinnerungen ihrer Großelterngeneration berichtet und sich dabei häufig auch eigener, familiengeschichtlicher Motive und Erinnerungen bedient. Diese persönlichen Hintergründe werden in der Vermarktung der Erinnerungsfilme entsprechend nutzbar gemacht und können zur wahrgenommenen Authentizität der Vergangenheitsbilder im Film beitragen. Der Anspruch der Mythenmacher ist nicht weniger, als stellvertretend für die Erlebnisgeneration, aus der nur noch wenige selbst über ihre Erfahrungen berichten können, über für die gesamte Gesellschaft relevante Erinnerungsorte zu erzählen. Dabei treten die Mythenmacher in eine Art Authentizitätspakt mit dem Publikum, das auf der Leinwand eine möglichst authentische filmische Bearbeitung der Vergangenheit erleben will. Auch das Publikum gehört dieser dritten oder manchmal sogar schon vierten Generation Postmemory an. Durch ihre exponierte Vorbildfunktion werden die Mythenmacher und Mythenmittler nicht selten selbst zu
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Identifikationspunkten für die Zuschauer und liefern eine Blaupause für ein gelungenes Sich-Hineinversetzen in die Vergangenheit und ihre Protagonisten. In einer Zeit, in der die Stimmen der Zeitzeugen immer mehr verstummen, können insbesondere die Mythenmittler durch die Identifikation mit ihren Rollen eine Art fiktives Ersatzzeitzeugnis ablegen. In Talkshows und Zeitungsinterviews werden sie schon jetzt oftmals an der Seite oder sogar anstelle der echten Zeitzeugen befragt. An der Schwelle zwischen kommunikativer und kultureller Erinnerung, d. h. wenn eine neue Generation ohne die Möglichkeit des persönlichen Gesprächs mit den langsam verschwindenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen heranwächst und ihrerseits Einfluss auf die populären Geschichtsbilder im Film erlangt, wird es diese Aspekte weiter wissenschaftlich zu untersuchen gelten. Wie wird dieser Übergang zu einer nächsten Generation Postmemory die Vergangenheitsbilder in Film und Fernsehen verändern, wenn sie die Deutungshoheit über die Geschichte von den Kindern und Enkeln übernimmt? Wenn persönliche Bezüge zur Filmgeschichte sich nicht mehr über die eigene Familiengeschichte herstellen lassen, dann dient häufig das Alter der Filmfiguren als Identifikationspunkt, der eine Brücke zwischen dem Schicksal der jungen Generation während des Zweiten Weltkriegs und der jungen Menschen vor den Fernsehbildschirmen und Kinoleinwänden heute zu Beginn des 21. Jahrhunderts bilden soll. Wie Studien zu Geschichtsfilmen im Schulunterricht gezeigt haben, kann dies für die Aneignung der Geschichte im Spielfilm eine förderliche Wirkung haben. Im Zuge der Vermarktung werden Erinnerungsfilme daher heute auch oft mittels spezieller Materialien zur Verwendung im Schulunterricht nutzbar gemacht. Diese fiktiven Vergangenheitsbilder können so Eingang in die offizielle Geschichtsvermittlung in Deutschland und Polen finden. Die zugrundeliegenden Prozesse und ihre Auswirkungen bilden ein sicherlich äußerst lohnendes Forschungsfeld, das diese Brückenfunktion greifbar machen kann. Für die heute aktive Generation der Mythenmacher und Mythenmittler als Treiber einer Transnationalisierung geht Erinnern im Spielfilm auch wegen ihrer Brückenfunktion mit einer Fokussierung auf das Schicksal der Jugend einher, die während des Krieges erwachsen werden muss. Allein dieses In-den-Blick-Nehmen noch unschuldiger Jugendlicher, deren individuelle Schicksale durch Umstände beeinflusst wurden, die nicht in ihrer Hand lagen, lässt eine starke Emotionalisierung des Erinnerungsstoffs zu. Gleichzeitig erleichtert es den jungen Zuschauern, sich in die Leinwandcharaktere hineinzufühlen, deren Schicksal ihnen in typischerweise 90 Minuten präsentiert wird. Moderne Erinnerungsfilme zum Zweiten Weltkrieg rücken gleichsam Gruppen in den Fokus, die selbst nicht
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Verantwortliche und teilweise noch nicht einmal wirklich aktiv Beteiligte am Krieg sein konnten oder wollten, die als Mitläufer und Bystander ihre Rolle im Gefüge fanden und finden mussten. Stereotype Täter-Opfer-Dichotomien lassen sich durch diesen transnationalen Trend, ganz normale, möglichst junge Menschen in den Fokus der Erinnerung im Film zu stellen, augenscheinlich leichter hinterfragen. Natürlich kann diese Fokussierung des modernen Erinnerungsfilms auf das Schicksal einzelner, ganz normaler Menschen auch kritisiert werden. Diese Kritik wurde auch geübt und findet sich beispielsweise bereits bei Theodor W. Adorno. Neben der großen Frage, ob sich der Holocaust überhaupt künstlerisch darstellen lasse, d. h. ob über dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit überhaupt Filme gedreht werden dürfen, benannte Adorno die Problematik, dass die Vergegenwärtigung des Holocaust durch Einzelschicksale das große Ganze des Holocaust in Vergessenheit geraten lassen könne. Gleichwohl ist es wichtig, sich auch diese Einzelschicksale zu vergegenwärtigen. 1 Für die jungen Zuschauerinnen und Zuschauer bieten sie transnational anknüpfbare Erfahrungen des Erwachsenwerdens im Krieg, die gleichsam einen intergenerationellen Dialog befördern. Die Fokussierung auf Jugendliche im Film erfüllt aber noch eine andere, äußerst wichtige Funktion: Sie eröffnet die Möglichkeit zur Umdeutung etablierter Täter-Opfer-Dichotomien. Die Refokussierung der Erzählung auf Opfer kann dem Einfluss der Holocaust-Erinnerung zugeschrieben werden, in deren Zuge die Geschichte der Opfer in den Mittelpunkt rückte und die Zuschreibung eines Opferstatus eine positive Konnotation bekam. Insbesondere für eine ganze Generation junger Deutscher, die für ihr Vaterland in den Krieg gezogen sind und so vermeintlich unwillentlich zu Rädern im Getriebe des nationalsozialistischen Unrechtssystems wurden, ermöglichen die Erinnerungsfilme eine verspätete Relativierung der persönlichen Schuld – und somit auch der kollektiven Schuld nachfolgender Generationen. Diese Geschichte erzählt Philipp Kadelbachs Unsere Mütter, unsere Väter, in der die überzeugten Nationalsozialisten die Anderen waren, aber keineswegs die Großeltern der heutigen Deutschen. Dass die Nationalsozialisten nicht wie Außerirdische 1933 in Deutschland landeten, das Land unterjochten und die in der Masse anständigen Bürger zu unaussprechlichen Grausamkeiten zwangen, sondern vielmehr eine Massenbewegung darstellten, die den Nerv der Zeit traf, und dass Adolf Hitler seine Diktatur auf demokratischem Wege etablieren konnte, ist heute kein
1 Vgl. Theodor W. Adorno. 1997. „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?“ In: Theodor W. Adorno „Ob nach Auschwitz sich noch leben lasse“: Ein philosophisches Lesebuch. Herausgeben von Rolf Tiedemann, Frankfurt: Suhrkamp, S. 31–47, hier: S. 45.
