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German Pages 313 Year 2011
Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht Studies in International and European Criminal Law and Procedure Band / Volume 10
Der Straftatbegriff in Europa Eine rechtsvergleichende Untersuchung der allgemeinen Voraussetzungen der Strafbarkeit in Deutschland, England, Frankreich und Polen
Von Volker Helmert
Duncker & Humblot · Berlin
VOLKER HELMERT
Der Straftatbegriff in Europa
Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht Studies in International and European Criminal Law and Procedure Herausgegeben von / Edited by RiLG Prof. Dr. Kai Ambos
Band / Volume 10
Der Straftatbegriff in Europa Eine rechtsvergleichende Untersuchung der allgemeinen Voraussetzungen der Strafbarkeit in Deutschland, England, Frankreich und Polen
Von Volker Helmert
Duncker & Humblot · Berlin
Der Fachbereich Rechtswissenschaften der Philipps-Universität zu Marburg hat diese Arbeit im Wintersemester 2010/2011 als Dissertation angenommen.
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© 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1867-5271 ISBN 978-3-428-13571-4 (Print) ISBN 978-3-428-53571-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-83571-3 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Meinen Eltern in Dankbarkeit gewidmet
Vorwort Die erste Idee zu der vorliegenden Untersuchung stammt aus einer Zeit, als das Haus Europa noch nach Amsterdamer Grundriss gestaltet war. Inzwischen hat der Vertrag von Lissabon dem gesamten Haus ein neues Fundament gegeben und speziell auch auf der Strafrechtsetage bedeutende Umbauten bewirkt. Man darf gespannt sein (oder je nach Standpunkt auch: besorgt), wie die Union sich auf dieser Etage künftig einrichten wird. Für eine der denkbaren Neuerungen liefert die vorliegende Arbeit einen Gestaltungsvorschlag. Sie lässt sich freilich auch als ein von der Europäisierung des Strafrechts gänzlich unabhängiger Rechtsvergleich lesen. Auf dem Weg von der ersten Idee bis zur Veröffentlichung dieses Buches habe ich viel Unterstützung erfahren, für die ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken möchte. An erster Stelle danke ich meinem verehrten akademischen Lehrer und Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Georg Freund, der mich über einen langen Zeitraum in fachlicher wie in menschlicher Hinsicht jederzeit perfekt betreute. Für ihre zusätzlich hilfreichen inhaltlichen Kommentare und für die freundliche Vermittlung bei der Veröffentlichung danke ich dem Zweitgutachter, Herrn Prof. Dr. Christoph Safferling, und dem Herausgeber der „Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht“, Herrn Prof. Dr. Kai Ambos. Für bleibende Inspiration weit über das Juristische hinaus danke ich überdies Herrn Prof. Dr. Walter Grasnick. Mein Dank gebührt ferner dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg, dessen Bibliothek ich als Gast mehrfach nutzen durfte. Für die ideelle und finanzielle Förderung meiner Promotion danke ich der Studienstiftung des deutschen Volkes, namentlich ihrem Generalsekretär, Herrn Dr. Gerhard Teufel. Ganz besonders danke ich meiner Frau, Dr. Susanne Ebner, die mir in einer „rush hour des Lebens“ die ruhigen Strecken ermöglichte, deren es zur Fertigstellung dieser Arbeit bedurfte. Für anhaltende moralische Unterstützung – interessierte Anteilnahme, wertvolle Ratschläge, freundliches Drängen – danke ich meinem Großvater Dr. Johann-Dietrich Bödeker, meinem Bruder Prof. Dr. Malte Helmert, meinen Kindern Jonathan und Eline, meinen Schwiegereltern Beate und Hans Ebner, Frau Dr. Beate Frank, Herrn Hans Jonas und Herrn Dr. Götz Schmidt-Bremme. Mein größter Dank gilt jedoch meinen Eltern, Dr. Gundula und Michael Helmert, auf die ich selbst immer bauen konnte und ohne die das alles nichts geworden wäre. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Berlin, im Mai 2011
Volker Helmert
Inhaltsübersicht Erster Teil Einleitung
23
A. Thema und Ziel der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
B. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38
C. Methodische Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
Zweiter Teil Die Straftatbegriffe in Deutschland, England, Frankreich und Polen – Landesberichte
49
A. Der Straftatbegriff in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
B. Der Straftatbegriff in England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
C. Der Straftatbegriff in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 D. Der Straftatbegriff in Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
Dritter Teil Der Straftatbegriff im Rechtsvergleich
200
A. Allgemeine kritische Würdigung der untersuchten Straftatbegriffe . . . . . . . . . . . 200 B. Versuch einer Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 C. Kritische Würdigung des gefundenen Straftatbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
Inhaltsverzeichnis Erster Teil Einleitung
23
A. Thema und Ziel der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einführung in die Thematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Strafrechtsvergleichender Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Europastrafrechtlicher Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vertiefend: Vom Nutzen eines Straftatbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorzüge der Systembildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Notwendigkeit eines europäischen Dialogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Sachproblem hinter dem Straftatbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23 23 25 26 33 34 36 37
B. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38
C. Methodische Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die allgemeine Methodik der Strafrechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Methodische Grundentscheidungen des konkreten Vergleichsvorhabens . . 1. Methodik der Landesberichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Methodik des Vergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40 40 41 41 44
Zweiter Teil Die Straftatbegriffe in Deutschland, England, Frankreich und Polen – Landesberichte A. Der Straftatbegriff in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der klassische Verbrechensbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der neoklassische Verbrechensbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der finalistische Verbrechensbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Straftatbegriff in der aktuellen deutschen Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfassungsrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesetzlichkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Schuldprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die einzelnen Elemente des Verbrechens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49 49 49 49 51 52 52 53 53 54 55 55 55
12
Inhaltsverzeichnis b) Tatbestandsmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) „Objektiver Tatbestand“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Unterlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Erfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) (Quasi-)Kausalität und „objektive Zurechnung“ . . . . . . . . . bb) „Subjektiver Tatbestand“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Vorsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Besondere subjektive Tatbestandsmerkmale . . . . . . . . . . . . cc) Der Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Der Tatbestand des Versuchsdelikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtswidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Allgemeine Prinzipien der Rechtswidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Einzelne Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Rechtfertigender Notstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Einwilligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der freie Wille als Voraussetzung von Schuld . . . . . . . . . . . . . . bb) Das Schuldprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Der Schuldbegriff und seine Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Der Schuldbegriff in der Historie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Der Schuldbegriff in der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Die einzelnen Schuldelemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Schuldfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Spezielle Schuldmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Schuldform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Unrechtsbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Verbotsirrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Erlaubnistatbestandsirrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Fehlen von Schuldausschließungs- und Entschuldigungsgründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Entschuldigender Notstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Notwehrexzess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Sonstige Strafbarkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Besondere Rechtsfolgevoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Besondere Rechtsfolgehindernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Nachweis der Straftat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79 80 81 81 81 82 82
B. Der Straftatbegriff in England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einführung in das englische Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Quellen des englischen Strafrechts und ihr Zusammenspiel . . . . . . 2. Grundzüge des englischen Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83 83 84 86
57 58 58 59 60 61 63 63 65 65 66 67 68 69 70 70 71 71 72 73 73 75 75 76 77 77 78 78 79
Inhaltsverzeichnis
13
3. Neuere Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die historische Entwicklung des englischen Straftatbegriffs . . . . . . . . . . . . III. Der englische Straftatbegriff im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfassungsrechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Elemente der Strafbarkeit im englischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . a) Actus reus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Allgemeine Bestandteile des actus reus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Erfordernis eines willensgetragenen Verhaltens (voluntariness) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Unterlassung als actus reus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) „Natürliche“ und „rechtliche“ Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . cc) Der Nachweis des actus reus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Sonderfälle: Zustandsdelikte und „stellvertretende Verantwortlichkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mens rea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Formen der mens rea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Intention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Knowledge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Recklessness . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Fahrlässigkeit (negligence) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Der Nachweis der mens rea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Das Zusammenspiel zwischen mens rea und actus reus . . . . . . (1) Inhaltliche Kongruenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Zeitliche Kongruenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Strict liability als Ausnahme vom Erfordernis der mens rea . . (1) Begriff der strict liability und ihr Vorkommen . . . . . . . . . . (2) Die Charakterisierung einer Strafvorschrift als „strict“ . . (3) Kritik und neuere Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Einschub: Der Versuch einer Straftat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Verteidigungseinreden (defences) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Begriff und systematische Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Insbesondere: Rechtfertigende und entschuldigende Verteidigungseinreden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Überblick über ausgewählte Verteidigungseinreden . . . . . . . . . (1) Notstandskonstellationen (duress) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Notwehr (Private defence/Self defence) . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Strafunmündigkeit (infancy) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Geistig-seelische Störung (unfitness to plead; insanity) . . (5) Rausch (intoxication) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) Irrtümer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis dd) Der Nachweis der Verteidigungseinreden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 ee) Verteidigungseinreden und strict liability . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
C. Der Straftatbegriff in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die historische Entwicklung des französischen Straftatbegriffs . . . . . . . . . . III. Der französische Straftatbegriff im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das élément légal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Strafvorschrift als primäre Voraussetzung jeder Straftat . . . . . . aa) Klassifikation der Strafvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Verbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Delikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Übertretungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die näheren Ausprägungen des Gesetzlichkeitsprinzips . . . . . . cc) Das Auffinden der „richtigen“ Strafvorschrift und deren Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Neutralisierung der Strafvorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Insbesondere: Das Eingreifen rechtfertigender Umstände . . . . bb) Einzelne rechtfertigende Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Hoheitliche Anordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Notwehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Notstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Erforderlichkeit eines subjektiven Rechtfertigungselements? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Exkurs: Die Zustimmung des Opfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Der Nachweis rechtfertigender Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das élément matériel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begehungsdelikte und das Erfordernis einer Verhaltensfolge . . . . . b) Unterlassen als strafbares Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Der Nachweis des élément matériel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das élément moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zurechnungsfähigkeit und Gründe für ihr Fehlen . . . . . . . . . . . . . . . aa) Minderjährigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Psychische oder nervliche Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vorsatzschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Formen unvorsätzlicher Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Einfache Fahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Qualifizierte („charakteristische“) Fahrlässigkeit . . . . . . . .
128 128 129 131 131 132 133 134 134 134 135 137 137 137 139 139 140 141 142 142 143 144 145 147 148 150 151 152 152 153 153 154 155 155 157 159 160
Inhaltsverzeichnis
15
(3) Bewusste Gefährdungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Übertretungsschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Der Schuldausschluss wegen Irrtums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Maßgeblicher Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Der Nachweis des élément moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
161 162 163 164 164
D. Der Straftatbegriff in Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zwischen den Weltkriegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Strafrecht unter sowjetischem Stern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Politische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der materielle Verbrechensbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Historischer Ursprung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das „materielle Element“ im polnischen Strafgesetzbuch von 1969 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Reformbewegung und politische Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Weg zu einem neuen Strafgesetzbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Auswirkungen auf den Verbrechensbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Straftatbegriff im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verbotene Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesetzlichkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Allgemeine Aspekte der verbotenen Tat (Tatbestandsmäßigkeit) . . aa) Taterfolg, Kausalität und objektive Zurechnung . . . . . . . . . . . . . bb) Unterlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Vorsatz und Fahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtswidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einzelne Kontratypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Notwehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Rechtfertigender Notstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Gerechtfertigte Experimente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Sozialschädlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Sozialschädlichkeit als Element der Straftat . . . . . . . . . . . . . . . . b) Von der sozialen Gefährlichkeit zur Sozialschädlichkeit . . . . . . . . . c) Adressat des Prinzips der Sozialschädlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Inhaltliche Kriterien der Sozialschädlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Schuldbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
165 165 166 166 168 168 168 168 170 173 173 174 175 176 177 177 178 179 179 181 183 184 184 185 185 186 187 188 188 189 190 191 192 192 193
16
Inhaltsverzeichnis c) Gründe für den Ausschluss der Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Unzurechnungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Entschuldigender Notstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Irrtum über das Vorliegen eines Rechtfertigungs- oder Schuldausschließungsgrunds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Irrtum über die Rechtswidrigkeit einer Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Der Nachweis der Straftat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
195 195 196 197 198 199
Dritter Teil Der Straftatbegriff im Rechtsvergleich
200
A. Allgemeine kritische Würdigung der untersuchten Straftatmodelle . . . . . . . . . . I. Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
200 200 202 206 210
B. Versuch einer Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Strafrecht als Teil des öffentlichen Rechts – auch auf europäischer Ebene II. „Deutsches“ und „gemeinwesteuropäisches“ System und ihre Vereinbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Grundlegende Gemeinsamkeiten des Straftatbegriffs unter Einschluss prozessualer Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erfordernis eines Straftatbestands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsatz: Keine Strafe ohne Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konkretisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Klassische rechtsstaatliche Ausprägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Erfordernis eines formellen Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Strukturelle Verortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gemeinsame Elemente der Straftat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Menschliches Verhalten/Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Objektives“ Element . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Materieller Inhalt des „objektiven“ Elements . . . . . . . . . . . . . . . (1) Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Unterlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Erfolg, Kausalität und Zurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Fahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der Nachweis des „objektiven“ Elements . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Subjektives Element . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Materieller Inhalt des subjektiven Elements . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Vorsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
212 212 215 218 220 220 221 221 222 223 224 224 226 226 227 228 230 232 233 235 235 236 236
Inhaltsverzeichnis
17
(2) Fahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Sonderformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der Nachweis des subjektiven Elements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Verzichtbarkeit des subjektiven Elements? . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Aufhebung der tatbestandlichen Missbilligung . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Materielle Aufhebungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Rechtfertigende Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Vergleichende Betrachtung der behandelten Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Gemeinsames Rechtfertigungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . (2) Strafwürdige Schuld aufhebende Umstände . . . . . . . . . . . . (a) Freier Wille und Steuerungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . (b) Unrechtsbewusstsein/Irrtumskonstellationen . . . . . . . . (c) Entschuldigender Notstand/Zwang . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Vorsatz und Fahrlässigkeit, spezielle Schuldmerkmale (e) Gemeinsames Grundprinzip schuldaufhebender Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Materielle Unterscheidung zwischen rechtfertigenden und entschuldigenden Umständen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Fehlende Sozialschädlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Nachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
238 239 240 240 244 244 245
C. Kritische Würdigung des gefundenen Straftatbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundsätzliche Realisierbarkeit eines gemeineuropäischen Straftatbegriffs II. Kritikpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die verfehlte Aufspaltung des Tatbestands in ein „objektives“ und ein „subjektives“ Element . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Perspektivenbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemein: Maßgeblichkeit der Betroffenenperspektive . . . . . . . . . . b) Insbesondere: Individualisierendes Verständnis der Fahrlässigkeit . . 3. Das Verständnis des Versuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schuldaufhebende Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Nachweis der Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Schematische Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
246 247 249 250 253 254 255 256 259 261 264 266 269 269 269 270 273 273 273 275 276 277 278 278
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
Abkürzungsverzeichnis a. a. O. Abs. AC AEUV All ER AMG AnwBl. ARSP Art. Artt. AT avr. BGH BGHSt BMLR Bull. crim. BVerfG BVerfGE bzw. Cass. crim. ch. CJ cl. CLJ cll. CLP CommDH Cox CC CP CPP Cr App R Crim LR D. DC déc.
am angegebenen Ort Absatz Law Reports, Appeal Cases Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union All England Law Reports Arzneimittelgesetz Anwaltsblatt Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Artikel Artikel (Plural) Allgemeiner Teil avril Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Butterworths Medico-Legal Reports Bulletin des arrêts de la Cour de cassation, Chambre criminelle Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts beziehungsweise Cour de cassation, Chambre criminelle chapter Chief Justice clause Cambridge Law Journal clauses Current Legal Problems Commissaire aux droits de l’homme Cox’s Criminal Cases Code pénal Code de procédure pénale Criminal Appeal Reports Criminal Law Review Recueil Dalloz Recueil Dalloz critique décembre
20 dens. ders. dies. DP DPP Dr. pén. EG EGMR EMRK EU EuGH Eur. J. Crime Cr. L. Cr. J. EUV EWCA Crim f. Fasc. FAZ févr. ff. Fn. FS GA Gaz. Pal. GG GrS GS i.V. m. J janv. JCL JCP JO JP Jura JuS JZ Kap. KB KK KPK
Abkürzungsverzeichnis denselben derselbe dieselbe/dieselben Recueil Dalloz périodique Director of Public Prosecutions Revue Droit pénal Vertrag über die Europäische Gemeinschaft Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten Europäische Union/Vertrag über die Europäische Union Europäischer Gerichtshof European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice Vertrag über die Europäische Union Court of Appeal (Criminal Division) folgende (Seite oder Randnummer) Fascicule Frankfurter Allgemeine Zeitung février folgende (Seiten oder Randnummern) Fußnote Festschrift Goltdammer’s Archiv für Strafrecht Gazette du Palais Grundgesetz Großer Senat Gedächtnisschrift in Verbindung mit Judge janvier Journal of Criminal Law Jurisclasseur périodique (Semaine juridique) Journal officiel Justice of the Peace Reports Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristenzeitung Kapitel Law Reports, King’s Bench Kodeks karny Kodeks poste˛powania karnego
Abkürzungsverzeichnis Law Com LCJ Leg. Hen. LK m. Anm. MK në NJW NK No. nov. Nr. NStZ NStZ-RR oct. OSNKW OTK Pos. QB QBD R. RabelsZ Reg. RGSt Rn. Rs. RSC RSFSR RStGB s. S. sept. SK Slg. somm. StGB stopp TLR u. a. UKHL v.
21
Law Commission Lord Chief Justice Leges Henrici Leipziger Kommentar mit Anmerkung Münchener Kommentar numéro Neue Juristische Wochenschrift Nomos Kommentar number novembre Nummer Neue Zeitschrift für Strafrecht Neue Zeitschrift für Strafrecht – Rechtsprechungsreport octobre Orzecznictwo Sa˛du Najwyz˙szego – Izba Karna i Izba Wojskowa Orzecznictwo Trybunału Konstytucyjnego Position Law Reports, Queen’s Bench Law Reports, Queen’s Bench Division Rex Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Regina Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Randnummer Rechtssache Revue de science criminelle et de droit pénal comparé Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik Reichsstrafgesetzbuch siehe Seite septembre Systematischer Kommentar Sammlung Sommaires commentés (Dalloz) Strafgesetzbuch Strafprozessordnung Times Law Reports und andere/unter anderem United Kingdom House of Lords versus
22 vgl. wistra WLR z. B. Ziff. ZIS ZRP ZStW
Abkürzungsverzeichnis vergleiche Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht Weekly Law Reports zum Beispiel Ziffer Zeitschrift für internationales Strafrecht Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft
Erster Teil
Einleitung „Die Klarlegung der allgemeinen Merkmale des Verbrechensbegriffs ist notwendig international.“ Franz v. Liszt, 18941
A. Thema und Ziel der Untersuchung I. Einführung in die Thematik Wie immer man zur These v. Liszts über die Internationalität des Verbrechensbegriffs2 stehen mag – eines ist gewiss: Jedenfalls in der deutschen Strafrechtswissenschaft ist die „Klarlegung“ seiner allgemeinen Merkmale auch über ein Jahrhundert später noch immer von zentraler Relevanz.3 Dieser Befund leuchtet unmittelbar ein, wenn man sich vergegenwärtigt, was der Straftatbegriff leistet bzw. leisten soll: nämlich in allgemeiner, dogmatisch-abstrakter Weise zu umschreiben, was „die Tat zur Straftat macht.“4 Anders gewendet: Er bezeichnet die Gesamtheit derjenigen Voraussetzungen, die vorliegen müssen, damit der Staat auf das Verhalten eines Menschen mit Strafe (oder anderen strafrechtlichen Sanktionen) reagieren darf.5 Die in Deutschland vorherrschende Auffassung erfasst diese Voraussetzungen bekanntlich in den Systemkategorien der Handlung, der Tatbestandsmäßigkeit, der Rechtswidrigkeit und der Schuld sowie der gegebenen-
1 v. Liszt, Einführung, S. XXIV. Aus jüngster Zeit s. Silva Sánchez, GA 2004, 679 (680); Robles Planas, ZIS 2010, 357 (361): „Seit geraumer Zeit kennt die Dogmatik keine Grenzen.“ Für das Völkerstrafrecht vgl. jüngst Stuckenberg, S. 35 mit Fn. 163. 2 Im Folgenden werden die Bezeichnungen Verbrechens- und Straftatbegriff synonym verwendet; im Schrifttum wird auch von dem Verbrechens- oder Straftatsystem sowie von den materiellen Elementen der Strafbarkeit gesprochen. 3 s. etwa Walter, Der Kern des Strafrechts, S. VIII: „Die Verbrechenslehre ist die Grundlage der Strafrechtsdogmatik und [. . .] nicht weniger als der Kern des Strafrechts.“ 4 So die plastische Formulierung Frischs, in: Wolter/Freund, S. 135. Zur Funktion des Straftatbegriffs noch näher unten II. 5 Vgl. Roxin, AT I, § 7 Rn. 1 ff.; Jescheck/Weigend, S. 194 f.; Baumann/Weber/ Mitsch, § 11 Vor Rn. 1; Ambos, Cardozo Law Review 28 (2007), 2647 (2647).
24
1. Teil: Einleitung
falls hinzu kommenden besonderen Strafbarkeitsbedingungen.6 So aufgefasst, bildet der Straftatbegriff zugleich das Programm, nach dem Studenten, Staatsanwälte und Strafrichter prüfen und entscheiden, ob das Tun oder Unterlassen einer Person straflos oder strafbar ist.7 Für den deutschen Juristen erscheint die Lehre von der Straftat heute als eine rein nationale Angelegenheit. Das war freilich nicht immer so. Blickt man nur weit genug in die Vergangenheit, so wird offenbar, dass die verschiedenen europäischen Verbrechenslehren gemeinsame Wurzeln haben.8 Diese Wurzeln erstrecken sich bis in das Italien des 12. Jahrhunderts. Als die Juristen an den dortigen Akademien das Recht des antiken Roms wiederentdeckten, da bezog sich diese Entdeckung ja nicht nur auf das Zivil-, sondern auch auf das Strafrecht.9 Langsam, aber sicher erwuchs auch aus dieser zweiten Saat ein eigener Zweig der Wissenschaft, der sich allmählich über die oberitalienischen Grenzen hinweg ausbreitete – auch nach Deutschland. Anfangs wurde das neue Gedankengut, wurden gerade auch die allgemeinen Lehren vom Verbrechen lediglich rezipiert in der Gestalt, wie sie die Postglossatoren und deren Nachfolger aus den römischen Quellen geschöpft hatten.10 Bald jedoch emanzipierten sich allenthalben Rechtsgelehrte von diesen Vorbildern, traten mit eigenen Erkenntnissen in Erscheinung und tauschten diese in einem grenzüberschreitenden Wissenschaftsdialog aus. Im 16. Jahrhundert, unter dem Himmel des Humanismus, stand dieser Dialog in voller Blüte; und es ist wohl eine nur geringe Übertreibung, wenn man die damalige Strafrechtswissenschaft im Rückblick als eine „europäische“ Disziplin preist.11 Die deutschen Dogmatiker der Epoche etwa waren maßgeblich beeinflusst durch Gelehrte aus halb Europa: Andreas Tiraquellus aus Frankreich, Tiberius Decianus aus Italien, Jodocus Damhouder aus den Niederlanden und Didacus Covarruvias aus Spanien.12 Und wenngleich schon das folgende Jahrhundert die nationalen Zweige der Strafrechtswissenschaft wieder voneinander 6 s. statt aller Roxin, AT I, § 7 Rn. 3. – Prozessuale Aspekte werden dabei meist ausgeklammert, obwohl die Übergänge von den materiell- zu den prozessrechtlichen Voraussetzungen der Strafe mitunter fließend sind; s dazu noch unten C. II. 1. 7 Vgl. Kindhäuser, LPK, Vor § 13 Rn. 2. 8 Schaffstein, Europäische Strafrechtswissenschaft, S. 10 f.; Hünerfeld, Strafrechtsdogmatik, S. 243 f.; ders., ZStW 93 (1981), 979 (979 f.); Jescheck, ZStW 98 (1986), 1 (2 f.); Perron, ZStW 109 (1997), 281 (283 f.); Tiedemann, FS Lenckner, S. 411 (412); Grünhut, S. 141 f.; Bock, ZIS 2006, 7 (7, 13 f.); zusammenfassend zuletzt Stuckenberg, S. 35, Fn. 163. Zweifelnd wohl Kühl, ZStW 109 (1997), 777 (794). Aus französischer Perspektive s. Jeanclos, S. 24 ff. 9 Schaffstein, Die allgemeine Lehren vom Verbrechen, S. 3; 24; Hünerfeld, Strafrechtsdogmatik, S. 243; Bock, ZIS 2006, 7 (11). 10 Schaffstein, Die allgemeinen Lehren vom Verbrechen, S. 24. 11 So Bock, ZIS 2006, 7 (15 f.); vgl. auch Pagliaro, Madrid-Symposium, S. 379. 12 Schaffstein, Die allgemeinen Lehren vom Verbrechen, S. 3 f.; ders., Europäische Strafrechtswissenschaft, S. 10 f., mit Einschränkung alerdings hinsichtlich des humanistischen Einflusses in Spanien, S. 69 f.
A. Thema und Ziel der Untersuchung
25
zu entfernen begann, konnte doch noch 1841 der französische Kriminalist Joseph Ortolan nicht ohne Stolz feststellen: „Römisches Recht, kanonisches Recht, Rechtsprechung: all das ist gesamteuropäisch. Und darum gehört der Strafrechtsgelehrte allen Ländern an und entfaltet in allen Autorität.“13
Die Saat des humanistischen Zeitalters ist mit Ausbildung und zunehmendem Erstarken der Nationalstaaten in unterschiedliche Richtungen weitergewachsen.14 Partikulare Strafrechte und nationale Rechtsanschauungen sind entstanden, landes- oder doch rechtskreisspezifische Verästelungen haben sich ausgebildet und weitestgehend eigenständig entwickelt. Auch der Begriff der Straftat ist – natürlich – von dieser Entwicklung gezeichnet. Und so gibt es heute zwar in allen ausländischen Rechtsordnungen, die sich systematisch-wissenschaftlich mit den Bedingungen der Strafbarkeit beschäftigen, einen allgemeinen Verbrechensbegriff. Je nachdem, welche geschichtlichen und philosophischen Einflüsse in den einzelnen Rechtsordnungen wirkten, unterscheiden sich die dortigen Konzepte aber strukturell von ihrem deutschen Pendant. In der vorliegenden Arbeit soll nun der Versuch unternommen werden, die Straftatbegriffe vier ausgewählter europäischer Rechtsordnungen – der deutschen, der englisch-walisischen15, der französischen und der polnischen16 – miteinander zu vergleichen, ihre Unterschiede und Gemeinsamkeiten auszumachen und nach Möglichkeit auf dieser Grundlage Ansätze eines übergreifenden, gemeinsamen Straftatbegriffs zu erarbeiten. Dieses Unterfangen verspricht in zweifacher Hinsicht lohnend zu sein: zum einen allgemein unter dem Aspekt der Strafrechtsvergleichung zum anderen speziell mit Blick auf jene Entwicklung, die seit geraumer Zeit unter dem Schlagwort der Europäisierung des Strafrechts von sich reden macht. 1. Strafrechtsvergleichender Ansatz Vergleichende Analysen auf dem Gebiet des Strafrechts sind keine Neuheit; sie stehen vielmehr in einer langen Tradition, die bis an den Anfang des 19. Jahrhun13 Ortolan, Cours, S. 106 („Droit romain, Droit canonique, Jurisprudence: voilà ce qui appartient à toute l’Europe. Voilà ce qui fait que le jurisconsulte criminaliste est de tous les pays et fait autorité dans tous.“). – Zum methodischen Umgang mit ausländischen Originaltexten s. noch unten C. II. 1. am Ende. 14 Hünerfeld, Strafrechtsdogmatik, S. 244; Perron, ZStW 109 (1997), 281 (284); Bock, ZIS 2006, 7 (15). 15 Es gibt im Vereinigten Königreich ein einheitliches Strafrecht für England und Wales und jeweils eigene für Schottland und Nordirland; vgl. Forster, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 1, S. 127 (141). Nur das erste ist Gegenstand des hiesigen Vergleichs. Im Sinne besserer Lesbarkeit wird im Folgenden nur von „England“ und vom „englischen“ Strafrecht die Rede sein. 16 Zur Auswahl der Länder unter methodischen Gesichtspunkten s. unten C. II. 1.
26
1. Teil: Einleitung
derts zurückreicht.17 Der mögliche Nutzen solcher Untersuchungen ist vielfältig.18 In einem eher abstrakten Sinn vermag der Blick über den „nationalen Tellerrand“ die theoretische Reflexion über das Recht als solches zu befördern; und er zeigt, in welchen Situationen und auf welche Weise andere Gesellschaften das Strafrecht einsetzen. Darüber hinaus kann die Vergleichung aber auch handfesten praktischen Zwecken dienen, etwa im Vorfeld von Rechtsvereinheitlichungs- und sonstigen Gesetzgebungsprozessen, ferner bei der Organisation und Intensivierung internationaler Zusammenarbeit im Bereich der Strafrechtspflege, in selteneren Fällen auch bei der Anwendung rein nationalen Rechts.19 In Bezug auf die vorliegende Untersuchung ist sicher nicht jede dieser denkbaren Funktionen der Strafrechtsvergleichung einschlägig. Eindeutig im Vordergrund steht hier zunächst einmal das Ziel des Erkenntnisgewinns für die Strafrechtswissenschaft. Denn wie generell, so gilt natürlich auch im Kontext des Straftatbegriffs, dass eine größere Anzahl verschiedener Rechtsordnungen mehr Antworten auf eine gemeinsame Sachfrage liefern kann – hier eben auf die grundlegende Frage, unter welchen Bedingungen Strafe die legitime Reaktion auf ein menschliches Verhalten ist. Der Vergleich solcher verschiedenen Lösungen ermöglicht es, Stärken und Schwachpunkte eines eigenen Modells zu erkennen, es gegebenenfalls zu modifizieren und zu verbessern. Eine derartige befruchtende Wirkung auf die nationale Rechtsdogmatik ist der anerkannte Nutzen jeglicher Rechtsvergleichung.20 2. Europastrafrechtlicher Ansatz Das Strafrecht, über lange Jahre vermeintlich „europafest“,21 ist längst von der Dynamik des europäischen Einigungsprozesses erfasst worden.22 Vor diesem Hintergrund will die vorliegende Arbeit versuchen, ihren rechtsvergleichenden Ansatz speziell auch in einer europäischen Dimension nutzbar zu machen. Kon17 Jescheck, Strafrechtsvergleichung, S. 10 ff.; Jung, JuS 1998, 1; LK-Walter, Vor § 13 Rn. 204. 18 Zum Folgenden vgl. Jescheck, Strafrechtsvergleichung, S. 25 ff.; Jescheck/Weigend, S. 44 f.; Jung, JuS 1998, S. 1 (5 f.); LK-Walter, Vor § 13 Rn. 202 f. 19 So hat etwa der BGH seine Entscheidung zur unterbliebenen Belehrung des Beschuldigten über sein Schweigerecht mittels einer rechtsvergleichenden Betrachtung abgesichert: BGHSt 38, 214 (228 ff.). 20 Vgl. Kühl, ZStW 109 (1997), S. 777 (791); Tiedemann, FS Lenckner, S. 411 (413); LK-Walter, Vor § 13 Rn. 202, Sieber/Cornils, S. V, und aus dem Bereich der Privatrechtsvergleichung Zweigert/Kötz, S. 14. – Dieser Nutzen besteht für sich und unabhängig von dem sogleich thematisierten europastrafrechtlichen Aspekt der Arbeit. 21 Noch im Jahr 2000 schrieb Kühl, FS Söllner, 613 (613), das Strafrecht sei „von [der] Europäisierung bisher weitgehend unberührt geblieben.“ 22 Für Hefendehl, ZIS 2006, 161 (164), ist „ein europäisches Strafrecht [. . .] längst Realität“. Im November 2007 befasste sich auch der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages im Rahmen eines öffentlichen Expertengesprächs mit dem Thema.
A. Thema und Ziel der Untersuchung
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kret: Der im Vergleich zu ermittelnde gemeinsame Straftatbegriff soll zugleich als Analyseinstrument für ein etwaiges gemeineuropäisches Strafrecht taugen. Dieser zweite Ansatz mag Widerspruch provozieren. Denn es steht zwar außer Frage, dass von Europa – vor allem von der Europäischen Union – erhebliche Einflüsse auf die nationalen Strafrechte ausgehen.23 Die Mitgliedstaaten müssen etwa den Anwendungsvorrang des Europarechts beachten, sie haben ihre Strafrechte nach europäischen Vorgaben zu harmonisieren, und derart entstandene nationale Strafgesetze sind auch „europarechtskonform auszulegen“24. Europäisches Strafrecht im Sinne eines originären Kriminalstrafrechts gibt es bislang aber nicht: Es existiert keine unmittelbar geltende europäische Rechtsnorm, die ein bestimmtes Verhalten mit einer bestimmten Strafe sanktionierte.25 Bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon konnte es eine solche Rechtsnorm nach überwiegender Auffassung auch nicht geben: Nach dem (damals wie heute geltenden) Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung dürfen die europäischen Organe bekanntlich nur insoweit tätig werden, wie sie über einen wenigstens im Wege der „Auslegung“ nachweisbaren Kompetenztitel verfügen.26 Für den gesamten Bereich „echten“ Kriminalstrafrechts fehlte es vor dem 1. Dezember 2009 aber an einer solchen Einzelermächtigung.27 Auch der Europäische Ge23 Diese Einflüsse brauchen hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Sie sind ausführlich dargestellt für die Rechtslage vor dem Vertrag von Lissabon bei Satzger, Europäisierung, S. 57 ff., 187 ff., 291 ff., 475 ff., 655 ff.; ders., Europäisches Strafrecht, § 7 Rn. 2 ff. Zur Rechtslage nach Lissabon s. etwa Hecker, §§ 7 ff.; Pradel/Corstens/ Vermeulen, Rn. 724 ff.; Sieber, ZStW 121 (2009), 1 (53 ff.); Zimmermann, Jura 2009, 844 (844 ff.); Frenz/Wübbenhorst, wistra 2009, 449 (449 f.); Heger, ZIS 2009, 406 (406 ff.); Brodowski, ZIS 2010, 376 (376 f.); Beukelmann, NJW 2010, 2081 (2081 f.). 24 Weshalb der Begriff der „Auslegung“ (generell) Anführungszeichen verdient, erläutert Grasnick, JZ 2004, 232 (232 ff.); ders., FS Herzberg, S. 73 (74 ff.); s. auch Haft, S. 38, und Robles Planas, ZIS 2010, 357 (358). 25 Satzger/Schmitt/Widmaier/Satzger, Vor §§ 1 ff. Rn. 10; Baumann/Weber/Mitsch, § 7 Rn. 84; Braum, S. 1; Deutscher, S. 388 f.; Hecker, § 4 Rn. 67 ff., 82; Jung, JuS 2000, 417 (419); Tiedemann, ZStW 116 (2004), 945 (947); Ligeti, S. 247. – Auch Art. 30 der EuGH-Satzung (i.V. m. einem nationalen Aussagedelikt) bildet keinen europäischen (Gesamt-)Straftatbestand; dazu zutreffend Satzger, Europäisches Strafrecht, § 7 Rn. 14 ff.; anderer Ansicht Böse, Strafen und Sanktionen, S. 108. Nach der genannten Vorschrift hat jeder Mitgliedstaat „die Eidesverletzung eines Zeugen oder Sachverständigen [lediglich, V. H.] wie eine vor seinen eigenen in Zivilsachen zuständigen Gerichten begangene Straftat“ zu behandeln. Und auch unmittelbar anwendbare Verwaltungssanktionen sind kein europäisches Strafrecht: Sie mögen zwar „punitiv“ wirken, sie ordnen aber weder Geld- noch Freiheitsstrafen an. Dazu Satzger, Europäisches Strafrecht, § 7 Rn. 3. 26 Haratsch/Koenig/Pechstein, Rn. 168. – Früher in Art. 5 Abs. 1 EG geregelt, findet sich das Prinzip jetzt (auch als solches benannt) in Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV sowie in Art. 7 AEUV. 27 In diesem (herrschenden) Sinne s. ausführlich Satzger, Europäisierung, S. 90 ff.; ders., Europäisches Strafrecht, § 7 Rn. 23 ff.; Fromm, Finanzinteressen, S. 107 ff. (zusammenfassend: 327 ff.); ders., ZIS 2007, 26 (29 ff.); Schröder, S. 145 f.; Schünemann, GA 2002, 501 (502, 505); auch BGHSt 41, 127 (131 f.). Eine (beschränkte) Kompetenz
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1. Teil: Einleitung
richtshof hat den bis dahin geltenden Verträgen keine Kompetenz der Gemeinschaft zur Strafrechtsetzung entnommen.28 Unter der Lissabonner Vertragsarchitektur stellt sich die Rechtslage nun allerdings neu dar, Art. 325 Abs. 4 AEUV: „Zur Gewährleistung eines effektiven und gleichwertigen Schutzes in den Mitgliedstaaten sowie in den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union beschließen das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nach Anhörung des Rechnungshofs die erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten.“
Auf den ersten Blick mag das nicht allzu spektakulär anmuten: Die Formulierung entspricht in der Sache dem früheren Art. 280 Abs. 4 Satz 1 EG. Eine Kompetenz zur Strafrechtsetzung ist damals wie heute nicht explizit erwähnt. Doch gerade aus dem, was die neue Regelung nicht (mehr) erwähnt, bezieht sie nun Sprengkraft. Im alten Art. 280 Abs. 4 EG folgte bekanntlich ein Satz 2: „Die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten und ihre Strafrechtspflege bleibt von diesen Maßnahmen unberührt.“
Diese Einschränkung ist nunmehr ersatzlos weggefallen. Gerade sie diente bislang aber als wesentliches Argument gegen die Annahme einer Strafrechtsetzungskompetenz der Gemeinschaft29 – was den „Herren der Verträge“ selbstzum Erlass von Strafvorschriften bereits unter jetziger Rechtslage bejahen dagegen z. B. Tiedemann, GA 1998, 107 (108, Fn. 7); ders., FS Roxin, S. 1401 (1406 ff.); Dannecker, FS Hirsch, S. 141 (144); Böse, Strafen und Sanktionen, S. 55 ff.; ders., GA 2006, 211 (211 ff.); Zieschang, FS Tiedemann, S. 1303 (1307 f.); und aus italienischer Sicht auch Zuccalà, GS Schlüchter, S. 117 (122 ff.). 28 Auch nicht in seinen Aufsehen erregenden Urteilen vom 16.6.2005, Rs. C-105/03 – Pupino –, Slg. 2005, I-5285 ff., und vom 13.9.2005, Rs. C-176/03 – Kommission/ Rat –, Slg. 2005, I-7879 ff. Darin war jeweils zu entscheiden, ob eine Anweisungskompetenz der EU (konkret: zur Harmonisierung der nationalen Umweltstraf- und Strafverfahrensrechte) auf die Erste Säule zu stützen sei, also supranationalem Gemeinschaftsrecht entspringt, oder auf die Dritte Säule, also (nur) intergouvernementalen Charakter hat. Der EuGH entschied im ersteren Sinne: Bestehe eine Kompetenz des Gemeinschaftsgesetzgebers auf dem Gebiet der gemeinsamen Politiken sowie der Grundfreiheiten, so könne er in diesen Bereichen auch den Einsatz des Strafrechts verlangen, wenn nur dieses „volle Wirksamkeit“ verspreche (Urteil vom 13.9.2005, Ziff. 48). – Manche fassten diese Rechtsprechung so auf, der EuGH habe der Gemeinschaft damit eine Strafrechtsetzungskompetenz eröffnet; vgl. Schriever, AnwBl. 3/2006, VI. Richtigerweise wird man diese Wirkung dem Urteil jedoch nicht entnehmen können; so auch Heger, JZ 2006, 310 (311); Hefendehl, ZIS 2006, 161 (166); Kaiafa-Gbandi, ZIS 2006, 521 (525, Fn. 38); Rosenau, ZIS 2008, 9 (13). Immerhin für nicht ausgeschlossen erachteten eine Strafrechtsetzungskompetenz nach den genannten Urteilen Pohl, ZIS 2006, 213 (220), und Fromm, ZIS 2007, 26 (37). 29 s. etwa Satzger, Europäisches Strafrecht, § 7 Rn. 28; Rosenau, ZIS 2008, 9 (14 f.). Anderer Ansicht zufolge lässt sich der zitierte Vorbehalt freilich auch heute schon so interpretieren, dass er eine solche Kompetenz nicht ausschließt, in diesem Sinne etwa Zieschang, ZStW 113 (2001), 255 (261); Zuccalà, GS Schlüchter, S. 117 (123 ff.);
A. Thema und Ziel der Untersuchung
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verständlich auch bekannt war.30 Dennoch stimmten letztendlich alle Mitgliedstaaten zu, die Einschränkung zu streichen. Wortlaut und Historie des neuen Art. 325 Abs. 4 AEUV lassen demnach den Schluss zu: Der Union soll die Kompetenz offen stehen, unmittelbar geltende europäische Strafgesetze zu erlassen, wenn auch beschränkt auf das Feld der Betrügereien zu Lasten ihrer Finanzinteressen.31 Nun gibt es aus genereller rechtspolitischer32 und rechtsphilosophischer33 Sicht zweifellos gute Gründe gegen eine solche unmittelbare Strafrechtsetzungskompetenz der Union.34 Und auch der Vertrag von Lissabon selbst liefert ein gewichtiges systematisches Argument gegen deren Annahme: Wenn die Union nach Art. 83 Abs. 1 oder 2 AEUV (bloße) Richtlinien zur (bloßen) Harmonisierung des materiellen Strafrechts erlässt, können die Mitgliedstaaten hiergegen die „Notbremse“ nach Abs. 3 ziehen. Es mutet wertungswidersprüchlich an, wenn Art. 325 Abs. 4 AEUV ungebremst „Maßnahmen“ – einschließlich Verordnungen – zuließe, die sogar unmittelbar geltende europäische (Betrugs-)StraftatbeBöse, GA 2006, 211 (214 f.). Zu dem Ergebnis eines Redaktionsversehens der Amsterdamer Vertragsautoren gelangt nach eingehender Prüfung Fromm, ZIS 2007, 26 (29 ff.). 30 Die Mitgliedstaaten waren spätestens seit den Verhandlungen über den Vertrag von Nizza problembewusst: Sie lehnten damals einen entsprechenden Vorschlag der Kommission noch ab; vgl. Satzger, Europäisches Strafrecht, § 7 Rn. 29. 31 So bereits in der Vorausschau Satzger, Europäisches Strafrecht, § 7 Rn. 41 f.; Tiedemann, ZStW 116 (2004), 945 (955); T. Weigend, ZStW 116 (2004), 275 (287 f.); Walter, ZStW 117 (2005), 912 (917 f.); Dannecker, Jura 2006, 173 (176 f.); Zieschang, FS Tiedemann, S. 1303 (1308 f.); Rosenau, ZIS 2008, 9 (16) – dieser sprach insoweit von der „tiefgreifendsten Kompetenzerweiterung in der Geschichte der europäischen Einigung“. Zuletzt weiterhin in diesem Sinne Satzger, ZIS 2009, 691 (692); ders., ZRP 2010, 137 (137); Zimmermann, Jura 2009, 844 (845 f.); Meyer, NStZ 2009, 657 (658); Ambos/Rackow, ZIS 2009, 397 (401); Hecker, § 4 Rn. 81, § 14 Rn. 43 f.; Schönke/ Schröder/Eser/Hecker, Vorbem. § 1 Rn. 29; tendenziell auch Sieber, ZStW 2009, 1 (59), dem zufolge allerdings der Subsidiaritätsgrundsatz einer Verordnungskompetenz entgegen steht, solange das erstrebte Sanktionsziel (wie derzeit der Fall) auch durch Richtlinien erreichbar sei. Für Heger, ZIS 2009, 406 (416), schließlich ist die Strafrechtsetzungskompetenz zum Schutz der finanziellen Interessen der EU „nicht ausgeschlossen, setzt aber wohl grundsätzlich die Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft voraus.“ Kritisch, eine Unionskompetenz im Ergebnis jedoch ebenfalls für begründbar haltend schließlich Böse, ZIS 2010, 76 (87 f.). 32 Prinzipiell ablehnend z. B. Schomburg, NJW 2001, 801 (801); ihm folgend MKAmbos, Vor §§ 3–7 Rn. 7. Kritisch zur Berechtigung eines gemeineuropäischen Strafrechts etwa auch Klip, ZStW 117 (2005), 889 (898 ff.); Kaiafa-Gbandi, ZIS 2006, 521 (526 f.); Zoll, ZStW 117 (2005), 749 (750); Meyer, S. 124; Pastor Muñoz, GA 2010, 84 (97), will die Europäisierung in engen Grenzen gehalten wissen. 33 Frisch, GA 2007, 250 (264 ff.). 34 Grundsätzlich befürwortend „zumindest im Kernstrafrecht“ dagegen etwa Sieber, GS Schlüchter, 107 (116). Selbst dann könnte man jedoch mit Recht erwarten, dass eine solche Kompetenznorm ob ihrer offenkundigen Eingriffsintensität wenigstens explizit formuliert wäre. Zu der Frage, ob (etwaige) Kompetenznormen restriktiv zu verstehen wären – z. B. aus Demokratie- oder Bestimmtheitserwägungen –, s. eingehend Satzger, Europäisierung, S. 109 ff. (bereits unter der alten Vertragsrechtslage).
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1. Teil: Einleitung
stände schüfen.35 In diesem Sinne geht offenbar auch das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass die Anweisungskompetenzen des Art. 83 AEUV abschließend zu verstehen sind, also keinen Raum lassen für eine bereichsspezifische weiter gehende Rechtsetzungsbefugnis in Art. 325 Abs. 4 AEUV.36 Der vermeintliche Wertungswiderspruch könnte sich freilich auch auflösen lassen – und zwar mit dem Argument, dass es in Art. 325 Abs. 4 AEUV (anders als bei Art. 83 AEUV) um den Schutz eigener Rechtsgüter der Union geht.37 Die ratio des Notbremsenmechanismus käme dann gar nicht zum Tragen; demokratisch zu legitimieren wäre das so geschaffene europäische Strafrecht durch das Europäische Parlament.38 Man wird vermuten dürfen, dass diese Sichtweise auf Unionsseite manche Sympathie finden würde. Aktuell stellt sich die Frage zwar noch nicht, enthält doch das vom Europäischen Rat im Dezember 2009 verabschiedete „Stockholmer Programm“39 bis zum Jahr 2014 keine Pläne, die Finanzinteressen der Union mit unionsstrafrechtlichen Mitteln zu schützen. Dabei muss es aber selbstverständlich nicht bleiben. Käme es künftig zu entsprechenden Gesetzgebungsakten, würden sie über kurz oder lang vor dem Europäischen Gerichtshof landen. Dessen Entscheidung zu prognostizieren, braucht es aber wenig Phantasie: Er dürfte sich kaum abhalten lassen, Art. 325 Abs. 4 AEUV im Sinne einer Unionszuständigkeit zur Schaffung unmittelbar geltender Betrugstatbestände zu lesen. Das deutsche Lissabon-Urteil würde ihn daran jedenfalls nicht hindern.40 Und auch der Subsidiaritätsgrundsatz41 dürfte sich als überwindbare Hürde erweisen: Es wird nicht allzu schwer fallen zu argumentieren, dass der Schutz der – unbestreitbar gewichtigen – Finanzinteressen der Union sich nur auf 35 Heger, ZIS 2009, 406 (415); mit noch weiteren starken Argumenten Böse, ZIS 2010, 76 (87 f.). 36 Das Gericht bezieht hierzu in seinem Lissabon-Urteil deutlichstmöglich Stellung – indem es Art. 325 Abs. 4 AEUV gar nicht erwähnt; BVerfG, NJW 2009, 2267 (2287 ff.). Ebenso verfahren auch Brodowski, ZIS 2010, 376 ff., und Beukelmann, NJW 2010, 2081 ff., in ihren Überblicken zum europäischen Strafrecht nach Lissabon. – Schon BVerfG, NJW 2005, 2289 (2291), ließ deutliche Skepsis gegenüber Harmonisierungsbestrebungen im Bereich des materiellen Strafrechts erkennen (vgl. insbesondere auch die abweichende Meinung der Richterin Lübbe-Wolff, a. a. O., 2299). 37 Böse, ZIS 2010, 76 (88). 38 s. näher Böse, ZIS 2010, 76 (88). 39 „Das Stockholmer Programm – Ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger“, Ratsdokument 17024/09, Anlage. 40 Mit Recht bemerkt Meyer, NStZ 2009, 657 (658), dass das BVerfG „das massiv erweiterte Kompetenzprogramm“ der EU letztlich „absegnet“. Zwar behält es sich weiterhin eine Identitäts- und ultra-vires-Kontrolle vor, s. BVerfG, NJW 2009, 2267 (2272 ff.). Ob es aber auf diesem Weg einen offenen Kompetenzkonflikt mit dem EuGH riskieren würde – und überdies für sich entscheiden könnte –, erscheint fraglich. Zweifelnd hinsichtlich der Effektivität der Lösungsansätze des BVerfG auch Folz, ZIS 2009, 427 (430 f.). 41 Der nach Sieber, ZStW 121 (2009), 1 (59), dem Erlass unmittelbar geltenden (Verordnungs-)Strafrechts gegenwärtig entgegen steht.
A. Thema und Ziel der Untersuchung
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europäischer Ebene ausreichend verwirklichen lasse.42 Schließlich hat der Europäische Gerichtshof gerade im Bereich des Strafrechts schon hinlänglich unter Beweis gestellt, zu welch „dynamischer Interpretation“ er im Interesse der Union willens und fähig ist.43 Aus einer machtpolitischen Sichtweise, die hier selbstverständlich neben der rein rechtsdogmatischen Perspektive besteht, erscheint dies auch nachvollziehbar: Neue Kompetenzen bedeuten neue Einflusssphären, die in jeder institutionellen Auseinandersetzung per se willkommen sind. Es spricht daher einiges dafür, dass die Europäische Union die sich bietende Möglichkeit unmittelbarer Strafrechtsetzung zumindest mittelfristig nutzen wird.44 Das Entscheidende an dieser Prognose ist nun dies: Sollte auch nur ein einziger originär europäischer Straftatbestand geschaffen werden, so stellten sich unweigerlich die klassischen Probleme eines Allgemeinen Teils.45 Etwa: Muss der Tatbestand vorsätzlich erfüllt werden, und wann genau ist das der Fall? Steht eine Unterlassung aktivem Tun gleich? Ist der Versuch strafbar, und wann liegt ein solcher strafbarer Versuch vor? Wie sind Irrtümer zu behandeln? Letzten Endes laufen all diese Fragen zugleich aber auf die Herausforderung hinaus, einen allgemeinen Begriff der Straftat zu entwickeln:46 42
Zu Vorteilen des supranationalen Modells allgemein Sieber, ZStW 121 (2009), 1
(44). 43 Man denke etwa an die Urteile vom 16.6.2005, Rs. C-105/03 – Pupino –, Slg. 2005, I-5285 ff., und vom 13.9.2005, Rs. C-176/03 – Kommission/Rat –, Slg. 2005, I-7879 ff. Skeptisch zur künftigen Prüfung seitens des EuGH auch Zimmermann, Jura 2009, 844 (850); s. auch Meyer, NStZ 2009, 657 (660). 44 Vgl. auch (bereits unter der alten Vertragsrechtslage) Satzger, Europäisches Strafrecht, § 7 Rn. 2 („nur eine Frage der Zeit [. . .], bis einzelne europäische Kriminalstraftatbestände erlassen werden.“). Schöberl, S. 263, hält auf längere Sicht gar ein einheitliches europäisches Strafgesetzbuch für „keineswegs vermessen“; ebenso auch Roxin, FS Szwarc, S. 79 (89 f.). s. ferner Otto, § 2 Rn. 18: „Tendenzen [. . .] letztlich in Richtung auf ein gemeinsames Strafrecht der EU, da mehrere Strafrechtsordnungen in den einzelnen Mitgliedstaaten kaum auf Dauer miteinander verträglich sind.“ Auch Tiedemann, in: Huber, S. 61, betont unter Verweis auf das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs die theoretische Machbarkeit einer europäischen Kodifikation. s. schließlich auch Deutscher, S. 4 ff. mit weiteren Nachweisen, und Sieber, ZStW 121 (2009), 1 (66), sowie aus französischer Sicht Pin, Rn. 70 („Prozess lang, aber im Gange“). 45 In diesem Sinne auch Dannecker, FS Hirsch, S. 141 (172 f.); T. Weigend, FS Roxin, S. 1375 (1379 f.); Deutscher, S. 440 ff.; Brockhaus, S. 10; Stein, S. 7 f.; vgl. auch Tiedemann, Freiburg-Symposium, S. 3 (5 f., 19); und jüngst Zimmermann, Jura 2009, 844 (846). 46 So mit Recht Perron, FS Lenckner, 227 (228). Wenn es bei einer Harmonisierung des materiellen Strafrechts über Art. 83 Abs. 1 und 2 AEUV bliebe, würde dieser Befund nicht zwingend gelten. Auch dann aber wäre eine Verständigung über die allgemeinen Voraussetzungen der Strafbarkeit jedenfalls hilfreich. – Vgl. jüngst auch Satzger, ZRP 2010, 137 (138): „Wenn schon strafrechtliche Entscheidungen auf der Ebene der EU fallen – so der Ansatz – dann aber als Ergebnis einer bewussten Kriminalpolitik innerhalb eines in sich stimmigen, bestimmten Grundanforderungen genügenden Strafrechtssystems.“ Zu den Schwierigkeiten einer solchen gemeinsamen Kriminalpolitik s. Kubiciel, GA 2010, 99 (112 f.).
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1. Teil: Einleitung
Allein: Sollte man diese Herausforderung bereits jetzt angehen, da es doch – ungeachtet einer möglichen Kompetenz – jedenfalls noch keinen solchen originär europäischen Straftatbestand gibt? Kann es denn ohne existierenden Straftatbestand überhaupt einen „Straftatbegriff in Europa“ geben?47 Darauf ist zunächst zu antworten: Ja, als ein wissenschaftliches Konzept allemal.48 Denn Rechtswissenschaft lässt sich ja sehr wohl grenzüberschreitend betreiben, auch wenn es ihr an einem grenzüberschreitend geltenden Recht (noch) mangelt. Hierfür liefern sowohl die Rechtsgeschichte als auch die Rechtsvergleichung beredte Beispiele: Ein geschichtliches Beispiel ist die im 12. Jahrhundert begonnene länderübergreifende Wissenschaft des römischen Rechts und späteren ius commune, die sich in einem Europa der Kleinstaaten und Partikularrechte ausbreitete.49 Ein rechtsvergleichendes Beispiel ist das US-amerikanische Common Law, das den gemeinsamen Gegenstand einer bundesweiten Jurisprudenz bildet – ungeachtet der Tatsache, dass das geltende Recht überwiegend gliedstaatliches ist.50 Sicher liegen diesen beiden Beispielen Zusammenhänge zugrunde, die sich mit den Bedingungen und Hintergründen der Europäisierung des Strafrechts nicht unbedingt decken.51 Sie belegen aber, dass auch ohne überstaatlich geltendes Recht eine überstaatliche Rechtswissenschaft möglich ist, zumal eine vergleichende. Jedenfalls in der deutschen Strafrechtslehre herrscht denn auch breiter Konsens darüber, dass die Europäisierung des Strafrechts wissenschaftlicher Aufmerksamkeit und Begleitung bedarf.52 Jung geht noch weiter: „Die Rechtswissenschaft, will sie ihrer Rolle als Wissenschaft gerecht werden, ist dazu aufgerufen, nicht nur den Vorgang der Internationalisierung zu begleiten, sondern die möglichen Ergebnisse modellhaft voraus zu denken.“ 53 In diesem Sinne sei auch hier die 47 Zu der allgemeineren Frage, ob es in Ermangelung unmittelbar geltenden europäischen Kriminalstrafrechts eine europäische Strafrechtswissenschaft geben kann, vgl. – bejahend – Hirsch, FS Spendel, S. 43 (45 ff.); Perron, ZStW 109 (1997), 281 (283 ff.); Kühl, ZStW 109 (1997), 777 (785 ff.); Vogel, GA 2002, 517 (519); verneinend hingegen Bacigalupo Zapater, FS Roxin, S. 1361. (1363: „Die These, die von einer nationalen Beschränkung der Strafrechtswissenschaft ausgeht, ist heute allgemein anerkannt.“) 48 Kühl, FS Söllner, 613 (616 f.), auch zum Folgenden. 49 Coing, NJW 1990, 937, 939; Kühl, ZStW 109 (1997), 777 (785 f.). 50 Coing, NJW 1990, 937, 939 f.; Kühl, ZStW 109 (1997), 777 (785 f.). 51 So widmete sich die gemeinrechtliche Dogmatik einem Recht, das ja in einem Staatswesen schon einmal bestanden und gegolten hatte. Ferner beziehen sich beide Beispiele vor allem auf zivilrechtliche Bereiche, in denen ein ungleich größeres Bedürfnis des Rechtsverkehrs nach einheitlichen Regelungen besteht. Zu dem Unterschied vgl. auch Jescheck, Strafrechtsvergleichung, S. 25. 52 s. etwa Perron, ZStW 109 (1997), 281 (297); T. Weigend, FS Roxin, S. 1375 (1399); Schünemann, GA 2002, 501 (511 ff.); Hefendehl, ZIS 2006, 229 (230). Tiedemann, FS Lenckner, S. 411 (415), erstreckt diese Forderung gerade auch auf den Bereich des dogmatischen Allgemeinen Teils. 53 Jung, JuS 1998, S. 1 (7), bezogen auf die Internationalisierung des Strafrechts im Allgemeinen. – Zu dieser Forderung passt auch die von Frisch im Jahr 2003 initiierte Freiburger Seminarreihe „Vorüberlegungen zu einer transnationalen Straftatlehre“.
A. Thema und Ziel der Untersuchung
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Möglichkeit ergriffen, bereits jetzt mit rechtsvergleichendem Pflug den Boden für einen künftigen europäischen Straftatbegriff zu bestellen.54
II. Vertiefend: Vom Nutzen eines Straftatbegriffs Ob man die Untersuchung des Straftatbegriffs (nur) rein rechtsvergleichend oder (auch) mit Blick auf die Europäisierung des Strafrechts angeht – von beiden Warten aus könnte ein kritischer Beobachter geneigt sein, einen Einwand anzubringen, der in dieser Einleitung noch ausgeräumt werden soll. Dieser Einwand könnte dahin gehen, dass die Untersuchung sich womöglich einem allzu theoretischen Sujet widme. Anknüpfend an das zuletzt Ausgeführte ließe sich ja beispielsweise fragen: Wenn auf europäischer Ebene Probleme von Vorsatz und Fahrlässigkeit, von Unterlassung, Versuch und Irrtum erwartbar relevant werden, sollte man dann nicht eher diese direkt vergleichen als das Abstraktum eines Straftatbegriffs? In der Tat lässt sich kaum bestreiten, dass die Frage nach dem Straftatbegriff zunächst eine abstrakte ist. Nun sind solche Fragen in der Rechtswissenschaft – zumal in der deutschen – zwar nicht unschicklich. Auf dem besonderen Gebiet der Rechtsvergleichung gilt es indessen zu beachten, dass zwischen verschiedenen Rechtskreisen nicht nur inhaltlich, in Bezug auf materielle Rechtsfragen Unterschiede bestehen können, sondern auch in der Art und Weise, wie sich Wissenschaft und Praxis dieser Probleme annehmen. Dem anglo-amerikanischen, aber auch dem französischen Rechtskreis etwa spricht man traditionell einen eher begriffsfeindlichen, praktisch orientierten Ansatz zu, wohingegen die Neigung zu – teils auch übertriebener – Systembildung meist als eine originär deutsche (Un-)Tugend erscheint.55 Selbst wenn diese Unterscheidung in dieser etwas plakativen Form heute nicht mehr vollkommen zutreffen dürfte, so kann eine begrifflich ausgerichtete Untersuchung doch gleichwohl Gefahr laufen, sich in Abstraktionen, Kategorien, in grauer Theorie eben zu verlieren – und darüber konkrete sachliche Probleme zu vernachlässigen. In jüngerer Zeit sind denn auch Warnungen ähnlichen Tenors sowohl aus strafrechtsvergleichender56 als auch aus 54 Die Notwendigkeit einer europäischen Strafrechtsdogmatik betonen etwa auch Kühl, FS Söllner, 613 (617 ff.); Vogel, GA 2002, 517 (520); Brockhaus, S. 13 f.; Walter, ZStW 117 (2005), 912 (933); s. auch Schünemann, Madrid-Symposium, S. V, der den notwendigen „Aufbau einer gemeineuropäischen Dogmatik“ mit der Pandektenwissenschaft des 19. Jahrhunderts vergleicht, das die spätere Kodifikation des Zivilrechts im BGB erst ermöglichte. 55 Vgl. Bottke, S. 277 (289); Kühl, ZStW 109 (1997), S. 777 (801 ff.); Schünemann, FS Roxin, S. 1 (2 ff., 12 ff.). 56 Jung, JuS 1998, 1 (3), warnt etwa davor, sich in einen Vergleich auf abstraktem Niveau zu begeben, und regt stattdessen die Betrachtung konkreter Fallkonstellationen an. s. auch Stuckenberg, S. 33 f. Einen bewusst grundsätzlichen Vergleichsansatz wählt dagegen z. B. Das, S. 29 f.
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1. Teil: Einleitung
europäisch-strafrechtlicher 57 Perspektive ausgesprochen worden. Die prinzipielle Berechtigung solcher Warnungen soll hier nicht bestritten werden. Mit Blick auf die vorliegende Arbeit sei ihnen jedoch dreierlei entgegen gehalten. 1. Vorzüge der Systembildung Die erste Entgegnung betrifft den grundsätzlichen Nutzen strafrechtswissenschaftlicher Systembildung. Nach der wohl einhelligen Position jedenfalls der deutschen Lehre liegt dieser Nutzen klar zutage.58 Natürlich ist es möglich, strafrechtliche Probleme auch unabhängig von einem übergeordneten Konzept der Straftat, gleichsam „freihändig“ in jedem Einzelfall sachgerecht zu lösen. Demgegenüber weist ein systematisches Vorgehen auf der Grundlage eines ausgearbeiteten Verbrechensbegriffs jedoch entscheidende Vorzüge auf. Das gilt einmal in prozeduraler Hinsicht: Ein Verbrechensbegriff ermöglicht es, eines zunächst schwer fassbaren (möglicherweise) strafbaren Geschehens habhaft zu werden, indem „das ursprüngliche Zugleich in ein logisches Nacheinander verwandelt wird“ 59. Er bietet ein Modell,60 eine Struktur, entlang deren die Falllösung in geordneter, rationaler und nicht zuletzt ökonomischer Weise ablaufen kann. Sie gewährleistet damit, dass alle relevanten Gesichtspunkte eines Falls – und auch nur diese – tatsächlich geprüft werden.61 Insofern kommt der Systembildung zunächst einmal eine sozusagen technische, verfahrensleitende Funktion zu. Über diesen Verfahrensaspekt hinaus bietet eine systematische Aufgliederung der Straftat einen weiteren Vorzug, den man als kommunikativen Nutzen bezeichnen kann. Dem liegt folgender Gedanke zugrunde: Indem ein Straftatbegriff allgemeine Unterbegriffe und Kategorien zur Verfügung stellt, erleichtert er es, subjektive intuitive Einstellungen zu einem strafrechtlich relevanten Geschehen klar zu benennen und zu verorten. Er verringert dadurch die gerade in schwierigen Fällen bestehende Gefahr, dass die Diskussion und Lösung von Problemen „unsicher und von Gefühlserwägungen abhängig“ 62 bleiben. Der Straftatbegriff 57 Kühl, ZStW 109 (1997), S. 777 (800 f., 803 ff.), spricht sich dafür aus, die Frage nach dem Straftatsystem vorläufig auszuklammern und vorrangig Sachprobleme zum Thema des wissenschaftlichen europäischen Strafrechtsdiskurses zu machen; ebenso ders., FS Söllner, S. 613 (623 ff.); Vogel, GA 2002, 519 (524). 58 Jescheck/Weigend, S. 195; Welzel, FS Maurach, S. 3 (4 f.); Roxin, AT, § 7 Rn. 31 ff.; Ambos, Cardozo Law Review 28 (2007), 2647 (2648), jeweils auch zum Folgenden. Aus spanischer Sicht zustimmend Gimbernat Ordeig, ZStW 82 (1970), 379 (405 ff.). Vehement für eine systematische Analyse der Straftat, gerade auch im europäischen Kontext, Silva Sánchez, GA 2004, 679 (682 f.); s. auch Mylonopoulos, ZStW 121 (2009), 68 (68), sowie Robles Planas, ZIS 2010, 357 (357 ff.). 59 Gallas, ZStW 67 (1955), 1. 60 Instruktiv zu diesem Modellcharakter Walter, Der Kern des Strafrechts, S. 9. 61 Roxin, AT, § 7 Rn. 32. 62 Jescheck/Weigend, S. 195.
A. Thema und Ziel der Untersuchung
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eröffnet damit also ein Vokabular und eine Syntax für das fachliche Gespräch über das Verbrechen – gerade auch für das Fachgespräch auf europäischer Ebene. Mit den beiden genannten Funktionen in engem Zusammenhang steht schließlich noch ein materiell-inhaltlicher Nutzen des Verbrechensbegriffs. Er ergibt sich aus Folgendem: Ein allgemeiner Begriff der Straftat bedingt eine Struktur, setzt allgemeine Systemelemente voraus. In diese Struktur eingebettet, lassen sich Einzelprobleme in größerem Zusammenhang betrachten. Die daraus erwachsenden Vorteile liegen auf der Hand:63 Übergreifende Sachüberlegungen und -aussagen werden möglich; Recht wird dadurch übersichtlicher und besser handhabbar. Gleichartige Probleme lassen sich einfacher als solche erkennen und dann auch gleichartig lösen. Das bedeutet nicht nur einen Beitrag zu mehr Rechtssicherheit, sondern auch zu mehr Gerechtigkeit. Erforderlichenfalls kann die systematisch gewonnene Erkenntnis sogar den Weg zu schöpferischer Rechtsfortbildung weisen. Es sei nicht verhehlt, dass den genannten Vorzügen üblicherweise auch manche Nachteile und Risiken gegenüber gestellt werden, die mit der Konzeption eines Verbrechenssystems einher gehen sollen. Insbesondere könne das Systemstreben dazu verleiten, die Singularität von Einzelfällen zu verkennen, das heißt entweder von vornherein auf einem zu hohen Abstraktionsniveau zu operieren oder aber diese Einzelfälle gewaltsam in unpassende Kategorien zu pressen.64 Diese Gefahren lassen sich aber wohl auch als Konsequenzen eines sachlich schlechten Straftatsystems bzw. einer unrichtigen Anwendungsweise innerhalb desselben auffassen – sie begründen daher keinen Einwand gegen die Systembildung als solche.65 Von der sachlichen Berechtigung des Systemdenkens ist jedenfalls die deutsche Lehre so überzeugt, dass ein Verzicht auf sie gar mit einer „Abdankung der Strafrechtswissenschaft“ 66 gleichgesetzt wird. Blickt man nun über die Grenze, so zeigt sich, dass das Systemdenken beileibe nicht nur in Deutschland traditionell einen hohen Stellenwert genießt, sondern (inzwischen) auch in etlichen anderen Staaten Europas.67 Wenn dem so ist, dann aber ist es nur folgerichtig, diese Tradition auch auf europäischer Ebene fruchtbar zu machen. Schließlich ist kein Grund ersichtlich, weshalb ihre aufgeführten Vorzüge nicht auch dort zum Tragen kommen sollten. Ganz im Gegenteil: Sollte es künftig einmal ein europäisches Kriminalstrafrecht geben, das von europäischen Juristen angewendet wird, dann kann es in jeder Hinsicht nur von Nutzen
63 Jescheck, ZStW 98 (1986), 1 (6 f.); Roxin, AT, § 7 Rn. 33 ff.; s. auch Jesse, S. 22 f., 305. 64 s. näher Roxin, AT, § 7 Rn. 36 ff. 65 Vgl. auch Stuckenberg, S. 498. 66 Jescheck/Weigend, S. 196, Fn. 4. 67 Vgl. Jescheck/Weigend, S. 195, Fn. 3.
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1. Teil: Einleitung
sein, über ein einheitliches Prüfungsprogramm, über eine gemeinsame Terminologie und über ein Instrument für sachübergreifende Erkenntnis zu verfügen. 2. Die Notwendigkeit eines europäischen Dialogs Die zweite Entgegnung auf den möglichen Vorwurf zu hoher Abstraktion knüpft unmittelbar an das zuletzt Ausgeführte an. Sie zielt ab auf die Notwendigkeit eines europäischen Dialogs. Um sie zu verdeutlichen, sei kurz ausgeholt: Diejenigen Stimmen, die vor einer Einbeziehung des deutschen Straftatsystems in den europäisch-strafrechtlichen Diskurs (vorerst) warnen, begründen ihre Position nicht selten mit dem Unverständnis, das Juristen von außerhalb des deutschen Rechtskreises dem Systemdenken entgegen brächten.68 So stelle sich etwa die deutsche Unterscheidung von Unrecht und Schuld69 für anglo-amerikanische, aber auch für französische Strafrechtler zuweilen als schwer nachvollziehbar dar – und Gleiches gelte darüber hinaus in allgemeinerer Weise für die „dogmatische, und das hieß [. . .] auch rechthaberische, Schärfe, die der strafrechts,wissenschaftlichen‘ Debatte in kodifizierten Rechtsordnungen eigen ist“ 70. Insoweit scheint eine wichtige Trennung angezeigt. In der Tat kann es nicht darum gehen, anderen Teilnehmern eines europäischen strafrechtswissenschaftlichen Diskurses das deutsche Straftatmodell schlicht „zur Benutzung“ anzubieten71 – womöglich gar noch in einem Habitus selbstgewisser Überheblichkeit nach dem Motto: „Wir sind die meisten und wissen es ohnehin am besten!“ Der Verzicht auf Rechthaberei braucht aber doch nicht mit einem Verzicht auf Dogmatik einher zu gehen. Im Gegenteil, gerade um die beschriebene Verständnislosigkeit zu beheben, um einen Eindruck der deutschen strafrechtlichen Tradition zu vermitteln, bedarf es unbedingt eines rechtskreisübergreifenden Dialogs.72 Dieser sollte nun aber nicht so aussehen, dass ein Teilnehmer desselben in verschämter Selbstverleugnung das, was ihm für den eigenen Rechtskreis selbstverständlich ist, gar nicht erst aufs Tapet bringt. Dazu erweisen sich die – im deut68 s. Kühl, ZStW 109 (1997), 777 (802 f.). Mit Blick auf Frankreich vgl. Hünerfeld, ZStW 93 (1981), 979 (993 f.); aus polnischer Sicht vgl. Zoll, ZStW 117 (2005), 749 (750), der zu Recht fordert, dass die deutsche Lehre sich nicht nur als Anbieter verstehen dürfe, sondern auch offen sein müsse für ausländische Beiträge. 69 Wie sie von der herrschenden Meinung getroffen wird. Von anderer Seite wird diese Unterscheidung zum Teil auf das Maßregelrecht und das Recht der Teilnahme beschränkt; dass es schuldloses Verhaltensunrecht im spezifisch strafrechtlichen Sinne gebe, wird demgegenüber verneint: Ein schuldlos Handelnder kann keine Straftat in dem Sinne begehen, dass auf seine Tat die Rechtsfolge der Bestrafung folgen darf; s. Freund, AT, § 4 Rn. 25; Renzikowski, ARSP-Beiheft Nr. 104, 115 (134 f.), und schon Binding, Erster Band, S. 135 f. 70 Bottke, S. 277 (289). 71 So zu Recht Kühl, ZStW 109 (1997), 777 (804); ähnlich Walter, ZStW 117 (2005), 912 (933). 72 s. auch Kühl, FS Söllner, S. 613 (620 f.).
A. Thema und Ziel der Untersuchung
37
schen Fall – Jahrhunderte alten Errungenschaften der Wissenschaft als viel zu reich und wertvoll. Es kommt vielmehr darauf an, das zuhause für gut und tauglich Befundene in den europäischen Diskurs einzubringen und dort zu erläutern – nicht rechthaberisch, sondern als Beitrag zur Diskussion.73 In diesem Sinne soll auch die vorliegende Arbeit verstanden werden: Sie erhebt nicht den Anspruch, den „einzig wahren Straftatbegriff“ vorzulegen.74 Sie soll vielmehr Elemente liefern für dessen mögliche Gestalt auf europäischer Ebene – und für eine auch dort notwendige Debatte. 3. Das Sachproblem hinter dem Straftatbegriff Schon die bisherigen Ausführungen sollten gezeigt haben, dass der Straftatbegriff keine dogmatische Tändelei ist, sondern handfeste Auswirkungen auf die praktische Arbeit mit dem Recht zeitigt.75 Bezogen sich diese Darlegungen aber zunächst auf übergreifende dogmatische und kommunikative Zusammenhänge, so gesellt sich dazu auch ein weiterer, ganz konkreter Nutzen. Er sei hier zu guter Letzt noch als drittes entscheidendes Argument gegen den geschilderten Abstraktionseinwand ins Feld geführt. Dieses Argument beleuchtet die materiellrechtlichen Implikationen des Straftatbegriffs, und es fußt auf folgender These: Es wäre falsch, den Verbrechensbegriff nur als ein abstraktes Konzept anzusehen, das allein systematischen Zwecken dient. Denn hinter diesem Konzept steht sehr wohl auch ein bestimmtes Sachproblem – ja sogar das kardinale Sachproblem des Strafrechts: die Frage nach den Grundlagen und der Legitimation von Strafe.76 Diese Frage aber stellt sich in jedem Einzelfall immer und immer wieder von Neuem. Je klarer und durchdachter die Antwort auf diese grundlegende Legitimationsfrage ausfällt, um so eher lässt sich Strafe einleuchtend und nachvollziehbar begründen. Anders gewendet – und auf die oben formulierte Kritik hin gemünzt: Ein gelungener Straftatbegriff ist die Grundlage, von der aus sich einzelne Sachprobleme um Vorsatz und Fahrlässigkeit, Unterlassung, Versuch, Irrtum und so weiter angehen und überzeugend lösen lassen.77 Darum lohnt es sich, auch ein 73 Vgl. in diesem Sinne auch Hirsch, ZStW 116 (2004), 835 (849 ff.), und – im Kontext des Versuchs, aber nicht auf diesen beschränkt – Safferling, ZStW 118 (2006), 682 (716). 74 Dass es einen solchen nicht gibt, betont etwa auch Robles Planas, ZIS 2010, 357 (362). 75 Die praktische Relevanz der Verbrechenslehre betonen zu Recht auch Walter, Der Kern des Strafrechts, S. VII f.; Robles Planas, ZIS 2010, 357 (360 f.). 76 Vgl. MK-Freund, Vor §§ 13 ff. Rn. 2 f.; Roxin, AT, § 2 Rn. 1; Robles Planas, ZIS 2010, 357 (357, 362). s. auch schon oben A. I. 77 So gefundene Erkenntnisse können dann – dies nun wieder auf abstrakterer Ebene – auch für die Strafgesetzgebung (einschließlich des Sanktionenrechts) fruchtbar ge-
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1. Teil: Einleitung
gutes Jahrhundert nach dem eingangs zitierten Wort Franz v. Liszts den allgemeinen Merkmalen des Verbrechensbegriffs nachzuspüren – auch im europäischen Rahmen.78
B. Forschungsstand Die Einführung in die Thematik hat bereits deutlich gemacht, welch fundamentalen Stellenwert die deutsche Dogmatik dem Straftatbegriff seit jeher beimisst. Dem entspricht die Fülle an Literatur, die hierzu in Deutschland existiert: Jedes Werk zum Allgemeinen Teil widmet sich hier selbstverständlich auch dem Straftatbegriff, und sei es nur dadurch, dass das oben bereits kurz umrissene Modell ein weiteres Mal beschrieben oder doch implizit übernommen wird.79 Aber auch abweichende Konzeptionen hat es in den Jahrzehnten seit v. Liszt immer wieder gegeben, gerade – und wohl zunehmend – auch in jüngster Zeit.80 Ob crime, Infraction oder przeste˛pstwo, auch in den drei anderen hier zur Untersuchung stehenden Ländern bildet der Straftatbegriff den unverzichtbaren Auftakt zu praktisch jeder wissenschaftlichen Darstellung des Allgemeinen Teils. Und an solchen Darstellungen herrscht auch im Ausland inzwischen nirgends Mangel – selbst in den Ländern nicht, die traditionell als eher theorieskeptisch gelten.81 Was nun den Rechtsvergleich zwischen diesen nationalen Straftatlehren anbelangt, so ließ sich in Deutschland noch 1998 ein „beschränktes Interesse“ der Wissenschaft konstatieren.82 In gewisser Hinsicht hat sich das seither zwar geändert: Gerade im Zuge der Europäisierung des Strafrechts hat die Disziplin der Strafrechtsvergleichung zuletzt einen gehörigen Aufschwung erlebt.83 Allerdings gilt das Interesse hier in der Regel nicht dem Begriff der Straftat an sich, nicht ihren allgemeinen Voraussetzungen, sondern sogleich konkreten Instituten wie Handlung und Erfolg, Vorsatz und Fahrlässigkeit, Unterlassung, Versuch, Tätermacht werden, vgl. Husak, S. 32 ff. – Nach Tiedemann, JZ 1980, 489 (490), erfüllt der Straftatbegriff damit auch eine wesentliche rechtsstaats- und freiheitssichernde Funktion. 78 Hirsch, ZStW 116 (2004), 835 (840 ff.). 79 s. etwa die jüngeren Lehrbücher von Ebert, S. 14 ff.; Frister, S. 72 ff. (unter ausdrücklichem Verzicht auf Diskussion des hergebrachten Verbrechensaufbaus); Gropp, § 3 Rn. 1 ff.; Heinrich, AT I Rn. 87 ff.; Kindhäuser, AT, § 6 Rn. 1 ff.; Köhler, S. 119 ff.; Kühl, AT, § 1 Rn. 22 ff. 80 s. etwa Freund, AT, §§ 1 ff.; Lesch, Der Verbrechensbegriff – Grundlinien einer funktionalen Revision, 1999; Rinck, Der zweistufige Deliktsaufbau, 2000; Walter, Der Kern des Strafrechts, 2006. 81 Insoweit sei auf die folgenden Landesberichte verwiesen. 82 Tiedemann, GA 1998, 107. 83 Jung, GA 2005, 2 (2 f.).
B. Forschungsstand
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schaft und Teilnahme, Irrtümern.84 Der Straftatbegriff als solcher wird dabei meist bewusst ausgeklammert oder doch nur gestreift. Eine Ausnahme dazu bildete ein von Tiedemann initiierter Freiburger „Workshop“, dessen Ergebnisse ebenfalls 1998 publiziert wurden.85 Auf ihnen ist hier ebenso aufzubauen wie insbesondere auch auf dem (wiederum von Tiedemann ins Leben gerufenen) Arbeitskreis zu einem Wirtschaftsstrafrecht in der Europäischen Union, der in privater Initiative europäische Modelltatbestände mitsamt einem bereichsspezifischen Allgemeinen Teil vorgelegt hat.86 – Einen neuen Meilenstein in der Darstellung von Landesberichten hat jüngst zudem das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht präsentiert: Dessen Pilotprojekt eines „Max-Planck-Systems zur Strafrechtsvergleichung“ stellt den Allgemeinen Teil von vorerst zwölf Strafrechtsordnungen umfassend dar, vor allem mit dem Ziel, daraus eine universale „Metastruktur des Strafrechts“ zu entwickeln.87 Die bislang erschienenen (überblicksartigen) Landesberichte sind für die hiesige Untersuchung ein überaus wertvoller Referenzrahmen. Auf „offizieller“ europäischer Ebene schließlich gibt es noch eine Veröffentlichung, die für das angestrebte Vergleichsvorhaben von Interesse ist. Die Rede ist von dem Entwurf des so genannten „Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union“. Der Entwurf wurde 1997 auf Anregung des Europäischen Parlaments und der Kommission von einem internationalen Expertenzirkel erarbeitet und drei Jahre später zu einem „Corpus Juris 2000“ erweitert.88 Er formuliert zunächst acht konkrete Straftatbestände zum Schutz des Haushalts der Europäischen Union und darüber hinaus eine Reihe europaspezifischer Verfahrensregeln. Darüber hinaus enthält er in Teil II auch den Kern eines Allgemeinen Teils – mit Regelungen zur subjekti84 Seit jeher vorbildlich mit solchen rechtsvergleichenden Seitenblicken das Lehrbuch von Jescheck/Weigend. Aus jüngerer Zeit s. etwa die Arbeiten von Brockhaus und Schubert zum Versuch sowie von Stein, Schöberl und Rehaag zu Täterschaft und Teilnahme. Aus dem französischen Schrifttum an erster Stelle zu nennen ist die rechtsvergleichende Monografie von Pradel, Droit comparé général. 85 Tiedemann/Suárez/Cancio/Manacorda/Vogel, GA 1998, 127 ff. 86 Tiedemann (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht in der Europäischen Union, Köln/Berlin/ Bonn/München 2002 („Freiburg-Symposium“). Diese Arbeit klammert den Straftatbegriff ebenfalls ausdrücklich aus, konzediert aber, dass ein solcher auf europäischer Ebene künftig erforderlich werden könnte: Tiedemann, Freiburg-Symposium, S. 3 (6). – Einen Schritt früher noch setzt Stuckenberg mit seinen „Vorstudien zu Vorsatz und Irrtum im Völkerstrafrecht“ an, S. 30 ff.: Als notwendige Vorstufe eines Rechtsvergleichs betrachtet (und entwickelt) er einen universellen analytischen Rahmen für die Erkenntnis und Diskussion der subjektiven Tatseite. s. ferner die Ansätze eines europäischen Allgemeinen Teils bei Klip, European Criminal Law, S. 166 ff. 87 Näher Sieber/Cornils, S. V ff. 88 Zum ursprünglichen Corpus Juris s. statt vieler Huber, Corpus Juris; DelmasMarty, Corpus Juris. Zur Fassung des Jahres 2000 s. etwa Braum, JZ 2000, 493 (493 ff.); Otto, Jura 2000, 98 (98 ff.); Prittwitz, ZStW 113 (2001), 774 (774 ff.); Ruegenberg, ZStW 112 (2000), 269 (269 ff.).
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1. Teil: Einleitung
ven Seite der Tat, zu Irrtumsfragen, zu Täterschaft und Teilnahme, zum Versuch, zur Verantwortlichkeit von Vereinigungen und weisungsbefugten Personen, zur Strafzumessung sowie zu den Konkurrenzen.89 Zwar sind die Regelungsvorschläge des Corpus Juris rechtlich unverbindlich. Sie sind aber bereits Vorbild gewesen für einzelne Rechtsakte im Bereich der dritten Unionssäule und für das „Grünbuch der Kommission zum Schutz der finanziellen Interessen der EG und zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft“.90 In diesem Grünbuch zeigt sich die Kommission dafür offen, am Corpus Juris orientierte gleichlautende Straftatbestände in den Mitgliedstaaten zu schaffen.91 Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, auch die Regelungsvorschläge des Corpus Juris in die hiesigen Überlegungen einzubeziehen.
C. Methodische Bemerkungen Beschlossen sei dieser einleitende Abschnitt mit einigen Bemerkungen zum methodischen Ansatz der Untersuchung. Einzugehen ist dabei zum einen auf die Methodik der Strafrechtsvergleichung im Allgemeinen. Zum anderen bedürfen einige zusätzliche methodische Grundentscheidungen speziell des hiesigen Vergleichungsvorhabens näherer Erläuterung.