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Geheimnis mehr. Dennoch scheint die deutsche Bevölkerung die apologetischen Vergangenheitsbilder, die Unsere Mütter, unsere Väter bietet, gern anzunehmen. Opa war schließlich kein Nazi, wie Harald Welzer und Kollegen in dem gleichnamigen Buch feststellten. Nicht nur in Polen, aber besonders dort, hat diese neue Version der Vergangenheit für Aufruhr gesorgt, erinnert sie doch in ihren Grundstrukturen an die frühen deutschen Filme über den Zweiten Weltkrieg. Man beachte vor allem das Motiv der sauberen Wehrmacht und die Externalisierung der Schuld, indem die Protagonisten als innere Gegner des Nationalsozialismus und Spielbälle des mörderischen Systems gezeichnet werden, während Antisemitismus hauptsächlich zu einem Problem der polnischen Heimatarmee deklariert wird. Dieser deutsche Versuch, sich ebenfalls ein bisschen als Opfer fühlen zu können und die kollektive Schuld zu relativieren, ist also nicht neu, aber im Lichte aktueller politischer Entwicklungen in Europa umso besorgniserregender. Während führende Politikerinnen und Politiker weiterhin die Erinnerung an den Holocaust und an den Zweiten Weltkrieg als deutsche Staatsräson anerkennen, gewinnen Architekten alternativer Gesellschafts- und Geschichtsbilder an Zuspruch, die eine neue Schlussstrichdebatte führen wollen. Gleichwohl ist eine differenzierte Betrachtung deutscher Akteure im Zweiten Weltkrieg ein Merkmal des modernen, transnationalisierten Erinnerungsfilms. So kann in Unser letzter Sommer aus der Feder des polnischen Regisseurs und Drehbuchautors Michał Rogalski aus dem deutschen Soldaten Guido Hausmann ein Opfer des nationalsozialistischen Systems und aus dem polnischen Heizer Romek ein Opportunist im von Deutschen besetzten polnischen Hinterland werden. Das Genre des Coming-of-Age-Films bietet für diese Umdeutungen und Entwicklungen der Charaktere, die den im Erinnerungsfilm üblicherweise propagierten Stereotypen widersprechenden, ideale Voraussetzungen. Für die Zielgruppe junger Menschen ist eine derartige Erzählung besonders attraktiv, fällt es doch leicht, Parallelen zur eigenen Lebenswirklichkeit zu erkennen. Gleichzeitig bieten die jungen Protagonisten angesichts der ihnen zugeschriebenen jugendlichen Unschuld den bereits beschriebenen, fruchtbaren Boden für eine Umdeutung etablierter Bilder der Deutschen als Täter und der Polen als Opfer. Es gibt neben dieser sich durch den Großteil moderner Erinnerungsfilme durchziehenden Erzählung über das Erwachsenwerden natürlich noch weitere universelle Motive, die auch losgelöst von der Thematik des Zweiten Weltkriegs funktionieren würden. Ein Beispiel sind Liebesgeschichten, die in ihrer Spielart der ersten großen Liebe auch einen Aspekt der Coming-of-Age-Filme ausmachen können. Die Rolle, die den Jungen als Produzenten und Ausgestalter filmischer Vergangenheitsbilder, als Darsteller und Filmcharaktere aber auch als Ziel-
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gruppe und Deuter ebendieser Vergangenheitsbilder in der Transnationalisierung der Geschichte zukommt, ist beachtlich. Entscheidend dafür, ob diese Vergangenheitsbilder im Film beim Publikum reüssieren, ist weniger einer Faktentreue, denn eine wahrgenommene Authentizität. Diese Illusion der Authentizität ist eine Momentaufnahme und zeigt, wie sehr Erinnerungsfilme Produkte ihrer Zeit sind und Vergangenheitsbilder (re-)konstruieren, die zu den jeweils aktuellen Bedürfnissen der Gesellschaft passen. Zwar sind Filmemacher als Experten des Vergangenen bemüht, ihre Filme möglichst wissenschaftlich zu fundieren und nicht nur oberflächlich durch Kostüme und Drehorte zu authentifizieren, sondern auch inhaltlich eine stimmige Illusion authentischer Vergangenheit zu erzeugen. Den an der Produktion dieser Filme heutzutage meistens beteiligten Historikern wird aber nicht unbedingt immer Gehör geschenkt, denn nicht immer stimmen die historisch belegbaren Fakten mit den durch populäre Vergangenheitsbilder und vorangegangene Erinnerungsdebatten geprägten Seherwartungen des Publikums überein. Diese Seherwartungen finden sich in einem ungeschriebenen Authentizitätspakt zwischen Filmemachern und Publikum wieder, der erfüllt werden muss, damit die Vergangenheitsbilder im Film nicht verworfen werden und letztlich zum Scheitern des Films führen. Oftmals sind Filmemacher angesichts einer globalen Vermarktung ihrer Werke sowie eines gewissen Sendungsbewusstseins bestrebt, universell anknüpfbare Motive und bekannte Bilder in ihren Erinnerungsfilmen zu verwenden und somit beiläufig oder willentlich die Transnationalisierung von Erinnerungsfiguren zu befördern. Eine weitere wichtige Rolle in dieser Transnationalisierung von Vergangenheit im Film spielen die filmischen Vorbilder, die das Holocaust-Kino geprägt haben und die weitgehend für eine Hollywoodisierung bzw. Amerikanisierung des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg stehen. Für deutsche wie polnische Mythenmacher zugleich haben Polanskis Der Pianist oder Spielbergs Schindlers Liste und Der Soldat James Ryan genreprägend gewirkt. Die große Werkzeugkiste der Holocaustikonografie besteht auf transnational verständlichen Bildern, die allenfalls durch kleinere nationale Adaptionen unterscheidbar ist. Es wurden in den vergangenen Jahren aber auch durchaus Wege gefunden, um anders mit dem großen Problem der nationalen Sichtweisen auf die Vergangenheit umzugehen. Ein schönes Beispiel ist der Film Ró˙za des Regisseurs Wojciech Smarzowski, der schon durch sein Themenfeld Terrain betritt, das inhärent transnational ist. Gemeint ist das Schicksal der autochthonen Bevölkerung in Masuren gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, eine Geschichte also, die sich zwischen den vermeintlich klaren Trennlinien der polnischen und deutschen Nationalitäten abspielt und damit in sich bereits ein Moment der Transnationalisierung enthält. Film
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greift also häufig erinnerungskulturelle Konjunkturen auf und bedient sich dabei etablierter Motive, ist aber auch durchaus in der Lage, neue Akzente in vorhandenen Debatten zu setzen und kann so einen Rahmen schaffen, innerhalb dessen Vergangenheitsbilder neu verhandelt werden können.
5.2 Transnationalisierung, Renationalisierung, Politisierung Das Potenzial, das Geschichtsfilme für die Verbreitung populärer Vergangenheitsbilder bergen, ist auch führenden Politikern nicht verborgen geblieben. Schwerpunkte werden durch die staatliche Filmförderung gesetzt, aber auch durch das Endorsement bestimmter Erinnerungsfilme von höchster, staatlicher Stelle, deren Inhalte als für die nationale Identität relevant erkannt wurden. Erinnerung im Film wird immer mehr zum Politikum. Historical correctness im Film ist eng mit geschichtspolitischen Konjunkturen einer political correctness verbunden. So werden Erinnerungsfilme im deutsch-polnischen Kontext im Sinne eines Versöhnungskitsches als Werkzeuge einer Erinnerungsdiplomatie begriffen, wie am Beispiel von Unsere Mütter, unsere Väter und der Ausstrahlung von Warschau ’44 im deutschen Fernsehen zu beobachten war. Verstärkt ist allerdings in Polen eine Verschiebung des proeuropäischen, liberalen Diskurses hin zu einer nationalkonservativen, rückwärtsgewandten Politik zu konstatieren, die von einer versöhnlichen und selbstreflektierten Note wie sie die Debatten um Bło´nskis Biedni Polacy patrza˛ na getto und Gross’ Nachbarn sowie Filme der Stoßrichtung von Pokłosie oder In Darkness eingeführt hatten, abweicht. Statt dieser Pädagogik der Scham, die nationalkonservativen Stimmen zufolge bislang die polnische Geschichtspolitik prägte, soll eine helden- und opferzentrierte Pädagogik des nationalen Stolzes propagiert werden. Political und historical correctness sind ganz offensichtlich keine universell gültigen und unumstößlichen Kategorien, sondern erfahren in ihrer Ausdeutung derzeit eine Renationalisierung. Diese Entwicklung zeichnet sich bereits seit einigen Jahren ab. In den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs schien das erklärte Ziel der deutsch-polnischen Aussöhnungsarbeit eine (Wieder-)Herstellung der Normalität in der Erinnerung zu sein – sowohl auf nationaler Ebene bezüglich schwieriger Episoden der eigenen Geschichte als auch auf bilateraler Ebene nach deutsch-französischem Vorbild. In den letzten Jahren ist allerdings eine deutliche Verschiebung der Prioritäten erkennbar, im Zuge derer nationale Kräfte Aufwind gewinnen. Diese gesamtgesellschaftliche Entwicklung lässt sich auch im Erinnerungsfilm und vor allem in seiner Rezeption beobachten. Während die Enkelgeneration in Deutschland in bester Nachkriegsmanier mit Unsere Mütter, unsere Väter ihre Großmüt-