I. Die allgemeine Methodik der Strafrechtsvergleichung Für die vergleichende Untersuchung unterschiedlicher Rechtssysteme kann auf eine gefestigte und erprobte Methodik zurück gegriffen werden, die ursprünglich für den Bereich der Privatrechtsvergleichung entwickelt wurde, in der Sache aber mittlerweile genauso für das Strafrecht gelten kann. Sie besteht in einem zweistufigen Vorgehen:92 In einem ersten Arbeitsschritt gilt es zunächst, den Standpunkt einer Rechtsordnung zu dem gewählten Vergleichungsgegenstand darzustellen – und zwar, soweit dies möglich ist, zunächst rein referierend unter Vermeidung jeglicher kritischen Wertung. Erst im Anschluss an diese so genannten Landesberichte findet dann der eigentlich vergleichende Teil der Arbeit statt. Darin sind Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den untersuchten Rechten aufzu89
s. näher Artt. 9 ff. Corpus Juris 2000. Satzger, Europäisches Strafrecht, § 7 Rn. 39. 91 Kommissionsdokument KOM (2001) 715 endgültig, vom 11.12.2001, S. 38 ff. 92 Zum Folgenden Zweigert/Kötz, S. 42 f.; Jescheck/Weigend, S. 44 f.; Jescheck, Strafrechtsvergleichung, S. 40 ff., der noch detaillierter vier Stufen unterscheidet. – Dagegen spricht sich LK-Walter, Vor § 13 Rn. 207, für ein einstufiges Vorgehen aus, in dem Bericht und Vergleich ineinander verschränkt werden. Jung, JuS 1998, 1 (2), den Walter als Verfechter eines einstufigen Verfahrens in Anspruch nimmt, wendet sich a. a. O. nicht gegen ein gestuftes (insgesamt rechtsvergleichendes) Vorgehen, sondern dagegen, die Sinn- und Funktionseinheit zwischen Auslandsrechtsbetrachtung und Rechtsvergleichung in Abrede zu stellen. Wie hier z. B. auch Stein, S. 13 ff. 90
C. Methodische Bemerkungen
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zeigen und zu begründen, ist jede der untersuchten Lösungen vor dem Hintergrund der anderen Modelle zu sehen und kritisch zu beurteilen.
II. Methodische Grundentscheidungen des konkreten Vergleichsvorhabens Auch die vorliegende Untersuchung soll der beschriebenen klassischen Methodik folgen. Im Anschluss an diese Einleitung werden deshalb in einem zweiten Teil zunächst die einzelnen nationalen Straftatbegriffe nacheinander dargestellt. Der dritte Teil der Arbeit widmet sich dann dem eigentlichen Vergleich. Beiden Teilen seien vorab noch einige methodische Erläuterungen vorausgeschickt. 1. Methodik der Landesberichte Was zunächst die Landesberichte angeht: Natürlich lässt sich ein wahrhaft europäischer Straftatbegriff im Grunde nur aus einem Vergleich gewinnen, der die Straftatmodelle aller europäischen Strafrechtskreise berücksichtigt.93 Ebenso offensichtlich ist es indessen, dass ein solches Unterfangen im hiesigen Rahmen nicht zu bewältigen wäre – nicht angesichts einer erweiterten Union von inzwischen 27 Mitgliedstaaten. Insofern ist es unverzichtbar, eine erste methodische Einschränkung der Untersuchung vorzunehmen, nämlich die Anzahl der betrachteten Rechtsordnungen zu begrenzen. Diese notwendige Länderauswahl fällt hier wie schon erwähnt auf Deutschland, England, Frankreich und Polen – und das nicht von ungefähr: Mit den drei erstgenannten Ländern sind die drei quantitativ und von ihrem Einfluss her wohl führenden Rechtskreise Europas vertreten. Ganz bewusst wird dabei das deutsche Recht im Rahmen eines eigenen Landesberichts dargestellt; es bildet also nicht lediglich die Vergleichsfolie, auf die die übrigen Berichte projiziert werden. Diese Entscheidung ist nicht zuletzt für den Fall (und in der Hoffnung) getroffen, dass diese Arbeit auch solche Interessenten finden mag, die der deutschen Rechtslage gar nicht oder kaum kundig sind. – Neben den drei Genannten ist Polen stellvertretend als Repräsentant der neuen EU-Mitgliedstaaten ausgewählt, die angesichts der europäischen Dimension des Themas natürlich nicht ausgeklammert bleiben dürfen. Polen verspricht überdies von besonderem und exemplarischem Interesse zu sein im Hinblick auf die Frage, wie das sozialistisch-strafrechtliche Erbe in Osteuropa bewältigt worden ist.94 93 Und womöglich auch noch den völkerstrafrechtlichen Verbrechensbegriff; zu ihm Ambos, ZIS 2006, 464 (470 f.); ders., Cardozo Law Review 28 (2007), 2647 (2667 ff.), und ausführlich ders., AT Völkerstrafrecht, S. 509 ff.; ders., Internationales Strafrecht, § 7 Rn. 2; ferner Werle, Rn. 322 ff., und jüngst Jesse. – Einen analytischen Rahmen hierzu hat jüngst Stuckenberg vorgelegt. 94 Vgl. auch die ähnliche, wenngleich noch umfassendere Auswahl bei Sieber/Cornils, S. VIII f. Zur rechtsvergleichenden Einordnung Polens in einen Rechtskreis s. E. Weigend, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 1, S. 481 (498 f.).
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1. Teil: Einleitung
Bei der jeweiligen Darstellung der ausgewählten Rechtsordnungen ist aus methodischer Sicht überdies Folgendes zu berücksichtigen: Es liegt in der Natur der Wissenschaft, dass sie nie ein völlig einheitliches Bild abgibt. Tradierte Lehren werden regelmäßig durch neue ergänzt, erschüttert, ersetzt.95 Gerade in einem Bereich wie dem der Rechtswissenschaft, in dem das Vorgelegte sich nicht mittels empirischer Überprüfung verifizieren oder falsifizieren lässt, es vielmehr um einen Wettstreit von Argumenten und Überzeugungskraft geht, rivalisiert oftmals eine Vielzahl von Konzeptionen und Lehrmeinungen. Nicht anders verhält es sich mit dem Straftatbegriff: Über jedes einzelne seiner Elemente und Unterelemente ließen sich ohne Weiteres Vergleiche monografischen Ausmaßes anstellen.96 Völlig ausgeschlossen ist es vor diesem Hintergrund, in den hier präsentierten Landesberichten die jeweiligen Straftatbegriffe in all ihren Facetten bis ins letzte Detail darzustellen. Es geht vielmehr darum, sie im Sinne eines Überblicks zu präsentieren und dabei auf ihre wesentlichen Grundzüge zu reduzieren – dies dann freilich möglichst „originalgetreu“. Zu diesem Zweck sollen die folgenden Einzeldarstellungen knapp gehalten werden und sich weit gehend auf die in einem Land jeweils vorherrschenden Konzeptionen beschränken. Wenn sich eine vorherrschende Konzeption nicht ausmachen lässt, werden die wichtigsten rivalisierenden Auffassungen dargestellt. Bei allem Zwang zur Beschränkung fokussiert sich die folgende Darstellung jedoch bewusst nicht auf bestimmte Straftaten, also auch nicht auf solche, die typischerweise zu Lasten der Union und insbesondere ihrer Finanzinteressen verübt werden könnten.97 Nach dem oben98 Ausgeführten mag zwar in diesem Bereich ein künftiges Tätigwerden der europäischen Institutionen am ehesten zu erwarten sein. Das Anliegen dieser Arbeit besteht aber gerade darin, generell gültige, und das heißt tatbestandsübergreifende Grundlinien erkennbar zu machen.99 Dementsprechend werden sich die Landesberichte stets auf die Straftat im Allgemeinen beziehen.100 Ausgangspunkt eines jeden Berichts ist dabei eine histori95
Vgl. speziell für die Verbrechenslehre Jescheck/Weigend, S. 216 f. Was teilweise bereits geschehen ist; s. etwa die Arbeiten von Brockhaus und Schubert zum Versuch, von Stein, Schöberl und Rehaag zu Täterschaft und Teilnahme, von Watzek und Walther zur Rechtswidrigkeit (s. jeweils näher im Literaturverzeichnis). 97 Für eine solche Beschränkung z. B. Vogel, JZ 1995, 331 (333); wohl auch Sieber, JZ 1997, 369 (375). 98 Oben A. I. 2. 99 Gegen eine Beschränkung auch Tiedemann, Freiburg-Symposium, S. 3 (5, 11, 19); auch T. Weigend, FS Roxin, S. 1375 (1380 f.), weist auf Gefahren eines deliktsspezifischen Allgemeinen Teils hin. Vgl. auch Hefendehl, ZIS 2006, 229 (233), der es als „entlarvend“ und im Ansatz „obrigkeitsstrafrechtlich“ kritisiert, ein genuines europäisches Strafrecht mit dem Schutz der (finanziellen) Unionsinteressen beginnen zu wollen. 100 Straftat im Allgemeinen heißt auch, dass unterschiedliche Klassifikationen der Straftat nicht gesondert verglichen werden. Zu einem solchen Vergleich s. Pradel, Droit pénal comparé, Rn. 173 ff. 96
C. Methodische Bemerkungen
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sche Einführung, so ausführlich gehalten, wie es für das Verständnis des jeweiligen Straftatbegriffs nötig erscheint. Bei dessen eigentlicher Darstellung wird das Hauptaugenmerk dann auf den Voraussetzungen des (in deutscher Terminologie) vollendeten vorsätzlichen Begehungsdelikts liegen. Dazu sei allerdings angemerkt: Die – nicht nur im deutsche Rechtskreis – gängige Überakzentuierung des vorsätzlichen vollendeten Begehungsdelikts ist durchaus kritisch zu sehen, behandelt sie doch das Besondere vor dem Allgemeinen.101 Aus diesem Grund werden nachfolgend zumindest kursorisch auch die fahrlässige Begehung, die Unterlassung und der Versuch in den Blick genommen. Denn gerade diese Formen strafbaren Fehlverhaltens versprechen (weitere) wertvolle Erkenntnisse für die Frage, wie die Legitimation von Strafe gestaltet ist und wie weit sie jeweils reicht. Der begrenzte Rahmen dieser Arbeit gebietet es überdies, einige Ausprägungen des Straftatbegriffs außen vor zu lassen. Insbesondere aus Raumgründen gilt das einmal für die verschiedenen Formen von Täterschaft und Teilnahme.102 Und zweitens wird in den Landesberichten auch die „Strafbarkeit“ von Personenverbänden nicht einbezogen. Zwar dürfte ein europäischer Strafgesetzgeber sehr wohl daran interessiert sein, strafrechtliche Sanktionen gerade auch gegen Unternehmen einzusetzen. Dieses Anliegen hat jedoch mit der Fragestellung der vorliegenden Untersuchung unmittelbar nichts zu tun: Wie eingangs gesagt, will diese Arbeit vergleichend betrachten, wann auf menschliches Verhalten legitimerweise mit dem spezifischen Instrument der Strafe reagiert werden kann. Die Vorstellung von einer „Strafbarkeit“ eines Personenverbands liegt damit von vornherein außerhalb des hier interessierenden Ansatzes.103 Aus Platzgründen muss schließlich auch die prozessuale Seite der Tat weitest gehend ausgeklammert bleiben. Zumindest kurz erwähnt werden sollen jedoch die nationalen Anforderungen an den rechtsgenügenden Beweis der Tat. Untersucht werden soll die Frage, wer im Prozess welche Elemente der Straftat darlegen und beweisen muss, und unter welchen Bedingungen diese Elemente als bewiesen gelten.104 Diese Anforderungen zählen, mögen sie auch erst im Strafverfahren relevant werden, zu den materiellrechtlichen Bedingungen des Strafeinsatzes: Die Verurteilung des (möglicherweise) Unschuldigen ist der gröbste Verstoß gegen den nullum-crimen-Satz, den man sich denken kann.105 101 Zum richtigen Gegenkonzept vgl. Freund, AT, Vorwort zur zweiten Auflage sowie § 5 Rn. 87d, § 7 Rn. 35 ff. 102 s. dazu stattdessen Stein, Schöberl und Rehaag (nach Literaturverzeichnis). 103 Der Leser sei insoweit verwiesen auf Roxin, AT, § 8 Rn. 58 ff. mit weiteren Nachweisen. 104 Nicht untersucht werden demgegenüber z. B. die einzelnen Beweismittel oder die Art und Weise der Beweisaufnahme. 105 Vgl. Freund, AT, § 1 Rn. 49 ff. – Den Zusammenhang zwischen materiellem Strafrecht und Strafverfahrensrecht betont auch Hefendehl, ZIS 2006, 229 (230 f.), unter kritischem Hinweis auf die „Verkümmerung“ des Ersteren im europäischen Kontext.
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1. Teil: Einleitung
Ein Methodenproblem, das sich bei der Abfassung von Landesberichten regelmäßig stellt, betrifft schließlich die unterschiedlichen nationalen Terminologien und deren Übersetzung.106 Da die vorliegende Arbeit sich – zwar nicht nur, aber doch primär – an eine deutsche Leserschaft wendet, werden im Folgenden ausländische Termini grundsätzlich auf Deutsch eingeführt bzw. umschrieben und werden längere Auszüge aus ausländischen Quellen stets ins Deutsche übersetzt.107 Für den sprachkundigen Leser wird allerdings zusätzlich der Originalterminus in Klammern, der Originalwortlaut einer längeren Quelle im Fußnotentext wiedergegeben. Im Interesse inhaltlicher Präzision werden zentrale Begriffe der ausländischen Rechtssprache nach ihrer ersten Nennung regelmäßig im Original weiter verwendet. 2. Methodik des Vergleichs Im Anschluss an die Landesberichte wird im dritten Teil der Arbeit zu untersuchen sein, welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten die einzelnen Straftatbegriffe aufweisen – und ob die etwaigen Gemeinsamkeiten so weit reichen, dass sich darauf ein neuer, „europäischer“ Verbrechensbegriff gründen lässt. Die These dieser Untersuchung lautet, dass dem so ist – dass also zumindest Grundstrukturen eines solchen gemeinsamen Verbrechensbegriffs existieren. Um diese Grundstrukturen ausfindig zu machen, soll in zwei Schritten vorgegangen werden: Zunächst werden die Erkenntnisse jedes einzelnen Landesberichts noch einmal rekapituliert und kommentiert. Auf dieser Grundlage wird anschließend eine Synthese versucht, und zwar mit zwei Zielen: Zum einen soll sich ein gemeinsamer formaler Aufbau der Straftat ergeben. In dessen Rahmen sollen zum anderen auch materiellrechtliche Übereinstimmungen deutlich werden. Für die Methodik dieser Synthese ist natürlich eine Frage von entscheidender Bedeutung: Was tun, wenn sich zu einem bestimmten Element der Straftat keine Übereinstimmung ausmachen lässt? Da das Bestreben dieser Untersuchung gerade dahin geht, diese Elemente klar zu legen, muss die Divergenz aufgelöst werden – die Frage ist nur, wie? Auf der Hand liegt, dass an einem solchen Punkt nicht ohne Wertung auszukommen ist; und in der Tat gilt die Methode der „wertenden Rechtsvergleichung“ 108 bei Problemen der beschriebenen Art nach wie vor als das Mittel der Wahl. Dabei ist freilich in den seltensten Fällen klar, nach welchem Maßstab die Wertung vonstatten geht.109 106
Zu dieser Frage s. Jung, JuS 1998, 1 (4 f.). In Übereinstimmung mit Jung, JuS 1998, 1 (5). 108 s. zum Begriff schon Zweigert, RabelsZ 28 (1964), 601 (610 f.); im europarechtlichen Kontext Haratsch/Koenig/Pechstein, Rn. 377 f.; Oppermann/Classen/Nettesheim, § 10 Rn. 33 ff. Die Tauglichkeit der wertenden Rechtsvergleichung im hier interessierenden Sinne bejaht auch Stein, S. 8 f. 109 Näher dazu Jung, GA 2005, 2 (4 ff.). 107
C. Methodische Bemerkungen
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Angesichts des (auch) europarechtlichen Kontextes dieser Untersuchung liegt insoweit die Möglichkeit nahe, sich am Europäischen Gerichtshof zu orientieren. Dieser bedient sich des wertenden Vergleichs bekanntlich, um allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts zu ermitteln.110 Dabei geht er in zwei Schritten vor. Zuerst prüft er, ob die betrachteten Rechtserkenntnisquellen eine bestimmte gemeinsame Tendenz erkennen lassen. Diese Tendenz muss zweitens aber auch dem Interesse der Union entsprechen („Funktionsvorbehalt“); sie muss sich in die Ziele und Strukturen des Gemeinschaftsrechts einpassen.111 Der erste dieser beiden Schritte ist ersichtlich sinnvoll. Wenn mehrere Rechtskreise sich in Anbetracht eines bestimmten Sachproblems für dieselbe Lösung aussprechen, so ist das jedenfalls ein erstes Indiz dafür, dass diese Lösung auch eine geeignete ist. Das Indiz wird umso stärker, je weiter die Lösung verbreitet ist. Diese Tendenz dann auch in ein gemeinsames Straftatmodell zu übernehmen, ist überdies auch aus „psychologischen“ Gründen attraktiv. Denn das, was einer möglichst breiten Mehrheit bereits vertraut ist, darf mit leichterer und schnellerer Akzeptanz rechnen. Freilich ist der Geltungsanspruch der ermittelten Tendenz zunächst einmal nur ein quantitativer. Will sie wirklich sachlich überzeugen, so muss sie das auch in qualitativer Hinsicht. Eben das bringt der erwähnte Funktionsvorbehalt in der Methodik des EuGH zum Ausdruck. Auch dieser zweite Schritt ist daher dem Grunde nach sinnvoll – und es erscheint sogar treffender, die sachgerechterweise anzuwendende Methode als funktionale Rechtsvergleichung zu bezeichnen. Konkret zu klären bleibt indes: Um welche Funtionalität geht es genau? Welches ist das Unionsinteresse, welches sind die Vertragsziele und -strukturen, in die sich die jeweilige strafrechtliche Lösung einpassen soll? Vor allem die Kommission und der EuGH könnten geneigt sein, diese Frage so zu beantworten: Ein zu schaffendes Strafrecht und damit auch der ihm zugrunde liegende Straftatbegriff müssten in erster Linie wirtschaftlichen Zielen dienen – und zwar zuvörderst dem Eigeninteresse der Union an einem wirksamen Schutz vor Betrügereien zum Nachteil ihrer Finanzinteressen. Darüber hinaus müsste ein künftiges europäisches Kriminalstrafrecht vor allem dem Gemeinsamen Markt zu voller Blüte verhelfen. Eine im Vergleich gefundene strafrechtsdogmatische Lösung wäre also qualitativ wohl umso attraktiver, je umfassender sie die genannten Betrügereien oder Binnenmarkthemmnisse als strafbar erfasste.112 110 s. Haratsch/Koenig/Pechstein, Rn. 377 f.; Oppermann/Classen/Nettesheim, § 10 Rn. 33 ff. – Der EuGH hat die Methode etwa bei der Schöpfung der Gemeinschaftsgrundrechte sowie eines Allgemeinen Teils der punitiven Verwaltungssanktionen angewandt. Dieser Allgemeine Teil wurde kodifiziert in der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften. 111 Ukrow, S. 122; W. Schroeder, JuS 2004, 180 (183 f.); Jung, GA 2005, 2 (7). 112 Das „Stockholmer Programm“ beseitigt Zweifel hieran nur bedingt. Zwar bekennt es sich dazu, dass „strafrechtliche Bestimmungen generell nur als letztes Mittel einge-
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1. Teil: Einleitung
Ein so geartetes „qualitatives“ Kriterium soll dieser Untersuchung aber ausdrücklich nicht zugrunde gelegt werden.113 Sollten die hier verglichenen Lösungen überhaupt auf ihre Rechtsfolgen hin zu taxieren sein (Strafbarkeit oder Straflosigkeit?),114 dann wäre gerade umgekehrt zu verfahren – im Zweifel für die Straflosigkeit. Denn das Strafrecht ist eben kein Mittel, das ein Staat oder ein Staatenverbund um der reinen Effektivität willen als Steuerungsmittel einsetzen dürfte. Strafe ist das schärfste Schwert der Staatsgewalt, ist ein massiver Grundrechtseingriff – und zwar nicht nur in den Augen einiger „alteuropäischer“ Mitgliedstaaten.115 In den Worten des Bundesverfassungsgerichts: „Das Strafrecht in seinem Kernbestand dient nicht als rechtstechnisches Instrument zur Effektuierung einer internationalen Zusammenarbeit, sondern steht für die besonders sensible demokratische Entscheidung über das rechtsethische Minimum. Dies erkennt auch der Vertrag von Lissabon ausdrücklich an, wenn er die neu begründeten Kompetenzen der Strafrechtspflege mit einer sogenannten Notbremse versieht.“ 116 Der Einsatz von Strafe muss sich also in strikten Grenzen halten und bedarf in jedem Fall einer besonderen Legitimation, gerade in einem europäischen Kontext. Dazu müssen primär jene europäischen Normen berücksichtigt werden, die bereits jetzt Einfluss auf dieses Legitimationserfordernis ausüben. Aus dem Europarecht im weiteren Sinne ist hier insbesondere an die Konvention zum Schutze setzt werden [sollten]“; doch schon im folgenden Atemzug heißt es: „Mindestnormen in Bezug auf die Definition von Straftaten und die Festsetzung von Sanktionen können auch festgelegt werden, wenn sich die Angleichung der Strafrechtsvorschriften der Mitgliedstaaten als unerlässlich erweist, um die wirksame Umsetzung einer Politik der Union sicherzustellen, für die Harmonisierungsmaßnahmen gelten.“ (Ratsdokument 17024/09, S. 29); bereits zur Formulierung im Entwurf des Programms kritisch Satzger, ZIS 2009, 692 (693), optimistischer hingegen zuletzt ders., ZRP 2010, 137 (137, 140). Gegen die Sichtweise, das Strafrecht sei ein rein funktionales Steuerungsinstrument ohne Besonderheiten, s. zudem Hefendehl, ZIS 2006, 161 (161, 167); Hassemer, ZStW 116 (2004), 304 (307); Klip, ZStW 117 (2005), 889 (899); Braum, ZIS 2009, 418 (423). 113 Kritisch auch T. Weigend, FS Roxin, S. 1375 (1381 ff.). Gegen eine „rein instrumentell-etatistische“ Praxis etwa auch Schünemann, GA 2002, 501 (514). 114 Was nicht immer einfach sein dürfte. Denn die denkbaren Einzelfälle, auf die sich die Lösung eines Sachproblems des Allgemeinen Teils auswirken kann, werden oft gar nicht zu überschauen sein. 115 Vgl. etwa das „Manifest“ von Strafrechtslehrern aus zehn europäischen Staaten: Asp u. a., ZIS 2009, 697 (697). Aus deutscher Sicht s. weiter BVerfGE 88, 203 (258), und jüngst BVerfG, NJW 2009, 2267 (2287 f.); Hefendehl, ZIS 2006, 161 (161, 167); Braum, ZIS 2009, 418 (418); aus griechischer Sicht Kaiafa-Gbandi, ZIS 2006, 521 (535); aus spanischer Sicht Pastor Muñoz, GA 2010, 84 (93 f.). Gegen eine „rein instrumentell-etatistische“ Handhabung des Strafrechts z. B. auch Schünemann, GA 2002, 501 (514). – Auch von Vertretern der Europäischen Union wird das durchaus anerkannt. So betonte etwa Generalanwalt Jacobs schon 1992, dass „der Zweck einer Strafsanktion über die bloße Abschreckung hinaus [geht]; er umfasst weiter die gesellschaftliche Missbilligung oder ein Unwerturteil“ (EuGH, Rs. C-240/90 – Deutschland/Kommission –, Slg. 1992, I-5383, Ziff. 11). 116 BVerfG, NJW 2009, 2267 (2288).
C. Methodische Bemerkungen
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der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) zu denken.117 Deren Einflüsse betreffen zwar vorrangig das Strafverfahrensrecht – aber nicht nur dieses: Mit Blick auf das materielle Strafrecht ist insbesondere Art. 7 EMRK von Bedeutung, der den Grundsatz „Keine Strafe ohne Gesetz“ statuiert. Aus dem Europarecht im engeren Sinne wird vor allem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu entfalten sein.118 Denn wie noch näher auszuführen sein wird,119 kommt ihm entscheidende Bedeutung zu für die hier zu lösende „Funktionalitätsfrage“ (wann und wie begründet sich eine Strafe als Sanktion für ein menschliches Verhalten?): Auch auf europäischer Ebene wäre Strafrecht öffentliches Recht; wäre Strafe ein hoheitlicher Eingriff in Grundrechtspositionen des Einzelnen und bedürfte daher einer „verfassungsrechtlichen“ Rechtfertigung vor allem unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Das also sind die (Vertrags-)Ziele und Strukturen, denen die im Vergleich zu findenden Lösungen genügen müssen. Möglich, aber nicht zwingend ist es, darüber hinaus auch unverbindliche und modellhafte Regelungen wie das Corpus Juris in die Wertung einzubeziehen.120 Wenn schließlich unter Berücksichtigung dieser Vorgaben sich weiterhin unterschiedliche nationale Lösungsmöglichkeiten für ein Sachproblem bieten, dann bleibt nur, das Wertungsproblem so zu lösen wie jede andere rechtsdogmatische Fragestellung auch: durch überzeugende Argumente.121 So spricht es für eine bestimmte Lösung, wenn sie klar, praxistauglich und einfach ist.122 Andererseits mögen für bestimmte Sachprobleme komplexe dogmatische Lösungen unverzichtbar sein. Man sieht, abstrakt gültige Kriterien für die Güte einer Argumentation lassen sich im Vorhinein nur noch sehr bedingt nennen. Eben deshalb fehlt es wohl an einer detaillierteren Klärung dessen, was „wertende Rechtsvergleichung“ genau bedeutet. Klar ist aber: Eine „einzig richtige Lösung“ kann es in einem solchen Vergleich nicht geben. Es 117 Zu deren Auswirkungen auf das Straf- und Strafprozessrecht Hecker, § 3 Rn. 18 ff.; Satzger, Europäisches Strafrecht, § 10 Rn. 1 ff.; LK-T. Weigend, Einleitung, Rn. 85. 118 Zu dessen Bedeutung als „europaweit durchgehendes gemeinsames Prinzip und Grunderfordernis auch für die Sanktionsverhängung“ vgl. Tiedemann, Freiburg-Symposium, S. 3 (4). 119 Unten Zweiter Teil, A. II. 1. b) und Dritter Teil, B. I. 120 Denkbar wäre es überdies, über den europäischen Rahmen hinaus zu blicken und insbesondere das (völkerrechtliche) Statut des Internationalen Strafgerichtshofs in den Vergleich einzubeziehen – das in Teil 3 ebenfalls Aspekte eines Allgemeinen Teils enthält; vgl. insoweit etwa Ambos, Internationales Strafrecht, § 7 Rn. 2 ff.; Tiedemann, Freiburg-Symposium, S. 3 (4 f.); Jesse, S. 179 ff. Die vorliegende Arbeit will sich aber gerade bewusst auf diesen europäischen Rahmen konzentrieren und lässt das Statut daher außen vor. 121 s. dazu aus rechtsphilosophischer Sicht Grasnick, JZ 2004, 232 (234 ff.); ferner jüngst Robles Planas, ZIS 2010, 357 (362 f.). 122 Zu Klarheit und Einfachheit als Qualitätsmerkmalen des Verbrechensbegriffs vgl. Jescheck/Weigend, S. 198; Walter, Der Kern des Strafrechts, S. 10; Jesse, S. 22 f.
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1. Teil: Einleitung
geht vielmehr darum, ein tragfähiges und überzeugungskräftiges Konzept der Straftat herzustellen. Im Bewusstsein dessen sei die Methode des hier angestellten Vergleichs wie folgt zusammen gefasst: Die erarbeiteten Lösungen werden zunächst daraufhin geprüft, inwieweit sie eine gemeinsame Tendenz aufweisen. Gibt es solch eine quantitative Tendenz, so spricht dies erst einmal dafür, die betreffende Lösung für die europäische Ebene zu übernehmen. Je stärker die Tendenz, um so mehr spricht dabei für ihre Übernahme.123 Das entscheidende Kriterium ist jedoch die Qualität, die Überzeugungskraft eines Standpunkts. Deshalb ist es zulässig und sogar geboten, für einen gemeinsamen europäischen Straftatbegriff auch eine nur vereinzelt vertretene nationale Sichtweise zu favorisieren, wenn für sie die besseren Argumente sprechen. Dafür bedarf es dann zwar eines erhöhten Argumentationsaufwands: Er muss um so höher sein, je weniger verbreitet diese Lösung ist. Dennoch: Nicht der rein quantitativ ermittelte (kleinste) gemeinsame Nenner ist es, der in der Waagschale der Rechtsvergleichung den Ausschlag gibt.124 Es ist die Kraft, die Schlüssigkeit und die Eleganz der Argumentation.
123 Gibt es sogar eine einhellige Position, so wird diese als solche festgehalten (und erst im letzten Kapitel einer etwaigen Kritik unterzogen). 124 In diesem Sinne bereits Zweigert, RabelsZ 28 (1964), 601 (610 f., 621 f.); ferner Vogel, JZ 1995, 331 (336); Brockhaus, S. 24; Tiedemann, Freiburg-Symposium, S. 3 (5 f.: „Ausrichtung [auch] an der fortschrittlichsten nationalen Regelung“); Dannecker, Freiburg-Symposium, S. 147 (148); ders., FS Hirsch, S. 141 (149).
Zweiter Teil
Die Straftatbegriffe in Deutschland, England, Frankreich und Polen – Landesberichte A. Der Straftatbegriff in Deutschland I. Historische Entwicklung Bereits in den einleitenden Bemerkungen dieser Arbeit ist deutlich geworden, dass der heutige deutsche Verbrechensbegriff das Ergebnis einer langen geschichtlichen Entwicklung ist – frühe Spuren einer deutschen Strafrechtslehre sind bereits ab dem späten Mittelalter auszumachen.1 Die ersten Ansätze einer modernen Verbrechenssystematik bilden sich jedoch erst zu Anfang des 18. Jahrhunderts heraus, als ein gemeinsames Produkt mittelalterlich-italienischer Begriffe und naturrechtlicher Methoden.2 Nahezu zwei weitere Jahrhunderte dauert es noch, bis daraus zum ersten Mal ein wirkliches, in sich geschlossenes und nachhaltig wirkungskräftiges Straftatsystem entsteht.3 Von diesem Zeitpunkt an, das heißt ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert, lassen sich rückblickend drei weitere Entwicklungsstufen unterscheiden, die unter den Bezeichnungen klassischer, neoklassischer und finalistischer Verbrechensbegriff geläufig sind.4 Von ihnen ist das heute herrschende deutsche Straftatsystem nach wie vor beeinflusst. Es lohnt deshalb, sie hier noch einmal zumindest in groben Strichen nachzuzeichnen. 1. Der klassische Verbrechensbegriff Erstmalig in umfassend systematischer Gestalt präsentiert sich die Lehre von der Straftat im heute so genannten „klassischen Verbrechensbegriff“, der sich in Deutschland unter dem prägenden Einfluss v. Liszts5 und Belings6 um die Wende 1
Zur historischen Entwicklung des Straftatbegriffs s. schon oben Erster Teil, A. I. Schaffstein, Die allgemeinen Lehren vom Verbrechen, S. VI, sowie S. 10 ff., 16 ff., 24 f., 34 ff. zu den voraus gegangenen Entwicklungen. 3 Zur rechtsphilosophischen Entwicklung s. Lesch, S. 17 f.; Safferling, Vorsatz und Schuld, S. 7 ff. 4 s. nur Jescheck/Weigend, S. 199. 5 Das deutsche Reichsstrafrecht, 1881. 2
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2. Teil: Landesberichte
zum 20. Jahrhundert Bahn bricht. Das geistesgeschichtliche Fundament dieses Systems bildet zum einen der Liberalismus,7 zum anderen der rechtswissenschaftliche Positivismus.8 Mit dem Liberalismus verband sich die Forderung nach Rechtsstaatlichkeit; und diese bedingte im strafrechtlichen Kontext ein klares dogmatisches System, das die Tätigkeit des Strafrichters berechen- und nachprüfbar machen sollte. Der Positivismus hingegen gebot, ein solches System – wie in einer Naturwissenschaft – allein auf beschreibbare empirische Fakten zu gründen. Beiden Forderungen trug der klassische Verbrechensbegriff in gewisser Weise Rechnung. Nach ihm ist die Straftat bekanntlich viergliedrig konzipiert als eine Handlung, die tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft ist.9 Der Begriff der Handlung ist dabei rein naturalistisch („kausal“) zu verstehen als ein gewillkürtes, das heißt von einem Willen überhaupt getragenes Körperverhalten, das eine bestimmte Folge in der Außenwelt herbei führt. Als tatbestandsmäßig wird diese Handlung bezeichnet, wenn sie einem geschriebenen Tatbestand des Besonderen Teils entspricht. Hiermit ist allerdings noch kein Unwerturteil verbunden; die Tatbestände stellen vielmehr nur deskriptive, vollkommen wertfreie Vertypungen eines bestimmten äußeren Geschehens dar. Sie begründen jedoch ein Indiz für die Rechtswidrigkeit der Handlung; ein Indiz, das nur bei Eingreifen eines geschriebenen Rechtfertigungsgrundes widerlegt zu werden vermag. Die Rechtswidrigkeit wird demnach rein formal betrachtet als Widerspruch zu den geschriebenen Strafgesetzen. In der Kategorie der Schuld schließlich sind all jene Elemente der Tat zusammen gefasst, die sich auf die Person des Handelnden, auf sein geistiges und seelisches Innenleben beziehen. Dazu zählen zunächst seine Zurechnungsfähigkeit als Schuldvoraussetzung, ferner Vorsatz oder Fahrlässigkeit, die als psychologische Ausdrucksformen der Schuld aufgefasst werden, sowie der strafrechtliche Notstand als Schuldausschließungsgrund. Der so verstandene Schuldbegriff firmiert als „psychologischer Schuldbegriff“. Selbst in dieser verknappten Darstellung wird das hauptsächliche Charakteristikum des klassischen Verbrechensbegriffs deutlich, nämlich die strikte Unterscheidung zwischen dem „objektiven“ Unrecht einer Tat (naturalistische Handlung, objektiv-deskriptiver Tatbestand, objektiv-formelle Rechtswidrigkeit) auf der einen Seite und der subjektiven Schuld des Täters auf der anderen. Eingekleidet ist diese Unterscheidung in ein klares dogmatisches System mit exakt defi-
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Grundzüge des Strafrechts, 1899; Die Lehre vom Verbrechen, 1906. s. etwa Maurach/Zipf, § 6 Rn. 21 ff. 8 Jescheck/Weigend, S. 203. 9 Zum Folgenden Gallas, ZStW 67 (1955), 1 (2); Hünerfeld, ZStW 93 (1981), 979 (981 ff.); Jescheck, ZStW 73, 179 ff. (183 ff.); LK11-Jescheck, Vor § 13 Rn. 13 ff.; Jescheck/Weigend, S. 202 f.; Roxin, AT, § 7 Rn. 15; Schünemann, Einführung, S. 1 (19 ff.). 7
A. Der Straftatbegriff in Deutschland
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nierten Begriffen. Diese Errungenschaften prägen die folgende Entwicklung maßgeblich weiter – letztendlich bis heute. 2. Der neoklassische Verbrechensbegriff Unter dem Einfluss des Neukantianismus erfährt die v. Liszt-/Belingsche Verbrechenslehre bis zum Jahr 1930 eine Reihe von Modifizierungen, ohne dass sie allerdings in ihren Grundzügen verändert würde. Insofern rechtfertigt es sich, diese zweite Stufe der geschichtlichen Entwicklung mit Jescheck10 als „neoklassischen Verbrechensbegriff“ zu bezeichnen. Gekennzeichnet ist diese Stufe von einer Besinnung auf bestimmte Zwecke und Wertungen, die dem Strafrecht nach Meinung der „Neoklassiker“ zugrunde liegen und die der Positivismus zuvor in das Reich bloßer Spekulationen verwiesen hatte. Diese neue „teleologische Verbrechenslehre“ – die sich besonders markant bei Mezger11 niederschlägt – zeitigt Auswirkungen auf alle vier Elemente der klassischen Straftat.12 Der naturalistisch-kausale Handlungsbegriff weicht dem Topos vom menschlichen Verhalten; teilweise plädiert man gar dafür, die Handlung als eigenständiges Glied im Verbrechensaufbau ganz aufzugeben. Der Tatbestand ist nicht länger wertfreie Umschreibung eines Außenweltgeschehens; man legt ihm jetzt vielmehr einen bestimmten Zweck bei – und dieser Zweck ist der Rechtsgüterschutz. Damit verbindet sich die Erkenntnis, dass zuweilen bereits für das Verständnis tatbestandlichen Unrechts normative und subjektive Elemente in die Betrachtung mit einzubeziehen sind (deutlich etwa beim Diebstahl, der schon im Tatbestand nicht bloß eine „objektive“ Wegnahme, sondern eine solche gerade in Zueignungsabsicht erfordert). Auch die Rechtswidrigkeit wird nun materiell bestimmt, nämlich wiederum unter dem Aspekt des Rechtsgüterschutzes. Auf dieser Grundlage gelangt man zur Anerkennung eines übergesetzlichen Rechtfertigungsgrunds für all die Fälle, in denen eine umfassende Güter- und Pflichtenabwägung zu Gunsten des Handelnden ausfällt. Der überkommene psychologische Schuldbegriff schließlich wird durch einen normativen Schuldbegriff abgelöst, dessen einzelne Elemente durch das Schlagwort von der persönlichen „Vorwerfbarkeit“ verklammert sind. Im Ergebnis bleibt die klassische Scheidung von Unrecht und Schuld damit auch im neoklassischen System erhalten, nun jedoch nicht länger als Trennung von Objektivem und Subjektivem, sondern von materieller Sozialschädlichkeit und persönlicher „Vorwerfbarkeit“. 10
Jescheck/Weigend, S. 204. Strafrecht, 1. Aufl. 1931. 12 s. zum Folgenden wiederum Gallas, ZStW 67 (1955), 1 (2 ff.); Hünerfeld, ZStW 93 (1981), 979 (983 f.); Jescheck, ZStW 73, 179 ff. (190 ff.); LK-Jescheck, Vor § 13 Rn. 16 f.; Jescheck/Weigend, S. 204 ff.; Roxin, AT, § 7 Rn. 16 f.; Schünemann, Einführung, S. 1 (24 ff.). 11
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2. Teil: Landesberichte
3. Der finalistische Verbrechensbegriff Nach dem nationalsozialistischen Intermezzo, in dem sich auch die Strafrechtswissenschaft dem politischen Regime ergeben gezeigt hatte, ändert sich der deutsche Verbrechensbegriff wiederum nachhaltig. Ausgangspunkt der Neuerungen ist die Lehre vom „Finalismus“. Kurze Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg durch Welzel13 begründet, prägt sie die deutsche Dogmatik insbesondere der sechziger Jahre. Rechtsphilosophisch steht die neue Lehre in der Tradition Hegels, fußt auf phänomenologischen und ontologischen Theorien, nach denen das menschliche Sein bestimmten, anthropologisch vorgegebenen Strukturgesetzen folge. Solche „sachlogischen Strukturen“ sollen nunmehr auch das Fundament einer modernen, personal-ethisch orientierten Strafrechtsdogmatik bilden.14 Sachlogisch vorgegeben ist aus finalistischer Sicht die Handlung, und zwar im Sinne einer „final überdeterminierten“, das heißt auf bestimmte Zwecke hin ausgerichteten Handlung, die sich von dem kausalen Handlungsbegriff des klassischen Verbrechenssystems deutlich abhebt. Die so verstandene Handlung setzt Welzel gleich mit dem strafrechtlichen Vorsatz, der damit in den Bereich des Tatbestands vorverlagert wird – wohingegen das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit auf der Schuldebene verortet bleibt. Zu den Folgewirkungen dieser Innovation zählen die Trennung von Tatbestands- und Verbotsirrtum sowie das Erfordernis einer vorsätzlichen Haupttat bei der Teilnahme. Beiden Neuerungen kommt heute Gesetzeskraft zu (§§ 16, 17, 26, 27 StGB). Das dogmatisch bislang noch nicht voll entfaltete Fahrlässigkeitsdelikt stellt sich aus finalistischer Sicht dar als Nichtausnutzung möglicher Finalität auf Tatbestandsebene sowie als Verletzung der vom Täter individuell zu erwartenden Sorgfalt auf Schuldebene. Eine letzte nachhaltige Konsequenz des Finalismus liegt schließlich in der Herausarbeitung eines doppelten Verständnisses der Rechtswidrigkeit bzw. des strafrechtlichen Unrechts: des auf die Person des Täters bezogenen Handlungsunrechts und des auf das Verletzungsobjekt bezogenen Erfolgsunrechts.
II. Der Straftatbegriff in der aktuellen deutschen Dogmatik In dem heute herrschenden deutschen Straftatsystem sind die skizzierten historischen Vorläufer noch außerordentlich präsent. Den äußeren Rahmen des Systems bildet nach wie vor die klassische Struktur der tatbestandsmäßigen, rechts13
Das Deutsche Strafrecht, 1. Aufl. 1947. Zu den nachfolgend umrissenen Charakteristika des Finalismus vgl. Hünerfeld, ZStW 93 (1981), 979 (984 f.); Jescheck, ZStW 73, 179 ff. (203 ff.); LK-Jescheck, Vor § 13 Rn. 18 ff.; Jescheck/Weigend, S. 209 ff.; Roxin, AT, § 7 Rn. 18; Schünemann, Einführung, S. 1 (19, 34 ff.). 14
A. Der Straftatbegriff in Deutschland
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widrigen und schuldhaften Handlung. In diese Struktur sind allerdings die materiellen Neuerungen, die sich mit dem Aufkommen des Finalismus verbanden, weitest gehend aufgenommen – ohne dass jedoch die finalistische Konzeption als ganze, insbesondere einschließlich ihrer Handlungslehre, akzeptiert worden wäre.15 Eine bedeutende Konsequenz dieser dogmatischen Entwicklung ist, dass heute der Vorsatz bereits als Element des Tatbestands erscheint. Nach der Schuld werden gegebenenfalls noch besondere Voraussetzungen der Strafbarkeit erörtert. Insgesamt ergibt sich damit eine Synthese aus den überlieferten Straftatbegriffen,16 die sich schematisch wie folgt darstellen lässt: 1. Handlung 2. Tatbestandsmäßigkeit a) Objektiver Tatbestand b) Subjektiver Tatbestand 3. Rechtswidrigkeit 4. Schuld 5. Sonstige Strafbarkeitsvoraussetzungen
Zu beachten ist, dass der so konzipierte Verbrechensbegriff umgeben ist von einem spezifischen verfassungsrechtlichen Rahmen, dessen begrenzenden Vorgaben er genügen muss. Auf diese verfassungsrechtlichen Vorgaben ist im Folgenden zunächst im Überblick einzugehen, bevor anschließend die einzelnen Elemente des Verbrechensmodells in der dargestellten Reihenfolge abzuhandeln sind. Die Frage nach dem Nachweis der Tat im Strafverfahren17 soll zum Schluss betrachtet werden. 1. Verfassungsrechtliche Vorgaben a) Gesetzlichkeitsgrundsatz Das Strafrecht ist Teil des öffentlichen Rechts.18 Denn Strafgesetze berechtigen und verpflichten ausschließlich den Staat dazu, die im Gesetzeswortlaut als Rechtsfolgen vorgesehenen Sanktionen zu verhängen. Dabei muss der Staat jedoch bestimmte verfassungsrechtliche Vorgaben beachten. Da jede Strafe immer einen Eingriff (zumindest) in das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG darstellt, bedarf sie in jedem einzelnen Fall einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Grundlegendes Erfordernis dieser Rechtferti15 s. etwa Satzger/Schmitt/Widmaier/Kudlich, Vor §§ 13 ff. Rn. 6. Einen Überblick über die postfinalistischen Ansätze liefert Safferling, Vorsatz und Schuld, S. 81 ff. 16 MK-Freund, Vor § 13 ff. Rn. 13. 17 Vgl. oben Erster Teil, C. II. 1. 18 Maurach/Zipf, § 2 Rn. 1.
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2. Teil: Landesberichte
gung ist ein Strafgesetz. Das folgt einerseits allgemein aus dem Rechtsstaatsprinzip,19 andererseits aber auch noch einmal speziell aus dem in Art. 103 Abs. 2 GG festgeschriebenen Gesetzlichkeitsgrundsatz, der sich wortgleich auch in § 1 StGB wiederfindet: „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“ Dieser heutige Wortlaut steht in der Tradition der berühmten, auf Feuerbach zurück gehenden Formel: „Nullum crimen, nulla poena sine lege scripta, certa, praevia, stricta.“ 20 Aus ihr ergeben sich die vier bis heute gültigen Vorgaben des Gesetzlichkeitsgrundsatzes. Es sind dies das Verbot strafbegründenden Gewohnheitsrechts, das Gebot der hinreichenden inhaltlichen Bestimmtheit von Strafgesetzen, das Verbot ihrer rückwirkenden Anwendung sowie das Verbot der Analogie zu Lasten des Beschuldigten.21 b) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Das Strafgesetz – und auch seine Anwendung im konkreten Einzelfall – muss ferner jenen allgemeinen rechtsstaatlichen Anforderungen entsprechen, die in der deutschen Grundrechtslehre als „Schranken-Schranken“ bezeichnet werden.22 Von besonderer Relevanz ist dabei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Danach muss die Rechtsfolge „Strafe“ für die Erreichung eines legitimen Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen sein. Legitimer Zweck der Strafe ist, allgemein gesprochen, der Rechtsgüterschutz.23 Man kann diesen Gedanken präzisieren, indem man auf die (in Deutschland) bereits durch Binding24 eingeführte Unterscheidung von Verhaltens- und Sanktionsnormen zurück greift: Das Strafgesetz selbst ist eine Sanktionsnorm. Es vermag bei Lichte betrachtet keine Rechtsgüter unmittelbar zu schützen – gelangt es doch zwangsläufig immer erst dann zur Anwendung, wenn ein Rechtsgut bereits verletzt worden ist. Der Sanktionsnorm liegt aber stets eine ungeschriebene Verhaltensnorm25 zugrunde, die 19 Und zwar genauer aus dem Vorbehalt des Gesetzes, wonach der Staat in (Grund-) Rechtspositionen des Bürgers nur aufgrund eines Gesetzes eingreifen darf, s. Wolff/ Bachof/Stober/Kluth, § 18 Rn. 14 f. 20 Feuerbach, S. 20. 21 Diese einzelnen Ausprägungen bedürfen hier keiner näheren Erläuterung. Einzelheiten z. B. bei MK-Schmitz, § 1 Rn. 23 ff. Hingewiesen sei jedoch auf einen – allerdings weithin ignorierten – Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG: Er betrifft die so genannten „qualifizierten Blankettnormen“. Sie stellen es in verfassungswidriger Weise der Exekutive anheim, per Rückverweisung auf das Blankettgesetz über das „Ob“ der Strafbarkeit zu bestimmen; s. dazu näher MK-Freund, Vor §§ 95 ff. AMG, Rn. 47 ff., 54 (mit weiteren Nachweisen). 22 Vgl. statt aller Pieroth/Schlink, Rn. 274 ff., auch zum gleich Folgenden. 23 Das ist allerdings sowohl im Grundsätzlichen als auch im Einzelnen umstritten, vgl. ausführlich Roxin, AT, § 2 Rn. 2 ff. Ein Überblick über die tradierten Strafzwecke findet sich bei Maurach/Zipf, § 6 Rn. 1 ff. 24 Binding, Erster Band, S. 3 ff.
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direkt auf den Schutz eines bestimmten Rechtsguts abzielt. Beispielhaft: Der Satz „Du sollst nicht töten!“ ist eine Verhaltensnorm, die unmittelbar das Rechtsgut Leben schützt. Wird diese Verhaltensnorm verletzt, findet die Sanktionsnorm des § 212 Abs. 1 StGB Anwendung: „Wer einen anderen Menschen tötet, wird [. . .] bestraft.“ Der legitime Zweck der Sanktionsnormen liegt nicht im Schutz des schon (und unwiederbringlich) verletzten Lebens; er liegt im Schutz der Verhaltensnormenordnung. Strafe, legitim verstanden, ist demnach der staatliche Widerspruch gegenüber einem Normverstoß; ihr Ziel ist es, die Gefahr eines Normgeltungsschadens abzuwehren.26 Aus dem Gesagten folgt weiter: Wenn eine Verhaltensnorm in der geschilderten Weise per Strafeinsatz geschützt werden soll, muss sie ihrerseits rechtlich legitimierbar sein. Schon sie muss den Anforderungen des öffentlichen Rechts genügen, insbesondere verhältnismäßig sein – und zwar konkret bezogen auf die Situation, für die sich (später) die Frage einer Strafbarkeit stellt.27 c) Das Schuldprinzip Verfassungsrang genießt schließlich auch noch der Satz „Keine Strafe ohne Schuld“ – das so genannte Schuldprinzip.28 Da die Schuld jedoch wie gesehen üblicherweise ein eigenständiges Element im Verbrechensaufbau darstellt, sei ihre nähere Erörterung hier zunächst noch zurückgestellt.29 2. Die einzelnen Elemente des Verbrechens a) Handlung Das erste eigentliche Element des Verbrechensbegriffs ist nach herkömmlicher Konzeption die Handlung. Diese grundlegende Kategorie bildet – jedenfalls 25 Solche Verhaltensnormen entstehen aus der gesellschaftlichen Notwendigkeit, tagtäglich aufeinander treffende (grundrechtlich) geschützte Freiheiten und Güterinteressen zu einem verträglichen Ausgleich zu bringen. Dazu „[bilden] die Bürger im Umgang miteinander [. . .] von sich aus Normen [. . .], die einen verträglichen Gebrauch ihrer Freiheit ermöglichen.“, Müller-Franken, FS Bethge, S. 223 (250). 26 Zu alledem Freund, AT, § 1 Rn. 1 ff.; MK-ders., Vor §§ 13 ff. Rn. 62 ff.; Jakobs, AT, 1/9 ff.; und wiederum bereits Binding, Erster Band, S. 172 f. 27 s. näher Freund, AT, § 1 Rn. 12 ff. 28 Er wird aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG, und aus dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 3 GG, abgeleitet, s. BVerfGE 20, 323 (331); 95, 96 (140); BVerfG, NJW 2004, 2073 (2073); zuletzt bekräftigt in BVerfG, NJW 2009, 2267 (2289); s. auch MK-Freund, Vor § 13 Rn. 216; Heinrich, AT I, Rn. 525. 29 Unten A. II. 2. d) – Tatsächlich „steckt“ das Schulderfordernis bereits im Verhaltensnormverstoß; ohne einen solchen fehlt es bereits am Bedürfnis nach einer strafrechtlichen Reaktion, vgl. Freund, AT, § 4 Rn. 1 ff., und den weiteren Gang dieses Vergleichs.
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theoretisch – den Ausgangspunkt für jegliche weitere Untersuchung der Merkmale einer Straftat.30 Ihre Prüfung noch vor der Tatbestandsebene soll erweisen, ob überhaupt ein geeignetes Objekt strafrechtlicher Bewertung vorliegt, bevor diese Bewertung beginnt.31 Um diesem Anspruch zu genügen, muss der Handlungsbegriff einerseits Verhaltensweisen ausschließen, denen in keinem Fall strafrechtliche Relevanz zukommt. Andererseits darf diese Abgrenzungsfunktion nicht so weit führen, dass auch nur eine Erscheinungsform strafbaren Verhaltens nicht mehr erfasst wird. Idealerweise soll der Handlungsbegriff schließlich auch noch so viel materiellen Gehalt besitzen, dass die folgenden Systembegriffe Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld im Sinne näherer Erläuterungen an ihn anschließen können.32 Derart herausgefordert, hat sich die deutsche Lehre lange Zeit in vehementen Debatten darüber ergangen, wie der Begriff der Handlung richtigerweise zu bestimmen sei. Erschwert wurde eine Verständigung dadurch, dass aus „puristisch“-finalistischer Sicht die Handlung ja eine sachlogisch vorgegebene Entität darstellt und deshalb (abweichender) wissenschaftlicher Konstruktion an sich nicht zugänglich ist. Wenngleich dieser Meinungsstreit schon seit geraumer Zeit deutlich an Brisanz verloren hat,33 rivalisieren in der strafrechtlichen Literatur doch nach wie vor verschiedene Handlungskonzeptionen miteinander: Die schon erwähnten „kausalen“ und „finalen“ Handlungslehren werden weiterhin vertreten; zu ihnen haben sich ferner neuere Modelle gesellt, als wohl prominenteste die personale, die negative und die soziale Handlungslehre.34 In dieser Vielfalt lässt sich ein „herrschender“ Handlungsbegriff gegenwärtig schwerlich bis gar nicht ausmachen. Im praktischen Ergebnis jedoch stimmen die vertretenen Konzepte nahezu vollständig überein.35 Da diese Ergebnisse es sind, die für unseren Vergleich interessieren, seien sie hier ohne nähere Stellungnahme zu dem skizzierten Begriffsstreit betrachtet: Einhellige Meinung ist zunächst, dass bloße Gedanken, Gesinnungen und Pläne noch keine Handlung darstellen. Konsens besteht weiter darüber, dass auch unbeeinflussbare physiologische Vorgänge wie Schwindel, Schwitzen, Erbrechen, Bluten nicht als Handlung angese30 Stellvertretend s. Jescheck/Weigend, S. 218. – Zur Erinnerung: In den Landesberichten dieser Arbeit soll jeweils die vorherrschende Anschauung des Verbrechensbegriffs dargestellt werden; vgl. oben Erster Teil, C. II. 1. 31 Kühl, AT, § 2 Rn. 3. 32 Maihofer, S. 6 ff.; Jescheck/Weigend, S. 219. 33 Vgl. Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, Vorbem §§ 13 ff. Rn. 23/24; Stratenwerth/Kuhlen,§ 6 Rn. 3. 34 Vgl. die Darstellungen bei Baumann/Weber/Mitsch, § 13 Rn. 22 ff.; Jescheck/Weigend, S. 219 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, Vor §§ 13 ff. Rn. 33/34 ff. 35 Vgl. etwa Frister, S. 81; ferner auch Walter, Der Kern des Strafrechts, S. 27. Bezeichnenderweise brauchte sich denn auch die höchstrichterliche Rechtsprechung bislang nicht für einen bestimmten Handlungsbegriff zu entscheiden.
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hen werden können, ebenso wenig Körperbewegungen im Schlaf, in bewusstlosem Zustand, infolge von Epilepsie- oder Krampfattacken oder von nicht beherrschbaren Reflexen.36 Auch Körperbewegungen unter dem Einfluss unwiderstehlicher, das heißt unmittelbar körperlich wirkender Gewalt (vis absoluta) sind anerkanntermaßen keine Handlungen im strafrechtlichen Sinne.37 b) Tatbestandsmäßigkeit Ist – wie meist – die Qualifikation eines Geschehens als Handlung unproblematisch, so setzt die strafrechtliche Prüfung sogleich auf der folgenden Systemstufe ein: bei der Frage, ob die Handlung tatbestandsmäßig ist, also einem strafgesetzlichen Tatbestand entspricht. 1906 von Beling für das Strafrecht fruchtbar gemacht,38 fungiert der Begriff des Tatbestands noch heute als zentrales Element der Verbrechenslehre. Die Kategorie des Tatbestands „schneidet [. . .] aus der Fülle der menschlichen Handlungsvollzüge diejenigen heraus, die strafrechtlich relevant sind.“ 39 Dabei fasst jeder einzelne Tatbestand jeweils die Merkmale zusammen, die den Inbegriff, den typischen Unrechtsgehalt des konkret verbotenen Tuns oder Unterlassens umschreiben.40 Solch eine Vertypung von Verhaltensweisen in Straftatbeständen ist nach deutschem Verfassungsrecht, Art. 103 Abs. 2 GG, die unentbehrliche Grundlage für jegliche Bestrafung. Während die klassische deutsche Lehre – wie oben bereits dargelegt – den Tatbestand als eine rein „objektive“, wertneutrale Kategorie postuliert hatte, setzte sich in den folgenden Jahrzehnten die Auffassung durch, dass tatbestandliches Unrecht regelmäßig durch subjektiv-individuelle Momente mitbestimmt werde.41 Aus dieser Einsicht hat sich die heute noch vorherrschende Zweiteilung in einen „objektiven Tabestand“ und einen „subjektiven Tatbestand“ entwickelt: zwei auseinander zu haltende Momente eines zusammen gehörigen Ganzen.42
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Lackner/Kühl, Vor § 13 Rn. 7; LK-Walter, Vor § 13 Rn. 38. SK-Rudolphi, Vor § 1 Rn. 21; Kühl, AT, § 2 Rn. 5. 38 Beling, Die Lehre vom Verbrechen, S. 1 ff., 110 ff. 39 So die Formulierung Welzels, Strafrecht, S. 53. – Der Tatbestand in diesem Sinne wird häufig als Systemtatbestand, Tatbestand im engeren Sinne oder als Unrechtstatbestand beschrieben, dem (neben anderen) ein Garantie- oder Tatbestand im weiteren Sinne gegenüber gestellt wird; vgl. Roxin, AT, § 10 Rn. 10 ff.; Wessels/Beulke, Rn. 117 f. 40 Beling, Die Lehre vom Verbrechen, S. 3; Wessels/Beulke, Rn. 119. 41 Vgl. nochmals den historischen Abriss oben in diesem Teil, A. I. 42 s. Roxin, AT, § 10 Rn. 53, der betont, dass diese Trennung nur der „äußeren Ordnung“ diene und nicht darüber hinweg täuschen dürfe, dass „die Tatbestandshandlung eine Einheit innerer und äußerer Faktoren“ bilde. 37
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aa) „Objektiver Tatbestand“ Die Prüfung, ob ein Tatbestand erfüllt ist, beginnt grundsätzlich43 mit dessen „objektiver Seite“. Diese umfasst alle „objektiven“ Handlungs- oder Unterlassungsmomente, die der Wortlaut des jeweils in Rede stehenden Strafgesetzes fordert; dementsprechend nimmt er im Einzelnen mannigfaltige Gestalt an. Im Modell strukturiert die herrschende Lehre den „objektiven Tatbestand“ jedoch stets wie folgt: Eine Handlung führt zu einem Erfolg, und dies in kausaler und „objektiv zurechenbarer“ Weise.44 (1) Handlung Mit dem Begriff der Handlung ist dabei in diesem Zusammenhang nicht dasselbe gemeint wie zuvor.45 Im Kontext des objektiven Tatbestands betrifft der Begriff also nicht die Frage nach einem strafrechtlich relevanten Verhalten überhaupt – diese Frage soll ja, falls relevant, bereits im Vorfeld des Tatbestands beantwortet worden sein. Handlung meint vielmehr nun das spezifische Verhalten, dessen es zur Erfüllung des konkret in Rede stehenden Delikts bedarf.46 Im Falle des Mordes gemäß § 211 Abs. 1 StGB beispielsweise ist dies ein besonders geartetes Tötungsverhalten, im Falle des Betrugs gemäß § 263 Abs. 1 StGB eine Täuschung über Tatsachen, im Fall der Urkundenfälschung nach § 267 Abs. 1 Fall 1 StGB die Herstellung einer unechten Urkunde usw. – Wie der vortatbestandliche Handlungsbegriff ist allerdings auch der „innertatbestandliche“ wertungsfrei konzipiert in dem Sinne, dass auch hier ein Verhalten noch nicht auf seine tatbestandliche Missbilligung hin untersucht wird. Wenn etwa ein Arzt den Tod eines sterbenskranken Patienten auf dessen Wunsch hin mit Medikamenten beschleunigt – oder die Schmerzen des Patienten lindert und dabei als unvermeidliche Nebenfolge eine solche Beschleunigung des Todes bewirkt –, würde die bislang herrschende Meinung eine (Tötungs-)Handlung wohl unproblematisch bejahen und das Wertungsproblem erst an späterer Stelle thematisieren.47 Schon die wenigen genannten Beispiele verdeutlichen, dass es eine unzählige Fülle von Merkmalen gibt, die die Tatbestandshandlung – je nach Delikt – konturieren. Die tradierte Dogmatik des Allgemeinen Teils unterteilt diese Merkmale in zwei Gruppen: in so genannte deskriptive und normative Tatbestandsmerk-
43 Anders verfährt die herrschende Lehre vor allem beim Versuch, s. dazu nur Wessels/Beulke, Rn. 598, 874, und teilweise auch bei der Mittäterschaft, vgl. Gropp, § 10 Rn. 98. 44 Joecks, Vor § 13 Rn. 11; Wessels/Beulke, Rn. 153 ff. 45 Oben in diesem Teil, A. II. 2. a). 46 Roxin, AT, § 10 Rn. 54, spricht insoweit auch von der „Tatbestandshandlung“. 47 Vgl. dazu Freund, in: Janich, S. 149 (152 ff.).
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male.48 In die erstgenannte Rubrik sollen solche Merkmale fallen, die ein real vorgegebenes und deshalb kognitiv wahrnehmbares Phänomen bezeichnen; als Beispiele werden etwa die Begriffe „Mensch“, „Gebäude“ oder „Sache“ angeführt. Zu der zweiten Gruppe sollen hingegen solche Merkmale gehören, die „überhaupt nur unter logischer Voraussetzung einer Norm vorgestellt und gedacht werden können“ 49; das sei etwa der Fall bei Begriffen wie „fremd“ oder „Urkunde“. Gegen diese Unterscheidung wird in der neueren Literatur zunehmend eingewandt, dass auch vermeintlich „reale“ Phänomene immer nur vor dem Hintergrund eines normativen Kontextes richtig zu verstehen sind.50 Für die Zwecke dieser Arbeit braucht diese Problematik allerdings – jedenfalls einstweilen – nicht vertieft zu werden. (2) Unterlassung Nicht nur durch aktives Tun kann jemand eine Straftat begehen, sondern auch durch ein (begehungsgleiches) Unterlassen.51 Die Grenze zwischen beiden Formen der Tatbestandserfüllung kann mitunter unscharf sein;52 in solchen Fällen knüpft die Rechtsprechung traditionell an das Verhaltensmoment an, bei dem bei normativ-wertender Betrachtungsweise der „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“
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Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, Vorbem §§ 13 ff. Rn. 64, auch zum Folgen-
den. 49 So die klassische Formulierung von Engisch, FS Mezger, S. 127 (147); ebenso Roxin, AT, § 10 Rn. 60. 50 s. MK-Freund, Vor § 13 Rn. 15; gegen Beibehaltung der Dichotomie deskriptiv – normativ etwa auch Safferling, Vorsatz und Schuld, S. 139 f. („Relikt aus naturalistischem Denken“). 51 Anerkanntermaßen sachlich verfehlt ist die überkommene Redeweise von „unechten“ Unterlassungsdelikten, denen die (hier nicht näher zu behandelnden) „echten“ Unterlassungsdelikte (Nichtanzeige geplanter Straftaten nach § 138 StGB, unterlassene Hilfeleistung nach § 323c StGB) gegenüber stünden; vgl. näher MK-Freund, § 13 Rn. 55; dens., AT, § 6 Rn. 12. Diese letzteren Delikte lassen sich als nichtbegehungsgleiche Unterlassungsdelikte bezeichnen. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass die ihnen zugrunde liegende Verhaltensnorm lediglich ganz allgemein durch den Gedanken des Rechtsgüterschutzes legitimiert ist. Dagegen ruht die Verhaltensnorm bei begehungsgleichem Unterlassen zusätzlich noch auf einer zweiten Säule: der Sonderverantwortlichkeit – zu ihr näher sogleich im Text; zum Ganzen MK-Freund, § 13 Rn. 22; ders., AT, § 6 Rn. 14. 52 Etwa im Bereich fahrlässigen Verhaltens oder beim Abbruch eigener oder dem Vereiteln fremder Rettungsbemühungen. Klassisch wird insofern zudem der Fall eines Arztes genannt, der ein lebenserhaltendes Gerät per Knopfdruck abschaltet; vgl. etwa Kühl, AT, § 18 Rn. 17: Bei „wertender Betrachtung“ soll hier das Unterlassen (weiterer Behandlung) im Vordergrund stehen. Naturalistisch kann indes kein Zweifel bestehen, dass es sich hier um ein aktives Tun handelt. Die richtige Lösung solcher Fälle kann denn auch nicht von der Einordnung des Verhaltens als Tun oder Unterlassen abhängig sein – so jetzt auch BGH, NStZ 2010, 630 (631 f.). Näher zu der hier nicht zu vertiefenden Problematik MK-Freund, § 13 Rn. 3 ff.; ders., in: Janich, S. 149 (157).
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liege.53 Die Literatur stellt stattdessen vor allem darauf ab, ob jemand Energie einsetzt bzw. die Außenwelt durch eine kausale Einwirkung verändert – dann liege aktives Tun vor –, oder ob er „den Dingen ihren Lauf lässt“ – dann unterlasse er.54 Entscheidendes Kriterium für die Strafbarkeit des Unterlassenden ist nach § 13 Abs. 1 StGB, dass er „rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt.“ Diese Einstandspflicht – üblicherweise als „Garantenpflicht“, treffender als Sonderverantwortlichkeit bezeichnet55 – kann sich aus zwei Grundsituationen ergeben: Jemand kann entweder eine besondere Schutz- und Obhutspflicht für bestimmte Rechtsgüter inne haben. Klassischerweise gilt das für Eltern gegenüber ihren Kindern, für Ehegatten untereinander, daneben aber auch für Angehörige einer besonderen Lebens- oder Gefahrengemeinschaft, für Amtsträger innerhalb ihres Pflichtenkreises, für (enge) Vertragspartner oder für Personen, die sich freiwillig zu Schutz oder Beistand verpflichtet haben.56 Oder aber die Sonderverantwortlichkeit ergibt sich aus einer eröffneten Gefahrenquelle – Beispiele hierfür sind vor allem Verkehrssicherungs- und sonstige Gefahrenabwehrpflichten, aber auch das eigene voraus gegangene gefährdende Tun (Ingerenz).57 In allen Fällen muss es dem Unterlassenden möglich und zumutbar sein, den drohenden Erfolg abzuwenden.58 § 13 Abs. 1 StGB spricht weiter davon, das Unterlassen müsse der Tatbestandsverwirklichung durch aktives Tun entsprechen (Entsprechensformel). Nach überwiegender Ansicht ist diese Einschränkung lediglich bei so genannten verhaltensgebundenen Delikten bedeutsam: Soweit diese eine bestimmte Handlungsmodalität erfordern – etwa die Täuschung als Mittel der Vermögensschädigung beim Betrug –, müsse der hierin liegende „Handlungsunwert“ auch in der Unterlassensvariante gegeben sein.59 (3) Erfolg Zahlreiche Delikte erfordern neben einem Handeln oder Unterlassen einen bestimmten tatbestandlichen Erfolg.60 Der Begriff des Erfolgs ist dabei neutral, im 53 BGHSt 6, 46 (59); aus jüngerer Zeit BGH, NStZ-RR 2006, 10 (11); zustimmend etwa Wessels/Beulke, Rn. 700; Krey, AT 2, Rn. 322; Heinrich, AT II Rn. 866; ohne Kritik auch Fischer, § 13 Rn. 5. 54 Vgl. den Überblick bei Kühl, AT, § 18 Rn. 15 f. 55 s. zur herkömmlichen Terminologie etwa Gropp, § 11 Rn. 8 ff.; zur Sonderverantwortlichkeit Freund, AT, § 6 Rn. 14. 56 s. zur Kasuistik Wessels/Beulke, Rn. 716 ff. 57 Wessels/Beulke, Rn. 723 ff. 58 Fischer, § 13 Rn. 6. 59 Kühl, AT, § 18 Rn. 123; kritisch MK-Freund, § 13 Rn. 190 ff. 60 Beim Unterlassungsdelikt soll dieser Erfolg nach herrschender Ansicht vor dem tatbestandsmäßigen Verhalten zu prüfen sein, s. etwa Frister, S. 28.
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Sinne von „Folge“ zu verstehen. Er bezeichnet eben jene Veränderung der Außenwelt, die ein Tatbestand – wenn es sich um ein Erfolgsdelikt handelt – für eine Bestrafung voraussetzt.61 Bei den Tötungsdelikten ist dies der Tod eines Menschen, bei einem Betrug ein Vermögensschaden und so fort. In zahlreichen Fällen verlangt das Gesetz als tatbestandlichen Erfolg auch (lediglich) eine Gefährdung von Menschen oder Sachen. Allerdings erfordert nicht jedes Delikt einen solchen Erfolg; vielmehr können Verhalten und Erfolg auch zusammen fallen. In solchen Fällen spricht man statt von einem Erfolgs- von einem Tätigkeitsdelikt. Ein Beispiel für Letztere sind die Aussagedelikte der §§ 153 ff. StGB, die neben der jeweiligen falschen Aussageform keine weiteren Voraussetzungen aufstellen, oder der Hausfriedensbruch gemäß § 123 Abs. 1 StGB, dessen Tatbestand bereits mit dem Eindringen oder dem Verweilen in der Wohnung eines anderen erfüllt ist. In solchen Fällen fällt der Erfolg in der Regel mit der Vornahme des tatbestandlichen Verhaltens zusammen – es gibt jedoch auch Ausnahmen; so etwa, wenn eine falsche Aussage lärmbedingt von niemandem akustisch vernommen wird.62 (4) (Quasi-)Kausalität und „objektive Zurechnung“ Sofern ein Delikt einen tatbestandlichen Erfolg voraussetzt, muss dieser in einem kausalen Zusammenhang zu der tatbestandlichen Handlung stehen. Als Mindestanforderung gilt dabei, dass die Handlung erfolgsursächlich im Sinne der so genannten Bedingungs- oder Äquivalenztheorie sein muss. Nach dieser Theorie sind alle Bedingungen eines Erfolgs gleichwertig – äquivalent –; kausal ist danach jede Bedingung, die nicht hinweg gedacht werden kann, ohne dass der tatbestandliche Erfolg entfiele.63 Eine ähnliche Definition, die allerdings den Mechanismen menschlicher Erkenntnis besser gerecht wird, bietet Engischs Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung. Danach ist eine Handlung dann Ursache eines bestimmten Erfolgs, wenn sie in diesem Erfolg auf Grund einer gesetzmäßigen Beziehung tatsächlich wirksam geworden ist.64 Mit Hilfe dieser Formeln lässt sich bestätigen, dass eine bestimmte Bedingung erfolgsursächlich ist – dies allerdings nur im Rahmen bekannter Wirkungsgesetze und letztlich sogar nur dann, wenn man sich über die Wirkungszusammenhänge im konkreten Fall ohnehin schon im Klaren ist. Die Formeln dienen also nicht 61
Joecks, Vor § 13 Rn. 12. Beispiel von Freund, Erfolgsdelikt und Unterlassen, S. 5, Fn. 25. 63 Ständige Rechtsprechung seit BGHSt 1, 332 (333); weitere Nachweise bei Kühl, AT § 4 Rn. 9. – Beim Unterlassungsdelikt spricht man von „Quasi-Kausalität“: Sie ist gegeben, wenn die rechtlich erwartete Handlung nicht hinzu gedacht werden kann, ohne dass der tatbestandsmäßige Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele; vgl. Wessels/Beulke, Rn. 711. 64 Engisch, Kausalität, S. 21 ff. 62
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der Ermittlung der Kausalität, sondern lediglich ihrer sprachlichen Einkleidung.65 Der Nutzen gerade der Äquivalenzformel ist überdies dadurch begrenzt, dass sie eben wegen der Gleichachtung aller erfolgsursächlichen Bedingungen auch solche einbezieht, die offenkundig für die Lösung eines Falles nicht relevant sind: Für den Tod des Mordopfers ist, so das Schulbeispiel, eben auch die Zeugung des Mörders mit ursächlich. Das Beispiel zeigt, dass dem Kriterium der Kausalität allein keine nennenswerte strafbarkeitseingrenzende oder -präzisierende Funktion zukommt. Vor diesem Hintergrund wird es notwendig, ein Geschehen über seine Kausalität im Sinne der Äquivalenzformel hinaus vor allem daraufhin zu überprüfen, ob es dem Handelnden als Folge seines Verhaltens zurechenbar ist. Wie diese Überprüfung auszusehen hat, ist dabei allerdings noch immer umstritten. Ein älterer Vorschlag zielte darauf ab, sich der in der Zivilrechtsdogmatik verbreiteten so genannten Adäquanztheorie zu bedienen. Ihr zufolge gilt eine Handlung nur dann als ursächlich für einen Erfolg, wenn sie „tatbestandsadäquat“ ist, und das heißt: die Möglichkeit des Erfolgseintritts nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht nur unerheblich erhöht hat.66 Unter stärkerer Konzentration auf den Schutzzweck der Norm hat dann die „Relevanztheorie“ 67 den Zurechnungsgedanken von der Frage der Kausalität entkoppelt und als ein eigenständiges, normatives Problem thematisiert. Inzwischen ist es üblich, das skizzierte Sachproblem unter dem Stichwort der „objektiven Zurechnung“ zu behandeln.68 Unter diesem Stichwort hat sich in den letzten Jahren eine weithin konsentierte Grundformel heraus kristallisiert. Danach setzt die „objektive Zurechnung“ eines Erfolgs – über die immer unverzichtbare Kausalität hinaus – zweierlei voraus: Der Beschuldigte muss zunächst eine rechtlich missbilligte (oder auch: rechtlich verbotene, rechtlich relevante, unerlaubte, tatbestandsspezifische) Gefahr des Erfolgseintritts geschaffen haben. Genau diese Gefahr muss sich dann in dem konkreten tatbestandsmäßigen Erfolg auch tatsächlich realisiert haben.69 Schulbeispiel: Täter T schlägt das Opfer O, das infolge dessen im Krankenhaus behandelt werden muss. Dort kommt es zu einem Brand, bei dem O erstickt. Zwar ist T für den Tod des O ursächlich geworden, der Tod ist ihm aber nicht zuzurechnen. Denn T hat durch sein Verhalten 65
So zutreffend MK-Freund, Vor § 13 Rn. 306. Näher Jescheck/Weigend, S. 285 f.; Roxin, AT, § 11 Rn. 39 ff.; Wessels/Beulke, Rn. 169 f. 67 Dazu Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, Vorbem §§ 13 ff. Rn. 89/90; SK-Rudolphi, Vor § 1 Rn. 56. 68 Vgl. Schünemann, GA 1999, 207 (212); Kühl, § 4 Rn. 38 mit weiteren Nachweisen. 69 SK-Rudolphi, Vor § 1 Rn. 57; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, Vorbem §§ 13 ff. Rn. 92; Fischer, Vor § 13 Rn. 25; Lackner/Kühl, Vor § 13 Rn. 14; Kühl, § 4 Rn. 43; Wessels/Beulke, Rn. 179; Schünemann, GA 1999, 207 (212). 66
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lediglich die rechtlich missbilligte Gefahr eines von den Schlägen herrührenden Körperverletzungs- oder sogar Todeserfolgs geschaffen; in dem Erstickungstod hat sich aber nicht genau diese Gefahr realisiert, sondern eine andere.70 Während die genannte Grundformel im Schrifttum ganz überwiegend akzeptiert ist, bietet die Zurechnungslehre in ihren weiteren Verästelungen ein weniger übersichtliches Bild.71 Die meisten einschlägigen Darstellungen fächern die allgemeine Prüfungsformel breit auf in einzelne Fallgruppen, etwa des erlaubten Risikos, der freiverantwortlichen Selbstgefährdung, des Hinzutretens Dritter, des Schutzzweckzusammenhangs, der Risikoverringerung, des atypischen Kausalverlaufs.72 Insoweit hat die Zurechnungslehre damit gegenwärtig eher kasuistischen denn systematischen Charakter. – Die Praxis behandelt die betreffenden Fallkonstellationen im Übrigen zumindest terminologisch häufig immer noch als ein Kausalitäts- oder Vorsatzproblem,73 erfasst das Sachproblem als eines der wesentlichen bzw. unwesentlichen Abweichung des Kausalverlaufs und trennt im Übrigen nicht scharf zwischen der allgemeinen Zurechnung und der besonderen Vorsatzzurechnung74 In jüngeren Entscheidungen scheint die Lehre von der „objektiven Zurechnung“ hingegen zunehmend Fuß zu fassen.75 bb) „Subjektiver Tatbestand“ Führt die Prüfung zu dem Ergebnis, dass alle Merkmale des „objektiven Tatbestands“ erfüllt sind, richtet sich das Augenmerk in der Folge auf den „subjektiven Tatbestand“. Dieser enthält zwei Unterkategorien:76 Immer und an erster Stelle wird untersucht, ob die Person, die den „objektiven Tatbestand“ erfüllt hat, dies vorsätzlich getan hat. Darüber hinaus können bei manchen Delikten zusätzliche besondere subjektive Tatbestandsmerkmale verlangt sein. (1) Vorsatz Der Vorsatz, bis zum Erstarken des Finalismus als Schuldform verstanden,77 gilt heute praktisch unbestritten (bereits) als Element des „subjektiven Tatbe70 Vgl. etwa Haft, S. 56 f.; Kühl, § 4 Rn. 61; Ebert, S. 51; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 95/96; SK-Rudolphi, Vor § 1 Rn. 63. 71 Schünemann, GA 1999, 207, spricht von einem „riesige[n] Kraken mit zahllosen Tentakeln“. 72 s. z. B. Schünemann, GA 1999, 207 (221 ff.); Wessels/Beulke, Rn. 179 ff.; Kühl, § 4 Rn. 46 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, Vorbem §§ 13 ff. Rn. 92a ff. 73 Vgl. LK-Walter, Vor § 13 Rn. 89 mit Nachweisen. 74 s. zu dieser wichtigen Unterscheidung Freund, FS Maiwald, S. 210 (217 ff.). 75 BGH, NJW 2006, 522 (528) spricht etwa von den „herkömmlichen und allgemein anerkannten Regeln etwa über die objektive Zurechnung.“ 76 Roxin, AT, § 10 Rn. 61; Wessels/Beulke,Rn. 202, 207; Kühl, § 5 Rn. 1 ff. 77 s. zur Historie oben in diesem Teil, A. I.
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stands“. Keine Einigkeit besteht demgegenüber hinsichtlich der Definition des Vorsatzes – das Gesetz selbst gibt dazu bekanntlich keine Auskunft, sondern legt in § 15 StGB nur den Grundsatz fest, dass eine Straftat vorsätzliches Handeln erfordert, wenn nicht das Gesetz bereits fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit Strafe bedroht. Im deutschen Schrifttum hat sich, obgleich hier erhebliche Meinungsverschiedenheiten im Einzelnen bestehen, die folgende Vorsatzdefinition als herrschend heraus kristallisiert: Vorsatz sei der Wille zur Verwirklichung eines Straftatbestands in Kenntnis aller seiner objektiven Tatumstände78 – oder in den Worten der bekannten, eingestandenermaßen unpräzisen, aber dennoch allenthalben verwendeten Kurzformel: Vorsatz sei das „Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung“.79 Dass der Vorsatz sowohl ein Wissens- als auch ein Willenselement enthalte, betont seit jeher auch die Rechtsprechung.80 Dennoch genügt den Anforderungen des § 15 StGB im Regelfall bereits so genannter bedingter oder Eventualvorsatz – und dieser wird in der Praxis wie in der Lehre ganz überwiegend schon dann bejaht, wenn der Täter es ernstlich für möglich hält und sich damit abfindet (bzw. es „billigend in Kauf nimmt“), dass sein Verhalten zur Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands führt.81 In der Sache bezeichnet Vorsatz daher schlicht das Handeln oder Unterlassen in Kenntnis der Umstände, welche die nicht gerechtfertigte Tatbestandsverwirklichung begründen.82 Als gesteigerte Formen des Vorsatzes unterscheidet die deutsche Lehre direkten Vorsatz und Absicht. Direkter Vorsatz liegt vor, wenn der Täter weiß oder es als sicher voraus sieht, dass sein Handeln zur Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands führt.83 Beispiele, wo das Gesetz diese Form von Vorsatz verlangt, sind etwa die Strafvereitelung nach § 258 StGB („wissentlich“) oder die falsche Verdächtigung nach § 164 StGB („wider besseres Wissen“). – Absicht ist demgegenüber dadurch gekennzeichnet, dass es dem Täter gerade darauf ankommt, den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs herbei zu führen.84 Solche Absicht ist etwa verlangt in § 226 Abs. 2 Fall 1 StGB (absichtliche Herbeiführung einer schweren Körperverletzung). Bezugspunkt des Vorsatzes sind die Umstände, welche die Tatbestandsverwirklichung begründen. Fehlt der erforderliche Vorsatz in Bezug auf nur einen 78
BGHSt 19, 295 (298); Wessels/Beulke, Rn. 203. Roxin, AT, § 10 Rn. 62; Wessels/Beulke, Rn. 203; Kühl, § 5 Rn. 6. 80 Deutlich etwa BGHSt 36, 1 (9 f.). Eingehend jüngst für ein Festhalten an „Wissen und Wollen“ (allerdings im Sinne eines normativen Konstrukts) Bung, S. 270 f. 81 Im Sinne dieser „Billigungstheorie“ schon RGSt 76, 115 (116); aus neuerer Zeit s. BGHSt 36, 1 (9); BGH, JR 1999, 205 (207); aus der Literatur etwa Wessels/Beulke, Rn. 214. 82 So die Definition Freunds, AT, § 7 Rn. 108a. 83 Roxin, AT, § 12 Rn. 18; Wessels/Beulke, Rn. 213; Kühl, § 5 Rn. 38. 84 Roxin, AT, § 12 Rn. 7; Wessels/Beulke, Rn. 211; Kühl, § 5 Rn. 33. 79
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Umstand, der für die Erfüllung eines Tatbestandsmerkmals vorliegen muss, so kommt allenfalls noch eine Bestrafung wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts in Betracht. Für den speziellen Fall des Irrtums über Tatumstände ist dies in § 16 Abs. 1 StGB ausdrücklich ausgesprochen. (2) Besondere subjektive Tatbestandsmerkmale Manche Tatbestände setzen über das allgemeine, auf die „objektiven Tatbestandsmerkmale“ bezogene Vorsatzerfordernis hinaus auch noch voraus, dass der Täter mit ganz bestimmten Vorstellungen oder aus ganz bestimmten inneren Beweggründen agiert. Als Beispiele für solche besonderen Merkmale des subjektiven Tatbestands lassen sich insbesondere nennen: die Absicht rechtswidriger Zueignung beim Diebstahl, § 242 StGB, oder die Absicht der rechtswidrigen Bereicherung bei den Vermögensdelikten nach §§ 253, 263 StGB. – Nicht unerwähnt bleiben soll, dass zuweilen aber auch objektive Merkmale innerhalb des „subjektiven Tatbestands“ geprüft werden: so vor allem das Merkmal der rechtswidrigen Bereicherung, auf die sich die Absicht beim Diebstahl beziehen muss.85 cc) Der Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts Neben der Vorsatztat soll in dieser Arbeit wie angekündigt auch das Fahrlässigkeitsdelikt behandelt werden. Ausgangspunkt insoweit ist im deutschen Strafrecht § 15 StGB. Danach ist bei entsprechender gesetzlicher Normierung auch fahrlässiges Verhalten strafbar. Eine nähere Bestimmung dessen, was Fahrlässigkeit bedeutet, liefert das Gesetz dagegen nicht. Den so eröffneten Konstruktionsspielraum haben Wissenschaft und Rechtsprechung im Lauf der Jahrzehnte unterschiedlich genutzt. Während für die klassische deutsche Lehre Fahrlässigkeit allein eine (minder schwere) Form der Schuld darstellte, versteht man sie heute nach einhelliger Ansicht – auch und vor allem – als ein Problem des Tatbestands.86 Voraussetzung eines solchen tatbestandsmäßigen fahrlässigen Verhaltens ist nach hergebrachter Auffassung, dass der Täter, sei es bewusst oder unbewusst, die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt und dadurch in „objektiv vorhersehbarer und objektiv zurechenbarer“ Weise den tatbestandlichen Erfolg verursacht.87 Auffällig ist, dass die Dogmatik im Bereich des Fahrlässigkeitsdelikts demnach mit etwas anderen Kategorien operiert als im Bereich der Vorsatztat. Das spiegelt sich auch im Verbrechensaufbau wi85
s. etwa Joecks, § 242 Rn. 8. Roxin, AT, § 24 Rn. 3; zum klassischen Verbrechensbegriff vgl. oben in diesem Teil, A. I. 1. 87 s. Wessels/Beulke, Rn. 664 ff.; Heinrich, AT II Rn. 987. – Sofern der Tatbestand eines Fahrlässigkeitsdelikts keinen Erfolg erfordert, fällt dieses Erfordernis weg. 86
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der: Unter anderem findet sich insoweit keine Trennung zwischen „objektivem“ und „subjektivem“ Tatbestand.88 Umstritten ist im Zusammenhang des Fahrlässigkeitsdelikts insbesondere die Frage, wie die Art und das Maß der erforderlichen Sorgfalt zu bestimmen sind. Die bis vor kurzem wohl noch überwiegend vertretene Auffassung bedient sich zu diesem Zweck einer Kunstfigur: Sie denkt sich einen „besonnenen und gewissenhaften Menschen“ als Maßstabsperson und fragt, welche Sorgfaltsanstrengungen diese Person ex ante in der konkreten Situation und sozialen Rolle des wirklichen Beschuldigten unternommen hätte. Dabei werden etwaige Sonderkenntnisse des Letzteren auch der Maßstabsperson zugeschrieben.89 Auf die individuelle Erkennbar- und Erfüllbarkeit der Sorgfaltspflicht soll es erst auf der Straftatebene der Schuld ankommen. Demgegenüber plädiert eine vordringende und inzwischen wohl herrschende Ansicht dafür, von vornherein die Perspektive und Fähigkeiten der individuellen Person zugrunde zu legen.90 Auch diese Streitfrage sei hier vorerst lediglich dargestellt und noch nicht weiter kommentiert. dd) Der Tatbestand des Versuchsdelikts Neben der Fahrlässigkeitstat ist die zweite spezielle Form der Tatbestandsverwirklichung, die im hiesigen Vergleich berücksichtigt werden soll,91 der Versuch. Darunter versteht die deutsche Lehre, ausgehend von den gesetzlichen Regelungen der §§ 22 ff. StGB, den betätigten Entschluss zur Begehung einer Straftat. Dazu bedarf es eines Verhaltens, das zur Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands unmittelbar ansetzt.92 Verhaltensweisen, die zeitlich vorgelagert sind, können grundsätzlich nicht strafbar sein. Ausnahmsweise anders verhält es sich bei der Verabredung eines Verbrechens nach § 30 Abs. 2 StGB sowie bestimmten als besonders gefährlich erachteten Vorbereitungshandlungen wie etwa der Vorbereitung der Fälschung von Geld- und Wertzeichen nach § 149 StGB. Als Grundlage der Versuchsprüfung fungiert der Tatentschluss, der insoweit deshalb auch – anders als der subjektive Tatbestand üblicherweise – im Deliktsaufbau an erster Stelle rangiert.93 Dieser Tatentschluss muss alle Merkmale des 88 Vgl. etwa die Aufbauschemata bei Wessels/Beulke, Rn. 875 einerseits, Rn. 872 andererseits; s. auch Roxin, AT, § 24 Rn. 73 ff. (kein subjektiver Tatbestand bei der unbewussten Fahrlässigkeit). 89 BGHSt 7, 307 (309 f.); Jescheck/Weigend, S. 578 f.; Wessels/Beulke, Rn. 669. 90 Etwa MK-Duttge, § 15 Rn. 116; Freund, AT, § 5 Rn. 29; Jakobs, AT, 9/1 ff.; Stratenwerth/Kuhlen, § 15 Rn. 14, § 8 Rn. 22. 91 Oben Erster Teil, C. II. 1. 92 Vgl. Wessels/Beulke, Rn. 595. 93 Auch im Zusammenhang des Versuchs weicht der Aufbau der Straftat also vom Üblichen ab; vgl. wiederum die Aufbauschemata bei Wessels/Beulke, Rn. 874 einer-
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subjektiven Tatbestands umfassen, und er muss endgültig sein. Wegen Versuchs strafbar ist der Täter jedoch nur, wenn er darüber hinaus auch unmittelbar zur Tat angesetzt hat. Ab wann solches unmittelbare Ansetzen vorliegt, ist in Deutschland umstritten. Die Rechtsprechung und die herrschende Lehre vertreten dazu eine „gemischt subjektiv-objektive Theorie“: Demnach setzt unmittelbar zur Tat derjenige an, der ein Verhalten vornimmt, das nach seiner Vorstellung ohne wesentliche Zwischenschritte in die eigentliche Tatausführung einmünden soll.94 Mit anderen Worten ist es nicht notwendig (aber grundsätzlich hinreichend), dass der Betreffende schon ein Merkmal des Tatbestands tatsächlich erfüllt hat. Strafbar ist der Versuch gemäß § 23 Abs. 1 StGB bei Verbrechen stets, bei Vergehen hingegen nur dann, wenn dies im Gesetz so vorgesehen ist. Strafbar ist dabei auch der untaugliche Versuch – also jener Versuch, der wegen Untauglichkeit des Tatsubjekts, -objekts oder -mittels gar nicht zum Erfolg führen kann. Diese Strafbarkeit folgt aus § 22 StGB, der ja auf die Vorstellung des Täters abstellt. § 23 Abs. 3 StGB sieht für solche Konstellationen die Möglichkeit vor, von einer Strafe abzusehen oder dieselbe zu mindern. Straflos ist indessen, wer unter den Voraussetzungen des § 24 StGB freiwillig vom Versuch zurück tritt. c) Rechtswidrigkeit Zweites Hauptelement der Straftat ist nach dem tradierten deutschen Verbrechensmodell die Rechtswidrigkeit. Sie bildet eine eigenständige Systemstufe im Gerüst der Straftat, ist dabei jedoch in enger Weise mit der Tatbestandsmäßigkeit verbunden, auf diese bezogen: Gemeinsam mit ihr konstituiert sie herkömmlicher Auffassung zufolge das Unrecht der Tat, dem – auf der dritten Stufe des Verbrechensaufbaus – die Schuld gegenüber steht.95 Die enge Verbindung zur Tatbestandsebene kommt auch in der geläufigen Definition der Rechtswidrigkeit zum Ausdruck: Eine Handlung ist rechtswidrig, wenn sie einen Tatbestand verwirklicht und nicht durch einen Rechtfertigungsgrund gedeckt wird.96 Daraus folgt, dass der positive, materielle Gehalt der Rechtswidrigkeit grundsätzlich nicht abstrakt-generell bestimmt wird,97 sondern
seits, Rn. 872 andererseits. – Nach Tiedemann, FS Lenckner, S. 411 (422), ist der Versuch im Verbrechensaufbau gar nicht enthalten! 94 BGHSt 35, 6 (8 f.); Jescheck/Weigend, S. 519; Schönke/Schröder/Eser, § 22 Rn. 39; SK-Rudolphi, § 22 Rn. 13; Wessels/Beulke, Rn. 601. 95 Stellvertretend s. Heinrich, AT I, Rn. 305. 96 So die Definition bei Wessels/Beulke, Rn. 270. 97 Ausnahmen bilden die Nötigung (§ 240 StGB), die Erpressung (§ 253 StGB) und die Wählernötigung (§ 108 StGB) – hier muss die Rechtswidrigkeit nach herrschender Ansicht jeweils positiv begründet werden. Geprüft wird dazu, ob die Nötigungsmittel im Verhältnis zum Nötigungszweck „verwerflich“ sind, vgl. LK-Walter, Vor § 13 Rn. 147.
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sich grundsätzlich schon aus der Erfüllung des jeweiligen Tatbestands ergibt. Diese Abhängigkeit äußert sich in dem bereits in der klassischen Verbrechenslehre formulierten Postulat, wonach eine Vermutung dafür bestehe, dass eine tatbestandsmäßig handelnde Person sich zugleich auch rechtswidrig verhalte. Die noch heute geläufige Formulierung lautet: Der Tatbestand indiziert die Rechtswidrigkeit.98 Wie sich aus der obigen Definition weiter ergibt, ist diese Vermutung, ist das „Indiz“ aber widerlegbar – eben durch einen Rechtfertigungsgrund. Ein solcher ist gegeben, wenn der Verbotssatz, der dem verwirklichten Tatbestand zugrunde liegt (zum Beispiel: Du sollst nicht töten), durch einen Erlaubnissatz außer Kraft gesetzt wird (etwa: Du darfst dich gegen einen Angreifer verteidigen).99 Von hauptsächlichem Interesse auf der zweiten Straftatebene ist damit die Frage, was für Erlaubnissätze dieser Art es gibt, woher sie sich ergeben und unter welchen Voraussetzungen sie im Einzelnen eingreifen. Einer in diesem Sinne umfassenden Darstellung aller Rechtfertigungsgründe bedarf es für den Zweck dieses Landesberichts freilich nicht. Stattdessen seien im Folgenden zunächst die wichtigsten allgemeinen Prinzipien der Rechtfertigung beschrieben. Im Anschluss daran sollen exemplarisch zwei prototypische Rechtfertigungsgründe Erwähnung finden. aa) Allgemeine Prinzipien der Rechtswidrigkeit Gründe, weshalb jemand trotz Erfüllung eines Straftatbestands nicht rechtswidrig handelt, lassen sich – etwas Phantasie voraus gesetzt – zuhauf ausmalen. Dementsprechend kennt das deutsche Recht auch keinen abgeschlossenen Katalog, keinen numerus clausus der Rechtfertigungsgründe, sondern könnte vielmehr neben den gesetzlich vertypten Erlaubnissätzen theoretisch auch ungeschriebene anerkennen.100 Des Weiteren brauchen diese Sätze nicht dem Strafrecht anzugehören, sondern können sich – wegen der Einheit der Rechtsordnung – aus sämtlichen Rechtsgebieten ergeben.101 Die Vielgestaltigkeit der Rechtfertigungsgründe macht es schwierig, allgemein gültige und dabei nicht zu abstrakte Aussagen über dieselben zu treffen. Die vor98 Vgl. grundlegend Mayer, S. 10, Fn. 21; Jescheck/Weigend, § 31 I. 3. (S. 324); Baumann/Weber/Mitsch, § 12 Rn. 11, § 16 Rn. 25; Heinrich, AT I, Rn. 310, 313; Krey, AT 1, Rn. 216 f. – Diese Ansicht ist allerdings nicht unbestritten; kritisch zu der zitierten Formel etwa Freund, AT, § 3 Rn. 2; Otto, AT, § 8 Rn. 3; Gropp, § 6 Rn. 10 f. – und auch schon Mayer selbst: „Nichts aber ist trügerischer als Indizien!“, S. 52. 99 Jescheck/Weigend, S. 323; Wessels/Beulke, Rn. 271; Heinrich, AT I, Rn. 311 f. 100 Jescheck/Weigend, S. 326 f. Die Praxis kommt inzwischen allerdings, zumal seit der Kodifizierung des rechtfertigenden Notstands, in so gut wie allen Fällen mit den geschriebenen Rechtfertigungsgründen aus. 101 Vgl. RGSt 61, 242 (247); BGHSt 11, 241 (244 f.); Jescheck/Weigend, S. 327.
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herrschende Meinung lehnt es etwa ab, die ratio der Rechtfertigung von einem einzelnen Prinzip her („monistisch“) zu begründen.102 Sie greift stattdessen auf immerhin zwei Erwägungen zurück: zum einen das „Prinzip des überwiegenden Interesses“, auf das sie die allermeisten Rechtfertigungsgründe stützt (etwa: das Notwehrrecht nach § 32 StGB, die Notstandsrechte nach §§ 904, 228 BGB sowie § 34 StGB, Amts- und Zwangsrechte wie zum Beispiel § 127 Abs. 1 StPO), und zum anderen das „Prinzip des mangelnden Interesses“, das prototypisch im Rechtfertigungsgrund der Einwilligung aufscheint.103 Teilweise wird das mangelnde Interesse allerdings auch als ein bloßer Unterfall des überwiegenden Interesses aufgefasst.104 Eine allgemeine Aussage trifft die herrschende Lehre zur Struktur der Rechtfertigungsgründe. Insoweit unterscheidet sie ganz ähnlich wie bei den Tatbeständen zwischen objektiven und subjektiven Voraussetzungen.105 Während die Ersteren verschiedenste Gestalt haben können, gilt das subjektive Rechtfertigungselement durchgängig wie folgt: Auf einen Rechtfertigungsgrund kann sich mit Erfolg nur berufen, wer subjektiv in Kenntnis der jeweiligen Rechtfertigungslage gehandelt hat. Begründet wird dies meist anhand der Unterscheidung zwischen Handlungs- und Erfolgsunrecht: Wenn jemand ein Rechtsgut angreift, ohne zu wissen, dass die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds „objektiv“ vorliegen, so setze er zwar kein „Erfolgsunrecht“ in die Welt; es verbleibe aber ein personaler „Handlungsunwert“, der regelmäßig als strafbarer Versuch erfasst werden kann.106 bb) Einzelne Rechtfertigungsgründe Um auf dem hier zur Verfügung stehenden engen Raum einen nicht bloß willkürlichen Einblick in den Komplex der Rechtfertigungsgründe zu geben, bietet es sich an, jeweils ein Beispiel für die beiden oben genannten Rechtfertigungsprinzipien näher zu beleuchten: den rechtfertigenden Notstand als Grundkonstellation eines „überwiegenden Interesses“ und die Einwilligung als Prototypen des „mangelnden Interesses“.
102 s. nur Gropp, § 6 Rn. 23 f. – Monistische Begründungsversuche haben z. B. unternommen Dohna, S. 48 ff.; Sauer, S. 56; Noll, ZStW 77 (1965), 1 (9 ff.). 103 Vgl. Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben, Vorbem §§ 32 ff. Rn. 7; Jescheck/Weigend, S. 326. 104 In diesem Sinne Freund, AT, § 3 Rn. 4 ff.; wohl auch Otto, AT, § 8 Rn. 5. 105 s. nur Wessels/Beulke, Rn. 275. 106 Freund, AT, § 3 Rn. 16 ff.; Roxin, AT, § 14 Rn. 104; Gropp, § 13 Rn. 95; für analoge Anwendung der §§ 22 ff. StGB Kühl, AT, § 6 Rn. 16; Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben, Vorbem §§ 32 ff. Rn. 15.
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(1) Rechtfertigender Notstand Die Rechtfertigung wegen Notstands ist in Deutschland in mehreren Gesetzen geregelt, in ihrer allgemeinen Form aber in § 34 StGB.107 Dessen Tatbestand beschreibt als Notstandslage eine gegenwärtige Gefahr für ein Rechtsgut. Rechtfertigungsfähig ist danach grundsätzlich jedes Rechtsgut, sei es eines des Handelnden selbst, sei es (bei der Nothilfe) das eines Dritten oder der Allgemeinheit. Gefährdet im Sinne des § 34 Satz 1 StGB ist solch ein Gut bei einem Zustand, dessen natürliche Weiterentwicklung den Eintritt oder die Intensivierung eines Schadens als sicher erscheinen oder doch ernstlich befürchten lässt.108 In dieser Lage ist die Abwendung der Gefahr nicht rechtswidrig, wenn „bei Abwägung der widerstreitenden Interessen [. . .] das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt“ und die Abwehrhandlung „angemessen“ ist. Die Beurteilung, ob solch eine Notstandslage gegeben ist und was genau zur Gefahrabwendung erforderlich ist, soll jeweils aus einer objektivierten ex-ante-Perspektive erfolgen.109 Der Verteidiger muss nach dem Gesetzestext ferner tätig werden, „um die Gefahr [. . .] abzuwenden“, womit wiederum das subjektive Rechtfertigungselement angesprochen ist. Ein Spezialfall des allgemeinen rechtfertigenden Notstands ist die Notwehr,110 die in § 32 StGB als eigener Rechtfertigungsgrund normiert ist. Die Rechtfertigungslage besteht hier in einem gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff, die Rechtfertigungshandlung in der erforderlichen Verteidigung. (2) Einwilligung Gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt ist der Standardfall einer Rechtfertigung wegen mangelnden Interesses, die Einwilligung. Dass grundsätzlich jedermann das Recht hat, über seine Rechtsgüter zu disponieren, folgt jedoch aus dem Selbstbestimmungsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG.111 Das gilt auch im Kontext des Strafrechts, in dem die Einwilligung einhellig als Rechtfertigungsgrund anerkannt ist. Von ihr zu unterscheiden ist nach gängiger Ansicht das so genannte tatbestandsausschließende Einverständnis. Die Abgrenzung richtet sich danach, ob der Tatbestand eines Gesetzes offenkundig ein Verhalten gegen den Willen des Rechtsgutinhabers voraussetzt, wie etwa im Fall des Hausfriedensbruchs 107 Daneben sind die zivilrechtlichen Notstandsfälle der §§ 228, 904 BGB zu nennen, die auch strafrechtlich rechtfertigend wirken. 108 So schon RGSt 66, 222 (225); vgl. heute Fischer, § 34 Rn. 4; Kühl, AT, § 8 Rn. 38 ff.; Roxin, AT, § 16 Rn. 20; Wessels/Beulke, Rn. 303. 109 Kühl, AT, § 8 Rn. 43 ff., 79; Roxin, AT, § 16 Rn. 15 f.; Wessels/Beulke, Rn. 304, 308. 110 Freund, AT, § 3 Rn. 74. 111 Jescheck/Weigend, S. 377; Kühl, AT, § 9 Rn. 20.
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nach § 123 StGB. In solchen Fällen sieht man die Zustimmung zur „Verletzung“ des Rechts als Einverständnis an, und es liegt von vornherein schon kein tatbestandsmäßiges Verhalten vor.112 Aus der Verwurzelung im Selbstbestimmungsrecht lassen sich auch die einzelnen Voraussetzungen der rechtfertigenden Einwilligung ableiten: Zunächst muss das betroffene Rechtsgut in der Tat disponibel sein; daran fehlt es bei kollektiven Rechtsgütern und nach herrschender Meinung auch hinsichtlich des Rechtsguts Leben. Begründet wird diese letztere Auffassung üblicherweise vor allem aus der Vorschrift des § 216 StGB, wonach die Tötung eines anderen Menschen selbst dann strafbar ist, wenn dieser sie „ausdrücklich und ernstlich“ verlangt.113 Wirksam einwilligen kann ferner nur der hinreichend Einsichts- und Urteilsfähige; seine Einwilligung muss außerdem vor der Tat, eindeutig und aufgrund freier Willensbildung erklärt sein. Gerechtfertigt ist schließlich wiederum nur, wer auch subjektiv in Kenntnis der Einwilligung handelt.114 d) Schuld aa) Der freie Wille als Voraussetzung von Schuld Nach dem deutschen Verbrechensmodell genügt es für die Strafbarkeit einer Person nicht, dass sie objektiv Unrecht – systematisch erfasst in den Kategorien der tatbestandsmäßigen und rechtswidrigen Handlung – in die Welt gesetzt hat. Die betreffende Person muss vielmehr auch mit individueller Schuld gehandelt haben. Dabei ist es seit jeher und bis heute umstritten, was genau unter Schuld zu verstehen ist. Bevor auf diese Frage eingegangen wird, sei ein Punkt allerdings vor die Klammer gezogen: das Problem des freien menschlichen Willens. Denn dass ein solcher eine notwendige Bedingung für „Schuld“ ist, darüber jedenfalls sind sich alle bisherigen Konzeptionen einig gewesen. Der Bundesgerichtshof hat im Jahre 1952 in seiner grundlegenden Entscheidung zum Verständnis von Schuld ausgeführt: „Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, dass er sich nicht rechtmäßig verhalten, dass er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfs liegt darin, dass der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, [. . .].“ 115
112
Grundlegend Geerds, S. 88 ff. Kühl, AT, § 9 Rn. 28. – Weiterführend zur ratio des § 216 StGB Freund, in: Janich, S. 149 (157 ff.). 114 Kühl, AT, § 9 Rn. 31 ff. 115 BGHSt GrS 2, 194 (200). 113
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Ob der Mensch tatsächlich nach freier Entscheidung zu handeln vermag, ist eine uralte Frage. Die moderne Strafrechtswissenschaft hatte sie bis vor wenigen Jahren noch als geradezu selbstverständlich bejaht. Neuere Erkenntnisse aus der Hirnforschung – danach geht jedem bewussten menschlichen Handeln stets eine messbare unbewusste neuronale Aktivität voraus – haben zuletzt zwar eine neue Debatte um das Problem entfacht.116 Diese Debatte hat aber bisher nicht dazu geführt, dass die hergebrachte Prämisse von der freien Entscheidungsfähigkeit des Menschen aufgegeben worden wäre.117 Die überwiegende deutsche Strafrechtslehre räumt dabei ein, dass sich der Determinismusstreit nicht mittels eines empirischen Beweises lösen lasse.118 Das Schuldprinzip sei aber insofern gewahrt, als sich vergleichend-statistisch sehr wohl feststellen lasse, dass menschliches Verhalten durch die Aufstellung von Verhaltensnormen verändert werden könne – dies allein sei entscheidend, nicht dagegen, auf welche genaue Art und Weise die Verhaltensänderung erzielt werde.119 bb) Das Schuldprinzip Die Forderung, dass Strafe stets individuelle Schuld des Täters bedingt, ist in Deutschland verfassungsrechtlich verankert: nullum crimen, nulla poena sine culpa. Zwar ist dieser Satz, ist dieses Schuldprinzip im Grundgesetz so nirgends ausdrücklich formuliert; er folgt aber nach einhelliger Meinung aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG, und auch aus dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 3 GG.120 Damit wird Schuld verfassungsrechtlich als sowohl strafbegründendes wie -begrenzendes Verbrechensmerkmal konstituiert. Das Schulderfordernis lässt sich überdies aber auch zweckrational begründen: Die Bestrafung des Schuldlosen ergibt keinen Sinn. Denn der mit der Strafe verbundene Vorwurf wäre sonst per definitionem falsch: Der Schuldunfähige kann keinen Verhaltensnormverstoß mit der Gefahr eines Normgeltungsschadens begehen.121
116 s. Prinz, in: v. Cranach/Foppa, S. 86 (98); Singer, S. 20 ff.; Roth, FS Lampe, S. 43 (45 ff.); Schiemann, NJW 2004, 2056 (2056 ff.); weitere Nachweise bei Lackner/ Kühl, Vor § 13 Rn. 26a. 117 s. die Verteidigungen bei Hillenkamp, JZ 2005, 313 (318 ff.); Jakobs, ZStW 117 (2005), 247 (247 ff.); (zwischen-)bilanzierend zum Ganzen Walter, FS Schroeder, S. 131 ff. 118 Vgl. Naucke, § 7 Rn. 32 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, Vorbem §§ 13 ff. Rn. 110; Gropp, § 7 Rn. 34. 119 s. näher Gropp, § 7 Rn. 34 f., mit instruktivem Beispiel. 120 BVerfGE 20, 323 (331); 95, 96 (140); BVerfG, NJW 2004, 2073 (2073); BVerfG, NJW 2009, 2267 (2289); MK-Freund, Vor § 13 Rn. 216; Heinrich, AT I, Rn. 525. 121 Freund, AT, § 4 Rn. 25; Renzikowski, ARSP-Beiheft Nr. 104, 115 (134 f.).
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Das Schuldprinzip findet noch in zwei weiteren Forderungen Niederschlag:122 Zum einen muss die Schuld sich stets auf das gesamte begangene Unrecht erstrecken. Zum anderen muss auch jede Strafe schuldangemessen sein. In den §§ 17, 19, 20, 21, 29, 35 und 46 Abs. 1 Satz 1 StGB, die den Begriff Schuld explizit verwenden und auf die im Weiteren größtenteils noch zurück zu kommen sein wird, sind die verschiedenen Aspekte des Schuldprinzips auf einfachgesetzlicher Ebene konkret ausdifferenziert. cc) Der Schuldbegriff und seine Entwicklung Was aber bedeutet nun „Schuld“? Dem Gesetz selbst sind dazu allenfalls Anhaltspunkte zu entnehmen; um diese herum verbleibt ein weites Feld für unterschiedliche Konstruktionen. Tatsächlich ist das Verständnis der Schuld vor allem in der Vergangenheit erheblichen Wandlungen unterworfen gewesen. Zum besseren Verständnis der heutigen Anschauung seien sie hier in knapper Form noch einmal referiert. (1) Der Schuldbegriff in der Historie Wie in der obigen Einführung bereits angerissen, ging die klassische deutsche Verbrechenslehre von einem psychologischen Schuldbegriff aus:123 Unter Schuld verstand man die psychische Beziehung des Täters zu seiner Tat; Schuldfähigkeit war dabei bloß eine (äußere) Voraussetzung. Diese psychische Beziehung konnte entweder die Gestalt des Vorsatzes oder die Gestalt der Fahrlässigkeit annehmen. Vorsatz und Fahrlässigkeit wurden also als Formen der Schuld aufgefasst, ja mit ihr gleichgesetzt. Dabei war Vorsatz – einschließlich des Unrechtsbewusstseins – derjenige psychische Zustand, in welchem der Täter seine Tat wolle; Fahrlässigkeit derjenige, in welchem der Täter seine Tat nicht wolle.124 Die skizzierte psychologische Auffassung des Schuldbegriffs begegnete allerdings schon früh fundamentalen Einwänden.125 Ein wesentlicher Kritikpunkt betraf die Schuld des unbewusst fahrlässigen Täters: Eben weil es diesem am Bewusstsein der Tat fehle, könne er auch keine psychische Beziehung zu ihr aufweisen – nichtsdestoweniger stehe seine Schuld außer Frage. Umgekehrt ließen sich Fälle identifizieren, in denen jemand sogar vorsätzlich handele, aber gleich122
Wessels/Beulke, Rn. 398. s. oben in diesem Teil, A. I. 124 Beling, Grundzüge des Strafrechts, S. 57 ff.; Binding, Zweiter Band, S. 116 f.; vgl. ferner v. Liszt, Das deutsche Reichsstrafrecht, S. 105 ff., der freilich das Unrechtsbewusstsein nicht als Element des Vorsatzes verstand. 125 Maßgeblich durch v. Frank, FS Gießen, S. 519 (522 ff.), aber auch bereits durch Radbruch, ZStW 24 (1904), 333 (348). 123
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wohl anerkanntermaßen nicht schuldhaft: so etwa ein Geisteskranker oder der im Notstand Befindliche. In beiden Fällen lässt sich letztlich kein Verhaltensnormverstoß begründen. Der „Vorsatz“ des Schuldunfähigen und des im rechtfertigenden und schuldausschließenden Notstand Handelnden ist jedenfalls kein Vorsatz in Bezug auf die Verwirklichung eines Unrechtstatbestands. Um diese Brüche zu beseitigen, bedurfte es einer Neuentwicklung des Schuldverständnisses jenseits eines rein naturwissenschaftlich-psychologischen Ansatzes. Diese Entwicklung führte, wie ebenfalls schon angesprochen, zu einem normativen Schuldbegriff. Das Neue an ihm war, dass er das Moment der Bewertung in den Schuldbegriff einführte. Im neoklassischen Verbrechensbegriff erschien Schuld nun als ein Komplex aus mehreren Elementen: der „normalen geistigen Beschaffenheit des Täters“ (Zurechnungsfähigkeit nach heutigem Verständnis), dem Vorsatz als tatsächlicher oder der Fahrlässigkeit als zumindest möglicher psychischer Beziehung des Täters zu seiner Tat und schließlich der „normalen Beschaffenheit der Umstände“ (Fehlen von Schuldausschließungs- und Entschuldigungsgründen nach heutigem Verständnis).126 Schuld ist danach der Inbegriff für den Vorwurf, dass der Täter die Tat trotz seiner normalen geistigen Beschaffenheit und trotz normaler Beschaffenheit der Umstände vorsätzlich oder fahrlässig begangen hat.127 Vorsatz und Fahrlässigkeit sind dabei jedoch nach wie vor als psychologisch vorfindbare Größen gedacht; der neoklassische Schuldbegriff ist mithin kein rein normativer. Den Schritt zu einem solchen vollzieht erst nach dem Zweiten Weltkrieg die finalistische Verbrechenslehre, indem sie Vorsatz und Fahrlässigkeit dem Bereich der Schuld enthebt und stattdessen dem Bereich der Handlung und somit des Tatbestands zuschlägt.128 Dieser Schritt war aus finalistischer Sicht vor allem aus zwei Gründen angezeigt: zum einen schon wegen des finalen Handlungsverständnisses;129 zum anderen aber auch deshalb, weil der Schuldbegriff kein „unklares Gemisch von Wertung und Bewertetem“ 130 vertrage, mit anderen Worten Vorsatz und Fahrlässigkeit als Objekt des Schuldvorwurfs einerseits nicht mit diesem Vorwurf selbst andererseits in ein und derselben Systemstufe vereinbar seien. Wie bereits im Bereich der Handlungslehre, hat sich die finalistische Sichtweise aber auch in diesem Punkt nur teilweise etablieren können, wie sogleich zu zeigen sein wird.
126 127 128 129 130
v. Frank, FS Gießen, S. 519 (530). Gropp, § 7 Rn. 9. Welzel, Strafrecht, S. 139 ff. Vgl. oben in diesem Teil, A. I. 3. Welzel, Handlungslehre, S. 26; Maurach/Zipf, § 30 Rn. 23.
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(2) Der Schuldbegriff in der Gegenwart Auch in den heutigen Darstellungen gilt der Begriff der Schuld immer noch als einer der umstrittensten der gesamten Strafrechtswissenschaft; ja der gesamte Aufbau der Verbrechenslehre soll von der Positionierung in der Schuldfrage abhängen.131 Bei der Betrachtung dieser Debatte erweist sich, dass die dargestellten vergangenen Entwicklungen zumindest in der Theorie noch immer stark nachwirken. Konstatieren kann man heute jedoch, dass sich ein vollkommen normativer Schuldbegriff, wie ihn die finalistische Schule postulierte, nicht hat durchsetzen können. Die heute herrschende Lehre hat zwar die Vorverlegung von Vorsatz und Fahrlässigkeit auf die Ebene des Tatbestands letztendlich mitvollzogen. Dennoch sieht sie Vorsatz und Fahrlässigkeit zugleich – im Sinne einer Doppelstellung – auch immer noch als Schuldformen an und hält damit an dem früher so genannten „psychologischen“ Element fest. Sie vertritt damit einen komplexen Schuldbegriff, der durchaus das Objekt der Bewertung und die Bewertung selbst miteinander verbindet.132 Innerhalb dieses Komplexes liegt der Schwerpunkt jedoch deutlich auf dem Letzteren, dem normativen Gesichtspunkt der „Vorwerfbarkeit“. Nicht selten wird Schuld sogar doch mit Vorwerfbarkeit gleichgesetzt.133 Gegenstand des Vorwurfs ist dabei im Übrigen stets die konkrete Einzeltat, nicht die generelle Gesinnung des Täters, seine Lebensführung oder ein sonstiger Aspekt seiner Person.134 Den historischen Faden aufnehmend, kann man sagen, dass der heutige Schuldbegriff noch immer maßgeblich auf neoklassischem Boden steht. Ein Unterschied besteht jedoch darin, dass Vorsatz und Fahrlässigkeit nicht mehr nur Schuldformen, sondern zugleich auch Merkmale des Tatbestands sind. Ferner haben die überlieferten Schuldelemente gewisse, nicht nur terminologische Verfeinerungen erfahren – und schließlich auch eine Ergänzung, nämlich die so genannten speziellen Schuldmerkmale. All diese einzelnen Elemente des Schuldbegriffs seien nachfolgend detaillierter betrachtet. dd) Die einzelnen Schuldelemente Nach dem soeben Ausgeführten finden sich unter dem komplexen Oberbegriff der Schuld fünf Elemente vereinigt.135 Es sind dies: die Schuldfähigkeit, die spe131
Baumann/Weber/Mitsch, § 18 Rn. 7, 17. So etwa Schönke/Schröder/Lenckner-Eisele, Vorbem §§ 13 ff. Rn. 114; Roxin, FS Henkel, S. 171 (172); Baumann/Weber/Mitsch, § 18 Rn. 18 ff. 133 So ausdrücklich BGHSt GrS 2, 194 (200). Aus der Literatur s. Wessels/Beulke, Rn. 400; Heinrich, AT I, Rn. 526; Fischer, Vor § 13 Rn. 47. 134 Maurach/Zipf, § 35 Rn. 14; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, Vorbem §§ 13 ff. Rn. 105/106; Baumann/Weber/Mitsch, § 18 Rn. 26 ff. 135 Stellvertretend s. Wessels/Beulke, Rn. 408. 132
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ziellen Schuldmerkmale, die jeweilige Schuldform, das Unrechtsbewusstsein sowie das Fehlen von Schuldausschließungs- und Entschuldigungsgründen. (1) Schuldfähigkeit Nicht länger nur als externe Voraussetzung, sondern als internes Element der Schuld wird heute die Schuldfähigkeit angesehen. Das Gesetz legt sie als Normalfall zugrunde und regelt positiv lediglich die Fälle der fehlenden Schuldfähigkeit. Schuldunfähig sind zum einen nach § 19 StGB Kinder unter 14 Jahren. Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren sind strafrechtlich verantwortlich – § 3 Satz 1 JGG verwendet diesen Begriff an Stelle von „schuldfähig“ –, wenn sie zur Zeit der Tat nach ihrer sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug waren, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. § 20 StGB erklärt denjenigen für schuldunfähig, der bei Begehung der Tat „wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.“ Herkömmlich beschreibt man die Struktur dieser Vorschrift als „zweistöckig“, wobei das erste „Stockwerk“ die biologischen „Eingangsmerkmale“, das zweite deren psychologische Folgen beherberge.136 Unter die Eingangsmerkmale fällt auch die Trunkenheit, sofern sie die Steuerungsfähigkeit der Person ausschließt.137 Ist die Steuerungsfähigkeit wegen eines der in § 20 StGB genannten Befunde hingegen (nur) erheblich vermindert, so bleibt der Täter schuldfähig; seine Strafe kann aber gemäß § 21 StGB i.V. m. § 49 Abs. 1 StGB gemildert werden. In der Lösung umstritten sind in Deutschland Fälle, in denen der Handelnde sich in noch schuldfähigem Zustand in den Zustand des § 20 StGB versetzt – sei es fahrlässig oder sogar vorsätzlich. Eine Tat, die er in diesem letzteren Zustand begeht, ist zwar in ihrem letztendlichen Vollzug unfrei, sie ist jedoch „frei in ihrer Ursache“ (actio libera in causa).138 Sie kann zwar regelmäßig als Vollrausch gemäß § 323a StGB bestraft werden. Der dort vorgesehene Strafrahmen wird aber weithin als nicht sachgerecht erachtet, zumal in Fällen mit tödlichem Ausgang.139 Um in diesen Fällen eine härtere Strafe zu erreichen, jene aus den Rahmen der eigentlichen Tötungsdelikte nämlich, haben Literatur und Rechtspre136 Vgl. Joecks, § 20 Rn. 3 ff. – Zu Recht kritisch zu dieser Unterscheidung MKStreng, § 20 Rn. 13 ff. 137 Ob das der Fall ist, hängt von einer Gesamtbetrachtung ab und nicht allein schon von der Überschreitung einer gewissen Blutalkoholkonzentration; s. BGHSt 43, 66 (75); MK-Streng, § 20 Rn. 68 f. 138 Ebert, S. 99. 139 Kühl, S. 299.
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chung die Figur der actio libera in causa entwickelt. Diese ermöglicht im Ergebnis eine Bestrafung aus der Vorschrift, deren Tatbestandsvoraussetzungen – vorsätzlich oder fahrlässig – im Zustand des § 20 StGB erfüllt werden. Die herrschende Ansicht gelangt zu diesem Ergebnis, indem sie bereits die Herbeiführung dieses Zustands als tatbestandsmäßiges Verhalten (oder als hinreichenden Teil desselben) ansieht.140 Diese so genannte Tatbestandslösung ist jedoch – wie überhaupt die Grundsätze der actio libera in causa – angesichts der Garantiefunktion des Gesetzeswortlauts nicht anwendbar auf die Straßenverkehrsgefährdung sowie das Fahren ohne Fahrerlaubnis:141 Das „Führen eines Fahrzeugs“ bereits darin zu sehen, dass sich der (spätere) Fahrer in einen Rausch versetzt, erscheint in der Tat als eine ausgesprochen extensive „Auslegung“ – jedenfalls sofern man auf das „Führen“ als tatbestandsmäßiges Verhalten abstellt.142 (2) Spezielle Schuldmerkmale Zur Schuldebene gehören nach heute überwiegender Auffassung wie erwähnt auch die so genannten speziellen Schuldmerkmale. Definiert werden diese Merkmale als tatbestandlich vertypte Umstände, die materiell die Vorwerfbarkeit der Tat betreffen.143 Dazu gehören insbesondere „Gesinnungsmerkmale“, etwa die niedrigen Beweggründe beim Mord, § 211 Abs. 2 Gruppe 1 StGB, die Böswilligkeit im Zusammenhang der Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole, § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB, oder die Rücksichtslosigkeit bei der Straßenverkehrsgefährdung, § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB. (3) Schuldform Auch wenn Vorsatz und Fahrlässigkeit inzwischen vorrangig der Ebene des Tatbestands zugeordnet werden, fasst man sie – wie oben erläutert – oft gleichzeitig doch noch immer als Formen der Schuld auf. Die praktische Relevanz, die ihnen in dieser Funktion als Schuldformen verbleibt, erscheint jedoch begrenzt. Die Vorsatzschuld findet im Normalfall gar keine Erwähnung mehr, wenn im vorherigen Prüfungsverlauf bereits die vorsätzliche Erfüllung des Tatbestands bejaht worden ist. Anders verhält es sich nur im Fall eines Erlaubnistatbestandsirr140 Statt vieler SK-Rudolphi, § 20 Rn. 28d f. Zu weiteren Begründungen s. MKStreng, § 20 Rn. 116 ff. 141 Grundlegend BGHSt 42, 235 (238 ff.); zur weiteren Entwicklung s. Wessels/Beulke, Rn. 416. 142 Was freilich nicht zwingend ist: „Führen“ ließe sich – in Einklang mit dem Tatbestandswortlaut – auch als ein Erfolgssachverhalt auffassen; missbilligtes Verhalten wäre dann, sich in den dazu führenden Zustand zu versetzen; s. dazu grds. Jakobs, AT, 17/68 (der eine solche Konstruktion konkret für § 316 StGB aber verneint, 17/67). 143 So MK-Joecks, § 29 Rn. 3.
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tums, auf den sogleich noch näher einzugehen ist. – Die Fahrlässigkeit wird in ihrer Funktion als Schuldelement dann relevant, wenn man die Sorgfaltspflichtverletzung auf Tatbestandsebene mit Hilfe einer „objektiven“ Maßstabsperson bestimmt hat.144 In diesem Fall ist (erst) auf der Schuldebene zu untersuchen, ob der Sorgfaltsverstoß dem Betreffenden auch individuell vorzuwerfen ist. Dazu muss der Täter nach seinen persönlichen Fähigkeiten und dem Maß seines individuellen Könnens imstande gewesen sein, die objektive Sorgfaltspflicht zu erkennen und die sich daraus ergebenden Sorgfaltsanforderungen zu erfüllen. Gehört zum Tatbestand ein spezifischer Erfolg, so muss dieser in seinen „wesentlichen Grundzügen“ (nach der Rechtsprechung: „in seinem Endergebnis“) für den Täter subjektiv voraussehbar gewesen sein.145 (4) Unrechtsbewusstsein Viertes Element der Schuld ist das Unrechtsbewusstsein des Täters. Dieses kann vor allem dann in Zweifel stehen, wenn jemand sich darüber irrt, dass sein Verhalten (strafrechtlich) verboten ist. In diesem Zusammenhang sind zwei Irrtumskonstellationen zu unterscheiden: der Verbots- und der Erlaubnistatbestandsirrtum. (a) Verbotsirrtum Das Bewusstsein des Täters, dass sein Verhalten rechtswidrig ist, galt ursprünglich als Bestandteil des Vorsatzes. Bis zuletzt hat man das Unrechtsbewusstsein dagegen fast einhellig als Schuldelement angesehen, und zwar häufig unter Verweis auf § 17 Satz 1 StGB: Danach handelt „ohne Schuld“ derjenige, dem infolge eines nicht zu vermeidenden Irrtums die Einsicht fehlt, Unrecht zu tun. Diese Auffassung ist nach wie vor herrschend, wenngleich derzeit zunehmend wieder Anhänger einer „Vorsatztheorie“ in Erscheinung treten.146 Um die Einsicht zu haben, Unrecht zu tun, muss der Täter weder die konkrete, sein Verhalten kriminalisierende Strafvorschrift kennen; ja er muss überhaupt keine Strafvorschrift kennen. Er muss aber den spezifischen Unrechtsgehalt der in Rede stehenden Deliktsart entweder erfassen; oder er muss zumindest hierzu in der Lage gewesen sein, das heißt seinen Irrtum vermieden haben können.147 Die Schuld wird mithin auch dann bejaht, wenn der Täter infolge eines Irrtums,
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Vgl. oben in diesem Teil, A. II. 2. b) cc). Wessels/Beulke, Rn. 692; BGHSt 3, 62 (63); 12, 75 (77). 146 So vor allem Herzberg, FS Otto, 265 (268 ff.). 147 SK-Rudolphi, § 17 Rn. 30 ff.; Wessels/Beulke, Rn. 428 f.; vgl. auch BGHSt 21, 18 (20). 145
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den er vermeiden konnte, kein Unrechtsbewusstsein aufweist. Im Sinne einer Präzisierung wird deshalb auch von „potenziellem Unrechtsbewusstsein“ als Schuldelement gesprochen.148 Nicht mehr als ein solches lässt sich auch dem unbewusst fahrlässig Handelnden anlasten. (b) Erlaubnistatbestandsirrtum Die Einsicht, Unrecht zu tun, fehlt auch demjenigen, der den Tatbestand eines Strafgesetzes in dem irrigen Glauben erfüllt, es lägen die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds vor. Dieser in Deutschland so genannte Erlaubnistatbestandsirrtum wird jedoch ganz überwiegend nicht über § 17 StGB erfasst.149 Stattdessen gelangt nach der herrschenden so genannten „eingeschränkten Schuldtheorie“ 150 § 16 Abs. 1 StGB entsprechend zur Anwendung; damit fehlt es am Vorsatz des Handelnden. Auch wenn es zu dieser Frage in Deutschland lange Zeit eine Diskussion von „geradezu scholastischem Raffinement“ 151 gab, steht ein zentraler Gedanke heute in der Sache kaum noch in Zweifel: Der unter dem Eindruck eines Erlaubnistatbestandsirrtums Stehende handelt „an sich rechtstreu.“ 152 Entspräche die tatsächliche Sachlage seiner Vorstellung, so hätte er kein Unrecht begangen. Das verbindet ihn mit demjenigen, der einem Tatbestandsirrtum gemäß § 16 StGB unterliegt.153 (5) Fehlen von Schuldausschließungs- und Entschuldigungsgründen Zum Straftatelement der Schuld gehört zuletzt die Frage, ob dieselbe infolge einer besonderen (Ausnahme-)Situation entweder ganz fehlt oder doch nur in so geringem Maß vorhanden ist, dass die Rechtsfolge der Strafe sich als unverhältnismäßig erwiese. Im ersten Fall spricht man von einem Schuldausschließungs-, im letzteren Fall von einem Entschuldigungsgrund. Solche Gründe müssen nicht unbedingt geschriebener Natur sein, das Gesetz normiert jedoch die praktisch wichtigsten Fälle. Exemplarisch behandelt seien hier der entschuldigende Notstand und der Notwehrexzess.
148 Lackner/Kühl, § 17 Rn. 1 („verbindliche gesetzgeberische Entscheidung“); Wessels/Beulke, Rn. 429. 149 So aber die so genannte „strenge Schuldtheorie“, die heute aber kaum mehr vertreten wird; für sie zuletzt etwa LK11-F.-C. Schroeder, § 16 Rn. 52. 150 BGHSt 3, 105 (107); 31, 264 (284 f.); Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben, § 15 Rn. 35, und § 16 Rn. 16 ff.; Kühl, AT, § 13 Rn. 70 ff.; Roxin, AT, § 14 Rn. 64. 151 So schon der Befund Engischs, ZStW 70 (1958), 566 (567). 152 BGHSt 3, 105 (107); Kühl, AT, § 13 Rn. 72. 153 Vgl. dazu die Definition vorsätzlichen Verhaltens bei Freund, AT, § 7 Rn. 108a.
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(a) Entschuldigender Notstand Das Gesetz selbst bezeichnet als entschuldigenden154 Notstand gemäß § 35 Satz 1 StGB den Fall, dass jemand in einer gegenwärtigen und nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit155 eine rechtswidrige Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem Angehörigen oder einer anderen nahe stehenden Person abzuwenden. Nach Satz 2 der Regelung gilt dies jedoch nicht, wenn dem Täter zugemutet werden kann, die Gefahr hinzunehmen. Als Beispiel nennt das Gesetz den Fall, dass der Täter die Gefahr selbst verursacht hat oder in einem „besonderen Rechtsverhältnis“ steht. Die letztere Einschränkung zielt ab auf Personen mit besonderen beruflichen Gefahrtragungspflichten, vor allem auf Polizisten, Feuerwehrleute und Soldaten.156 Die Formulierung „um [. . .] abzuwenden“ bringt das Erfordernis eines subjektiven Entschuldigungsmoments zum Ausdruck. Gegenüber der Regelung des rechtfertigenden Notstands nach § 34 StGB sind die Voraussetzungen des § 35 StGB teilweise abgeschwächt (weil auf die Wahrung des wesentlich überwiegenden Interesses verzichtet wird), teilweise aber auch verschärft: Der Kreis der verteidigungsfähigen Personen und Rechtsgüter ist enger gezogen. Der Sinn dieser Differenzierung zwischen rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand soll nicht zuletzt darin liegen, dass (nur) der Letztere die Bestrafung eines Teilnehmers sowie ein Notwehrrecht des Opfers ermögliche.157 Verdeutlichen lässt sich die Unterscheidung am Beispiel des so genannten Nötigungsnotstands: Wenn A mit vorgehaltener Pistole B zwinge, die Fensterscheiben des C einzuwerfen, so scheine die Abwägung im Rahmen des § 34 StGB – das Leben des B gegen das Eigentum des C – an sich zugunsten des Lebens auszufallen mit der Folge, dass B gerechtfertigt wäre (und A nach § 25 Abs. 1 Fall 2 StGB mittelbarer Täter der Sachbeschädigung). In diesem Fall scheint ein willfährig Steine reichender Helfer straflos zu sein; und außerdem scheint C seines Notwehrrechts verlustig zu gehen. Vor diesem Hintergrund wird das Verhalten des B weithin nur als entschuldigt angesehen – meist mit der Begründung, durch sein Nachgeben gegenüber dem Nötiger A stelle er sich immerhin, „wenn auch gezwungenermaßen, auf die Seite des Unrechts“.158
154 Tatsächlich dürfte die Vorschrift sachlich auch Fälle des schuldausschließenden Notstands erfassen; vgl. Freund, AT, § 4 Rn. 48. 155 Gemeint ist die Fortbewegungs-, nicht die allgemeine Handlungsfreiheit; s. etwa Schönke/Schröder/Perron, § 35 Rn. 8; SK-Rudolphi, § 35 Rn. 5. 156 Lackner/Kühl, § 35 Rn. 9; SK-Rudolphi, § 35 Rn. 12; Wessels/Beulke, Rn. 440. 157 s. nur Wessels/Beulke, Rn. 435, 443; Roxin, AT, § 16 Rn. 68 am Ende. 158 So Schönke/Schröder/Perron, § 34 Rn. 41b; Wessels/Beulke, Rn. 443.
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(b) Notwehrexzess Einen Entschuldigungsgrund gewährt die Regelung des § 33 StGB.159 Hiernach wird nicht bestraft, wer die Grenzen der Notwehr „aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken“ überschreitet. Entschuldigt ist dabei jedoch nur, wer die Grenze der Erforderlichkeit der Notwehr überschreitet, wer also eine intensivere Verteidigung als erforderlich übt (so genannter intensiver Notwehrexzess). Nicht entschuldigt wird dagegen, wer die zeitlichen oder persönlichen Grenzen der Notwehr überschreitet, wer sich also schon vor oder nach einem gegenwärtigen Angriff oder aber gegen einen Dritten „verteidigt“ (so genannter extensiver Notwehrexzess).160 Die Entschuldigung erfasst überdies nur eine Überschreitung aufgrund der im Gesetz aufgeführten defensiven, asthenischen Affekte – nicht hingegen aufgrund aggressiver, sthenischer Affekte wie Wut, Zorn oder dergleichen.161 Hinter der Regelung steht der Gedanke, dass das Verhalten des Exzesstäters nicht das für eine Bestrafung hinreichende Gewicht erreicht und dass es immerhin ein widerrechtlicher Angriff ist, der ihn zu seiner Überreaktion verleitet hat.162 e) Sonstige Strafbarkeitsvoraussetzungen Steht jemandes Handlung als tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft fest, so ist er in aller Regel strafbar. Ausnahmsweise können jedoch noch zusätzliche Strafbarkeitsvoraussetzungen zu beachten sein, auf die abschließend der Vollständigkeit halber eingegangen sei. Zu unterscheiden sind in diesem Zusammenhang besondere Rechtsfolgevoraussetzungen und besondere Rechtsfolgehindernisse. aa) Besondere Rechtsfolgevoraussetzungen Eine mitunter geforderte besondere Rechtsfolgevoraussetzung ist das Erfordernis eines Strafantrags oder einer Ermächtigung gemäß §§ 77 ff. StGB. Seltener, aber von größerem Interesse sind die so genannten objektiven Bedingungen der Strafbarkeit. Dabei handelt es sich um Voraussetzungen, die nach dem jeweiligen Gesetzeswortlaut jenseits des tatbestandsmäßigen Verhaltens verortet sind und auf die sich danach weder der Vorsatz noch die Schuld des Täters konkret beziehen müssen. So sieht etwa § 231 Abs. 1 StGB eine Strafbarkeit desjenigen vor, 159 s. etwa MK-Erb, § 33 Rn. 1; NK-Herzog, § 33 Rn. 4; Lackner/Kühl, § 33 Rn. 1. Dagegen spricht Fischer, § 33 Rn. 3, von einem Schuldausschließungsgrund. 160 RGSt 54, 36 (37); Jescheck/Weigend, S. 493; Fischer, § 33 Rn. 5; vgl. zum Ganzen Kühl, § 12 Rn. 135 ff. 161 Roxin, AT, § 22 Rn. 76. 162 Vgl. Freund, AT, § 4 Rn. 57; Wessels/Beulke, Rn. 446.
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der sich (vorwerfbar) an einer Schlägerei beteiligt, wenn durch dieselbe der Tod eines Menschen oder eine schwere Körperverletzung verursacht worden ist. Während die Rechtsprechung und wohl auch die überwiegende Meinung im Schrifttum derartige objektive Strafbarkeitsbedingungen für unbedenklich halten, kritisieren manche Autoren sie als einen Verstoß gegen das Schuldprinzip.163 bb) Besondere Rechtsfolgehindernisse Die Strafbarkeit einer tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft handelnden Person kann ferner auf Grund besonderer Rechtsfolgehindernisse entweder ausgeschlossen oder aber aufgehoben sein. Hindernisse der erstgenannten Art sind zum einen die persönlichen Strafausschließungsgründe, wie die Indemnität Abgeordneter, Art. 46 Abs. 1 GG, oder die Immunität Exterritorialer, §§ 18, 19 GVG. Außerdem ist in manchen Delikten des Besonderen Teils eine Straffreiheit aus besonderen persönlichen Gründen vorgesehen, so etwa in den §§ 173 Abs. 3, 218 Abs. 4 Satz 2, 258 Abs. 6 StGB. – Die Hindernisse der zweiten Art heißen persönliche Strafaufhebungsgründe. In den damit erfassten Konstellationen wird die an sich bereits gegebene Strafbarkeit des Täters infolge besonderer Umstände wieder beseitigt. So verhält es sich vor allem beim strafbefreienden Rücktritt vom Versuch nach § 24 StGB und vom Versuch der Beteiligung nach § 31 StGB, ferner in den Konstellationen der tätigen Reue wie beispielsweise in § 306e StGB. Auch der Erlass einer Strafe nach Ablauf der Bewährungszeit (§ 56g StGB), die Begnadigung (Art. 60 Abs. 2 GG) sowie die Verjährung (§§ 78 ff. StGB) rechnen hierher. 3. Der Nachweis der Straftat Zum Abschluss des deutschen Landesberichts ist wie vorgesehen noch auf die Frage des Tatnachweises einzugehen.164 Die wichtigste gesetzliche Vorschrift in diesem Zusammenhang ist § 261 StPO. Danach entscheidet der Richter über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.165 Ausgangspunkt ist dabei eine umfassende Unschuldsvermutung zugunsten des Angeklagten. Sie bezieht sich auf alle Tatsachen, die ein strafbegründendes oder straferhöhendes Merkmal ausfüllen166 – und damit auf alle Elemente der Straftat. Daraus folgt eine entsprechende Dar163 Baumann/Weber/Mitsch, § 18 Rn. 3: „[B]edenkliche Reste eines auf die subjektive Zurechnung des tatbestandsmäßigen Unrechts verzichtenden Erfolgsstrafrechts“. 164 Vgl. zur Einbeziehung dieses Aspekt oben Erster Teil, C. II. 1. 165 Grenzen setzen ihm dabei nur die Verfahrensregeln und Prozessgrundsätze, die Logik, sein vorhandenes Wissens und die allgemeine Lebenserfahrung, vgl. Meyer-Goßner, § 261 Rn. 2; Ranft, Rn. 1626 ff.; Beulke, Rn. 491 f. 166 Vgl. BVerfG, NJW 1988, 477.
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legungs- und Beweislast des Staates.167 Gelangt der Richter nicht zu der notwendigen Überzeugung, so ist der Angeklagte – in dubio pro reo – freizusprechen. Außer aus § 261 StPO ergibt sich diese Rechtsfolge auch noch aus Art. 103 Abs. 2 GG sowie aus Art. 6 Abs. 2 EMRK.168 Zu der nach alledem entscheidenden Frage, welche Überzeugung genau gemeint ist und wann sie als erreicht anzusehen ist, gibt das Gesetz keine weitere Konkretisierung. Es schreibt lediglich Verfahrensregeln vor, die die Überzeugungsbildung leiten und in rechtsstaatlichen Grenzen halten sollen: den Anspruch auf rechtliches Gehör etwa oder die Regeln zur Beweisaufnahme in §§ 244 ff. StPO.169 Im Übrigen ist der rechtsgenügende Beweis nach herrschender Auffassung erbracht, wenn – erstens – die im Strafverfahren erzielten Tatsachenfeststellungen mit „hoher objektiver“ Wahrscheinlichkeit zutreffen und wenn – zweitens – das entscheidende Gericht auch subjektiv davon überzeugt ist, damit die Wahrheit gefunden zu haben.170
B. Der Straftatbegriff in England I. Einführung in das englische Strafrecht Wie der anglo-amerikanische Rechtskreis im Allgemeinen, so unterscheidet sich auch das englische171 Strafrecht nicht unerheblich von seinen kontinentalen Gegenübern, zumal dem deutschen. Das gilt nicht nur für einzelne Teilbereiche, für bestimmte Konstruktionen und Prinzipien, sondern weit umfassender für die gesamte Rechtstradition, ja letztlich für das Verständnis von Recht ganz allgemein. Insofern birgt ein Vergleich mit dem englischen Recht eine besondere Gefahr des Missverständnisses. Um ihr zu begegnen, erscheint es ratsam, einführend und in der gebotenen Kürze einige Charakteristika des englischen Strafrechts bekannt zu machen bzw. in Erinnerung zu rufen.172 Der folgende Überblick widmet sich zunächst den Quellen des englischen Strafrechts und ihrem Zusammenspiel, danach den Grundzügen des englischen Strafverfahrensrechts und endet mit der Darstellung einiger neuerer Entwicklungen. 167
Vgl. Ranft, Rn. 1640; Kühne, Rn. 955. Ranft, Rn. 1639. 169 Kühne, Rn. 946. 170 Vgl. schon RGSt 15, 151 (153); aus neuerer Zeit BGH, NJW 1999, 1562 (1564); aus dem Schrifttum Meyer-Goßner, § 261 Rn. 2; Hellmann, Rn. 800 f.; Volk, § 29 Rn. 4; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 15 Rn. 13. BVerfG, NJW 2003, 2444 (2445), hat diese Sichtweise gebilligt. – Kritisch und mit dem Gegenkonzept einer streng „normativen Beweistheorie“ s. Freund, Tatsachenfeststellung; S. 56 ff.; ders., FS Meyer-Goßner, S. 409 (417 ff.); ferner Kunz, ZStW 121 (2009), 572 (574 ff.). 171 Zur Terminologie vgl. nochmals oben Erster Teil, A. I. 172 Zum Folgenden vgl. auch Das, S. 55 ff.; Forster, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 1, S. 127 (141 ff.; 169 ff.). 168
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2. Teil: Landesberichte
1. Die Quellen des englischen Strafrechts und ihr Zusammenspiel Das englische Recht ist traditionell bekanntlich Fallrecht. Common Law heißt dieses Recht, weil es – im Laufe des 12. Jahrhunderts – durch umher reisende königliche Gerichte in den einzelnen Landesteilen als das gemeinsame, gegenüber den partikularen Gewohnheitsrechten vorrangige Recht durchgesetzt wurde.173 Es verdankt seine Schöpfung und Entwicklung also nicht einem Gesetzgeber, es wurde nicht durch einen Gelehrtenstand vor- oder aufbereitet, sondern von Richtern anlässlich der Entscheidung praktischer Rechtsstreitigkeiten geschaffen. Darin zeigt sich ein erster bedeutender Unterschied zu den kontinentaleuropäischen Rechten; und dass dieser Unterschied bis heute besteht, hat mit jener typischen empirisch-induktiven Denkweise zu tun, die in England gewachsen ist und die anglo-amerikanische Rechtskultur noch immer prägt. Dieser Stil „liebt es [. . .] nicht, Entschlüsse zu gründen auf die Erwartung künftiger Tatsachen – er lässt die Tatsachen auf sich zukommen, um sich erst dann zu entscheiden, wenn sie da sind.“ 174 Für das Recht haben sich daraus bedeutsame Konsequenzen ergeben: In methodischer Hinsicht etwa ist es dem hergebrachten englischen Rechtsdenken fremd, Lösungen für juristische Probleme aus einem System von Obersätzen zu deduzieren. In rechtspolitischer Hinsicht korrespondiert dem traditionell eine grundsätzliche Skepsis gegenüber Kodifikationen. So hat das Vereinigte Königreich bekanntlich bis heute keine geschriebene Verfassung,175 und auch seine Strafrechte sind (noch)176 nicht umfassend kodifiziert. Trotz alledem kennt das englische Recht seit langem auch Gesetzesrecht (Statute Law). Ursprünglich waren solche Gesetze zwar selten, dienten sie doch zunächst lediglich dazu, bestimmte punktuelle Schwächen oder Ungerechtigkeiten des Richterrechts zu beseitigen. Dementsprechend ist den statutes – oftmals „sporadische ,Gelegenheitsgesetze‘ “ 177 – traditionell längst nicht dieselbe Autorität zuteil geworden wie dem altehrwürdigen Common Law.178 Normenhierarchisch stellen sie gleichwohl schon immer die ranghöhere Rechtsquelle dar: Englische Gerichte haben Gesetze auch dann anzuwenden, wenn diese dem hergebrachten Fallrecht zuwiderlaufen, denn nach englischem Verfassungsrecht darf 173 Jackson/Spencer, S. 4 f.; Radbruch, Der Geist des englischen Rechts, S. 31; Zweigert/Kötz, S. 180. – Der Begriff Common Law wird darüber hinaus auch in einem weiteren Sinn verwendet und meint dann nicht nur das Fallrecht, sondern das Recht des anglo-amerikanischen Rechtskreises in seiner Gesamtheit, s. Zweigert/Kötz, S. 185. 174 So die instruktive Beschreibung Radbruchs, Der Geist des englischen Rechts, S. 12. 175 Was freilich nicht heißt, dass es kein Verfassungsrecht gäbe; s. Forster, in Sieber/ Cornils, Teilbd. 1, S. 127 (149). 176 Zu dem Projekt eines englischen Criminal Code s. noch unten in diesem Teil, B. I. 3. 177 Zweigert/Kötz, S. 259. 178 Zweigert/Kötz, S. 259.
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das Parlament als höchster Souverän keiner richterlichen Kontrolle unterliegen.179 Um die also möglichen „Störungen“ des Common Law möglichst gering zu halten, haben englische Richter die statutes im Konfliktfall traditionell im Sinne einer Ausnahmeregelung, restriktiv und unter peinlich genauer Beobachtung ihres Wortlauts interpretiert. Erst in jüngerer Zeit ist ein flexiblerer Umgang mit Gesetzesrecht zu beobachten, der auch den Sinn und Zweck einer Vorschrift zu ermitteln und zur Geltung zu bringen versucht.180 Das heutige englische Strafrecht zählt nicht weniger als 8.000 verschiedene Strafgesetze (criminal statutes), die große Mehrzahl aller Straftaten (crimes/offences) ist darin geregelt181 – in mitunter überbordender Detailfülle und unter punktuellem Einschluss von Materien des Allgemeinen Teils. Schwerpunktmäßig ist gerade der Allgemeine Teil aber nach wie vor Gegenstand des Common Law; und es gibt auch durchaus noch Straftaten, deren Tatbestand überwiegend oder sogar ganz durch das Fallrecht festgelegt ist, zum Beispiel Mord (murder), Totschlag (manslaughter), Körperverletzung (assault) oder die Verabredung zu bestimmten Straftaten (Common Law conspiracy).182 Aus diesem Bild einen schroffen Gegensatz zwischen Gesetzes- und Fallrecht zu folgern, wäre indes nicht richtig. Denn dadurch, dass Ersteres stets im Lichte und in der Tradition des Letzteren angewendet wird, sehen sich auch die statutes „bald umsponnen mit einem dichten Gewebe maßgeblicher Präjudizien und mit ihm untrennbar hineinverwoben in das einheitliche Gewebe des Common Law“.183 Die angesprochenen Präjudizien sind natürlich unverzichtbare Triebfedern eines jeden Fallrechtssystems, das sich Gerechtigkeit und Rechtssicherheit verpflichtet fühlt. Ein derartiges System bedarf zunächst eines verfügbaren Vorrats an Präzedenzfällen – in England sind diese Fälle zugänglich gemacht in gerichtlich autorisierten offiziellen Sammlungen (law reports).184 Vor allem aber braucht es Regeln, unter welchen Bedingungen und inwieweit ein Fall die Entscheidung eines späteren Falls beeinflusst. Diese Regeln müssen ausreichend starr sein, um tatsächlich Rechtssicherheit – im Sinne der gleichen Entscheidung vergleichbarer Fälle – zu bewirken. Andererseits dürfen sie aber auch nicht so starr sein, dass sie die unterschiedliche Entscheidung nicht vergleichbarer Fälle hindern. Im englischen Recht sind diese Anforderungen verwirklicht in der rule of precedent und dem principle of stare decisis. Danach entfaltet die ratio deci-
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Watzek, S. 15 f. Zweigert/Kötz, S. 260 f. 181 Husak, S. 21. Nach der statistischen Untersuchung von Ashworth/Blake, Crim LR 1996, 306 (309), sind unter den 540 am häufigsten vor Gericht verhandelten englischen Straftaten nur mehr vier Prozent Common Law offences. 182 Ormerod/Smith/Hogan, S. 10; Ashworth, Criminal Law, S. 7. 183 Radbruch, Der Geist des englischen Rechts, S. 38. 184 Bailey/Ching/Gunn/Ormerod, Rn. 7-036 ff. 180
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2. Teil: Landesberichte
dendi eines Präzedenzfalles Bindungswirkung in einem späteren Fall, wenn der dort zu entscheidende Sachverhalt keinen wesentlichen Unterschied (no material distinction) gegenüber dem Sachverhalt des Präzedenzfalls aufweist.185 Unter ratio decidendi ist dabei die Gesamtheit aller rechtlichen Festlegungen zu verstehen, die das Gericht ex- oder implizit als notwendige Schritte zu seiner Falllösung unternommen hat.186 Gebunden werden durch diese Festlegungen grundsätzlich die Gerichte gleicher und niedriger Instanz sowie das erkennende Gericht selbst – nur das House of Lords als höchste Revisionsinstanz behält sich (seit 1966) vor, von früheren Entscheidungen gegebenenfalls wieder abzuweichen.187 Wenn und soweit die Bindungswirkung der rule of precedent hingegen nicht greift, sind die Gerichte frei in ihrer Entscheidungsfindung – und damit befugt, neues Recht zu schöpfen, das seinerseits Bindungswirkung entfaltet. In der Vergangenheit erstreckte sich diese Befugnis ausdrücklich auch auf die Schaffung neuer Straftatbestände: Noch 1962 billigte das House of Lords die Verurteilung eines Angeklagten wegen einer bis dahin so nicht geläufigen „Verschwörung zum Verderben der öffentlichen Moral“ (conspiracy to corrupt public morals) – der Delinquent hatte zu Werbezwecken ein „Damenverzeichnis“ heraus gegeben, in dem Namen, Adressen und Leistungen von Prostituierten angegeben waren.188 Inzwischen hat die Rechtsprechung offiziell darauf verzichtet, ad hoc neue Straftatbestände zu schaffen.189 2. Grundzüge des englischen Strafverfahrens Ein zweiter zentraler Bereich, in dem sich das englische Recht grundlegend von seinen kontinentaleuropäischen Pendants unterscheidet, ist das Strafverfahren. Es hier zu erwähnen ist deshalb sinnvoll, weil materielles und prozessuales Recht in England eng miteinander verflochten sind, und zwar so sehr, dass das eine ohne das andere kaum richtig zu verstehen ist.190 Vorerst soll es allerdings genügen, die beiden – aus deutscher Sicht – hauptsächlichen Besonderheiten des 185 Ausführlich zum Ganzen Bailey/Ching/Gunn/Ormerod, Rn. 7-001 ff.; Cross, S. 38 ff. 186 Cross, S. 76. – Nicht dazu gehören obiter dicta, also die Entscheidung nicht tragende Rechtsaussagen. 187 Practice Statement (Judicial Precedent) (1966) 1 W.L.R. 1234; Watzek, S. 17 f. 188 Shaw v. DPP (1962) AC 220 ff. – Das Urteil enthält jedoch auch eine abweichende Meinung Lord Reids (S. 269 ff.): Das Parlament sei der richtige und der einzige Ort, um die Grenze zwischen unmoralischem und strafbarem Verhalten zu bestimmen (S. 275); zudem müsse ein Bürger im Voraus sicher wissen, welches Verhalten strafbar sei und welches nicht (S. 281). 189 DPP. v. Withers (1975) AC 842 (857 f. [Viscount Dilhorne]). Zu dennoch fortbestehenden Friktionen mit dem Rückwirkungsverbot s. Watzek, S. 21 ff. 190 Vgl. Grünhut, in: Mezger/Schönke/Jescheck, S. 133 (139); Safferling, Vorsatz und Schuld, S. 283.
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englischen Strafverfahrens191 darzustellen: den adversarischen Charakter der Hauptverhandlung und die Rolle der Jury. Im englischen Recht ist die Hauptverhandlung als eine Art Wettstreit zwischen Anklage und Verteidigung ausgestaltet, in dem der Richter zunächst nur die Rolle eines unparteiischen Wächters über die Einhaltung der Verfahrensregeln einnimmt.192 Dementsprechend liegt auch die Dispositionsbefugnis weitest gehend bei den Parteien: Schon die Herstellung des Sachverhaltes ist ihnen anvertraut, sie allein sind also für die Beibringung be- oder entlastenden Tatsachenmaterials verantwortlich. Auf dem Boden der vorgebrachten Tatsachen muss sich der Angeklagte dann zu jedem Anklagepunkt für schuldig oder für unschuldig erklären. Bekennt er sich schuldig (guilty plea), geht das Verfahren ohne Beweisaufnahme in den zweiten Teil der Verhandlung über, die Strafzumessung durch den Richter. Bestreitet der Angeklagte dagegen seine Täterschaft, so besteht das Ziel des dargestellten „Wettstreits“ letztendlich darin, die Jury von seiner Unschuld oder Schuld zu überzeugen. Denn die Jury ist es, die im englischen Recht darüber urteilt, ob die vorgelegten Beweise eine Verurteilung des Angeklagten tragen.193 Sie empfängt dazu von Seiten des Gerichts eine Belehrung, eine Erläuterung der Rechtslage und eine Zusammenfassung (nicht Würdigung!) der Beweisaufnahme; im Anschluss daran berät sie in Abwesenheit des Gerichts ihr Urteil (verdict). Dieses lautet dann (nur) auf schuldig oder unschuldig. Gründe für ihre Entscheidung nennt die Jury nicht; sie darf danach auch nicht befragt werden. Dem Richter obliegt im Anschluss an den Urteilsspruch der Jury nur mehr die Strafzumessung. Damit steht der englische Strafprozess ganz erheblich unter dem Einfluss juristischer Laien; und es liegt nahe zu vermuten, dass dieser Befund sich in den materiellen Voraussetzungen der Strafbarkeit widerspiegeln wird.194 3. Neuere Tendenzen Die bis hierhin dargestellten Eigenheiten haben eine lange Tradition und sind auch heute noch prägend für das englische Strafrecht. Das soll indes über eines nicht hinweg täuschen: Gerade die jüngste Vergangenheit hat doch auch deutliche Annäherungen an kontinentaleuropäische Strafrechte gebracht; und es spricht einiges dafür, dass diese Tendenz sich fortsetzt. Das zeigt sich etwa an der bereits 191 Ausgegangen wird dabei von dem Verfahren der Crown Courts, die für mittlere und schwere Delikte (so genannte indictable offences) zuständig sind; Bagatell- und leichtere Kriminalität (summary offences, bis zwölf Monate Gefängnisstrafe) wird dagegen grundsätzlich summarisch vor den Magistrates’ Courts verhandelt; section 154 Criminal Justice Act 2003 und dazu Allen, S. 12 f. 192 Watzek, S. 26, auch zum Folgenden. 193 Allen, S. 14 f. 194 Vgl. Watzek, S. 27.
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angesprochenen Expansion des englischen Gesetzesrechts. Es gibt immer mehr statutes, und anders als früher verpflastern sie keineswegs mehr nur gelegentliche Unebenheiten und Lücken des Common Law. Dieser Trend ist – nicht nur, aber auch – einem gewissen Zwang von außen geschuldet. So ist das Vereinigte Königreich als Mitglied des Europarats und der Europäischen Union verpflichtet, dort vereinbartes Recht auch innerstaatlich umzusetzen. In Bezug auf die Europäische Menschenrechtskonvention ist es dieser Verpflichtung mit Erlass des Human Rights Act 1998 nachgekommen. Daraus haben sich gerade für das Strafrecht bedeutsame Konsequenzen ergeben.195 Nicht zuletzt mit Blick auf diesen europarechtlichen Rahmen stellt sich auch in England und Wales die Frage nach einer umfassenden Kodifikation des Strafrechts. Entsprechende Forderungen waren zuletzt Ende der 1990er Jahre besonders laut geworden.196 Neu waren sie nicht, lagen doch Entwürfe eines Strafgesetzbuchs (Criminal Code) schon seit Jahrzehnten in den Schubladen der hierfür zuständigen Law Commission.197 Die traditionelle Skepsis gegenüber der Kodifikationsidee hat sich freilich auch im jüngsten Anlauf nicht ausräumen lassen, wie auch die Law Commission einsehen musste: Im Jahr 2008 nahm sie (jedenfalls vorerst) offiziell Abschied von einer umfassenden Kodifikation des Strafrechts und kündigte an, stattdessen zunächst einzelne Reformprojekte identifizieren zu wollen, die das Strafrecht zugänglicher, einfacher und klarer machen.198 Auch wenn der vorliegende Kodifiktionsentwurf damit erst einmal keine Aussicht hat, als solcher zum Gesetz zu werden, ist allein seine Existenz bemerkenswert. Denn in Anspruch und Funktion unterscheidet er sich nicht nennenswert von Strafgesetzbüchern kontinentalen Verständnisses. Für den Bereich des Allgemeinen Teils enthält er abstrakte Regelungen und detaillierte Definitionen zu allen zentralen Fragen. In der Sache kodifiziert er dabei weitest gehend die gegenwärtige englische Rechtslage. Aus diesem letzteren Grund ist – und bleibt – der Code eine wichtige Referenz für die Diskussion in Rechtsprechung und Wissen195
Simester/Sullivan, S. 31 ff.; Ashworth, Criminal Law, S. 60 ff.; Allen, S. 15 f. Befürwortend beispielsweise Straw, The Justices’ Clerk 1997, 163 (167); Lord Bingham, Crim LR 1998, 694 ff.; Arden, Crim LR 1999, 439 ff. Die britische Regierung bekannte sich in ihrem Weißbuch vom Juli 2002 zur Kodifikation des Strafrechts. Zu den Aussichten einer Umsetzung bereits damals skeptisch (in Anbetracht der langjährigen Untätigkeit der Politik) allerdings Ormerod/Smith/Hogan, S. 11; Card, Ziff. 1.66; Dennis, CLP 1997, 213 (236). 197 The Law Commission, Law Com No. 177, Volume 1, S. 33 ff. – Forderungen nach einer Kodifikation gibt es in England bereits seit dem 19. Jahrhundert; s. Grünhut, in: Mezger/Schönke/Jescheck, S. 133 (152 f.), und The Law Commission, Law Com No. 143, S. 1 ff. Zum Entwurf der Law Commission s. aus deutscher Sicht Jescheck, FS Schmitt, 56 (56 ff.); MK-Duttge, § 15 Rn. 78 („für die Bemühungen um ein einheitliches europäisches Strafrecht eine geradezu historische Bedeutung“). 198 The Law Commission, Tenth Programme of Law Reform, Law Com No. 311, S. 5. – 2005 hatte die Commission noch an der Kodifikation festgehalten und lediglich eine Revision des Entwurfs vorgesehen: The Law Commission, Law Com No. 294. 196
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schaft.199 Seine Regelungsvorschläge sollen daher in die folgende Schilderung an geeigneter Stelle einbezogen werden. Eine weitere, ebenfalls nicht zu unterschätzende Annäherung an kontinentaleuropäisches Rechtsdenken betrifft schließlich die gewandelte Rolle der Rechtswissenschaft. Der Allgemeine Teil des englischen Strafrechts ist heute Thema eines reichhaltigen Schrifttums – und auch die allgemeinen Voraussetzungen der Strafbarkeit werden dabei ausgiebig diskutiert. Dass dem beileibe nicht immer so war, möge ein kurzer Rückblick in die Geschichte zeigen.
II. Die historische Entwicklung des englischen Straftatbegriffs Die Entwicklung Englands zu einer modernen Nation ist in vielerlei Hinsicht kontinuierlicher, bruchloser verlaufen als in den meisten Staaten des europäischen Festlands; besonders gilt das für den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit.200 So lassen sich auch die Wurzeln des englischen Strafrechts leicht bis weit in das Mittelalter hinein zurück verfolgen. In dessen Verlauf, etwa vom 12. Jahrhundert an, setzen in England zwei wichtige Entwicklungen ein: Zum einen geht die Strafgewalt, die zuvor lokalen Gerichten überlassen war, auf die Krone über, womit die Grundlage für eine landesweite Vereinheitlichung des Strafrechts geschaffen wird.201 Zum anderen beginnt sich etwa zur selben Zeit der Einfluss des römischen und kanonischen Rechts zu verbreiten. Vor allem der kirchenrechtliche Sündenbegriff hat zur Folge, dass sich der Schwerpunkt des strafrechtlichen Vorwurfs nach und nach von der reinen Verursachung eines äußeren Erfolgs weg und zu der verwerflichen inneren Einstellung des Täters hin verlagert.202 Bereits in den Leges Henrici Primi von 1118 sind für diese beiden Aspekte der Tat die Begriffe „unrechte Handlung“ (actus reus) und „unrechte Gesinnung“ (mens rea) dokumentiert203 – berühmt wird jedoch die spätere Formulierung Edward Cokes in seinen Institutes of the Laws of England (1628–1644), die noch heute in jedem Lehrbuch zum englischen Strafrecht zitiert wird: „Actus non facit reum, nisi mens sit rea.“ 204 199
Mansdörfer, S. 21. Radbruch, Der Geist des englischen Rechts, S. 7 f. 201 s. bereits oben in diesem Teil, B. I. 1. 202 Pollock/Maitland, S. 476 ff. 203 Leg. Hen. 5, § 28, dort im Kontext des Meineids. 204 Etwa: Eine Handlung begründet kein Verbrechen, wenn keine schuldhafte Gesinnung vorliegt. Coke, Kap. 1, S. 6, prägte diesen Satz zur Begründung der Auffassung, dass für Hochverrat eine rein äußere, durch einen Unfall herbei geführte Verletzung des Souveräns nicht ausreicht. – Zur Relevanz dieses Satzes s. nur Williams, General Part, § 14 (S. 30). Auch die Rechtsprechung hat ihn aufgegriffen, s. etwa Younghusband v. Luftig (1949), 2 KB, 354, 370. 200
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Genügte dabei als mens rea anfangs jegliche allgemein moralisch verwerfliche Gesinnung, wandelte sich ihr Verständnis in der Folgezeit nach und nach zu einem deliktsspezifischen. Das heißt, bestimmte Delikte erforderten nun auch eine ganz bestimmte subjektive Kenntnis bzw. Intention des Täters.205 Zugleich kristallisierten sich allmählich generelle Verteidigungseinreden (defences) des Beschuldigten heraus, deren Vorliegen die mens rea auszuschließen vermochte.206 Bereits im 17. Jahrhundert liegen damit die drei Bausteine vor, die (äußerlich) unverändert bis heute das Gerüst des englischen Verbrechensbegriffs bilden: actus reus als äußeres Handlungselement, mens rea als innerliches, geistig-seelisches Element sowie die defences als Verteidigungseinreden. Zu betonen ist dabei jedoch, dass weder Coke noch seine Zeitgenossen das Ziel im Sinn hatten, einen abstrakt-theoretischen Begriff der Straftat zu formulieren, schon gar nicht mittels Ableitung aus vorrechtlich-philosophischen Grundsätzen. Eine solche Zielsetzung hätte dem oben beschriebenen traditionell empirisch-induktiven Charakter des angelsächsischen Rechtsdenkens ersichtlich nicht entsprochen.207 Um eine geordnete Darstellung des englischen (Straf-)Rechts bemühten sich erst Cokes große Nachfolger im 18. Jahrhundert, Hale208 und vor allem Blackstone.209 Doch auch ihnen ging es dabei nicht um ein geschlossenes System von wissenschaftlichem Charakter, sondern darum, das überlieferte Fallrechtsmaterial in eine übersichtliche Form zu bringen und auf diese Weise sich selbst und nachfolgenden Juristen die Anwendung des Rechts zu erleichtern.210 Wenngleich sich also die Entstehung des Verbrechensbegriffs in England – anders als in Deutschland – nicht im Sinne einer Dogmengeschichte schildern lässt, heißt das doch nicht, dass er von vorrechtlich-philosophischen Entwicklungen ganz unbeeinflusst geblieben wäre. Es würde auch überraschen, wenn solch ein Einfluss fehlte. Denn gerade aus England kam ja ein erheblicher Teil jener aufklärerischen Impulse, die Europa geistesgeschichtlich in die Moderne befördern sollten. Als außerordentlich wirkungsmächtig für das nationale Strafrecht erwies sich dabei allen voran Jeremy Bentham mit seiner reformerischen Philosophie des Utilitarismus.211 Bentham postulierte bekanntlich das Gebot der gesamtge205 So wurde beispielsweise der generelle Tötungstatbestand (homicide) – Todesverursachung mit allgemein verwerflicher Gesinnung – differenziert in die Tötung „mit bösem Vorbedacht“ (murder) und ohne einen solchen (manslaughter); s. Weik, S. 29. 206 Zum Beispiel infancy oder insanity als Formen der Schuldunfähigkeit, s. Weik, S. 29. 207 Coke war denn auch kein Wissenschaftler, sondern Praktiker; und seine Institutions sind kein Lehrwerk, sondern eine Fallsammlung. 208 „The History of the Pleas of the Crown“ (1736). 209 „Commentaries on the Laws of England“ (1765–1769). 210 Vgl. Grünhut, in: Mezger/Schönke/Jescheck, S. 133 (147, 150); Safferling, Vorsatz und Schuld, S. 271. 211 Nach Norrie, S. 19 ff., entsprang diese Reformbewegung indes nicht bloß aufgeklärter Moral, sondern nicht zuletzt auch nüchternem ökonomischen Interesse der auf-
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sellschaftlichen Nutzenmaximierung – das größte Glück der größten Zahl – als oberste Maxime der Moral: Es gelte, das Gute (Wohlbefinden, pleasure) anzustreben, das Übel (Schmerz, pain) hingegen zu vermeiden.212 An diese Maxime sei auch der Gesetzgeber gebunden, woraus sich speziell für das Strafrecht folgende Konsequenzen ableiten ließen: Zwar waren Strafen an sich Übel; sie erwiesen sich aber als gerechtfertigt, wenn sie größeres Übel für andere bzw. für die Gesellschaft als ganze zu vermeiden vermochten. Allerdings durfte eine Strafe stets nur so hoch sein, dass sie den Nutzen, den der Verbrecher aus seiner Tat zog, gerade eben überwog – denn auch ihm durfte kein unnötiges Übel zugefügt werden. Zum anderen musste die Höhe der Strafe in einem rationalen Verhältnis zur Schwere des Delikts stehen; andernfalls fehlte es an einem Anreiz (wenn überhaupt, dann) eher leichte denn schwere Taten zu verüben. Schließlich war eine Strafe überhaupt nicht gerechtfertigt, wenn ihr kein effektiver Präventionsnutzen zukommen konnte – so etwa bei Schuldunfähigen.213 Diese und andere Ausprägungen des Utilitarismus wirkten sich zwar nicht auf die formale Zusammensetzung des Verbrechensbegriffs aus, wohl aber auf dessen materiellen Inhalt. Das wird seine genauere Darstellung erweisen, in die nun einzutreten ist.
III. Der englische Straftatbegriff im Einzelnen 1. Verfassungsrechtliche Grundlagen Wie im deutschen Kontext, so sind der Darstellung des Straftatbegriffs auch im englischen einige Bemerkungen zu verfassungsrechtlichen Grundlagen voraus zu schicken. Solche gibt es, auch wenn das Vereinigte Königreich wie gesagt keinen kodifizierten Verfassungstext kontinentaleuropäischen Charakters kennt. Dabei ist zur Vermeidung von Missverständnissen darauf hinzuweisen, dass das englische „Verfassungsrecht“ nicht dem entspricht, was man etwa in Deutschland mit demselben Begriff assoziiert. Insbesondere ist dem traditionellen englischen Rechtsdenken die Vorstellung fremd, dass es verfassungsrechtliche Sätze gebe, die den Gesetzgeber in justiziabler Weise zu binden vermöchten.214 Nach herkömmlicher englischer Vorstellung handelt es sich bei diesen Sätzen vielmehr um Prinzipien, die nicht absolut gelten, sondern die Ausnahmen erleiden können und die gegebenenfalls anderen, konkret für wichtiger erachteten anderen Prinzipien zu weichen haben.215 strebenden middle class, deren Vertreter bis dahin durch ein im Einzelfall zwar drakonisches, aber in der Gesamtheit eben auch willkürliches und zunehmend ineffizientes absolutistisches Schreckensstrafrecht nicht hinreichend geschützt worden seien. 212 Bentham, Introduction, Ch. I Ziff. 1 ff. 213 Bentham, Introduction, Ch. XIII Ziff. 9. 214 Vogel, GA 1998, 127 (138). 215 Deutlich Simester/Sullivan, S. 21; Ashworth, Criminal Law, S. 56.