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ter und Großväter entschuldigen will, die ja selbst angeblich keine Nazis waren, zieht sich Polen abermals in die Selbstidentifikation als Christus der Nationen zurück und tauscht eine kritische Selbstreflektion der deutschpolnisch-jüdischen Beziehungen im Zweiten Weltkrieg gegen eine Re-Inszenierung des polnischen Martyriums ein. An die Stelle von Filmen wie Ida, Pokłosie, In Darkness, aber auch Rogalskis polnisch-deutscher Koproduktion Unser letzter Sommer treten Historia Roja, Woły´n oder Legionen. Diese Filme setzen ihren Schwerpunkt ganz im Sinne der nationalkonservativen Erinnerungspolitik auf polnische Helden und Opfer, anstatt weiterhin auch polnisches Fehlverhalten, Opportunismus und zwielichtige Charaktere zu thematisieren – kurzum, dass auch Polen nur Menschen waren, die irgendwie in Zeiten deutscher Besatzungspolitik, Gewalt und Willkür zu überleben versuchten und dabei nicht immer nur die im moralischen Sinne richtigen Wege beschritten haben. Von der Politik werden diese affirmativen Vergangenheitsbilder nach Kräften gefördert – auch wenn sie, wie der 2016 erschienene Film Historia Roja über die vor allem in nationalkonservativen Kreisen verehrten verfemten Soldaten, trotz Schirmherrschaft zweier Präsidenten der Republik Polen bei Kritikern und Publikum scheitern. Die Emotionalisierung der Vergangenheit und die Relevanz gefühlter Authentizität der Geschichte im Film spielen auch für dessen Rezeption eine bedeutende Rolle. In der Nation als imagined community und einer glorifizierten Vergangenheit suchen viele Menschen Sicherheit in einer immer komplexeren, als zunehmend unsicher empfundenen Welt. In diesem Retrotopia, wie Zygmunt Bauman es bezeichnete, also im längst Vergangenen liegt heute die Zukunft. Retrotopia wird in nationalen Kategorien gedacht. Und diese retrotopische, nationale Vergangenheit muss entsprechend positive Identifikationspunkte und -figuren anbieten, die für die heutige Gesellschaft in Polen und Deutschland attraktiv sind. Um das zu erreichen, genügt es natürlich nicht, die entsprechenden Vergangenheitsbilder über populäre Spielfilme zu verbreiten. Wie Polens Regierung vormachte, kann dieses Ziel auch durch eine entsprechende Gesetzgebung und eine Nachjustierung der musealen Darstellung des Erinnerungsstoffs erreicht werden, siehe die Novellierung des Gesetzes zum IPN, die es verbietet, Polen eine Mittäterschaft in der Vernichtung der Juden in Europa zu unterstellen, oder aber der Streit um das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig, das in seiner europäischen Ausrichtung der nationalkonservativen Regierung einen zu geringen Fokus auf das Leid der polnischen Nation setzte. Diese Entwicklung ist keineswegs auf die Grenzen Polens beschränkt, sondern spiegelt sich in Rechtsrucken in vielen europäischen Staaten wider. Auch in Deutschland finden Stimmen, die sich für eine neue Schlussstrichdebatte aussprechen, wieder Gehör. Die negative Gedenkkultur in Deutschland und die mittlerweile zur Staatsräson gewordene Erinnerung an den Holocaust sind diesen Stimmen ein Dorn
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im Auge. Noch sind die Reaktionen auf Aussagen der AfD-Politiker Björn Höcke, der Anfang 2017 eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ 2 forderte, und Alexander Gauland, der 2018 konstatierte, „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in unserer über 1000-jährigen Geschichte“ 3, zur deutschen Erinnerungskultur überwiegend negativ. Immer wieder betonen führende Politiker, dass die Verantwortung für den Holocaust ein Teil der deutschen Identität geworden ist 4 und die Erinnerung daran Staatsräson. 5 Aber auch im linken politischen Lager wird die deutsche Vergangenheitsbewältigung kritisch beäugt, befördere das stark institutionalisierte Gedenken doch weniger eine aktive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, denn ein Vergessen. 6 Gleichwohl hat Erinnerung weiterhin Hochkonjunktur. Im Zuge des anhaltenden Erinnerungsbooms finden lange verschüttete Erinnerungen auf lokaler, regionaler, nationaler oder transnationaler Ebene ihren Weg an die Oberfläche. Ausdruck kann diese Wiederentdeckung des Vergangenen auch im Erinnerungsfilm finden, durch den Lücken im kulturellen Gedächtnis über die Grenzen der Nation hinweg gefüllt werden können. 7 Beispiele für diese Entwicklung lassen sich nicht nur in Deutschland und Polen finden. Mit ebenjenem Anspruch trat 2016 beispielsweise auch der Film Holodomor – Bittere Ernte über den Holodomor an, also die menschengemachte Hungersnot in der Ukraine 1932 und 1933, der viele 2 ARD-Hauptstadtstudio. 2017. „Björn Höcke und die ‚erinnerungspolitische Wende‘.“, ARD-Hauptstadtstudio Blog, 22. Januar 2017, URL: https://blog. ard- hauptstadtstudio. de/ bjoern- hoecke- und- die- erinnerungspolitische- wende/ , Zugriff am 22. Januar 2019. 3 AfD Bundestagsfraktion. 2018. „Wortlaut der umstrittenen Passage der Rede von Alexander Gauland.“ AfD Bundestagsfraktion, URL: https://www. afdbundestag. de/ wortlaut- der- umstrittenen- passage- der- rede- von- alexander- gauland/ , Zugriff am 22. Januar 2019. 4 So sagte der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière, dass auch das Verstehen des Holocaust zur Integration in Deutschland gehöre. ZEIT Online, De Maizière fordert von Flüchtlingen Offenheit. 5 Vgl. Norbert Lammert. 2017. „Rede von Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert zur Eröffnung der 16. Bundesversammlung am 12. Februar 2017 im Reichstagsgebäude in Berlin.“, Deutscher Bundestag, 12. Februar 2017, URL: https://www. bundestag. de/ parlament/ praesidium/ reden/ 2017/ 003/ 492714, Zugriff am 22. Januar 2019. 6 Vgl. bspw. den von Klaus Bittermann herausgegebene Band Eike Geisel. Die Wiedergutwerdung der Deutschen. Essays & Polemiken. Berlin: TIAMANT. 7 Wie insbesondere am Beispiel von Unsere Mütter, unsere Väter deutlich wurde, ist das vermeintliche Brechen des Schweigens durch Erinnerungsfilme oftmals mehr Marketinginstrument denn neuer Impuls für die Erinnerungskultur. Hier soll es allerdings weniger um die vermeintlichen Tabubrüche moderner Erinnerungsfilme gehen, denn um ihr Potenzial, nationale Vergangenheitsbilder über die Grenzen der Nation zu tragen.
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Millionen Ukrainer zum Opfer fielen. Die Ukraine bemüht sich um die internationale Anerkennung dieses Ereignisses als Genozid. Dieser erste internationale Spielfilm zum Holodomor zeigt, dass diese vergessenen Erinnerungsfelder nicht nur national bestellt werden, sondern in einem größeren, transnationalen Kontext auch außerhalb der engeren Erinnerungsgemeinschaften Relevanz bekommen können. Allerdings kommt der Initiator des Films aus der ukrainischen Diaspora, seine Arbeit werde „der komplexen Tragödie [. . . ] nur bedingt gerecht“. 8 Interessanter ist da der jüngst auf DVD erschienene Spielfilm Die Frau ˙ nskis, die als Direktorenfamilie des Wardes Zoodirektors über die Zabi´ schauer Zoos während der Besatzung durch die Nationalsozialisten Juden das Leben retteten. Diese Widmung an zwei der polnischen Gerechten unter den Völkern wurde nach amerikanischer Buch- und Drehbuchvorlage realisiert und von Kritikern als eine weitere Instanz der Hollywoodisierung des Holocaust gewertet. Es bestand keine erkennbare polnische Beteiligung im Entstehungsprozess dieses Erinnerungsfilms, der ein zentrales Thema der polnischen Erinnerungskultur bearbeitet. Wohl aber wurden deutsche Schauspieler involviert. So spielt Daniel Brühl den Nationalsozialisten und Zoologen Dr. Lutz Heck, der von 1932 bis 1945 den Berliner Zoo leitete. Auch die weiteren Deutschen werden zumeist durch deutsche Schauspieler verkörpert und sprechen untereinander Deutsch. Die Rollen der polnischen Filmcharaktere wiederum wurden fast ausschließlich mit englischen Muttersprachlern besetzt. Jessica Chastain, die die weibliche ˙ nska spielt, spricht wie auch die NebendarHauptrolle der Antonina Zabi´ steller den gesamten Film über Englisch mit einem falschen, polnischen Akzent. Die Nebenrollen immerhin sind zu einem großen Teil mit tschechischen Schauspielern besetzt. Das allerdings ist angesichts der Tatsache, dass der Film in Prag gedreht wurde, nicht verwunderlich. This tendency to reenact world history in English is a common enough convention, and yet, in this case, it’s enough to derail the earnest efforts of everyone involved, since so much of the work they spend „acting“ seems dedicated to navigating his imaginary stew of languages, with the result that everyone but Brühl sounds like a poorly educated Polish immigrant, rather than the fiercely intelligent resistance fighters that they were, while the Nazi character comes off sounding positively refined. 9
8 Regina Mönch. 2017. „Vergessener Massenmord.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. April 2017, URL: http://www. faz. net/ aktuell/ feuilleton/ spielfilm- holodomorbittere- ernte- thematisiert- massenmord- 14954396. html#void, Zugriff am 17. August 2018. 9 Peter Debruge. 2017. „Film Review: The Zookeeper’s Wife.“ Variety, 20. März 2017, URL: https://variety. com/ 2017/ film/ reviews/ the- zookeepers- wife- review- jessicachastain- 1202011801/ , Zugriff am 22. Januar 2019.