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Im Bewusstsein dieses Unterschieds lässt es sich etwa ermessen, was es heißt, wenn auch das englische Verfassungsrecht ein „Rechtsstaatsprinzip“ (rule of law) kennt. Dessen für das Strafrecht wichtigste Ausprägungen sind: der nullumcrimen-Satz, das Rückwirkungs- und das Analogieverbot (principle of non-retroactivity, principle of strict construction) sowie ein Bestimmtheitsgebot (principle of maximum certainty/fair warning).216 Anders als früher217 dürften diese Ausprägungen heute keinen Ausnahmen mehr zugänglich sein, zumal in Anbetracht ihres Schutzes durch den Human Rights Act 1998 i.V. m. Art. 7 EMRK. – Verfassungsrechtlichen Rang misst man heute überdies auch dem Grundsatz bei, dass eine Straftat mens rea erfordert.218 Gerade dieser Grundsatz gilt aber keinesfalls ausnahmslos, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird. 2. Die Elemente der Strafbarkeit im englischen Recht Die verschiedenen Bausteine des englischen Verbrechensbegriffs sind bereits im obigen geschichtlichen Abriss genannt worden: actus reus als äußeres Element, mens rea als inneres Element und defences, die Verteidigungseinreden. Ihre genaue Zusammensetzung ist im englischen Schrifttum allerdings umstritten: Nach der Konzeption Glanville Williams’, des ersten Verfassers eines dogmatischen Werks zum Allgemeinen Teil, ist die Straftat zweistufig aufgebaut: Die Verteidigungseinreden bilden dabei keine eigene Systemebene, sondern ihr Fehlen ist Voraussetzung des actus reus.219 Im Anschluss an Hart ordnet eine neuere Schule sämtliche defences demgegenüber der Kategorie der mens rea zu.220 Die seit jeher herrschende Meinung schließlich vertritt ein dreigliedriges Verbrechensmodell, in dem actus reus, mens rea und – als negatives Element – das Fehlen von Verteidigungseinreden jeweils eigenständige Systemstufen darstellen.221
216 Vgl. Ashworth, Criminal Law, S. 68 ff.; Simester/Sullivan, S. 22 ff.; Forster, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 2, S. 29 (33 ff.). 217 Zur Möglichkeit von „Verstößen“ gegen den nullum-crimen-Satz noch im Jahr 1962 vgl. oben in diesem Teil, B. I. 1. 218 B (A Minor) v. DPP (2000) 2 AC 428 (470 ff. – Lord Steyn); Reg. v. K. (2002) 1 Cr App R 121 Rn. 17 – Lord Bingham of Cornhill, Rn. 32 – Lord Steyn). Näher dazu noch unten in diesem Teil, B. III. 2. b) ee) (3). 219 Williams, General Part, § 11 (S. 20). Unter den neueren Werken vgl. auch Ashworth, der in seinem Lehrbuch (S. 95 f.), nicht mehr von actus reus, mens rea und defences spricht, sondern terminologisch moderner von kriminellem Verhalten (criminal conduct), fehlender Rechtfertigung (absence of justification) sowie positiven und negativen Schulderfordernissen (positive/negative fault rerquirements). 220 Grundlegend Hart, S. 219; Kadish (1968) 26 CLJ 273 ff. 221 Grundlegend Lanham, Crim LR 1976, 276 ff.; ihm folgend heute z. B. Simester/ Sullivan, S. 18 f.; vgl. auch die Zusammenfassung bei Forster, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 2, S. 374 (380 f.).
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Wenn diese Kontroverse hier nur angerissen wird, so hat das seinen Grund: Das englische Schrifttum hält sie ganz überwiegend für nicht sehr bedeutsam. Es erachtet die genannten Elemente eher – ganz pragmatisch – als lediglich handwerklich nützlich, als Etikettierungen bei der Analyse der Straftat. Einen darüber hinaus gehenden eigenen Bedeutungsgehalt spricht man ihnen vielfach ganz ab.222 Der folgenden Darstellung soll – im Einklang mit den obigen methodischen Vorbemerkungen223 – die herrschende Auffassung vom dreigliedrigen Verbrechensbegriff zugrunde gelegt werden. Demnach sieht die offence nach englischem Recht schematisch so aus: 1. Actus reus 2. Mens rea 3. Fehlen von Verteidigungseinreden (defences)
a) Actus reus aa) Terminologie In der englischen Lehrbuchliteratur beginnt die Erörterung des ersten Verbrechenselements regelmäßig mit dem oben schon zitierten Ausspruch „actus non facit reum, nisi mens sit rea.“ Fast ebenso regelmäßig folgt eine mehr oder minder kritische Bemerkung zur Rückständigkeit der lateinischen Termini – oft wird der entsprechende Befund Lord Diplocks aus dem Jahre 1983 zitiert224 –, bevor dann unter Hinweis auf ihre unveränderte Gebräuchlichkeit doch der Entschluss verkündet wird, sie aus didaktischen Gründen ebenfalls weiter zu verwenden.225 Wer wäre der Rechtsvergleicher, dass er es besser wüsste; daher wird auch hier der Begriff actus reus beibehalten. In dem Entwurf eines englischen Strafgesetzbuchs ist statt seiner allerdings von äußeren Elementen der Straftat (external elements) die Rede.226
222 s. etwa Ashworth, Criminal Law, S. 95 („nothing more than an analytical tool“); ebenso Allen, S. 17; Molan/Bloy/Lanser, S. 25. 223 s. oben Erster Teil, C. II. 1. 224 In der Rechtssache Reg. v. Miller (1983) 2 AC 161 (174): Es sei klarer Analyse zuträglich, „wenn wir schlechtes Latein vermieden und stattdessen vom Verhalten des Beschuldigten und seinem Bewusstseinszustand zum Zeitpunkt dieses Verhaltens sprächen statt von actus reus und mens rea.“ („if we were to avoid bad Latin and instead speak [. . .] about the conduct of the accused and his state of mind at the time of that conduct, instead of speaking of actus reus and mens rea.“) 225 Beispielhaft Allen, S. 17 f.; Molan/Bloy/Lanser, S. 25; anders z. B. Ashworth, Criminal Law, S. 95 f. 226 The Law Commission, Law Com No. 177, Volume 1, Vor cll. 15 ff.
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bb) Allgemeine Bestandteile des actus reus Was ist nun der actus reus? Allgemein umschrieben, umfasst er alle Definitionsmerkmale eines Verbrechens mit Ausnahme derjenigen, die sich auf die mentale Seite des Täters beziehen.227 Er bezeichnet also beileibe nicht nur einen act, eine Handlung; und insofern ist die Formulierung external elements in dem Entwurf eines Criminal Code nicht nur sprachlich moderner, sondern auch exakter. Im Einzelnen sind die Merkmale des actus reus natürlich durch das konkret zu prüfende Delikt bestimmt; sie ergeben sich bei gesetzlich geregelten Straftaten aus dem jeweiligen statute, bei Common Law crimes aus Fallrecht. Eine generelle Systematisierung des actus reus lässt sich nach den, so könnte man sagen, „Phänotypen“ von Straftaten vornehmen. Hiernach unterscheidet das englische Schrifttum drei Gattungen: Verhaltensdelikte (conduct crimes), Erfolgsdelikte (result crimes) und Zustandsdelikte (state-of-affairs offences).228 Erstere inkriminieren ein bloßes Verhalten unabhängig von dessen Konsequenzen; ein Beispiel dafür ist der Meineid (perjury). Die zweiten, etwa der Mord (murder), verlangen darüber hinaus eine bestimmte Verhaltensfolge. Die Letzteren schließlich knüpfen Strafe an einen bloßen Zustand, unabhängig von einem Verhalten oder dessen Konsequenzen. Diese Art von Straftaten ist durch verhaltensunabhängig geltende Tatbestandsmerkmale wie etwa „angetroffen werden“ („being found“) gekennzeichnet.229 Klammert man die (vergleichsweise seltenen) Zustandsdelikte vorerst aus, kann man noch einige weitere allgemein gültige Aussagen über den actus reus einer Straftat treffen: Er muss grundsätzlich durch ein Willensmoment getragen sein; er kann teilweise auch durch Unterlassen verwirklicht werden; und bei den Erfolgsdelikten ist zudem ein Ursachenzusammenhang zwischen Verhalten und Erfolg vonnöten. Diese Punkte seien zunächst näher beleuchtet; im Anschluss daran wird der Nachweis des actus reus zu erörtern und noch einmal auf die Zustandsdelikte und andere Sonderfälle zurück zu kommen sein. (1) Erfordernis eines willensgetragenen Verhaltens (voluntariness) Wann immer der actus reus einer Straftat ein Verhalten erfordert – also bei allen conduct und result crimes –, muss dieses Verhalten eine Grundanforderung erfüllen: es muss willensgetragen (voluntary) sein.230 Eine Definition dieses Er227
So – wie viele – Simester/Sullivan, S. 63. Allen, S. 19 f. 229 Vgl. Ashworth, Criminal Law, S. 106 f. Näher zu diesen Delikten noch unten in diesem Teil, B. III. 2. a) dd). 230 Bratty v. A-G for Northern Ireland (1963) AC 386 (409); Allen, S. 21. – Eine neuere Minderheitsansicht verortet das Sachproblem bei den Verteidigungseinreden; so etwa Robinson, in: Shute/Gardner/Horder, S. 187 (195 ff.); Card, Ziff. 18.43. 228
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fordernisses bietet das Schrifttum nicht. Stattdessen verdeutlicht es an Hand von Beispielsfällen, wann willensgetragenes Verhalten fehlt, etwa bei Bewusstlosigkeit, bei Herz- und Schmerzattacken oder bei äußerer, nicht zu beeinflussender Kraftanwendung von Seiten Dritter.231 Willentlich handelt dagegen ein Kraftfahrer, der am Steuer erst schläfrig und schließlich vom Schlaf übermannt wird und in diesem Zustand in eine Menschengruppe fährt.232 Zwar ist er im Zeitpunkt des Unfalls selbst nicht mehr bei Bewusstsein. Das nötige willentliche Verhalten liegt aber darin, dass er seine Müdigkeit realisiert und dennoch seine Fahrt fortgesetzt hat. (2) Unterlassung als actus reus Zur Strafbarkeit der Unterlassung (omission) findet sich im englischen Statute Law derzeit keine allgemeine Regelung. Jedoch ist im Common Law schon seit längerem anerkannt, dass bestimmte Straftaten in bestimmten Konstellationen auch durch Unterlassen begangen werden können.233 Ob dem im Einzelnen so ist, entscheiden die Gerichte traditionsgemäß von Fall zu Fall. Aus der existierenden Kasuistik lassen sich mittlerweile aber durchaus allgemeinere Kriterien exzerpieren. Danach setzt strafbares Unterlassen verallgemeinernd gesagt voraus, dass den Angeklagten eine Pflicht zum Handeln trifft, er diese Pflicht verletzt und dadurch einen tatbestandlichen Erfolg verursacht.234 Zur näheren Klassifikation der verschiedenen, potenziell strafbarkeitsbegründenden Handlungspflichten knüpft das Schrifttum mitunter an die Einteilung in conduct crimes und result crimes an. Auch im Bereich der Unterlassungsdelikte lassen sich so zwei Gruppen von Straftaten unterschieden. Die erste Gruppe bilden Taten, bei denen es genügt, dass der Täter einer gesetzlich oder fallrechtlich begründeten Handlungspflicht nicht nachkommt – unabhängig davon, welche Folgen sich daraus ergeben.235 So ist zum Beispiel ein Kraftfahrer strafbar, der es ohne vernünftige Entschuldigung unterlässt, eine nach section 6 Road Traffic Act 1988 geforderte Atemprobe zu liefern236 – der Strafrahmen entspricht dann übrigens dem Delikt, dessen Verdacht Anlass für die Atemprobe gegeben hat. Die zweite Gruppe erfasst Konstellationen, in denen eine Unterlassung in einen 231 So Beispiele der Rechtsprechung in Reg. v. Bell (1984) 3 All ER 842 (846 – Robert Goff LJ). 232 Kay v. Butterworth (1945) 110 JP 75. 233 s. etwa Rex v. Pittwood (1902) 19 TLR 37 (38); Gibbins and Proctor (1918) 13 Cr App R 134 (138 f.); Firth (1990) 91 Cr App R 217 (221). 234 Allen, S. 24 ff.; vgl. auch Forster, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 3, S. 501 (505). 235 Die Unterscheidung stammt von Fletcher, S. 422; er bezeichnet diese erste Gruppe als „breach of a duty to act“. Ihm folgend Allen, S. 25 f.; vgl. auch Ormerod/ Smith/Hogan, S. 76 f. 236 Man kann freilich argumentieren, dass auch hier eine Art „negativer Erfolg“ nötig ist.
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strafrechtlich relevanten Erfolg mündet – in der Praxis geht es hier meist um Tötungsdelikte. Strafrechtliche Verantwortlichkeit für einen solchen Erfolg setzt auch hier immer voraus, dass der Beschuldigte eine Pflicht zum Handeln verletzt hat.237 Derartige Handlungspflichten hat die Rechtsprechung bisher in kasuistischer Weise insbesondere aufgestellt für Eltern gegenüber ihren Kindern,238 für Ehegatten untereinander (wobei autonom getroffene Entscheidungen eines Gatten allerdings von Seiten des anderen zu respektieren sind),239 für Personen, die sich vertraglich zu einem bestimmten Handeln verpflichtet haben,240 für Personen, die freiwillig eine Fürsorgepflicht anderen gegenüber auf sich genommen haben,241 und schließlich für Personen, die – wenn auch schuldlos – die jeweilige Gefahrensituation aktiv geschaffen haben.242 Zu beachten ist, dass die Person, der gegenüber eine Handlungspflicht besteht, den Verpflichteten grundsätzlich aus dieser Pflicht entlassen kann. Dies gilt prinzipiell auch mit Blick auf die Verpflichtung eines Arztes, lebenserhaltende Maßnahmen durchzuführen.243 – Noch am Rande erwähnt sei, dass das englische Strafrecht keine allgemeine, für jedermann bestehende Hilfspflicht kennt. So macht sich beispielsweise selbst ein sicherer Schwimmer nicht strafbar, wenn er es unterlässt, seinen Nachbarn im Schwimmbecken vor dem erkennbaren Ertrinken zu retten.244 (3) „Natürliche“ und „rechtliche“ Kausalität Damit der actus reus eines Erfolgsdelikts erfüllt ist, muss zwischen dem Tun oder Unterlassen des Beschuldigten und dem ihm zur Last gelegten Erfolg ein hinreichender Zusammenhang bestehen. Zwei Aspekte werden dabei untersucht: einerseits die Frage, ob ein tatsächlicher Ursachenzusammenhang (causation in fact) zwischen Verhalten und Erfolg besteht; andererseits die Frage, ob der fragliche Erfolg dem Angeklagten auch rechtlich zugerechnet werden kann (causation in law).245 Die erste Frage ist, wie die Bezeichnung causation in fact schon 237 Insofern ließe sich durchaus auch mit Blick auf diese Delikte von einem „breach of a duty to act“ sprechen; Fletcher, S. 422, verwendet stattdessen für diese Gruppe den Begriff der „Begehung durch Unterlassen“ („commission by omission“). 238 Gibbins and Proctor (1918) 13 Cr App R 134 (138 f.). 239 Reg. v. Smith (1979) Crim Law LR 251 (252) mit Anmerkung von Thomas. 240 Rex v. Pittwood (1902) 19 TLR 37 (38). 241 Reg. v. Nicholls (1874) 13 Cox CC 75 (76, Strafbarkeit jedoch erst bei „wicked negligence“); The Queen v. Instan (1893) 1 QB 450 (453 f. – Lord Coleridge C.J.); Reg. v. Stone and Dobinson (1977) QB 354 (361 ff.). 242 Reg. v. Miller (1983) 2 AC 161 ff. (176 – Lord Diplock). 243 Airedale NHS Trust v. Bland (1993) 2 WLR 316 (361 f. – Lord Keith of Kinkel; 367 ff. – Lord Goff of Chieveley; 379 – Lord Lowry; 385 f. – Lord Browne-Wilkinson [nicht einmal Behandlungsrecht!]; 398 f. – Lord Mustill). 244 Allen, S. 24 f.; abwägend kritisch dazu Ashworth, Criminal Law, S. 44 ff.
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illustriert, eine rein empirische. Um sie zu beantworten, greift das Fallrecht auf den so genannten ,but for‘ test zurück: Festgestellt werden muss, dass ein Erfolg ohne das Verhalten des Angeklagten nicht in der Weise und zu dem Zeitpunkt wie geschehen eingetreten wäre („that the consequence would not have occured as and when it did but for the accused’s conduct“).246 Bei der zweiten Frage nach der legal causation handelt es sich demgegenüber um eine rein normativ zu beantwortende, sodass ihre Behandlung unter dem Schlagwort Kausalität an sich irreführend ist. Das wird auch in der englischen Literatur und Rechtsprechung so gesehen: „Ursache bedeutet nichts Philosophisches oder Technisches oder Wissenschaftliches. Es bedeutet, was Sie zwölf Männer und Frauen, die Sie hier als Jury sitzen, nach Ihrem gesunden Menschenverstand als Ursache ansehen würden.“ 247
Die Jury wird aber nicht auf ihren gesunden Menschenverstand verwiesen, ohne dass ihr gewisse Prinzipien als Hilfsmittel für die Entscheidungsfindung an die Hand gegeben würden. Allgemeine Gültigkeit beansprucht etwa das Geringfügigkeitsprinzip (de minimis principle), dem zufolge ein Verhalten einen „substanziellen Beitrag“, einen „signifikanten“, eben nicht nur minimalen Beitrag zu der eingetretenen Folge geleistet haben muss.248 Allgemein gilt weiter der Grundsatz, dass ein Täter sein Opfer „nehmen muss, wie es ist“. Das heißt, es geht zu Lasten des Täters, wenn ein tatbestandlicher Erfolg maßgeblich durch eine individuelle Disposition des Opfers befördert wird – etwa besondere physische oder psychische Anfälligkeit, aber auch die religiös motivierte Ablehnung einer rettenden Bluttransfusion.249 In Fällen, in denen sich an das Verhalten des Täters noch Handlungen frei verantwortlicher Dritter oder Naturereignisse anschließen, ist zu differenzieren: Grundsätzlich gilt, dass solche Geschehnisse die Zurechnungskette unterbrechen.250 Anders verhält es sich jedoch, wenn die da245
Molan/Bloy/Lanser, S. 34 f. Allen, S. 34, der zudem die geläufige Formel von der conditio sine qua non verwendet; Ashworth, Criminal Law, S. 124. 247 „,Cause‘ means nothing philosophical or technical or scientific. It means what you twelve men and women sitting as a jury [. . .] would regard in a common-sense way as the cause.“ – So die Belehrung Judge Devlins an die Jury in der Entscheidung Adams, vorgestellt von H. Palmer (1957) Crim LR 365 ff.; Wortlaut der Belehrung bei Allen, S. 35 f. – In der Literatur wird der wertende Charakter der Zurechnung unter anderem betont von Williams, Textbook, S. 381 („value-judgement“); Simester/Sullivan, S. 81 („very often a function of moral and policy evaluations“); und Allen, S. 35 („far from scientific“). 248 Reg. v. Hennigan (1971) 3 All ER 133 (134 f. – Lord Parker CJ); Reg. v. Cato (1976) 1 WLR 110 (117 – Lord Widgery C.J.); Pagett (1983) 76 Cr App R 279 (283 ff.). 249 Rex v. Hayward (1908) 21 Cox CC 692 (693); Regina v. Blaue (1975) 1 WLR 1411 (1415). 250 Williams, Textbook, S. 391; Ashworth, Criminal Law, S. 127; aus der neueren Rechtsprechung etwa R. v. Dias (2002) Crim LR 490 (491) m. Anm. J. C. Smith. 246
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zwischen tretenden Ereignisse „objektiv“ bzw. „vernünftigerweise“ vorhersehbar waren251 bzw. dem „normalen Lauf des Lebens“ entsprechen. Letzteres bejahte das House of Lords zum Beispiel zu Lasten eines Fahrzeughandels, auf dessen Gelände ein unbekannter Vandale einen unverschlossenen Ölhahn aufgedreht hatte, woraufhin Öl auslief und einen Fluss verseuchte.252 – Verneint wird die Zurechnung allerdings prinzipiell, wenn ein schädigendes Ereignis auch ohne das Verhalten des Beschuldigten in identischer Weise eingetreten wäre: ein plötzlich auf die Fahrbahn rennendes Kind etwa auch dann überfahren worden wäre, wenn sich die Zügel in der Hand des Kutschers und nicht auf dem Rücken der Pferde befunden hätten.253 In dem Entwurf eines Strafgesetzbuchs ist der Versuch unternommen, die bestehende Kasuistik zum Kausalitätserfordernis in eine allgemeine Definition zu kleiden, die zudem auch der spezifischen Situation bei Unterlassungsdelikten Rechnung trägt.254 cc) Der Nachweis des actus reus Auch im englischen Recht gilt zu Gunsten des Angeklagten eine Unschuldsvermutung. Entsprechend obliegt es ausnahmslos der Anklage, die einzelnen Merkmale eines actus reus darzulegen und auch zu beweisen. Dabei muss der Beweis den Bereich „jenseits vernünftigen Zweifels“ (beyond reasonable doubt) erreichen.255 Gelingt dies nicht, so muss die Jury einen Angeklagten freisprechen, mag sie auch von seiner Unschuld nicht vollends überzeugt sein. Was „jenseits vernünftigen Zweifels“ im Einzelnen heißt, gibt das englische Recht nicht näher vor. dd) Sonderfälle: Zustandsdelikte und „stellvertretende Verantwortlichkeit“ Kommen wir wie angekündigt noch einmal auf die erwähnten state-of-affairs offences zurück. Bei diesen ist Anlass der Bestrafung wie gesagt nicht ein spezifisches Tun oder Unterlassen einer Person, sondern ein unerwünschter Zustand, eine bloße Situation.256 Der Leitfall dazu ist die Entscheidung Larsonneur: Die 251 Roberts (1971) 56 Cr App R 95 (102); Pagett (1983) 76 Cr App R 279 (283 ff.); R. v. Williams (1992) 2 All ER 183 (191). 252 Environment Agency v. Empress Car Co. (Abertillery) (1999) 2 AC 22 (36 – Lord Hoffmann). Kritisch zu dieser Entscheidung z. B. Ashworth, Criminal Law, S. 129. 253 The Queen v. Dalloway (1847) 2 Cox CC 273 (273 f.). 254 The Law Commission, Law Com No. 177, Volume 1, cl. 17. 255 Allen, S. 13. 256 Daher ist auch die Redeweise von einer situational liability geläufig; so zuerst Glazebrook, S. 108; ihm folgend etwa Ashworth, Criminal Law, S. 106 f., und Murphy, S. 7 (A1.9).
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französische Namenspatronin dieser Entscheidung hatte eine behördliche Aufforderung erhalten, England zu verlassen und nicht wieder zu betreten. Daraufhin reiste sie in Richtung Irland aus, wurde dort aber an der Grenze abgewiesen, gegen ihren Willen zurück verbracht und sofort der englischen Polizei übergeben. Obwohl sie sich also nicht freiwillig zurück begeben hatte, wurde sie gemäß dem Aliens Order 1920 wegen Angetroffenwerdens (being found) im Vereinigten Königreich festgenommen, angeklagt und verurteilt.257 – Ein neueres Beispiel für ein Zustandsdelikt ist section 4 (2) Road Traffic Act 1988. Danach ist strafbar, wer ein Kraftfahrzeug auf einer Straße oder einem anderen öffentlichen Ort in seiner Obhut hat, obwohl er infolge Alkohol- oder Drogengenusses nicht in der Lage ist, das Fahrzeug zu führen („when in charge of a motor vehicle [. . .], is unfit to drive“). Der actus reus dieses Delikts ist hier auch dann erfüllt, wenn die Obhutsperson für ihren Zustand gar nicht selbst verantwortlich ist.258 Neben den Zustandsdelikten gibt es noch eine weitere Sonderkonstellation, in der eine Person strafbar sein kann, obwohl es an einem unmittelbar von ihr selbst ausgehenden Verhalten fehlt. Die Rede ist von der so genannten „stellvertretenden Verantwortlichkeit“ (vicarious liability). Danach kann einem Geschäftsherrn (sei er eine natürliche oder juristische Person) ausnahmsweise das Fehlverhalten einer anderen, in der Regel weisungsgebundenen Person als strafbegründend zugerechnet werden.259 Eine solche Zurechnung ist engen Grenzen aus dem Common Law überliefert;260 die heutigen, nicht ganz seltenen Anwendungsfälle spielen sich indes meist im Kontext eines statute ab. Versucht man, die einschlägige Kasuistik zu ordnen, so lassen sich drei Fallgruppen unterscheiden: Entweder ordnet das Gesetz selbst die stellvertretende Verantwortlichkeit explizit an. Oder aber sie ergibt sich aus einer „weiten Auslegung“ (extensive construction) typischer gesetzlicher Schlüsselbegriffe: Wenn eine Vorschrift es etwa unter Strafe stellt, bestimmte Güter zu verkaufen, zu gebrauchen oder zu besitzen, so folgert die Rechtsprechung daraus häufig eine „absolute Pflicht“ des Geschäftsherrn, die er in keinem Fall vollständig delegieren kann. Verkauft also etwa ein Gehilfe solch einen Gegenstand, so wird dem Geschäftsherrn dieses Verhalten zugerechnet, und zwar im Einzelfall sogar dann, wenn der Gehilfe sich über die ihm erteilten Anweisungen hinweggesetzt hat.261 Drittens schließlich wird die Strafbar-
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Larsonneur (1933) Cr App R 74 (78 f.). Allen, S. 22, mit Kritik. 259 Zum Folgenden Ormerod/Smith/Hogan, S. 224 ff.; Murphy, A4.4 (S. 67 ff.). 260 s. etwa The Queen v. Stephens (1866) 1 QB 702 (704 ff.): Darin wurde der Inhaber eines Steinbruchs wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses (public nuisance) verurteilt, nachdem seine Angestellten – gegen seine Anweisung – Aushub in einen Fluss hatten gelangen lassen, woraufhin der Schiffsverkehr zum Erliegen kam. 261 So der Sachverhalt in Coppen v. Moore (No. 2) (1898) 2 QB 306 (313 ff.); zur Begründung der absoluten Pflicht s. Mousell Brothers Ltd. v. London and North Western Railway Co. (1917) 2 KB 836 (845 – Atkin J). 258
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keit auch über ein so genanntes „Delegationsprinzip“ (delegation principle) begründet: Danach ist der Inhaber einer bestimmten Lizenz in eigener Person strafrechtlich verantwortlich, wenn ein von ihm (uneingeschränkt) beauftragter Geschäftsführer im Rahmen seines Auftrags eine strafbewehrte Pflicht verletzt, die mit der Lizenz einher geht.262 Sowohl die Zustandsdelikte als auch die stellvertretende Verantwortlichkeit – insbesondere in Gestalt des delegation principle – werden im englischen Schrifttum überwiegend kritisch beurteilt: Die Sicherung des Gemeinwohls dürfe nicht auf Kosten des Prinzips individueller Autonomie und rechtsstaatlicher Gewährleistungen gehen.263 Im Entwurf eines Strafgesetzbuchs allerdings sind beide Formen strafrechtlicher Verantwortlichkeit nach wie vor grundsätzlich vorgesehen.264 b) Mens rea aa) Allgemeines Auch wenn ein Beschuldigter nachweislich den actus reus einer Straftat verwirklicht hat, ist er doch grundsätzlich nur dann strafbar, wenn ihm eine korrespondierende mens rea nachzuweisen ist. Damit ist der innere, „mentale“ Bestandteil des englischen Verbrechensbegriffs angesprochen. In neueren Gerichtsentscheidungen wird er jetzt öfter als „geistiges Element“ (mental element) bezeichnet; der Entwurf eines Strafgesetzbuchs spricht von „Schuldelement“ (fault element).265 Mens rea ist, mehr noch als ihr externer Zwilling, ein schillernder Begriff.266 Denn zum einen umfasst sie verschiedenste Formen innerer Einstellungen des Täters – welche genau, ergibt sich aus dem jeweiligen (gesetzlich oder fallrechtlich normierten) Tatbestand. Sie kann etwa verlangt sein in Gestalt von Vorsatz (intention), Wissentlichkeit (knowledge), Willentlichkeit (wilfulness), Arglist bzw. Böswilligkeit (maliciousness), von Sorg- bzw. Rücksichtslosigkeit (recklessness)
262 Allen v. Whitehead (1930) 1 KB 211 (219 ff.); in dem ähnlichen Fall Vane v. Yiannopoullos (1965) AC 486 ff. wurde der Angeklagte indessen freigesprochen. 263 s. zu den Zustandsdelikten nur Ashworth, Criminal Law, S. 106 ff., zur stellvertretenden Verantwortlichkeit die Übersicht bei Jefferson, S. 291 f. 264 The Law Commission, Law Com No. 177, Volume 1, cl. 16 und cl. 29, die zwar das delegation principle und die Zurechnung von mens rea abschaffen, nicht aber die extensive „Auslegung“ absoluter Pflichten. 265 s. etwa B (A Minor) v. DPP (2000) 2 AC 428 (460 f., Lord Nicholls of Birkenhead); The Law Commission, Law Com No. 177, Volume 1, cll. 6, 18 ff.; zur Begründung dies., No. 177, Volume 2, Ziff. 8.2. Zur Kritik an der veralteten lateinischen Terminologie vgl. oben in diesem Teil, B. III. 2. a) aa). 266 Selbstkritisch zu diesem diffusen Bild Allen, S. 54 f.
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oder auch in Gestalt eines bestimmten Beweggrunds (motivation),267 um die häufigsten Fälle zu nennen. Zum anderen sind manche unter diesen Spielarten innerhalb der englischen Jurisprudenz bis heute stark umstritten. Und schließlich kennt das englische Recht noch eine Kategorie von Straftaten, in denen es auf das Bewusstsein des Täters überhaupt nicht ankommt – für die mens rea also ausnahmsweise nicht erforderlich ist. Diese letztgenannten Fälle laufen in England unter dem Etikett der strengen (strafrechtlichen) Verantwortlichkeit (strict liability). Im Folgenden sollen zunächst die geläufigsten Formen von mens rea dargestellt werden. Im Anschluss daran wird ihr Nachweis thematisiert und die Frage, wie sie und actus reus genau zusammen spielen. Schließlich sei den angesprochenen Ausnahmen von dem Erfordernis der mens rea näher nachgegangen. bb) Formen der mens rea (1) Intention Eine häufig erforderliche Form von mens rea ist intention.268 Sie ist beispielsweise Kennzeichen des Versuchs,269 und sie ist nicht zuletzt auch Voraussetzung des Tatbestands murder. Letzteren grenzt sie damit von dem Tatbestand des Totschlags (manslaughter) ab, der lediglich recklessness erfordert. Gerade in diesem Abgrenzungszusammenhang hat die intention, hat die Frage nach ihrer sachgerechten Definition die englischen Gerichte und das Schrifttum intensiv beschäftigt.270 Die dabei gewonnenen Erkenntnisse sind indessen nicht auf den Bereich der Tötungsdelikte zu beschränken, sondern vermögen durchaus generelle Geltung für die Bestimmung der intention zu beanspruchen. Wenn ein Tatbestand intention verlangt, so kann dieses Erfordernis auf zweierlei Weise erfüllt werden: in Gestalt unmittelbarer, direct intention oder mittelbarer, oblique intention.271 Die Definition der ersten Spielart ist unumstritten: Direct intention liegt vor, wenn ein Täter mit dem Ziel handelt, einen tatbestandlichen Erfolg herbei zu führen.272 Gegenstand der erwähnten intensiven Diskussionen ist ausschließlich die mittelbare, oblique intention gewesen. Dabei geht es um die Frage, inwieweit einem Angeklagten ein Erfolg als „mittelbar intendiert“ zugerechnet werden kann, auf den sein Verhalten nicht abzielte. Beispielhaft: Je267 Die hier gewählten Übersetzungen dürfen natürlich nicht unbesehen im Sinne der deutschen Fachterminologie verstanden werden; vgl. oben Erster Teil, C. II. 1. 268 Sie ist nicht zu verwechseln mit (specific, basic oder ulterior) intent. Zu diesen Begriffen s. näher Card, Ziff. 3.19 f. 269 Duff, S. 5. 270 Vgl. Williams, CLJ 1987, 417 ff.; Norrie, Crim LR 1989, 793 ff. 271 Vgl. Clarkson/Keating, S. 121 f.; Molan, S. 61; Wilson, S. 133. 272 Mohan (1975) 2 All ER 193 (200); Card, Ziff. 3.3; Wilson, S. 133.
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mand gießt Öl durch einen Briefschlitz und entzündet es, um die Hausherrin zu erschrecken; durch den Brand kommt unbeabsichtigt ein Kind um.273 Nach zahlreichen Neujustierungen hat die Rechtsprechung nunmehr entschieden, dass in Bezug auf solche nicht bezweckten Folgen keine intention vorliegt, es sei denn, die Folgen waren „praktisch sicher“ (virtually certain) und wurden seitens des Täter auch entsprechend eingeschätzt.274 „Praktisch sicher“ ist dabei so zu verstehen, dass die Folgen eintreten werden, sofern nicht irgendeine unvorhergesehene Intervention dazwischen kommt.275 Der Standpunkt der Rechtsprechung findet sich der Sache nach nahezu deckungsgleich auch in dem Formulierungsvorschlag der Law Commission, der zugleich den im Schrifttum erreichten Diskussionsstand widerspiegelt: „Eine Person handelt [. . .] vorsätzlich in Bezug auf einen Erfolg, (i) wenn sie bezweckt, ihn zu verursachen, oder (ii) wenn sie ihn zwar nicht zu verursachen bezweckt, sie aber weiß, dass er nach dem gewöhnlichem Lauf der Dinge eintreten würde, wenn sie einen anderen, von ihr bezweckten Erfolg erreichen sollte.“ 276
Für den Fall der oblique intention entscheidend ist danach also das Wissen des Täters um die Folgen seines Tuns bei gewöhnlichem Lauf der Dinge. – Die konditionale Formulierung am Ende, „wenn sie einen anderen, von ihr bezweckten Erfolg erreichen sollte“, war in dem ursprünglichen Entwurf noch nicht enthalten. Hinzu gefügt wurde sie auf Anregung Smiths, und zwar unter Hinweis auf folgenden fiktiven Fall:277 T platziert unter dem Flugzeugsitz des O eine Zeitbombe, die diesen während des Flugs töten soll. Nach dem gewöhnlichen Ablauf der Ereignisse wird die Explosion der Bombe auch alle anderen Insassen des Flugzeugs töten. T weiß aber, dass die Bombe eine Versagensquote von 50 Prozent aufweist. Bei einer solchen Prognose könnte man – so Smith – womöglich argumentieren, dass die Explosion nicht dem gewöhnlichen Ablauf der Ereignisse entspreche, T also keine intention in Bezug auf den Tod anderer Insassen als des O habe. Mit der erweiterten Formulierung versuchte die Law Commission die Kritik aufzugreifen und Fälle der von Smith gebildeten Art explizit in ihre Definition mit einzubeziehen.278 273
So der Sachverhalt in Regina v. Nedrick (1986) 1 WLR 1025 ff. Vgl. Reg. v. Nedrick (1986) 1 WLR 1025 (1028); Reg. v. Woollin (1998) 3 WLR 382 (389 ff. – Lord Steyn). 275 Reg. v. Nedrick (1986) 1 WLR 1025 (1028); Reg. v. Woollin (1998) 3 WLR 382 (392 f. – Lord Steyn). 276 „A person acts [. . .] intentionally with respect to a result – (i) when it is his purpose to cause it, or (ii) although it is not his purpose to cause it, he knows that it would occur in the ordinary course of events if he were to succeed in his purpose of causing some other result.“ 277 Smith, Crim LR 1990, 85 (86). 274
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Auch wenn nach allem Gesagten die Definition der oblique intention inzwischen gefestigt erscheint, hat die Rechtsprechung in bestimmten Fällen doch wieder Ausnahmen zugelassen. Nach den dargestellten Prinzipien sowohl der Judikatur als auch der Literatur müsste etwa intention bei einem Arzt bejaht werden, der einem im Sterben liegenden Patienten schmerzlindernde Injektionen verabreicht und dabei weiß, dass diese letztlich tödlich wirken werden. Mag es auch das Ziel des ärztlichen Handelns in derartigen Situationen sein, Schmerzen zu lindern, so ist dennoch der Tod des Patienten „praktisch sicher“. Gleichwohl haben Gerichte in zwei jüngeren Prozessen dieser Art die Jury dahin gehend belehrt, dass intention nicht vorliege, wenn das Ziel der Injektionen in einer adäquaten medizinischen Behandlung bestanden habe; dazu zähle auch Schmerzlinderung.279 Diese Sichtweise ist auch in der Literatur auf Zustimmung gestoßen.280 (2) Knowledge Dass jemand die äußeren Merkmale einer Straftat wissentlich (knowingly) erfüllt, wird in zahlreichen gesetzlichen Tatbeständen ausdrücklich verlangt. Section 170 Customs and Excise (Management) Act 1979 beispielsweise stellt die wissentliche Verstrickung in die Einfuhr verbotener Gegenstände (being knowingly concerned in the importation of prohibited goods) unter Strafe. Darüber hinaus liest die Rechtsprechung das Erfordernis der Wissentlichkeit auch in Delikte hinein, die es ihrem Wortlaut nach an sich nicht voraussetzen. Maßgebliches Leiturteil dafür ist die Rechtssache Roper v. Taylor’s Central Garages: Das geschriebene Merkmal „knowingly“ drücke nur deklaratorisch aus, was normalerweise ohnehin impliziert sei.281 In demselben Urteil hat die Rechtsprechung drei Grade von knowledge unterschieden.282 Der erste und höchste Grad ist tatsächliches Wissen (actual knowl278 Lediglich am Rande erwähnt sei, dass Smith, Crim LR 1998, 317 (318), auch an der neuen Formulierung ein Problem ausgemacht zu haben glaubt: Sie erfasse solche Fälle nicht, in denen jemand gar keinen „purpose of causing some other result“ verfolge. Genau so habe es sich aber in dem Sachverhalt Woollin verhalten, in dem ein Vater sein dreimonatiges Kind aus Ärger durch den Raum geschleudert und dabei schwer verletzt hatte. Der einzig verfolgte Zweck des Vaters sei hier gewesen, seinem Ärger Luft zu machen – das aber sei kein „purpose of causing some other result“. 279 Cox, Winchester Crown Court 1992, 12 BMLR (in diesem Fall wurde der angeklagte Arzt allerdings schuldig gesprochen, weil die Injektion medizinisch unangemessen gewesen war); Moor, Newcastle Crown Court, 11 May 1999 (der Arzt wurde freigesprochen). 280 s. etwa Allen, S. 72 f. – Sachlich handelt es sich freilich nicht nur um ein Vorsatzproblem, sondern um ein solches des rechtlich richtigen Verhaltens: Ohne Verhaltensnormverstoß keine Straftat. 281 Roper v. Taylor’s Central Garages (1951) 2 TLR 284 (288 – Devlin J). 282 Roper v. Taylor’s Central Garages (1951) 2 TLR 284 (288 – Devlin J).
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edge). Es liegt vor, wenn der Angeklagte positiv um das Vorliegen eines Umstands weiß. Grundsätzlich genauso wird, zweitens, der Fall behandelt, dass der Angeklagte sich dieser Kenntnis absichtlich verschließt (so genannte „wilful blindness“).283 Nur ausnahmsweise hinreichend für Bestrafung ist der dritte Grad, das so genannte „angenommene Wissen“ (constructive knowledge). So wird die Situation bezeichnet, dass der Angeklagte einen Umstand nur deshalb nicht kennt, weil er trotz gegebenem Anlass nicht die Nachforschungen angestellt hat, die eine vernünftige und umsichtige Person (reasonable man) an seiner Statt angestellt hätte.284 (3) Recklessness Recklessness lässt sich allgemeinsprachlich ins Deutsche entweder mit Sorgoder mit Rücksichtslosigkeit übersetzen. Diesen Ausdrücken kommt unterschiedliche Bedeutung zu. Man könnte sagen: Wer sorglos handelt, macht sich überhaupt keine Gedanken über sein Verhalten und dessen Auswirkungen auf andere. Wer dagegen rücksichtslos agiert, ist sich etwaiger unangenehmer Folgen seines Tuns für andere bewusst – und handelt trotzdem. Wenn auch nicht bis ins letzte Detail zutreffend, so sind damit doch in gewisser Weise genau die beiden unterschiedlichen Bedeutungen angesprochen, die dem englischen Rechtsbegriff der recklessness zukommen. Nach den jeweils maßgeblichen Leitfällen heißen die beiden Arten Caldwell recklessness und Cunningham recklessness.285 Die historisch ältere Form ist Cunningham recklessness. In dem zugrunde liegenden Fall hatte der Angeklagte aus einem unbewohnten Haus einen Gaszähler entfernt, um das darin versteckte Geld zu stehlen. Durch ein zurück bleibendes Leck trat Gas aus; es drang in das Nachbarhaus und verletzte dort eine Person, die das Gas einatmete.286 Die Verurteilung des Angeklagten wegen böswilligen Beibringens eines das Leben gefährdenden giftigen Stoffes (maliciously administering a noxious thing so as to endanger life) gemäß section 23 Offences Against the Person Act 1861 wurde in zweiter Instanz aufgehoben. Zur Begründung führte das Berufungsgericht aus: Die Jury hätte darüber belehrt werden müssen, dass maliciously – mindestens – im Sinne von recklessly zu verstehen sei. Recklessness setze aber voraus, dass der Angeklagte die Gefährdung als möglich vorhergesehen habe und trotzdem das entsprechende Risiko eingegangen sei.287 Dies 283 Westminster City Council v. Croyalgrange Ltd. (1986) 2 All ER 353 (359 – Lord Bridge of Harwich). 284 Vgl. Jefferson, S. 159. Dieser „Wissens“-Grad wird zum Beispiel in sections 1, 4 Protection from Harassment Act 1997 voraus gesetzt. 285 Teilweise wird auch von unbewusster (inadvertent) und bewusster (advertent) recklessness gesprochen, so etwa Ashworth, Criminal Law, S. 181 f. 286 Reg. v. Cunningham (1957) 2 QB 396 (396 ff.). 287 Reg. v. Cunningham (1957) 2 QB 396 (401). Damit folgte das Gericht der bereits 1902 vorgelegten Definition Kennys: Zuvor war malicious gleichgesetzt worden mit
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jedoch war im konkreten Fall nicht festgestellt worden. In späteren Entscheidungen präzisierte die Rechtsprechung das Erfordernis noch dahin, dass nicht jegliche, sondern nur die in Anbetracht aller Umstände „unverständige“ (unreasonable) Schaffung eines Risikos recklessness begründe. Dabei hielt sie jedoch strikt an dem Erfordernis fest, dass das Risiko gerade dem Angeklagten bewusst gewesen sein müsse.288 Von diesem „subjektiven“, weil auf das Bewusstsein des Angeklagten abstellenden Verständnis ging auch der Gesetzgeber noch aus, als er den Criminal Damage Act 1971 erließ und darin (auch) recklessly zu begehende Straftaten normierte.289 Gleichwohl war es ein Fall nach diesem Gesetz, in dem das House of Lords zu Beginn der achtziger Jahre eine deutlich schärfere Interpretation entwickelte: die fortan so genannte Caldwell recklessness. Ihr zufolge liegt recklessness über die bisherige Formel hinaus auch dann vor, wenn ein Angeklagter sich gar keine Gedanken über das offenkundige (obvious) Risiko eines schwerwiegenden Erfolgs macht und sich daher bei seinem Verhalten überhaupt keines Risikos bewusst ist.290 Ob ein Risiko offenkundig ist, beurteilt sich dabei aus der Sicht eines verständigen und umsichtigen Durchschnittsbürgers.291 Das Gericht begründete diese Verschärfung vor allem damit, dass – der Rekurs sei gestattet – sorgloses Verhalten ebenso verwerflich sei wie rücksichtsloses; im Übrigen sei der „subjektive“ Cunningham-Test für eine Jury nicht praktikabel.292 Obwohl im Gefolge der Entscheidung Caldwell zunächst alles darauf hindeutete, dass von nun an recklessness einheitlich in dem neuen, extensiveren Sinn zu verstehen sei,293 blieben zahlreiche Gerichte bei der alten Cunningham-Konstruktion oder kehrten zu ihr zurück.294 Auch haben neuere Gesetze den Anwendungsbereich von Caldwell immer weiter eingeengt, sodass er sich heute im Gro„böse“ (wicked) in einem vagen, allgemeinen, nicht individualisierten Sinne. Vgl. Turner, Ziff. 158a (S. 211 f.). 288 s. vor allem Reg. v. Stephenson (1979) 1 QB 695 (703); Allen, S. 79. 289 s. dazu Allen, S. 81. 290 Commissioner of Police of the Metropolis v. Caldwell (1982) AC 341 (353 f., Lord Diplock). 291 Mit der Folge, dass aus dieser „objektiven“ Perspektive selbst dann zu entscheiden ist, wenn die Täterin ein vierzehnjähriges, in ihrer geistigen Entwicklung verzögertes Mädchen ist: In Elliott v. C (1983) 1 WLR 939 ff. versteckte sich ein solches in einem Gartenschuppen und zündete, um sich zu wärmen, einen Teppich an; daraufhin brannte der Schuppen ab. In erster Instanz wurde das Mädchen freigesprochen, weil sie die Zerstörung des Schuppens, wenn überhaupt, dann nicht als offenkundige Gefahr erkannt habe. Das Berufungsgericht hob mit der Begründung auf, es komme auf die Sicht des verständigen Durchschnittsbürgers an (a. a. O. 945 ff.). 292 Commissioner of Police of the Metropolis v. Caldwell (1982) AC 341 (352). 293 s. vor allem die Ausführungen Lord Roskills in der Sache Reg. v. Seymour (1983) 2 AC 493 (506). 294 s. zum Beispiel Reg. v. Kimber (1983) 1 WLR 1118 (1123); Reg. v. Grimshaw (1984) Crim LR 108; Large v. Mainprize (1989) Crim LR 213; Reg. v. Spratt (1990) 1
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ßen und Ganzen auf Delikte nach dem Criminal Damage Act 1971 beschränkt.295 Die Tendenz zurück zur „subjektiven“ Prüfung schlägt sich auch im Entwurf eines englischen Strafgesetzbuchs nieder. Darin ist folgende Bestimmung vorgesehen:296 „Eine Person handelt rücksichtslos hinsichtlich (i) eines Umstands, wenn sie sich des Risikos bewusst ist, dass er vorliegt oder vorliegen wird; (ii) eines Erfolgs, wenn sie sich des Risikos seines Eintritts bewusst ist; und es nach den ihr bekannten Umständen unverständig ist, das Risiko einzugehen.“
Nach alledem scheint es tatsächlich so, als habe sich „das Gespenst Caldwell“ 297 aufgelöst und nur noch einen Schatten über den Sachbeschädigungsdelikten hinterlassen. (4) Fahrlässigkeit (negligence) Die Fahrlässigkeit nach englischem Recht, negligence, wird traditionell an sich nicht der Kategorie mens rea zugeordnet. Dies hängt damit zusammen, dass herkömmlicherweise der bewusste Geisteszustand als verklammerndes Merkmal aller Formen von mens rea angesehen wurde – sowohl intention als auch knowledge als auch recklessness lassen sich so charakterisieren. Dagegen ist Fahrlässigkeit traditionell stets als ein rein objektiver Zustand betrachtet worden, der gerade durch die Abwesenheit eines spezifischen Bewusstseins des Täters gekennzeichnet sei.298 Daran hält man auch heute noch ganz überwiegend fest. Gleichwohl erörtern heutzutage die meisten Autoren Fahrlässigkeit im Zusammenhang mit den tradierten Formen der mens rea.299 Entsprechend soll auch hier verfahren werden.
WLR 1073 (107 ff.); Reg. v. Savage and Parmenter (1991) 4 All ER 698 (720 – Lord Ackner). 295 Näher dazu Allen, S. 86 ff.; zu einer generellen Anwendung des subjektiven recklessness-Begriffs neigt jetzt auch Attorney-General’s Reference (No. 3 of 2003) (2004) EWCA Crim 868. 296 „A person acts recklessly with respect to – (i) a circumstance when he is aware of a risk that it exists or will exist; (ii) a result when he is aware of a risk that it will occur; and it is, in the circumstances known to him, unreasonable to take the risk.“ The Law Commission, Law Com No. 177, Volume 1, cl. 18 (c). 297 Allen, S. 86. 298 Vgl. Card, Ziff. 3.40. 299 s. etwa Clarkson/Keating, S. 172 ff.; Card, Ziff. 3.33 ff.; Herring, S. 157 ff.; Wilson, S. 144 ff.; anders etwa Molan/Bloy/Lanser, S. 53. Vgl. auch Forster, in: Sieber/ Cornils, Teilbd. 3, S. 662 (670).
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Nicht zuletzt wegen der Reichweite der recklessness – zumal in der Variante Caldwell – ist ein sonderlich weiter Anwendungsbereich für Fahrlässigkeit im englischen Recht weder dringend geboten noch denn auch zu konstatieren.300 Das Common Law stellte ursprünglich überhaupt nur ein einziges fahrlässiges Verhalten unter Strafe, nämlich die grob fahrlässige Tötung (gross negligent manslaughter). Zu diesem Tatbestand gesellen sich heute mehrere gesetzlich normierte Fahrlässigkeitsdelikte, deren prominentestes section 3 Road Traffic Act 1988 ist. Hiernach ist strafbar, wer im Straßenverkehr ein Kraftfahrzeug ohne die gebotene Sorgfalt und Aufmerksamkeit oder ohne angemessene Rücksichtnahme auf andere Verkehrsteilnehmer steuert.301 Was unter gebotener Sorgfalt zu verstehen ist, richtet sich nach dem „objektiven“ Maßstab der verständigen, umsichtigen Durchschnittsperson (reasonable man). So verhält es sich auch bei allen anderen Fahrlässigkeitsdelikten. Demnach liegt Fahrlässigkeit ganz allgemein vor, wenn der Angeklagte die Sorgfaltsanforderungen verletzt, die eine verständige Maßstabsperson in der Situation des Angeklagten eingehalten hätte.302 Im Unterschied zu Caldwell recklessness umfasst Fahrlässigkeit damit auch die Situationen, dass ein Täter sich eines Risikos generell bewusst ist, es aber „unverständigerweise“ entweder nicht konkret erkennt oder es für ungefährlich einschätzt oder es – erfolglos – auszuschalten versucht. Zu beachten ist bei alledem, dass etwaige Sonderkenntnisse des Angeklagten auch der fiktiven Maßstabsperson zuerkannt werden, sodass diese zu einer Durchschnittsperson mit Spezialkenntnis avanciert.303 Dagegen werden ihr etwaige kognitive oder psychische Defekte des Angeklagten grundsätzlich nicht zugeschrieben.304 Neben ihrer seltenen strafbarkeitsbegründenden Funktion kann Fahrlässigkeit auch noch in einem anderen Zusammenhang bedeutsam sein. Der Nachweis, im Hinblick auf einen näher bestimmten Umstand nicht fahrlässig gehandelt zu haben, trägt dem Angeklagten im Kontext mancher strict liabilty offences eine Verteidigungseinrede ein – umgekehrt kann Fahrlässigkeit im Hinblick auf einen nä300
Auch der Draft Criminal Code widmet negligence keine allgemeine Bestimmung. Diese Straftat ist insofern interessant, als mit ihr das in Deutschland grundsätzlich straflose folgenlose fahrlässige Fehlverhalten für einen bestimmten Bereich selbstständig unter Strafe gestellt wird. Zu fragen ist nur, warum Entsprechendes nicht auch für einen fahrlässig handelnden Arzt usw. normiert wird. 302 Clarkson/Keating, S. 172; Wilson, S. 146; kritisch und für individualisiertes Verständnis dagegen Simester/Sullivan, S. 147 ff. Forster, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 3, S. 662 (671), erwartet eine Klärung der insgesamt strittigen Frage erst durch eine Entscheidung des House of Lords. 303 Etwa zu einem „reasonably skilled doctor“, s. R. v. Adomako (1995) 1 AC 171 (188); vgl. auch Ormerod/Smith/Hogan, S. 129 f. 304 Elliott v. C (1983) 1 WLR 939 ff. (945 ff.); Stephen Malcolm R. (1984) 79 Cr App R 334 (340 f.); Reg. v. Young (Robert) (1984) 1 WLR 654 (658); – anders im Fall Reg. v. Hudson (1966) 1 QB 448 (453 ff.), der aber vereinzelt geblieben ist. 301
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2. Teil: Landesberichte
her bestimmten Umstand die Berufung auf eine an sich gegebene Verteidigungseinrede ausschließen.305 cc) Der Nachweis der mens rea Es liegt in der Natur der Sache, dass der Nachweis innerer, mentaler Tatvoraussetzungen oftmals schwieriger zu führen ist als der Nachweis äußerlicher Umstände. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Angeklagte kein Geständnis ablegt und auch sonst keine Aussage über seine Vorstellungen zur Zeit der Tat macht. In diesem Fall sind Anklage und Jury darauf angewiesen, Rückschlüsse von äußeren Umständen auf die innere Einstellung des Angeklagten zu ziehen. Eine gesetzliche Regelung hierzu trifft section 8 Criminal Justice Act 1967. Danach darf nicht allein aus der natürlichen Gewissheit oder bloßen Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs auf die mens rea des Angeklagten geschlossen werden, sondern es ist das gesamte Tatsachenmaterial zu berücksichtigen und auf dieser Grundlage zu schlussfolgern, was „nach den Umständen angemessen erscheint“ („as appear proper in the circumstances“). Ungeachtet der genannten Schwierigkeiten ist es ausnahmslos Sache der Anklage, mens rea zu beweisen.306 Steht etwa fest, dass ein Mann seine verflossene Ehefrau mit einem Gewehr erschossen hat, und lässt er sich aber dahin ein, er habe sich selbst umbringen und seiner Frau die Waffe nur zeigen wollen, wobei sich dann der tödliche Schuss versehentlich gelöst habe, so muss die Anklage diese Einlassung widerlegen und die subjektiven Voraussetzungen des Tötungsdelikts beweisen.307 Ebenso wie im Kontext des actus reus muss dieser Beweis beyond reasonable doubt erbracht werden. dd) Das Zusammenspiel zwischen mens rea und actus reus Mens rea ist keine isoliert zu betrachtende Kategorie, sondern ihr Bezugspunkt ist immer der actus reus. Präziser: Sie muss zum einen alle relevanten Umstände des Letzteren umfassen. Zum anderen müssen beide Elemente auch in zeitlicher Hinsicht korrelieren.
305 Ein Beispiel für den ersteren Fall ist section 24 (1) Trade Descriptions Act 1968, eines für den letzteren Fall section 19 (1) Sexual Offences Act 1956. 306 Allen, S. 13 f. 307 Woolmington v. DPP (1935) AC 462 (481 f. – Viscount Sankey L.C.). In dieser Rechtssache hatte der erstinstanzliche Richter die Jury dahin gehend belehrt, es sei – nachdem die Anklage die Verantwortlichkeit des Angeklagten für den tödlichen Schuss nachweisen konnte – nunmehr an dem Angeklagten zu beweisen, dass es sich dabei nicht um einen Mord gehandelt habe. Zur beweisrechtlichen Situation dieses Falles auf der Stufe der defences s. noch unten in diesem Teil, B. III. 2. d) dd).
B. Der Straftatbegriff in England
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(1) Inhaltliche Kongruenz Den zuerst genannten Zusammenhang könnte man schlagwortartig als Erfordernis der inhaltlichen Kongruenz bezeichnen: Mens rea ist grundsätzlich hinsichtlich aller die Straftat definierenden Merkmale des actus reus erforderlich. Wenn ein Angeklagter also erklärt, er sei in ehrlichem Glauben (honest belief) davon ausgegangen, dass zumindest eines dieser Merkmale nicht vorliege, und gelingt es der Anklage nicht, ihm das Gegenteil nachzuweisen, so scheidet eine Strafbarkeit aus.308 Damit hebt sich das heutige Recht von der Tradition im Common Law ab, nach der ein solcher Tatsachenirrtum (mistake of fact) die mens rea nur dann auszuschließen vermochte, wenn er „verständigem Glauben“ (reasonable belief) entsprang.309 Noch in jüngerer Zeit ist es vereinzelt aber auch vorgekommen, dass die Rechtsprechung einen Irrtum über das Vorliegen eines Merkmals des actus reus für unbeachtlich gehalten hat: In dem Fall Ellis, Street and Smith etwa hatten die Angeklagten in Geheimfächern von Autos wissentlich verbotene Waren im Sinne des Customs and Excise (Management) Act 1979 importiert, jedoch nicht pornografische, wie sie meinten, sondern Cannabis. Wegen dessen Einführung – und damit aus einem Strafrahmen von bis zu vierzehn statt bis zu zwei Jahren – wurden sie verurteilt, da das Gericht die Auffassung vertrat, entscheidend und ausreichend sei ihr Wissen (überhaupt) verbotene Waren einzuführen.310 Problematisch vor dem Hintergrund der erforderlichen inhaltlichen Kongruenz ist die Situation, wenn jemand den actus reus eines Delikts erfüllt, seine Vorstellung sich aber auf ein anderes Opfer, womöglich auch auf eine andere Straftat gerichtet hat. Insoweit ist zu unterscheiden: Will ein Täter beispielsweise eine Person schlagen, geht seine Attacke aber fehl und führt etwa zur Beschädigung einer Sache, so ist der Täter wegen versuchter Körperverletzung und, sofern ihm Caldwell recklessness nachweisbar ist, wegen vollendeter Sachbeschädigung strafbar.311 Trifft der Täter anstatt der Sache aber eine andere Person und verletzt sie, so ist er nach herkömmlicher Auffassung wegen des vollendeten Verlet308 DPP v. Morgan (1976) AC 182 (214 – Lord Hailsham of St. Marylebone); Reg. v. Kimber (1983) 1 WLR 1118 (1121 f.); B (A Minor) v. DPP (2000) 2 AC 428 (477 f. – Lord Steyn). 309 s. etwa The Queen v. Tolson (1889) 23 QBD 168 ff.: Die Angeklagte hatte wieder geheiratet, nachdem ihr erster Gatte seit über fünf Jahren auf See verschollen war und Untersuchungen sein Schiff als gesunken vermeldet hatten. Sie wurde, als der vermeintlich Verstorbene doch wieder auftauchte, wegen Bigamie angeklagt. Erst in der Berufung (und auch dort nur als Verteidigungseinrede) wurde sie wegen ihres nach Ansicht der Jury vernünftigen Glaubens freigesprochen. 310 Ellis, Street and Smith (1986) 84 Cr App R 235 (246 ff.). – Nach der Entscheidung Reg. v. Courtie (1984) AC 463 (471 ff. – Lord Diplock) begründen unterschiedliche Strafrahmen jedoch unterschiedliche Straftaten. 311 Ein Beispiel aus der Rechtsprechung: R. v. Pembliton (1874–1880) All ER 1163 (1164 f.).
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2. Teil: Landesberichte
zungsdelikts zu verurteilen. Heran gezogen wird dafür die Lehre vom „übertragenen Vorsatz“ 312 (doctrine of transferred malice). Deren Grundgedanke ist, dass in Konstellationen der zuletzt geschilderten Art eine gleichsam generelle mens rea gegeben sei, die sich von dem anvisierten auf das tatsächlich getroffene Opfer übertragen lasse, solange nur in beiden Fällen dasselbe Delikt im Raum stehe.313 Zwar plädieren manche Autoren dafür, die Lehre aufzugeben, zumal in nahezu allen einschlägigen Fällen eine – sachgerechtere – Bestrafung wegen Versuchs und gegebenenfalls auch aus anderen Delikten eröffnet sei.314 Solchen Stimmen wird aber mehrheitlich – auch von Seiten der Law Commission – entgegen gehalten, dass die Bestrafung wegen Versuchs unmöglich oder unangebracht sei, überdies auch Strafbarkeitslücken auftreten könnten.315 Ungewöhnlich scharfe Kritik an der doctrine of transferred malice hat in jüngerer Zeit aber auch das House of Lords geäußert: Sie sei eine „Fiktion“ und „ohne tragfähige intellektuelle Grundlage“.316 In dem zugrunde liegenden Fall hatte der Angeklagte seine schwangere Freundin attackiert und ihr ein Messer in den Bauch gerammt. Zwar wurde dabei der Fötus nicht getroffen; es kam aber wegen des Stichs zu einer Frühgeburt, in deren Folge das Kind starb. In zweiter Instanz wegen murder verurteilt, wurde der Angeklagte durch das House of Lords lediglich des manslaughter schuldig gesprochen. Es bleibt abzuwarten, welche Entwicklung die Lehre von der transferred malice nach dieser Entscheidung nehmen wird. Eine letzte zu erwähnende Konstellation ist die, dass der Täter alle tatsächlichen Umstände eines actus reus voll erfasst, jedoch meint, er handle nicht strafbar. Ein solcher Rechtsirrtum (ignorance bzw. mistake of law) ist unbeachtlich, schließt also die mens rea des Täters nicht aus.317 Bei einem dem Täter nicht anzulastenden Irrtum – etwa bei unrichtiger Behördenauskunft – besteht prozessual die Möglichkeit eines Schuldspruchs ohne (weitere) nachteilige Rechtsfolge („absolute discharge“).318
312 Wobei Vorsatz wiederum nicht im deutschen technischen Sinne gemeint ist. Im Englischen ist synonym auch von „übertragener Schuld“ (transferred fault) die Rede. 313 Vgl. die Ausführungen Lord Coleridges in The Queen v. Latimer (1886) 17 QBD 359 (361): Die Verurteilung entspreche gesundem Menschenverstand, „[. . .] because the offender is doing an unlawful act, and has that which the judges call general malice, and that is enough.“ 314 Vgl. Williams, General Part, § 49 (S. 134 ff.); Ashworth, in: Glazebrook, S. 77 (85 ff.). 315 Law Com No. 177, Volume 2, Ziff. 8.57; die daher vorgeschlagene Formulierung findet sich in The Law Commission, Law Com No. 177, Volume 1, cl. 24 (1). 316 Attorney-General’s Reference (No. 3 of 1994) (1998) 1 Cr App R 91 (105 – Lord Mustill). 317 Husak/v. Hirsch, in: Shute/Gardner/Horder, S. 157 (158); Forster, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 3, S. 662 (675). 318 Surrey Council v. Battersby (1965) 1 All ER 273 (278 – Sachs J).
B. Der Straftatbegriff in England
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(2) Zeitliche Kongruenz Zwischen actus reus und mens rea muss überdies auch in zeitlicher Hinsicht Kongruenz bestehen. Das heißt, dass mens rea genau zu dem Zeitpunkt vorliegen muss, an dem der actus reus erfüllt wird. Bei Straftaten, die sich über einen Zeitraum erstrecken, muss sie zumindest irgendwann innerhalb dieses Zeitraums vorliegen.319 Sie ist irrelevant, wenn sie ausschließlich vor oder nach dem maßgeblichen Zeitpunkt oder -raum gegeben ist – die Gedanken sind auch in England frei. Schwierigkeiten ergeben sich mit Blick auf das Erfordernis zeitlicher Kongruenz, wenn der Täter einem Irrtum darüber unterliegt, wann genau er den actus reus einer Straftat verwirklicht. Beispielhaft: Der Täter attackiert sein Opfer, um es zu töten, hält es auch für tot und wirft den vermeintlichen Leichnam in einen Abgrund; erst deshalb stirbt das Opfer. In Fällen dieser Art ist der Täter wegen eines vollendeten murder strafbar.320 Denn nach Ansicht der Rechtsprechung lässt sich hier keine Trennung vornehmen zwischen der ersten Attacke und der letztlich tatsächlich tödlichen Handlung; das ganze Verhalten stelle sich vielmehr als ein und dieselbe „Transaktion“ dar. Bei einer solchen Sachlage müssten das Bewusstsein zu töten und die eigentliche Tötungshandlung nicht zu einem exakten Zeitpunkt zusammentreffen.321 – Eine ganz andere Lösung wird in Teilen der Literatur vorgeschlagen: Danach sei das transaction-Prinzip verzichtbar, wenn man das ihm zugrunde liegende Sachproblem nicht als eines der Koinzidenz von actus reus und mens rea betrachte, sondern als eines von Kausalität und Zurechnung.322 ee) Strict liability als Ausnahme vom Erfordernis der mens rea (1) Begriff der strict liability und ihr Vorkommen Die hiesigen Erörterungen des mentalen Verbrechenselements sollen wie angekündigt beschlossen werden mit einem näheren Blick auf die eingangs schon erwähnte Ausnahme von dem Erfordernis der mens rea: auf jene Gattung von Straftaten also, die eine „strenge“ strafrechtliche Verantwortlichkeit (strict liability) begründen. Wegen einer solchen strict liability offence ist strafbar, wer durch (irgend)ein willentliches Verhalten einen strafrechtlich verbotenen Erfolg oder Zustand verursacht. Eines besonderen, auf diesen Erfolg oder Zustand bezogenen Bewusstseins bedarf es dabei nicht.323 Mit anderen Worten: Ausnahmsweise ge319 Fagan v. Commissioner of Metropolitan Police (1969) 1 QB 439 (445); Kaitamaki v. The Queen (1985) AC 147 (151 f.). 320 Thabo Meli v. The Queen (1954) 1 WLR 228 (230); Reg. v. Church (1966) 1 QB 59 (68); Reg. v. Le Brun (1991) 4 All ER 673 (678 f. – Lord Lane CJ). 321 Reg. v. Le Brun (1991) 4 All ER 673 (679 – Lord Lane CJ). 322 Allen, S. 52. 323 So die Definition bei Herring, S. 213. In terminologischer Hinsicht nicht völlig geklärt ist, ob darunter auch solche Delikte fallen, die dem Angeklagten die Verteidi-
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2. Teil: Landesberichte
nügt bereits das Vorliegen eines actus reus allein für Strafbarkeit; eine wie auch immer geartete mens rea ist dagegen entweder hinsichtlich bestimmter Merkmale des actus reus oder sogar insgesamt nicht vonnöten. Entsprechend ist auch ein Irrtum des Angeklagten, sei es auch ein „ehrlicher“, grundsätzlich unbeachtlich.324 Wenn die Kategorie der strict liability crimes hier als Ausnahme bezeichnet wird, so ist diese Redeweise streng (!) genommen nur bedingt zutreffend. Sie ist zutreffend insofern, als diese Delikte von dem sonst üblichen Verbrechensmodell abweichen. Quantitativ gesehen lässt sich dagegen kaum von einer Ausnahme sprechen – sind doch über die Hälfte der gut 8.000 englischen Straftaten „strikt“ in dem hier beschriebenen Sinne.325 Meist handelt es sich um weniger bedeutende Vergehen, häufig um so genannte regulatory offences, das sind strafbewehrte Ordnungsvorschriften auf dem Gebiet des Gewerberechts. Doch sogar unter jenen Taten, die wegen ihrer Schwere in erster Instanz bei den Crown Courts angesiedelt sind,326 weist ungefähr die Hälfte mindestens ein strict liability-Element auf.327 Was die Verteilung der strict liability crimes zwischen Fall- und Gesetzesrecht anbelangt, so besteht ein klares Übergewicht zugunsten des Letzteren. Zwar kennt auch das Common Law Delikte mit strenger strafrechtlicher Verantwortlichkeit. Doch sind dies erstens nur wenige – zu nennen ist beispielsweise die Erregung öffentlichen Ärgernisses (public nuisance). Diese wenigen Delikte treten zweitens in der gerichtlichen Praxis auch noch vergleichsweise selten in Erscheinung. Fast alle strict liability offences, die wichtigen zumal, sind vielmehr gesetzlichen Ursprungs. (2) Die Charakterisierung einer Strafvorschrift als „strict“ Um ein veranschaulichendes Beispiel zu geben:328 Als eine gesetzlich geregelte strict liability offence ist etwa section 1 Firearms Act 1968 angesehen worden. Danach ist der Besitz von Schusswaffen ohne ein behördliches Erlaubniszer-
gungseinrede eröffnen, er habe nicht fahrlässig gehandelt; vgl. Ashworth, Criminal Law, S. 165; Herring, S. 214. Die Frage muss hier jedoch nicht beantwortet werden. 324 Card, Ziff. 5.2. Zur Geschichte der strict liability s. Hörster, S. 25 ff. 325 Ashworth, Criminal Law, S. 170; ders./Blake, Crim LR 1996, 306 (307). – Dagegen schreiben Elliott/Quinn, S. 29, es gebe nur eine geringe Zahl von strict liability crimes. Die Diskrepanz lässt sich erklären, wenn man annimmt, dass die letzteren Autorinnen sich nur auf die Straftaten beziehen, bei denen strict liability sogar in eine Haftstrafe münden kann. Auch Hörster, S. 16 mit Fn. 50, weist darauf hin, dass strict liability „dem englischen Kernstrafrecht beinahe ausnahmslos fremd“ sei. 326 Vgl. oben in diesem Teil, B. I. 2. (Fn. 191). 327 Ashworth, Criminal Law, S. 170 f.; ders./Blake, Crim LR 1996, 306 (313). 328 Weitere bei Hörster, S. 44 ff.
B. Der Straftatbegriff in England
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tifikat strafbar. Von der Strafdrohung ausgenommen ist gemäß section 58 (2) Firearms Act 1968 jedoch der Besitz antiker Waffen, die jemand als Sammeloder Zierstücke besitzt. In der Rechtssache Howells329 glaubte der Angeklagte nun – ohne dass er insoweit Anlass zu Zweifeln gehabt hätte –, eine solche antike Waffe gekauft zu haben. Als sich indessen heraus stellte, dass die vermeintliche Antiquität eine Reproduktion war, wurde er angeklagt und ungeachtet seines guten Glaubens verurteilt. Das Gericht maß der einschlägigen Strafvorschrift strict liability-Charakter bei. Dies indiziere zum ersten der Wortlaut der Norm, der keine Form von mens rea erfordere. Zum zweiten sei der Besitz tödlicher Schusswaffen eine so offensichtlich große Gefahr für die Allgemeinheit, dass der Gesetzgeber nur ein absolutes Verbot beabsichtigt haben könne. Und drittens widerspreche es der klaren Intention des Gesetzes, Angeklagten die Berufung auf guten Glauben zu gestatten.330 Das Beispiel ist insofern bezeichnend, als in den allerwenigsten Fällen der Wortlaut eines Gesetzes explizit klarstellt, dass eine Straftat oder ein Element derselben „streng“ zu interpretieren ist. Regelmäßig ist es deshalb der Entscheidung der Gerichte überantwortet, ob sie strict liability bejahen oder nicht. In der Vergangenheit war dabei eher eine Tendenz zu Lasten des Angeklagten zu konstatieren. Als Entscheidungshilfe – neben den im Beispielsfall Howells schon erwähnten – diente dabei nicht selten die Erwägung, dass der Nachweis von mens rea im Einzelfall schwierig sein könne.331 Für bedeutsam erachtete man ferner den gesellschaftlichen Kontext einer Strafnorm: ob sie sich an die Allgemeinheit wende oder nur an bestimmte Adressaten,332 ob sie für den Täter nur ein ganz geringes Stigma oder ein hohes Strafmaß mit sich bringe,333 ob sie ein gesellschaftlich bedeutsames Anliegen verfolge und ob ihre strikte Interpretation insofern effektiv zu sein verspreche, als sie zu mehr Wachsamkeit anhalte und so die künftige Begehung der Tat hindere.334 Der Gefahr ungerechter Verurteilungen könne man durch eine behutsame Strafverfolgungspraxis hinreichend begegnen.335 Die Einordnung von weniger schweren, insbesondere regulatory offences als strikt ist schließlich auch mit der Begründung gerechtfertigt worden, das be329
Reg. v. Howells (1977) QB 614. Reg. v. Howells (1977) QB 614 (626). Kritisch zu diesen Gründen („poor reasoning“) stellvertretend für viele Ashworth, Criminal Law, S. 170. 331 Vgl. Herring, S. 225 f. 332 Bei einer allgemein gehaltenen Bestimmung, ist strict liability weniger wahrscheinlich: Sweet v. Parsley (1970) AC 132 (148 ff.). 333 Barnfather v. Islington Education Authority (2003) 1 WLR 2318 (2339 Rn. 57 – Elias J). – Wie das obige Beispiel Howells zeigt, haben andererseits auch Strafdrohungen bis zu mehreren Jahren Haft die Einordnung von Delikten als strict liability offences nicht gehindert. 334 Gammon (Hong Kong) Ltd. v. Attorney-General (1985) AC 1 (14). 335 Smedleys Ltd. v. Breed (1974) AC 839 (855 ff. – Viscount Dilhorne); Herring, S. 226. 330
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treffende Verhalten müsse deshalb kein bewusstes sein, weil es lediglich der Form, nicht der Natur nach kriminell sei (criminal in form, civil in nature), mit anderen Worten „nicht wahrhaft kriminell“ (not truly criminal).336 (3) Kritik und neuere Tendenzen J. C. Smith hat der letzteren Begründung lakonisch entgegen gehalten, dies sei „ein eigentümliches Verständnis von Wahrheit. Die Wahrheit ist, dass es sich um eine Straftat handelt.“ 337 Überhaupt sieht sich das Konzept der strict liability in Teilen der Literatur schon länger erheblicher Kritik ausgesetzt. So wird bereits bezweifelt, ob eine strenge strafrechtliche Verantwortlichkeit empirisch tatsächlich einen besseren Schutz der Öffentlichkeit mit sich bringt.338 Selbst wenn dem so sei, dürfe ein solcher Schutz jedenfalls nicht auf Kosten von Personen gehen, denen man ihr Verhalten nicht vorwerfen könne.339 Aus demselben Grund könnten letztlich auch etwaige Beweisschwierigkeiten kein Argument für strict liability abgeben. Die Kritik gipfelte in der Auffassung, dass eine Verurteilung auf der Grundlage von strict liability das Gebot des fairen Verfahrens gemäß Art. 6 EMRK verletze.340 Die englischen Gerichte haben diesen Einwand mit dem Argument zurück gewiesen, es handele sich um eine Frage des materiellen Rechts, die nicht von der prozessualen Regelung des Art. 6 EMRK betroffen sei.341 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte selbst hat erklärt, die Vertragstaaten könnten Personen „im Prinzip unter bestimmten Bedingungen für eine bloße oder objektive Tatsache als solche bestrafen, ungeachtet dessen, ob diese sich aus Vorsatz oder aus Fahrlässigkeit ergibt.“ 342 Welche Bedingungen das sind, erörterte der Gerichtshof nicht näher.
336 Vgl. Gammon (Hong Kong) Ltd. v. Attorney-General (1985) AC 1 (14 – Lord Scarman); vgl. auch schon Sherras v. de Rutzen (1895) 1 QB 918 (922) („acts which are not criminal in any real sense“). Vgl. auch die ausführliche Zusammenstellung der Argumente für strict liability bei Hörster, S. 60 ff. 337 „This is a peculiar notion of truth. The truth is that it is a crime.“, Smith/Hogan, S. 125. 338 Ashworth, Criminal Law, S. 167 f. 339 Ashworth, Criminal Law, S. 166. 340 Arden, Crim LR 1999, 439 (450). 341 Barnfather v. Islington Education Authority (2003) 1 WLR 2318 (2326 ff. Rn. 17 ff. – Maurice Kay J); R. v. Muhammed (2003) 2 WLR 1050 (1057 ff. Rn. 26 ff.). 342 EGMR, Salabiaku-Urteil vom 7.10.1988, Serie A, Nr. 141-A, Ziff. 27 („In particular, and again in prinicple, the Contracting States may, under certain conditions, penalise a simple or objective fact as such, irrespective of whether it results from criminal intent or from negligence.“). Es ist fraglich, ob der zu entscheidende Sachverhalt zu dieser Aussage wirklich Anlass bot. Zur Kritik dieser Sichtweise des Gerichts s. unten im Vergleich: Dritter Teil, B. III. 2. c) cc). Näher zur Rechtsprechung des EGMR zu strict liability s. die Darstellung bei Hörster, S. 116 ff.
B. Der Straftatbegriff in England
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Wohl nicht zuletzt in Anbetracht der anhaltenden Kritik hat das House of Lords jüngst eine gewisse Kehrtwende eingeleitet. In zwei neueren Entscheidungen bekennt es sich zu dem Grundsatz, dass das Recht prinzipiell mens rea als Voraussetzung für eine strafrechtliche Verurteilung verlange – und spricht diesem Grundsatz sogar verfassungsrechtlichen Rang zu.343 Danach streitet bei Strafgesetzen, deren Wortlaut sich (auch im Wege der Interpretation) keine strenge Verantwortlichkeit entnehmen lässt, eine Vermutung dafür, dass zu ihrer Erfüllung mens rea erforderlich ist. Diese Vermutung kann nach den neuen Ausführungen des House of Lords nur dann widerlegt werden, wenn ein Rückschluss von „bezwingender Klarheit“ darauf möglich ist, dass der Gesetzgeber die in Frage stehende Bestimmung als eine strikte verstanden wissen wollte.344 Die generelle Zulässigkeit der strict liability wird durch diese neue Rechtsprechung indes in keiner Weise in Frage gestellt. Ob die neuen Vorgaben künftig zu einem Rückgang dieser Form „strafrechtlicher Verantwortlichkeit“ führen werden, halten viele für zweifelhaft.345 c) Einschub: Der Versuch einer Straftat Sind mit actus reus und mens rea die grundlegenden Erfordernisse der Straftat nunmehr bekannt, bietet es sich an, vor der Vorstellung der Verteidigungseinreden einen kurzen Abriss über die Strafbarkeit des Versuchs (criminal attempt) zu geben. In der englischen Lehre wird der Versuch als eine von drei Erscheinungsformen der so genannten unvollendeten Straftat (inchoate offence) behandelt.346 Seine rechtliche Ausgestaltung beruht seit Verabschiedung des Criminal Attempts Act 1981 maßgeblich auf gesetzlicher Grundlage. Was danach zunächst die Reichweite der Versuchsstrafbarkeit anbelangt, so erstreckt sich diese gemäß section 1 (4) des Gesetzes grundsätzlich auf alle Taten, die im Falle ihrer Vollendung als so genannte indictable offences347 in Eng343 B (A Minor) v. DPP (2000) 2 AC 428 (460 ff. – Lord Nicholls of Birkenhead); Reg v. K (2002) 1 Cr App R 121 (136 Rn. 32 – Lord Steyn). Der Grundsatz als solcher findet sich bereits in Sherras v. de Rutzen (1895) 1 QB 918 (921 – Wright J) und seither immer wieder, etwa in Sweet v. Parsley (1970) AC 132 (149 – Lord Reid) und Gammon (Hong Kong) Ltd. v. Attorney-General (1985) AC 1 (12). 344 B (A Minor) v. DPP (2000) 2 AC 428 (460 ff. – Lord Nicholls of Birkenhead) und Reg. v. K. (2002) 1 Cr App R 121 (136 Rn. 32 – Lord Steyn). Ein späteres Beispiel, in dem das Gericht den Wortlaut einer Norm strict interpretierte, ist Reg. v. Kirk and Russell (2002) Crim LR 756: Für die Strafbarkeit des Geschlechtsverkehrs mit einer unter Sechzehnjährigen sei die irrtümliche Annahme, das Opfer sei älter, irrelevant. 345 s. etwa Ashworth, Criminal Law, S. 174. 346 Die anderen beiden Erscheinungsformen sind das Verleiten zu einer Tat (incitement) und die Verschwörung (conspiracy); auf beide soll hier nicht näher eingegangen werden. Zu ihnen s. etwa Clarkson/Keating, S. 504 ff., 520 ff.; Ashworth, Criminal Law, S. 444 ff.; Forster, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 3, S. 821 (830 f.). 347 Grob gesprochen, handelt es sich dabei um schwerere Vergehen sowie Verbrechen; den Gegenbegriff bilden die summarischen, summary offences, Bagatelldelikte,
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2. Teil: Landesberichte
land und Wales verfolgbar wären. Ausgenommen davon sind lediglich bestimmte Delikte, die ohnehin schon durch eine erhebliche Vorverlagerung der Strafbarkeit gekennzeichnet sind (so die Verschwörung) oder die als bloße Unterstützungshandlungen selbst in vollendeter Form als vergleichsweise weniger verwerflich angesehen werden (so grundsätzlich diverse Formen der Teilnahme). Laut der englischen Lehre soll kraft Natur der Sache der Versuch ferner ausgeschlossen sein bei Straftaten, die im actus reus ein Unterlassen oder als mens rea entweder recklessness oder negligence erfordern.348 In systematischer Hinsicht unterteilt man auch den Versuch in actus reus und mens rea – wobei Letztere jedoch im Unterschied zu sonst als primärer und hauptsächlicher Bestandteil der Straftat erachtet wird.349 Auch die Formulierung der Versuchsdefinition in section 1 (1) Criminal Attempts Act 1981 kann als Ausdruck dieser Umkehrung gelesen werden: „Wenn eine Person in dem Entschluss, eine Straftat zu begehen, auf die dieser Abschnitt Anwendung findet, eine Handlung vornimmt, die mehr als bloß vorbereitend ist, so ist sie des Versuchs der Tatbegehung schuldig.“ 350
Die Formulierung belässt gleich in zweifacher Hinsicht Interpretationsspielraum. So gibt erstens der allgemeine Begriff des Entschlusses nicht vor, welche exakte Form der mens rea für einen strafbaren Versuch erforderlich ist. Die herrschende Meinung differenziert insoweit: Der Täter muss grundsätzlich intention hinsichtlich der eigentlichen Tathandlung sowie hinsichtlich etwaiger Folgen haben; hinsichtlich sonstiger Umstände der Tat genügt dagegen grundsätzlich auch recklessness.351 – Nicht weniger offen ist zweitens der actus reus des Versuchs umschrieben. Festgelegt ist lediglich, dass sowohl der Entschluss zu einer Straftat als auch ihre bloße Vorbereitung nicht strafbar sind.352 Das Gesetz gibt jedoch keinen Anhaltspunkt dazu, wann die bloße Vorbereitung verlassen ist. Nach traditionellem Common Law war dies (erst dann) der Fall, wenn der Täter den letzten deren Versuch demnach straflos ist. Zu der Unterscheidung s. Allen, S. 12 f.; Mansdörfer/Macke, S. 202. 348 Dazu Card, Ziff. 17.57; für Strafbarkeit der versuchten Unterlassung dagegen P. Palmer (1999) 63 JCL 158 (163 f.). 349 Vgl. Lord Goddard CJ in der Entscheidung Whybrow (1951) Cr App R 141 (147); entsprechend auch die Reihenfolge der Darstellung etwa bei bei Duff, S. 5; Ashworth, Criminal Law, S. 447 ff.; vgl. ferner Mansdörfer/Macke, S. 185. 350 „If, with intent to commit an offence to which this section applies, a person does an act which is more than merely preparatory to the commission of the offence, he is guilty of attempting to commit the offence.“ 351 Ausführlich dazu Duff, S. 6 ff. Die Differenzierung ist entwickelt worden und wird verständlich im Kontext der Vergewaltigung; dort ist Tathandlung die Penetration, die fehlende Zustimmung des Opfers dagegen äußerer Umstand (circumstance). s. auch Forster, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 3, S. 821 (824 f.). 352 Vorbereitungshandlungen können jedoch als selbstständige Straftaten gestaltet sein; ein Beispiel dafür ist etwa section 10 Prevention of terrorism – temporary provisions – Act 1976 oder section 1 Firearms Act 1968.
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Schritt getan hatte, der von seiner Seite für die Begehung erforderlich war („last step test“).353 Die Rechtsprechung hat inzwischen klargestellt, dass die neue Gesetzesregelung aus sich heraus, ohne Rückgriff auf das alte Fallrecht zu interpretieren sei. Infolge dessen lässt sich der Versuch nunmehr tendenziell schon in früheren Stadien der Tat bejahen. Ein neues einheitliches Kriterium zur Abgrenzung zwischen bloßer Vorbereitung und Versuch haben die Gerichte indessen noch nicht entwickelt – zumal section 4 (3) Criminal Attempts Act 1981 diese Frage schlicht zu einer Tatfrage erklärt, die von der Jury zu beantworten sei.354 Gesetzlich klar geregelt ist immerhin, dass – wiederum anders als nach ursprünglichem Common Law – nunmehr auch der untaugliche Versuch grundsätzlich strafbar ist, section 1 (2), (3) Criminal Attempts Act 1981.355 Nach section 4 Criminal Attempts Act 1981 ist der Versuch ist in der Regel ebenso zu bestrafen wie die vollendete Tat. Das englische Recht kennt zudem keinen strafbefreienden Rücktritt und auch keine tätige Reue; entsprechende Verhaltensweisen des Täters können sich allenfalls auf das Strafmaß auswirken.356 d) Verteidigungseinreden (defences) Wenn es der Anklage gelungen ist, actus reus und – sofern erforderlich – mens rea darzulegen und entsprechend Beweis anzutreten, muss das Schicksal des Angeklagten damit noch nicht besiegelt sein: Er hat noch die Möglichkeit, zu seiner Entlastung Verteidigungseinreden (defences) vorzutragen. Diese Verteidigungseinreden, dritte Stufe im englischen Verbrechensbegriff, seien abschließend einer näheren Betrachtung unterzogen. aa) Begriff und systematische Einteilung Anerkanntermaßen ist der Begriff der defence einer allgemeinen Definition nicht zugänglich357 – zu viele und vor allem zu viele unterschiedliche Verteidigungseinreden kennt das englische Strafrecht. Die meisten von ihnen sind richterrechtlichen Ursprungs;358 und auch wenn manche davon mittlerweile gesetzlich verankert sind, gibt es keine umfassende Kodifikation und auch keinen numerus 353 In den Worten Lord Diplocks in DPP v. Stonehouse (1977) 2 All ER 909 (917): Der Täter müsse „den Rubikon überquert und seine Boote verbrannt“ haben. 354 Reg. v. Jones (Kenneth Henry) (1990) 1 WLR 1057 (1062 f.). 355 s. dazu z. B. den Fall Reg. v. Shivpuri (1986) 2 All ER 334 (336 ff.). 356 Ausführlich dazu mit zahlreichen Nachweisen Brockhaus, S. 379 ff.; s. ferner Forster, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 3, S. 821 (829). 357 So übereinstimmend z. B. Ormerod/Smith/Hogan, S. 247; Herring, S. 630, 697; Simester/Sullivan, S. 613. 358 Ashworth, Criminal Law, S. 154.