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Diese Bewertung zeigt, dass Sprachen im Film nicht nur im deutschpolnischen Erinnerungsfilm ein wichtiger Faktor sind, der zur Authentifizierung der Vergangenheitsbilder beitragen kann – wie in Unser letzter Sommer – oder aber diese behindern kann – wie in Unsere Mütter, unsere Väter. Die Frau des Zoodirektors hatte seine Premiere am 8. März 2017 in Warschau und wurde von Kritikern und Zuschauern in Polen und Amerika positiv aufgenommen. 10 Die Rezeption ist ein gutes Beispiel dafür, dass wahrgenommene Authentizität relevanter als tatsächliche Faktizität ist. Anlässlich des neu geschaffenen Nationalen Gedenktags für Polen, die Juden gerettet haben, wurde der Film am 24. März 2018 unter anderem in der Residenz des polnischen Botschafters in Washington D.C. gezeigt. Ein in Amerika ohne polnische Beteiligung produzierter Spielfilm über die polnische Vergangenheit ist also in Polen zu einem Erinnerungsfilm geworden. 11 Auch wenn die Umsetzung besser hätte sein können, kann diese amerikanische Aneignung der polnischen Vergangenheit und ihr Reimport nach Polen durchaus als eine Instanz der Transnationalisierung der Erinnerung an Polen als Judenretter gewertet werden. Der Blick auf das deutsch-polnische Beispiel bietet eben nur einen Ausschnitt eines größeren Gesamtbildes. Der Wandel der Erinnerungskultur ist aber keine Einbahnstraße, die ausschließlich in Richtung einer Transnationalisierung des Erinnerns und Vergessens führt. Auch eine Renationalisierung des Kinos kann ein Ergebnis einer Verflechtung und gegenseitigen Beeinflussung sein, im Sinne einer Reaktion auf die vermeintliche Bedrohung nationaler Deutungsweisen der Vergangenheit, die zugunsten eines homogenisierten transnationalen Blicks auf die Geschichte an Bedeutung verlieren. Transnationalisierung und Renationalisierung widersprechen sich nicht zwingend, wenn die transnationalen Verflechtungen dazu führen, dass sich Erinnerungskulturen miteinander oder in Reaktion aufeinander zu einer Renationalisierung hinwenden. Diesen Abwehrreflex löste beispielsweise das Projekt einer europäischen Erinnerungskultur aus, das unter anderem in der Ausrufung europäischer Erinnerungsorte und der Eröffnung eines Museums der Geschichte Europas in Brüssel Ausdruck fand. Ganz im Sinne des 10 Vgl. Katja Iken. 2017. „Das Versteck im Zoo.“ Spiegel Online, 13. September 2017, URL: https://www. spiegel. de/ einestages/ warschauer- zoo- wie- jan- und- antonia- zabinski- juden- versteckten- a- 1166353. html, Zugriff am 22. Januar 2019. 11 Vgl. Embassy of the Republic of Poland in Washington D.C. 2018. „Film Screening of ‚The Zookeeper’s Wife‘ at the Ambassador’s Residence.“ Website der Embassy of the Republic of Poland in Washington D.C., 28. März 2018, URL: https://www.msz.gov.pl/ en/ p/ waszyngton_ us_ a_ en/ news/ film_ screening_ of_ _ the_ zookeeper_ s_ wife_ _ at_ the_ ambassador_ s_ residence, Zugriff am 22. Januar 2019.
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Paradigmas, dass die Sieger die Geschichte schreiben, besteht vor allem in Warschau die Furcht, dass angesichts einer deutschen Meinungsführerschaft innerhalb der Europäischen Union im Kampf um die Erinnerung die Perspektiven der östlichen Mitgliedsstaaten in dieser europäisierten Erinnerung kein angemessenes Gehör erhalten.
5.3 Ausblick: Leerstellen in der Erinnerung „Kulturelle Erinnerung stellt zurzeit offensichtlich ein Leitthema des Films dar; und zugleich ist der Film unübersehbar zum Leitmedium der Erinnerungskultur avanciert“, schreiben Astrid Erll und Stephanie Wodianka in ihrer Einleitung zu Film und kulturelle Erinnerung. 12 Inwiefern Erinnerungsfilme tatsächlich neue Impulse setzen können, oder ob sie nicht vielmehr lediglich bereits in der Gesellschaft existierende Meinungen und Gefühlslagen aufgreifen, sollte angesichts der vorangegangenen Analyse deutscher und polnischer Erinnerungsfilme zumindest kritisch bewertet werden. Frank Schirrmachers Euphorie angesichts der vermeintlich neuen Phase, die Unsere Mütter, unsere Väter in der deutschen Erinnerungskultur einläutete, muss daher gedämpft werden. Die Handlungsstränge, die Erinnerungsfilme als Tabubrüche vermarkten, sind oftmals weitaus weniger innovativ, als die Marketingmaschinerie der großen Filmstudios die Zuschauer glauben machen will. Der ganz normale Soldat und das Erwachsenwerden im Krieg standen schon zu anderen Zeitpunkten der Nachkriegsgeschichte im Fokus des Spielfilms in Deutschland, und auch in Polen bzw. von polnischen Filmemachern wurden die polnisch-jüdischen Beziehungen und der Warschauer Aufstand in den Blick genommen. Inwiefern aber die einzelnen Erinnerungsfilme und die Kontroversen, die sie teilweise ausgelöst haben – man denke an Unsere Mütter, unsere Väter, – oder auch die öffentlichen Gesten, die mit ihnen verbunden waren – die Übertragung des Films Warschau ’44 13 als vermeintliche Reaktion auf Unsere Mütter, unsere Väter im deutschen Fernsehen, – nachhaltig Einfluss auf die Erinnerungskultur des jeweils anderen Landes nehmen werden, oder doch eher Ausdruck einer zeitweiligen political correctness waren, wird sich zeigen. Interessanter ist wohl, dass diese durch Erinnerungsfilme inspirierten Kontroversen prämediativ für andere, aber ähnlich gelagerte Erinnerungsdebatten wirken können. Beispielsweise zeigte sich nicht nur 12 Erll & Wodianka, Film und kulturelle Erinnerung, S. 1. 13 Der Film wurde ferner mit einem symbolischen Beitrag durch die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit gefördert.
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in den journalistischen Erzeugnissen, sondern auch in den Kommentarspalten, dass es in den ukrainischen Reaktionen auf den Film Woły´n, der polnische Name für die polnisch-ukrainische Grenzregion Wolhynien, Parallelen zur polnischen Reaktion auf Unsere Mütter, unsere Väter gab. Auch hier wurde interessanterweise die Bło´nski-Debatte zur Linse für den Autor, der seinen Artikel mit Ukrai´ncy patrza˛ na „Woły´n“, die Ukrainer blicken auf Woły´n betitelte: „Die Ukraine wartet immer noch auf ihre eigenen Bło´nskis und Grosses“. 14 In Woły´n, dessen deutscher Titel Sommer 1943 – Das Ende der Unschuld leider nur unzureichend den Inhalt des Films widerspiegelt, werden die Massaker in Wolhynien und Ostgalizien an der polnischen Zivilbevölkerung durch die Ukrainische Aufständische Armee (Ukrajinska Powstanska Armija – UPA) zwischen Februar 1943 und April 1944 behandelt. 15 Die Aufarbeitung dieser ethnischen Säuberungen während des Zweiten Weltkriegs stellt in den polnisch-ukrainischen Beziehungen noch immer ein Desiderat dar, die Bewertung der Ereignisse und vor allem der Rolle der UPA, deren Anführer Stefan Bandera in der Ukraine als Nationalheld gilt, ist sehr unterschiedlich. Die Novellierung des IPN-Gesetzes 2018 befasste sich auch mit diesem Themenkomplex. Diese Multidirektionalität der Erinnerung in Ost- und Mitteleuropa, die einen Transfer deutsch-polnischer Erinnerungsmuster und -debatten auf den polnisch-ukrainischen Fall zeigt, ist ein insbesondere in Westeuropa wenig untersuchter Faktor, der aber eine größere Aufmerksamkeit verdient hätte und über die Mechanismen der Transnationalisierung des Erinnerns und Vergessens wertvolle Erkenntnisse liefern könnte. Eine weitere umfassende Untersuchung der Transnationalisierung deutsch-polnischer Erinnerungskultur im Erinnerungsfilm sollte sich auch den Leerstellen dieser Erinnerung zuwenden. Ebenso bedeutsam wie die Vergangenheit, die erinnert wird, sind die Teile der Geschichte, die bewusst oder unbewusst ausgeklammert werden. Im deutsch-polnischen Kontext sind dies zum Beispiel polnische Zwangsarbeiter in Deutschland, die millionenfach aus dem besetzten Polen ins Deutsche Reich verschleppt wurden. Bislang stellen sie allenfalls eine Randnotiz dar. Die Figur der Alina Bigaj in Unsere Mütter, unsere Väter ist ein Beispiel dafür. Das Ausmaß des Phänomens der Ostarbeiter wird an ihrem Schicksal für ein deutsches Fernsehpublikum nicht greifbar. Warum ist das so? Auch die Polenaktion vom 28. Oktober 1938 spielt im deutschen Erinnerungsfilm
14 Wojciech Kono´nczuk. 2016. „Ukrai´ncy patrza˛ na ‚Woły´n‘.“ Tygodnik Powszechny, 14. November 2016, URL: https://www. tygodnikpowszechny. pl/ ukraincy- patrza- nawolyn- 68359, Zugriff am 27. Februar 2017. 15 Vgl. auch Nijakowski, Die polnische Erinnerungspolitik, S. 37–40.
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keine Rolle. 16 Während dieser großangelegten Aktion wurden rund 17.000 Juden mit polnischer Staatsbürgerschaft aus Deutschland in ihr vermeintliches Heimatland abgeschoben. Dort war man auf die Neuankömmlinge aus Deutschland nicht vorbereitet, da nicht nur die Juden selbst, sondern auch die polnischen Grenzbehörden von den Vorgängen überrascht wurden. Die Polenaktion steht in einer längeren Kette von historischen Ereignissen wie der Ermordung des deutschen Diplomaten Ernst Eduard vom Rath und den Novemberpogromen 1938 und wird heute als „Auftakt zur Vernichtung“ 17 und Vorläufer der Deportationen in die Konzentrations- und Vernichtungslager im Osten gesehen. Insbesondere, weil das Füllen vermeintlicher Leerstellen in der Erinnerung eine wichtige Rolle in der Vermarktung von Filmen über die Vergangenheit spielt, verdient diese bewusste oder unbewusste filmische NichtBearbeitung bestimmter Topoi Aufmerksamkeit seitens der Wissenschaft. Diese Leerstellen zu identifizieren, ist deutlich schwerer als die Bilder der Vergangenheit zu analysieren, die bereits sichtbar gemacht wurde. Auch in Polen findet Nicht-Erinnern statt. Denn auch wenn sich polnische Filmemacher bisweilen mit den schwierigeren Episoden polnisch-jüdischer Beziehungen während des Zweiten Weltkriegs beschäftigen, siehe Władysław Pasikowski mit Pokłosie oder die jüdischstämmige Regisseurin Agnieszka Holland in In Darkness, so ist doch auffällig, dass diese Auseinandersetzung nicht aus negativen Beispielen des Opportunismus in der eigenen Familiengeschichte gespeist wird, sondern sich mit irgendwelchen anderen Polen beschäftigt. Opa war kein Nazi, aber Dziadek war auch kein Antisemit. Die Ausgangssituation ist natürlich eine andere: Deutschland trägt die historische Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust, dessen Opfer auch Polen war. Und trotzdem existieren die bereits erwähnten Grauzonen, wie das Szmalcownikitum oder die Gewaltexzesse gegenüber jüdischen Nachbarn während der Pogrome in Jedwabne und Kielce, die aber bislang augenscheinlich nicht zum Teil der verfilmbaren Familiengeschichte gehören. Leerstellen gibt es aber nicht nur in der Erinnerung, sondern auch in ihrer Erforschung. Digitalisierung sollte ebenfalls mehr Raum in der wissenschaftlichen Betrachtung populärer Vergangenheitsbilder und ihrer Transnationalisierung zu Beginn des 21. Jahrhunderts beigemessen werden. Inwiefern können die neuen Medien die Art und Weise und vielleicht
16 2018 entstand anlässlich des 80. Jahrestages die Dokumentation Abgeschoben 1938: Wie die Nazis die Juden-Deportation probten von Martina Morawietz für frontal 21, ZDF. 17 Jerzy Tomaszewski. 2002. Auftakt zur Vernichtung: die Vertreibung polnischer Juden aus Deutschland im Jahre 1938. Osnabrück: fibre-Verlag.
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auch den Fokus dessen, was erinnert wird, verschieben? Für kleinere Gedenkinitiativen wie beispielsweise das Gedenken an die polnischen Opfer der Deportationen nach Sibirien, die Sybiracy, die nicht über die Lobby und die finanziellen Mittel zum Bau großer Museen verfügen, bietet das Internet eine neue Möglichkeit, ihre Ansprüche auf einen Platz im kollektiven Gedächtnis zu formulieren. Aber nicht nur die Themen, sondern auch die Akteure eines Erinnerns 2.0 und ihre Interaktionswege können andere sein als die, die sich damit in der analogen Welt befassen. Auch die in dieser Arbeit exemplarisch behandelten Erinnerungsfilme nutzen als Teil ihres plurimedialen Netzwerks schon jetzt das Internet als weitere Plattform zur Verbreitung der Vergangenheitsbilder, über die zusätzliche Informationen zum Film, den Machern oder auch der Ereignisgeschichte verbreitet werden können. Insbesondere die Bereitstellung von zusätzlichen Materialien, die zur Nutzung der Erinnerungsfilme als Medien der Vermittlung historischen Wissens im Schulunterricht beitragen sollen, findet online statt. Die Rezipienten bleiben dabei durch einen regen Austausch in Sozialen Medien, Blogs und Foren nicht passiv, sondern können sich mit wenig Aufwand und ohne nennenswerte Zensur aktiv an den Aushandlungsprozessen der Vergangenheitsbilder beteiligen. Diese Tendenz dürfte sich mit der fortschreitenden Digitalisierung noch verstärken. Neuere Forschung sollte hier ansetzen. Authentizität, Emotionalisierung und Personalisierung der Erinnerung haben im Film augenscheinlich Grenzen, die von den Seherwartungen des Publikums gesetzt werden – nicht von den historischen Fakten. Erinnerungsfilme und ihre Macher sind Grenzgänger der Erinnerungskultur. Sie testen die bestehenden Grenzen des Zeig- und Sagbaren zwischen Nationen und Erinnerungskulturen aus und helfen, neue Grenzen zu definieren, indem sie sie bewusst überschreiten. Moderne Erinnerungsfilme sind angesichts eines globalisierten Spielfilmmarktes darauf ausgelegt, grenzenlos wirken zu können. Das Brechen von Tabus der Erinnerung, also das bewusste Überschreiten von Grenzen des Erinnerbaren ist vielen Filmen ein Anspruch, der in ihrer Vermarktung besonders betont wird. Damit sind sie ideale, potenzielle Beförderer einer Transnationalisierung der Erinnerungskultur. Angesichts eines sich renationalisierenden Erinnerns und einer Zuwendung zu dem, was Zygmunt Bauman als Retrotopia bezeichnet, sollte man die Euphorie allerdings dämpfen. Erinnerungsfilme können transnationalisierend wirken, aber nur, wenn sie auf die entsprechenden gesellschaftlichen Bedingungen treffen. Inwiefern diese sich gerade von einem fruchtbaren Boden zu einer verbrannten Erde entwickeln, bleibt zu beobachten. Eines scheint aber klar: Der Film als Verbreitungsmedium bewegter und bewegender Vergangenheitsbilder wird dabei eine Rolle spielen.