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clausus der Verteidigungseinreden. Daran sollte sich auch nach den Plänen der Law Commission nichts ändern.359 Immerhin lassen sich systematisch zwei Kategorien von defences unterscheiden.360 Die erste Kategorie sind Verteidigungseinreden gegen die Beweisführung der Anklage (failure of proof defences). Die hier einzuordnenden Einreden zielen darauf ab, den anklageseits unter Beweisangebot vorgetragenen Tatvorwurf zu entkräften. Ob der Angeklagte dabei einen zum actus reus zählenden Umstand widerlegt, beispielsweise durch ein Alibi, oder ob er Argumente gegen das Vorliegen seiner (erforderlichen) mens rea darlegt – immer geht es darum, das von der Anklage errichtete Beweisgebäude zum Einsturz zu bringen.361 Die zweite Kategorie umfasst dagegen „echte“, sozusagen technische Verteidigungseinreden des materiellen Rechts (substantive oder true defences). Diese Einreden vermögen die Strafbarkeit des Angeklagten auszuschließen (oder doch zumindest seine Strafe zu mildern), obwohl er die Merkmale des actus reus mit der erforderlichen mens rea zunächst erfüllt hat bzw. erfüllt zu haben scheint.362 Beispiel: Obwohl der Angeklagte nach den Darlegungen der Anklage eine Person attackiert und dies auch willentlich getan haben mag, ist er nicht strafbar, wenn er sich erfolgreich auf die Verteidigungseinrede der Notwehr beruft. Innerhalb der Gruppe dieser substantive defences lässt sich noch weiter unterteilen zwischen allgemeinen Verteidigungseinreden, die grundsätzlich gegenüber jedem Anklagevorwurf möglich sind (general defences), und solchen, die auf bestimmte spezifische Straftaten beschränkt sind (partial defences). Ein Beispiel für die Letzteren ist die nur im Rahmen der Tötungsdelikte anerkannte verminderte Verantwortlichkeit (diminished responsibility) gemäß section 2 (2) Homicide Act 1957. Erfolgreich vorgebracht, entschärft sie den Anklagevorwurf von murder auf manslaughter. Die Trennlinie zwischen den beiden Kategorien von Verteidigungseinreden mutet auf den ersten Blick klar an. Ob allerdings eine defence diesseits oder jenseits dieser Linie anzusiedeln ist, ist nach Ansicht mancher Autoren letztlich eine „Frage der Konvention, nicht des Prinzips.“ 363 Veranschaulichen lässt sich das am Beispiel einer Körperverletzung (battery), die jemand in der irrtümlichen An359 Vgl. The Law Commission, Law Com No. 177, Volume 1, cl. 45 (c): „Eine Person begeht keine Straftat, wenn sie eine Handlung vornimmt, die nach einer gemäß section 4 (4) weiterhin anwendbaren Bestimmung des Common Law gerechtfertigt oder entschuldigt ist.“ 360 Die folgende Darstellung orientiert sich an dem verbreiteten Modell, wie es etwa Simester/Sullivan, S. 605 ff., präsentieren. Es sei jedoch nicht verschwiegen, dass es auch andere als den nachfolgenden Systematisierungsversuch gibt, vgl. etwa Murphy, S. 34 (A3.1). 361 Vgl. Lanham, Crim LR 1976, 276; Simester/Sullivan, S. 606; Watzek, S. 58. 362 Vgl. Watzek, S. 58. 363 Simester/Sullivan, S. 607; s. auch Herring, S. 695 ff.
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nahme begeht, er übe Notwehr. Lange Zeit definierten die Gerichte den actus reus einer Körperverletzung als Zufügung von Gewalt (infliction of force); als mens rea war darüber hinaus intention oder recklessness erforderlich. Diese Voraussetzungen erfüllte auch derjenige Angeklagte, der die Gewalt in der irrtümlichen Vorstellung zufügt, er befinde sich in einer Notwehrlage. Irrtümliche Notwehr war hiernach also eine „echte“, substantive defence – die im Übrigen nur dann zum Erfolg führte, wenn die Fehlvorstellung einem vernünftigen Glauben (reasonable belief) entsprang.364 Im Jahr 1987 jedoch änderte der Court of Appeal die Voraussetzungen der Körperverletzung dahin, dass nunmehr die rechtswidrige Zufügung von Gewalt mit entsprechender mens rea erforderlich sei.365 In der Konsequenz heißt dies, dass die irrtümliche Annahme einer Notwehrlage – ob vernünftig oder nicht – die mens rea entfallen lässt. Der Irrtum begründet demnach jetzt eine failure of proof defence.366 bb) Insbesondere: Rechtfertigende und entschuldigende Verteidigungseinreden Neben der soeben erläuterten Systematik soll hier aus nahe liegenden Gründen noch auf eine weitere Unterscheidung genauer eingegangen werden: auf jene zwischen rechtfertigenden und schuldausschließenden bzw. entschuldigenden Verteidigungseinreden (justification und excuse). Diese Unterscheidung findet in der englischen Literatur in jüngster Zeit wohl zunehmend Anhänger.367 Interessanterweise können diese sich auf ein ganz altes Vorbild in der Geschichte des Totschlagstatbestands berufen: Bis in das 19. Jahrhundert hinein unterschieden die englischen Gerichte nämlich zwischen den Rechtsfolgen einer gerechtfertigten Tötung (etwa: Vollstreckung einer Todesstrafe) und einer bloß entschuldigten Tötung (etwa: Herbeiführung eines Unfalls ohne grobe Fahrlässigkeit). Im ersten Fall trafen den Freigesprochenen keinerlei Sanktionen, im letzteren Fall fielen dagegen seine Besitztümer an die Krone.368 Nachdem 1828 der Verfall für solche Entschuldigungsfälle jedoch abgeschafft worden war, geriet die Unterscheidung zunächst für lange Zeit in Vergessenheit. Entscheidenden Anteil hatte dabei das pragmatische Argument, dass es für einen Freispruch rechtlich keine Bedeutung habe, aus welchem Grund er genau erfolge.369 364
s. dazu schon oben in diesem Teil, B. III. 2. b) dd) (1). Reg. v. Williams (1987) 3 All ER 411 (413 ff. – Lord Lane CJ). 366 Simester/Sullivan, S. 607. 367 Befürwortend etwa Lacey/Wells/Quick, S. 62 ff.; Clarkson/Keating, S. 270 ff. (insbesondere 280 ff.); Wilson, S. 205; Jefferson, S. 260 ff.; Ashworth, Criminal Law, S. 96 f.; ablehnend dagegen Ormerod/Smith/Hogan, S. 248 f.; Simester/Sullivan, S. 610 ff. 368 s. Smith, Justification and Excuse, S. 7 f.; Watzek, S. 74. 369 Vgl. Stephen, S. 11; Radbruch, Der Geist des englischen Rechts, S. 78; Watzek, S. 76. 365
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Dass die Unterscheidung zwischen rechtfertigenden und entschuldigenden Verteidigungseinreden eine gewisse Renaissance erleben durfte, verdankt sich maßgeblich dem Einfluss Fletchers,370 dessen grundlegende, 1978 in den Vereinigten Staaten erschienene Monografie „Rethinking Criminal Law“ auch in England großen Widerhall gefunden hat. Ungeachtet dessen sind die meisten englischen Autoren und sind vor allem die englischen Gerichte dieser Unterscheidung bislang nicht gefolgt. Zwar gestehen viele zu, dass die Differenzierung praktische Auswirkungen haben könne, so etwa für die Frage der Strafbarkeit eines Teilnehmers.371 Als wirklich systembildend wird sie aber nicht anerkannt.372 Bemängelt wird beispielsweise, dass Rechtfertigung und Schuldausschluss bzw. Entschuldigung zum einen als analytische Begriffe nicht klar genug seien und dass zum anderen mit ihrer Hilfe gar nicht alle denkbaren Verteidigungskonstellationen adäquat beschrieben werden könnten. Ihre Übernahme bringe deshalb keine praktischen Vorteile.373 cc) Überblick über ausgewählte Verteidigungseinreden Abgesehen von der prozesspraktischen Unterscheidung zwischen failure of proof defences und substantive defences gibt es in der englischen Lehrbuchliteratur keine allseits anerkannte Systematik der Verteidigungseinreden.374 Der gemeinsame Oberbegriff vereinigt daher einen bunten Reigen verschiedenartigster Konstellationen. Als bedeutendere defences seien im Folgenden beleuchtet: Notstand (duress), Notwehr (self-defence oder private defence), die altersbedingte Strafunmündigkeit (infancy), die geistig-seelische Störung (insanity), Rausch (intoxication) sowie der Irrtum (mistake). – Im Anschluss daran soll zum Schluss noch jeweils kurz auf die Beweislast sowie auf strict liability offences im Kontext der Verteidigungseinreden eingegangen werden. (1) Notstandskonstellationen (duress) Das englische Recht kennt gegenwärtig (noch) keine allgemeine Verteidigungseinrede des Notstands (necessity) in dem Sinne, dass die Rettung eines 370 Fletcher, S. 759 ff.; zu seinem Einfluss in England s. Williams, Crim LR 1982, 732 (732 ff.). 371 Vgl. Williams, Crim LR 1982, 732 (735 ff.). 372 Auch Anhänger der Unterscheidung nutzen diese zum Teil lediglich zu Klassifikationszwecken, nämlich um die Verteidigungseinreden actus reus oder mens rea zuzuordnen: „An actor’s conduct is justified; an actor is excused.“; so etwa Robinson, Structure, S. 69; nahezu wortgleich Lacey/Wells/Quick, S. 63; vgl. ferner Smith, Justification and Excuse, S. 8. 373 Simester/Sullivan, S. 611 f. 374 Didaktisch motivierte Klassifikationen liefern aber etwa Ormerod/Smith/Hogan, S. 247, oder Herring, S. 630.
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überwiegenden Interesses grundsätzlich die Verletzung eines anderen Interesses rechtfertige.375 Die Rechtsprechung hat eine solche allgemeine defence of necessity zwar gelegentlich zugelassen – etwa: strafloser Besitz einer Waffe, die einem anderen weggenommen wurde, der damit töten wollte –, sie hat dabei aber wiederholt deren Ausnahmecharakter ausdrücklich hervorgehoben.376 Als Verteidigungseinreden anerkannt sind stattdessen zwei spezielle Formen des Handelns unter Zwang; diese werden als duress by threats und als duress by circumstance bezeichnet. Der Unterschied zwischen den beiden Konstellationen besteht lediglich darin, dass der unter Zwang Stehende im ersten Fall ausdrücklich zur Verletzung eines Rechtsguts aufgefordert wird, im zweiten Fall dagegen sich aufgrund der Umstände selbst dazu entschließt. Die rechtlichen Voraussetzungen sind jedoch in beiden Fällen die gleichen:377 Der Betroffene muss unter dem Eindruck einer Bedrohung mit dem Tod oder einer schweren Körperverletzung gehandelt haben; dabei kann die Drohung gegen ihn selbst oder gegen einen Dritten gerichtet sein. Entscheidend ist dabei jeweils, dass die Bedrohung gegenwärtig und unabwendbar (imminent and unavoidable) und zudem von solcher Art gewesen ist, dass auch eine „besonnene Person von vernünftiger Standhaftigkeit“ (sober person of reasonable firmness) genauso gehandelt hätte wie der Beschuldigte.378 Dieser Vergleichsperson werden das Alter, Geschlecht und die gesundheitliche Konstitution des tatsächlich Handelnden zugeschrieben, nicht aber – jedenfalls nicht zwingend – Persönlichkeitsstörungen oder besondere psychische Charakteristika.379 Erforderlich ist nicht zuletzt, dass der Betreffende subjektiv in Kenntnis und aufgrund der Bedrohungssituation gehandelt hat.380 Stellt er sich eine solche Situation nur irrtümlich vor, kann er sich ebenfalls auf die Verteidigungseinrede berufen: Während die Rechtsprechung früher eine „vernünftige“ (reasonable) Fehlvorstellung verlangte, lässt sie nunmehr jeden „ernstlichen“ (honest) irrtümlichen Glauben genügen und bezeichnet diese Neuerung inzwischen bereits als „akzeptiert“ 381 bzw. „gefestigt“.382 Dem stimmt auch die Literatur mehrheitlich 375
s. etwa Southwark LBC v. Williams (1971) 2 All ER 175 (179 – Lord Denning). Pommel (1995) 2 Cr App R 607 (613 ff.); eine Lösung von Härtefällen auf der Strafzumessungsebene (durch Absehen von Strafe) sei unbefriedigend (614; Kennedy L.J.). – Der Entwurf der Law Commission sieht ebenfalls keine allgemeine defence of necessity vor; vgl. The Law Commission, Law Com No. 177, Volume 1, cll. 41 ff. 377 Card, Ziff. 19.35; Ormerod/Smith/Hogan, S. 324. 378 R. v. Graham (1982) 1 All ER 801 (806 – Lane LCJ). 379 R. v. Hegarty (1994) Crim LR 353 (354); R. v. Horne (1994) Crim LR 584 (585); jeweils m. Anm. J. C. Smith. Für ausschließliches Abstellen auf den wirklich Handelnden dagegen der Vorschlag im Entwurf eines Strafgesetzbuchs, The Law Commission, Law Com No. 177, Volume 1, cl. 42 (3) (b). 380 Dadson (1850) 4 Cox CC 358; diese Entscheidung gilt auch im Kontext der duress; vgl. Watzek, S. 119. 381 Mantell L.J in Martin (David Paul) (2000) 2 Cr App R 42 (49). 376
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zu.383 – Zu erwähnen bleibt, dass eine defence of duress ausgeschlossen ist, wenn die Notstandshandlung in der vorsätzlichen Tötung (auch: versuchten Tötung) eines Menschen besteht.384 Daneben ist sie ausgeschlossen, wenn der Handelnde sich der Bedrohung bewusst ausgesetzt hat.385 (2) Notwehr (Private defence/Self defence) Sofern englische Autoren justification und excuse unterscheiden, nennen sie als typisches Beispiel für die erstgenannte Kategorie die Verteidigung der eigenen oder einer dritten Person gegen Straftaten. Diese Private defence oder auch Self defence ist heute gesetzlich geregelt. Nach section 3 (1) Criminal Law Act 1967 darf eine Person „in dem Maße Gewalt anwenden, wie es in einer bestimmten Situation als vernünftig (reasonable) erscheint, um eine Straftat abzuwehren oder um zur rechtmäßigen Festnahme einer illegal auf freiem Fuß befindlichen Person beizutragen.“ Die erste Konstellation sei hier noch näher betrachtet:386 Der in der Definition verwendete Begriff der „Straftat“ ist im üblichen Sinne zu verstehen, diese erfordert also grundsätzlich die Verwirklichung eines actus reus mit mens rea Damit scheidet die gesetzliche self defence gegen schuldlos oder in Putativnotwehr handelnde „Angreifer“ aus. Zur Lösung solcher Fälle greift die Rechtsprechung auf die Regelungen der überkommenen Selbstverteidigung nach Common Law zurück.387 – Welches Maß an Gewalt in einer Verteidigungssituation „vernünftig“ ist, gibt das Gesetz nicht näher vor; die Frage wird als Tatfrage vielmehr der Entscheidung der Jury im Einzelfall überantwortet.388 Auch im Übrigen harren einige Probleme innerhalb des Selbstverteidigungsrechts einer über den einzelnen Fall hinaus gehenden Lösung. Als geklärt kann 382 Lord Bingham of Cornhill in Reg. v. K. (2002) 1 Cr App R 121 Rn. 23 – jedoch behalte das Kriterium der reasonableness seine Berechtigung insofern, als die Jury um so eher auf einen ehrlichen Irrtum schließen könne, je vernünftiger er sei; noch stärker in diese Richtung tendierte ders. jüngst in Hasan (2005) UKHL 22 Rn. 23. 383 Vgl. etwa Ormerod/Smith/Hogan, S. 302; Allen, S. 96. – Die Law Commission will die irrtümliche Annahme tatsächlicher Verteidigungsvoraussetzungen für die Zukunft ohnehin generell so behandeln, als habe die Verteidigungseinrede vorgelegen: The Law Commission, Law Com No. 177, Volume 1, cl. 41 (1): „A person who acts in the belief that a circumstance exists has any defence that he would have if the circumstance existed.“ 384 The Queen v. Dudley and Stephens (1884) 14 QBD 273 (281 ff., insbesondere 288); Reg. v. Howe (1986) 1 All ER 833 (839 – Lord Lane CJ). 385 R. v. Sharp (1987) QB 853 (861). 386 Das Festnahmerecht Privater ist ergänzend geregelt in section 24 (4 ff.) Police and Criminal Evidence Act 1984. 387 Simester/Sullivan, S. 704; Watzek, S. 89. 388 In der Literatur wird zum Teil dafür plädiert, die Kollision der widerstreitenden Rechte eher unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit als dem der „Vernünftigkeit“ zu betrachten, so Ashworth, Criminal Law, S. 136 f.
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indessen zum einen gelten, dass der Verteidiger in Kenntnis der drohenden Straftat bzw. zum Zwecke ihrer Abwendung handeln muss.389 Zum anderen ist auch die irrtümliche Annahme einer Straftat ebenso wie im Kontext der duress beachtlich, vermag also die Verteidigungseinrede zu begründen.390 (3) Strafunmündigkeit (infancy) Wegen fehlender Geistesreife strafunmündig sind im englischen Recht Kinder unter zehn Jahren. Für Zehn- bis Vierzehnjährige galt überdies bis 1998 eine widerlegliche Vermutung der Strafunmündigkeit. Diese Vermutung ist jedoch durch section 34 Crime and Disorder Act ausdrücklich abgeschafft worden. Daraus zieht die wohl vorherrschende Ansicht nicht etwa nur den Schluss, dass das beschuldigte Kind nunmehr selbst die Beweislast für seine fehlende Strafmündigkeit trüge. Vielmehr interpretiert man die Neuregelung so, dass Kinder ab zehn Jahren die Verteidigungseinrede fehlender Strafmündigkeit jetzt generell nicht mehr geltend machen können.391 Einen Mindestschutz vermittelt angeklagten Kindern aber das Internationale Übereinkommen über die Rechte des Kindes. Zudem urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte jüngst, das Vereinigte Königreich habe gegenüber einem elfjährigen Angeklagten das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt.392 Auch der Menschenrechtskommissar des Europarats hat die Thematik nach einem Besuch kritisch angesprochen.393 (4) Geistig-seelische Störung (unfitness to plead; insanity) Das englische Strafrecht geht davon aus, dass jedermann sein Verhalten grundsätzlich frei zu steuern vermag. Anders kann es bei geistig-seelischen Störungen sein; diese können zwei Verteidigungseinreden begründen: Ist der Beschuldigte generell außer Stande, auch nur die grundlegendsten Regeln des Strafrechts zu 389 So bereits früher die Rechtsprechung in Dadson (1850) 4 Cox CC 358; zur weiteren Entwicklung vgl. Watzek, S. 121 ff. 390 R. v. Williams (1987) 3 All ER 411 (414 f. – Lord Land CJ). 391 So das englische Innenministerium laut Simester/Sullivan, S. 664, die diese Haltung ihrerseits kritisieren. Für eine Anhebung des Alters zumindest auf zwölf Jahre etwa auch Crofts, Eur. J. Crime Cr. L. Cr. J. 2009, 267 (268 ff.). 392 SC v. United Kingdom (2005) Crim LR 130 ff. Die Entscheidung erging allerdings in Anbetracht der Umstände des Einzelfalls: Der betroffene Elfjährige – überdies in seiner Entwicklung verzögert – war nach Überzeugung des Gerichts nicht in der Lage, die Bedeutung des Verfahrens hinreichend zu erfassen. Der Gerichtshof griff dagegen nicht die Strafmündigkeit eines Elfjährigen nach englischem Recht im Allgemeinen an (Rn. 27). 393 Council of Europe: Commissioner for Human Rights, Report by Mr Alavaro GilRobles, Commissioner for Human Rights, on His Visit to the United Kingdom 4–12 November 2004, 8 June 2005, CommDH (2005)6, Ziff. 105–107.
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verstehen, so ist er verhandlungsunfähig (unfit to plead).394 Für diesen Fall sieht der Criminal Procedure (Insanity and Unfitness to plead) Act 1991 verschiedene Maßnahmen vor, wie das Gericht mit dem Betroffenen umgehen kann. Eine Bestrafung scheidet jedenfalls aus. Macht eine generell verhandlungsfähige Person geltend, sie habe (lediglich) im Moment der Tat eine geistig-seelische Störung aufgewiesen (insanity), so beurteilt sich die Rechtslage noch heute nach den so genannten M’Naghten Rules aus dem Jahre 1843 (!).395 Danach wirkt die Störung nur dann verteidigend, wenn klar bewiesen ist, dass der Beschuldigte im Moment der Tat an solch einer geisteskrankheitsbedingten Verstandesstörung gelitten hat, dass ihm entweder die Natur und Qualität seines Tuns oder aber dessen Unrecht nicht bewusst war.396 Diese Merkmale legt die Rechtsprechung traditionell äußerst eng aus. So entlastet die bloße Steuerungsunfähigkeit nicht; emotional bedingte oder allgemein auf „externen Faktoren“ beruhende Defekte gelten nicht als „Verstandesstörung“.397 Überdies besteht eine Vermutung für die geistige Gesundheit des Beschuldigten. Dieser muss die Voraussetzungen der insanity im Prozess nachweisen, wenn auch nicht jenseits vernünftigen Zweifels, sondern lediglich im Sinne hinreichender Wahrscheinlichkeit. Erfolgreich geltend gemacht, führt die Verteidigungseinrede zu dem speziellen Urteilsspruch „not guilty by reason of insanity“, der lange Zeit zwingend eine Einweisung in die Psychiatrie nach sich zog und auch heute noch weithin als stigmatisierend gilt. Auch aus diesem Grund wird insanity seit jeher nur ausgesprochen selten als Verteidigungseinrede ins Feld geführt.398 (5) Rausch (intoxication) Die Begehung einer Tat im (Drogen-, insbesondere Alkohol-)Rausch ist im Common Law über Jahrhunderte hinweg nicht als eine Verteidigungseinrede, sondern im Gegenteil sogar als strafschärfend angesehen worden.399 Grundsätzlich verhält es sich im englischen Recht auch heute noch so; nur bei bestimmten Delikten erkennt die Rechtsprechung den Rausch (intoxication) als mens rea ausschließend an. Die Leitentscheidung dazu ist der Fall Majewski: Angeklagt we394
Ashworth, Criminal Law, S. 204 ff. M’Naghten’s Case (1843–1860) All ER 229 ff. Kritisch zu diesem nicht eben modernen Ansatz bereits Grünhut, in: Mezger/Schönke/Jescheck, S. 133 (199). 396 „. . . it must be clearly proved that, at the time of the committing of the act, the party accused was labouring under such a defect of reason, from disease of the mind, as not to know the nature and quality of the act he was doing, or, if he did know it, that he did not know he was doing what was wrong.“ (1843–1860) All ER 229 (232). 397 Ormerod/Smith/Hogan, S. 256 f.; Ashworth, Criminal Law, S. 207 f. 398 Näher dazu Mackay, S. 96 ff. 399 Sheehan (1975) 2 All ER 960 (963); Mackay, S. 148 f.; Simester/Sullivan, S. 628. 395
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gen Körperverletzung und Angriffs gegen Polizeibeamte, hatte sich der Beschuldigte mit der Einlassung zu verteidigen versucht, er habe bei Begehung der Tat unter starkem Alkohol- und Drogeneinfluss gestanden und daher nicht gewusst, was er tue. Das House of Lords hielt dem entgegen, die vorgeworfenen Straftaten seien basic intent offences. Bei diesen genüge bereits der Konsum der Rauschmittel als solcher, um eine Strafbarkeit (wegen recklessness) zu begründen.400 Strafbarkeitsausschließend könne der Rausch nur bei specific intent offences sein, die besondere, über den actus reus hinaus gehende subjektive Elemente enthielten – etwa die Diebstahlsabsicht beim Einbruchsdiebstahl (burglary). Weitere Entscheidungen nach Majewski haben gezeigt, dass die dort gezogene Abgrenzung allerdings nur scheinbar klar ist. Versuche des Schrifttums, basic und specific intent offences deutlicher zu unterscheiden401 bzw. alternative Begründungen für die Unbeachtlichkeit des Rauschs zu entwickeln,402 haben bislang ebenfalls nicht gefruchtet. Damit bleiben die Rauschtaten in besonderem Maße eine Domäne der Kasuistik. Für die hiesige Untersuchung lässt sich aber immerhin festhalten, dass nach dieser Kasuistik die meisten Delikte basic intent offences sind. In aller Regel steht auch ein Delikt dieser Kategorie als „Auffangtatbestand“ unterhalb eines specific intent offence bereit, weshalb Rauschtäter in kaum einem Fall einmal völlig straflos davon kommen.403 (6) Irrtümer Der Überblick über wichtige Verteidigungseinreden des englischen Rechts sei beschlossen mit einem Blick auf die wichtigsten Irrtumskonstellationen. Zwei Grundformen des Irrtums werden dabei unterschieden: Tatsachen- (mistake of fact) und Rechtsirrtum (mistake of law). Der Erstere bezeichnet den Fall, dass jemand im Moment der Tat ein Element des actus reus nicht erfasst. Wie oben schon erwähnt, führt diese Fehlvorstellung zur Straflosigkeit.404 Ob das ebenso gilt, wenn jemand irrig die tatsächlichen Voraussetzungen einer defence annimmt, lässt sich in allgemein gültiger Weise wohl noch nicht sagen. Wie ebenfalls schon gesehen,405 bejaht die neuere Rechtsprechung die Frage aber inzwischen bei duress und self-defence. Entgegen früherer Praxis verlangen die Richter hier also nicht mehr, dass der Irrtum vernünftig (reasonable) habe sein müssen.406 400
DPP v. Majewski (1977) AC 443 (469 ff.). s. etwa Simester/Sullivan, S. 629 ff. 402 Vgl. Dashwood (1977) Crim LR 532 (539 f.). 403 Vgl. Mackay, S. 150; Mansdörfer, S. 134. 404 s. oben in diesem Teil, B. III. 2. b) dd) (1). 405 s. oben in diesem Teil, B. III. 2. d) cc) (1) und (2). 406 So auch der Regelungsvorschlag der Law Commission, Law Com No. 177, Volume 1, cl. 41 (1). 401
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2. Teil: Landesberichte
Der Rechtsirrtum bezeichnet den Fall, dass jemand in korrekter Erfassung der Tatsachen sein Verhalten irrig für rechtmäßig hält – also das geltende Recht nicht kennt oder es verkennt. Ein solcher Irrtum ist in England grundsätzlich nicht als Verteidigungseinrede anerkannt.407 Anders entscheidet die Rechtsprechung nur bei Straftatbeständen, die eine bestimmte Rechtskenntnis ausdrücklich voraussetzen oder sich in diesem Sinne auslegen lassen. Die Reichweite dieser Ausnahme ist jedoch unklar. Sie reicht auch nicht so weit, dass ein „unvermeidbarer“ Rechtsirrtum in jedem Fall verteidigend wirkte. Um dieser als nicht befriedigend empfundenen Rechtslage abzuhelfen, schlagen manche Autoren vor, den vernünftigen (reasonable) Irrtum als entschuldigend anzuerkennen.408 Auch der Draft Criminal Code schlägt für die Zukunft eine weniger strenge Neuregelung vor.409 Bereits jetzt ist es immerhin möglich, gegen einen unvermeidlich Irrenden einen Schuldspruch ohne (weitere) nachteilige Rechtsfolgen auszusprechen (absolute discharge).410 dd) Der Nachweis der Verteidigungseinreden Anders als bei actus reus und mens rea liegt die Beweislast bei Verteidigungseinreden nicht ausnahmslos bei der Anklage. Zum einen muss der Angeklagte, wenn er sich über das bloße Abstreiten der vorgeworfenen Tat hinaus auf eine defence beruft, Tatsachen darlegen, die diese Verteidigungseinrede stützen. Ihn trifft insofern eine Darlegungslast (evidential burden). Hingegen ist es im Grundsatz wiederum an der Anklage zu beweisen, dass die vorgebrachten Verteidigungstatsachen nicht vorgelegen haben.411 In dem oben412 geschilderten Fall, in dem der Angeklagte sich auf ein versehentliches Losgehen des Gewehrs und damit auf die Verteidigungseinrede accident berufen hatte, oblag es demnach ihm, diese Einrede mit Tatsachen zu untermauern – zumindest durch seine eigene Einlassung, idealerweise durch Einlassungen anderer. Zum anderen gibt es auch einige wenige Verteidigungseinreden, für die ausnahmsweise der Angeklagte selbst die Beweislast trägt. Unter den Common Law defences ist dies nur die Einrede der insanity; unter den gesetzesrechtlichen defences etwa die Einrede der verminderten Verantwortlichkeit nach section 2 (2) 407
Husak/v. Hirsch, in: Shute/Gardner/Horder, S. 157 ff. So Ashworth, Criminal Law, S. 234 f. 409 Danach soll ein Rechtsirrtum auch dann zu Straflosigkeit führen, wenn er „das Schuldelement der Tat negiert“ (negatives the fault element of the offence), The Law Commission, Law Com No. 177, Volume 1, cl. 21. 410 So angesichts einer unzutreffenden Behördenauskunft die Entscheidung in Surrey Council v. Battersby (1965) 1 All ER 273 (278); kritisch zu diesem Vorgehen Watzek, S. 279 ff. 411 Card, Ziff. 4.1; Ashworth, Criminal Law, S. 135. 412 Oben in diesem Teil, B. III. 2. b) cc). 408
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Homicide Act 1957. In diesen Fällen sind die Anforderungen an den Beweis allerdings weniger streng: Er muss nicht über jeden vernünftigen Zweifel hinaus, sondern lediglich im Sinne einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit erbracht werden.413 ee) Verteidigungseinreden und strict liability Eine Sonderrolle nehmen auch im Kontext der Verteidigungseinreden schließlich die strict liability crimes ein. Ob und inwieweit nämlich strenge Verantwortlichkeit durch die Berufung auf eine defence abgewendet werden kann, ist nicht vollständig geklärt. Einerseits ließ die Rechtsprechung in der schon erwähnten Entscheidung Larsonneur414 nicht einmal automatism (im konkreten Fall: den Umstand, dass die Angeklagte gegen ihren Willen in das Vereinigte Königreich zurück verbracht wurde) als Verteidigung gelten. Ohne sich von diesem Urteil ausdrücklich zu distanzieren, gestattete sie andererseits die Berufung auf dieselbe Verteidigungseinrede gegenüber Anklagen wegen gefährlichen Fahrens – zum Zeitpunkt der Entscheidungen ebenfalls eine strict liability offence.415 Im Übrigen hängt es von der jeweiligen Strafvorschrift im Einzelfall ab, ob und gegebenenfalls welche Verteidigungseinreden gegen strict liability geltend gemacht werden können. Zugelassen worden ist etwa die Berufung auf duress;416 dagegen blieb einem wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss Angeklagten die Berufung auf insanity versagt. Zur Begründung führte das Gericht aus, die Verteidigungseinrede der insanity gründe sich auf das Fehlen von mens rea; Letztere sei aber für das Delikt des Fahrens unter Alkoholeinfluss nicht erforderlich, deshalb sei auch die Verteidigungseinrede irrelevant.417 In der Literatur ist diese konkrete Entscheidung auf Kritik gestoßen: Zutreffend sei zwar, dass die Verteidigungseinrede der fehlenden mens rea bei Straftaten mit strict liability ausgeschlossen sei. Die Prämisse aber, dass fehlende mens rea die Grundlage der insanity-Einrede sei, sei falsch – auch ein nicht Zurechnungsfähiger könne ja beispielsweise Tötungsabsicht aufweisen.418 Deshalb müsse die Berufung auf insanity auch bei strict liability offences zulässig sein. Gleiches gelte genauso für die Verteidigungseinreden self-defence und duress.419
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Carr-Briant (1943) KB 607 (610); Allen, S. 14. s. oben in diesem Teil, B. III. 2. a) dd). 415 Hill v. Baxter (1958) 1 All ER 193 (195 ff.); Reg. v. Budd (1962) Crim LR 49 (50 f.). In der Folge wurde das Delikt nicht mehr als strict interpretiert und schließlich gesetzlich reformiert, vgl. jetzt section 1 (2) Road Traffic Act 1991. 416 Reg. v. Backshall (1999) Crim LR 662. 417 DPP v. H. (1997) WLR 1406 (1409 – McCowan LJ). 418 Herring, S. 222 f. 419 Herring, S. 222. 414
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2. Teil: Landesberichte
Zum Teil wird allerdings auch dafür plädiert, die Zulässigkeit einer Verteidigungseinrede je nach Delikt von einer Einzelfallprüfung abhängig zu machen.420
C. Der Straftatbegriff in Frankreich I. Einführung Wer mit dem Strafrecht Frankreichs nicht vertraut ist, mag vielleicht intuitiv vermuten, es möge eine enge Verwandtschaft zu seinem deutschen Pendant aufweisen. Tatsächlich ist aber – wie gleich zu zeigen sein wird – aus der gemeinsamen kontinentaleuropäischen Wurzel mit der französischen Verbrechenslehre ein ebenfalls ganz eigenständiger Spross erwachsen, der sich jedenfalls phänotypisch von dem deutschen Zweig erheblich unterscheidet. Auf der anderen Seite haben die Strafrechte Frankreichs und Deutschlands doch immer noch so viel gemein, dass eine vergleichbar eingehende Einführung wie für den englischen Rechtskreis hier nicht erforderlich erscheint. Unter diesen Gemeinsamkeiten besteht eine grundlegende darin, dass auch das französische Strafrecht traditionell ein kodifiziertes ist: Der erste, napoleonische Code pénal geht bekanntlich auf das Jahr 1810 zurück, seine Neufassung datiert aus dem Jahr 1994.421 Von den sieben Büchern des neuen Strafgesetzbuchs (Nouveau Code pénal) ist das erste dem Allgemeinen Teil („Dispositions générales“) gewidmet. Der Begriff der Straftat (infraction) erfährt dort zuallererst eine Klassifikation; jene klassische Dreiteilung (division tripartite) aus dem Jahr 1791, die seither ohne Unterbrechung gilt. Je nach ihrer Schwere ist die infraction danach entweder Verbrechen (crime), Vergehen (délit) oder bloße Übertretung (contravention), Art. 111-1 CP. Dieser Einteilung entsprechend, normieren die Bücher 2 bis 5 Verbrechen und Vergehen gegen die Person, gegen Vermögenswerte, gegen die Nation, den Staat und den öffentlichen Frieden sowie gegen sonstige Rechtsgüter; Buch 6 enthält die wichtigsten Übertretungen.422 Die Straftat als Abstraktum ist im Gesetz jedoch nicht definiert, sondern wie in Deutschland der Ausarbeitung durch die Rechtswissenschaft überantwortet geblieben.423 Dort hat die Lehre von der Straftat eine lange Tradition. Von ihrer Entstehung und Entwicklung soll nachfolgend die Rede sein. 420 Clarkson/Keating, S. 282; skeptisch im Hinblick auf allgemein gültige Prinzipien im Bereich der Entschuldigungen auch Tadros, Oxford Journal of Legal Studies 2001, 495 (518 f.). 421 Im Folgenden abgekürzt als CP. – Das Gesetz folgt einer neuen Nummerierung, bei der die Ziffern der ersten, dreistelligen Zahl von links nach rechts gelesen Buch, Titel und Kapitel des Gesetzes bezeichnen, die zweite Zahl hinter dem Gedankenstrich den Artikel innerhalb des Kapitels. 422 Buch 7 trifft spezielle Regelungen für die überseeischen Gebiete und für Mayotte. 423 Vgl. Leroy, Ziff. 85.
C. Der Straftatbegriff in Frankreich
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II. Die historische Entwicklung des französischen Straftatbegriffs Auch in Frankreich war es das neue freiheitliche Klima des 18. Jahrhunderts, waren es die Ideen der Aufklärung und des Naturrechts, die eine Zeitenwende im Strafrecht und in der Strafrechtswissenschaft einläuteten.424 Zwar war die Gelehrtenschaft, solange es noch kein kodifiziertes Strafrecht gab, maßgeblich damit beschäftigt, die ungeschriebenen Regeln des konkret geltenden Rechts überhaupt erst einmal namhaft zu machen.425 Dennoch gelangte sie dabei auch zu allgemeinen Erkenntnissen über die Straftat als solche. So formulierte am Vorabend der Revolution etwa der Naturrechtler Muyart de Vouglans: „Beim Verbrechen ist zu unterscheiden zwischen dem Geschehen und dem Willen. Das Geschehen ohne den Willen kann menschlicher Gerichtsbarkeit nicht unterliegen. Das Zusammentreffen des äußeren Geschehens mit dem Willen ist es, was das Verbrechen ausmacht.“ 426
Die Erkenntnis, dass weder ein äußerliches Ereignis noch ein böser Wille jeweils für sich allein genommen ein Verbrechen oder Vergehen begründen könnten, wurde auch in den Jahrzehnten darauf immer wieder betont – in der Wissenschaft, aber auch seitens des Gesetzgebers.427 Als terminologisch richtungweisend erwies sich dabei die Formulierung Pierre-Jean-Paul Barris’, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Strafkammer des Kassationsgerichtshofs vorsaß: „Jede Straftat setzt sich aus zwei Elementen zusammen: aus einem Geschehen, das ihren materiellen Gehalt begründet, und aus dem Willen, der zu diesem Geschehen führt und ihren geistigen Gehalt ausmacht.“ 428
Die Redeweise von den „Elementen“ war neu, und sie sollte sich auf lange Sicht durchsetzen. Es dauerte jedoch noch einige Jahrzehnte, bis sich die französische Lehre endgültig von der hergebrachten Methode exegetischer Gesetzesanalyse ab- und der Synthese eines Allgemeinen Teils zuwandte. Und selbst nach diesem Umschwung wurden die Möglichkeiten und auch die Konsequenzen einer allgemeinen Elementenlehre vorerst nicht realisiert. Anstatt dem Wortsinn gemäß das materielle Element (élément matériel) und das geistige Element (élément moral) als zusammengehörige konstitutive Bestandteile der infraction aufzufassen, 424 Charles, S. 37 f.; Garraud, S. 293 f. Zur geschichtlichen Entwicklung des französischen Strafrechts insgesamt vgl. Pfützner/Adams/Neumann, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 1, S. 191 (252 ff.). 425 Robert, RSC 1977, 269 (270). 426 Muyart de Vouglans, S. 2 Ziff. VII: „Il faut bien distinguer dans le crime le fait et l’intention; le fait sans l’intention ne peut soumettre à (la) justice (humaine). C’est par la réunion du fait extérieur avec l’intention que se forme le crime.“ 427 Näher dazu Robert, RSC 1977, 269 (270 f.). 428 „Tout délit se compose de deux éléments: d’un fait qui en constitue la matérialité, et de l’intention qui a conduit à ce fait et qui en détermine la moralité.“ – Publiziert bei Merlin, S. 485 („Intention“); zu Barris’ Urheberschaft s. dort Fn. 1.
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2. Teil: Landesberichte
assoziierte man lange Zeit lediglich das Erstere mit der eigentlichen strafbaren Handlung, Letzteres hingegen mit einer davon isolierten Theorie des Täters.429 Erst im Jahr 1877 gelang Edmond Villey die Einbindung des – wie er es nannte – élément intentionnel in eine allgemeine Lehre von der infraction.430 Villey war es auch, der die letzte Etappe des Weges zum klassischen französischen Straftatbegriff vorzeichnete.431 In seinem Werk definierte er als infraction „. . . jede Handlung oder einem Gebot zuwider laufende Unterlassung, die durch das Gesetz unter Strafe gestellt ist und die sich nicht durch die Ausübung eines Rechts rechtfertigt.“ 432
Dass jede Strafe ein Gesetz voraussetze, war freilich keine neue Erkenntnis – schon die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 enthielt dieses Postulat.433 Der Gesetzlichkeitsgrundsatz hatte im Folgenden in die französischen Verfassungen von 1791, von 1793 und des Jahres III Eingang gefunden, 1810 schließlich auch – leicht verändert – in den Code pénal.434 Neu war allerdings die Deutlichkeit, mit der Villey die Existenz eines Strafgesetzes mit der (wissenschaftlichen) Definition der Straftat in Verbindung brachte. Schon zwei Jahre nach ihm war es dann Armand Lainé, der das Erfordernis eines Strafgesetzes als drittes Element der Straftat postulierte: Neben das élément matériel und das élément moral trat von nun an das „gesetzliche Element“ (élément légal).435 Die so entstandene Trias sollte sich als nachhaltig wirkungsmächtig erweisen, sah man in ihr doch die drei großen Determinanten des Strafrechts – Gesetz, Tat, Täter – perfekt widergespiegelt.436 Obwohl zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch einmal herausgefordert,437 brachte es die Drei-Elemente-Lehre langfristig zu klassischer Geltung. Noch heute herrscht sie in der französischen Rechtslehre vor; und auch die Rechtsprechung bis hin zum Conseil constitutionnel legt sie (wenn auch meist unausgesprochen) zugrunde.438 429
So beispielsweise Molinier, S. 87 ff., 109 ff.; Ortolan, Eléments, S. 98 ff., 231 ff. Villey, S. 95. 431 Robert, RSC 1977, 269 (276). 432 Toute action ou inaction contraire à un commandement posé par la loi sous une sanction pénale et qui ne se justifie pas par l’exercice d’un droit“, Villey, S. 61. 433 Art. 8: Das Gesetz soll nur unbedingt und offenbar notwendige Strafen festsetzen, und niemand darf anders als aufgrund eines Gesetzes bestraft werden, das vor Begehung der Straftat beschlossen und verkündet wurde und das rechtmäßig angewandt wurde. 434 Vgl. Garraud, S. 294. 435 Lainé, Ziff. 124. 436 s. Garraud, S. 290. 437 Zur weiteren Durchsetzung der Elementenlehre s. Robert, RSC 1977, 269 (277 ff.). 438 Vgl. exemplarisch Cour de cassation, 2 juill. 1998, Bull. crim. n ë 211 (S. 607 [608]); Conseil constitutionnel, 16 juin 1999, n ë 99–411 DC, D. 1999, 589 (590) m. Anm. Mayaud. 430
C. Der Straftatbegriff in Frankreich
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III. Der französische Straftatbegriff im Einzelnen Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Drei-Elemente-Lehre auch heute noch Kritik hervor ruft und sich – wenn nicht alles täuscht: zunehmend – alternativen Straftatentwürfen gegenüber sieht.439 Insbesondere fügen viele Autoren den genannten Elementen ein viertes, so genanntes Unrechtselement (élément injuste) hinzu; dieses ist erfüllt, wenn ein Täter keine rechtfertigenden Umstände (faits justificatifs) vorweisen kann.440 Andere Autoren wiederum vertreten ein lediglich zweigliedriges Modell aus einem materiellen und einem intellektuellen Element – und sprechen dem élément légal ab, Bestandteil der Straftat selbst zu sein.441 Dennoch: Mehrheitlich folgt die französische Lehre nach wie vor der klassischen Ansicht.442 Danach begründet ein Geschehen eine Straftat, wenn es durch eine Strafvorschrift als strafbar vorgesehen ist (élément légal) und es herbei geführt wurde (élément matériel) von einer mit freiem Willen und individueller Verantwortlichkeit ausgestatteten Person (élément moral).443 Die hier zu unternehmende ausführlichere Analyse des französischen Straftatbegriffs ist demnach wie folgt vorgezeichnet: 1. Élément légal 2. Élément matériel 3. Élément moral
1. Das élément légal Ob das élément légal einer Straftat gegeben ist, untersucht die herkömmliche Lehre in zwei Schritten: Zuerst ist eine Rechtsvorschrift ausfindig zu machen, die das zur Prüfung stehende Verhalten prinzipiell als strafbar erfassen könnte. Zum Zweiten gilt es zu prüfen, ob die gefundene Vorschrift nicht durch besondere Umstände neutralisiert und dadurch unanwendbar wird.
439 Einen kritischen Kurzüberblick aus deutscher Perspektive bietet Ambos, ZStW 2008, 180 (180 ff.). 440 Das élément injuste geht auf Garraud zurück und findet sich heute etwa bei Salvage, Ziff. 29, 108 ff., und Larguier, S. 18. 441 So Debove/Falletti, S. 84; Desportes/Le Gunehec, Ziff. 430; Leroy, Ziff. 86; dazu sogleich noch unten 1. a). 442 Zweifelnd Ambos, ZStW 2008, 180 (180 f.); s. aber Lelieur/Pfützner/Volz, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 2, S. 383 (390 ff.). 443 In diesem Sinne die Definition bei Humetz, Ziff. 27; ebenso Paulin, Ziff. 19; Chabert/Sur, Ziff. 2; Jeandidier, Art. 111-1, Ziff. 1; Bouloc/Matsopoulou, Ziff. 46; Sordino, S. 28; Renout, S. 90.
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2. Teil: Landesberichte
a) Die Strafvorschrift als primäre Voraussetzung jeder Straftat Nach Art. 111-3 CP darf – vereinfacht gesprochen444 – niemand wegen einer Tat bestraft werden, deren Merkmale nicht in einer Strafvorschrift bestimmt sind; und es darf niemandem eine Strafe auferlegt werden, die nicht in einer Strafvorschrift vorgesehen ist. Aus dem so formulierten Gesetzlichkeitsprinzip (principe de légalité des délits et des peines) – das vermittelt über seine ältere Fassung in der Erklärung der Menschenrechte auch verfassungsrechtlichen Rang genießt445 – folgert die herkömmliche französische Lehre, dass die Strafvorschrift selbst erster und notwendiger Bestandteil einer jeden Straftat ist.446 Auf den Punkt gebracht: Sie ist Element des Verbrechens, nicht äußere Vorbedingung desselben. So tradiert diese Betrachtungsweise ist, sieht sie sich in jüngerer Zeit doch zunehmend mit einem gewichtigen Einwand konfrontiert. Er lautet: Es sei logisch falsch, jenen Text, der die (konkreten) Elemente einer Straftat beschreibt, seinerseits als Straftatelement anzusehen – darin liege gleichsam eine Verwechslung von Behältnis und Inhalt.447 Eine Straftat sei zudem ein menschliches Verhalten und könne deshalb denknotwendig nur innerhalb einer „dimension humaine“, das heißt mit Begriffen aus dem Kosmos menschlichen Verhaltens definiert werden, nicht aber durch ihm vorgelagerte äußere Regeln und Bedingungen.448 Nach Ansicht der tradierten Lehre liegt dieser Kritik indes ein zu enges Verständnis des Wortes infraction zugrunde: Dem Ausdruck komme eine doppelte Bedeutung zu, er meine nämlich sowohl Straftat im Sinne von „Definition einer Strafvorschrift“ als auch Straftat im Sinne von „Begehung der Tat“. Im Hinblick auf die zweite Bedeutung, für die Begehung also, sei ein inkriminierender Normtext in der Tat bloß eine externe Bedingung. Im Hinblick auf die Definition der Strafvorschrift jedoch sei der Text ein echtes inhärentes Element, denn ohne ihn könne es sie nicht geben.449 Conte und Maistre du Chambon, ihres Zeichens Verfechter der hergebrachten Auffassung, haben die dargestellte Debatte „vollkommen künstlich“ (parfaite-
444
Eine genauere Ausfächerung folgt sogleich unten C. III. 1. a) bb). Vgl. Salvage, Ziff. 31; Merle/Vitu, Tome I, Ziff. 154; Pelletier/Perfetti, Art. 111-3 Ziff. 14. 446 Merle/Vitu, Tome I, Ziff. 384; Salvage, Ziff. 30. 447 Vgl. Robert, Droit pénal général, S. 103 f.; ders., RSC 1977, 269 (276 f.); in diesem Sinne etwa auch Desportes/Le Gunehec, Ziff. 430; vgl. auch Pin, Rn. 135 ff., und Soyer, Ziff. 136 ff., die – ganz im „englischen Sinne“ – eine Zweiteilung zwischen élément matériel und élément moral auf der einen Seite und Gründen für den Ausschluss der Strafbarkeit auf der anderen Seite gegenüber stellen. 448 Das Zitat stammt von Leroy, Rn. 86. 449 So die Argumentation Paulins, Ziff. 20 – die anderen Verfechter des élement légal als Verbrechenselement setzen sich mit der geschilderten Kritik überwiegend gar nicht auseinander. 445
C. Der Straftatbegriff in Frankreich
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ment stérile) genannt.450 In der Tat sind sich alle Beteiligten natürlich darüber einig, dass es für jedwede Bestrafung einer Strafvorschrift bedarf – sei sie nun Element oder äußere Voraussetzung der Straftat. Und auch die näheren Ausprägungen des Gesetzlichkeitsprinzips werden der Sache nach von niemandem in Frage gestellt, mögen manche Autoren sie auch an anderer Stelle diskutieren. – Bevor diese Ausprägungen einer etwas genaueren Betrachtung unterzogen werden, erscheint es jedoch ratsam, zunächst einen anderen Aspekt in den Blick zu nehmen, der in fast allen Darstellungen ebenfalls unter dem Etikett des élément légal behandelt wird, nämlich die Klassifikation der Straftat. aa) Klassifikation der Strafvorschriften Das französische Schrifttum ist ausgesprochen reich an verschiedenen Klassifikationen der Straftat.451 Im Rahmen des élément légal sind insbesondere zwei Systematisierungen geläufig. Erstens wird sozusagen horizontal nach der „Natur“ der Straftat differenziert, genauer: nach dem gesellschaftlichen Kontext ihrer Begehung. Insoweit unterscheidet die Lehre Straftaten des allgemeinen Rechts (infractions de droit commun) von diversen besonderen – politischen, militärischen, terroristischen, steuer- und zollrechtlichen – Straftaten.452 Die Unterscheidung bezieht ihren Sinn daraus, dass für diese besonderen Taten zum Teil auch besondere Regeln zu beachten sind, vor allem mit Blick auf den Strafprozess und die möglichen Sanktionen.453 Im Hinblick auf den Verbrechensbegriff hat die Einteilung hingegen keine Auswirkungen, weshalb sie hier nicht weiter verfolgt zu werden braucht. Bedeutsamer ist demgegenüber, zweitens, die schon erwähnte Klassifikation der Straftat in Verbrechen, Delikte und Übertretungen.454 Diese „vertikale“ classification tripartite der Schwere nach geht zurück auf den Code du 3 Brumaire des Jahres IV455 und ist wie gesehen heute in Art. 111-1 CP gesetzlich niedergelegt. Bedeutsam ist sie deshalb, weil eine ganze Reihe von materiell-, prozessund sanktionsrechtlichen Regelungen an die Klasse der Straftat anknüpfen: Sie bestimmt oder beeinflusst die Strafbarkeit des Versuchs und der Teilnahme, die sachliche Zuständigkeit der Gerichte, die Verjährungsfristen, die Zulässigkeit vereinfachter Verfahren, die gesetzlichen Strafrahmen und die Bildung einer Gesamtstrafe – um nur die wichtigsten Auswirkungen zu nennen.456 Vor diesem 450
Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 219. s. nur Jeandidier, Art. 111-1, Ziff. 1 ff. 452 Ausführliche Darstellung bei Merle/Vitu, Tome I, Ziff. 413 ff. 453 Näher dazu Merle/Vitu, Tome I, Ziff. 418 f., 425, 429. 454 Vgl. Jeandidier, Art. 111-1, Ziff. 4: „la partition cardinale qui caractérise le droit pénal français“. 455 Merle/Vitu, Tome I, Ziff. 410. 456 Paulin, Ziff. 48. 451
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2. Teil: Landesberichte
Hintergrund bietet es sich an, einen noch etwas genaueren Blick auf die verschiedenen Klassen der Straftat in Frankreich zu werfen. (1) Verbrechen Ob eine Straftat crime, délit oder contravention ist, richtet sich laut Art. 111-1 CP nach ihrer Schwere; diese wiederum spiegelt sich in der Art und Höhe der jeweiligen Strafe wider. Praktisch ist es deshalb die Strafe, an Hand welcher die Klasse einer Straftat deutlich wird.457 Ein Verbrechen etwa, schwerste Form der Straftat, ist jede Tat, für die das Gesetz eine Kriminalstrafe (peine criminelle) als Hauptstrafe vorsieht – das ist gemäß Art. 131-1 CP eine Freiheitsstrafe (réclusion oder détension criminelle), abgestuft in vier Grade von mindestens zehn Jahren bis hin zu lebenslänglich. Ein Verbrechen setzt gemäß Art. 121-3 Abs. 1 CP immer Vorsatz (intention) voraus; des Weiteren sind sowohl der Versuch als auch die Teilnahme ausnahmslos strafbar, Art. 121-4 2 ë und 121-7 CP. Für die gerichtliche Verhandlung eines Verbrechens ist das Schwurgericht (Cour d’assises) sachlich zuständig; die Verjährungsfrist beläuft sich grundsätzlich auf zwanzig Jahre, Art. 133-2 CP. (2) Delikte Unterhalb der Verbrechen rangieren die Vergehen/Delikte (délits); das sind die Straftaten, die mit einer Korrektionalstrafe (peine correctionnelle) sanktioniert werden. Art. 131-3 CP sieht eine ganze Bandbreite solcher Strafen vor, an erster Stelle die Haft (emprisonnement), die in acht Stufen bis zum Höchstmaß von zehn Jahren verhängt werden kann, Art. 131-4 CP. Im Gegensatz zu Verbrechen können Delikte auch fahrlässig begangen werden – jedoch nur, wenn das Gesetz dies vorsieht, Art. 121-3 Abs. 2 f. CP. Ebenso ist der Versuch nur strafbar, wenn dies in einem Gesetz normiert ist, Art. 121-4 2 ë CP. Die Teilnahme ist dagegen wie bei Verbrechen stets strafbar, Art. 121-7 CP. Anklage und Verhandlung eines Delikts finden vor dem Tribunal correctionnel statt; die Verjährungsfrist beträgt grundsätzlich fünf Jahre, Art. 133-3 CP. (3) Übertretungen Die leichteste Form der Straftat ist schließlich die Übertretung, als solche zu erkennen an der für sie vorgesehenen Übertretungsstrafe (peine contravention457 Vgl. Bouloc/Matsopoulou, Ziff. 49. Jeandidier, Art. 111-1, Ziff. 7, betont, dass die Strafe die Klasse der Straftat jedoch nicht determiniert – dies hieße, das Pferd vom Schwanz her aufzuzäumen. Denn tatsächlich verhalte es sich ja so, dass der Gesetzgeber eine Tat als mehr oder minder schwer einschätze und abhängig davon eine bestimmte Strafdrohung festsetze. Kritisch dazu Zieschang, ZStW 106 (1994), 647 (649).
C. Der Straftatbegriff in Frankreich
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nelle). Auch diese Strafe kann in verschiedener Gestalt ergehen, Art. 131-12 CP; hauptsächlich tritt sie in Form der Geldstrafe (amende) auf. Art. 131-13 CP staffelt diese Geldstrafe in fünf Abstufungen und konstituiert dadurch fünf Klassen von Übertretungen. Für solche der ersten, niedrigsten Klasse liegt die Strafe bei höchstens 38 Euro, für solche der fünften, höchsten Klasse bei höchstens 1.500 Euro (im Wiederholungsfall ist eine Erhöhung auf bis zu 3.000 Euro möglich, wenn die Strafnorm dies vorsieht). – In Anbetracht der geringen Schwere der Übertretung ist in ihrem Zusammenhang der Versuch nicht strafbar, wie sich im Gegenschluss aus Art. 121-4 2 ë CP ergibt; und auch die Teilnahme ist es nur im Ausnahmefall. Andererseits erfordert die Übertretung grundsätzlich weder intention noch Fahrlässigkeit auf Seiten des Täters, sondern wird lediglich durch höhere Gewalt ausgeschlossen, Art. 121-1 Abs. 5 CP. Die sachliche Zuständigkeit für Übertretungen liegt bei dem Polizeigericht (tribunal de police). Sie verjähren grundsätzlich nach einem Jahr, Art. 133-4 CP.
bb) Die näheren Ausprägungen des Gesetzlichkeitsprinzips Wendet man sich mit dem Wissen um die dreiteilige Klassifizierung der Straftat wieder dem Wortlaut des Art. 111-3 CP zu, so ergibt ein genauerer Blick nunmehr: Wegen eines Verbrechens oder Delikts darf jemand nur bestraft werden, wenn deren Merkmale und die zugehörige Strafe in einem Gesetz bestimmt sind. Die Bestrafung wegen einer Übertretung setzt dagegen lediglich voraus, dass deren Merkmale und die zugehörige Strafe in einer Verordnung (règlement) der Exekutive bestimmt sind. Daraus ergibt sich, dass der Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege – wenn man lex im engen, wörtlichen Sinne versteht – in Frankreich für Straftaten in Gestalt der Übertretung nicht gilt.458 Dementsprechend verwendet man im Schrifttum denn auch nicht die Formel „Keine Strafe ohne Gesetz“, sondern spricht allgemeiner vom Erfordernis eines Textes.459 Ob Gesetzes- oder Verordnungstext, ohne einen solchen kann es allerdings in keinem Fall eine Strafe geben. Das principe de légalité entfaltet auch für beide Fälle gleichermaßen seine bekannten Wirkungen: Strafvorschriften dürfen nicht rückwirkend und nicht analog zu Lasten des Beschuldigten angewendet werden.460 Sowohl der Gesetz- als auch der Verordnungsgeber ist ferner gehalten, Strafvorschriften hinreichend klar und präzise zu fassen; andernfalls ist die Vor458 Vgl. Lelieur/Pfützner/Volz, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 2, S. 40 (44): „Damit können auch Akte der Exekutive eine Quelle des Strafrechts sein.“ 459 Jeandidier, Art. 111-2 à 111-5, Ziff. 4; Bouloc/Matsopoulou, Ziff. 81; Larguier, S. 20; Paulin, Ziff. 19 et passim; Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 216 et passim.; Lelieur/Pfützner/Volz, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 2, S. 40 (44). 460 Cass. crim., 31 mars 1992, Bull. crim., n ë 134 (S. 351 [353]); 29. sept. 1992, Bull. crim., n ë 287 (S. 780 [782]); Merle/Vitu, Tome I, Ziff. 178 ff.; Larguier, S. 20 ff.
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2. Teil: Landesberichte
schrift verfassungswidrig.461 Dieses Verdikt auszusprechen ist grundsätzlich dem französischen Verfassungsgericht (Conseil constitutionnel) vorbehalten. Dagegen darf der Kassationsgerichtshof (Cour de cassation) grundsätzlich nur Verordnungen am Maßstab des Gesetzlichkeitsprinzips überprüfen; in Kraft getretene echte Strafgesetze muss er dagegen anwenden, es sei denn, sie verstießen seiner Auffassung nach gegen internationale Verträge wie insbesondere die EMRK.462 – Das Gebot der hinreichenden Bestimmtheit gilt im Übrigen auch für die vorgesehene Sanktion; die Sanktion muss des Weiteren angemessen sein.463 Insoweit besteht ebenfalls eine Prüfungskompetenz des Conseil constitutionnel, in deren Rahmen er allerdings seine eigene Einschätzung der Angemessenheit nicht beliebig an die Stelle der gesetzgeberischen setzen darf, sondern auf Fälle offenkundiger Unverhältnismäßigkeit (disproportion manifeste) beschränkt ist.464 Bei allen Garantien, die das Gesetzlichkeitsprinzip vorsieht, weisen manche Autoren doch auch auf gewisse „Niedergangstendenzen“ in der jüngsten Vergangenheit hin. Kritisch angemerkt wird etwa, dass mit der wachsenden Anzahl der Strafgesetze465 zugleich auch deren Inkohärenz immer größer, das Strafrecht für den Bürger immer unzugänglicher und weniger verständlich werde.466 Problematisch sei auch, dass es im Fall der Übertretungen der Verwaltung und nicht dem parlamentarischen Gesetzgeber überlassen ist, die Voraussetzungen der Strafbarkeit festzulegen.467 Über den Bereich der Übertretungen hinaus reicht dieses Problem, wenn der Gesetzgeber sich damit begnügt, eine Sanktion für ein Verhalten vorzuschreiben, dessen genaue Definition jedoch der Exekutive überantwortet (incrimination par renvoi).468 Von kritischen Beobachtern wird ein solches Vorgehen als eine regelrechte „Abdankung“ des Gesetzgebers empfunden.469 Die Rechtsprechung hat das Prozedere dagegen unbeanstandet gelassen: 461 Conseil constitutionnel, 19–20 janv. 1981, n ë 80–127 DC, JCP 1981, 19701; Cass. crim., 1er févr. 1990, Bull. crim., n ë 56 (S. 153). Problematisch sind in dieser Hinsicht die so genannten infractions obscures: Deren „Tatbestand“ besteht aus einer pauschalen Anordnung am Ende eines Gesetzes, wonach Verstöße gegen „das Gesetz“ strafbar seien. Lelieur/Pfützner/Volz, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 2, S. 40 (46). 462 Cass. mixte, 24 mai 1975, D. 1975, S. 497; Paulin, Ziff. 35 mit weiteren Nachweisen. 463 Paulin, Ziff. 33. 464 Conseil constitutionnel, 20. janv. 1994, n ë 93–334 DC, D. 1995, somm. 340. 465 Genannt wird in diesem Zusammenhang etwa das Gesetz vom 17.6.1998, mit dem bizutage (Initiations-„Streiche“ eingesessener Ober- und Hochschüler gegen Neulinge) als eigener Straftatbestand in den CP aufgenommen wurde. 466 Paulin, Ziff. 36. 467 Paulin, Ziff. 36. 468 Desportes/Le Gunehec, Ziff. 242 ff.; u. a. mit dem Beispiel des Art. 222-41 CP, der zur Definition der Betäubungsmittel auf das Gesundheitsgesetz verweist, das wiederum auf Verwaltungsvorschriften weiterverweist. 469 So Pradel, Droit pénal général, Ziff. 141 f.; ebenso kritisch Robert, Droit pénal général, S. 112 f.; Paulin, Ziff. 36, 46.
C. Der Straftatbegriff in Frankreich
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Nach einem Spruch des Conseil constitutionnel ist es von Verfassungs wegen zulässig, dass der Gesetzgeber eine Pflichtverletzung auch dann unter Strafe stellt, wenn die betreffende Pflicht ihrerseits nicht aus einem Gesetz resultiert.470 cc) Das Auffinden der „richtigen“ Strafvorschrift und deren Anwendung Die bisherigen Ausführungen haben das Verbrechenselement „Strafvorschrift“ nur als ein Abstraktum in den Blick genommen. Darüber hinaus widmet sich das französische Schrifttum unter der Überschrift des élément légal aber auch der konkreten Frage, wie man die passende, die „richtige“ Strafvorschrift ausfindig macht und wie man sie anwendet. Aus diesem Ansatz heraus behandeln viele Autoren im Rahmen des élément légal Aspekte wie etwa die räumliche und zeitliche Geltung einer Strafvorschrift, das Problem der Konkurrenzen – und ganz allgemein die Anwendung der Strafvorschrift auf einen Lebenssachverhalt (qualification des faits).471 All das soll hier indessen nicht im Einzelnen nachvollzogen sein. Denn für das Thema der Untersuchung wäre die detaillierte Erörterung der genannten Punkte – das lässt sich wohl ohne Vorwegnahme des eigentlichen Vergleichs konstatieren – allenfalls von nachrangigem Interesse. b) Die Neutralisierung der Strafvorschrift Wenden wir uns stattdessen dem zweiten eingangs genannten Aspekt des élément légal zu: Eine abstrakt betrachtet „passende“ Strafvorschrift kann durch besondere Umstände des Einzelfalls „neutralisiert“ werden – mit der Folge, dass sie in diesem Einzelfall nicht anwendbar ist.472 Die französische Lehre unterscheidet zwei Wege, auf denen eine solche neutralisation vonstatten gehen kann, nämlich zum einen das Eingreifen rechtfertigender Umstände (faits justificatifs), zum anderen die Amnestie. Der letztere Weg interessiert hier nicht näher – die Amnestie betrifft ja nicht die Voraussetzungen der Straftat, sondern das nachträgliche Absehen von Strafe trotz Vorliegen einer Straftat.473 Genauer in den Blick zu nehmen sind hingegen die rechtfertigenden Umstände. aa) Insbesondere: Das Eingreifen rechtfertigender Umstände Der Begriff der rechtfertigenden Umstände ist eine Schöpfung der Lehre. Das französische Strafgesetzbuch verwendet ihn so nicht, sondern statuiert in den 470 471 472 473
Conseil constitutionnel, 10 nov. 1982, n ë 82–145 DC, JO 114, 3393. Vgl. z. B. Merle/Vitu, Tome I, Ziff. 390 ff. Merle/Vitu, Tome I, Ziff. 431; Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 240. Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 240, 290.
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2. Teil: Landesberichte
Art. 122-1 bis 8 CP unter einer einheitlichen Überschrift ganz verschiedenartige „Gründe für den Ausschluss oder die Minderung der Verantwortlichkeit“ (causes d’irresponsabilité ou d’atténuation de la responsabilité).474 Für das herrschende Schrifttum ist es dennoch selbstverständlich, an der herkömmlichen Kategorie der rechtfertigenden Umstände festzuhalten.475 Ihre Verortung beim élément légal wird damit begründet, dass man die Rechtswidrigkeit eines Verhaltens nicht unabhängig von jener legalité, von jener Strafvorschrift beurteilen könne, die das Verhalten erst für rechtswidrig erklärt.476 Die Prüfung der rechtfertigenden Umstände im Rahmen eines autonomen élément injuste, wie von manchen Autoren befürwortet,477 sei daher nichts anderes als eine verkappte Prüfung des élément légal. Den sachlichen Grund dafür, dass ein fait justificatif eine Strafvorschrift neutralisiert, erblickt die französische Lehre darin, dass in den einschlägigen Konstellationen das Verhalten des betreffenden Akteurs für die Gesellschaft nützlich oder zumindest doch unschädlich ist.478 Dies zu entscheiden, soll indessen allein dem Gesetzgeber vorbehalten sein; jegliche Rechtfertigung muss deswegen – jedenfalls der Theorie nach – explizit in einem Gesetz vorgesehen sein.479 Dass etwa Richter ohne gesetzliche Grundlage urteilen sollten, Verletzungen im Rahmen einer regelkonformen sportlichen Auseinandersetzung stellten keine Straftaten dar, erachten manche Autoren geradezu für „schockierend“ – und schlagen deshalb vor, Art. 1 des Gesetzes vom 16. Juli 1984 als normative Grundlage heran zu ziehen,480 in dem es heißt: „Körperliche und sportliche Aktivitäten sind ein wichtiger Bestandteil der Bildung, der Kultur, der Integration und des gesellschaftlichen Lebens. Ihre Förderung und Entwicklung stellen ein Gemeininteresse dar.“ – Außer diesem Erfordernis einer gesetzlichen Festschreibung gibt es in der französischen Lehre indessen keine allgemeine Theorie der rechtfertigenden Umstände.481 Um gleichwohl noch etwas weiteren Aufschluss zu erhalten, seien nachfolgend einzelne dieser Umstände näher betrachtet.
474 Das Fehlen einer gesetzlichen Unterscheidung bedauert Zieschang, ZStW 106 (1994), 647 (652 f.). 475 Und zwar mit dem Hinweis, dass die Aufgabe der Lehre darin bestehe, zu unterscheiden statt zu vermengen: Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 242. 476 Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 241. 477 Zu den Verfechtern eines solchen s. oben in diesem Teil, C. III. (Fn. 440). 478 Vgl. Merle/Vitu, Tome I, Ziff. 431. 479 Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 244, auch zu „Verstößen“ der Gerichte gegen diese Regel. Der Notstand als allgemeiner Rechtfertigungsgrund etwa wurde von den Gerichten entwickelt und erst danach im heutigen Strafgesetzbuch normiert; s. Conte/ Maistre du Chambon, Ziff. 268. 480 Lassalle, in: Juris-Classeur Pénal Annexes, Fasc. 30, n ë 61. 481 So ausdrücklich Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 246.
C. Der Straftatbegriff in Frankreich
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bb) Einzelne rechtfertigende Umstände Das französische Recht kennt zwei Gruppen rechtfertigender (das élément légal neutralisierender) Umstände. Zum einen gibt es eine gewisse Zahl besonderer, auf spezifische Straftaten beschränkter Rechtfertigungsumstände – beispielsweise ist eine Bestrafung wegen Diffamierung nach Art. 35 des Gesetzes vom 29. Juli 1881 ausgeschlossen, wenn die erhobenen Behauptungen wahr sind. Diese Sondervorschriften sind für das hiesige, allgemein angelegte Vergleichsvorhaben wenig interessant. Es gibt aber zum anderen auch drei allgemeine faits justificatifs, die im Prinzip bei jeder Straftat zur Anwendung gelangen können. Es sind dies die gesetzliche bzw. anderweitige hoheitliche Anordnung (ordre de la loi bzw. commandement de l’autorité légitime), die Notwehr (légitime défense) und der Notstand (état de nécessité). (1) Hoheitliche Anordnung Der erstgenannte Rechtfertigungsgrund, die hoheitliche Erlaubnis, erklärt sich aus einer einfachen Überlegung: Prinzipiell kann das nicht rechtswidrig sein, was rechtlich ausdrücklich angeordnet oder zumindest autorisiert wird.482 Dieser Gedanke spiegelt sich in Art. 122-4 CP wider, und zwar in zweifacher Konkretisierung: Laut Abs. 1 der Vorschrift ist nicht strafrechtlich verantwortlich, wer eine Handlung vornimmt, die durch ein Gesetz oder eine Verordnung vorgeschrieben oder gestattet ist. Kraft einer solchen Anordnung (ordre de la loi)483 ist beispielsweise ein Bürger gerechtfertigt, der gemäß Art. 73 Code de procédure pénale (CPP) einen auf frischer Tat ertappten Delinquenten festnimmt. Ferner ist ein Arzt nicht wegen Verletzung des Berufsgeheimnisses nach Art. 226-14 CP strafbar, wenn er entsprechend seiner Verpflichtung aus Art. L. 3113-1 Code de la santé publique den Gesundheitsbehörden eine bestimmte ansteckende Krankheit seines Patienten meldet. Als Erlaubnissatz wird auch Art. 16-3 Code civil angesehen, der für Eingriffe in die körperliche Integrität das Erfordernis einer medizinischen Notwendigkeit aufstellt. Die Wirkung einer Anordnung reicht grundsätzlich sogar so weit, dass sie auch Fahrlässigkeitstaten zu rechtfertigen vermag.484 Art. 122-4 Abs. 2 CP erstreckt die beschriebene Rechtfertigungsregel auf Handlungen, die zwar nicht unmittelbar auf Gesetzes- oder Verordnungsbasis erfolgen, wohl aber auf Anordnung einer „legitimen Autorität“ (autorité légitime) hin. Gemeint sind damit nur (rechtmäßig etablierte) öffentliche Stellen, nicht
482
Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 247. Im Fall einer Übertretung auch: ordre du règlement. 484 Crim 5 janv. 2000, D. 2000, 780 m. Anm. de Lamy; Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 250. 483
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etwa auch privatrechtliche „Autoritäten“ wie Eltern oder Arbeitgeber.485 Entgegen früherer Rechtslage kommt auch der rechtswidrigen Anordnung einer legitimen Autorität grundsätzlich rechtfertigende Wirkung zu. Die Rechtfertigung ist nach dem neuen Gesetzeswortlaut nur dann ausgeschlossen, wenn der angeordnete Akt offenkundig illegal (manifestement illégal) ist – und dies ist er, wenn einem Durchschnittsbürger die Rechtswidrigkeit mit Sicherheit auffallen würde.486 In der Literatur sieht man diese Regelung kritisch; denn sie ermögliche, dass die gesetzliche Anordnung einer Strafbarkeit durch einen gesetzlich nicht gedeckten Akt der Exekutive außer Kraft gesetzt werde. Unter Gewaltenteilungsaspekten sei dies nur dann haltbar, wenn man in Art. 122-4 Abs. 2 CP gleichsam eine vorweg genommene Ermächtigung des Gesetzgebers an die Exekutive sähe, eine Strafbarkeitsanordnung eben auch durch eine rechtswidrige – jedoch nicht offenkundig illegale – Anordnung zu neutralisieren.487 Ausnahmslos ausgeschlossen ist eine Rechtfertigung durch hoheitliche Anordnung, sei sie gesetzlicher oder exekutiver Herkunft, bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das ergibt sich ausdrücklich aus Art. 213-4 Satz 1 CP. Der Umstand, dass ein solches Verbrechen auf Anordnung begangen wurde, wird nach Satz 2 der Vorschrift lediglich bei der Strafzumessung berücksichtigt. (2) Notwehr Streng genommen lässt sich auch der Rechtfertigungsgrund der Notwehr (légitime défense) – ja lässt sich letztlich jeder fait justificatif – als Rechtfertigung kraft hoheitlicher Anordnung auffassen.488 Denn schließlich ist auch sie ein Verhalten, das durch ein Gesetz ausdrücklich gestattet wird. Trotzdem wird die légitime défense seit jeher als ein eigenständiger Spezialfall der Rechtfertigung angesehen, so auch im neuen Strafgesetzbuch, das sich ihr in Art. 122-5 CP widmet. Die gesetzliche Regelung stuft zwei Konstellationen der Notwehr ab. Beide sind derart gestaltet, dass sie in Anbetracht einer bestimmten Notwehrlage eine bestimmte Verteidigungshandlung erlauben. Die allgemeinere Regelung findet sich in Art. 122-5 Abs. 1 CP: Notwehrlage ist hier jeder ungerechtfertigte Angriff (atteinte injustifiée) gegen den Verteidiger selbst oder gegen einen Dritten. Ein solcher Angriff kann auch von einer strafrechtlich nicht verantwortlichen Person ausgehen, einem Geisteskranken oder einem Kind etwa; er kann auch durch eine 485 Stefani/Levasseur/Bouloc, Ziff. 383; Desportes/Le Gunehec, Ziff. 720; Conte/ Maistre du Chambon, Ziff. 252. 486 Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 256. Stefani/Levasseur/Bouloc, Ziff. 385, nennen als Beispiele Akte, die Leben oder körperliche Integrität einer Person angreifen, namentlich auch die Anordnung von Folter. 487 Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 256. 488 Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 246, 257.
C. Der Straftatbegriff in Frankreich
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Provokation veranlasst sein.489 Erlaubt ist in Anbetracht eines ungerechtfertigten Angriffs jede zugleich vorgenommene Verteidigungshandlung, die zum Zweck der Notwehr erforderlich ist (commandé par la nécessité de la légitime défense) – es sei denn, so formuliert negativ der Gesetzestext, die zur Verteidigung angewandten Mittel stünden außer Verhältnis zu der Schwere des Angriffs. – Enger gefasst sind demgegenüber Voraussetzungen und Umfang der Notwehr nach Art. 122-5 Abs. 2 CP: Zur Unterbrechung eines crime oder délit gegen einen Gegenstand darf eine Person einen Verteidigungsakt – allerdings keine Tötung – vornehmen, wenn dieser Akt strikt erforderlich ist und die eingesetzten Verteidigungsmittel der Schwere der zu unterbrechenden Tat angemessen sind. Im Gegenschluss folgt daraus, dass es keine Notwehr gibt in Anbetracht bloßer Übertretungen, die sich lediglich gegen einen Gegenstand richten.490 Im Übrigen können nach der Rechtsprechung auch Fahrlässigkeitsdelikte prinzipiell nicht durch Notwehr gerechtfertigt sein.491 (3) Notstand Eng verwandt mit der Notwehr ist schließlich der Rechtfertigungsgrund des Notstands (état de nécessité), der in Art. 122-7 CP geregelt ist. Der Unterschied zwischen beiden Rechtfertigungsgründen besteht insbesondere darin, dass Notwehr sich stets gegen den Aggressor selbst richtet, während die Verteidigungshandlung im Notstandsfall irgendjemanden trifft, gerade auch einen unbeteiligten Dritten. Insofern lässt sich die Notwehr als ein Spezialfall des Notstands ansehen.492 Im Einzelnen normiert Art. 122-7 CP folgende Voraussetzungen: Eine Notstandslage besteht in einer gegenwärtigen oder unmittelbar bevorstehenden Gefahr für eine Person oder einen Gegenstand. Als Verteidigungshandlung ist jeder Akt gerechtfertigt, der zum Schutz der Person oder des Gegenstands erforderlich ist, es sei denn, die angewandten Mittel stünden außer Verhältnis zur Schwere der Bedrohung. – Über diese geschriebenen Voraussetzungen hinaus verlangt die Rechtsprechung, dass erstens die Gefahr rechtswidriger Natur sein muss; zwei489 Stefani/Levasseur/Bouloc, Ziff. 393; Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 260 f. – Eine provozierte Attacke ist allerdings nur dann injustifiée und berechtigt somit zu Notwehr, wenn sie außer Verhältnis zu der Provokation steht. 490 Desportes/Le Gunehec, Ziff. 736; kritisch dazu Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 261. 491 Cass. crim., 16 févr. 1967, JCP 1967, 15034 m. Anm. Combaldieu; Cass. crim., 28 nov. 1991 Bull. crim. n ë 446 (S. 1134 [1135]); s. aber auch Cass. crim., 21 févr. 1996, D. 1997, 234 m. Anm. Paulin. – Skurrile Folge dieser Rechtsprechung ist, dass manch ein Angeklagter vor Gericht inständig beteuert, im Rahmen seiner Notwehrhandlung einen Verletzungserfolg vorsätzlich angestrebt zu haben. Zum Hintergrund und zur Frage der Weitergeltung dieser Judikatur s. Desportes/Le Gunehec, Ziff. 734. 492 Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 269.
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2. Teil: Landesberichte
tens ist das Notstandsrecht ausgeschlossen, wenn der Verteidiger die Gefahr zuvor selbst verschuldet hat.493 (4) Erforderlichkeit eines subjektiven Rechtfertigungselements? Bei allen drei dargestellten faits justificatifs ist bisher die Frage außer Betracht geblieben, ob es eines besonderen Rechtfertigungsbewusstseins bedarf, ob also jemand nur dann gerechtfertigt ist, wenn er auch subjektiv in Kenntnis der hoheitlichen Anordnung bzw. der Notwehr- oder Notstandslage handelt. Diese Frage ist im französischen Schrifttum umstritten, und auch die Rechtsprechung gibt diesbezüglich kein klares Bild ab.494 Jene Autoren, die mit der wohl herrschenden Auffassung die rechtfertigenden Umstände als Neutralisatoren des élément légal auffassen, neigen eher einer rein „objektiven“ Konzeption zu: Der Grund der Rechtfertigung liege darin, dass ein an sich strafbares Verhalten in Anbetracht eines vorhandenen fait justificatif zu einem gesellschaftlich nützlichen oder doch opportunen werde.495 Die Handlung, nicht in erster Linie die Person, steht hiernach also im Zentrum der Beurteilung. Nach diesem Ansatz ist beispielsweise auch derjenige gerechtfertigt, der in Unkenntnis einer gegebenen Notwehrlage den Angreifer verletzt. (5) Exkurs: Die Zustimmung des Opfers Im Zusammenhang mit den allgemeinen rechtfertigenden Umständen wird meist auch die Einwilligung des Opfers in eine Rechtsverletzung (consentement de la victime) behandelt. Solch ein consentement gilt allerdings nicht als Rechtfertigungsgrund.496 Denn da das Strafrecht nicht nur kollektive, sondern auch gewisse individuelle Rechtsgüter im öffentlichen Interesse schütze, sei die Zustimmung des einzelnen Opfers zur Verletzung solcher Güter grundsätzlich irrelevant. In diesem Sinne „offiziell“ geschützt sind insbesondere Leib und Leben: Ärztliche Heileingriffe etwa sind nicht schon kraft einer Einwilligung gerechtfertigt; der Behandelnde muss vielmehr eine gesetzliche Approbation besitzen und die Regeln der ärztlichen Kunst einhalten. Nicht nur die Tötung auf Verlangen, sondern auch das Abschalten eines lebenserhaltenden Geräts und erst recht die lebensverkürzende Schmerzlinderung bleiben nach den Buchstaben des Gesetzes auch dann strafbar, wenn sie dem erklärten Willen des Betroffenen entsprechen.497 Cass. crim., 22 sept. 1999, Bull. crim. n ë 193 (S. 615 [617]). Vgl. Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 286. 495 So etwa Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 285; zumindest im Rahmen des Notstands wohl auch Desportes/Le Gunehec, Ziff. 745. 496 Merle/Vitu, Tome I, Ziff. 475 ff.; Stefani/Levasseur/Bouloc, Ziff. 409 ff.; jeweils auch zum Folgenden. 493 494
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Ausnahmsweise zur Straflosigkeit führt die Einwilligung nur bei jenen Gütern, die einzig und unbeschränkt der individuellen Disposition unterstehen, beispielsweise das Eigentum, das Vermögen und die persönliche Freiheit. In diesen Fällen wird dann allerdings keine Rechtfertigungssituation angenommen, sondern die Zustimmung des Opfers lässt das materielle Element der Straftat entfallen.498 cc) Der Nachweis rechtfertigender Umstände Ein Problem, das gleichermaßen alle Rechtfertigungsgründe betrifft, ist schließlich noch ihr Nachweis. Insoweit gilt Folgendes: Zwar geht auch das französische Recht im Prinzip von einer Unschuldsvermutung zu Gunsten des Beschuldigten aus, der sogar Verfassungsrang zukommt.499 Es obliegt danach grundsätzlich der Anklage, die Elemente der Straftat darzulegen und zu beweisen; und das Gericht darf nur verurteilen, wenn es von der Schuld des Angeklagten vollauf überzeugt ist.500 Diese Unschuldsvermutung reicht jedoch nicht so weit, dass sie sich zu einer allgemeinen Rechtfertigungsvermutung ausweitete. Es ist vielmehr grundsätzlich dem Beschuldigten aufgegeben zu beweisen, dass das ihm vorgeworfene Verhalten gerechtfertigt war.501 Für den Rechtfertigungsumstand der Notwehr ergibt sich das als Gegenschluss aus Art. 122-6 CP: Weil dort für zwei besondere Konstellationen eine Vermutung für ein Handeln in Notwehr aufgestellt wird, geht man e contrario davon aus, dass in allen anderen Fällen derjenige, der sich auf Notwehr beruft, insoweit auch die Beweislast trägt.502 Lediglich im Bereich der 497 In der Praxis kann dies freilich anders aussehen: Über Frankreichs Grenzen hinaus bekannt geworden ist insbesondere der Fall Vincent Humbert. Der junge Mann war nach einem Unfall im Jahr 2000 schwerstbehindert, stumm und nahezu blind. Er hatte über Jahre sein „Recht zum Sterben“ eingefordert, bis hin zum damaligen Staatspräsidenten, jedoch ohne Erfolg. Daraufhin hatte seine Mutter versucht, ihm mit einem starken Narkotikum zum Tod zu verhelfen. Humbert fiel ins Koma und kam ins Krankenhaus, wo der behandelnde Chefarzt ihm nach zwei Tagen eine tödliche Injektion verabreichte. Die Ermittlungen gegen Mutter und Arzt endeten – auf Antrag der Staatsanwaltschaft – mit Einstellung des Verfahrens (non-lieu): Zwar hätten élément légal und élément matériel eines Tötungsdelikts vorgelegen, die Beschuldigten hätten aber unter Zwangseinfluss (contrainte) gestanden, weshalb es am element moral fehle. – Der Fall gab Anlass zu einer Gesetzesreform im Jahr 2005. Danach ist die aktive Tötung auf Verlangen zwar nach wie vor nicht erlaubt, wohl aber ein auf Wunsch des Patienten erfolgender Behandlungsverzicht oder -abbruch: Article L1110-10 Code de la santé publique, geändert durch das Gesetz Nr. 2005-370 vom 22. April 2005 über Patientenrechte und das Ende des Lebens (Loi n ë 2005-370 du 22 avril 2005 relative aux droits des malades et à la fin de vie). 498 Desportes/Le Gunehec, Ziff. 715 ff. 499 Delmas-Marty, Droits 1996, 53 (57); Guinchard/Buisson, Ziff. 493 f. 500 Merle/Vitu, Tome II, Ziff. 142 ff. 501 Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 245. 502 Merle/Vitu, Tome I, Ziff. 151; Delmas-Marty, Droits 1996, 53 (57).