Anhang
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Unser letzter Sommer [Orig.: Letnie przesilenie]. Regie: Michał Rogalski, Drehbuch: Michał Rogalski, Deutschland / Polen: 2015. Fassung: DVD. farbfilm home Entertainment, 2016, 96 Minuten. Extras: Interviews, Making-of. Unsere Mütter, unsere Väter. Regie: Philipp Kadelbach. Drehbuch: Stefan Kolditz. Deutschland: 2013. Drei Teile. Fassung: DVD Special Edition. Studio Hamburg Enterprises, 2013, 270 Minuten. Extras: Dokumentation Kampf ums Überleben. Polen unter deutscher Besatzung, ZDF-History Unsere Mütter, unsere Väter – Die Dokumentation, Interviews mit Cast & Crew, Song Alle Ehre zum Download, Audiokommentare, 24-seitiges Booklet mit Hintergrundinformationen, Text & Noten zu Mein kleines Herz. Warschau ’44 [Orig.: Miasto 44]. Regie: Jan Komasa. Drehbuch: Jan Komasa. Polen: 2014. Fassung: DVD. Studio Hamburg Enterprises, 2015, 127 Minuten. Extras: Making-of (OmU). Abbitte [Orig.: Atonement]. Regie: Joe Wright. Drehbuch: Christopher Hampton. Großbritannien / Frankreich: 2007. Abgeschoben 1938: Wie die Nazis die Juden-Deportation probten. Regie: Martina Morawietz. Deutschland: 2018. ZDF. [Dokumentarfilm]. Abrahams Gold. Regie: Jörg Graser. Drehbuch: Jörg Graser. Bundesrepublik Deutschland: 1990. Aimée & Jaguar. Regie: Max Färberböck. Drehbuch: Max Färberböck, Rona Munro. Deutschland: 1999. Als Liebe ein Verbrechen war / Rassenschande: When Love Was a Crime [Orig.: Kiedy miło´s´c była zbrodnia]. ˛ Regie: Jan Rybkowski. Drehbuch: Jan Rybkowski, Andrzej Wajda. Polen / Bundesrepublik Deutschland: 1968. Am Ende kommen Touristen. Regie: Robert Thalheim. Drehbuch: Robert Thalheim. Deutschland: 2007. Am grünen Strand der Spree. Regie: Fritz Umgelter. Drehbuch: Reinhart MüllerFreienfels, Fritz Umgelter. Bundesrepublik Deutschland: 1960. 5 Teile. Am Bahngleis [Orig.: Przy torze kolejowym]. Regie: Andrzej Brzozowski, Anna Dyrka. Drehbuch: Andrzej Brzozowski. Polen: 1963. Anonyma – Eine Frau in Berlin. Regie: Max Färberböck. Drehbuch: Max Färberböck. Deutschland / Polen: 2008. Apocalypse Now. Regie: Francis Ford Coppola. Drehbuch: John Milius, Francis Ford Coppola. USA: 1979. Aus einem deutschen Leben. Regie: Theodor Kotulla. Drehbuch: Theodor Kotulla. Bundesrepublik Deutschland: 1977.
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Babylon Berlin. Regie: Henk Handloegten, Tom Tykwer, Achim von Borries. Drehbuch: Henk Handloegten, Tom Tykwer, Achim von Borries, Volker Kutscher. Deutschland. 2017 –. Bislang drei Staffeln. Bittere Ernte. Regie: Agnieszka Holland. Drehbuch: Agnieszka Holland, Paul Hengge. Bundesrepublik Deutschland: 1985. Był sobie dzieciak [Dt.: Es war einmal ein Kind]. Regie: Leszek Wosiewicz. Drehbuch: Leszek Wosiewicz. Polen: 2013. Cold War – Der Breitengrad der Liebe [Orig.: Zimna wojna]. Regie: Paweł Pawlikowski. Drehbuch: Paweł Pawlikowski, Janusz Głowacki, Piotr Borkowski. Polen / Großbritannien / Frankreich: 2018. Czas honoru [Dt.: Zeit der Ehre]. Regie: Michał Kwieci´nski et al. Drehbuch: Ewa Wencel, Jarosław Sokół. Polen: 2008–2013. Sechs Staffeln. Czas honoru. Powstanie [Dt.: Zeit der Ehre. Der Aufstand]. Regie: Jan Hryniak. Drehbuch: Ewa Wencel, Jarosław Sokół. Polen: 2014. Staffel 4.5 von Czas honoru. Daleko od okna [Internat.: Keep Away from the Window]. Regie: Jan Jakub Kolski. Drehbuch: Cezary Harasimowicz. Polen: 2000. Das Heimweh des Walerjan Wrobel. Regie: Rolf Schübel. Drehbuch: Rolf Schübel. Deutschland: 1991. Das Leben ist schön [Orig.: La vita è bella]. Regie: Roberto Benigni. Drehbuch: Vincenzo Cerami, Roberto Benigni. Italien: 1997. Das Massaker von Katyn [Orig.: Katy´n]. Regie: Andrzej Wajda. Drehbuch: Przemysław Nowakowski, Władysław Pasikowski, Andrzej Wajda. Polen: 2007. Das Rezept fürs Leben [Orig.: Przepis na z˙ycie]. Regie: Michał Rogalski. Drehbuch: Agnieszka Pilaszewska. Polen: 2011–2013. Fünf Staffeln. Das schreckliche Mädchen. Regie: Michael Verhoeven. Drehbuch: Michael Verhoeven. Bundesrepublik Deutschland: 1990. Der 20. Juli. Regie: Falk Harnack. Drehbuch: Falk Harnack, Werner Jörg Lüddecke, Günther Weisenborn. Bundesrepublik Deutschland: 1955. Der Dämon Rußlands – Rasputin [Orig.: Rasputin and the Empress]. Regie: Richard Boleslawski. Drehbuch: Charles MacArthur. USA: 1932. Der Junge im gestreiften Pyjama [Orig.: The Boy in the Striped Pyjamas]. Regie: Mark Herman. Drehbuch: Mark Herman. Großbritannien / USA: 2008. Der Kanal [Orig.: Kanał]. Regie: Andrzej Wajda. Drehbuch: Jerzy Stefan Stawi´nski. Polen: 1957. Der Pianist [Orig.: The Pianist]. Regie: Roman Polanski. Drehbuch: Ronald Harwood. Großbritannien / Frankreich / Polen / Deutschland: 2002. Der Polenweiher. Regie: Nico Hofmann. Drehbuch: Thomas Strittmatter. Bundesrepublik Deutschland: 1986. Der Soldat James Ryan [Orig.: Saving Private Ryan]. Regie: Steven Spielberg. Drehbuch: Robert Rodat. USA: 1998. Der Staat gegen Fritz Bauer. Regie: Lars Kraume. Drehbuch: Lars Kraume, Oliver Guez. Deutschland: 2015. Der Untergang. Regie: Oliver Hirschbiegel. Drehbuch: Bernd Eichinger. Deutschland / Österreich / Italien: 2004. Der Vorleser [Orig.: The Reader]. Regie: Stephen Daldry. Drehbuch: David Hare. Deutschland / USA: 2008.
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Der Warschauer Aufstand [Orig.: Powstanie Warszawskie]. Regie: Jan Komasa. Drehbuch: Jan Ołdakowski, Władysław Pasikowski, Joanna Pawlu´skiewicz, ´ Piotr C. Sliwowski. Polen: 2014. Des Teufels General. Regie: Helmut Käutner. Drehbuch: George Hurdalek, Helmut Käutner. Bundesrepublik Deutschland: 1955. Deutschland ’83. Regie: Edward Berger, Samira Radsi. Drehbuch: Anna LeVine, Jörg Winger, Steve Bailie, Georg Hartmann, Ralph Martin, Andrea Wilson. Deutschland: 2015. Die Blumen von gestern. Regie: Chris Kraus. Drehbuch: Chris Kraus. Österreich / Deutschland / Frankreich: 2016. Die Brücke. Regie: Bernhard Wicki. Drehbuch: Bernhard Wicki, Michael Mansfeld, Karl-Wilhem Vivier. Bundesrepublik Deutschland: 1959. Die Brücke. Regie: Wolfgang Panzer. Drehbuch: Wolfgang Kirchner. Deutschland: 2008. Die dunkelste Stunde [Orig.: Darkest Hour]. Regie: Joe Wright. Drehbuch: Anthony McCarten. Großbritannien / USA: 2017. Die Fälscher. Regie: Stefan Ruzowitzky. Drehbuch: Stefan Ruzowitzky. Österreich / Deutschland: 2007. Die Flucht. Regie: Kai Wessel. Drehbuch: Gabriela Sperl. Deutschland: 2007. Die Frau des Zoodirektors [Orig.: The Zookeeper’s Wife]. Regie: Niki Caro. Drehbuch: Angela Workman. Tschechische Republik / Großbritannien / USA: 2017. Die Freibadclique. Regie: Friedemann Fromm. Drehbuch: Friedemann Fromm. Deutschland / Tschechische Republik: 2017. Die jungen Löwen [Orig.: The Young Lions]. Regie: Edward Dmytryk. Drehbuch: Edward Anhalt. USA: 1958. Die Karwoche [Orig.: Wielki tydzie´n]. Regie: Andrzej Wajda. Drehbuch: Andrzej Wajda. Polen / Deutschland / Frankreich: 1995. Die Kinder der Villa Emma. Regie: Nikolaus Leytner. Drehbuch: Agnes Pluch. Deutschland / Österreich: 2016. Die Kreuzritter [Orig.: Krzy˙zacy]. Regie: Aleksander Ford. Drehbuch: Aleksander Ford, Leon Kruczkowski, Jerzy Stefan Stawi´nski. Polen: 1960. Die lange Nacht [Orig.: Długa noc]. Regie: Janusz Nasfeter. Drehbuch: Janusz Nasfeter. Polen: 1967 (1989). Die Mörder sind unter uns. Regie: Wolfgang Staudte. Drehbuch: Wolfgang Staudte. Deutschland: 1946. Die Passagierin [Orig.: Pasa˙zerka]. Regie: Andrzej Munk, Witold Lesiewicz. Drehbuch: Andrzej Munk, Zofia Posmysz. Polen: 1963. Die verlorene Zeit. Regie: Anna Justice. Drehbuch: Pamela Katz, Anna Justice. Deutschland: 2011. Die Wannseekonferenz. Regie: Heinz Schirk. Drehbuch: Paul Mommertz. Österreich / Bundesrepublik Deutschland: 1984. Die weiße Rose. Regie: Michael Verhoeven. Drehbuch: Mario Krebs, Michael Verhoeven. Bundesrepublik Deutschland: 1982. Dresden. Regie: Roland Suso Richter. Drehbuch: Stefan Kolditz. Deutschland: 2006. Dreszcze [Dt.: Schauder]. Regie: Wojciech Marczewski. Drehbuch: Wojciech Marczewski. Polen: 1981.
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Dunkirk. Regie: Christopher Nolan. Drehbuch: Christopher Nolan. Großbritannien / Niederlande / Frankreich / USA: 2017. Ehe im Schatten. Regie: Kurt Maetzig. Drehbuch: Kurt Maetzig. Deutschland: 1947. Eine Liebe in Auschwitz. Regie: Jens Nicolai. Deutschland: 2001. Spiegel TV. URL: https://www. spiegel. tv/ videos/ 169409- eine- liebe- in- auschwitz, Zugriff am 23. Juni 2019. [Dokumentarfilm]. Eine Liebe in Deutschland. Regie: Andrzej Wajda. Drehbuch: Bolesław Michałek, Agnieszka Holland, Andrzej Wajda. Frankreich / Bundesrepublik Deutschland: 1983. Elser – Er hätte die Welt verändert. Regie: Oliver Hirschbiegel. Drehbuch: LéonieClaire Breinersdorfer, Fred Breinersdorfer. Deutschland / Italien: 2015. Er ist wieder da. Regie: David Wnendt. Drehbuch: David Wnendt, Mizzi Meyer. Deutschland. 2015. Eroica. Regie: Andrzej Munk. Drehbuch: Jerzy Stefan Stawi´nski. Polen: 1958. Es geschah am 20. Juli. Regie: Georg Wilhelm Pabst. Drehbuch: Werner P. Zibaso, Gustav Machaty. Bundesrepublik Deutschland: 1955. Exterminator [Orig.: Gotowi na wszystko. Exterminator]. Regie: Michał Rogalski. Drehbuch: Przemysław Jurek, Michał Rogalski. Polen: 2018. Gerhard und Bronia – Eine verbotene Liebe. Regie: Marek Tomasz Pawłowski. Drehbuch: Marek Tomasz Pawłowski. Polen / Deutschland: 2002. Goethe! Regie: Philipp Stölzl. Drehbuch Alexander Dydyna, Christoph Müller, Philipp Stölzl. Deutschland: 2010. Good Bye, Lenin! Regie: Wolfgang Becker. Drehbuch: Bernd Lichtenberg. Deutschland: 2002. Hans Kloss – Spion zwischen den Fronten [Orig.: Hans Kloss. Stawka wi˛eksza ni˙z ´smier´c]. Regie: Patryk Vega. Drehbuch: Władysław Pasikowski, Przemysław Wo´s. Polen: 2012. Hasenjagd. Regie: Andreas Gruber. Drehbuch: Andreas Gruber. Österreich / Deutschland: 1994. Heldenfrühling. Regie: Michael Kehlmann. Drehbuch: Oliver Storz. Deutschland / Österreich / Schweiz: 1991. Hindenburg. Regie: Philipp Kadelbach. Drehbuch: Johannes W. Betz, Martin Pristl, Philip Lazepnik. Deutschland: 2011. Zwei Teile. Hitler – Eine Karriere. Regie: Joachim C. Fest, Christian Herrendoerfer. Drehbuch: Joachim C. Fest. Bundesrepublik Deutschland: 1977. Hitlerjunge Quex. Regie: Hans Steinhoff. Drehbuch: Karl Aloys Schenzinger. Deutschland: 1933. Hitlerjunge Salomon [Orig.: Europa, Europa]. Regie: Agnieszka Holland. Drehbuch: Agnieszka Holland. Deutschland: 1990. Historia Roja – Czyli w ziemi lepiej słycha´c [Dt.: Die Geschichte von Rój]. Regie: Jerzy Zalweski. Drehbuch: Jerzy Zalewski. Polen: 2016. Holocaust: Die Geschichte der Familie Weiß [Orig.: Holocaust]. Regie: Marvin J. Chomsky. Drehbuch: Gerald Green. USA: 1978. Vier Teile. Holodomor – Bittere Ernte [Orig.: Bitter Harvest]. Regie: George Mendeluk. Drehbuch: Richard Bachynsky Hoover, George Mendeluk. Kanada / Großbritannien: 2016.
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Ida. Regie: Paweł Pawlikowski. Drehbuch: Paweł Pawlikowski, Rebecca Lenkiewicz. Polen / Dänemark / Frankreich / Großbritannien: 2013. Im Labyrinth des Schweigens. Regie: Giulio Ricciarelli. Drehbuch: Elisabeth Bartel, Giulio Ricciarelli. Deutschland: 2014. Im Westen nichts Neues [Orig.: All Quiet on the Western Front]. Regie: Lewis Milestone. Drehbuch: George Abbott, Maxwell Anderson, Del Andrews, Lewis Milestone. USA: 1930. In Darkness [Orig.: W ciemno´sci]. Regie: Agnieszka Holland. Drehbuch: David F. Shamoon. Polen / Deutschland / Kanada: 2011. Inglourious Basterds. Regie: Quentin Tarantino. Drehbuch: Quentin Tarantino. Deutschland / USA: 2009. In jenen Tagen. Regie: Helmut Käutner. Drehbuch: Helmut Käutner, Ernst Schnabel. Deutschland: 1947. Jäger des verlorenen Schatzes [Orig.: Raiders of the Lost Ark]. Regie: Steven Spielberg. Drehbuch: George Lucas, Philip Kaufman, Lawrence Kasdan. USA: 1981. Kler. Regie: Wojciech Smarzowski. Drehbuch: Wojciech Rzehak, Wojciech Smarzowski. Polen: 2018. Kolumbowie. Regie: Janusz Morgenstern. Drehbuch: Roman Bratny. Polen: 1970. Korczak. Regie: Andrzej Wajda. Drehbuch: Agnieszka Holland. Polen / Deutschland / Großbritannien: 1990. Kornblumenblau. Regie: Leszek Wosiewicz. Drehbuch: Jarosław Sander, Leszek Wosiewicz. Polen: 1989. Lauf, Junge, lauf. Regie: Pepe Danquart. Drehbuch: Heinrich Hadding, Pepe Danquart. Deutschland / Frankreich / Polen: 2013. Land der Väter, Land der Söhne. Regie: Nico Hofmann. Drehbuch: Nico Hofmann. Bundesrepublik Deutschland: 1988. Legionen [Orig.: Legiony]. Regie: Dariusz Gajewski. Drehbuch: Dariusz Gajewski, Michał Godzic, Tomasz Łysiak, Maciej Pawlicki. Polen: 2019. Lili Marleen. Regie: Rainer Werner Fassbinder. Drehbuch: Manfred Purzer, Joshua Sinclair, Rainer Werner Fassbinder, Werner Uschkurat. Deutschland: 1981. Magda macht das schon! Regie: Torsten Wacker, Nico Zingelmann, Isabel Braak. Drehbuch: Sebastian Andrae et al. Deutschland: 2017–2019. Miasto nieujarzmione / Robinson warszawski [Dt.: Unbesiegte Stadt]. Regie: Jerzy Zarzycki. Drehbuch: Jerzy Andrzejewski, Jerzy Zarzycki. Polen: 1950. Mein Führer – Die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler. Regie: Dani Levy. Drehbuch: Dani Levy. Deutschland: 2007. Menschenjagd [Orig.: Naganiacz]. Regie: Czesław Petelski, Ewa Petelska. Drehbuch: Roman Bratny. Polen: 1963. Morgen gehen wir ins Kino [Orig.: Jutro idziemy do kina]. Regie: Michał Kwieci´nski. Drehbuch: Jerzy Stefan Stawi´nski. Polen: 2007. Nackt unter Wölfen. Regie: Georg Leopold. Drehbuch: Bruno Apitz. DDR: 1960. Nackt unter Wölfen. Regie: Frank Beyer. Drehbuch: Bruno Apitz, Frank Beyer. DDR: 1963. Nackt unter Wölfen. Regie: Philipp Kadelbach. Drehbuch: Stefan Kolditz. Deutschland: 2015. Napola – Elite für den Führer. Regie: Dennis Gansel. Drehbuch: Dennis Gansel, Maggie Peren. Deutschland: 2004.