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besonderen faits justificatifs macht die Rechtsprechung gelegentlich Ausnahmen von dieser Regel.503 Für die Würdigung der vorgebrachten Beweise gilt in Frankreich das so genannte principe de l’intime conviction. Danach ist das Gericht in seiner Beweiswürdigung frei. Das soll zwar nicht bedeuten, dass das Gericht ohne jede Kontrolle allein nach seinen Eindrücken urteilen könne.504 Letztlich stellt das französische Recht aber keine verbindlichen Regeln auf, an die Richter bei der Entscheidung der Schuldfrage gebunden wären.505 Für die Mitglieder des Schwurgerichts sieht Art. 353 CPP vielmehr folgende Anweisung vor, die ihnen vor jeder Beratung zur Lektüre gegeben wird und darüber hinaus auch deutlich sichtbar im Beratungsraum aushängen muss: Das Gesetz fordert von den Richtern keine Rechenschaft darüber, mit welchen Mitteln sie sich überzeugt haben, es schreibt ihnen keine Regeln vor, von denen sie insbesondere abhängig machen müssten, ob ein Beweis vollständig und hinreichend ist; es schreibt ihnen vor, sich selbst in stiller Besinnung zu befragen und unter ernsthafter Gewissensanspannung heraus zu finden, welchen Eindruck die gegen den Angeklagten vorgebrachten Beweise und seine Verteidigungsmittel auf ihren Verstand gemacht haben. Das Gesetz gibt ihnen nur diese eine Frage auf, die das gesamte Ausmaß ihrer Pflichten enthält: „Sind Sie innerlich überzeugt?“ 506
2. Das élément matériel Wenn der Rechtsanwender das élément légal einer Straftat identifiziert, das heißt die (voraussichtlich) anwendbare Strafvorschrift ausfindig gemacht hat, so besteht der nächste Schritt darin zu prüfen, ob die Voraussetzungen dieser Strafvorschrift im Detail auch wirklich erfüllt sind. Zuerst werden dabei die „materiellen“, äußeren Voraussetzungen geprüft – das élément matériel. Als élément matériel einer Straftat bezeichnet man das äußerliche Verhalten, das in einer Strafvorschrift als strafbar definiert ist.507 Dabei gilt das Prinzip: 503 Cass. crim., 11 mars 1991, Bull. crim. n ë 120 (S. 306 [307]); 28 juin 1993, Bull. crim. n ë 225 (S. 564 [566]); Cass. crim., 14 mai 1990, Bull. crim. n ë 192 (S. 488 [490]). – Die Anklage trägt auch die Beweislast dafür, dass die Tat nicht verjährt ist oder einer Amnestie unterliegt: Merle/Vitu, Tome I, Ziff. 151 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 504 Merle/Vitu, Tome II, Ziff. 213. 505 Delmas-Marty, Droits 1996, 53 (59 f.), die hier „eine der größten Unklarheiten des Strafrechts“ diagnostiziert. 506 „La loi ne demande pas compte aux juges des moyens par lesquels ils se sont convaincus, elle ne leur prescrit pas de règles desquelles ils doivent faire particulièrement dépendre la plénitude et la suffisance d’une preuve; elle leur prescrit de s’interroger eux-mêmes dans le silence et le recueillement et de chercher, dans la sincérité de leur conscience, quelle impression ont faite, sur leur raison, les preuves rapportées contre l’accusé, et les moyens de sa défense. La loi ne leur fait que cette seule question, qui renferme toute la mesure de leurs devoirs: ,Avez-vous une intime conviction?‘ “
C. Der Straftatbegriff in Frankreich
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Ohne materielles Tun gibt es keine Straftat – „Pas d’infraction sans activité matérielle.“508 Zwar ist die Reichweite dieses Satzes eingeschränkt; zum Beispiel kennt das französische Recht eine Strafbarkeit juristischer Personen, obwohl diese sich nicht im herkömmlichen Sinne „verhalten“ können. Dennoch enthält das Prinzip wichtige materielle Schranken: So darf der Gesetzgeber – nach hergebrachter Auffassung – keine bloßen Absichten oder Meinungen zu Straftaten erklären, ebenso wenig bloße Zustände.509 Beispielhaft deutlich wird das in Art. 412-2 Abs.1 CP, wonach die Verabredung mehrerer Personen zu einem Attentat explizit erst dann strafbar ist, wenn sie sich in einem acte matériel konkretisiert hat. Andererseits sieht Art. 321-6 CP neuerdings eine Bestrafung von Personen vor, die ihren Lebensstandard nicht durch entsprechende Einkünfte plausibel machen („rechtfertigen“) können und zugleich gewohnheitsmäßige Beziehungen zu Straftätern unterhalten.510 Das strafbare Verhalten kann in vielfältiger Art und Weise umschrieben sein. Entgegen dem engen Wortsinn des oben zitierten Materialitätsprinzips bedarf es dabei nicht stets eines aktiven Begehens (commission), es kann unter bestimmten Bedingungen auch eine Unterlassung (omission) genügen.511 Setzt die Strafbarkeit einen bestimmten Erfolg voraus, so muss dieser zu dem verbotenen Verhalten in einer Kausalitätsbeziehung (causalité) stehen. Unter bestimmten Bedingungen ist ferner der Versuch (tentative) einer Straftat strafbar. Diese verschiedenen Erscheinungsformen seien im Folgenden näher beleuchtet. a) Begehungsdelikte und das Erfordernis einer Verhaltensfolge Die häufigste Erscheinungsform der Straftat ist die infraction de commission, die Begehung durch aktives Tun.512 Entsprechende Inkriminierungen kennt das französische Strafrecht zuhauf; Art. 221-5 Abs. 1 CP (Vergiftung) stellt etwa die Beibringung einer tödlichen Substanz unter Strafe, Art. 311-1 CP (Diebstahl) die 507
Paulin, Ziff. 83. Das Prinzip ist gesetzlich nirgends niedergeschrieben, wird aber traditionell als Bestandteil des Rechtsstaats angesehen, Merle/Vitu, Tome I, Ziff. 479; Desportes/Le Gunehec, Ziff. 431, folgern es aus Art. 121-1 CP. 509 Paulin, Ziff. 85. 510 „Le fait de ne pas pouvoir justifier de ressources correspondant à son train de vie ou de ne pas pouvoir justifier de l’origine d’un bien détenu, tout en étant en relations habituelles avec une ou plusieurs personnes qui soit se livrent à la commission de crimes ou de délits punis d’au moins cinq ans d’emprisonnement et procurant à cellesci un profit direct ou indirect, soit sont les victimes d’une de ces infractions, est puni d’une peine de trois ans d’emprisonnement et de 75 000 Euros d’amende.“ Eingeführt durch Gesetz Nr. 2006-64 vom 23. Januar 2006. – Die Vorschrift erinnert an die bis 1975 geltende deutsche Regelung der Hehlerei (§ 259 StGB), die wegen ihrer Nähe zur unzulässigen Verdachtsstrafe mit Recht abgeschafft wurde. 511 Insofern ist der Satz schief bzw. ungenau. 512 Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 305. 508
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Entwendung einer fremden Sache. Teilweise sind die Anforderungen an die Aktivität des Täters nur minimal, so wie in Art. 225-6 Ziff. 3 CP, für dessen Verwirklichung es ausreicht, ohne ausreichende eigene Mittel mit einer Person zusammen zu leben, die regelmäßig der Prostitution nachgeht. Häufig genügt allein ein Verhalten nicht, um das élément matériel der Straftat zu erfüllen, sondern es bedarf zusätzlich bestimmter Verhaltensfolgen. Derartige Straftatbestände – zum Beispiel Totschlag (Art. 211-1 CP) – bezeichnet die französische Lehre als „materielle Straftaten“ (infractions matérielles). Ihnen gegenüber stehen die „formellen Straftaten“ (infractions formelles) und die so genannten „Hindernisdelikte“ (délits obstacles), die beide keine besondere Verhaltensfolgen erfordern.513 Infractions formelles sind etwa die schon erwähnte Beibringung eines Gifts gemäß Art. 221-5 CP, die Herstellung von Falschgeld nach Art. 442-1 CP oder die Zeugenbeeinflussung gemäß Art. 434-15 CP. In den Augen der französischen Lehre bewirken diese Taten an sich noch keine gesellschaftliche Erschütterung, sondern nur eine Gefahr derselben – beispielhaft: nicht die Herstellung von Falschgeld störe die öffentliche Ordnung, sondern erst der Umstand, dass es in Umlauf gebracht werde. Wenn auf diese Verhaltensweisen gleichwohl mit Strafe reagiert werde, dann wegen der darin zu Tage tretenden Intention des Täters, einen sozialschädlichen Erfolg zu erreichen.514 Sachlich handele es sich dabei um eine autonome Bestrafung einer Vorbereitungs- oder Versuchssituation.515 Ähnlich verhält es sich mit den délits obstacles. Sie inkriminieren eine schadensträchtige Situation in einem frühen Stadium, um die spätere Begehung einer anderen, gravierenderen Straftat zu verhindern.516 Zu diesen Hindernisdelikten zählt etwa die Trunkenheitsfahrt nach Art. L 234-1 des Straßenverkehrsgesetzbuchs (Code de la route), die Preisgabe sensibler Informationen an ausländische Empfänger nach Art. 411-6 CP oder das Zurücklassen einer Waffe oder eines anderen gefährlichen Gegenstands in der Öffentlichkeit nach Art. R 641-1 Abs. 1 CP. Der Unterschied zwischen diesen Taten und den infractions formelles ist hauptsächlich gradueller Natur. Hier wie dort genügt die bloße Gefahr eines Erfolgs als Strafgrund; bei den delits obstacles sollen der Eintritt und die genaue Gestalt dieses Erfolgs lediglich weniger gewiss sein.517
513
Stefani/Levasseur/Bouloc, Ziff. 227. Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 322. 515 Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 322. 516 Desportes/Le Gunehec, Ziff. 461. 517 Merle/Vitu, Tome I, Ziff. 515; Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 323. – Zur Verdeutlichung: Bei der Beibringung giftiger Substanzen sei der Tod des Opfers ein mit Gewissheit drohender Erfolg; dagegen könne etwa die Trunkenheitsfahrt zu allen möglichen Konsequenzen führen, sei es für den Fahrer oder dritte Personen oder auch nur für Sachen. 514
C. Der Straftatbegriff in Frankreich
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b) Unterlassen als strafbares Verhalten Ein strafbarer acte matériel muss nicht zwangsläufig in einem positiven Tun, sondern kann auch in einer Unterlassung liegen. Allerdings sieht die französische Lehre traditionell einen qualitativen Unterschied darin, ob jemand einen Erfolg aktiv herbei führt oder ihn nur nicht verhindert. In einem liberalen Strafrechtskonzept müsse die Strafbarkeit der Unterlassung, jedenfalls der „reinen“ Unterlassung (abstention pure et simple), eine Ausnahme bleiben, wolle man nicht die Grenze zwischen Strafrecht und Moral verwischen.518 Dementsprechend hat auch der Gesetzgeber lange Zeit nur solche Unterlassungen mit Strafe versehen, die in besonderem Maße als moralisch „schockierend“ und gesellschaftsschädigend angesehen wurden.519 In jüngerer Zeit lässt sich hingegen eine gewisse Tendenz zur Ausweitung von Unterlassungsstraftaten beobachten.520 So kennt der Code pénal mittlerweile eine nicht unbeträchtliche Zahl strafbarer abstentions pures et simples: die unterlassene Hinderung eines Verbrechens oder eines Delikts gegen die körperliche Unversehrtheit (Art. 223-6 Abs. 1 CP), die unterlassene Hilfeleistung (Art. 223-6 Abs. 2 CP), das Zulassen fremder Kenntnisnahme an privaten Aufzeichnungen Dritter (Art. 226-2 Abs. 1 Fall 2 CP), die Nichtanzeige von Verbrechen oder von Misshandlungen Schutzbedürftiger (Art. 434-1 ff. CP) oder die unterlassene Zeugenaussage zugunsten eines Unschuldigen (Art. 434-11 Abs. 1 CP). – Als wenig problematisch gilt die Strafbarkeit eines Unterlassens zudem dann, wenn die passive Person entweder eine besondere Funktion inne hat, die sie zum Handeln anhält, oder wenn die Unterlassung im Gefolge oder doch im Kontext eines aktiven Tuns erfolgt (abstention dans la fonction bzw. abstention dans l’action). So ist ein Amtsträger verpflichtet, aktiv seine Befugnisse einzusetzen, um einen bekanntermaßen illegalen Freiheitsentzug zu beenden (Art. 432-5 Abs. 1 CP). Eltern müssen den Wohnungswechsel ihres Kindes an Besuchsberechtigte melden (Art. 227-6 CP). Und strafbar ist auch, wer einen Verkehrsunfall verursacht und sein Fahrzeug daraufhin nicht anhält (Art. 434-10 Abs. 1 CP). In Situationen wie den zuletzt genannten fließen aktives Tun und passives Geschehenlassen oftmals so ineinander, dass eine Trennung künstlich anmuten würde.521 Ungeachtet solcher Annäherungstendenzen verbleibt es jedoch nach wie vor dabei, dass Tun und Unterlassen nicht als qualitativ gleichrangige Verwirklichungsformen des Unrechts anerkannt werden. Insbesondere gibt es in Frankreich keine Bestimmung, die grundsätzlich und allgemein regeln würde, dass 518 Pradel, Droit pénal comparé, Rn. 179, 181; Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 308. 519 Debove/Falletti, S. 85; Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 308. 520 Stefani/Levasseur/Bouloc, Ziff. 213; Pradel, Droit pénal comparé, Rn. 181. 521 Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 309.
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Straftaten unter bestimmten Bedingungen auch durch Unterlassen begangen werden können. In Ermangelung einer solchen Regelung ergibt sich aus dem Gesetzlichkeitsprinzip – speziell aus dem Analogieverbot –, dass die Begehung durch Unterlassen (commission par omission) straflos ist, wenn sie nicht durch den Wortlaut der einschlägigen Strafvorschrift mit erfasst wird.522 Die klassische Leitentscheidung dazu ist der Fall der „Gefangenen von Poitiers“:523 Eine Mutter hatte ihre geisteskranke Tochter über Jahre hinweg unter menschenunwürdigen Bedingungen in einem unbelüfteten Zimmer ohne Licht gefangen gehalten. In den letzten Wochen vor dem Tod der Mutter hatte deren Sohn es übernommen, seine Schwester zu bewachen. In erster Instanz wegen mittäterschaftlich begangener Gewalttätigkeiten (violences) verurteilt, wurde er vom Appellationsgericht Poitiers freigesprochen: Mangels eigenen aktiven Tuns sei er weder als Mittäter noch als Gehilfe strafbar.524 c) Kausalität Wenn das élément matériel einer Straftat einen bestimmten Erfolg voraussetzt – also bei den infractions matérielles, nicht dagegen bei den infractions formelles und délits obstacles –, so muss dieser Erfolg kausal auf das Verhalten des Täters zurück zu führen sein. Maßgeblich ist dabei im Grundsatz die Lehre von der Gleichwertigkeit der Bedingungen (équivalence des conditions), der zufolge jede Bedingung, die zu einem Erfolg beigetragen hat, in gleicher Weise als ursächlich angesehen wird.525 Von diesem Ansatz geht traditionell auch die Rechtsprechung aus. So hat der Cour de cassation wiederholt betont, dass ein hinreichender Kausalzusammenhang auch dann anzunehmen sein kann, wenn das Verhalten des Täters lediglich indirekt oder mittelbar zu einem Erfolg geführt hat.526 Erforderlich ist dabei jedoch immer, dass zumindest der Zusammenhang im Sinne der Gleichwertigkeit zweifelsfrei gegeben ist; andernfalls muss freigesprochen werden. Eine Besonderheit gegenüber dem dargestellten Grundsatz gilt – nach einem Tätigwerden des Gesetzgebers im Juli 2000 – für die Fahrlässigkeitsdelikte (délits non intentionnels).527 Hier sind nach Art. 121-3 Abs. 4 CP natürliche Personen für einen lediglich indirekt verursachten Erfolg nur dann strafrechtlich ver522 Stefani/Levasseur/Bouloc, Ziff. 214; Desportes/Le Gunehec, Ziff. 436; Conte/ Maistre du Chambon, Ziff. 311. 523 Poitiers, 20. nov. 1901, D. 1902.2.81 ff. m. Anm. Le Poittevin. 524 Ob das Gericht insoweit die (aktive) Übernahme der Bewachung zumindest prüfte, ist aus dem Urteil nicht ersichtlich. 525 Vgl. Desportes/Le Gunehec, Ziff. 447. 526 Cass. crim., 7. févr. 1973, Bull. crim., n ë 72 (S. 173 [174]); Cass. crim., 20. juin 1989, Dr. pén., 1989, Nr. 60; Cass. crim., 27. févr. 1992, Dr. pén. 1992, Nr. 199; Cass. crim., 18. oct., Cass. crim., 30. oct. und Cass. crim., 22. nov. 1995, gemeinsam abgedruckt unter Dr. pén., 1996, Nr. 78. 527 Zu ihnen s. noch unten in diesem Teil, C. III. 3. b) bb) (2).
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antwortlich, wenn sie entweder erkennbar bewusst (manifestement délibérée) eine besondere, in einem Gesetz oder einer Verordnung statuierte Sorgfalts- oder Sicherungspflicht verletzt haben oder wenn durch ihr Verschulden das Opfer erkennbar einem Risiko von besonderer Schwere ausgesetzt wurde. Das Schrifttum interpretiert diese Bestimmung als eine punktuelle gesetzliche Abkehr von der Gleichwertigkeitslehre.528 Zum einen: Wer mit dem in Art. 121-3 Abs. 4 CP umschriebenen Grad an Fahrlässigkeit handelt, ist für deren indirekte Folgen nur unter zusätzlichen, engeren Voraussetzungen strafrechtlich verantwortlich – statt der äquivalenten kommt insoweit eine „adäquate Kausalität“ (causalité adéquate) zum Zuge. Zum anderen: Wer mit einem geringeren Grad an Fahrlässigkeit als dem in Art. 121-3 Abs. 4 CP umschriebenen handelt, ist sogar nur für unmittelbare Folgen strafrechtlich verantwortlich – auch hier gilt also nicht gleichwertig jede Bedingung als kausal, sondern nur die zeitlich letzte (so genanntes système de la proximité des causes).529 Punktuell beschränkt ist diese gesetzliche Entscheidung deshalb, weil sie einerseits nur für den Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte und andererseits nur für natürliche Personen gilt. Im Grundsatz ohne Bedeutung ist die Kausalität aus französischer Sicht im Rahmen der Unterlassungsdelikte. Ohne Einschränkung gilt dies für die abstentions pures et simples, die reinen Unterlassungen. Dagegen liegt bei den abstentions dans la fonction ou dans l’action in der Regel ein dem Unterlassen vorgelagertes aktives Tun vor, auf das man den eingetretenen Erfolg zurück führen kann: Wer es unterlässt, sein Fahrzeug zu bremsen, und anschließend auf ein anderes Fahrzeug auffährt, hat den Unfall verursacht.530 Eine vom Kausalitätserfordernis getrennte (allgemeine) Zurechnungsdogmatik, wie sie in Deutschland geläufig ist, kennt das französische Strafrecht nicht.531 Die Frage etwa, inwiefern atypische Geschehensabläufe einen zurechenbaren Erfolg im strafrechtlichen Sinne begründen, behandeln sowohl das herrschende Schrifttum als auch die Rechtsprechung begrifflich allein unter dem Etikett der Kausalität: Es bedürfe eines „sicheren Ursachenzusammenhangs“ („que l’existence de ce lien de causalité soit certaine“) zwischen dem Verhalten des Angeklagten und der eingetretenen Folge.532 528
Desportes/Le Gunehec, Ziff. 448 ff., auch zum Folgenden. Sehr kritisch dazu Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 386. 530 Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 346, auch mit weiteren Beispielen. 531 Vgl. Pfefferkorn, S. 58 f., 63; Lelieur/Pfützner/Volz, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 3, S. 513 (524). Das gilt auch für jüngere Autoren wie etwa Pin, der sich zwar des Begriffs der Zurechnung bedient (imputation, Rn. 237 ff.), dies aber nicht im Sinne der aus Deutschland geläufigen „objektiven Zurechnung“. 532 Cass. crim., 7.1.1980, Bull. crim. 1980, n ë 10, S. 24. s. auch Cass. Crim., 10.2004, Gaz. Pal. 17./18.12.2004, jur. S. 11 f.; RSC 2005, 71 (Mayaud). Im letzteren Fall hatte der Angeklagte einen Fußgänger angefahren. Dieser erlitt einen Knochenbruch und musste sich deswegen ins Krankenhaus begeben. Dort verstarb der Verletzte an den Folgen eines Infekts, der offenbar nicht mit dem Bruch in Zusammenhang stand. 529
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d) Versuch Der Versuch einer Tat – das folgt zwingend aus dem Gesetzlichkeitsprinzip – kann nur dann strafbar sein, wenn und soweit dies gesetzlich vorgesehen ist. Als allgemeine Regelung ist insoweit Art. 121-4 Ziff. 2 CP einschlägig. Hiernach ist der Versuch eines Verbrechens stets strafbar, der Versuch eines Delikts dagegen nur bei ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung. Stets straflos sind demgegenüber der Versuch einer Übertretung533 sowie der Versuch der Teilnahme.534 Materiellrechtlich definiert ist der Versuch in Art. 121-5 CP. Laut dieser Regelung ist der Versuch eine begonnene Ausführung der Tat, die nur aufgrund solcher Umstände nicht fortgeführt wurde oder ihr Ziel nicht erreicht hat, die vom Willen des Täters unabhängig sind. Zur Analyse des Beginns der Tatausführung (commencement d’exécution) unterscheidet die französische Lehre zwischen „subjektiven“, „objektiven“ und gemischten Konzeptionen.535 Die früher vertretene subjektive Konzeption stellte entscheidend auf die individuelle Sicht des Täters ab und bejahte den Ausführungsbeginn dann, wenn der Täter seinen unabänderlichen Willen zur Ausführung dokumentiert habe.536 Nach den objektiven Konzeptionen muss entweder ein konstitutives Element bzw. ein Qualifikationsmerkmal der Straftat bereits erfüllt sein,537 oder aber es muss ein Akt vorliegen, der objektiv keinen Zweifel an der Ausführungsbereitschaft des Täters mehr zulässt.538 Wohl vorherrschend in der Literatur und vor allem auch in der Rechtsprechung ist eine gemischte Betrachtungsweise. Danach beginnt der Versuch mit einem Akt, der unmittelbar auf die Begehung der Tat gerichtet und von einem entsprechenden Begehungswillen begleitet ist.539 Damit ist neben den typischen Situationen des unterbrochenen Versuchs (tentative suspendue) und des Der Kassationsgerichtshof sprach den Angeklagten wegen Unterbrechung des Kausalverlaufs frei. 533 Soweit allerdings Übertretungen in Gestalt der infractions formelles und délits obstacles keinen Erfolg erfordern – vgl. oben in diesem Teil, C. III. 2. a) – , stehen sie dem Versuch sachlich zumindest nahe, vgl. Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 326. 534 Paulin, Ziff. 98. 535 Ausführlich Brockhaus, S. 40 ff. 536 Donnedieu de Vabres, Anm. zu Cass. crim., 3.1.1913, DP 1914, 41 (42); vgl. dazu etwa aus heutiger Sicht Robert, Droit pénal général, S. 217 f.; Bernardini, Ziff. 367. 537 Vgl. Rassat, Rn. 236. Ein Qualifikationsmerkmal wäre beispielsweise das Aufbrechen einer Tür im Kontext des Diebstahls. 538 Merle/Vitu, Tome I, Ziff. 497 (die ihre Theorie freilich als eine gemischte bezeichnen); Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 332; Stefani/Levasseur/Bouloc, Ziff. 236. 539 Diese „gemischte“ Konzeption geht zurück auf Garraud, Ziff. 231 ff.; heutige Vertreter sind z. B. Pelletier/Perfetti, Art. 121-5 Ziff. 1; Desportes/Le Gunehec, Ziff. 454; Pradel, Droit pénal général, Ziff. 382; Bernardini, Ziff. 368; Salvage, Ziff. 69; Mayaud, Ziff. 236. Aus der Rechtsprechung s. etwa Cass. crim., 25 oct 1962, D. 1963, 221 (221 f.); dort wird der materielle Aspekt besonders betont. Vgl. zum Ganzen auch Lelieur/Pfützner/Volz, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 3, S. 834 (837).
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fehlgeschlagenen Versuchs (tentative manquée) heute grundsätzlich auch die Konstellation des „unmöglichen Versuchs“ (infraction impossible) als strafbar erfasst, in der das erstrebte Tatziel in Wahrheit gar nicht erreicht werden kann, sei es wegen Untauglichkeit der Tatmittel oder des Tatobjekts – der typische Beispielsfall für diese letztere Konstellation ist der irrige Versuch, eine bereits verstorbene Person zu töten.540 Aus der Definition in Art. 121-5 CP folgt im Gegenschluss, dass kein Versuch vorliegt, wenn jemand die Ausführung der Tat aus eigenem Willen aufgibt. Das bedeutet zunächst, dass ein Rücktritt nicht mehr möglich ist, wenn die Tat bereits vollendet wurde – verspätete tätige Reue (repentir actif) macht die Straftat nicht ungeschehen; sie kann aber im Rahmen der Strafzumessung gemäß Art. 132-24 CP zugunsten des Täters berücksichtigt werden.541 – Ist die Tat noch nicht vollendet, so muss ihre Aufgabe freiwillig erfolgen. Dem ist unzweifelhaft so, wenn keinerlei externe Motive den Handelnden beeinflussen, er beispielsweise sein Vorhaben allein aus Mitleid aufgibt. Umgekehrt liegt unzweifelhaft keine Freiwilligkeit vor, wenn der Versuch allein wegen externer Gründe abgebrochen wird, etwa wegen des Eintreffens der Polizei. Schwierig ist die Beurteilung, wenn ein äußerer Faktor – ein Schmerzensschrei des Opfers, die erkennbare Gefahr der Entdeckung – den Willen des Handelnden beeinflusst. In solchen Fällen ist entscheidend, welches der maßgebliche Grund für die Aufgabe der Tat ist und ob sich angesichts dessen von einer hinreichenden verbleibenden Willensfreiheit des Handelnden sprechen lässt.542 Wer einen strafbaren Versuch begeht, wird gesetzlich genauso als Täter behandelt wie derjenige, der die Tat auch vollendet. Das ergibt sich implizit aus der allgemeinen Regelung des Art. 121-4 Ziff. 2 CP und findet seine Bestätigung in den Strafvorschriften des besonderen Teils, die den Versuch bestimmter Delikte inkriminieren und mit derselben Strafdrohung versehen wie die Vollendung (z. B. Artt. 225-11, 226-5, 311-13 CP). Allerdings kann das Gericht es gemäß Art. 13224 Satz 1 CP bei der Strafzumessung berücksichtigen, wenn ein Verhalten nicht zu einem Erfolg geführt hat. e) Der Nachweis des élément matériel Zum Schluss der Ausführungen zum élément matériel der Straftat ist noch auf dessen Nachweis einzugehen. Ausgangspunkt ist dabei auch hier die schon er540 Paulin, Ziff. 108. Endgültig etabliert hat sich dies jedoch erst mit dem Urteil des Cour de cassation, Cass. crim., 16 janvier 1986, D. 1986, 265. – Zuvor galt traditionell eine objektivierte Versuchslehre, nach welcher der absolut untaugliche Versuch straflos war; gegen seine Strafbarkeit noch heute z. B. Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 337 f. 541 Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 340. 542 Merle/Vitu, Tome I, Ziff. 503; Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 341; vgl. dazu Cass. crim., 1996, Bull. crim. n ë 14 (S. 34 [35]).
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wähnte Unschuldsvermutung zu Gunsten des Angeklagten:543 Auch im Bereich des élément matériel kennt dieses Grundprinzip aber Ausnahmen in Gestalt von Vermutungen, die der Anklage günstig sind. Bei dem oben erwähnten neuen Delikt des Art. 321-6 CP etwa muss der Beschuldigte, der gewohnheitsmäßige Beziehungen zu Straftätern unterhält und dabei einen „verdächtig“ hohen Lebensstandard pflegt, die legale Herkunft seiner Einkünfte beweisen.544 Und nach Art. 418 Code des douanes wird vermutet, dass bestimmte bei einer Zollkontrolle entdeckte Gegenstände als Schmuggelware (en contrebande) ein- oder ausgeführt werden sollten. – Mit Blick auf die Beweiswürdigung ergeben sich keine Unterschiede gegenüber dem oben zum Nachweis rechtfertigender Umstände Ausgeführten.545 3. Das élément moral Es ist ein gefestigtes Prinzip des französischen Strafrechts, dass der Einsatz von Strafe mehr erfordert als bloß die Übereinstimmung eines Verhaltens mit den äußeren Voraussetzungen einer Strafvorschrift.546 Strafe ist vielmehr immer auch ein Tadel, der sich moralisch begründet, sich an die Persönlichkeit des Täters richtet. Ein solcher Vorwurf kann nur berechtigt sein, wenn er mit berücksichtigt, in welchem geistigen Zustand und mit welcher Kenntnis oder Vorstellung eine Person die äußeren Umstände einer Straftat (vermeintlich) verwirklicht. Genau um diese Fragen geht es – wenngleich die genaue Ausgestaltung häufig von Autor zu Autor etwas differiert547 – im Kontext des élément moral. a) Zurechnungsfähigkeit und Gründe für ihr Fehlen Die erste Frage, die nach dem geistigen Zustands des Handelnden, wird zumeist unter dem Schlagwort von der Zurechnungsfähigkeit der Person (imputabilité de la personne) erörtert.548 Diese Zurechnungsfähigkeit setzt voraus, dass die betreffende Person hinreichend einsichts- und steuerungsfähig und in ihrer Willensbildung frei ist; davon ist nach französischem Verständnis grundsätzlich 543
Merle/Vitu, Tome II, Ziff. 142 ff.; Delmas-Marty, Droits 1996, 53 (57). Cass. crim. 8.2.1989, RSC 1989, 491; Guinchard/Buisson, Ziff. 512; Lelieur/ Pfützner/Volz, in Sieber/Cornils, Teilbd. 3, S. 513 (515). s. nochmals oben in diesem Teil, C. III. 2. 545 Oben in diesem Teil, C. III. 1. b) cc). 546 s. etwa Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 349. Allerdings werden die contraventions von diesem Grundsatz ausgenommen, auch von Seiten des Conseil constitutionnel, 16 juin 1999, n ë 99-411 DC, D. 1999, 589 (589 f.) m. Anm. Mayaud. 547 Eine „objektivistische“ Strömung sieht das élément moral sogar nicht einmal als echtes Element der Straftat, sondern ordnet es einer außerhalb davon liegenden Kategorie der „Verantwortlichkeit“ oder „Schuld“ zu, so etwa Merle/Vitu, Tome I, Ziff. 521. 548 Wobei hier nur natürliche Personen interessieren, vgl. oben Erster Teil, C. II. 1. 544
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auszugehen.549 In Frage steht diese Fähigkeit insbesondere bei Minderjährigen, bei Personen mit psychischen oder nervlichen Störungen und bei erzwungenen Verhaltensweisen. aa) Minderjährigkeit Nicht hinreichend einsichts- und steuerungsfähig sind zum einen Kinder und Jugendliche, deren Urteilsvermögen noch nicht genügend ausgeprägt ist. Das französische Strafrecht legt insoweit keine allgemeine Altersgrenzen fest, sondern gibt es der Tatsacheninstanz auf, das Urteilsvermögen und die Steuerungsfähigkeit eines beschuldigten Minderjährigen im konkreten Fall zu begutachten. Sind diese Eigenschaften nach Auffassung des Gerichts gegeben, und sind auch die weiteren Strafbarkeitsvoraussetzungen erfüllt, so liegt eine echte Straftat vor. Als Sanktionen kommen dann primär Sicherungs-, Schutz-, Unterstützungs-, Überwachungs- und Erziehungsmaßnahmen zum Zuge. Nach Vollendung des dreizehnten Lebensjahres sind indessen auch gewöhnliche Strafen zulässig, Art. 122-8 Abs. 2 CP i.V. m. Artt. 2 Abs. 2, 18, 20 der Verordnung vom 2. Februar 1945; das Strafmaß ist gegenüber den für Erwachsene geltenden Tarifen lediglich vermindert. bb) Psychische oder nervliche Störungen Ebenfalls nicht hinreichend einsichts- und steuerungsfähig sind nach Art. 121-1 Abs. 1 CP zum anderen Personen, deren Urteils- oder Kontrollvermögen im Moment der Tat aufgrund einer psychischen oder nervlichen Störung ausgeschlossen ist. Abs. 2 derselben Bestimmung stellt klar, dass eine bloße Veränderung oder Einschränkung der genannten Fähigkeiten die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Betroffenen nicht ausschließt; der Befund wird lediglich im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigt. Der Begriff der psychischen oder nervlichen Störung ist unterschiedlich interpretierbar. Zweifelsfrei von ihm erfasst sind echte psychische Krankheiten, Demenz, geistige Verwirrung. Taten, die ein solcherart psychisch Kranker verübt, können keine strafrechtlichen Sanktionen nach sich ziehen, sondern allenfalls eine amtliche Einweisung ins Krankenhaus (hospitalisation d’office), geregelt in Art. L. 3213-1 Code de la santé publique. Nicht vollends geklärt ist demgegenüber, ob auch ein Rausch – sei er durch Alkohol, andere Drogen oder sonstige Auslöser verursacht – eine Störung im Sinne von Art. 122-1 Abs. 1 CP sein kann. Überwiegend wird diese Frage wohl verneint,550 und selbst die Vertreter der Ge549
Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 352. Merle/Vitu, Tome I, Ziff. 626; Stefani/Levasseur/Bouloc, Rn. 427; Pelletier/Perfetti, Art. 122-1 Ziff. 6. 550
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genposition räumen ein, dass ein Rausch nicht die strafrechtliche Verantwortlichkeit für solche Taten ausschließt, die ihn in ihrem élément matériel gerade voraussetzen, wie insbesondere die Fahrt in alkoholisiertem Zustand gemäß Art. L. 234-1 Code de la route.551 Ferner soll der bewusst herbei geführte Rausch, zumal das „Sich-Mut-Antrinken“ vor der geplanten Begehung einer Straftat, nicht als Störung anzuerkennen sein, sondern sogar als strafschärfend.552 cc) Zwang Wie dargelegt, setzt Zurechnungsfähigkeit neben einem hinreichenden Urteilsvermögen weiter voraus, dass der Handelnde in der Lage ist, einen freien Willen zu bilden. Das Gesetz trägt dieser Erkenntnis in Art. 122-2 CP Rechnung. Nach dieser Vorschrift ist strafrechtlich nicht verantwortlich, wer unter dem Eindruck einer Kraft bzw. eines Zwangs (contrainte) handelt, der bzw. dem er nicht widerstehen konnte. Unter diese Formulierung lassen sich zwei Arten des Zwangs subsumieren: Erfasst ist erstens der körperlich wirkende Zwang, der den Willen des Betroffenen unmittelbar physisch überwindet, so dass dieser seine Bewegungen nicht mehr frei steuern kann.553 So verhält es sich klassischerweise, wenn ein Dritter die Hand des „Täters“ führt. Aber auch die einen Unfall auslösende Eisglätte554 oder aber die körperlichen Wirkungen einer Krankheit sind von der Rechtsprechung schon als physischer Zwang anerkannt worden.555 Andererseits verneinen die Gerichte solchen Zwang, wenn der Betroffene die Zwangslage selbst verschuldet hat: Ein Matrose etwa, der wegen Trunkenheit auf die Polizeistation verbracht wurde und infolge dessen nicht rechtzeitig wieder an Bord gelangte, konnte sich gegen den Tatvorwurf der Desertion nicht mit Erfolg auf den Strafausschlussgrund des Zwangs berufen.556 Erforderlich ist zudem in jedem Fall, dass der Zwang keinerlei Widerstandsmöglichkeit offen lässt; es muss dem Handelnden absolut unmöglich sein, nicht gegen das Gesetz zu verstoßen. Auf dieser Grundlage ist zum Beispiel wegen illegalen Aufenthalts strafbar, wer einem Ausweisungsbefehl nur deshalb (noch) nicht Folge leisten konnte, weil ihm von den Grenzbehörden mehrerer Nachbarstaaten jeweils die Einreise verweigert wurde – der Betreffende hätte versuchen können, in andere Staaten auszureisen.557 551
Debove/Falletti, S. 176; Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 356. Stefani/Levasseur/Bouloc, Rn. 427; dagegen Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 356. Desportes/Le Gunehec, Ziff. 649, halten eine dogmatische Linie hierzu für entbehrlich; es handele sich um eine Tatfrage. 553 Vgl. Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 365. 554 Cass. crim., 18 déc. 1978, Bull. crim. n ë 357 (S. 931 [932]). 555 Cass. crim., 24 avr. 1937, DH 1937, 429 (430); Cours d’appel de Douai, 24 oct. 2000, JCP 2002, 10012 m. Anm. Maréchal. 556 Cass. crim., 29 janv. 1921, S. 1922, première partie, 185 (186) m. Anm. Roux; s. auch Cass. crim., 6 mai 1970, Bull. crim. n ë 154 (S. 355). 552
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Sogar noch strenger urteilen die Gerichte mit Blick auf die zweite von Art. 122-2 CP erfasste Form des Zwangs. Es ist dies der psychisch wirkende, die Entscheidungsfreiheit des Betroffenen ausschließende Zwang.558 Damit dieser als strafbarkeitsausschließend anerkannt wird, muss er ebenfalls ein solches Ausmaß annehmen, dass es dem Betroffenen schlechterdings unmöglich ist, sich gesetzeskonform zu verhalten. In der Vergangenheit hat die Rechtsprechung bei der Beurteilung, ob eine derartige Zwangslage erreicht ist, zudem regelmäßig nicht die individuellen Verhältnisse des Betroffenen zugrunde gelegt, sondern einen abstrakten Maßstab.559 Die heutige Formulierung in Art. 122-2 CP – „unter dem Eindruck eines Zwangs, dem sie [die handelnde Person] nicht widerstehen konnte“ – legt mittlerweile eine konkrete Betrachtung nahe.560 b) Schuld Das zweite Moment, das zusammen mit der Zurechnungsfähigkeit das élément moral der Straftat ausmacht, ist die Schuld (culpabilité). Sie ist im Gefüge der Straftat insofern von entscheidender Bedeutung, als sie das moralische Unwerturteil zum Ausdruck bringt, dessen es – prinzipiell – bedarf, um eine Person legitimerweise zu bestrafen.561 Ungeachtet ihrer Bedeutsamkeit ist die Schuld in Frankreich jedoch kaum Gegenstand abstrakter Erörterung, sondern konkreter Entfaltung: Je nachdem, um was für eine Straftat es geht, bedarf es entweder vorsätzlicher Schuld (faute intentionnelle) oder einer Form von unvorsätzlicher Schuld (faute non intentionnelle). Auf diese Ausprägungen ist sogleich näher einzugehen. Im Anschluss daran wird noch ein wichtiger Grund für das Fehlen von Schuld betrachtet: die Fehlvorstellung des Handelnden über die Umstände seines Verhaltens, sprich der Irrtum. aa) Vorsatzschuld Art. 121-3 Abs. 1 CP stellt als Grundsatz auf: „Es gibt kein Verbrechen und kein Vergehen ohne den Vorsatz, ein solches zu begehen.“ 562
557 Cass. crim., 8. févr. 1936, DP 1936, première partie, 44 (46) m. Anm. Donnedieu de Vabres. 558 Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 365. 559 Vgl. Cass. crim., 20 avr. 1934, S. 1935, première partie, 398 (398 f.) – in dieser Entscheidung wurde nicht einmal die Drohung mit der Erschießung dreier Kameraden als hinreichendes psychisches Zwangsmittel anerkannt. 560 Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 364. 561 Vgl. Stefani/Levasseur/Bouloc, Rn. 369; Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 376. 562 „Il n’y a point de crime ou de délit sans intention de le commettre.“
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Was unter Vorsatz (intention) genau zu verstehen ist, regelt das Gesetz nicht näher, sodass insoweit auf die Erkenntnisse von Rechtsprechung und Lehre zurück zu greifen ist. Dort definiert man Vorsatz als den Willen, ein strafrechtlich verbotenes Ziel zu erreichen.563 Teilweise wird auch formuliert, vorsätzlich handele, wer einen strafrechtlichen Erfolg wünsche. Das heißt jedoch nicht, dass Vorsatz ausgeschlossen wäre, nur weil ein Täter den eingetretenen Erfolgt nicht gewollt oder gewünscht hat. Das Gesetz selbst statuiert vielmehr Fälle, in denen gerade besonders schwere Folgen eines Verhaltens dem Täter die (für vorsätzliches Handeln vorgesehene) Höchststrafe eintragen – ohne dass es darauf ankäme, ob er diese Folgen gewollt hätte oder nicht.564 Im Übrigen ist die Frage freilich nicht vollends geklärt.565 Einige wichtige Anwendungsfälle regelt das Gesetz inzwischen mittels der eigenständigen Schuldkategorie der bewussten Gefährdung (mise en danger délibérée).566 Den Vorsatz unterteilt die französische Lehre traditionell in zwei Formen. Stets verlangt sie die Kenntnis des Täters, dass eine Vorschrift die Verfolgung seines Tatziels als strafbar normiert. Dieses Erfordernis wird als allgemeiner Vorsatz (dol général) bezeichnet; dies daher, weil es sich – bei aller Vielgestaltigkeit der verschiedenen Straftaten – abstrahiert gesehen doch immer zu demselben einheitlichen Befund verallgemeinern lässt: Der Täter weiß jeweils, dass er sozusagen „das Strafgesetz“ als solches verletzt.567 Gleichwohl muss sich der dol général im konkreten Fall immer auch auf die konkrete Strafvorschrift beziehen; das bloß unbestimmte Gefühl, irgendeine Straftat zu begehen, reicht nicht aus. Dass jemand die Strafvorschrift kennt, deren Erfüllung er beschuldigt wird, wird dabei vermutet: Rechtsunkenntnis schützt vor Strafe nicht.568 Manche Straftatbestände verlangen zusätzlich zu dieser allgemeinen noch eine zweite Art des Vorsatzes, den besonderen Vorsatz (dol spécial). Er bezeichnet spezifische Beweggründe, aus denen heraus der Täter gehandelt haben muss, soll sein Verhalten unter eine bestimmte Strafvorschrift fallen.569 Diese Beweggründe variieren von Tat zu Tat: Das Delikt der Unfallflucht gemäß Art. 434-10 Abs. 1 563 Stefani/Levasseur/Bouloc, Ziff. 256; ähnlich Desportes/Le Gunehec, Ziff. 470; Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 380; Debove/Falletti, S. 89; Benillouche, RSC 2005, 529 (532). 564 So etwa bei Gewalttätigkeiten gegen Personen unter 15 Jahren gemäß Art. 222-14 CP oder bei der Brandstiftung mit Todesfolge gemäß Art. 322-10 CP. 565 Im Sinne genereller Unbeachtlichkeit des Willens etwa Merle/Vitu, Tome I, Ziff. 579; Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 381; dagegen etwa Stefani/Levasseur/Bouloc, Ziff. 269. 566 Dazu noch unten in diesem Teil, C. III. 3. b) bb) (3). 567 Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 382. 568 „Nul n’est censé ignorer la loi.“, s. etwa Desportes/Le Gunehec, Ziff. 473. Soweit ersichtlich, ist diese Vermutung nicht widerleglich. 569 Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 384. – Dol spécial ist also nur dann vonnöten, wenn er in einer Strafvorschrift ausdrücklich – in dieser oder jener Form – gefordert ist.
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CP setzt etwa voraus, dass der Führer eines Fahrzeugs in dem Wissen, einen Unfall verursacht oder ermöglicht zu haben, nicht anhält (dol général: Kenntnis all dieser Umstände und ihrer Inkrimination in einer Strafvorschrift) und auf diese Weise versucht, seiner möglichen straf- oder zivilrechtlichen Verantwortung zu entgehen (dol spécial: Flucht aus eben diesem Motiv). Der Missbrauch von Gesellschaftsvermögen gemäß Art. L. 241-3 Ziff. 4 Code de commerce erfordert auf Seiten des Täters einen interessewidrigen Gebrauch des Vermögens speziell „für persönliche Ziele oder zur Begünstigung einer anderen Gesellschaft oder eines anderen Unternehmens [. . .].“ In Gestalt des dol spécial avanciert der – sonst grundsätzlich unbeachtliche570 – Beweggrund des Täters also ausnahmsweise zu einer spezifischen Voraussetzung der Strafbarkeit. In Ermangelung einer Zurechnungslehre erfasst das französische Strafrecht über den Begriff der Vorsatzschuld auch verschiedene Fälle, in denen eine eingetretene Folge (so) nicht vom Vorsatz des Täters erfasst war. Solche Konstellationen behandelt die Lehre etwa unter den Stichworten des unbestimmten (dol indéterminé oder dol imprécis) oder überholten Vorsatzes (dol dépassé oder dol praeterintentionnel).571 Beispiel: Der Täter schlägt sein Opfer vorsätzlich; infolge dessen erleidet es eine dauernde Behinderung, die der Täter weder vorhergesehen geschweige denn gewollt hat. Der Gesetzgeber lässt es in diesem Fall und einer Reihe vergleichbarer anderer dem Täter nicht zugute kommen, dass er die gravierenden Folgen nicht intendiert hat – er ist genauso strafbar wie der „gewöhnliche“ Vorsatztäter.572 Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass sich die Intensität der Verletzungshandlung nur schwer dosieren lasse und der weitere, unerwünschte Erfolg deshalb in der Regel zumindest abstrakt vorhersehbar sei.573 bb) Formen unvorsätzlicher Schuld Der eben zitierte Grundsatz, dass es ohne Vorsatz weder Verbrechen noch Vergehen gebe, wird in den weiteren Absätzen des Art. 121-3 CP wie folgt relativiert: 570 Der Beweggrund kann allerdings, positiv wie negativ, Einfluss auf die Strafzumessung haben; Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 384; sogar diesbezüglich zurückhaltend dagegen Stefani/Levasseur/Bouloc, Rn. 263. 571 Stefani/Levasseur/Bouloc, Ziff. 271; Desportes/Le Gunehec, Ziff. 481 f. 572 Vgl. etwa Artt. 222-9 und 222-11 CP. 573 Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 389. Eine Grenze besteht allerdings: Wer durch eine vorsätzliche Körperverletzung unvorsätzlich den Tod des Opfers bewirkt, wird nicht als Täter eines Totschlags bestraft, s. Art. 222-7 CP. – Die Rechtsprechung macht die Figur des unbestimmten Vorsatzes auch im Bereich der Teilnahme nutzbar: Wenn hier der Haupttäter einen verschlimmernden Erfolg herbei führt, erstreckt sich die strafrechtliche Mitverantwortlichkeit des Teilnehmers ungeachtet seines insoweit fehlenden Vorsatzes auf diesen Erfolg, und zwar selbst dann, wenn dieser nicht abstrakt vorhersehbar war: Cass. crim., 28 oct. 1965, JCP 1966.II.14524; vgl. Merle/Vitu, Tome I, Ziff. 558; Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 389.
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[Nochmals:] „Es gibt kein Verbrechen und kein Vergehen ohne den Vorsatz, ein solches zu begehen. Im Fall der bewussten Gefährdung eines anderen liegt jedoch ein Vergehen vor, wenn das Gesetz dies vorsieht. Wenn das Gesetz dies vorsieht, liegt ein Vergehen ebenfalls vor im Fall schuldhafter Unvorsichtigkeit, Nachlässigkeit oder der Verletzung einer per Gesetz oder Verordnung vorgesehenen Sorgfalts- oder Sicherungspflicht, sofern der Täter nachweislich nicht die übliche Sorgfalt beachtet hat; dabei sind gegebenenfalls die Natur seiner Aufgaben oder Funktionen, seine Zuständigkeiten sowie seine Befugnisse und die Möglichkeiten, über die er verfügte hat, zu berücksichtigen. Im Fall des vorgenannten Absatzes sind natürliche Personen, die den Schaden nicht direkt verursacht haben, jedoch die schadensträchtige Situation geschaffen oder dazu beigetragen oder keine Maßnahmen zu deren Abwendung getroffen haben, strafbar, wenn sie nachweislich entweder offenkundig bewusst eine per Gesetz oder Verordnung vorgesehene besondere Sorgfalts- oder Sicherungspflicht verletzt haben oder ihnen eine charakteristische Schuld zur Last fällt, durch die eine andere Person einem Risiko von besonderer Schwere ausgesetzt wurde, das sie nicht übersehen konnten. Die Strafbarkeit wegen einer Übertretung ist im Fall höherer Gewalt ausgeschlossen.“ 574
Die komplizierte Konzeption entspricht nicht mehr der ursprünglichen Regelung von 1994. Damals beschränkte sich Art. 121-3 CP auf drei knapp gehaltene Absätze. Die jetzige Fassung ist das Ergebnis zweier jüngerer Gesetzesreformen, die beide darauf abzielten, die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit insbesondere für Bürgermeister und andere öffentliche Entscheidungsträger einzuschränken.575 Analysiert man die neue Regelung, so lassen sich vier Formen unvorsätzlicher Schuld unterscheiden:576 die bewusste Gefährdung gemäß Abs. 2, die einfache Fahrlässigkeit gemäß Abs. 3, die qualifizierten Fahrlässigkeitsformen des Abs. 4 sowie
574 „Toutefois, lorsque la loi le prévoit, il y a délit en cas de mise en danger délibérée de la personne d’autrui. Il y a également délit, lorsque la loi le prévoit, en cas de faute d’imprudence, de négligence ou de manquement à une obligation de prudence ou de sécurité prévue par la loi ou le règlement, s’il est établi que l’auteur des faits n’a pas accompli les diligences normales compte tenu, le cas échéant, de la nature de ses missions ou de ses fonctions, de ses compétences ainsi que du pouvoir et des moyens dont il disposait. Dans le cas prévu par l’alinéa qui précède, les personnes physiques qui n’ont pas causé directement le dommage, mais qui ont créé ou contribué à créer la situation qui a permis la réalisation du dommage ou qui n’ont pas pris les mesures permettant de l’éviter, sont responsables pénalement s’il est établi qu’elles ont, soit violé de façon manifestement délibérée une obligation particulière de prudence ou de sécurité prévue par la loi ou le règlement, soit commis une faute caractérisée et qui exposait autrui à un risque d’une particulière gravité qu’elles ne pouvaient ignorer. Il n’y a point de contravention en cas de force majeure.“ 575 Näher dazu Pfefferkorn, S. 21 ff., 95 ff.; Pradel, Droit pénal comparé, Rn. 204. 576 So etwa Desportes/Le Gunehec, Ziff. 484, 499 am Ende.
C. Der Straftatbegriff in Frankreich
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schließlich – implizit – die Schuld im Kontext der Übertretungen, Abs. 5. Zum besseren Verständnis sei im Folgenden zunächst auf die einfache Fahrlässigkeit eingegangen, danach auf die gesteigerten Schuldformen der qualifizierten Fahrlässigkeit und der bewussten Gefährdung(en), bevor zum Schluss die Übertretungsschuld thematisiert wird. (1) Einfache Fahrlässigkeit Die obigen Ausführungen zum élément matériel der Straftat haben die Fahrlässigkeitstat nicht behandelt, und zwar aus folgendem Grund: Zwar hat auch die Fahrlässigkeit selbstverständlich eine materielle Seite. Diese erschöpft sich aber nach herrschender französischer Meinung in der bloßen Herbeiführung des Taterfolgs. Dogmatisch zu verorten und zu entfalten ist die Fahrlässigkeit daher innerhalb des èlément moral.577 Die in Art. 121-1 Abs. 3 geregelte einfache Fahrlässigkeit (faute d’imprudence oder faute de négligence) ist die häufigste unter den nicht vorsätzlichen Schuldformen.578 Sie ist etwa gefordert in den Tatbeständen der (einfachen) fahrlässigen Tötung, Körperverletzung oder Brandstiftung,579 die in ihrem Wortlaut teils ausdrücklich Bezug auf die allgemeine Regelung nehmen, sie teils wortgleich wiederholen, mitunter aber auch terminologisch leicht variieren. So ist wegen fahrlässiger Tötung strafbar, wer durch Ungeschick, Unvorsichtigkeit, Unaufmerksamkeit, Nachlässigkeit oder durch Verletzung einer per Gesetz oder Verordnung vorgesehenen Sicherungs- oder Sorgfaltspflicht den Tod eines anderen Menschen verursacht. Sowohl die allgemeine als auch die besonderen Umschreibungen einfacher Fahrlässigkeit sind im Gesetz nicht weiter konkretisiert; und auch dem Schrifttum lässt sich insoweit keine präzise Definition entnehmen.580 Erschwerend wirkt sich auf die Suche nach einer solchen Definition aus, dass sie erhebliche Wirkungen auch für das Zivilrecht zeitigt. Denn seit einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 1912 geht die französische Rechtsprechung von einer prinzipiellen Identität zwischen straf- und zivilrechtlicher Fahrlässigkeit aus; dieses 577 Entsprechend erwähnen Vertreter der herrschenden Auffassung in ihren Ausführungen zum élément matériel die Fahrlässigkeit oft gar nicht; vgl. auch den Überblick von Lelieur/Pfützner/Volz, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 3, S. 513 (525). Eine Gegenansicht vertreten etwa Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 385, denen zufolge Fahrlässigkeit eine Doppelfunktion zukommt. Aus rechtsvergleichender Sicht vgl. Pfefferkorn, S. 27. 578 Desportes/Le Gunehec, Ziff. 484-1. Synonym findet sich – etwa bei Stefani/Levasseur/Bouloc, Ziff. 272 – auch der Terminus von der faute pénale ordinaire oder schlicht faute pénale, der aus der klassischen französischen Strafrechtswissenschaft stammt. 579 Artt. 221-6 Abs. 1, 222-19 Abs. 1, 322-5 Abs. 1 CP; weitere Beispiele bei Desportes/Le Gunehec, Ziff. 486. 580 Vgl. Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 385.
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2. Teil: Landesberichte
Identitätsprinzip gilt mit Einschränkungen auch heute noch.581 Die Entscheidung über einen strafrechtlichen Schuldspruch ist vor diesem Hintergrund jedenfalls potenziell verwoben mit der Frage nach der Angemessenheit zivilrechtlichen Schadensersatzes. Ohne unzulässige Vergröberung kann man die vorfindbaren Definitionsversuche wohl auf diesen Nenner bringen: Fahrlässig-schuldhaft handelt derjenige, der die in einer Situation normalerweise gebotene innere Wachsamkeit nicht an den Tag legt und infolge dessen eine strafrechtlich relevante Folge seines Verhaltens nicht vorher sieht.582 In diesem Zusammenhang war vor den Reformen des Art. 121-3 CP vor allem umstritten, ob die so verstandene Fahrlässigkeit „in abstracto“ oder „in concreto“ zu bestimmen sei – wobei über die exakte Bedeutung dieser Termini allerdings keine Einigkeit bestand.583 In der Literatur herrscht heute die Auffassung vor, der in Art. 121-3 Abs. 3 CP manifestierte Wille des Reformgesetzgebers gebiete eine „konkrete“ Beurteilung.584 In der Tat sind nach der Neuregelung die individuellen Aufgaben, Funktionen, Zuständigkeiten, Befugnisse und Möglichkeiten des Handelnden zu berücksichtigen. Um zu klären, ob der so „konkretisierten“ Person Fahrlässigkeit anzulasten ist, misst man sie freilich (weiterhin) an einer abstrakten Maßstabsfigur: dem Durchschnittsmenschen (homme moyen)585 oder, wie es die Klassiker bereits formulierten, dem „guten Familienvater“ (bon père de famille).586 Entsprechend hat die Rechtsprechung auch nach den Reformgesetzen etwa die von einem Arzt zu verlangende Wachsamkeit nach dem Prototyp eines Arztes beurteilt,587 die von einem Geschäftsführer zu fordernde nach dem Prototyp eines Geschäftsführers.588 (2) Qualifizierte („charakteristische“) Fahrlässigkeit Art. 121-3 Abs. 4 Fall 2 CP sieht – Abs. 3 einschränkend – eine Strafbarkeit natürlicher Personen vor, die durch „charakteristische (Fahrlässigkeits-)Schuld“ (faute caractérisée) ein besonders schweres und nicht zu übersehendes Schadensrisiko geschaffen haben. Die Vorschrift greift jedoch nur dann ein, wenn die na581
s. etwa Stefani/Levasseur/Bouloc, Ziff. 276; Pfefferkorn, S. 37 ff. Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 385; Desportes/Le Gunehec, Ziff. 487. 583 Vgl. Desportes/Le Gunehec, Ziff. 490; nicht recht klar etwa auch die Darstellung bei Benillouche, RSC 2005, 529 (542 ff.), der für eine Beurteilung „in concreto“ eintritt und diese als Bestandteil einer neuen Schuldtheorie präsentiert. Aus deutscher Perspektive vgl. Pfefferkorn, S. 42 ff., 115 ff. 584 Ausführlich Pfefferkorn, S. 115 ff. 585 Desportes/Le Gunehec, Ziff. 490. 586 Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 385 f. 587 Cass. crim., 23 oct. 2001, Bull. crim. n ë 217 (S. 689 [691]); 23 oct. 2001, Bull. crim. n ë 218 (S. 692 [695]). 588 Cass. crim., 19 nov. 1996, Bull. crim. n ë 413 (S. 1200 [1203]); 12 mars 1997, Bull. crim. n ë 101 (S. 335 [336 f.]). 582
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türliche Person den eingetretenen Schaden indirekt verursacht hat. Sie verknüpft also die Bestimmung der strafbaren Fahrlässigkeit mit der Frage der Kausalität.589 Die Abgrenzung zwischen direkt und indirekt verursachten Schäden ist damit von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung über die Strafbarkeit. Zugleich erscheint sie, wie die Literatur kritisch anmerkt, nicht sonderlich trennscharf.590 Damit kommt es in der Praxis letztlich den Gerichten zu, in diesem Punkt für Rechtssicherheit zu sorgen. Entscheidend für die Frage der Strafbarkeit ist ferner, was unter einer charakteristischen (Fahrlässigkeits-)Schuld genau zu verstehen ist. Auch insoweit besteht eine erhebliche Unschärfe: Das Attribut „caractérisé(e)“ ist dem französischen Strafrecht im Übrigen fremd, seine Aufnahme in Art. 121-3 Abs. 4 war das Ergebnis eines politischen Kompromisses. Aus den Debatten während des Gesetzgebungsverfahrens lässt sich nicht mehr folgern, als dass die Fahrlässigkeit mehr als nur leicht sein muss, aber auch nicht von außergewöhnlicher Schwere zu sein braucht.591 Es liegt auf der Hand, dass auch hier nur die Entscheidungspraxis der Gerichte auf längere Sicht Klarheit schaffen kann. (3) Bewusste Gefährdungen Der erste Fall des Art. 121-3 Abs. 4 CP macht – ebenfalls einschränkend – die Strafbarkeit einer natürlichen Person davon abhängig, dass diese offenkundig bewusst (manifestement délibérée) eine per Gesetz oder Verordnung vorgesehene besondere Sorgfalts- oder Sicherungspflicht verletzt hat. Es handelt sich demnach um einen Fall bewusster Fahrlässigkeit, der in seiner Formulierung eine Verwandtschaft mit der bewussten Gefährdung (mise en danger délibérée) gemäß Art. 121-3 Abs. 2 CP aufweist. Die herrschende Meinung setzt denn auch in der Tat beide Fälle gleich.592 Im Besonderen Teil findet sich die bewusste Gefährdung zum einen in diversen qualifizierten Fahrlässigkeitstatbeständen wieder,593 zum anderen in dem allgemeinen Gefährdungsdelikt des Art. 223-1 CP. Die Frage nach der Abgrenzung dieser bewussten (nach Wortlaut und Systematik des Art. 121-3 CP:) Fahrlässigkeit von den Fällen vorsätzlicher Schuld ist, obwohl sie sich aufdrängt, in Frankreich nicht geklärt. Vielmehr ist es in der Literatur sogar umstritten, ob Art. 2231 CP ein Fahrlässigkeits- oder doch ein Vorsatzdelikt ist.594 Die Rechtsprechung 589
Vgl. hierzu oben in diesem Teil, C. III. 2. c). Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 386, sprechen kritisch von „distinctions byzantines“. 591 Desportes/Le Gunehec, Ziff. 498-2. 592 Merle/Vitu, Tome I, Ziff. 604; Leroy, S. 241; Desportes/Le Gunehec, Ziff. 484; Pradel, Droit pénal général, Ziff. 511; Robert, Droit pénal général, S. 316. 593 Vor allem Artt. 221-6 Abs. 2, 222-19 Abs. 2, 322-5 Abs. 2 CP. 594 Näher dazu mit Nachweisen Pfefferkorn, S. 82 ff. 590
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2. Teil: Landesberichte
tendiert ihrerseits generell dazu, an der Grenze zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit den Ersteren um so eher zu bejahen, je höher ihr das kriminalpolitische Interesse an einer harten gesellschaftlichen Reaktion erscheint.595 Dabei folgert sie den Vorsatz regelmäßig ohne Weiteres aus den äußeren Umständen.596 cc) Übertretungsschuld Abzuschließen ist die Darstellung der Schuldformen mit der faute contraventionnelle, der Schuld im Bereich der Übertretungen. Hier sind die Anforderungen denkbar niedrig: Bei der großen Mehrheit aller Übertretungen genügt es, wenn deren éléments légal und matériel erfüllt sind; darin liegt zugleich auch schon die Schuld selbst oder zumindest eine Vermutung für die Schuld.597 Diese Straftaten werden dementsprechend als infractions matérielles598 bezeichnet. Bis zum Inkrafttreten des neuen Code pénal beschränkten sie sich nicht auf Übertretungen, sondern umfassten auch einzelne délits. Sachlich betreffen die infractions matérielles seit jeher vorrangig den Bereich des Polizei- und Ordnungsrechts.599 Denn dort komme es in besonderem Maße darauf an, Ordnung und Disziplin schnell und unnachsichtig durchzusetzen. Im Übrigen ziehe die Begehung einer bloßen Übertretung keinen sozialen Tadel nach sich.600 Wie bereits im englischen Landesbericht dargestellt, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Konzept der infractions matérielles grundsätzlich gebilligt.601 Art. 121-3 Abs. 5 CP stellt immerhin klar, dass jedenfalls höhere Gewalt eine Bestrafung wegen einer Übertretung ausschließt. In der Literatur wird zudem vertreten, dass auch fehlende Strafmündigkeit oder Geisteskrankheit oder rechtfertigender Notstand das élément moral einer Übertretung auszuschließen vermögen.602 595
Instruktiv Mercadal, RSC 1967, Ziff. 17. Pfefferkorn, S. 74 ff., 82 f. Nach dem oben in diesem Teil, bei C. III. 3. b) aa) Ausgeführten müsste hingegen das entscheidende Abgrenzungskriterium an sich der Wille des Handelnden sein, den tatbestandlichen Erfolg zu erreichen. In diesem Sinne denn auch etwa Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 390. 597 Stefani/Levasseur/Bouloc, Ziff. 278. 598 Nicht zu verwechseln mit dem oben – in diesem Teil, C. III. 2. a) – eingeführten gleichlautenden Terminus, der das Erfordernis eines Taterfolgs zum Ausdruck bringt (im Gegensatz zu den infractions formelles, die keinen Erfolg voraussetzen). Zu der etwas misslichen Verwendung desselben Begriffs für unterschiedliche Deliktsgruppen s. etwa Desportes/Le Gunehec, Ziff. 445 mit Fn. 1. 599 Diese infractions matérielles gibt es seit dem frühen 19. Jahrhundert. Damals beschränkten sie sich nicht auf den Bereich der Übertretungen, sondern umfassten auch leichtere délits (und generell den Bereich des Polizeistrafrechts); s. Merle/Vitu, Tome I, Ziff. 592 ff., dort auch zum Folgenden. 600 Desportes/Le Gunehec, Ziff. 499. 601 EGMR, Salabiaku-Urteil vom 7.10.1988, Serie A, Nr. 141-A, Ziff. 27 (vgl. oben in diesem Teil, B. III. 2. b) ee) (3) (Fn. 342). 602 Dana, S. 273; ihm folgend Stefani/Levasseur/Bouloc, Ziff. 277. 596
C. Der Straftatbegriff in Frankreich
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dd) Der Schuldausschluss wegen Irrtums Die französische Irrtumslehre unterscheidet traditionell zwischen zwei Konstellationen: dem Tatsachenirrtum (erreur de fait) und dem Rechtsirrtum (erreur de droit). Der Erstere liegt vor, wenn jemand ein konstituierendes Merkmal der Straftat nicht erfasst – etwa: die Fremdheit einer Sache beim Diebstahl. In solch einem Fall handelt er nicht vorsätzlich und ist insoweit straflos.603 Grundsätzlich nicht anwendbar ist der erreur de fait dagegen auf Fahrlässigkeitsdelikte, denn in deren Kontext sei eine Fehlvorstellung über die Situation regelmäßig gerade Ausdruck der Fahrlässigkeit.604 Und ebenso unerheblich ist ein Tatsachenirrtum grundsätzlich auch im Bereich der infractions matérielles, die ja ohnehin keinen Nachweis individueller Schuld erfordern. Ausnahmsweise entlastend wirkt ein Tatsachenirrtum hier jedoch, wenn er „unabwendbar“ war.605 Ob auch die irrtümliche Annahme einer rechtfertigenden Sachlage einen erreur du fait darstellt, ist in Frankreich umstritten. Die wohl herrschende Ansicht in der Literatur bejaht dies mit der Begründung, dass in solchen Konstellationen dem Handelnden der Wille fehle, das Gesetz zu brechen – allenfalls könne er ein Fahrlässigkeitsdelikt verwirklichen.606 Weithin vertreten wird aber auch, dass der einen rechtfertigenden Sachverhalt irrig Annehmende nur dann gerechtfertigt ist, wenn sein Irrtum „wahrscheinlich“ war bzw. einer verständigen Person ebenfalls unterlaufen wäre.607 So urteilt grundsätzlich wohl auch die Rechtsprechung; andererseits lässt sie selbst eine plausible Fehlvorstellung nicht als entlastend gelten, wenn die vermeintliche Verteidigung einen „allzu unentschuldbaren“ Schaden (par trop inexcusable) verursacht hat.608 Anders als der Tatsachenirrtum hat der Rechtsirrtum (erreur de droit) die Strafbarkeit des Handelnden lange Zeit nicht auszuschließen vermocht: Kenntnis und richtiges Verständnis des Rechts wird grundsätzlich jedermann unterstellt, zumal von Seiten der Rechtsprechung.609 Die Lehre hat demgegenüber zu beden603
Stefani/Levasseur/Bouloc, Ziff. 439. Desportes/Le Gunehec, Ziff. 682. 605 Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 396. 606 Merle/Vitu, Tome I, Ziff. 455, 588; Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 263. – Im Zusammenhang der Notwehr verlangt aber etwa Stefani/Levasseur/Bouloc, Ziff. 392, dass ein Angriff in jedem Fall tatsächlich vorliegen müsse, nicht nur in der Vorstellung des Verteidigers. 607 Desportes/Le Gunehec, Ziff. 730; Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 263; s. auch Elliott, S. 112, und Lelieur/Pfützner/Volz, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 3, S. 678 (690). 608 Im konkreten Fall: Tötung des – fälschlich für einen Einbrecher gehaltenen – eigenen Sohnes: Cass. crim., 21 déc. 1954, RSC 1956, 311. Kritisch zu einer solchen „Billigkeitsbeurteilung“ Desportes/Le Gunehec, Ziff. 730. 609 Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 397, mit Nachweisen zu einer zwischenzeitlich etwas nachsichtigeren Rechtsprechung, die später dann jedoch wieder aufgegeben wurde. 604
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2. Teil: Landesberichte
ken gegeben, dass es einen gravierenden Unterschied mache, ob sich jemand ernsthaft um die Kenntnis der Rechtslage bemüht, bevor er handelt, oder nicht.610 Diesem Gedanken trägt nunmehr Art. 122-3 CP Rechnung. Danach ist strafrechtlich nicht verantwortlich, wer einen Irrtum über die Rechtmäßigkeit seines Verhaltens belegt („justifie“), den er nicht vermeiden konnte. Um in den Genuss dieser Regelung zu kommen, muss der Beschuldigte allerdings darlegen und auch nachweisen, dass er sich aktiv, wenn auch letztlich fruchtlos, um die richtige Kenntnis des Rechts bemüht hat – etwa durch Einholung einer behördlichen Auskunft. Bei der Beurteilung, ob der vorgetragene Irrtum entschuldbar war oder nicht, wendet die Rechtsprechung einen (eher) konkret-individuellen Maßstab an.611 c) Maßgeblicher Zeitpunkt Sowohl die Zurechnungsfähigkeit als auch die Schuld des Täters müssen in dem Zeitpunkt vorliegen, in dem er das élément matériel der Straftat verwirklicht.612 Für diejenigen Umstände, die die Einsichtsfähigkeit der Person ausschließen, ergibt sich das ausdrücklich aus dem Gesetzestext, Art. 122-1 und -2 CP („au moment des faits“). d) Der Nachweis des élément moral Was schließlich noch den Nachweis des élément moral anbelangt, so lässt sich zunächst wiederum auf die obigen Ausführungen verweisen: Ausgangspunkt ist auch hier im Prinzip die Unschuldsvermutung, und das Gericht bildet sich auch zum Vorliegen des élément moral seine Überzeugung in freier Beweiswürdigung.613 Hervor zu heben ist freilich, dass die bereits erwähnten Ausnahmen von der Unschuldsvermutung im Zusammenhang des élément moral zahlreicher sind.614 Sie betreffen, wie oben schon erwähnt, einmal den gesamten Bereich der Übertretungen.615 Darüber hinaus trägt der Angeklagte die Darlegungs- und Beweis610
Desportes/Le Gunehec, Ziff. 687. Vgl. Cass. crim., 5 mars 1997, Bull. crim. n ë 84 (S. 283 [286]); Cass. crim., 19 mars 1997, JCP 1998, 10095 m. Anm. Fardoux; 17 févr. 1998, B. n ë 60 (S. 162 [165]); Cass. crim., 24 nov. 1998, JCP 1999, 10208; Cours d’appel de Paris, 9 nov. 2000, Dr. pén. 2001, Nr. 57. 612 Stefani/Levasseur/Bouloc, Ziff. 253. 613 Vgl. oben in diesem Teil, C. III. 1. b) cc); bekräftigend speziell für das élément moral etwa Stefani/Levasseur/Bouloc, Ziff. 278. 614 Merle/Vitu, Tome II, Ziff. 150. 615 Oben in diesem Teil, C. III. 3. b) cc), ergänzend Merle/Vitu, Tome II, Ziff. 145; Stefani/Levasseur/Bouloc, Ziff. 278. 611
D. Der Straftatbegriff in Polen
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last nicht nur – wie eben gesehen – für den Fall eines Rechtsirrtums, sondern auch für das Vorliegen von Zwang oder einer psychischen oder nervlichen Störung.616 Und schließlich neigt die Rechtsprechung oftmals dazu, aus dem Vorliegen des élément matériel ohne Weiteres auf einen korrespondierenden Vorsatz zu schließen und dem Beschuldigten den Beweis fehlenden Vorsatzes aufzuerlegen.617
D. Der Straftatbegriff in Polen I. Einführung Wenn in der Einleitung dieser Arbeit konstatiert wurde, dass die Lehre von der Straftat dem deutschen Strafrechtler heute als eine rein nationale Angelegenheit erscheint, so kann man dem mit Blick auf Polen hinzufügen: Falls denn doch einmal ein suchendes Auge über die Grenze hinaus schweift, dann wohl in den seltensten Fällen zu diesem östlichen Nachbarn. In der Tat dürfte das polnische Verbrechenssystem unter den hier behandelten dasjenige sein, von dem der durchschnittlich interessierte deutsche Strafrechtler zunächst am wenigsten Kenntnis besitzt oder zu besitzen glaubt. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: Zwar ist der Warschauer Pakt seit zwanzig Jahren Geschichte; zwar ist Polen seit dem 1. Mai 2004 Mitgliedstaat der Europäischen Union. Offensichtlich bedarf es aber noch längerer Zeit, um einen Eisernen Vorhang, der über Jahrzehnte hinweg auch die Rechtswissenschaftler – oder besser: viele von ihnen – voneinander getrennt hat,618 endgültig beiseite zu schieben. Hinzu kommt schließlich für viele eine sprachliche Barriere, die in ihren Auswirkungen nicht zu unterschätzen ist.619 Auf der anderen Seite hat gerade diese, wenn man so sagen darf, „Fremdheit“ natürlich auch ihren Reiz. Denn die besondere Geschichte und Entwicklung Polens und seines Strafrechts versprechen im Idealfall auch besondere Erkenntnisse für eine rechtsvergleichende Untersuchung der Straftat. Um diese Erkenntnisse zutage zu fördern, empfiehlt es sich wieder, mit einem Rückblick in die Geschichte zu beginnen.
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Delmas-Marty, Droits 1996, 53 (57); Merle/Vitu, Tome II, Ziff. 151. Lelieur/Pfützner/Volz, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 3, S. 678 (680). 618 Vgl. die einleitenden Bemerkungen E. Weigends, ZStW 90 (1978), 481. – Dabei haben gerade die Wissenschaftler des Freiburger Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht auch in frostigsten Zeiten des Kalten Krieges einen deutsch-polnischen Strafrechtsdialog gepflegt, s. Jescheck, in: ders./Kaiser, S. 14 (15 ff.); ders., FS Spendel, S. 849 (851 f.). 619 Vgl. – nicht nur auf Polen bezogen – Tiedemann, FS Lenckner, S. 411 (413). 617
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2. Teil: Landesberichte
II. Historische Entwicklung Bekanntlich hat Polen in der Vergangenheit lange unter der Herrschaft fremder Mächte gestanden – und damit auch unter der Herrschaft fremder Rechtsordnungen. Hatte das Land ursprünglich wie seine westlichen Nachbarn das römische Recht rezipiert und an dem sich anschließenden „europäisch-strafrechtlichen Dialog“ 620 teilgehabt, so blieb es ihm in der Folgezeit zunächst verwehrt, auf dieser Grundlage ein eigenes nationales Strafrecht moderner Prägung zu entwickeln. Infolge der polnischen Teilungen von 1772, 1793 und 1795 galten in den drei entstandenen Landesteilen vielmehr die Rechte der Besatzungsmächte Russland, Preußen und Österreich.621 Dies ist der historische Hintergrund, vor welchem im Verlauf des 19. Jahrhunderts polnische Theoretiker wie Romuald Hube622, Stanisław Budzin´ski623 oder Edmund Krzymuski624 erste allgemeine Verbrechenslehren vorlegten.625 Im Jahr 1896 veröffentlichte der Lwówer Professor Juliusz Makarewicz in deutscher Sprache seine wegweisende Schrift „Das Wesen des Verbrechens“.626 Erst im Jahr 1918, am Ende des Ersten Weltkriegs, errang Polen seine nationale Souveränität vollständig zurück.627 Von da an lassen sich strafrechtshistorisch drei Phasen unterscheiden: die Zwischenkriegszeit, die sozialistischen Jahrzehnte und die Zeit nach der politischen Wende. 1. Zwischen den Weltkriegen Auch nach der Unabhängigkeit Polens galten in den einzelnen früheren Teilungsgebieten zunächst für eine ganze Weile die unterschiedlichen Strafrechte der alten Besatzer fort.628 Zwar bestand selbstredend ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Rechtseinheitlichkeit; ebenso selbstverständlich ließ sich diese aber nicht 620 Vgl. Wirschubski, S. 5; Jescheck, FS Spendel, S. 849 (849 f.). Zu diesem europäisch-strafrechtlichen Dialog vgl. oben Erster Teil, A. I. 621 Spotowski, ZStW 87 (1975), 742; Andrejew, ZStW 99 (1987), 152 (155); Lewandowski, S. 22 ff. 622 Ogólne zasady nauki prawa karnego (Allgemeine Prinzipien der Strafrechtslehre), Warszawa 1830. 623 Wykład porównawczy Prawa Karnego (Vergleichende Vorlesung im Strafrecht), Warszawa 1868. 624 Wykład Prawa Karnego (Vorlesung im Strafrecht), Bd. I, Kraków 1887. 625 Näher dazu Lewandowski, S. 26 ff. 626 Zu Makarewicz und seinem Einfluss auf die polnische Strafrechtswissenschaft sogleich näher. 627 Zuvor war 1818 ein erstes modernes „Strafgesetzbuch für das Polnische Königreich“ verabschiedet worden; Andrejew, in: Mezger/Schönke/Jescheck, S. 7 (15 f.). 628 Im Einzelnen waren dies: das österreichische StGB von 1852, das preußische RStGB von 1871, das ungarische StGB von 1878 sowie die russischen Strafgesetzbücher von 1903 (in Kongress-Polen) und von 1845 (in den restlichen ehemals russischen
D. Der Straftatbegriff in Polen
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über Nacht erreichen. Denn natürlich stellte es alles andere als eine geringe Herausforderung dar, dem anderthalb Jahrhunderte gespaltenen Land ein neues, einheitliches Strafrecht zu vermachen. Die polnischen Strafrechtler der Zeit avancierten vor diesem Hintergrund – wie Andrejew es treffend ausgedrückt hat – zu „Komparatisten aus Notwendigkeit“ 629. Eine führende Rolle unter ihnen nahm der bereits erwähnte Makarewicz ein. Er zuvörderst war es auch, der schließlich mit der Erarbeitung einer neuen Kodifikation betraut wurde.630 Makarewicz – ehemals Auslandsstudent an den Universitäten zu Berlin, Halle und Paris und Bekannter Franz v. Liszts631 – war ein ausgewiesener Experte nicht nur im materiellen Strafrecht, sondern gerade auch auf dem Gebiet seiner Vergleichung. Er war mit den neuen Entwicklungen der westlichen Dogmatik bestens vertraut, besaß insbesondere ausgezeichnete Kenntnisse des deutschen, österreichischen sowie des schweizerischen Strafrechts. Diese Einflüsse schlugen sich sichtbar nieder in seinem Entwurf eines Strafgesetzbuchs, der 1932 schließlich als erster polnischer Kodeks karny632 Gesetzeskraft erlangte und im Rückblick als eine der „besten Leistungen der Strafgesetzgebung im Europa jener Zeit“ 633 gehandelt wird. Im Sinne der deutschen soziologischen Schule verankerte Makarewicz zuallererst den nullum-crimen-Satz in Art. 1 seines Textes:634 „Der strafrechtlichen Verantwortlichkeit unterliegt, wer eine Tat begeht, die durch das im Zeitpunkt ihrer Begehung geltende Gesetz bei Strafandrohung verboten war.“ 635
Und auch bei der dogmatischen Ausgestaltung der Tatbestandslehre, der in Anbetracht von Art. 1 jetzt ja wegweisende Wichtigkeit zukam, orientierte die polnische Lehre sich anfangs an der deutschen Dogmatik, insbesondere an Belings Tatbestandskonzept.636 Rezipiert wurde damit zugleich der ganze klassische deutsche Verbrechensaufbau, das positivistisch geprägte Verständnis der Landesteilen); s. näher Wirschubski, S. 6, auch zu den Gründen für deren einstweiliges Inkraftbleiben. 629 Andrejew, ZStW 99 (1987), 152 (155). 630 Zu ihr ausführlich Lityn ´ski, Wydział Karny Komisji Kodyfikacyjnej II Rzeczypospolitej, 1991, und Lewandowski, S. 59 ff. 631 Üblicherweise wird berichtet, dass Makarewicz Vorlesungen bei v. Liszt gehört habe, s. etwa Spotowski, ZStW 87 (1975), 742. Bestritten hat dies Sługocki, Palestra 1992, Nr. 9–10, S. 64 (65). 632 Hier nachfolgend als KK 1932 bezeichnet. Eine deutsche Übersetzung liefert Chodzidlo, S. 15 ff. 633 Jescheck, FS Spendel, S. 849 (850); lobend auch Andrejew, in: Mezger/Schönke/ Jescheck, S. 7 (16 f., 18 f.). Aus zeitgenössischer deutscher Sicht skeptisch Busch, ZStW 55 (1936), 621 ff. 634 Vgl. Makarewicz, S. 51 ff. 635 „Odpowiedzialnos ´ c´i karnej ulega ten, kto dopuszcza sie˛ czynu, zabronionego pod groz´ba˛, kary przez ustawe˛ obowia˛zuja˛ca˛ w czasie jego popełnienia.“ 636 E. Weigend, ZStW 90 (1978), 481 (484). Zum Liszt-/Belingschen Verbrechensbegriff s. auch schon oben A. I. 1.
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2. Teil: Landesberichte
Straftat also als einer strafgesetzlich verbotenen, rechtswidrigen und schuldhaften Handlung. 2. Strafrecht unter sowjetischem Stern a) Politische Entwicklung Mit dem Zweiten Weltkrieg begann für Polen eine neuerliche Phase der Fremdherrschaft. 1939 zunächst vom nationalsozialistischen Deutschland überfallen, geriet es 1944 unter den dominierenden Einfluss der Sowjetunion. Die gesellschaftlichen Veränderungen, die damit einher gingen, ließen natürlich auch das Strafrecht nicht unbeeinflusst. Zwar blieb das alte Strafgesetzbuch, das sich sowohl in der Praxis bewährt hatte als auch die Sympathie der Wissenschaft besaß,637 noch eine ganze Weile in Kraft.638 Aber wie alle Sphären des öffentlichen Lebens, so musste auch das Strafrecht nun mit der sozialistischen Weltanschauung konform gehen.639 Es lag nahe, diese Konformität (auch) über den Straftatbegriff herzustellen, den Dreh- und Angelpunkt eines jeden Strafrechtssystems. So geschah es denn auch: Dem sowjetischen Vorbild folgend, führte man den so genannten „materiellen Verbrechensbegriff“ als neuen, zentralen Leittopos in das polnische Strafrecht ein. Wegen seiner bis heute nachwirkenden Konsequenzen lohnt es sich, diesen Leittopos hier ausführlicher darzustellen. b) Der materielle Verbrechensbegriff aa) Historischer Ursprung Der materielle Verbrechensbegriff im hier interessierenden Sinne ist historisch betrachtet ein Produkt sozialistisch-revolutionärer Weltanschauung zu Anfang des 20. Jahrhunderts.640 Die Bezeichnung als „materiell“ wird verständlich, wenn man sie zu einer „formellen“ Auffassung des Verbrechens in Kontrast setzt. Letztere gründet sich auf das Dogma, dass strafbar nur solch ein Verhalten sein kann, das in einem geschriebenen, klar umrissenen Tatbestand (insofern formell) als strafbar definiert ist. Ein derartiges, dem nullum-crimen-Satz verpflichtetes 637
Spotowski, ZStW 87 (1975), 742 (742 f.). Versuche einer Neukodifikation trafen auf heftige Kritik aus der Fachwelt, s. Andrejew, in: Mezger/Schönke/Jescheck, S. 7 (22). Daher wurden zunächst nur Teile des Strafrechts im Dekretwege „ratenweise umkodifiziert“; so Schultze-Willebrand, S. 20. 639 Sehr deutlich etwa in dem für Studenten bestimmten Werk von Andrejew/Lernell/ Sawicki, s. dort nur S. 13 ff. (zum Klassencharakter des polnischen Strafrechts und dessen qualitativem Unterschied zum Strafrecht der vorsozialistischen Zeit). 640 Indecki/Liszewska, S. 81; Maurach, Recht in Ost und West 1957, 137 (138 ff.), Schultze-Willebrand, S. 27 jeweils auch zum Folgenden. – Andrejew, ZStW 99 (1987), 152 (159), führt den materiellen Begriff der Straftat dagegen auf „alte Forderungen der Aufklärung“ zurück; s. auch dens./Lernell/Sawicki, S. 76. 638
D. Der Straftatbegriff in Polen
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Verständnis der Straftat prägte während der späten Zarenzeit auch die Strafgesetze Russlands, wurde dann aber mit dem Schwung der Oktoberrevolution radikal beiseite gefegt: Von nun an befanden die sowjetrussischen Gerichte und Tribunale losgelöst von jeglicher tatbestandlichen Bindung, nur mehr nach Maßgabe des revolutionären Gewissens und Rechtsempfindens (insofern „materiell“) darüber, ob eine Handlung ein Verbrechen darstellte oder nicht. Im Jahr 1918 wurde diese Praxis nachträglich durch ein Dekret offiziell autorisiert.641 Um der inzwischen eingetretenen und noch weiter drohenden Rechtszersplitterung Einhalt zu gebieten, gab der Gesetzgeber den russischen Richtern freilich ein Jahr später, im Dezember 1919, so genannte „Leitende Grundsätze“ an die Hand.642 Konkrete Tatbestände enthielten diese nach wie vor nicht, wohl aber eine allgemeine Umschreibung dessen, was materiell ein Verbrechen ausmache. Das entscheidende Kriterium sollte die Gefährlichkeit einer Handlung oder Unterlassung für „das gegebene System der gesellschaftlichen Beziehungen“ sein.643 Zugleich wurde die Gefährlichkeit des Täters zur maßgeblichen Richtschnur für die Strafzumessung. Eine nochmalige „Konkretisierung“ der Rechtslage brachte nur kurze Zeit darauf das neue Kriminalgesetzbuch für die Russische Sowjetrepublik von 1922. Dieses führte zwar wieder einen Besonderen Teil ein. Art. 10 des Gesetzes sah daneben aber ausdrücklich die Bestrafung von Verhaltensweisen im Wege des Analogieschlusses vor;644 und als Leitbild für solch einen Analogieschluss diente abermals das Konzept des allgemeinen „materiellen“ Verbrechens. Dieses war in Art. 6 wie folgt definiert: „Als Delikt werden alle gesellschaftlich gefährlichen Handlungen oder Unterlassungen angesehen, die die Grundlagen der Sowjetverfassung und diejenige Rechtsordnung bedrohen, die von der Arbeiter- und Bauernregierung für die Zeit des Übergangs zum kommunistischen Staat geschaffen worden ist.“ 645 641 Dekret vom 10.12.1918 (Gesetzessammlung der Gesetze und Verordnungen der Arbeiter- und Bauernregierung Nr. 85 Art. 889). – Schon im November 1917 waren die Gerichte angewissen worden, bestehende Gesetze nur noch insoweit anzuwenden, als sie nicht dem revolutionären Gewissen und Rechtsempfinden zuwider liefen, s. Dekret vom 24.10.1917 (Gesetzessammlung der Gesetze und Verordnungen der Arbeiter- und Bauernregierung Nr. 4, Art. 50), deutscher Text bei Klibanski, S. 131 f. 642 Leitende Grundsätze des Strafrechts der RSFSR vom 12.12.1919 (Gesetzessammlung 1919, Nr. 66, Art. 590), deutscher Text bei H. Freund, Strafgesetzbuch, Gerichtsverfassungsgesetz und Strafprozessordnung Sowjetrusslands, Mannheim/Berlin/ Leipzig 1925, S. 89 ff. 643 Artt. 5, 6 der Strafrechtsgrundsätze. „Gegebenes System“ war gemäß Art. 3 dasjenige, „das den Interessen der Arbeitermasse entspricht, die sich während der Periode der Diktatur des Proletariats in der Übergangszeit vom Kapitalismus zum Kommunismus als herrschende Klasse organisiert hat“. 644 Weshalb Schultze-Willebrand, S. 27, den Besonderen Teil zu einem „exemplarischen Katalog von Richtlinien entwertet“ sieht. 645 So die deutsche Übersetzung bei Maurach, Recht in Ost und West 1957, 137 (139).
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2. Teil: Landesberichte
Nur vier Jahre später, 1926, kam es in Russland zum Erlass eines neuen Strafgesetzbuchs, das in der Folgezeit zum Vorbild für die anderen Sowjetrepubliken – und teilweise auch für die späteren Bruderstaaten des Warschauer Pakts – werden sollte.646 Auch in diesem neuen Werk verblieb es dabei, dass in einem Besonderen Teil zwar einerseits konkrete Tatbestände normiert waren, im Allgemeinen Teil zugleich aber andererseits die strafbegründende Analogie zugelassen wurde, und zwar unter Orientierung an dem erwähnten generalklauselartig formulierten materiellen Verbrechensbegriff. Letzterer erfuhr nun jedoch eine gewisse Einschränkung, Art. 6 Abs. 2: „Nicht als Verbrechen gilt eine Handlung, die zwar formal die Merkmale einer Strafdrohung des Besonderen Teils dieses Gesetzbuchs verwirklicht, jedoch wegen ihrer offensichtlichen Geringfügigkeit und mangels schädlicher Folgen des gesellschaftsgefährlichen Charakters entbehrt.“ 647
Am Ende der hier skizzierten Entwicklung ist also festzuhalten: Maßgebliches Kriterium des „materiell“ aufgefassten Verbrechens ist seine gesellschaftliche Gefährlichkeit, verstanden als Gefährlichkeit für die sozialistische Gesellschaftsordnung. Ist ein Verhalten sozialgefährlich in diesem Sinne, so kann es als Straftat geahndet werden, selbst wenn dafür keine tatbestandliche Grundlage existiert. Auf der anderen Seite stellt ein zwar tatbestandsmäßiges, aber nicht sozialgefährliches Verhalten definitionsgemäß keine Straftat dar: nullum crimen sine periculo sociali.648 bb) Das „materielle Element“ im polnischen Strafgesetzbuch von 1969 Dem sowjetischen Siegeszug in Osteuropa folgend, hielt die materielle Auffassung des Verbrechens bald Einzug in die Strafrechtsordnungen aller sozialistischen Staaten, also auch Polens.649 In der polnischen Strafrechtslehre der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde das Verbrechen – unter ausdrücklicher Berufung auf den Marxismus-Leninismus – hernach wie folgt definiert: „Das Verbrechen ist eine Handlung (d.h. das Tun oder Unterlassen) eines Menschen, die gesellschaftlich gefährlich ist, das heißt gefährlich für die werktätigen Massen im Volksdemokratischen Polen im Übergangsstadium zum Sozialismus, und zwar eine rechtswidrige, schuldhafte und durch Strafdrohung eines während der Zeit der Begehung verbindlichen Gesetzes verbotene Handlung.“ 650
Die hervorgehobene Stellung, die dem Merkmal der gesellschaftlichen Gefährlichkeit der Tat (niebezpieczenstwo społeczne czynu) hier zukommt, schlug 646 647 648 649 650
Vgl. Maurach, Recht in Ost und West 1957, 137 (139). Deutsche Übersetzung bei Maurach, Recht in Ost und West 1957, 137 (139). Andrejew, ZStW 99 (1987), 152 (159). Andrejew, ZStW 99 (1987), 152 (159). Andrejew/Lernell/Sawicki, S. 96.
D. Der Straftatbegriff in Polen
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sich im weiteren Verlauf auch kodifikatorisch nieder: In das neue polnische Strafgesetzbuch vom 19. April 1969651 ging das Erfordernis in zweifacher Weise ein: Zum einen erschien es Seite an Seite mit dem – gleichfalls ausdrücklich verankerten – Gesetzlichkeitsgrundsatz, an prominentester Stelle des Gesetzes, Art. 1: „Der strafrechtlichen Verantwortlichkeit unterliegt nur derjenige, der eine gesellschaftlich gefährliche Handlung begeht, die durch ein zur Tatzeit geltendes Gesetz unter Strafandrohung verboten ist.“ 652
Zum anderen war in Art. 26 § 1 des Gesetzes festgelegt: „Eine Tat, deren gesellschaftliche Gefährlichkeit geringfügig ist, stellt keine Straftat dar.“ 653
Es lohnt festzuhalten, dass der in Polen seit jeher geltende Grundsatz nulla poena sine lege durch diese gesetzliche Zementierung des sowjetischen materiellen Verbrechensbegriffs also nicht etwa aufgehoben wurde: Die neu eingeführte gesellschaftliche Gefährlichkeit war eine notwendige, aber keineswegs allein hinreichende Bedingung der Strafbarkeit.654 Was den Inhalt der neuen Begrifflichkeit anging, so unterlag es natürlich auch in Polen keinem Zweifel, dass gesellschaftliche Gefährlichkeit gleichbedeutend war mit einer Bedrohung der Interessen der Arbeiterklasse (bzw. deren Vertreterin, der Kommunistischen Partei).655 Was aber darüber hinaus inhaltlich unter gesellschaftlicher Gefährlichkeit zu verstehen war, welchen Grades an Gefährlichkeit es zur Begründung einer Straftat bedurfte, wurde im polnischen Strafgesetzbuch von 1969 – ebenso wie übrigens schon in seinem sowjetrussischen Vorbild – nicht näher ausgeführt.656 In der 651 Deutsche Übersetzung bei Geilke, S. 9 ff. – Das Gesetz wird im Folgenden als KK 1969 bezeichnet. 652 „Odpowiedzialnos ´ c´i karnej podlega ten tylko, kto dopuszcza sie˛ czynu społecznie niebezpiecznego, zabronionego pod groz´ba˛, kary przez ustawe˛ obowia˛zuja˛ca˛ w czasie jego popełnienia.“ Folglich war im sozialistischen Polen – anders als noch zur selben Zeit in der Sowjetunion – die strafbegründende Analogie unzulässig, s. Andrejew/Lernell/Sawicki, S. 70; dort indes auch Billigung der sowjetischen Praxis als „besonders erfolgreiches Werkzeug [. . .] für die Erfassung solcher gesellschaftlich gefährlicher Handlungen [. . .], die der Gesetzgeber unter den Verhältnissen des Umbruchs vorauszusehen nicht in der Lage war.“, S. 41. 653 „Nie stanowi przeste˛pstwa czyn, którego społeczne niebezpieczen ´ stwo jest znikome.“ 654 Vgl. Andrejew/Lernell/Sawicki, S. 70; Cieslak, ZStW 90 (1978), 504 (506 f.). 655 Andrejew/Lernell/Sawicki, S. 95: „Das Verbrechen ist eine gesellschaftlich gefährliche Handlung eines Menschen, d.h. gefährlich für die werktätigen Massen des Volksdemokratischen Polen im Zeitabschnitt des Übergangs zum Sozialismus.“ s. auch Bafia/Mioduski/Siewierski, Art. 1 Ziff. 21; Kaczmarek, ZStW 88 (1976), 1116 (1120 ff.). Kritisch zum ganzen Konzept Ma˛cior, Recht in Ost und West 1989, 16 (17 f., 20 f.). 656 Bafia/Mioduski/Siewierski, Art. 1 Ziff. 24: Das Gesetz berufe sich „in dieser schwierigen Frage auf das Wissen, die Erfahrung, das Engagement und die politische Reife der rechtsanwendenden Organe.“
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2. Teil: Landesberichte
Rechtswissenschaft war die Frage stark umstritten, kam ihr doch erhebliche (auch rechtspolitische) Bedeutung zu. Rückblickend lassen sich grosso modo drei verschiedene Auffassungen unterscheiden:657 Der restriktivsten Ansicht nach sollten für die Bestimmung der gesellschaftlichen Gefährlichkeit ausschließlich die objektiven Tatumstände heran gezogen werden, also etwa das äußere Tatgeschehen, die Art des verletzten Rechtsguts oder das Ausmaß des Schadens.658 Die überwiegende Mehrheit der Autoren plädierte demgegenüber für eine Berücksichtigung auch subjektiver Umstände – allerdings nur solcher, die ganz konkret mit der in Rede stehenden Tat verknüpft seien. Gegenstand der Beurteilung sollte danach der gesamte Komplex der Tat sein (daher so genannte „komplexe“ Auffassung), unter Einschluss insbesondere der inneren Einstellung des Täters im Moment ihrer Begehung.659 Am weitesten reichte schließlich eine dritte, „ganzheitliche“ Lehrmeinung, der zufolge jede Straftat eine Projektion der Persönlichkeit des ganzen Menschen sei; dementsprechend sollten in die Bewertung der gesellschaftlichen Gefährlichkeit sämtliche Umstände einfließen, die für die Strafzumessung von Bedeutung sind: also auch Alter und Familienverhältnisse des Täters, sein persönlicher Charakter, seine bisherige Lebensführung einschließlich seiner Vorstrafen.660 Was die polnische Rechtsprechung anbelangt, so favorisierte diese im Grundsatz die „komplexe“ Konzeption: Zur Präzisierung der gesellschaftlichen Gefährlichkeit der Tat seien einerseits objektive Elemente zu berücksichtigen (wie die äußeren Umstände der Tatbegehung, die Art des verletzten Rechtsguts, Umfang und Art des potenziellen oder tatsächlich entstandenen Schadens), andererseits subjektive Elemente (wie die Motivation des Täters, welche Zwecke er mit seiner Tat verfolgt habe und welches Vorstellungsbild er mit Blick auf sein Verhalten gehabt habe).661 Kritiker erblickten in dieser Aufzählung allerdings lediglich eine „Massierung von Worten, die lakonisch in den stereotypen Begründungen des Urteils zitiert“ 662 werde, Gehalt und Bedeutung der gesellschaftlichen Gefährlichkeit letztlich jedoch offen lasse. Tatsächlich konnte es in der gerichtlichen Praxis durchaus vorkommen, dass in Wahrheit doch die Person des Täters – vor allem seine Einstellung gegenüber dem System – über den angenommenen 657 Näher dazu Zoll, in: Lüderssen/Nestler-Tremel/E. Weigend, S. 85 (97 f.); Kaczmarek, ZStW 88 (1976), 1116 (1128 ff.); Cieslak, ZStW 90 (1978), 504 (512 ff.). 658 So – schon vor Verabschiedung des Gesetzes – Mioduski, Wojskowy Przegla˛d Prawniczy 1955, Nr. 3, 22; Bafia, S. 83. 659 Dafür Buchała, Krakowskie Studia Prawnicze 1970, 148 (150 ff.); Marek, Stopien ´ społecznego niebezpieczen´stwa czynu, S. 81 ff. 660 In diesem Sinne S ´wida S. 139. 661 s. etwa Sa˛d Najwyzszy, Urteil vom 5.11.1985, OSNKW 1986, Nr. 40 (S. 27). In ˙ einer früheren Entscheidung hatte das Gericht den Schwerpunkt auf objektive Kriterien gelegt, Urteil vom 24.11.1982, Nowe Prawo 1983, Nr. 9–10, 258 f. m. Anm. Tarnowski. Vgl. zur Rechtsprechung auch Golla, S. 106. 662 Kaczmarek, Wymiar kary, S. 329.
D. Der Straftatbegriff in Polen
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Grad der Gesellschaftsgefährlichkeit entschied. Die tatsächlichen äußeren Umstände der begangenen Tat traten im Verhältnis dazu dann in den Hintergrund. Weil wie erwähnt auch die Strafzumessung vom Grad der Gesellschaftsgefährlichkeit abhing, ließ sich das Merkmal auf diese Art und Weise vergleichsweise leicht dazu missbrauchen, politische Gegner mit strafrechtlichen Sanktionen zu überziehen.663 3. Reformbewegung und politische Wende a) Der Weg zu einem neuen Strafgesetzbuch664 Ganz ungeachtet des Problems der gesellschaftlichen Gefährlichkeit zeichnete sich das polnische Straf- und insbesondere Sanktionenrecht in der Zeit des Kalten Kriegs durch einen ausgesprochen rigiden Charakter aus.665 Bereits in den späten siebziger Jahren regte sich, unter maßgeblichem Einfluss der Gewerkschaft „Solidarität“ (Solidarnos´c´), zunehmend Widerstand gegen diese als drückend empfundene Gesetzeslage. Im Zuge dessen machten sich unabhängig voneinander eine Regierungs- sowie eine von Solidarnos´c´ getragene Kommission daran, ein reformiertes Strafrecht zu erarbeiten. Im Herbst 1981 legten beide Kommissionen ihre Entwürfe vor; doch die Verhängung des Kriegsrechts im Dezember desselben Jahres bereitete den Modernisierungsbestrebungen vorerst ein jähes Ende. Mit der Verabschiedung der Mai-Gesetze von 1985 kam es bald darauf sogar zu einer nochmaligen Verschärfung der strafrechtlichen Repression.666 Den entscheidenden Wendepunkt bildet auch – und gerade – für Polen das Jahr 1989. Schon zwei Jahre zuvor war ein weiterer Ausschuss für die Reform des Strafrechts eingesetzt worden, unter der Leitung des Krakauer Professors Kazimierz Buchała und mit dem Auftrag, ein progressives, rationales und humanes Strafrechtssystem zu erarbeiten. War dabei anfänglich noch umstritten, ob dieses Ziel im Rahmen des Kodeks karny von 1969 verfolgt werden sollte oder auf der Grundlage einer vollständig neuen Kodifikation,667 brachten die Ereignisse des 663 Zoll, ZStW 107 (1995), S. 417, Fn. 2, mit der Einschränkung allerdings, dass „insbesondere bis 1956“ so verfahren worden sei. Ohne diese Einschränkung Buchała in: Eser/Kaiser/E. Weigend, S. 9 (13 f.), Kunicka-Michalska, Prezgla˛d prawa karnego, Bd. 18, S. 5 (15). s. ferner Gardocki, in: Lüderssen/Nestler-Tremel/E. Weigend, S. 17 (23); und E. Weigend, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 2, S. 424 (425 ff.). 664 s. zum Folgenden E. Weigend, in: Wolf, S. 1 (1 ff.). 665 Vgl. E. Weigend, in: Eser/Huber, S. 565 (572 f.); Buchała in: Eser/Kaiser/E. Weigend, S. 9. 666 Näher dazu Lammich, Recht in Ost und West 1985, 21 ff.; E. Weigend, in: Eser/ Huber, Bd. 2, S. 1172; dies., in: Eser/Huber, Bd. 3, S. 883 (886); dies., ZStW 110 (1998), 114; Jescheck, FS Spendel, S. 849 (850 f.). 667 E. Weigend, ZStW 110 (1998), 114 (117 f.). – Die Kommission sollte auch eine bessere Bekämpfung der organisierten Kriminalität ermöglichen; s. Tarnawski, Palestra 1999, Nr. 1–2, 61 (63).
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2. Teil: Landesberichte
Wendejahres die Entscheidung für den letzteren Weg: Die freien Wahlen am 4. Juni 1989 schufen die Voraussetzungen für einen fundamentalen Systemwechsel, der Polen innerhalb weniger Jahre aus seinem vormaligen Satellitendasein heraus in die Mitte Europas katapultierte. So auch im Strafrecht: Zunächst hob der Sa˛d Najwyz˙szy, das Oberste Gericht, in einer Reihe von Revisionsverfahren zahlreiche Urteile auf, die gegen Kritiker des alten Regimes ergangen waren. Bemerkenswerterweise bediente es sich dabei häufig ausgerechnet des Begriffs der gesellschaftlichen Gefährlichkeit aus Art. 1 § 1 KK 1969. Es argumentierte, dass Verhaltensweisen, die polnischen Straftatbeständen formal zuwider liefen, letztlich aber auf der Wahrnehmung politischer Freiheiten beruhten – beispielsweise die Schmähung der Gesellschaftsordnung, die Teilnahme an Protestaktionen –, mangels sozialer Gefährlichkeit eben doch keine Straftaten gewesen seien.668 Dabei ging das Gericht so weit, dass es teilweise ganze Kategorien von Straftaten nicht mehr als gesellschaftlich gefährlich gelten ließ.669 Zugleich erhielt auch das Kodifikationsprojekt neuen Antrieb: Personell erweitert um progressive Strafrechtler aus dem Umfeld der Solidarnos´c´, intensivierte der Reformausschuss seine Arbeiten und legte im März 1990 die erste Fassung seines Entwurfs vor. Nach ausgiebigen Debatten und zahlreichen Veränderungen trat der neue polnische Kodeks karny am 1. September 1998 in Kraft.670 b) Die Auswirkungen auf den Verbrechensbegriff Bereits im Vorfeld der eigentlichen Modernisierungsarbeiten sah sich der Reformausschuss mit der Aufgabe konfrontiert, die Grundlinien des Verbrechensbegriffs – theoretisches Fundament des gesamten zu schaffenden Strafrechts – zu fixieren.671 Auf drei Fragen konzentrierte man sich dabei: Zunächst wurde klargestellt, dass Gegenstand jeder strafrechtlichen Prüfung künftig die Tat sein solle, nicht die Person des Täters. Zum zweiten galt es zu klären, ob das „Wesen“ des strafrechtlichen Unrechts eher in der Handlung liege, die auf eine Gefährdung oder Verletzung von Rechtsgütern abzielt, oder ob es in dem Erfolg einer solchen Handlung zu erblicken sei, das heißt in der tatsächlich eingetretenen Gefährdung oder Verletzung. Was diese Frage betrifft, entschied man sich für das eher erfolgsbezogene Konzept, woraus sich praktische Konsequenzen vor allem für die Strafbarkeit von Vorbereitungshandlungen und des Versuchs sowie die Strafbar668 Kunicka-Michalska, in: Prezgla˛d prawa karnego, Bd. 18, S. 5 (8); E. Weigend/ Zoll, in: Eser/Arnold, S. 27 (112 f.). 669 Vgl. Marek, Komentarz, Art. 1 Ziff. 8. 670 Kodeks karny vom 6.6.1997, deutsche Übersetzung von E. Weigend, in: Eser/Albrecht (Hrsg.), Sammlung ausländischer Strafgesetzbücher in deutscher Übersetzung, Bd. 112, Das polnische Strafgesetzbuch, Freiburg 1998. Das Gesetz wird im Folgenden abgekürzt als KK bezeichnet. 671 So Zoll, selbst Mitglied der Reformkommission, ZStW 107 (1995), 417.
D. Der Straftatbegriff in Polen
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keit der abstrakten Gefährdungsdelikte ergaben.672 Die dritte und hier am meisten interessierende Frage war die nach dem Begriff der Straftat selbst, nach ihren Elementen und deren Verhältnis zueinander. Dabei galt es insbesondere zu entscheiden, inwieweit man an dem tradierten Verbrechenselement der gesellschaftlichen Gefährlichkeit festhalten solle. Welche Lösung der polnische Gesetzgeber dabei gefunden hat, wird im Folgenden ausführlich zu beleuchten sein.
III. Der Straftatbegriff im Einzelnen Der eigenen wie auch der europäischen Tradition folgend, hat der polnische Gesetzgeber den Begriff der Straftat im neuen Kodeks karny nicht selbst definiert; diese Aufgabe bleibt vielmehr weiter der Wissenschaft überlassen. Gleichwohl macht das Gesetz klare Vorgaben, was die Elemente der Straftat angeht. Grundlegende Bedeutung kommt dabei Art. 1 KK zu, dessen Text wie folgt lautet: „§ 1: Der strafrechtlichen Verantwortlichkeit unterliegt nur, wer eine verbotene Tat begeht, die durch ein zur Zeit ihrer Begehung geltendes Gesetz unter Strafe gestellt ist. § 2: Keine Straftat stellt eine verbotene Tat dar, deren Sozialschädlichkeit geringfügig ist. § 3: Keine Straftat begeht der Täter einer verbotenen Tat, wenn ihm zum Zeitpunkt der Tat keine Schuld zugerechnet werden kann.“ 673
Den Konstruktionsspielraum, den diese (und andere) Vorgaben offen lassen, hat die polnische Rechtswissenschaft in unterschiedlicher Weise genutzt. Entsprechend stehen dort derzeit verschiedene Verbrechensmodelle miteinander in Konkurrenz.674 Aus der sowjetischen Strafrechtslehre übernommen675 und noch immer geläufig ist ein viergliedriges Modell, das die Tat unterteilt in erstens das Objekt der Tat (geschütztes Rechtsgut), zweitens die objektive Tatseite (Tathandlung, -folgen und -umstände einschließlich Rechtswidrigkeit), drittens das 672
Zoll, ZStW 107 (1995), S. 417 (420 ff.). Zum Versuch s. näher unten III. 2. b)
dd). 673 „§ 1. Odpowiedzialnos ´ c´i karnej podlega ten tylko, kto popełnia czyn zabroniony pod groz´ba˛, kary przez ustawe˛ obowia˛zuja˛ca˛ w czasie jego popełnienia. § 2. Nie stanowi przeste˛pstwa czynu zabroniony, którego społeczna szkodliwos´c´ jest znikoma. § 3. Nie popełnia przeste˛pstwa sprawca czynu zabronionego, jez˙eli nie moz˙na mu przypisac´ winy w czasie czynu.“ Czyn zabroniony wird hier übersetzt als „verbotene Tat“. Czyn heißt zugleich aber auch Handlung; und vor dem dargestellten deutschen Hintergrund des polnischen Verbrechensbegriffs könnte man wohl auch von „tatbestandsmäßiger Handlung“ sprechen; s. dazu noch unten III. 1. und III. 2. b). 674 Vgl. zum Folgenden E. Weigend, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 2, S. 424 (430 f.). 675 Andrejew, in: Mezger/Schönke/Jescheck, S. 7 (30).
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2. Teil: Landesberichte
Subjekt der Tat (persönliche Merkmale des Täters, etwa Zurechnungsfähigkeit) und viertens die subjektive Tatseite (Schuld).676 Eine neue fünfstufige Konzeption wird insbesondere von Zoll vertreten; er systematisiert das Verbrechen als eine Handlung, die rechtswidrig, strafbar, strafwürdig und schuldhaft ist.677 Obwohl Zoll als einer der führenden Köpfe der Reformkommission maßgeblichen Einfluss auf den neuen Allgemeinen Teil genommen hat, hat sich seine Konzeption bislang jedoch nicht etablieren können.678 Die überwiegende Mehrheit der polnischen Strafrechtler folgt stattdessen einem Straftatbegriff in noch engerer Anlehnung an die klassische deutsche Verbrechenslehre. Nach dieser Mehrheitsmeinung wird die Straftat in den Kategorien der durch Gesetz unter Strafandrohung verbotenen, rechtswidrigen und schuldhaften Handlung abgebildet – als weitere Voraussetzung muss ferner noch die heute so genannte Sozialschädlichkeit hinzu treten.679 Danach sieht der polnische Verbrechensbegriff, wie er hier zugrunde gelegt werden und den weiteren Gang der Untersuchung bestimmen soll, schematisch folgendermaßen aus: 1. Handlung 2. Verbotene Tat 3. Rechtswidrigkeit 4. Sozialschädlichkeit 5. Schuld
1. Handlung Dass die Handlung (czyn) ein notwendiges Element der Straftat ist, ergibt sich notwendig aus allen drei eben zitierten Paragrafen und darüber hinaus aus dem Wortlaut etlicher weiterer Regelungen des Kodeks karny.680 Die genaue Bestim-
676 So früher z. B. Wolter, Nauka (1973), S. 40 f., und noch heute etwa – allerdings die subjektiven vor die objektiven Voraussetzungen stellend – Gardocki, Prawo karne, Ziff. 101 ff. 677 Zoll, ZStW 107 (1995), 417 (427 f.); vgl. auch dens., in: Wolf, S. 19 (22 f.); Buchała/Zoll, Kodeks karny, Art. 1 Ziff. 10 ff.; dem folgend Blaski, S. 71 ff.: Rechtswidrig ist die Handlung, wenn sie Rechtsgüter verletzt bzw. gefährdet, deshalb durch eine Rechtsnorm verboten und überdies nicht gerechtfertigt ist. Strafbar ist diese Tat, wenn sie tatbestandsmäßig ist und keine die Strafe ausschließenden Umstände vorliegen. Sie ist strafwürdig, wenn sie mehr als nur geringfügig gesellschaftsschädlich ist. Verschulden schließlich liegt vor, wenn von dem Täter im Zeitpunkt der Begehung ein rechtmäßiges Verhalten hätte verlangt werden können. 678 Vgl. Indecki/Liszewska, S. 86. 679 s. stellvertretend Indecki/Liszewska, S. 81. 680 Nochmals: Das polnische Wort czyn lässt sich – wie oben in diesem Teil bei D. III. geschehen – im Deutschen mit „Tat“ wiedergeben. Im hiesigen Kontext ist es indessen mit „Handlung“ zu übersetzen.
D. Der Straftatbegriff in Polen
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mung des Handlungsbegriffs ist indessen wiederum der polnischen Strafrechtswissenschaft überlassen geblieben. Die aus Deutschland überlieferten naturalistischen, soziologischen, juristischen und finalistischen Handlungsbegriffe sind auch in Polen geläufig;681 wohl herrschend ist heute die Definition der Handlung als Tun oder Unterlassen eines Menschen, das von seinem Willen abhängig ist und eine gesellschaftliche Bedeutung hat.682 Bloße Gedanken und Absichten fallen nicht darunter, ebenso wenig unbeherrschbare Verhaltensweisen, etwa unter dem Einfluss eines Schocks, eines epileptischen Anfalls oder von vis absoluta.683 Als eine Handlung zählt aber zum Beispiel das gleichsam mechanische Bedienen einer Maschine.684 2. Verbotene Tat a) Gesetzlichkeitsgrundsatz Ebenfalls in allen drei Paragrafen des Art. 1 KK als Strafbarkeitselement voraus gesetzt ist die verbotene Tat (czyn zabroniony). Diese muss gemäß § 1 zudem durch ein zur Zeit der Tatbegehung geltendes Gesetz unter Strafe gestellt sein. Daraus folgt logisch, dass „verbotene Taten“ und „gesetzlich unter Strafe gestellte Taten“ nicht dasselbe sind; die Letzteren erfassen vielmehr nur einen Ausschnitt der Ersteren. Art. 1 § 1 KK gewährleistet, dass aus der Menge aller verbotenen Verhaltensweisen allein diejenigen als Straftaten geahndet werden können, die formell im Gesetz mit Strafe bedroht sind – auch in Polen gilt mithin der Satz nullum crimen sine lege.685 Da Art. 1 § 1 KK sich wortgleich auch in Art. 42 Abs. 1 der Polnischen Verfassung findet, kommt dem nullum-crimen-Satz überdies Verfassungsrang zu, genauso wie seinen wichtigsten Implikationen. Es sind dies: das Rückwirkungsverbot, das Verbot der Analogie zu Lasten des Beschuldigten, das Bestimmtheitsgebot und das so genannte Gebot des gesetzlichen Charakters der Tatbestandsmerkmale.686 Hinter dem Letztgenannten verbirgt sich die Forderung, dass die Elemente eines Straftatbestands sämtlich im Gesetz selbst festgelegt sein 681
s. etwa Marek, Prawo karne, Rn. 122; T. Bojarski/Giezek/Sienkiewicz, S. 100 ff. Marek, Prawo karne, Rn. 122; häufig wird auch von einem geäußerten Verhalten gesprochen, wobei die Unterlassung indessen mit erfasst sein soll; vgl. etwa Bien´kowska/Kunicka-Michalska/Rejman/Wojciechowska, Art. 1 Rn. 18; Warylewski, S. 183; T. Bojarski/Giezek/Sienkiewicz, S. 74; vgl. auch E. Weigend, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 3, S. 571 (573). 683 Góral, Art. 1 Ziff. 9 f.; Buchała/Zoll, Art. 1 Ziff. 15. 684 Buchała/Zoll, Art. 1 Ziff. 15. 685 E. Weigend, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 2, S. 92 (93). 686 s. noch zum Strafrecht der sozialistischen Zeit Andrejew/Lernell/Sawicki, S. 53; s. ferner Gardocki, in: Eser/Yamanaka, S. 45; E. Weigend, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 2, S. 92 (96 ff.). 682
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müssen. Besondere Relevanz erhält dieses Gebot mit Blick auf die auch in Polen verbreitete – und von der Lehre lange akzeptierte – Praxis, eine Strafnorm als „Blankett“ zu gestalten, das heißt die Definition von Tatbeständen insbesondere des Nebenstrafrechts den Organen der Exekutive zu überlassen.687 Nach einem Spruch des polnischen Verfassungsgerichtshofs aus dem Jahr 1995 verletzt diese Verfahrensweise „den Grundsatz der absoluten Exklusivität des Gesetzes bei der Formulierung von Strafvorschriften.“ 688 Das Gesetz selbst müsse in kompletter und präziser Weise alle Merkmale der Straftat definieren. b) Allgemeine Aspekte der verbotenen Tat (Tatbestandsmäßigkeit) Wie die verbotene Tat genau beschaffen sein muss, richtet sich jeweils nach dem einzelnen in Betracht stehenden Strafgesetz.689 Darin ist jeweils ein ganz bestimmter Typus (typ) rechtlich missbilligten Verhaltens als Straftat definiert. Grundlegende Voraussetzung jeglicher Strafbarkeit ist, dass der Täter sich der „gesetzlichen Beschreibung des Typus einer verbotenen Tat“ 690 entsprechend verhält. In den deutschen Begriff gekleidet, der dieser Formulierung zugrunde liegt: Er muss sich tatbestandsmäßig verhalten.691 Die den Typus einer Straftat konstituierenden Merkmale variieren in ihrer konkreten Gestalt natürlich erheblich, und zwar in Abhängigkeit von – zum Beispiel – dem Ort und dem Zeitpunkt der inkriminierten Handlung, von der Tatsituation, der Art der Ausführung, dem betroffenen Tatobjekt und den Folgen der Tat.692 Gemeinsam ist diesen Merkmalen, dass sie stets die Verletzung (oder Gefährdung) eines Rechtsguts beschreiben.693 Besondere Bedeutung über den jeweiligen Einzelfall hinaus kommt dabei den folgenden Aspekten zu, die sogleich näher darzustellen sind: Erfolgsverursachung und -zurechnung, Verwirklichung eines Typus durch Unterlassen, die Unterscheidung von Vorsatz und Fahrlässigkeit sowie schließlich der Versuch. 687 Gardocki, in: Eser/Yamanaka, S. 45 (52 f.); Wa˛sek, Komentarz, Art. 1 Ziff. 19; Kubicki, Pan´stwo i Prawo 1998, Nr. 9/10, 24 (26). 688 Urteil des Verfassungsgerichtshofs vom 26.4.1995 (K 11/94), OTK 1995, Teil 1, Nr. 12 (S. 123 [133]). 689 Vgl. die Legaldefinition der verbotenen Tat in Art. 115 § 1 KK. 690 Indecki/Liszewska, S. 80 (ustawowy opis typu czynu zabronionego). 691 Zur Bedeutung der deutschen Straftatlehre für Polen vgl. nochmals oben in diesem Teil, D. II. 1. 692 Vgl. Gardocki, Prawo karne, Ziff. 111 ff. 693 Zoll, ZStW 107 (1995), 417 (425 f.). Nach Zoll liegt jedem Tatbestand eine bestimmte auf ein Rechtsgut bezogene „Umgangsregel“ zugrunde; nur wer diese Regel verletze, handele tatbestandsmäßig. Konkret folgt daraus für Zoll, dass etwa die Zerstörung fremden Eigentums mit Einwilligung des Berechtigten schon tatbestandlich keine Sachbeschädigung ist; ebenso wenig erfülle eine lege artis durchgeführte medizinische Behandlung den Tatbestand einer Körperverletzung.
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aa) Taterfolg, Kausalität und objektive Zurechnung Zum Tatbestand bzw. zur objektiven Seite der verbotenen Tat gehört der Erfolg (skutek); dieser muss in einer ursächlichen Beziehung zu der voraus gehenden Handlung stehen.694 Zur Beschreibung dieses Zusammenhangs sind auch in Polen die Formeln von der Äquivalenz, der Adäquanz und der Relevanz geläufig.695 Der Sa˛d Najwyz˙szy verwendet die Formel, dass der Zusammenhang zwischen Handlung und Erfolg „unmittelbaren Charakter“ 696 aufweisen müsse. Das heißt, dass die Handlung des Täters, wenn auch nicht die ausschließliche, so doch in jedem Fall eine notwendige Ursache für den tatbestandlichen Erfolg sein muss.697 Bis in die Rechtsprechung des Sa˛d Najwyz˙szy hat sich ferner in jüngster Zeit zunehmend auch die Lehre von der objektiven Zurechnung etabliert. „Die Erfolgsverursachung kann dem Täter nur dann objektiv zugerechnet werden [. . .], wenn sich in diesem Erfolg die Gefahr verwirklicht, die durch die Befolgung der entsprechenden Sorgfalt verhindert worden wäre.“ 698 bb) Unterlassung Als eine Form der Tatbestandsverwirklichung nennt das neue polnische Gesetz auch die Unterlassung (zaniechanie). Die Vorläuferkodizes von 1932 und 1969 enthielten demgegenüber lediglich in ihren Besonderen Teilen einige Delikte, die ihrem ausdrücklichen Wortlaut nach (nur oder auch) durch passives Verhalten begangen werden konnten. Eine allgemeine Regelung zur Strafbarkeit des Unterlassens kannten beide Gesetze indes nicht.699 Dennoch war es unbestritten, dass eine Unterlassung grundsätzlich auch dann strafbar sein konnte, wenn sie nicht 694
Gardocki, Prawo karne, Ziff. 127 f. Vgl. Gardocki, Prawo karne, Ziff. 130 ff.; Waryleswki, S. 186 ff.; E. Weigend, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 3, S. 571 (578). 696 Sa˛d Najwyzszy, Urteil vom 18.1.1982 (II KR 308/81), OSNKW 1982, Nr. 4–5, ˙ Pos. 20 (S. 9 [13]); ablehnend zu dieser Entscheidung Gazek, Nowe Prawo 1983, Nr. 4, 121 ff. 697 Marek, Komentarz, Art. 2 Ziff. 3. 698 „Spowodowanie skutku moze byc ´ tylko wtedy obiektywnie przypisane sprawcy (co ˙ stwarza podstawe˛ wyjs´ciowa˛ do ustalenia realizacji ustawowych znamion czynu zabronionego okres´lonego w art. 145 § 2 d.k.k.), gdy urzeczywistnia sie˛ w nim niebezpieczen´stwo, któremu zapobiec miałoby przestrzeganie naruszonego obowia˛zku ostroz˙nos´ci.“ Sa˛d Najwyz˙szy, Urteil vom 8.3.2000 (III KKN 231/98), OSNKW 2000, Nr. 5–6, Pos. 45 (S. 32 [42]). s. ferner Gardocki, Prawo karne, Ziff. 130 ff. – In der Wissenschaft wird die Lehre von der objektiven Zurechnung unter anderem vertreten von Buchała/ Zoll, Art. 1 Ziff. 57; Giezek, Przyczynowos´c´, S. 220; Majewski, S. 49 ff.; 87 ff.; und Wa˛sek, FS Roxin, S. 1457 (1463 f., dort noch mit weiteren Nachweisen); vgl. auch E. Weigend, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 3, S. 571 (578). 699 Im Kodeks karny von 1969 wurde die Unterlassung zumindest erwähnt bei der Bestimmung des maßgeblichen Zeitpunkts und Orts der Tatbegehung (Art. 4 KK 1969) und in der Definition der verbotenen Tat (Art. 120 § 1 KK 1969). Vgl. hierzu auch Kubicki, in: Wolf, S. 105 (105 ff.). 695
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explizit im Gesetzestext als eine Form der Tatbegehung vorgesehen war. Zur Begründung berief man sich darauf, dass – sofern dem Täter eine Garantenstellung zufalle – die „allgemeinen Verhaltenserwartungen eine richterliche Vervollständigung der Tatbestände durch die Modalität des Unterlassens rechtfertigen.“ 700 Mit etwas höherem Begründungsaufwand verwies man auch darauf, dass bei diesen (auch in Polen so genannten) „unechten Unterlassungsdelikten“ 701 nur der Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs von Belang sei; das voraus gehende Verhalten sei dagegen stets nur durch eine „farblose Redewendung“ gekennzeichnet, deren Auslegung eine gleichwertige Behandlung von kausalem Hervorrufen und Nichtverhindern des Erfolgs zulasse.702 Im Gegensatz zu dieser früheren Rechtslage statuiert Art 2 KK nunmehr ausdrücklich: „Der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für ein durch Unterlassung begangenes Erfolgsdelikt unterliegt nur derjenige, auf dem eine besondere rechtliche Pflicht zur Abwendung des Erfolgs lastete.“ 703
Anders als noch im Entwurfstext vorgesehen,704 spezifiziert das Gesetz selbst nicht näher, woraus sich eine solche besondere Rechtspflicht ergeben kann. In der polnischen Lehre haben sich dazu verschiedene Fallgruppen heraus gebildet: Ursprünglich unterschied man lediglich zwischen Garantenpflichten aus Gesetz, freiwilliger Übernahme und aus vorausgegangenem gefährlichem Tun. Hinzu kamen in den fünfziger Jahren Garantenpflichten aus beruflicher und gesellschaftlicher Position, zwischenzeitlich sogar aus den „Prinzipien des Zusammenlebens in einer sozialistischen Gesellschaftsordnung“.705 Von diesen extensiven Tendenzen haben die Rechtsprechung und Lehre in Polen allerdings schon vor der jüngsten Strafrechtsreform wieder Abstand genommen. Nach heute herrschender Meinung kann sich eine (besondere) Rechtspflicht zum Handeln aus Rechtsvorschriften, aus gerichtlichen Entscheidungen, aus Standes- oder Berufsrecht, aus Vertrag, aus freiwilliger Übernahme oder aus der faktischen Schaffung einer Gefahrenlage ergeben.706 In jedem Fall handelt es sich um eine individualisierte 700
Vgl. Buchała, ZStW 90 (1978), 565 (577). Vgl. zur – sachlich verfehlten – entsprechenden Redeweise in Deutschland oben in diesem Teil, A. II. 2. b) aa) (2) (Fn. 51). 702 Vgl. Buchała ZStW 90 (1978), 565 (577). 703 „Odpowiedzialnos ´ c´i karnej za przeste˛pstwo skutkowe popełnione przez zaniechanie podlega ten tylko, na kim cia˛z˙ył prawny, szczególny obowia˛zek zapobiegnie˛cia skutkowi.“ 704 Laut Art. 113 § 2 des Entwurfs sollten insbesondere Gesetze sowie die freiwillige Übernahme einer Verpflichtung als Quellen einer Garantenpflicht in Betracht kommen, s. Buchała, in: Eser/Kaiser/E. Weigend, S. 9 (12); E. Weigend/Zoll, ZStW 103 (1991), 250 (255). 705 Buchała, ZStW 90 (1978), 565 (578 f.). 706 Warylewski, S. 190; Marek, Komentarz, Art. 2 Ziff. 4; vgl. auch Kubicki, in: Wolf, S. 105 (113 ff.). Keine Tradition hat in Polen eine Rechtspflicht kraft enger Lebens701
D. Der Straftatbegriff in Polen
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Pflicht, die gerade auf dem Täter, nicht jedoch auf jedermann lastet.707 Zwischen Unterlassung und dem abzuwendenden Erfolg müsse schließlich ein Ursachenund Zurechnungszusammenhang bestehen.708 cc) Vorsatz und Fahrlässigkeit Vorsatz und Fahrlässigkeit sind in Polen lange Zeit allein als Formen der Schuld aufgefasst worden.709 Das neue Strafgesetzbuch unterscheidet nun aber strikt zwischen der Schuld einerseits und der subjektiven Seite der Tat andererseits. Augenfällig wird das etwa darin, dass das neue Gesetz die früher verwendeten Begriffe „vorsätzliche Schuld“ und „fahrlässige Schuld“ nicht mehr gebraucht, sondern stattdessen nun von vorsätzlicher und fahrlässiger Begehung der Tat spricht.710 Damit sind Vorsatz und Fahrlässigkeit als die wesentlichen Elemente der subjektiven Seite der Tat systematisch nunmehr der Tatbestandsebene zuzuordnen.711 Sowohl die vorsätzliche als auch die fahrlässige Begehung der Straftat sind im neuen Gesetz legaldefiniert. Vorsätzlich handelt gemäß Art. 9 § 1 KK, wer die Tat entweder begehen will (dolus directus) oder wer die Möglichkeit ihrer Begehung vorhersieht und mit ihr einverstanden ist (dolus eventualis). Für die denkbaren Kombinationsformen diverser Wissens- und Willensgrade kennt die polnische Dogmatik traditionell eine detaillierte Klassifikation.712 Zudem geht sie davon aus, dass der Eventualvorsatz nie allein vorkomme: Weise ein Täter dolus eventualis im Hinblick auf die konkrete Gefahr der Straftatverwirklichung auf, so gehe damit doch stets ein dolus directus im Hinblick auf die vorgenommene Handlung oder Unterlassung selbst einher.713
gemeinschaft, Gefahrengemeinschaft oder enger geschäftlicher Beziehung, s. Buchała, ZStW 90 (1978), 565 (579). 707 Marek, Komentarz, Art. 2 Ziff. 4. 708 Marek, Komentarz, Art. 2 Ziff. 3, der diese Ursächlichkeit nach der Relevanzformel bestimmen will. Zur Kausalität s. oben in diesem Teil, D. III. 2. b) aa). Nach E. Weigend, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 3, S. 571 (578), beruht bei den Unterlassungsdelikten die „objektive Zurechnung des tatbestandsmäßigen Erfolgs [. . .] darauf, dass an die Stelle der Verursachung des Erfolgs durch positives Tun (so bei den Tätigkeitsdelikten) seine Nichtabwendung entgegen der bestehenden Garantenpflicht tritt.“ 709 Vgl. den Wortlaut von Art. 6 KK 1969: „Ein Verbrechen kann nur mit Vorsatzschuld, ein Vergehen kann auch mit Fahrlässigkeitsschuld begangen werden, wenn dies gesetzlich vorgesehen ist.“ s. ferner Janiszewski, FS Nishihara, 122 (123). 710 Janiszewski, FS Nishihara, 122 (127, s. auch 130 f.); E. Weigend, ZStW 110 (1998), 114 (122). 711 E. Weigend, in: Wolf, S. 1 (4); dies., ZStW 110 (1998), 114 (122); Zoll, ZStW 117 (2005), 749 (759); ders., in: Wolf, S. 21 (26). 712 Näher E. Weigend, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 3, S. 740 (742). 713 E. Weigend, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 3, S. 740 (742 f.).
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Nicht vorsätzlich handelt nach Art. 28 § 1 KK, wer sich über das Vorliegen eines Tatbestandsmerkmals irrt. Stellt der Täter sich irrig Umstände eines privilegierenden Tatbestands vor, so hängt die Rechtsfolge gemäß Art. 28 § 2 KK davon ab, ob dieser Irrtum als „entschuldbar“ (usprawiedliwiony) anzusehen ist: Bejahendenfalls wird der Täter auf der Grundlage des privilegierenden, andernfalls auf der Grundlage des tatsächlich verwirklichten Tatbestands bestraft.714 Systematisch verortet sind diese Irrtumsregelungen unter den Gründen, die die strafrechtliche Verantwortlichkeit ausschließen (Art. 25 ff. KK). Ist vorsätzliches Handeln zu verneinen, so kann immer noch Fahrlässigkeit gegeben sein. Das ist der Fall, Art. 9 § 2 KK, „wenn der Täter, ohne den Vorsatz zu haben, die [verbotene] Tat zu begehen, sie infolge der Verletzung der unter den gegebenen Umständen erforderlichen Sorgfalt dennoch begeht, obwohl er die Möglichkeit ihrer Begehung voraus gesehen hat oder hätte voraus sehen können.“ 715
Nach herrschender Auffassung spiegeln sich in dieser Definition sowohl objektive als auch subjektive Fahrlässigkeitsmerkmale: Objektive Merkmale seien die Verletzung der (ebenfalls als objektiv, im Sinne eines abstrakt-generellen Verhaltensstandards aufgefassten) Sorgfaltspflicht und die sich daraus (kausal) ergebenden Folgen.716 Dabei verlangt man von dem Beschuldigten dieselbe Art und dasselbe Maß an Sorgfalt, wie sie ein fiktiver „Modell-Bürger“ unter den gegebenen Umständen an den Tag gelegt hätte. Erst auf subjektiver Seite kommt es dann darauf an, ob der Beschuldigte nach seinen individuellen Verhältnissen die Tatbestandsverwirklichung vorhersehen konnte – die Einzelheiten dieser Prüfung sind in der polnischen Lehre heftig umstritten.717 Beide Prüfungen, sowohl des objektiven als auch das sujektiven Fahrlässigkeitsaspekts, spielen sich aber wohlgemerkt auf Tatbestandsebene ab. Wer „objektiv“, aber nicht individuell betrachtet sorgfaltswidrig handelt, verwirklicht danach schon nicht den Tatbestand eines Fahrlässigkeitsdelikts; nicht etwa ist er lediglich entschuldigt. 714
s. Zoll, FS Hirsch, S. 419 (422 f.) „. . . jez˙eli sprawca nie maja˛c zamiaru jego popełnienia, popełnia go jednak na skutek niezachowania ostroz˙nos´ci wymaganej w danych okolicznos´ciach, mimo z˙e moz˙liwos´c´ popełnienia tego czynu przewidywał albo mógł przewidziec´.“ – Zu einem Schwachpunkt dieser Legaldefinition s. noch unten Dritter Teil, B. III. 2. c) aa) (2) (Fn. 197). 716 Vgl. E. Weigend, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 3, S. 571 (579 f.). 717 E. Weigend, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 3, S. 571 (580); S. 740 (743). In den Diskussionen der Reformkommission war dafür plädiert worden, das Sorgfaltsmaß von den individuellen Fähigkeiten des in der konkreten Situation Handelnden abhängig zu machen; vgl. E. Weigend/Zoll, ZStW 103 (1991), 250 (254); so auch heute z. B. Marek, Prawo karne, Rn. 663. Vgl. auch Gardocki, Prawo karne, Ziff. 143. Die knappe Äußerung Buchałas, in: Eser/Kaiser/E. Weigend, S. 9 (16), legt nahe, dass er die Entscheidung der Gerichtspraxis überlassen wollte. Diese bedient sich heute der erwähnten Maßstabsfigur und beurteilt die Vorhersehbarkeit dabei auch nach der Adäquanzformel, vgl. E. Weigend/Zoll, ZStW 103 (1991), 250 (254 f.). 715
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dd) Versuch Kapitel II des polnischen Strafgesetzbuchs – Formen der Begehung der Straftat – beginnt mit der Regelung des Versuchs (usiłowanie). Was zunächst dessen Strafbarkeit an sich anbelangt, so war im Entwurf folgendes Konzept geplant:718 Prinzipiell strafbar sollte der Versuch solcher Taten sein, die mit einer Strafdrohung von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe versehen waren. Darüber hinaus sollte die Strafbarkeit des Versuchs von einer ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung abhängen; eine solche war für den Besonderen Teil indes nur vergleichsweise selten vorgesehen. Diese Einschränkung ist in den nunmehr geltenden Gesetzestext jedoch nicht aufgenommen worden. Art. 13 § 1 KK widmet sich sogleich der materiellen Definition des Versuchs: „Wegen Versuchs ist strafbar, wer mit dem Vorsatz der Begehung einer verbotenen Tat sein Verhalten unmittelbar auf deren Vollendung richtet, welche aber ausbleibt.“ 719
In Ermangelung irgendwelcher Strafbarkeitsbeschränkungen heißt dies, dass grundsätzlich der Versuch einer jeden Tat strafbar ist. So präsentierte sich in der Tat die Rechtslage auch schon unter den Vorgängergesetzen.720 Der Versuch wird gemäß Art. 13 § 2 KK auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass die Vollendung der verbotenen Tat unmöglich ist, sei es weil ein taugliches Tatobjekt fehlt oder der Täter ein für die Tatausführung untaugliches Mittel verwendet.721 Das Strafmaß für den Versuch ist gemäß Art. 14 KK dem Strafrahmen zu entnehmen, der auch für die vollendete Tat gilt. Auch darin liegt eine Verschärfung gegenüber dem Entwurf, in dem vorgesehen war, dass ein Versuch obligatorisch geringer bestraft werden sollte als eine vollendete Tat.722 Im Fall eines untauglichen Versuchs kann das Gericht allerdings eine außerordentliche Strafmilderung aussprechen oder auch ganz von Strafe absehen. 718
Zum Folgenden vgl. Zoll, ZStW 107 (1995), 417 (420 f.). „Odpowiada za usiłowanie, kto w zamiarze popełnienia czynu zabronionego swoim zachowaniem bezpos´rednio zmierza do jego dokonania, które jednak nie naste˛puje.“ – Zu einem Schwachpunkt auch dieser Legaldefinition s. noch unten Dritter Teil, B. III. 2. b) aa) (5). 720 s. Spotowski, Erscheinungsformen, S. 55, und – auch zur selben Tradition in einigen anderen sozialistischen Staaten – Schultze-Willebrand, S. 301. Nach Beobachtung von Zoll, ZStW 117 (2005), 749 (757), wird der Versuch bei Taten, auf die gar keine oder nur eine Freiheitsstrafe von maximal zwei Jahren steht, in der Praxis nicht bestraft, ja nicht einmal angeklagt. Der Grund dafür sei das Straftatelement der Sozialschädlichkeit; zu diesem s. unten in diesem Teil, D. III. 4. 721 Nach der (Minderheits-)Auffassung Zolls, ZStW 117 (2005), 749 (761), ist die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs eine die Regel bestätigende Ausnahme. Die Regel sei, dass jede Straftat eine „Verletzung der anerkannten Umgangsregeln“ mit einem Rechtsgut voraus setze. An einer solchen Umgangsregelverletzung soll es beim untauglichen Versuch fehlen. 722 Zoll, ZStW 107 (1995), S. 417 (420 f.). 719
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Sieht der Versuchstäter freiwillig von der Tatvollendung ab oder verhindert er freiwillig den tatbestandsmäßigen Erfolg, so trägt ihm dieser Rücktritt Straffreiheit ein, Art. 15 § 1 KK. Bei freiwilligem, aber erfolglosem Bemühen um Verhinderung des Erfolgs kann das Gericht wiederum eine außerordentliche Strafmilderung aussprechen, Art. 15 § 2 KK.723 3. Rechtswidrigkeit a) Allgemeines Wer den gesetzlich unter Strafe gestellten „Typus“ einer verbotenen Tat begangen hat (oder anders formuliert: wer tatbestandsmäßig gehandelt hat724), muss dies auch in rechtswidriger Weise getan haben. In ihrer allgemeinsten Bedeutung wird Rechtswidrigkeit (bezprawnos´c´) definiert als „Widerspruch zu einer Rechtsnorm“ 725 bzw. als „Schädigung eines Rechtsguts“.726 Da diese Kriterien aber in aller Regel schon mit Verwirklichung des Tatbestands erfüllt erscheinen, wird im polnischen Strafrecht die Rechtswidrigkeit nicht eigens positiv festgestellt. Untersucht wird stattdessen, ob Gründe vorliegen, die die (zunächst angenommene) strafrechtliche Verantwortlichkeit ausschließen – entsprechend ist auch die Überschrift des Kapitels III des Strafgesetzbuchs formuliert: Ausschluss der strafrechtlichen Verantwortlichkeit (wyła˛czenie odpowiedzalnos´ci karnej). Nicht alle Ausschließungsgründe, die hinter dieser Überschrift folgen, sind freilich Rechtfertigungsgründe; manche beziehen sich vielmehr auf den Ausschluss der Schuld. Auch wenn die Systematik des zitierten Kapitels demnach eine Differenzierung zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld nicht nahe legt, steht die Unterscheidung in der polnischen Lehre jedoch außer Frage.727 Jene Gründe, die speziell die Rechtswidrigkeit ausschließen, bezeichnet die polnische Strafrechtswissenschaft seit Wolter728 als „Kontratypen“ (kontratypy). Die Bezeichnung soll zum Ausdruck bringen, dass die rechtswidrigkeitsauschließenden Umstände ebenso wie die Tatbestände typisierte Verhaltensweisen sind. 723
Näher E. Weigend, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 3, S. 892 (899 f.). Zur Terminologie vgl. oben in diesem Teil, D. III. 2. b). 725 M. Bojarski, S. 812 ff.; T. Bojarski/Giezek/Sienkiewicz, S. 129; Marek, Prawo karne, Rn. 125. 726 Je˛drzejewski, Pan ´ stwo i Prawo 1993, Nr. 10, 90 (95). Buchała/Zoll, Art. 1 Ziff. 17, sieht zwei Aspekte als begründend für die Rechtswidrigkeit an: erstens den Verstoß gegen ein akzeptiertes Wertesystem, zweitens den Akt des Ungehorsams gegenüber dem Gesetzgeber. 727 s. etwa Marek, Komentarz, Art. 25 Ziff. 1; Giezek, in: Wolf, S. 69 (69 ff.). 728 Grundlegend Prawo karne, S. 130; s. später dens., Pan ´ stwo i Prawo 1963, Nr. 10, 502 (502 ff.). Aus neuerer Sicht dazu (auch kritisch) Kaczmarek, FS Szwarc, 261 (263 ff.). 724
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„Konträr“ werden sie deshalb genannt, weil sie gleichsam in umgekehrtem Verhältnis zu jenen Umständen stehen, die den Typus einer verbotenen Tat ausmachen.729 Ist ein solcher Kontratypus einschlägig, so schließt er die Rechtswidrigkeit der Tat aus, und zwar materiellrechtlich deshalb, weil dann das in Frage stehende Verhalten nicht sozialschädlich und eine Bestrafung daher nicht zweckmäßig erscheint.730 Dahinter steht der Gedanke, dass der gerechtfertigt Handelnde in einer Situation kollidierender Rechtsgüter das höherwertige auf Kosten des geringerwertigen verteidigt.731 b) Einzelne Kontratypen Nicht alle, aber doch die wichtigsten Kontratypen sind im Strafgesetzbuch selbst geregelt. Es sind dies vor allem die Notwehr, der rechtfertigende Notstand sowie das (besondere) erlaubte Risiko, welches wissenschaftlichen, medizinischen, technischen oder ökonomischen Experimenten anhaftet. Diese drei Kontratypen seien im Folgenden noch etwas näher betrachtet. aa) Notwehr Die Notwehr (obrona konieczna) stellt auch in Polen gleichsam den klassischen Kontratypus dar.732 Unter den die strafrechtliche Verantwortlichkeit ausschließenden Gründen ist sie dementsprechend an erster Stelle erwähnt, Art. 25 § 1 KK. Die Vorschrift statuiert – in weit reichender Kontinuität zu den vorangegangenen Kodifikationen733 –, dass keine Straftat begeht, wer in Notwehr einen unmittelbaren rechtswidrigen Angriff gegen (irgend)ein rechtlich geschütztes Gut abwendet. Wenngleich diese Formulierung primär auf die Verteidigung des konkret gefährdeten Rechtsguts abstellt, wird das Notwehrrecht traditionell doch zugleich auch überindividuell begründet: Der Verteidiger schütze durch sein Verhalten zugleich auch die Rechtsordnung an sich, den Primat des Rechts über das Unrecht.734 Dementsprechend erweist sich das Notwehrrecht auch in Polen als ausgesprochen schneidig; der Verteidiger muss dem rechtswidrigen Angriff nicht weichen, ja seine Notwehrhandlung wird mitunter sogar als ein „grundlegendes 729 Zoll, in: Eser/Kaiser/E. Weigend, S. 21 (22); T. Bojarski/Giezek/Sienkiewicz, S. 131. 730 Marek, Komentarz, Art. 25 Ziff. 2. 731 Vgl. E. Weigend/Zoll, ZStW 103 (1991), 250 (256). 732 Giezek, in: Wolf, S. 69 (70 ff.); Marek, in: Wolf, S. 88 (88). 733 Art. 22 § 1 KK 1969 hatte terminologisch lediglich noch zwischen kollektiven und individuellen Rechtsgütern unterschieden. Zu dieser Notwehrregelung s. Zoll, ZStW 90 (1978), 520 (523 ff.). 734 Vgl. Marek, Komentarz, Art. 25 Ziff. 3; sowie dens., in: Wolf, S. 88 (90 ff.), der allerdings Vorbehalte gegen eine überindividuelle Begründung des Notwehrrechts äußert. Zu einer Einschränkung des Notwehrrechts bei Bagatellangriffen s. dens., Ziff. 17.
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Menschenrecht“ 735 geadelt. Der hohen Bedeutung des Notwehrrechts entspricht es, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung einen unmittelbaren Angriff schon dann bejaht, wenn ein Angriff lediglich mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist.736 Bereits aus dem Begriff der obrona konieczna – wörtlich: notwendige Verteidigung – folgt allerdings, dass die gewählte Abwehrmaßnahme erforderlich sein muss.737 Zusätzlich ergibt sich das noch im Gegenschluss aus Art. 25 § 2 KK, der dem Gericht (lediglich) anheim stellt, im Fall einer die Grenze der Erforderlichkeit überschreitenden Verteidigung eine außerordentliche Milderung der Strafe auszusprechen oder von einer Strafe ganz abzusehen.738 Ist die Notwehrüberschreitung Folge eines durch den Angriff bedingten und aufgrund der Umstände des Angriffs entschuldbaren Angst- oder Erregungszustands, so hat das Gericht von Strafe abzusehen, Art. 25 § 3 KK. – Von der gesetzlichen Formulierung erfasst ist schließlich auch die Verteidigung von Rechtsgütern Dritter,739 die dann auch im Polnischen Nothilfe (pomoc konieczna) heißt. bb) Rechtfertigender Notstand In Art. 26 § 1 KK ist der Kontratyp des rechtfertigenden Notstands (stan wyz˙szej koniecznos´ci) geregelt. Danach begeht keine Straftat, wer zwecks Abwendung einer unmittelbaren Gefahr für (irgend)ein Rechtsgut handelt, sofern die Gefahr nicht anders abgewehrt werden kann und das geopferte Rechtsgut einen geringeren Wert darstellt als das gerettete. Zu unterstreichen ist, dass das geopferte Gut bloß niedriger, nicht aber wesentlich oder erheblich niedriger einzuschätzen sein muss.740 Ist es hingegen im Verhältnis zu dem geretteten Gut gleich- oder höherwertig, kommt (allenfalls) entschuldigender Notstand nach Art. 26 § 2 KK in Betracht.741 Der Wertigkeit der kollidierenden Güter kommt demnach entscheidende Bedeutung zu.742 Sie soll deshalb nach objektiven Kriterien bestimmt werden, die letztlich aber wohl erst in Gestalt der Entscheidungspraxis der Gerichte entstehen können.743 Für den Fall, dass eine Person die Grenzen des Notstands 735
Warylewski, S. 227. Sa˛d Najwyz˙szy, Urteil vom 11.12.1978, OSNKW 1979, Nr. 65 (S. 4 [5 f.]); vgl. auch Marek, in: Wolf, S. 88 (92 ff.). 737 Spotowski, in: Eser/Kaiser/E. Weigend, S. 43 (49). 738 Dazu näher Marek, in: Wolf, S. 88 (98 ff.). 739 Marek, Komentarz, Art. 25 Ziff. 12. 740 Kritisch dazu (noch zum Entwurf) – und eine Regelung nach dem Vorbild des deutschen § 34 StGB anregend – Jescheck, FS Spendel, 849 (864). 741 s. dazu noch unten in diesem Teil, D. III. 5. c) bb). 742 Näher Giezek, in: Wolf, S. 69 (74 f.). 743 So Marek, Komentarz, Art. 26 Ziff. 8; vgl. auch T. Bojarski/Giezek/Sienkiewicz, S. 142 f., die als Kriterium neben dem ökonomischen Wert eines Gutes auch seine Er736
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überschreitet, gestattet Art. 26 § 3 KK dem Gericht wiederum eine Strafmilderung oder das völlige Absehen von Strafe. Erstmals ausdrücklich gesetzlich geregelt ist im Zusammenhang mit dem Notstand auch der Fall der Pflichtenkollision („gdy z cia˛z˙a˛cych na sprawcy obowia˛zków tylko jeden moz˙e byc´ spełniony“); insoweit erklärt Art. 26 § 5 KK die Notstandsregelungen der §§ 1–3 für entsprechend anwendbar. cc) Gerechtfertigte Experimente Keine Straftat begeht schließlich gemäß Art. 27 § 1 KK, wer „zum Zweck der Durchführung eines wissenschaftlichen, medizinischen, technischen oder ökonomischen Experiments handelt, sofern der erwartete Nutzen erhebliche wissenschaftliche, medizinische oder wirtschaftliche Bedeutung hat und die Erfolgsaussicht, die Zweckmäßigkeit und die Art der Durchführung des Experiments im Lichte des aktuellen Wissensstands begründet sind.“ 744 Auch bei diesem Ausschlussgrund handelt es sich um einen Kontratypus, und zwar um einen, der bereits eine längere Tradition im sozialistischen Strafrecht hat.745 Schon der polnische Kodeks karny von 1969 enthielt in Art. 217 eine der jetzigen ganz ähnliche Bestimmung, die sich allerdings auf wissenschaftliche, technische und wirtschaftliche Experimente im Rahmen der sozialistischen Planwirtschaft beschränkte. Ein Grund, weshalb man den Kontratypus des Experiments auch in das neue Strafgesetzbuch aufgenommen hat, soll das Gesetzlichkeitsprinzip sein, das nach einer möglichst präzisen Umschreibung erlaubter Risiken verlange.746 Mit der Bestimmung soll zudem der Fortschritt in einer Weise gefördert werden, die Missbrauch und Leichtsinn möglichst ausschließt.747 Maßgebliche Schranken setzt in diesem Bereich allerdings Art. 27 § 2 KK. Danach ist ein Experiment ohne Einwilligung des Betroffenen unzulässig; ferner ist der Betroffene umfassend aufzuklären über Nutzen und Risiken des Experisetzbarkeit vorschlagen und dem Schutz der Gesundheit besonderen Wert beimessen wollen. 744 „. . . działa w celu przeprowadzenia eksperymentu poznawczego, medycznego, technicznego lub ekonomicznego, jez˙eli spodziewana korzys´c´ ma istotne znaczenie poznawcze, medyczne lub gospodarcze, a oczekiwanie jej osia˛gnie˛cia, celowos´c´ oraz sposób przeprowadzenia eksperymentu sa˛ zasadne w s´wietle aktualnego stanu wiedzy.“ Giezek, in: Wolf, S. 69 (76), spricht insoweit vom „erlaubten Risiko“. 745 Ursprünglich lag die Hauptbedeutung dieses Rechtfertigungsgrunds auf dem Feld der Ökonomie, er galt als „unentbehrlicher Motor des Fortschritts in der sozialistischen Wirtschaftsordnung“ – so Andrejew, ZStW 99 (1987), 152 (157 f.). 746 Das lässt sich zumindest aus den Äußerungen Buchałas, in: Eser/Kaiser/E. Weigend, Zweites Kolloquium, S. 65 (92 f.), schließen, vgl. Jescheck, FS Spendel, 849 (863). 747 s. Buchała, in: Eser/Kaiser/E. Weigend, S. 9 (18); Marek, Komentarz, Art. 27 Ziff. 1 f.
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ments sowie über die Möglichkeit, in jeder Phase desselben zurückzutreten. Der Entwurf des Kodeks karny enthielt darüber hinaus in einem § 3 noch das ausdrückliche Verbot der Forschung an Minderjährigen, psychisch Kranken, geistig Behinderten, Bewusstlosen, Gefangenen, Schwangeren und Embryonen.748 Damit orientierte sich der polnische Gesetzgeber an der Entschließung des XIV. Internationalen Strafrechtskongresses im Jahr 1989 zum Thema „Strafrecht und moderne biomedizinische Verfahren“.749 Der jetzige Art. 27 § 3 KK inkorporiert diese Regelungen allerdings nicht, sondern verweist ihretwegen auf ein gesondertes Gesetz; es ist dies das Gesetz über den Arztberuf vom 5. Dezember 1996. Darin werden unter bestimmten, restriktiven Voraussetzungen medizinische Experimente an Minderjährigen und Schwangeren zugelassen. 4. Sozialschädlichkeit a) Die Sozialschädlichkeit als Element der Straftat Das Straftatelement, das systematisch an das Merkmal der Rechtswidrigkeit anschließt,750 ist die bereits erwähnte Sozialschädlichkeit (społeczna szkodliwos´c´). Dass diese nicht erst im Anschluss an die klassische Trias, also nicht erst nach der Schuld in den Blick zu nehmen ist, wird wie folgt begründet: Bei fehlender oder geringer Sozialschädlichkeit liege schon gar kein Verhalten vor, in Bezug auf welches strafrechtliche Schuld festgestellt werden könne.751 Stützen kann sich diese Auffassung auf die Systematik des Art. 1 KK. Denn in den dort niedergelegten drei grundlegenden Bedingungen der Strafbarkeit findet sich das Erfordernis der Sozialschädlichkeit wie gesehen an zweiter Stelle, zwischen den Elementen der verbotenen Tat und der Schuld. Art. 1 § 2 KK offenbart zugleich die Bedeutung der społeczna szkodliwos´c´: Wenn eine verbotene Tat von geringer Sozialschädlichkeit „keine Straftat darstellt“, dann lässt diese Formulierung keinen Zweifel daran: So wie früher die gesellschaftliche Gefährlichkeit, so ist heute auch die Sozialschädlichkeit eine konstitutive Voraussetzung der Straftat.752 748
Marek, Komentarz, Art. 27 Ziff. 4. Vgl. Jescheck, FS Spendel, 849 (864). Der Text der Entschließung findet sich in ZStW 102 (1990), 682 (686 ff.). 750 Nach dem zusammenfassenden Überblick E. Weigends, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 2, S. 424 (430), soll die Sozialschädlichkeit dagegen Teil der Rechtswidrigkeit sein. Das wäre freilich eine Abkehr von der tradierten Ansicht, s. etwa Kaczmarek, ZStW 88 (1976), 1116 (1123 ff.). 751 E. Weigend, in: Wolf, S. 1 (4); dies., ZStW 110 (1998), 114 (121); ebenso bereits dies./Zoll, ZStW 103 (1991), 250 (253: „logisch vorrangig“); Zoll, ZStW 107 (1995), 417 (427 f.) und Bantle/Bobrzyn´ski/Liebscher, § 4 Rn. 6. – Anders Dietrich/Namys, S. 20, die die Sozialschädlichkeit nach der Schuld einordnen. 752 So auch Zoll, ZStW 117 (2005), 749 (758 f.). 749
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Daneben erscheint das Merkmal noch an drei weiteren Stellen des Gesetzes: Sowohl die bedingte Verfahrenseinstellung nach Art. 66 § 1 KK als auch die Strafzumessung (Art. 53 § 1, Art. 59 KK) hängen – unter anderem – vom Grad der Sozialschädlichkeit ab. Es mag im hiesigen Zusammenhang genügen, diese letzteren Funktionen lediglich zu erwähnen; die nachfolgenden Ausführungen nehmen allein die Sozialschädlichkeit als Verbrechenselement in den Blick. b) Von der sozialen Gefährlichkeit zur Sozialschädlichkeit Wenn man die historische Entwicklung des polnischen Verbrechensbegriffs kennt, ist die semantische Verwandtschaft zwischen dem neuen Begriff der sozialen Schädlichkeit und dem älteren der sozialen Gefährlichkeit natürlich augenfällig. Das wirft die Frage auf, in welchem Verhältnis beide zueinander stehen. Zu diesem Zweck sei noch einmal kurz auf die jüngste Gesetzgebungsgeschichte zurück geblickt: Bei den Diskussionen um den Entwurf des neuen Kodeks karny war die Frage, ob man den Begriff der gesellschaftlichen Gefährlichkeit der Straftat beibehalten solle, unter den Mitgliedern des Reformausschusses heftig umstritten. Noch der erste Entwurf vom März 1990 sprach sich dafür aus, ihn beizubehalten. Nach langer Diskussion entschied man sich dann aber doch gegen ihn, vor allem aus zwei Gründen: Zum einen sei der Begriff historisch diskreditiert angesichts seiner missbräuchlichen Anwendung durch eine totalitäre sozialistische Strafrechtspraxis, die dem „gesellschaftlich gefährlichen“ Täter seine politische Einstellung und Lebensweise vorwarf.753 Zum anderen bestehe aber auch kein sachliches Bedürfnis für seine Beibehaltung. Das Prinzip „nullum crimen sine periculo sociali“ gehöre, wenn überhaupt, dann allenfalls in die Verfassung, da es sich an den Gesetzgeber richte.754 Doch selbst insoweit sei es überflüssig. Denn der Gesetzgeber dürfe die Auswahl strafbarer Verhaltensweisen selbstverständlich nur aus dem (größeren) Kreis der gesellschaftlich gefährlichen Verhaltensweisen treffen. Indem er einen Tatbestand formuliere, gebe er zu erkennen, dass er das inkriminierte Verhalten zwangsläufig auch für gesellschaftlich gefährlich erachte. Wenn ein Täter den Tatbestand erfülle (und auch sonst keine die Strafbarkeit hindernden Umstände vorlägen), bestehe für eine zusätzliche Prüfung der gesellschaftlichen Gefährlichkeit also gar kein Bedürfnis.755
753
Buchała/Zoll, Art. 1 Ziff. 7. Vgl. dazu oben II. 2. b) bb). So Zoll, ZStW 107 (1995), S. 417 (423 ff.). Ihm zufolge kommt dem Prinzip auch gegenüber der Richterschaft keine Funktion zu. Denn sei ein Verhalten erst einmal gesetzlich als Straftat normiert, so sei der Strafrichter an die darin zum Ausdruck kommende Bejahung der Gesellschaftsgefährlichkeit gebunden, und zwar unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung. 755 Vgl. E. Weigend/Zoll, ZStW 103 (1991), 250 (251 f.). 754
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Es muss deutlich unterstrichen werden, dass die Absage an den alten Gefährlichkeitsbegriff für den Ausschuss keineswegs eine gleichzeitige Absage an das materielle Konzept der Straftat als solches bedeutete. Die Mehrheit der Mitglieder plädierte vielmehr dafür, dieses Konzept zu bewahren, und zwar nicht nur um der historischen Tradition willen.756 Nach wie vor sei es richtig und notwendig, auf materiellrechtlicher Ebene zu überprüfen, ob ein formell tatbestandsmäßiges Verhalten auch strafwürdig sei. Man verständigte sich schließlich darauf, das Merkmal der Sozialschädlichkeit zur neuen Systemstelle zu erheben, an der diese Prüfung zu erfolgen habe. Mit der Verankerung des Merkmals im Gesetz erfahre die materielle Konzeption der Straftat eine „starke dogmatische Fundierung“.757 Insoweit es die Strafwürdigkeit eines formal tatbestandsmäßigen Verhaltens in den Blick nimmt, kommt dem neuen Element der Sozialschädlichkeit rechtlich dieselbe Funktion zu wie früher dem Begriff der gesellschaftlichen Gefährlichkeit. Für das polnische Schrifttum ist die Einführung des neuen Terminus trotzdem nicht bloß eine terminologische Neuerung, sondern sie impliziert auch eine Abwendung von der sozialistisch-rechtlichen Vergangenheit, hin zu einem neuen, liberaleren Strafrecht.758 Dem entspricht es, dass als historische Wegbereiter des Prinzips der Sozialschädlichkeit heute Rousseau, Bentham und Beccaria genannt werden, nicht mehr aber die marxistischen Philosophen.759 Ferner wird das Prinzip heute sowohl in der Lehre als auch in der Rechtsprechung des Sa˛d Najwyz˙szy ganz bewusst als ein unpolitischer Begriff verstanden: Sozialschädlichkeit bedeute heute nur noch allgemein, dass eine Handlung ein individuelles oder kollektives Rechtsgut verletze oder bedrohe; ihre Definition solle sich nicht an den Interessen der jeweils herrschenden Gruppe orientieren.760 c) Adressat des Prinzips der Sozialschädlichkeit Die Kompetenzen bei der Ermittlung der Sozialschädlichkeit verteilen sich auf zwei Gewalten: Ausschließlich dem Gesetzgeber steht es zu einzuschätzen, wel756 So auch Wyrembak, Pan ´ stwo i Prawo 1993, Nr. 4, 77 (78 ff.). Anders indes die Beurteilung von Indecki/Liszewska, S. 82: Die Beibehaltung sei vor allem der Tradition geschuldet. 757 So Zoll, ZStW 107 (1995), 417 (426). 758 Allerdings konstatieren E. Weigend/Wróbel, ZStW 122 (2010), 259 (260 ff.), akute Gefahren für diese Liberalisierungstendenzen: Eine populistische und medial angeheizte Kriminalpolitik habe dazu geführt, „dass das polnische Strafrechtssystem in der gesamten Nachwendezeit durchaus nicht liberal geworden, sondern im Gegenteil stark repressiv geblieben ist“. 759 Buchała, in: Eser/Kaiser/E. Weigend, S. 9 (13). Zustimmend Roxin, FS Szwarc, S. 79 (81, Fn. 6). 760 Marek, Komentarz, Art. 1 Ziff. 10; Sa˛d Najwyzszy, Urteil vom 20.1.1994, Wo˙ kanda 6/1994 (S. 10).
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che Verhaltensweisen abstrakt gesehen gesellschaftlich schädlich sind – und zwar in einem solchen Maße, dass sie mit Strafe bewehrt werden dürfen.761 Den Gerichten obliegt demgegenüber die Einschätzung, ob ein konkretes Verhalten, das zunächst wie eine Straftat anmutet, auf Grund seiner geringen Sozialschädlichkeit doch keine solche ist.762 Kritisch angemerkt wird in diesem Zusammenhang, dass den Gerichten bei der Auslegung der Sozialschädlichkeit immer noch ein zu großer Spielraum belassen sei.763 Nicht ganz klar ist auch, ob das Gericht nur eine geringe Sozialschädlichkeit feststellen darf oder auch die völlige Unschädlichkeit.764 Weithin wird im Schrifttum die Auffassung vertreten, der Sa˛d Najwyz˙szy dürfe jedenfalls nicht – wie in der Umbruchphase nach 1989 geschehen – ganzen Kategorien von Straftaten die Sozialschädlichkeit absprechen und die entsprechenden Verhaltensweisen schlechthin für straflos erklären; vielmehr müsse es in einer solchen Situation den Gesetzgeber auffordern, die betreffenden Vorschriften zu ändern.765 d) Inhaltliche Kriterien der Sozialschädlichkeit Welche Umstände für die Sozialschädlichkeit maßgeblich sind, findet sich aufgezählt unter den Legaldefinitionen des Art. 115 KK, genauer in dessen § 2. Dort heißt es: „Bei der Bewertung des Grades der Sozialschädlichkeit einer Tat berücksichtigt das Gericht Art und Charakter des verletzten Gutes, das Ausmaß des angerichteten oder drohenden Schadens, die Art und die Umstände der Tatbegehung, das Gewicht und die Bedeutung der durch den Täter verletzten Pflichten sowie die Gestalt des Vorsatzes, die Motivation des Täters und die Art der verletzten Sorgfaltsregeln und den Grad ihrer Verletzung.“ 766
Die verbindliche – und abschließend zu verstehende – Vorgabe dieser Kriterien ist eine Neuerung gegenüber der Rechtslage unter dem Kodeks karny von 1969. Sie verfolgt das Ziel, eine einheitliche und nur rechtlichen Erwägungen folgende 761 Buchała/Zoll, Art. 1 Ziff. 3 und 5; Marek, Komentarz, Art. 1 Ziff. 7. Auch die Festsetzung eines adäquaten Strafrahmens gehört zu dieser Einschätzung. – Kritisch zu dieser Funktion jedoch Zoll, ZStW 107 (1995), 417 (423 f.). 762 Indecki/Liszewska, S. 82 f.; Buchała/Zoll, Art. 1 Ziff. 6. 763 Je˛drzejewski, Pan ´ stwo i Prawo 1993, Nr. 10, 90 ff. Für ein rein an den Gesetzgeber und nicht an die Gerichte adressiertes Prinzip hatte sich im Entwurfsstadium auch Buchała noch ausgesprochen, in: Eser/Kaiser/E. Weigend, S. 9 (14). 764 Indecki/Liszewska, S. 83. 765 Vgl. zu dieser Diskussion Kunicka-Michalska, Przegla˛d prawa karnego, Bd. 18, S. 5 (8); Buchała/Zoll, Art. 1 Ziff. 4. 766 „Przy ocenie stopnia społecznej szkodliwos´ci czynu sa˛d bierze pod uwage˛ rodzaj i charakter naruszonego dobra, rozmiary wyrza˛dzonej lub groz˙a˛cej szkody, sposób i okolicznos´ci popełnienia czynu, wage˛ naruszonych przez sprawce˛ obowia˛zków, jak równiez˙ postac´ zamiaru, motywacje˛ sprawcy, rodzaj naruszonych reguł ostroz˙nos´ci i stopien´ ich naruszenia.“
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Auslegung und Anwendung des Begriffs der Sozialschädlichkeit sicherzustellen.767 Umstände, die mit der Person des Täters verbunden sind – seine Charaktermerkmale, seine Lebensweise und Ähnliches –, bleiben bei der Bestimmung der Sozialschädlichkeit also außen vor.768 Damit spricht sich das Gesetz in Einklang mit der auch früher schon herrschenden Lehre für die „komplexe“ und gegen eine „ganzheitliche“, auch die Persönlichkeit des Täters einbeziehende Interpretation der Sozialschädlichkeit aus.769 5. Schuld a) Allgemeines Mit der Schuld (wina) ist das letzte Element der Straftat nach polnischem Verständnis angesprochen – und zugleich das umstrittenste.770 Zwar ist in Art. 1 § 3 KK, anders als unter den Vorgängerkodizes,771 nunmehr ausdrücklich der Grundsatz verankert, dass es ohne Schuld keine Straftat gibt: „Keine Straftat begeht der Täter einer verbotenen Tat, wenn ihm zum Zeitpunkt der Tat keine Schuld zugerechnet werden kann.“ 772
Die Formulierung von der Zurechnung der Schuld soll einen doppelten Schutz bewirken: Einerseits gebietet sie zu prüfen, ob einer Person gesetzliche Entschuldigungs- oder Schuldausschließungsgründe zugute kommen. Andererseits ist in jedem Einzelfall zu untersuchen, ob der Person zur Zeit der Tat normkonformes Verhalten abverlangt werden konnte; dazu müssen ihre Motive und deren Einfluss auf den Tatentschluss analysiert werden.773 – Was aber unter Schuld genau zu verstehen ist, das ist strittig. Im Folgenden sei zunächst ausführlicher auf diesen Disput eingegangen. Im Anschluss daran werden die im Gesetz geregelten Gründe für das Fehlen der Schuld dargestellt.
767
Buchała/Zoll, Art. 1 Ziff. 29; Marek, Komentarz, Art. 115 Ziff. 1. Buchała/Zoll, Art. 1 Ziff. 30. – Eine zu weit reichende Entfernung des Augenmerks vom Täter hin zu seinem Verhalten kritisieren Majewski/Kadras, Pan´stwo i Prawo 1993, Nr. 10, 69 (71). 769 Vgl. Indecki/Liszewska, S. 84, und dazu oben in diesem Teil, D. II. 2. b) bb); s. auch – noch zum Entwurf – E. Weigend/Zoll, ZStW 103 (1991), 250 (252). 770 Majewski/Kadras, Pan ´ stwo i Prawo 1993, Nr. 10, 69. 771 Auch unter deren Geltung war das Schuldprinzip indessen unbestritten, vgl. nur Buchała, in: Eser/Kaiser/E. Weigend, S. 9 (15). 772 „Nie popełnia przeste˛pstwa sprawca czynu zabronionego, jezeli nie mozna mu ˙ ˙ przypisac´ winy w czasie czynu.“ 773 E. Weigend/Zoll, ZStW 103 (1991), 250 (253); E. Weigend, ZStW 110 (1998), 114 (121 f.). Lässt sich normkonformes Verhalten nicht abverlangen, fehlt es mit Blick auf diese Person schon an einem Verhaltensnormverstoß, auf den strafrechtlich zu reagieren wäre. 768
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b) Der Schuldbegriff Bei allen Meinungsverschiedenheiten im Einzelnen liegt dem Streit um den sachlich „richtigen“ Schuldbegriff im Ausgangspunkt ein Konsens zugrunde: Es besteht Einigkeit darüber, dass Schuld einen freien Willen voraussetzt, verstanden als Fähigkeit zur Selbstbestimmung und sinnvollen Gestaltung von Kausalverläufen.774 Darüber hinaus aber bestehen gravierende Divergenzen, die sich in einer Vielzahl unterschiedlicher Schulddefinitionen widerspiegeln. So wird Schuld unter anderem definiert als „vorwerfbarer Vorsatz bzw. vorwerfbare Fahrlässigkeit“, als ein „vom Standpunkt des Strafgesetzes her tadelnswerter Zustand des Täters, der die Tat begleitet“, als „persönliche Vorwerfbarkeit einer begangenen Tat“, als „negativ eingeschätzte (tadelnswerte) Beziehung des Täters zur Verwirklichung eines Tatbestands“, als „das negative Urteil über eine anlässlich einer begangenen Handlung zum Ausdruck kommende negative Einstellung zur Rechtsordnung, die bei der Entscheidung für ein rechtswidriges Verhalten wesentlich war,“ oder als „Fehlerhaftigkeit des Entscheidungsprozesses, unter der Bedingung, dass eine den Anforderungen des Rechts entsprechende Entscheidung möglich war.“ 775 Die verschiedenen Definitionsversuche sind vor dem Hintergrund einer umfassenderen Auseinandersetzung zwischen den Vertretern eines – auch in Polen jeweils so genannten – psychologischen Schuldbegriffs einerseits und eines normativen Schulbegriffs andererseits zu sehen:776 Der erstgenannte versteht Schuld als die psychologische Verknüpfung von Faktoren der Innenwelt des Täters mit dessen äußerem Verhalten.777 In Polen geht dieses Verständnis zurück auf Makarewicz, der Schuld unter Rückgriff auf v. Liszt und Kohlrausch als die „psychische Beziehung“ des Täters zu seiner Tat definierte.778 Diese Beziehung äußerte sich Makarewicz zufolge in den Schuldformen entweder des Vorsatzes oder der Fahrlässigkeit.779 Der so aufgefasste psychologische Schuldbegriff beherrschte in der Zwischenkriegszeit die polnische Wissenschaft und auch die Rechtsprechung, fand sich dann aber zunehmend Kritik ausgesetzt. Drei Einwände wurden haupt774
Buchała/Zoll, Art. 1 Ziff. 84; s. auch Gaberle, Pan´stwo i Prawo 2001, Nr. 5, 17
(18). 775 Überblick bei Dietrich/Namysłowska/Soroczyn ´ska, S. 25. Die letztgenannte Definition stammt von Buchała/Zoll, Art. 1 Ziff. 35; praktisch genauso Zoll, ZStW 107 (1995), 417 (426). 776 Ausführlich dazu E. Weigend, in: Eser/Kaiser/dies., S. 99 (99 ff.). 777 Sliwin ´ski, S. 211; s. auch den Rückblick bei Bien´kowska/Kunicka-Michalska/Rejman/Wojciechowska, Art. 1 Rn. 150, 152. Zu diesen innerweltlichen Faktoren zählten etwa das Bewusstsein des Täters, sein Wille und anfangs auch seine Motivation. Die polnische Lehre ordnete die Frage der Motivation dann allerdings bald außerhalb der Schuld ein. 778 Makarewicz, Art. 14; s. auch Bien ´kowska/Kunicka-Michalska/Rejman/Wojciechowska, Art. 1 Rn. 151. 779 Vgl. Bien ´kowska/Kunicka-Michalska/Rejman/Wojciechowska, Art. 1 Rn. 151.