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Nebel im August. Regie: Kai Wessel. Drehbuch: Holger Karsten Schmidt. Deutschland: 2016. Obława [Dt.: Treibjagd]. Regie: Marcin Krzyształowicz. Drehbuch: Marcin Krzyształowicz. Polen: 2012. Operation Arsenal – Schlacht um Warschau [Orig.: Kamienie na szaniec]. Regie: Robert Gli´nski. Drehbuch: Wojtek Pałys, Dominik Wieczorkowski-Rettinger. Polen: 2014. Operation Walküre – Das Stauffenberg-Attentat [Orig.: Valkyrie]. Regie: Bryan Singer. Drehbuch: Christopher McQuarrie, Nathan Alexander. USA/Deutschland: 2008. Ostatnia akcja [Dt.: Die letzte Aktion]. Regie: Michał Rogalski. Drehbuch: Krzysztof Rak, Michał Rogalski. Polen: 2009. Ostatni etap [Dt.: Die letzte Etappe]. Regie: Wanda Jakubowska. Drehbuch: Wanda Jakubowska, Gerda Schneider. Polen: 1948. Pokłosie [Dt.: Nachlese]. Regie: Władysław Pasikowski. Drehbuch: Władysław Pasikowski. Polen: 2012. Remember. Regie: Atom Egoyan. Drehbuch: Benjamin August. Kanada / Mexiko / Deutschland / Südafrika: 2015. Rosen für den Staatsanwalt. Regie: Wolfgang Staudte. Drehbuch: Georg Hurdalek. Bundesrepublik Deutschland: 1959. Ró˙za [Dt.: Rosa]. Regie: Wojciech Smarzowski. Drehbuch: Michał Szczerbic. Polen: 2011. Sarahs Schlüssel [Orig.: Elle s’appelait Sarah]. Regie: Gilles Paquet-Brenner. Drehbuch: Serge Joncour. Frankreich: 2011. Schindlers Liste [Orig.: Schindler’s List]. Regie: Steven Spielberg. Drehbuch: Steven Zaillian. USA: 1993. Schweigeminute. Regie: Thorsten M. Schmidt. Drehbuch: André Georg, Claudia Kratochvil, Thorsten M. Schmidt. Deutschland / Dänemark: 2016. Shoah. Regie: Claude Lanzmann. Drehbuch: Claude Lanzmann. Frankreich: 1985. Son of Saul [Orig.: Saul fia]. Regie: László Nemes. Drehbuch: László Nemes, Clara Royer. Ungarn: 2015. Sophie Scholl – Die letzten Tage. Regie: Marc Rothemund. Drehbuch: Fred Breinersdorfer. Deutschland: 2005. Stalingrad. Regie: Joseph Vilsmaier. Drehbuch: Jürgen Büscher, Johannes Heide, Joseph Vilsmaier. Deutschland: 1993. Stauffenberg. Regie: Jo Baier. Drehbuch: Jo Baier. Deutschland / Österreich / Italien: 2004. Stawka wi˛eksza ni˙z z˙ycie [Dt.: Sekunden entscheiden]. Regie: Andrzej Konic, Janusz Morgenstern. Drehbuch: Zbigniew Sajan, Andrzej Szypulski. Polen: 1968–1969. Syberiada Polska [Dt.: Sibirisches Exil]. Regie: Janusz Zaorski. Drehbuch: Michał Komar, Maciej Dutkiewicz. Polen / Russland: 2013. Tannbach. Regie: Alexander Dierbach. Drehbuch: Robert Thayenthal et al. Deutschland: 2015–2018. Zwei Staffeln. The Tree of Life [Dt.: Der Baum des Lebens]. Regie: Terrence Malick. Drehbuch: Terrence Malick. USA: 2011.
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Unsere Mütter, unsere Väter: Die Dokumentation. Regie: Annette von der Heyde, Peter Hartl, Anja Greulich, Steffi Schöbel. Deutschland: 2013. ZDF. [Dokumentarfilm, 2 Teile]. Väter und Söhne. Regie: Bernhard Sinkel. Drehbuch: Bernhard Sinkel. Bundesrepublik Deutschland: 1986. Vier Teile. Verbotene Lieder [Orig.: Zakazane Piosenki]. Regie: Leonard Buczkowski. Drehbuch: Jan Fethke, Ludwik Starski. Polen: 1947. Vier Panzersoldaten und ein Hund [Orig.: Czterej pancerni i pies]. Regie: Konrad Nalecki, Andrzej Czekalski. Drehbuch: Janusz Przymanowski, Stanisław Wohl, Maria Przymanowska. Polen: 1966–1970. Drei Staffeln. „Warschau ’44“ – Die Dokumentation. Regie: Alexander Berkel, Annette von der Heyde. Deutschland: 2015. ZDF. [Dokumentarfilm]. Wege zum Ruhm [Orig.: Paths of Glory]. Regie: Stanley Kubrick. Drehbuch: Stanley Kubrick, Calder Willingham, Jim Thompson. USA: 1957. Westerplatte. Regie: Stanisław Ró˙zewicz. Drehbuch: Jan Józef Szczepa´nski. Polen: 1967. Wie „HOLOCAUST“ ins Fernsehen kam. Regie: Alice Agneskirchner. Deutschland: 2019. WDR/NDR/SWR. [Dokumentarfilm]. Wir sind jung. Wir sind stark. Regie: Burhan Qurbani. Drehbuch: Martin Behnke, Burhan Qurbani. Deutschland: 2013. Wir waren wie Brüder [Orig.: Band of Brothers]. Regie: Phil Alden Robinson et al. Drehbuch: Stephen Ambrose et al. USA: 2001. 10-teilige Fernsehserie. Wojenne dziewczyny [Dt.: Kriegsmädchen]. Regie: Michał Rogalski. Drehbuch: Marek Kreutz, Ewa Popiołek, Piotr Starzak. Polen: 2017–2018. Zwei Staffeln. Woły´n [Dt.: Sommer 1943 – Das Ende der Unschuld]. Regie: Wojciech Smarzowski. Drehbuch: Wojciech Smarzowski. Polen: 2016. Wyrok na Franciszka Kłosa [Dt.: Urteil über Franciszek Kłos]. Regie: Andrzej Wajda. Drehbuch: Zygmunt Malanowicz, Andrzej Wajda. Polen: 2000.
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Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Hiemer fotografiert Friedhelm, wie dieser das Seil zieht, das den Polen am Galgen den Boden unter den Füßen wegzieht. An ihnen wollen die Deutschen ein Exempel statuieren. Screenshot aus Unsere Mütter, unsere Väter, Teil 3, DVD Special Edition, Studio Hamburg Enterprises, 2013. Abbildung 2: Das Gruppenfoto der fünf Freunde im Schützengraben an der Ostfront. Screenshot aus Unsere Mütter, unsere Väter, Teil 1, DVD Special Edition, Studio Hamburg Enterprises, 2013. Abbildung 3: Links die Anfahrt zum Lager aus der Perspektive der Lok von Romek und Leon. Rechts Lokführer Leon in der Pose, in der auch Lanzmann seinen polnischen Eisenbahner zeigte. Screenshots aus Unser letzter Sommer, DVD, farbfilm home Entertainment, 2015. Abbildung 4: Links die symbolische Verbrennung der Fotos einer jüdischen Familie im Herdfeuer. Rechts: Romek betrachtet das den authentischen Fotografien nachempfundene Familienfoto von Bunias Familie aus der Brieftasche ihres Bruders. Screenshots aus Unser letzter Sommer, DVD, farbfilm home Entertainment, 2015. Abbildung 5: Die blutverschmierte Alicja sucht in einem alten Auto Schutz vor den vom Himmel regnenden Leichenteilen. Screenshots aus Warschau ’44, DVD, Studio Hamburg Enterprises, 2015. Abbildung 6: Blick durch ein Fenster des Gendarmerie-Stützpunktes in Wroblew auf die Soldaten vor dem gemeinsamen Abendessen. An der Wand der Spruch „Heldisch sein heißt Rasse haben“. Rechts Guidos Blick aus dem Fenster auf die Wäsche im Garten und die draußen vorbeilaufende Franka. Screenshots aus Unser letzter Sommer, DVD, farbfilm home Entertainment, 2015. Abbildung 7: Filmplakat zu Warschau ’44 am elfstöckigen PAST-Gebäude, seit 2000 Sitz verschiedener Veteranenorganisationen der Heimatarmee in der Warschauer Zielna Straße 39. Privates Foto, Rebecca Großmann, 2014. Abbildung 8: Stefan und Alicja küssen sich im Kugelhagel, während um sie herum die Kämpfe toben. Screenshots aus Warschau ’44, DVD, Studio Hamburg Enterprises, 2015.