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2. Teil: Landesberichte
sächlich vorgebracht:780 Erstens erfasse der psychologische Schuldbegriff nicht alle Schuldformen, vor allem nicht die Fahrlässigkeit, deren Kennzeichen gerade die Abwesenheit einer psychologischen Beziehung des Täters zu seinem Tun sei. Zweitens ließen sich die psychologischen Motive der Tat oft nicht klar bestimmen. Und drittens sage die psychische Einstellung des Täters zu seinem Verhalten häufig gar nichts über seine Schuld aus. Aus der Erkenntnis dieser Mängel brach sich nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend auch in Polen ein normatives Schuldverständnis Bahn. Zentraler Gedanke dieses normativen Ansatzes war – und ist –, dass dem Täter sein Verhalten individuell vorgeworfen werden könne:781 Bei der Vorsatzschuld sei dem Täter sein Willensinhalt vorzuwerfen, seine willentliche Entscheidung gegen das Recht. Bei der Fahrlässigkeitsschuld lasse sich der Vorwurf gegen die Art und Weise seiner Willensbildung erheben: darauf, dass der Täter die negativen Folgen seines Tuns hätte absehen müssen, es aber nicht tat. Entscheidendes Kriterium der Schuld sollte mithin die dem Täter im konkreten Fall obliegende Schuldigkeit (powinnos´c´) sein.782 Ebenso wie in Deutschland, dessen dogmatische Entwicklungen im Bereich der Schuldlehre die polnische Wissenschaft bis hierhin offenkundig nachvollzog,783 vermochte sich der normative Schuldbegriff indessen nicht in Reinform durchzusetzen. Der Haupteinwand gegen das normative Konzept ist seit jeher, dass dem Begriff der Schuld keinerlei ontologischer Inhalt mehr bleibe, wenn man ihn bloß als Zuschreibung eines Vorwurfs verstehe; dies sei mit der polnischen Rechtstradition nicht vereinbar.784 Vorzuziehen sei deshalb ein Schuldbegriff, der die zutreffenden Elemente der psychologischen und normativen Theorien in einer komplexen Theorie vereinige: Danach ist Schuld definiert als Vorwerfbarkeit einer rechtswidrigen Tat, die dem Täter aufgrund der bei ihm bestehenden psychischen Gegebenheiten sowie aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur zugerechnet wird.785 Die Vorwerfbarkeit der Tat ist demzufolge eine objektive, vom Vorwurf selbst zu trennende Entität. Vorsatz und Fahrlässigkeit werden in der „komplexen“ Theorie jedoch nach wie vor als Formen der Schuld aufgefasst.786 780
s. Bien´kowska/Kunicka-Michalska/Rejman/Wojciechowska, Art. 1 Rn. 154. Wolter, Nauka, S. 118. – Wolter vertrat allerdings keinen rein normativen Schuldbegriff, sondern eine verbindende Theorie, die auch das ältere psychologische Schuldverständnis mit aufnahm, vgl. E. Weigend, in: Eser/Kaiser/dies., S. 99 (100). 782 s. Bien ´kowska/Kunicka-Michalska/Rejman/Wojciechowska, Art. 1 Rn. 156. 783 Vgl. – durchaus kritisch – Andrejew, Pan ´ stwo i Prawo 1982, Nr. 7, 39 (39). 784 Marek, Komentarz, Art. 1 Ziff. 14. Auch liefere die normative Schuldtheorie keine Kriterien für die graduelle Abstufung der Schuld (Art. 53 § 1, Art. 66 § 1 KK), ja ziehe womöglich sogar außergesetzliche Prämissen dafür heran; so ders., Komentarz, Art. 1 Ziff. 15. 785 So die Definition Andrejews, Polskie prawo karne, § 84 Ziff. 1. 786 Marek, Komentarz, Art. 1 Ziff. 14; Warylewski, S. 291 ff. 781
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Der polnische Gesetzgeber hat in dem Streit um den Schuldbegriff keine Stellung bezogen. Der Entwurf des Jahres 1991 hatte zwar noch eine Legaldefinition der Schuld vorgesehen, wonach die Zumutbarkeit rechtmäßigen Verhaltens das entscheidende Kriterium sein sollte.787 Weil darin jedoch ein deutliches Bekenntnis zum normativen Schuldbegriff erblickt werden konnte, es aber nach Ansicht mancher Kritiker traditionell nicht Aufgabe des Gesetzgebers sei, eine bestimmte Lehrmeinung im Gesetzestext festzuschreiben, wurde der Entwurfstext nicht ins Werk gesetzt.788 Damit lassen sich auch unter dem geltenden Strafgesetz noch alle dargestellten Schuldtheorien vertreten. Für die Praxis ist die Kontroverse ohnehin nicht allzu relevant. Von größerer Bedeutung sind dort die konkreten Gründe für den Ausschluss der Schuld, von denen nunmehr die Rede sein wird. c) Gründe für den Ausschluss der Schuld Wenn Schuld voraussetzt, dass ein Verhalten „vorwerfbar“ sein muss, so steht diese Voraussetzung zunächst bei Personen in Zweifel, die schlicht noch zu jung sind, um ein belastbares Verständnis von strafrechtlichem Unrecht zu haben. Der polnische Gesetzgeber hat insoweit eine fixe Altersschwelle festgelegt: Gemäß Art. 10 § 1 KK gilt als schuldfähig, wer das 17. Lebensjahr vollendet hat. Minderjährige ab 15 Jahren können für die in Art. 10 § 2 KK aufgezählten Straftaten zur Verantwortung gezogen werden, haben dann allerdings nur eine Strafe von höchstens zwei Dritteln der Strafobergrenze für voll Strafmündige zu erwarten. Unter den in Kapitel III – Ausschluss der strafrechtlichen Verantwortlichkeit – behandelten Gründen beziehen sich auf das Straftatelement der Schuld die folgenden vier: die Unzurechnungsfähigkeit, der entschuldigende Notstand, der Irrtum über das tatsächliche Vorliegen eines Rechtswidrigkeit oder Schuld ausschließenden Umstands und schließlich der Irrtum über die Rechtswidrigkeit einer Tat. aa) Unzurechnungsfähigkeit Was zunächst die Unzurechnungsfähigkeit (niepoczytalnos´c´) betrifft, knüpft das neue Gesetz in Art. 31 § 1 KK so gut wie unverändert an die auch zuvor schon geltende Rechtslage an: „Keine Straftat begeht, wer aufgrund psychischer Krankheit, geistiger Behinderung oder einer anderen Störung der Geistestätigkeit zur Zeit der Tat deren Bedeutung nicht erkennen oder sein Verhalten nicht steuern konnte.“ 789 787 E. Weigend/Zoll, ZStW 103 (1991), 250 (253); Buchała, in: Eser/Kaiser/E. Weigend, S. 9 (15 f.). 788 E. Weigend, ZStW 110 (1998), 114 (121, Fn. 31). 789 „Nie popełnia przeste˛pstwa, kto, z powodu choroby psychicznej, upos´ledzenia umysłowego lub innego zakłócenia czynnos´ci psychicznych, nie mógł w czasie czynu rozpoznac´ jego znaczenia lub pokierowac´ swoim poste˛powaniem.“
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Die Definition verbindet biologisch-psychiatrische Ursachen und deren psychologische Folgen.790 Dass die Straftat gerade infolge fehlender Schuld ausgeschlossen ist, spricht der Gesetzestext zwar nicht explizit aus, wird aber weder in der Literatur noch in der Praxis angezweifelt.791 Art. 31 § 2 KK normiert den Fall der verminderten Zurechnungsfähigkeit. Diese liegt bei Personen vor, deren Fähigkeit zur Erkenntnis der Bedeutung der Tat oder zur Steuerung ihres Verhaltens in erheblichem Maße eingeschränkt war. In diesem Fall kann das Gericht eine außerordentliche Milderung der Strafe aussprechen. Eine wichtige Einschränkung der genannten Regelungen bringt allerdings Art. 31 § 3 KK: Weder § 1 noch § 2 kommen nämlich demjenigen Täter zugute, der sich selbst entweder bewusst oder in vorhersehbarer Weise in einen Trunkenheits- oder Rauschzustand versetzt hat, der seine Zurechnungsfähigkeit an sich ausschlösse oder minderte. Für Straftaten, die er in solchem Zustand begeht, wird seine Schuld demnach fingiert.792 Die Regelung, die bereits in Art. 17 § 2 KK 1932 und ähnlich in Art. 25 § 3 KK 1969 enthalten war, wird damit begründet, dass der Täter bei der Entscheidung für die Tat noch nüchtern und damit zurechnungsfähig war.793 bb) Entschuldigender Notstand Die in Art. 26 § 2 KK normierte Notstandssituation wird im polnischen Schrifttum einhellig als Entschuldigungsgrund eingestuft,794 obwohl sich aus der reinen Lektüre des Gesetzestexts – zumindest auf den ersten Blick – kein qualitativer Unterschied gegenüber dem in § 1 geregelten Kontratypus des rechtfertigenden Notstands zu ergeben scheint: „Keine Straftat begeht auch derjenige, der unter den Voraussetzungen des § 1 ein Rechtsgut rettet und dabei ein Rechtsgut opfert, das nicht offensichtlich höherwertig ist als das gefährdete.“ 795
790
Marek, Komentarz, Art. 31 Ziff. 3. s. etwa die Einordnung bei T. Bojarski/Giezek/Sienkiewicz, S. 186. 792 E. Weigend, ZStW 110 (1998), 114 (128). 793 s. Marek, Komentarz, Art. 31 Ziff. 8, der allerdings selbst zugibt, dass diese Situation selten auftrete. Häufiger falle die Entscheidung für die Tat erst nach Beginn des Rauschzustands. 794 Marek, Komentarz, Art. 26 Ziff. 5 ff.; E. Weigend, ZStW 110 (1998), 114 (125); Buchała, in: Eser/Kaiser/E. Weigend, S. 9 (17); Ewa/Weigend/Zoll, ZStW 103 (1991), 252 (258 f.); Giezek, in: Wolf, S. 69 (78). 795 „Nie popełnia przeste˛pstwa takze ten, kto, ratuja˛c dobro chronione prawem w ˙ warunkach okres´lonych w § 1, pos´wie˛ca dobro, które nie przedstawia wartos´ci oczywis´cie wyz˙szej od dobra ratowanego.“ 791
D. Der Straftatbegriff in Polen
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Beide Notstandskonstellationen beziehen sich demnach auf dieselben, nämlich alle möglichen Rechtsgüter; die Subsidiaritätsregel („sofern die Gefahr nicht anders abgewehrt werden kann“) gilt für beide gleichermaßen, und für beide Fälle statuiert der Gesetzestext bloß allgemein, dass der Handelnde „keine Straftat begeht“.796 Der entscheidende Unterschied besteht allein hinsichtlich des Wertverhältnisses der kollidierenden Güter:797 Ist das geopferte Gut geringerwertig als das gerettete, liegt eine Rechtfertigungssituation nach Art. 26 § 1 KK vor.798 Ist dagegen das geopferte Gut gleich- oder sogar höherwertig – allerdings nicht offensichtlich höherwertig –, so ist (lediglich) eine Entschuldigungssituation nach § 2 gegeben. Ist das geopferte Gut dagegen offensichtlich höherwertig, scheidet ein Strafausschluss wegen Notstands ganz aus. Mit dieser nach dem Wert der beteiligten Güter abstufenden Regelung steht das Gesetz in Einklang mit der polnischen Strafrechtstradition: Das Strafgesetzbuch von 1969 sah die Unterscheidung der beiden Notstandskonstellationen zwar noch nicht ausdrücklich vor; in der Lehre war sie allerdings auch schon damals anerkannt.799 Einen weiteren Unterschied zwischen den beiden Notstandsfällen macht bloß noch Art. 26 § 4 KK, wonach die Vorschrift des § 2 nicht gilt, wenn der Täter ein Gut opfert, zu dessen Schutz er besonders verpflichtet ist. Betroffen von dieser Einschränkung sind etwa Ärzte, die ansteckend Erkrankten helfen müssen, oder Feuerwehrleute und Polizisten, die im Rahmen ihrer Amtspflichten gewisse Gefahren für sich selbst in Kauf nehmen müssen.800 cc) Irrtum über das Vorliegen eines Rechtfertigungsoder Schuldausschließungsgrunds Für den Fall, dass jemand irrtümlich davon ausgeht, sein Verhalten werde durch einen Rechtfertigungs- oder Schuldausschließungsgrund erlaubt, trifft Art. 29 KK folgende Regelung: „Keine Straftat begeht, wer eine verbotene Tat in der entschuldbaren irrtümlichen Überzeugung begeht, dass ein Umstand vorliegt, der die Rechtswidrigkeit oder die Schuld ausschließt; ist der Irrtum des Täters nicht entschuldbar, so kann das Gericht eine außerordentliche Milderung der Strafe aussprechen.“ 801 796 Vgl. Joerden, in: Wolf, S. 33 (45). s. zum Fall des rechtfertigenden Notstands oben in diesem Teil, D. III. 3. b) bb), auch zum Problem, nach welchen objektiven Kriterien die Wertigkeit der kollidierenden Güter bestimmt werden kann. 797 Was nach E. Weigend, ZStW 110 (1998), 114 (126), polnischer Rechtstradition entspricht. 798 Vgl. nochmals oben in diesem Teil, D. III. 3. b) bb). 799 Und zwar schon bei Wolter, Nauka, S. 177 ff.; vgl. ferner Buchała, in: Eser/Kaiser/E. Weigend, S. 9 (18); Marek, Komentarz, Art. 26 Ziff. 6. 800 Marek, Komentarz, Art. 26 Ziff. 6. 801 „Nie popełnia przeste˛pstwa, kto dopuszcza sie˛ czynu zabronionego w usprawiedliwionym błe˛dnym przekonaniu, z˙ zachodzi okolicznos´c´ wyła˛czaja˛ca bezprawnos´c´ albo
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2. Teil: Landesberichte
Die Vorschrift schließt eine vormalige Gesetzeslücke, enthielt doch der Kodeks karny von 1969 keine spezielle Regelung zu der hier behandelten Irrtumskonstellation. Wie dem Gesetzestext eindeutig zu entnehmen ist, werden der Irrtum über das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrunds und der Irrtum über das Vorliegen eines Schuldausschlussgrunds gleich behandelt.802 Erfasst ist überdies sowohl der Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungs- bzw. Entschuldigungsgrunds als auch der Irrtum des Täters bei der rechtlichen Bewertung dieser tatsächlichen Umstände.803 Entscheidend ist in jedem Fall, ob der jeweilige Irrtum als entschuldbar anzusehen ist. Darin liegt eine mildere Regelung im Verhältnis zum alten Recht: Dort war Ausschlag gebend für die Strafbarkeit oder Straflosigkeit des Täters – in Anwendung von Art. 24 § 2 KK 1969 –, ob es objektiv unmöglich war, den Irrtum zu vermeiden.804 dd) Irrtum über die Rechtswidrigkeit einer Tat Art. 30 KK behandelt schließlich die Konstellation, dass dem Täter die Rechtswidrigkeit seiner verbotenen Tat nicht bewusst ist. Auch hier hängt die Rechtsfolge wiederum davon ab, ob der Irrtum als entschuldbar anzusehen ist. Wenn ja, so liegt keine Straftat vor; wenn nein, so kommt lediglich eine fakultative außerordentliche Strafmilderung in Betracht. Bei der Entscheidung darüber, ob eine Entschuldbarkeit zu bejahen ist, soll sich das Gericht davon leiten lassen, was „gesellschaftlich allgemein anerkannt“ ist805 – vor diesem Hintergrund wird Art. 30 KK kaum bei verbotenen Taten eingreifen, die sich gegen „klassische“, jedermann als geschützt bekannte Rechtsgüter richten, sondern eher bei Tatbeständen des Nebenstrafrechts.806 Aus der systematischen Einordnung dieses Irrtumsfalls ergibt sich, dass das Unrechtsbewusstsein nicht als ein Bestandteil des Vorsatzes angesehen wird, sondern als Schuldelement. Das war bereits unter der Geltung des alten Strafgesetzbuchs anerkannt.807 Allerdings ist die jetzige Formulierung gegenüber der älteren liberaler; ließ doch Art. 24 § 2 KK 1969 einen Ausschluss der Schuld nur dann zu, wenn es objektiv unmöglich war, den Irrtum über die Rechtswidrigkeit zu vermeiden.808 wine˛: jez˙eli bła˛d sprawcy jest nieusprawiedliwiony, sa˛d moz˙e zastosowac´ nadzwyczajne złagodzenie kary.“ 802 Zoll, ZStW 117 (2005), 749 (762). 803 Marek, Komentarz, Art. 29 Ziff. 1. 804 Marek, Komentarz, Art. 29 Ziff. 2. 805 Marek, Komentarz, Art. 26 Ziff. 2. 806 Marek, Komentarz, Art. 26 Ziff. 3. 807 Vgl. E. Weigend, ZStW 90 (1978), 481 (496 f.); dies., in: Eser/Kaiser/dies., S. 99 (112); Marek, Komentarz, Art. 30 Ziff. 2. 808 Art. 24 § 2 KK 1969; s. dazu Marek, Komentarz, Art. 30 Ziff. 1.
D. Der Straftatbegriff in Polen
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Nicht unerwähnt soll bleiben, dass ein Irrtum über die Sozialschädlichkeit irrelevant ist: Hält also jemand seine Tat irrtümlich für nicht sozialschädlich, ändert dies nichts an seiner Strafbarkeit.809 6. Der Nachweis der Straftat Komplettiert sei der Abriss über die materiellen Voraussetzungen der Straftat mit einem abschließenden Blick auf die Grundzüge des Tatnachweises. Diese Problematik wird in Polen – wie in Deutschland – üblicherweise nicht im Kontext des Verbrechensbegriffs behandelt, sondern als Aspekt eines von ihm getrennt aufgefassten Strafprozessrechts. In der Sache gilt dabei Folgendes: Das polnische Recht geht von einer umfassenden Unschuldsvermutung zu Gunsten des Beschuldigten aus; sie ist in Art. 5 § 1 Kodeks poste˛powania karnego (KPK) niedergelegt und über Art. 42 Abs. 3 Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej auch verfassungsrechtlich abgesichert. Konsequenz dieser Unschuldsvermutung ist, dass die Anklage sämtliche Elemente einer jemandem zur Last gelegten Straftat darlegen und beweisen muss.810 Gemäß Art. 7 KPK ist das Gericht bei der Würdigung dieser Beweise in den Grenzen der Logik, des vorhandenen Wissens und der allgemeinen Lebenserfahrung frei. Bleiben Zweifel, so ist nach Art. 5 § 2 KPK zu Gunsten des Beschuldigten zu entscheiden. Beweisregeln oder sonstige Vorgaben für die freie Beweiswürdigung stellt das polnische Recht nicht auf.
809 Das war in den Reformberatungen nicht unumstritten; s. näher Zoll, FS Hirsch, S. 419 (427 f.). 810 Grajewski/Paprzycki/Płachta, Art. 5 Ziff. 5; Hofman ´ski/Sadzik/Zgryzek, Art. 5 Rn. 7; Grzegorczyk, Art. 5 Ziff. 2 f.
Dritter Teil
Der Straftatbegriff im Rechtsvergleich Mit den dargestellten Abrissen des deutschen, englischen, französischen und polnischen Verbrechensbegriffs ist nunmehr die Grundlage dafür geschaffen, das eigentliche Vergleichsvorhaben in Angriff zu nehmen. Dieses soll, wie zu Anfang dargelegt,1 in zwei Schritten vonstatten gehen: Im Sinne einer vorbereitenden Annäherung sollen die vier Straftatbegriffe zunächst noch einmal kurz einzeln rekapituliert werden, dies unter Einschluss einer (zunächst eher allgemein gehaltenen, namentlich auch den Stil2 der einzelnen Konzepte betreffenden) kritischen Bewertung. Im Anschluss daran wird der Versuch unternommen, die vorgefundenen Elemente zu einem gemeinsamen Ganzen zusammen zu setzen. Das Ergebnis dieser Bemühungen soll in einer Schlussbetrachtung dann noch kritisch gewürdigt werden.
A. Allgemeine kritische Würdigung der untersuchten Straftatmodelle I. Deutschland Den methodischen Beschränkungen dieser Arbeit entsprechend,3 ist in dem deutschen Landesbericht lediglich eine knappe Skizze des Verbrechensbegriffs gezeichnet worden, und zwar desjenigen der „herrschenden Meinung“. Abweichende Konzeptionen, Modelle und Theorien – die es in großer Zahl und zu praktisch jedem einzelnen Element der Straftat gibt – mussten dabei weitest gehend unberücksichtigt bleiben. Selbst mit Blick auf diesen beschränkten Ausschnitt sollte allerdings im Vergleich eines deutlich geworden sein: Der deutsche Straftatbegriff der tatbestandsmäßigen, rechtswidrigen und schuldhaften Handlung ist gekennzeichnet von einer bemerkenswerten wissenschaftlich-theoretischen Durchdringung. Das äußert sich zum einen auf der – wenn man so sagen darf – Makroebene, das heißt bezogen auf das Modell der Straftat als solches: Dieses ist vom Anspruch her ein „echtes“, dogmatisches System, das heißt eines, das umfassende, ausnahmslose Geltung reklamiert. Es postuliert, dass die einzel1
s. zur Methodik des Vergleichs nochmals oben Erster Teil, C. II. 2. Zum Begriff des Stils bzw. Rechtsstils und seinem Nutzen für die Rechtsvergleichung Zweigert/Kötz, S. 67 ff. 3 Vgl. oben Erster Teil, C. II. 1. 2
A. Allgemeine kritische Würdigung der untersuchten Straftatmodelle
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nen Elemente der Straftat strikt voneinander getrennt sind und ebenso strikt aufeinander aufbauen.4 Sie sind in strenger Prüfungsreihenfolge zu durchlaufen, wobei die Prüfung gemäß der in Deutschland herrschenden Methodenlehre5 im Prozess der formal-logisch verstandenen Subsumtion stattfindet. Am Ende dieses Prozesses steht ein Ergebnis, das gerade auch auf Grund seiner systematisch-formalen Herleitung eine gewisse Überzeugungskraft beansprucht oder zumindest als frei von Zufälligkeit oder Willkür verstanden wird. Dementsprechend ist die Wertschätzung für das „System an sich“ sehr hoch. – In entsprechender Weise spiegelt sich der wissenschaftlich-theoretische Charakter des deutschen Verbrechensbegriffs zum anderen auch auf der Mikroebene wider, das heißt in den einzelnen Systemelementen: Auch hier besteht der geschilderte dogmatische Anspruch, abstrakte Theorien zu finden, mit deren Hilfe sich jede denkbare konkrete Fallkonstellation erfassen lässt. Von diesem Ausgangsverständnis her lässt sich nachvollziehen, weshalb etwa der Handlungs- oder der Schuldbegriff eine so umfassende akademische Diskussion erfahren haben. Dieser betont dogmatische Stil, der ja beileibe nicht nur das deutsche Strafrecht prägt,6 zeitigt Vor- und Nachteile. Einerseits ist es diesem Stil zu verdanken, dass die deutsche Strafrechtslehre im vergangenen Jahrhundert durchaus ein „eindrucksvolles Gesamtsystem“ 7 zu konstruieren und immer feiner auszudifferenzieren vermocht hat. Andererseits lässt sich gerade im länderübergreifenden Vergleich kritisch anmerken, dass diese deutsche Konstruktion dazu tendiert, über dem Streben nach einer formalen Harmonisierung des Systems dessen Verbindung mit der prozessualen Praxis zu vernachlässigen.8 Nicht von ungefähr ist in der obigen Darstellung des deutschen Straftatbegriffs die Frage des Beweises erst ganz am Ende in einem gesonderten Anhang behandelt worden. Und ebenfalls nicht von ungefähr wird der deutsche Verbrechensbegriff aus dem Blickwinkel fremder Rechtskreise oft als hoch abstrakt und kompliziert, als (zu) „philosophisch“ empfunden.9 Was die einzelnen Elemente des deutschen Verbrechensbegriffs angeht, so erweist sich als systembildend die strikte Trennung des Unrechts von der 4 Inwiefern dieses Postulat wirklich zutrifft, steht auf einem anderen Blatt. Die Trennung zwischen „objektivem“ und „subjektivem“ Tatbestand etwa erweist sich im Detail (zugestandermaßen) als weit weniger strikt, als das Straftatsystem glauben macht. Was den Aufbau der einzelnen Elemente aufeinander anbelangt, lässt sich durchaus kritisch hinterfragen, ob es z. B. strafrechtswidriges Verhalten und einen Unrechtsvorsatz ohne Schuld überhaupt geben kann. Zu diesen Punkten noch näher unten in diesem Teil, B. II. 2. c) cc) und d) aa) (2) (e). 5 Auf die hier allerdings nicht im Einzelnen eingegangen werden soll; s. insoweit (für das Strafrecht) Maurach/Zipf, § 9 Rn. 1 ff. 6 Vgl. für das Privatrecht Zweigert/Kötz, S. 135. 7 Tiedemann, FS Lenckner, S. 411 (433 f.). 8 Vgl. Tiedemann, FS Lenckner, S. 411 (424). 9 s. z. B. aus französischer Sicht Merle/Vitu, Tome I, Ziff. 379.
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3. Teil: Der Straftatbegriff im Rechtsvergleich
Schuld.10 Das Unrecht erblickt man in der tatbestandsmäßigen und rechtswidrigen Handlung, wobei der Tatbestand systematisch in einen „objektiven“ und einen „subjektiven“ Teil zerfällt. Mit Schuld wird im Wesentlichen der Umstand bezeichnet, dass dem Täter als Individuum seine Tat „vorgeworfen“ werden kann.11 Wie gezeigt, ist die Trennung von (äußerlichem) Unrecht und (innerer) Schuld bereits das Charakteristikum des klassischen Verbrechensbegriffs gewesen. Verfolgt man die weitere historische Entwicklung bis heute, so lässt sich diagnostizieren, dass die Fortbildung des klassischen Modells dann aber in gewisser Weise auf halbem Wege stehen geblieben ist. Deutlich wird das etwa daran, dass der Vorsatz – der finalistischen Konzeption (nur) im Ergebnis folgend – zwar einerseits aus der Schuld in den Bereich des Tatbestands vorverlegt worden ist, er andererseits aber zugleich als Schuldform weiter existiert. Ähnlich „konservativ“ präsentiert sich die Entwicklung beim Fahrlässigkeitsdelikt: Dort hat die bis vor kurzem noch herrschende Auffassung lediglich die „objektive Sorgfaltspflichtverletzung“ in den Tatbestand vorverlegt, die individuelle Fahrlässigkeit („Vorwerfbarkeit“) fungiert dagegen weiterhin als Schuldelement12 – obwohl sie richtigerweise bereits für die Begründung eines Verhaltensnormverstoßes und damit für das Verhaltensunrecht der Fahrlässigkeitstat benötigt wird.13 Der prozessuale Aspekt wird im deutschen Verbrechensbegriff weit gehend ausgeklammert und zumeist in einem speziellen verfahrensrechtlichen Diskurs erörtert; das betrifft gerade auch die wichtige Frage des Tatnachweises.14 Sachlich gilt insoweit für alle Elemente der Straftat dasselbe: Für eine Verurteilung ist dem Beschuldigten nachzuweisen, dass er sich tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft verhalten hat. Richter haben ihre Überzeugung, ob dem so ist oder nicht, in freier Beweiswürdigung zu bilden. Anerkannte Regeln für diese Überzeugungsfindung gibt es nicht.
II. England Die nähere Beschäftigung mit den Elementen des Verbrechens in England – actus reus, mens rea als positive, defences als negative Voraussetzungen – ergibt 10 Jescheck/Weigend, S. 200 ff.; Schünemann, Coimbra-Symposium, S. 149 (149 ff.); Dannecker, FS Hirsch, S. 141 (150 f.); Perron, FS Lenckner, 227 (234); Vogel, GA 1998, 127 (148). Küper, JuS 1987, 81 (81), spricht von einem „fundamentalen Dualismus“. Die Berechtigung dieser Trennung wird inzwischen freilich wieder zunehmend in Frage gestellt; s. Pawlik, FS Otto, S. 133 (133 ff. mit weiteren Nachweisen in Fn. 2). Näher zu Rechtfertigung und Entschuldigung im deutschen Straftatsystem s. Perron, in: Eser/Nishihara, S. 67 (67 ff.). 11 Vgl. oben Zweiter Teil, A. II. 2. d) cc) (b). 12 Vgl. oben Zweiter Teil, A. II. 2. b) cc). 13 Dazu etwa Frisch, in: Wolter/Freund, S. 135 (186 f.) und näher unten in diesem Teil, C. II. 2. b). 14 Zur Notwendigkeit und neueren Ansätzen eines gesamten Strafrechtssystems unter Einbeziehung des Prozesses s. oben Erster Teil, C. II. 1. (Fn. 105).
A. Allgemeine kritische Würdigung der untersuchten Straftatmodelle
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in rechtsstilistischer Hinsicht folgenden ersten Grundsatzbefund: Das englische Strafrecht ist in seiner heutigen Gestalt durchaus nicht (mehr) „theoriefeindlich“ 15, jedenfalls nicht schlechthin. Davon zeugt allein schon der schiere Umfang des wissenschaftlichen Schrifttums zum Allgemeinen Teil – es gibt heute nicht mehr nur Case books, sondern auch und vor allem Lehrbücher; und jedes von ihnen enthält ausführliche Darlegungen zu den elements of crime. Aufschlussreich ist darüber hinaus aber auch die Art und Weise, wie sich die jeweiligen Autoren dieser ihrer Materie widmen.16 Die Analyse der Verbrechenselemente erfolgt nämlich eben gerade nicht rein kasuistisch, sondern ist durchaus in Theorien eingebettet;17 und sie trachtet gerade auch danach, allgemeine Prinzipien zu erschließen und systematische Zusammenhänge deutlich zu machen. Man denke etwa an die generelle Einteilung der Delikte in conduct crimes, result crimes und state-of-affairs offences, ferner an den allgemein gültigen „but for“Test im Kontext der Kausalität, an die Kategorisierung der verschiedenen Arten von mens rea (intention, knowledge, recklessness, negligence) und ihre weitere Subkategorisierung (z. B. direct und oblique intention) oder an die Klassifikation der Verteidigungseinreden. Es ist allerdings immer auch eine Frage des persönlichen Blickwinkels, wie man ein Strafrechtssystem bewertet. Die eingangs wiedergegebene Charakterisierung des englischen Strafrechts als theoriefeindlich ist aus deutscher Perspektive geschehen; und von diesem Standpunkt aus erscheint sie in gewisser Weise dann doch als nachvollziehbar. Denn auch wenn dem englischen Strafrechtsstil ein theoretisch-systematischer Zug wie gezeigt keineswegs mehr vollkommen fremd ist, unterscheidet er sich rechtsstilistisch doch in markanter Weise von dem Theorie- und Systemverständnis, das die deutsche Strafrechtslandschaft prägt: Der Verbrechensbegriff in Deutschland ist, wie soeben geschildert, als ein streng dogmatisches, formales, geschlossenes System konzipiert. Im englischen Strafrecht dagegen wird der Verbindung der elements of crime zu solch einem System viel weniger Bedeutung beigemessen. Zugespitzt kann man sagen: Es ist pragmatisch statt dogmatisch.18 15 So auch Ashworth, ZStW 110 (1998), 461 (463), der eine „Wiederbelebung der Dogmatik“ konstatiert. Ein steigendes Interesse der anglo-amerikanischen Rechtswissenschaft am Allgemeinen Teil sieht auch Ambos, Cardozo Law Review 28 (2007), 2647 (2648, Fn. 4). 16 Dass das Strafrecht des Common Law durchaus wissenschaftlichen Charakter aufweist, betont auch Vogel, GA 1998, 127 (136 f.); vgl. ferner im hiesigen Sinne Ashworth, ZStW 110 (1998), 461; Brockhaus, S. 13 (Fn. 59). 17 Vgl. Vogel, GA 1998, 127 (136 f.). 18 Zur terminologischen Klarstellung: Der Begriff „dogmatisch“ wird hier im oben schon verwendeten, wörtlichen Sinne verwendet – und nicht, wie im deutschen Strafrechtsdiskurs sonst verbreitet, als Synonym für „wissenschaftlich“/„theoretisch“. In diesem letzteren Sinne kann man durchaus, in Übereinstimmung mit dem eben Ausgeführten, von einer angelsächsischen Strafrechtsdogmatik sprechen, so Silva Sánchez, GA 2004, 679 (682).
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3. Teil: Der Straftatbegriff im Rechtsvergleich
Um diesen pragmatischen Zug des englischen Straftatbegriffs zu verdeutlichen, sei hier zunächst noch einmal an dessen Entstehungsgeschichte erinnert: Wie gesehen, wurde die Zweiteilung in actus reus und mens rea nicht von einer wissenschaftlichen Schule begründet, sondern aus der Praxis und für die Praxis. Philosophische oder sonstige vorrechtliche Überlegungen haben dabei keine bewusste Rolle gespielt; und auch wenn das englische Strafrechtsdenken heute in der Sache durchaus von der Philosophie gerade eines Bentham geprägt ist, wird eine unmittelbare theoretische Verankerung des Verbrechensbegriffs auf vorrechtlichem Grund nach wie vor nicht angestrebt.19 Auch actus reus, mens rea und defences selbst betrachtet man allenfalls in zweiter Linie als Schöpfungen von systematisch-theoretischem Nutzen; in erster Linie versteht man sie als Begriffe geltenden Rechts.20 In ihrer Funktion als Strukturelemente der Straftat schlägt ihnen dagegen eine bemerkenswerte Leidenschaftslosigkeit entgegen: Die Einteilung des Verbrechens in actus reus, mens rea und defences ergibt sich für das Gros der englischen Autoren nicht aus tieferen, womöglich gar zwingenden Überlegungen,21 sondern hat für sie eher eine werkzeugartige Funktion22. Die Zuversicht, mit Hilfe gerade dieser Struktur leichter zu sachgerechten Ergebnissen zu gelangen, scheint bei ihnen nicht sonderlich ausgeprägt. Als pragmatisch kann man denn auch das Verständnis der Strukturelemente im Einzelnen bezeichnen. Sie sind allesamt nicht dogmatisch gefasst, sondern lassen im Bedarfsfall ohne Weiteres Ausnahmen und Abweichungen zu. So wird der actus reus zwar prinzipiell als festes Element des Verbrechens postuliert – doch im Fall der so genannten state-of-affairs offences bedarf es eines wirklichen actus, verstanden als extern wirkende Handlung, ausnahmsweise nicht. Ebenso ist mens rea prinzipiell für die Strafbarkeit eines Verhaltens erforderlich – doch im Fall der strict liability offences ist sie teils oder sogar ganz verzichtbar, kommt es auf das Vorstellungsbild des Täters nicht an. Dieser prinzipienorientierte23 Charakter der englischen Straftatlehre setzt sich auch auf den jeweiligen Subebenen der einzelnen Strukturelemente fort. Die Frage der Zurechnung eines Erfolgs etwa (die so genannte legal causation) sucht man nicht formal-dogmatisch, mittels einer Allgemeingültigkeit beanspruchenden Formel zu lösen, sondern es entscheiden je nach Einzelfall verschiedene Prinzipien und – nicht zuletzt – der „gesunde Menschenverstand“.24 Der Vorteil einer solchen prinzipienorientierten Herangehensweise liegt offenkundig in ihrer hohen Flexibilität, gestattet sie es 19
Vgl. Husak, S. 19. Vogel, GA 1998, 127 (138), der insoweit vom positivistischen Zug der CommonLaw-Straftatlehre spricht. 21 Vgl. auch nochmals den nüchternen Kommentar von Simester/Sullivan, S. 607, zur Einteilung der defences („a matter of convention, not of principle“). 22 Allen, S. 17; Ashworth, Criminal Law, S. 95; Molan/Bloy/Lanser, S. 25. 23 Vogel, GA 1998, 127 (138). 24 Vgl. oben Zweiter Teil, B. III. 2. a) bb) (3). 20
A. Allgemeine kritische Würdigung der untersuchten Straftatmodelle
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doch, Sachfragen zielstrebig und von Aufbaufragen „unbelastet“ zu erfassen. Dem korrespondiert allerdings als Nachteil, dass die Antworten auf diese Fragen von vornherein weniger vorhersehbar sind – insbesondere dann, wenn im Vorfeld nicht ersichtlich ist, welches unter mehreren entscheidungsleitenden Prinzipien sich in einem etwaigen Konfliktfall durchsetzen wird. Was schließlich noch charakteristisch für den englischen Verbrechensbegriff ist – und auch insofern erscheint die Redeweise von einem pragmatischen statt dogmatischen Stil treffend –, ist seine enge Verknüpfung mit der Wirklichkeit des Strafprozesses. Zur Illustration: Wenn die Verteidigungseinreden einerseits als eigenständige (Negativ-)Voraussetzungen der Straftat postuliert werden, das Vorliegen einer Verteidigungseinrede andererseits aber actus reus oder mens rea – sprich: ganz andere Voraussetzungen der Straftat – auszuschließen vermag,25 dann ist das dogmatisch gesehen zwar nicht schlüssig. Es handelt sich aber dafür um ein exaktes strukturelles Abbild der Chronologie im Strafprozess: Zunächst trägt die Anklage das Tatsachenmaterial vor, das aus ihrer Sicht actus reus und mens rea begründet; dabei obliegt ihr ausnahmslos die Darlegungs- und Beweislast nach dem Maßstab des proof beyond reasonable doubt. Erst und nur wenn diese Bedingungen erfüllt sind, „antwortet“ der Beschuldigte mit seinen Verteidigungseinreden, hinsichtlich deren nunmehr ihm (zumindest) eine Darlegungslast obliegt.26 Eine erfolgreich vorgetragene failure of proof defence bringt das zuvor tragfähig erschienene Anklagegebäude zum Einsturz. Indem der englische Verbrechensbegriff diese verfahrensrechtliche Chronologie gleichsam spiegelbildlich wiedergibt – zuallererst in seiner Makrostruktur, aber darüber hinaus etwa auch durch die geradezu natürliche Einbeziehung der Tatnachweisproblematik in die Voraussetzungen der Strafbarkeit27 –, verwirklicht er eine bemerkenswerte Einheit von materiellrechtlichem und prozessualem Denken28 und entspricht so perfekt den Gegebenheiten und Anforderungen der Praxis.29 Festhalten lässt sich bis hierhin also: Der englische Verbrechensbegriff erhebt weder noch erfüllt er den Anspruch dogmatisch-systematischer Geschlossenheit; stattdessen ist es ihm um einen pragmatischen, prinzipienorientierten sowie praxisbezogenen Zugang zu rechtlichen Fragestellungen zu tun.30 Systembildend für ihn ist zum einen die Trennung zwischen actus reus als Beschreibung der externen Aspekte der Straftat und mens rea als Beschreibung der internen Aspekte der 25
So im Fall der failure of proof defences, vgl. oben Zweiter Teil, B. III. 2. d) aa). Vgl. oben Zweiter Teil, B. III. 2. d) dd). 27 Vgl. Vogel, GA 1998, 127 (137 f.). 28 Tiedemann, FS Lenckner, S. 411 (433). 29 Daran nicht zuletzt dürfte es liegen, dass sich neuere, in dogmatischer Hinsicht gewiss überzeugendere Straftatmodelle (wie sie oben im Zweiten Teil, B. III. 2., angerissen wurden) bislang nicht haben durchsetzen können. 30 So schon Vogel, GA 1998, 127 (137 ff.), der zudem den rechtspositivistischen Zug des Common Law betont. 26
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3. Teil: Der Straftatbegriff im Rechtsvergleich
Straftat. Beide gemeinsam bilden, zum anderen, die positiven oder verantwortungsbegründenden Verbrechenselemente, welche von Seiten der Anklage dargelegt und bewiesen werden müssen. Ihnen stehen die defences als negative oder verantwortungsausschließende Verbrechenselemente gegenüber, die tendenziell strengeren Voraussetzungen unterliegen als in Deutschland31 und bei denen überdies (zumindest) die Darlegungslast beim Beschuldigten liegt. Keine systemrelevante Rolle spielt demgegenüber die Unterscheidung zwischen Unrecht und Schuld.32
III. Frankreich Mit der französischen Verbrechenslehre verhält es sich in mancher Hinsicht ganz ähnlich wie mit der englischen: Auch ihr gegenüber mangelt es in Deutschland nicht an kritischen Urteilen, gefällt aus einem spezifisch deutschen Wissenschaftsverständnis heraus. So soll bereits v. Liszt den maliziösen Ausspruch getan haben, eine französische Strafrechtsdoktrin gebe es nicht.33 Das modernere Schrifttum urteilt inzwischen zwar weniger harsch, aber doch nach wie vor auch kritisch.34 Zumindest die Einlassung v. Liszts wird man nach dem hiesigen Studium der Elementenlehre – mit ihren drei Konstituenten élément légal, élément matériel, élément moral – nicht (mehr) aufrecht erhalten können. Denn wenn man den Charakter der französischen Straftatlehre zu umschreiben versucht, so liegt man mit Attributen wie „theoretisch“, „akademisch“, „systematisch“ gewiss nicht falsch. Allerdings beruht die französische Theorie wiederum auf einem ganz eigenen Stilverständnis, das sich sowohl von der deutschen als auch von der englischen Auffassung deutlich unterscheidet:35 Strafrechtsdoktrin à la française schlägt sich in erster Linie in Klassifizierungen und Kategorisierungen aller Art nieder, die den Stoff in eine übersichtliche Ordnung bringen sollen. Zugespitzt kann man sagen: Die französische Lehre beschreibt und ordnet, erklärt aber nicht. So stehen denn die verschiedenen Klassifikationen mehr oder minder unverbunden nebeneinander, sie werden auch durch die Elementenlehre nicht wirklich in einem dogmatischen Sinne verklammert. Einen derartigen Anspruch er31
Vgl. Vogel, GA 1998, 127 (144 f.). Kritisch dazu schon Radbruch, Der Geist des englischen Rechts, S. 76 ff. 33 Überliefert von Merle/Vitu, Tome I, Ziff. 379 (S. 499, Fn. 5). 34 Nach Jescheck, ZStW 98 (1986), 1 (8), treten in der französischen Konzeption der Straftat die größeren Zusammenhänge nicht hervor. Auch Tiedemann, FS Lenckner, S. 411 (433), konzediert bei einer im Ganzen sehr wohlwollenden Bewertung, dass die französische Lehre auf ein schlüssiges und anerkanntes Gesamtsystem weit gehend verzichte. Zu einem geradezu vernichtenden Urteil kommt mit Blick auf die französische Fahrlässigkeitsdogmatik nach gründlicher rechtsvergleichender Untersuchung Pfefferkorn, S. 281. Deutlich kritisch zuletzt auch Ambos, ZStW 2008, 180 (180 ff.). 35 Vgl. Hünerfeld, ZStW 93 (1981), 979 (993 f.). 32
A. Allgemeine kritische Würdigung der untersuchten Straftatmodelle
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hebt die französische Straftatlehre allerdings auch gar nicht, wird dort doch gerade das deutsche Systemstreben traditionell als zwar „profond, mais obscur“ 36 und dementsprechend nicht als vorbildhaft empfunden.37 Exemplarisch für den fehlenden oder zumindest doch schwachen dogmatischen Charakter des französischen Verbrechensbegriffs ist bereits dessen Makrostruktur als solche: Wenn das élément légal der erste Bestandteil der Straftat ist, systematisch auf gleichem Rang angesiedelt wie élément matériel und élément moral, so entspricht das zwar der Chronologie praktischen strafrechtlichen Arbeitens; denn natürlich bedarf es zunächst eines Straftatbestandes, bevor man dessen Voraussetzungen im Einzelnen prüft.38 Als dogmatische Struktur indessen erscheint diese Trias „schief“. Sie erscheint deshalb schief, weil das élément légal einen ganz anderen Bezugsgegenstand hat als seine beiden – historisch ja auch früher entstandenen39 – Schwesterelemente: Diese widmen sich den (äußerlichen und innerlichen) Aspekten strafbaren menschlichen Verhaltens; jenes thematisiert dagegen die Strafvorschrift als solche unter Einschluss ihres Zustandekommens sowie ihrer Geltungs- und Anwendungsbedingungen.40 Das mutet nicht nur aus deutscher Perspektive ungewohnt an,41 auch in Frankreich selbst wird diese Struktur wie gesehen42 von den Vertretern einer beachtlichen Minderheitsansicht in Zweifel gezogen. Ihr Argument: Schon aus logischen Gründen könne der Text, der die Straftat beschreibt und sie dadurch erst konstituiert, nicht zugleich ein Element derselben sein. Dem wird man sich kaum verschließen können.43 Dabei steht es in der Sache selbstverständlich außer Frage, dass für jegliche Bestrafung eine Strafnorm erforderlich ist; und so mag man den hier nachgezeichneten Streit in der Tat für „parfaitement stérile“ halten44 – aber eben nur dann, wenn man der 36 So die Beobachtung Garçons, geäußert in seiner Einleitung zu v. Liszt, Traité de droit pénal allemand, S. V (X f.). Garçon selbst hielt diese Einschätzung seinerseits allerdings für ebenso „ungerecht“ wie das umgekehrt vorhandene deutsche Vorurteil, das französische Straftatverständnis sei „clair, mais superficiel“. 37 In den treffenden Worten Vogels, GA 1998, 127 (129), zielt die französische Konzeption darauf ab, „die positiv-rechtlichen Voraussetzungen strafrechtlicher Verantwortlichkeit anhand von Rechtsprinzipien zu kategorisieren und zu systematisieren, und will nicht etwa ein synthetisch-integrales Straftatsystem auf vorrechtlicher Grundlage schaffen.“ 38 Merle/Vitu, Tome 1, Ziff. 384, schreiben denn auch, die erste Operation praktischen strafrichterlichen Arbeitens liege darin, eine passende Strafnorm ausfindig zu machen. 39 Vgl. zur Geschichte der Elementenlehre oben Zweiter Teil, C. II. 40 Vgl. oben Zweiter Teil, C. III. 1. a) cc). 41 In Deutschland würde man diese Fragen in der außerhalb des Verbrechensbegriffs verorteten Lehre vom Strafgesetz behandeln; Manacorda, GA 1998, 124 (125), konstatiert denn auch eine „Zusammenhanglosigkeit“ des französischen Modells. 42 Vgl. oben Zweiter Teil, C. III. 1. a). 43 Demnach ist die Strafvorschrift eine äußere Vorbedingung der Straftat; so etwa Leroy, Rn. 86. Desportes/Le Gunehec, Ziff. 430; vgl. auch Pin, Rn. 135 ff. 44 Vgl. oben Zweiter Teil, C. III. 1. a).
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3. Teil: Der Straftatbegriff im Rechtsvergleich
theoretischen Überzeugungskraft und systematischen Geschlossenheit eines Verbrechensmodells keine größere Bedeutung beimisst, kurz: wenn man wiederum einen pragmatischen Ansatz einem dogmatischen Ansatz vorzieht. Dieser pragmatische Ansatz scheint denn auch in einer Reihe anderer Beispiele auf: etwa darin, dass wie erwähnt Aspekte des Besonderen Teils, einschließlich des praktisch bedeutsamen Nebenstrafrechts, in die allgemeine Straftatlehre einfließen.45 Von Pragmatismus zeugt es nicht zuletzt auch, wenn die Rechtsprechung des Cour de cassation im französischen Schrifttum weite Akzeptanz erfährt, obwohl die apodiktischen Entscheidungen des Gerichts nicht nur dogmatischen, sondern oft genug sogar jeglichen Begründungsaufwand vermissen lassen.46 Den Verzicht auf eine Dogmatik im wörtlichen Sinne kompensiert das französische Straftatmodell – insoweit wiederum ähnlich wie das englische –, indem es sich auf bestimmte Rechtsprinzipien gründet.47 Diese Prinzipien fügen sich ihrerseits nicht zu einem dogmatischen System, vielmehr werden sie jedes für sich zumeist aus der französischen Verfassungs- und Menschenrechtstradition hergeleitet.48 Ihr Unterschied zu rechtsdogmatischen Sätzen besteht darin, dass sie Ausnahmen und Abweichungen zulassen und somit eine relativ flexible Handhabung ermöglichen. Verdeutlichen lässt sich dies an allen drei Elementen des Verbrechens selbst – kann man doch jedes von ihnen auf ein Rechtsprinzip im beschriebenen Sinne zurück führen. So basiert erstens das élément légal auf dem Gesetzlichkeitsprinzip (principe de légalité pénale), das für die Strafbarkeit eines Verhaltens prinzipiell ein Gesetz verlangt, für die Strafbarkeit einer Übertretung „ausnahmsweise“ jedoch eine Verordnung der Exekutive ausreichen lässt.49 Vom élément matériel, zweitens, kann man sagen, dass es auf einem „Materialitätsprinzip“ 50 beruht: Pas d’infraction sans activité matérielle. Daraus erklärt sich zum Beispiel die traditionelle Zurückhaltung gegenüber einer Strafbarkeit des Unterlassens – „ausnahmsweise“ kann ein solches aber gleichwohl strafbar sein.51 Das élément mo45 Vgl. oben Zweiter Teil, C. III. 1. a) aa); ferner Tiedemann, FS Lenckner, S. 411 (425 f.). 46 Vogel, GA 1998, 127 (130). 47 Vogel, GA 1998, 127 (130). 48 Vgl. Vogel, GA 1998, 127 (130). 49 Vgl. oben Zweiter Teil, C. III. 1. a) bb). Kritisch dazu Robert, FS Pradel, S. 161 (161 ff.), der dafür plädiert, bloße Gefahrenabwehr nicht mit strafrechtlichen Mitteln zu realisieren, sondern (wieder) in einer eigenen Kategorie der contravention de police. 50 s. oben Zweiter Teil, C. III. 2. – Die Bezeichnung als Materialitätsprinzip ist eine Anleihe Vogels, GA 1998, 127 (132), aus der italienischen Lehre („principio di materialità“). 51 Vgl. oben Zweiter Teil, C. III. 2. b). – Auch juristische Personen können sich im Übrigen unter dem neuen Code pénal nunmehr ohne eigene materielle Aktivität „strafbar“ machen.
A. Allgemeine kritische Würdigung der untersuchten Straftatmodelle
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ral schließlich gründet sich auf das Prinzip, dass Strafe (eine im Einzelfall nachzuweisende) individuelle Schuld voraussetzt; die Ausnahme dazu bilden die infractions matérielles, für deren Strafbarkeit das Vorliegen der beiden ersten Verbrechenselemente genügt.52 Zu würdigen ist schließlich ferner noch, dass die französische Elementenlehre auch die praktisch wichtige Frage mit behandelt, wie und von wem diese Elemente im Strafverfahren nachzuweisen sind. Bezieht man diese prozessuale Seite in die hiesige Analyse ein, so ergibt sich folgender Befund: Prinzipiell gilt im französischen Strafrecht eine Unschuldsvermutung; demnach müssen für eine Verurteilung wegen einer infraction deren élément matériel und (soweit für eine Strafbarkeit verlangt) ihr élément moral nachgewiesen werden. Doch selbst dieses Prinzip erleidet eine Ausnahme insofern, als es nicht für Rechtfertigungsgründe gilt. Wie gesehen, ist es in deren Kontext vielmehr grundsätzlich dem Beschuldigten aufgegeben, die ihn entlastenden Umstände nicht nur darzulegen, sondern sogar zu beweisen.53 In Anbetracht dieses Befundes kann man sagen, dass die französische Konzeption der Straftat ebenfalls systembildend wie folgt unterscheidet: Auf der einen Seite stehen die positiven oder genuin straftatkonstituierenden Elemente. Sie sind wiederum unterteilt in extern-objektive und internsubjektive Voraussetzungen; Darlegungs- und Beweislast obliegen insoweit jeweils der Anklage. Ihnen gegenüber stehen auf der anderen Seite negative oder straftatausschließende Elemente; sie werden prinzipiell als Ausnahmefälle aufgefasst,54 und deshalb obliegt es dem Beschuldigten, das Vorliegen einer solchen Ausnahme darzulegen und im Grundsatz auch zu beweisen.55 Vergleicht man dieses Modell mit dem englischen, so lässt sich bereits jetzt eine bemerkenswerte strukturelle Ähnlichkeit zwischen beiden vermerken.56 Festzustellen ist aber auch, dass dieses ganz ähnliche Resultat in England auf deutlich einfachere, eingängigere und anschaulichere Weise erreicht wird als in Frankreich. Die Struktur der englischen offence bringt die ihr eigene systembildende Trennung im Verhältnis sehr klar und (auch „chronologisch“) exakt zum Ausdruck, indem sie die negativen Straftatelemente hinter den positiven Elementen einordnet; zugleich verbinden sich in jedem einzelnen Element materielle und prozessuale Aspekte zu einer harmonischen Einheit. Im Vergleich dazu wirkt die französische Konzeption – die doch Klarheit für sich reklamiert – in ihrer strukturellen Abbildung komplizierter, wenn nicht gar umständlich. Auch spiegelt sich in ihr die (tatsächlich ja ebenfalls gegebene) Verbindung von materiellem und prozessualem Recht zu einem Gesamtsystem nur unvollkommen wider. 52 53 54 55 56
Vgl. oben Zweiter Teil, C. III. 3. b) cc). Vgl. oben Zweiter Teil, C. III. 1. b) cc). Tiedemann, FS Lenckner, S. 411 (422 f.). Vgl. Vogel, GA 1998, 127 (146). So schon Vogel, GA 1998, 127 (146).
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3. Teil: Der Straftatbegriff im Rechtsvergleich
Zum Beleg sei nochmals auf das élément légal verwiesen: Soweit es darin um die Strafvorschrift als solche geht, kommt ihm prozess- oder jedenfalls beweisrechtlich überhaupt keine Relevanz zu.57 Beweisrechtlich relevant ist das élément légal nur mit Blick auf die Rechtfertigungsgründe, die von der herrschenden Auffassung ja dort verortet werden.58 Diese Verortung kann man indes schwerlich für systematisch gelungen halten: Ginge man nämlich chronologisch wirklich gemäß dieser Struktur vor, so wäre die Rechtfertigung eines Verhaltens zu erörtern, dessen Tatbestandsmäßigkeit noch gar nicht behandelt, geschweige denn bejaht worden wäre – eine zumindest aus prüfungspraktischer Sicht wenig überzeugende Verfahrensweise.59 Nicht zuletzt deshalb dürften in der französischen Lehre jene alternativen Straftatmodelle verbreitet sein, die den Rechtfertigungsgründen eine gesonderte Systemstelle an späterer Position zuweisen, sei es in einem zusätzlichen élément injuste, sei es in einer außerhalb der Verbrechenselemente angesiedelten Kategorie der Verantwortlichkeit (responsabilité).60 Diese Konzeptionen kommen der englischen dann in der Tat auch in struktureller Hinsicht äußerst nahe.
IV. Polen Vor der Befassung mit dem polnischen Verbrechensbegriff ist oben61 einleitend geäußert worden, dass der durchschnittliche deutsche Strafrechtler über das bei seinem östlichen Nachbarn herrschende Konzept wohl am wenigsten Kenntnis besitzen dürfte. Diese ex ante formulierte Einschätzung darf man nach der Lektüre des einschlägigen Kapitels jetzt wohl revidieren: Vieles von dem, was heute Gegenstand der polnischen Straftatlehre ist, erscheint aus deutscher Perspektive als ausgesprochen vertraut. So zeigt sich noch heute – und zwar weit deutlicher, als man es nach den sozialistischen Jahrzehnten womöglich erwartet hätte –, dass Deutschland gegenüber Polen lange Zeit „Exporteur“ seines Straf-
57 Darin zeigt sich ein weiteres Mal, dass das Verständnis des élément légal als Bestandteil der Straftat „schief“ ist. 58 Und zwar als das Element negierende Umstände, vgl. oben Zweiter Teil, C. III. 1. b). 59 In Wahrheit dürfte es sich denn auch so verhalten, dass die Elementenlehre gar nicht im Sinne eines Prüfungs- oder Gliederungsschemas aufgefasst bzw. angewendet wird, ja dass diese dem deutschen Rechtsstil eigene Vorstellung sich so nicht auf den französischen Rechtsstil übertragen lässt. 60 Vgl. oben Zweiter Teil, C. III. – Wenn die herrschende Auffassung dem entgegen hält, man könne den Unrechtscharakter eines Verhaltens nicht unabhängig von der „Legalität“ beurteilen, die es als Unrecht definiert, so erscheint dieses Argument wenig durchschlagend. Denn es geht ja nicht um eine vom Strafgesetz unabhängige Beurteilung, sondern darum, diese Beurteilung in einer sachlich und auch prüfungsökonomisch überzeugenden Reihenfolge vorzunehmen. 61 Zweiter Teil, D. I.
A. Allgemeine kritische Würdigung der untersuchten Straftatmodelle
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rechts und vor allem auch seiner Strafrechtsdogmatik gewesen ist.62 Auch von polnischer Seite ist selbst während der kalt-kriegerischen siebziger Jahre eine kontinuierliche Annäherung an das deutsche Strafrecht konstatiert worden.63 Heute betreffen die Gemeinsamkeiten beider Systeme sowohl das, was oben als Makroebene bezeichnet worden ist, also das „System an sich“: Wie in Deutschland, so bildet auch der polnische Verbrechensbegriff ein echtes dogmatisches System, eine von der Wissenschaft erarbeitete, mit dem Anspruch ausnahmsloser Geltung versehene Struktur aus strikt hierarchisierten, auf- und auseinander folgenden Elementen. Die Übereinstimmungen betreffen darüber hinaus aber auch zahlreiche Details der Mikroebene, wie sich beispielhaft etwa an der Lehre von der objektiven Zurechnung, an der Begründung des Notwehrrechts oder ganz deutlich auch bei der historischen Entwicklung des Schuldbegriffs aufzeigen lässt. Hier und in vielfältiger anderer Hinsicht hat Polen die deutsche Entwicklung teilweise bis in die allerjüngste Vergangenheit hinein nahezu vollständig mitvollzogen. Auch in prozessualer Hinsicht stehen sich Polen und Deutschland nahe. Das gilt zunächst hinsichtlich der deutlichen dogmatischen Trennung, die hier wie dort zwischen dem Strafprozessrecht und dem materiellem Strafrecht besteht. Darüber hinaus ähneln sich beide Rechte aber auch in der Sache: Es gilt – von Verfassungs wegen – eine umfassende Unschuldsvermutung zu Gunsten des Beschuldigten. Dementsprechend hat im Strafverfahren die Anklage sämtliche Verbrechenselemente darzulegen und zu beweisen. Für das Gericht gilt wie in Deutschland der Grundsatz der freien Beweiswürdigung, und wie in Deutschland gibt es insofern praktisch keine weiteren Vorgaben. Bei aller Gemeinsamkeit kann man gleichwohl nicht sagen, dass zwischen den beiden Rechtsstilen völlige Identität herrschte. Sowohl der polnische Gesetzgeber als auch die Lehre sind vielmehr darum bemüht gewesen, die strafrechtlichen Entwicklungen aus der sozialistischen Phase des Landes nicht allesamt radikal abzuschneiden. Das zeigt sich etwa bei der Lehre von den Kontratypen, am deutlichsten wird es aber natürlich am Beispiel der Sozialschädlichkeit. Indem das polnische Strafrecht diese als ein echtes Element der Straftat beibehielt, hat es zugleich an seinem Konzept eines „materiellen“ Verbrechensbegriffs festgehalten. Damit führt es einen bedeutenden Teil seiner Tradition fort. Die Frage ist, inwieweit diese von dem deutschen Pendant abweichende Konzeption auch Unterschiede in der Sache zeitigt. Eines ist bereits an dieser Stelle klar: Wenn das polnische Recht dieselben Verbrechenselemente kennt wie das deutsche, darüber hinaus jedoch noch dasjenige der Sozialschädlichkeit, so kann diesem Letzteren denknotwendig nur die Funktion eines zusätzlichen Ausschluss62 63
Eser, S. 11. Spotowski, Erscheinungsformen, S. 169.
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3. Teil: Der Straftatbegriff im Rechtsvergleich
kriteriums zukommen. Mit Blick auf Polen wird eine Hauptfrage der folgenden Synthesebemühungen daher die sein, ob und wozu es dieses zusätzlichen Kriteriums bedarf.
B. Versuch einer Synthese Die bis hierher gewonnenen Erkenntnisse im Rücken, gilt es jetzt, die zentrale und spannendste Frage dieser Arbeit anzugehen: Lassen sich die vier untersuchten Straftatbegriffe auf einen „gemeinsamen europäischen Nenner“ bringen? Vor dem Einstieg in die Beantwortung dieser Frage empfiehlt es sich indessen, noch eine kurze Standortbestimmung vorzunehmen – eine Bestimmung des „Strafrechtsstandorts Europa“. Zu klären gilt es dabei, ob und inwiefern das europäische Recht Rahmenbedingungen enthält, die ein möglicher gemeinsamer Straftatbegriff in jedem Fall – unabhängig von allen rechtsvergleichend gewonnenen Erkenntnissen – zu beachten hätte.
I. Strafrecht als Teil des öffentlichen Rechts – auch auf europäischer Ebene Solange die Europäische Union keine originären Straftatbestände kennt,64 solange Corpus Juris, Modellstrafgesetzbuch und sonstige Projekte sich nicht in geltendem Recht niedergeschlagen haben, solange gibt es auf europäischer Ebene auch keine verbindlichen Vorgaben oder auch nur Orientierungsmarken für einen gemeineuropäischen Straftatbegriff. So könnte man meinen – und läge falsch. Denn auch wenn die Union weder ein Staat ist noch eine Verfassung besitzt, gelten für sie als Hoheitsträger doch etliche jener Schranken entsprechend, die in den Mitgliedstaaten als verfassungsrechtliche bezeichnet werden.65 Vor allem hat gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV auch die Union die Grundrechte zu beachten, wie sie sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und als gemeinsame Verfassungsüberlieferung der Mitgliedstaaten ergeben.66 Zu diesen Grundrechten zählt unter anderem die allgemeine Handlungsfreiheit.67 64
Zum Stand der Europäisierung des Strafrechts s. nochmals oben Erster Teil, A. I. 2. So auch Tiedemann, FS Jung, 987 (991). Vgl. auch Haratsch/Koenig/Pechstein, Rn. 580, und Hefendehl, ZIS 2006, 229 (230: „Wenn sich die staatsähnlichen Strukturen der EU weiter ausformen und damit Macht- und Herrschaftsstrukturen schaffen, müssen diese schon aus Fairness- und Gleichheitsgründen ebenfalls in den Fokus eines europäischen Strafrechts gelangen [. . .].“ 66 Darüber hinaus hat der Vertrag von Lissabon auch die Grundrechtecharta rechtsverbindlich gemacht, Art. 6 Abs. 1 EUV – insoweit verfügen Polen, Tschechien und das Vereinigte Königreich allerdings über ein Recht zum opt out. 67 Der EuGH hat die allgemeine Handlungsfreiheit als allgemeinen Rechtsgrundsatz anerkannt in den verbundenen Rs. 133 bis 136/85, – Rau u. a. –, Slg. 1987, 2289, Ziff. 19. 65
B. Versuch einer Synthese
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Vor diesem Hintergrund trifft nun aber weit gehend dasselbe zu, was bereits im Rahmen des deutschen Verbrechensbegriffs erläutert wurde:68 Jede gemäß einem europäischen Strafgesetz ergehende Strafe bedürfte – als Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit – einer „verfassungsrechtlichen“ Rechtfertigung. Vor allem müsste sie sich am (europarechtlichen) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz messen lassen,69 so wie die nationale Strafvorschrift nach dem nationalen Maßstab verhältnismäßig sein muss. Und ganz ähnlich wie in Deutschland gilt insoweit auch auf europäischer Ebene: Maßnahmen der Union sind nur dann verhältnismäßig, wenn sie zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich sind; Belastungen müssen in einem angemessenen Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen.70 Das mit dem Mittel des Strafeinsatzes angestrebte Ziel aber wäre auch im europäischen Zusammenhang der Rechtsgüterschutz.71 Und dieser wiederum ist nicht anders zu verstehen als in dem für Deutschland beschriebenen Sinne: Auch ein Rechtsgut wie das „finanzielle Interesse“ der Union könnte durch eine Bestrafung des Täters nach begangener Tat konkret nicht (mehr) geschützt werden; es wäre mit Vollendung etwa eines Betruges zu Lasten der Union bereits unwiderruflich geschädigt. Das Rechtsgut einer europäischen Strafvorschrift – einer Sanktionsnorm – wäre vielmehr die Geltungskraft der ihr zugrunde liegenden und mit der Straftat übertretenen Verhaltensnorm. Diese schützt ein Rechtsgut wie das Unionsvermögen unmittelbar. Wer diese Verhaltensnorm übertritt, verletzt jedoch nicht nur konkret das Unionsvermögen, sondern begeht zugleich einen geistigen und überindividuell bedeutsamen Angriff auf die Geltungskraft der Verhaltensnorm. Diese Geltungskraft aber könnte mit dem Mittel der Strafe sehr wohl für die Zukunft noch geschützt werden. Durch die Strafe könnte der Angriff für jedermann sichtbar abgewehrt, die Normgeltung vor einem Schaden bewahrt werden. Strafe bedeutete also auch im europäischen Kontext den Widerspruch gegenüber einem Normverstoß zur Abwendung eines Normgeltungsschadens.
68
Vgl. oben Zweiter Teil, A. II. 1. b). Oppermann/Classen/Nettesheim, § 18 Rn. 33; Haratsch/Koenig/Pechstein, Rn. 616. Für Tiedemann, Freiburg-Symposium, S. 3 (4), ist der „Gedanke der Verhältnismäßigkeit ein europaweit durchgehendes gemeinsames Prinzip und Grunderfordernis auch für die Sanktionsverhängung.“ Auch Asp u. a., ZIS 2009, 697 (697), fordern an erster Stelle die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Zu dessen Wirkungen auf europäischer Ebene s. ferner Filopoulos, S. 81 ff. – Pikorski, FS Szwarc, S. 69 (71 ff.), führt auch das Subsidiaritätsprinzip als strafrechtsbegrenzendes Moment ins Feld. 70 Ständige Rechtsprechung, s. etwa EuGH, Rs. 265/87 – Schräder –, Slg. 1989, 2237, Ziff. 21 f. 71 Vgl. zum Folgenden nochmals oben Zweiter Teil, A. II. 1. b), zur Europatauglichkeit dieses Konzepts MK-Freund, Vor § 13 Rn. 29 f.; zum Begriff des Rechtsguts als grundlegender Gemeinsamkeit auch in europäischem Rahmen s. Hefendehl, ZIS 2006, 229 (232 ff.). 69
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3. Teil: Der Straftatbegriff im Rechtsvergleich
Um diese Konzeption gegen den etwaigen Vorwurf abzusichern, sie gebe lediglich eine deutsche Sichtweise wieder, sei auf Folgendes hingewiesen: Interessanterweise ist die Unterscheidung zwischen Verhaltens- und Sanktionsnormen auch den übrigen drei Strafrechten schon lange bekannt.72 In England findet sie sich erstmalig bei keinem Geringeren als Bentham selbst.73 Von den heutigen Dogmatikern des englischen Rechtskreises gelangen etliche, die sich näher mit dem Zweck des Strafeinsatzes befassen, ebenfalls zu dem Gedanken der Aufrechterhaltung von Verhaltensnormen.74 In Frankreich muss man die dargestellte Unterscheidung zwar heute wohl als verschüttet ansehen; die Normentheorie Bindings war aber auch dort bekannt, wurde etwa ursprünglich von einem so namhaften Autoren wie Garraud rezipiert,75 und sie klingt zum Beispiel auch bei Villey an.76 Und wenn in Polen Art. 1 § 1 KK postuliert, dass die verbotene Handlung durch ein zur Zeit der Tatbegehung geltendes Gesetz unter Strafe gestellt sein muss, dann folgt daraus logisch: „Verbotene Handlung“ und „strafbare Handlung“ sind nicht dasselbe.77 Die Parallele zu Verhaltensnorm und Sanktionsnorm liegt auf der Hand: Die verbotene Handlung verletzt eine Verhaltensnorm, die strafbare Handlung erfüllt die Voraussetzungen einer Sanktionsnorm.78 Oder in den treffenden Worten Zolls – der sich hierbei im Übrigen auch explizit auf Binding bezieht:79 „Das Strafrecht entscheidet nicht über die Rechtswidrigkeit von Verhaltensweisen, sondern über die Strafbarkeit von normwidrigen Verhaltensweisen.“ 80 Und letztlich verweist auch der sprachlich gelungene Begriff der 72 Haffke, Coimbra-Symposium, S. 89 (89), spricht denn auch von einer „jedweder dogmatischen Arbeit vorgegebenen, in diesem Sinne: sachlogischen [. . .] Differenzierung“. 73 Bentham, Of Laws, Ch. XI Ziff. 12 ff. – Näher dazu Renzikowski, ARSP-Beiheft Nr. 104, 115 (115 ff., zur Nützlichkeit der Normentheorie gerade auch im europäischen Strafrechtsdiskurs S. 136 f.). 74 Vgl. nur Husak, S. 26 f., 31 ff. (Verhaltens- und Sanktionsnorm – unterschiedliche Legitimationsbedingungen); S. 35 f. (verfassungsrechtliche Prüfung, Verhältnismäßigkeit); S. 40 ff. (tatbestandsadäquate Gefahr, Erfolgszurechnung); Hart, S. 6 ff.; Ashworth, Criminal Law, S. 97, 136 („to guide behaviour“). 75 Garraud, Ziff. 98 m. Fn. 3. 76 Oben Zweiter Teil, C. II.: Infraction sei jede Handlung oder einem Gebot zuwider laufende Unterlassung, die durch das Gesetz unter Strafe gestellt ist – hier klingt deutlich der Verhaltensnormverstoß als grundlegendes Erfordernis an; das nach dem Wortlaut passende Strafgesetz ist ein selbstständiges zweites Kriterium. 77 Auch Zoll, FS Roxin, S. 93 (93 f.), unterscheidet daher ausdrücklich zwischen „sanktionierter Norm“ und „Strafnorm“. 78 Selbst der autoritären Konzeption des „materiellen Verbrechens“ lag die Unterscheidung von Verhaltens- und Sanktionsnorm zugrunde: Jeder Strafeinsatz setzt einen Verstoß gegen die vorstrafrechtlich legitimierte (sozialistische) Verhaltensnormenordnung voraus. 79 Zoll, in: Wolf, S. 19 (21). 80 Zoll, ZStW 117 (2005), 749 (759). Zoll begründet so seine Auffassung, dass die Rechtswidrigkeit einer Handlung erste Voraussetzung („prius“) und damit Grundelement der Straftat sei; vgl. oben Zweiter Teil, D. III.
B. Versuch einer Synthese
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powinnos´c´ („Schuldigkeit“) darauf, was jemand von Rechts wegen leisten muss – er betrifft also sachlich ebenfalls den Verhaltensnormverstoß, das personale Fehlverhalten. Ist demnach der Strafeinsatz auch auf europäischer Ebene normentheoretisch zu fundieren, so folgt daraus weiter: Voraussetzung für den Rechtsgüterschutz durch Strafe ist auch hier wiederum, dass die zu schützende Verhaltensnorm rechtlich legitimierbar ist.81 Sie muss ihrerseits (vor allem) mit dem europarechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Einklang stehen. Damit erweist sich, dass das „europäische Staatsrecht“ sehr wohl verbindliche Orientierungsmarken für einen unionsübergreifenden Straftatbegriff vorgibt.82 Diese sind bei der Ausarbeitung der folgenden rechtsvergleichenden Erkenntnisse im Hinterkopf zu behalten und gegebenenfalls nutzbar zu machen.
II. „Deutsches“ und „gemeinwesteuropäisches“ System und ihre Vereinbarkeit Kommen wir damit zu unserer zentralen Frage zurück: Gibt es einen europatauglichen gemeinsamen Kern der vier untersuchten Strafttatbegriffe? Angesichts der oben vorgenommenen allgemeinen Würdigungen erscheint zunächst Skepsis angebracht. Schließlich hat sich gezeigt, dass alle vier auf dem Boden eines jeweils eigenen, spezifisch nationalen Wissenschafts- und Rechtsstils gewachsen sind. Und selbst wenn man die Komplexität der einzelnen Modelle reduziert, so scheinen sich doch gleichwohl zwei grundverschiedene Systeme gegenüber zu stehen: Das erste verbindet – bei allen verbleibenden Unterschieden83 – Deutschland und Polen; man kann es als „Straftatsystem deutscher Prägung“84 bezeichnen, weil es in der klassischen deutschen Verbrechenslehre wurzelt und aus Deutschland auch heute noch seine hauptsächlichen Impulse bezieht. Stilistisches Kennzeichen dieses Systems ist sein hoher theoretisch-dogmatischer Anspruch, dem jedenfalls im Vergleich zunächst noch eine gewisse Praxisferne korrespondiert.85 Sein strukturelles Kennzeichen ist die Einteilung der Straftat in die Kategorien 81 Das Erfordernis der Legitimation betont auch Mylonopoulos, ZStW 121 (2009), 68 (87 ff.). 82 (Nur) ein puristisch rechtsvergleichender Ansatz, der keinen Anspruch auf praktische Umsetzung in der gegenwärtigen Union erhöbe, könnte diese Vorgaben natürlich ignorieren. 83 Zu nennen ist vor allem das polnische Verständnis der Sozialschädlichkeit als gesondertes Verbrechenselement. 84 s. jüngst Silva Sánchez, GA 2004, 679 ff. 85 Was als Praxisferne erscheinen mag, kann allerdings insoweit auch ein entscheidender Vorteil sein, als materiellstrafrechtliche und prozessuale Fragestellungen klarer getrennt und besser auf den Punkt gebracht werden können als in einem Mischsystem.
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3. Teil: Der Straftatbegriff im Rechtsvergleich
Handlung, „objektiver“ und „subjektiver“ Tatbestand, Rechtswidrigkeit (in Polen darüber hinaus noch: Sozialschädlichkeit) – sie alle gemeinsam machen das Unrecht der Tat aus – sowie in die Kategorie der Schuld. Im Strafverfahren müssen all diese Elemente von Seiten des Staates dargelegt und bewiesen werden. Das zweite System vereint, bei allen auch hier bestehenden Unterschieden,86 England und Frankreich; man kann es deshalb mit Vogel 87 als „gemeinwesteuropäisches Modell“ bezeichnen. Stilistisch zeichnet es sich durch eine pragmatische, prinzipien- und praxisorientierte Haltung aus, die dafür aber auch dogmatische Unstimmigkeiten in Kauf nimmt bzw. den Anspruch auf ein dogmatisches System gar nicht erst erhebt. Strukturell teilt sich dieses Modell in positive, straftatkonstituierende Voraussetzungen einerseits – dabei wird wiederum unterschieden zwischen der äußerlich-objektiven und der (teilweise allerdings verzichtbaren!) innerlich-subjektiven Seite der Tat – und andererseits negative, straftatausschließende Voraussetzungen, bei denen zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung bzw. Schuldausschluss nicht oder jedenfalls nicht in systembildender Weise differenziert wird. Die positiven und die negativen Voraussetzungen stehen einander im Sinne eines Regel-Ausnahme-Modells gegenüber.88 Prozessual spiegelt sich das darin wider, dass nur hinsichtlich der Ersteren eine Darlegungs- und Beweislast des Staates besteht, hinsichtlich der Letzteren hingegen zumindest eine Darlegungslast, wenn nicht sogar Beweislast des Beschuldigten. Beließe man es bei dieser pointierten Gegenüberstellung, man könnte meinen, dass die zwei dargestellten Systeme schlechthin nicht miteinander in Einklang zu bringen sind.89 Stattdessen wäre zunächst eine „stilistische“ Entscheidung zu treffen: Dogmatik oder Prinzipien? Theoretischer Anspruch oder praktischer Nutzen? Und auch in struktureller Hinsicht, so hat es den Anschein, lässt sich kein Kompromiss ausmalen zwischen einer Auffassung, die die Unterscheidung von Unrecht und Schuld für essenziell hält, und einer Ansicht, der diese Unterscheidung letztendlich gleichgültig ist. Das Problem der prozessrechtlichen Harmonisierung käme erschwerend noch hinzu. Eine Grundentscheidung ist in dieser Arbeit in der Tat von vornherein getroffen: Sie will dazu beitragen, ein europataugliches Straftatsystem dogmatischen Charakters zu entwickeln – und eben nicht nur gemeinsame Prinzipien. Wegen 86 Man denke nur an die Rolle des französischen élément légal als eigenständiges Element der Straftat sowie als Systemstelle für die Rechtfertigungsgründe, ferner an die in Frankreich postulierte Beweislast des Beschuldigten für Rechtfertigungsgründe. 87 Vogel, GA 1998, 127 (146). 88 Vogel, GA 1998, 127 (146). 89 Vgl. auch das Fazit Safferlings, Vorsatz und Schuld, S. 481, nach eingehender Analyse der subjektiven Verbrechensvoraussetzungen nach deutschem und englischem Recht: „[. . .] Voraussetzungen in Struktur und Ergebnis so unterschiedlich [. . .], dass ein Vergleich geradezu ausgeschlossen ist.“ Von einem grundsätzlichen Ausgangspunkt her unternimmt einen solchen Vergleich Das, S. 195 ff.
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der Gründe für diese Entscheidung sei nochmals der einleitende Teil der Arbeit in Erinnerung gerufen, in dem der verfahrensökonomische, der kommunikative und der materiell-inhaltliche Nutzen dogmatischer Systembildung bereits ausführlich begründet wurden.90 Mit der Entscheidung für einen dogmatischen Grundansatz nimmt das hiesige Vorhaben also zugestandenermaßen seinen Ausgang von einem „deutsch geprägten“ Standpunkt. Möglicherweise aber ist der Gegensatz zwischen der deutsch geprägten und der gemeinwesteuropäischen Sichtweise doch gar nicht so scharf, wie er nach der bisherigen Darstellung anmutet. Was zunächst den stilistischen Gegensatz anbelangt, so ist es ja alles andere als ein Naturgesetz, dass ein dogmatisches System zwangsläufig „obscur“, kompliziert und praxisfern sein muss; das Ziel muss vielmehr darin bestehen, ein praxistaugliches dogmatisches System zu finden. Die Hoffnung, dass dies gelingen kann, erhält zusätzliche Nahrung aus der Erkenntnis, dass sich die verschiedenen europäischen Strafrechtsstile historisch gesehen zweifelsohne in einem Prozess gegenseitiger, durch die europäische Einigung noch beförderter Annäherung befinden: Man denke exemplarisch nur daran, wie weit sich etwa das englische Strafrecht von einem ursprünglich rein „intuitionistischen“ Fallrecht fortentwickelt hat.91 Umgekehrt ist der deutsch geprägten Straftatlehre innerhalb ihres dogmatischen Grundrahmens weder ein kasuistisches noch ein rechtsprinzipielles Denken vollkommen fremd.92 Es besteht daher keinerlei Anlass, angesichts der konstatierten Systemverschiedenheiten von vornherein zu resignieren. – Nichts anderes gilt aber auch in Anbetracht der strukturellen und prozessrechtlichen Unterschiede: Dass solche Unterschiede bestehen, ist zum einen wenig überraschend, zum anderen ist es kein Grund, sich den ungleich interessanteren Blick auf etwaige Gemeinsamkeiten von vornherein verstellen zu lassen. Sollte sich dabei zeigen, dass in dem einen oder anderen Punkt wirklich kein „gemeinsamer Nenner“ erreichbar ist, verbleibt allemal noch als Möglichkeit, eine Gesamtsynthese in der Weise herzustellen, dass (idealerweise in ausgeglichenem Maße) mit entsprechender tragfähiger Begründung einmal diesem, einmal jenem System der Vorzug gegeben wird.93
90
Vgl. oben Erster Teil, A. II. s. dazu Ashworth, ZStW 110 (1998), 461 (461 ff.); Forster, in: Sieber/Cornils, Teilbd. 2, S. 374 (379). 92 Man denke etwa an das so genannte „Verantwortungsprinzip“, das im Kontext von Täterschaft und Teilnahme postuliert wird und das ebenfalls Ausnahmen erleiden kann; s. dazu SK-Hoyer, § 25 Rn. 42 (Grundsatz) und Rn. 61, 87 ff. (Ausnahmen); LK-Schünemann, § 25 Rn. 62 ff. – Und in Sachen Kasuistik denke man an die Fallgruppenbildung im Kontext der „objektiven Zurechnung“; dazu oben Zweiter Teil, A. II. 2. b) aa) (4). 93 Dabei wird das Streben nach einer möglichst ausgeglichenen Repräsentation jedes Systems allerdings nicht so weit führen dürfen, dass eine bestimmte Lösung, für die die besseren Argumente sprechen, nur um der „Gleichberechtigung“ willen zurück treten muss. Mit anderen Worten: Entscheidend muss in einem wissenschaftlichen Kontext 91
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Und noch etwas lässt sich – im Sinne eines Vorgriffs – schon an dieser Stelle zumindest andeuten: Angesichts des oben begründeten Ansatzpunktes beim Verhaltensnormverstoß liegt es mehr als nahe, Letzteren auch zu dem Leittopos eines gemeinsamen Straftatbegriffs zu machen. Denn wie gesehen setzt Strafe – soll sie verhältnismäßiges Mittel staatlicher Reaktion sein – stets einen solchen (hinreichend gewichtigen) Verhaltensnormverstoß voraus. Wenn dem aber so ist, so stellt sich im Folgenden ersichtlich eine Herausforderung: Die in den Landesberichten jeweils aufgezeigten Elemente der Straftat müssen sich in dieses Grundkonzept einfügen lassen, müssen an den Leittopos des Verhaltensnormverstoßes anschlussfähig sein – gegebenenfalls als unselbstständige Unteraspekte desselben. Zweifel hinsichtlich dieser Anschlussfähigkeit dürften absehbar aufkommen mit Blick auf die durchgängig postulierte Trennung zwischen einem „objektiven“ und einem „subjektiven“ Tatbestand. Denn ein Verhaltensnormverstoß ist von vornherein nicht konstruierbar ohne Berücksichtigung individueller Momente des Normadressaten. „Objektiv“ sind, wenn überhaupt, allein die Folgen seines Fehlverhaltens. Diese könnten sich damit als zweite Systemstelle neben, oder besser: nach dem Verhaltensnormverstoß anbieten.94
III. Grundlegende Gemeinsamkeiten des Straftatbegriffs unter Einschluss prozessualer Aspekte Damit sei nunmehr also das Augenmerk von den Unterschieden zwischen den nationalen Straftatbegriffen abgewandt und auf Gemeinsamkeiten konzentriert. Auf der Suche nach diesen Gemeinsamkeiten empfiehlt es sich, zur Annäherung erst einmal einen abstrakten Ansatz zu wählen, um die dabei (hoffentlich) aufgespürten Übereinstimmungen dann so weit wie möglich zu konkretisieren. Wenn man so vorgeht, lässt sich zunächst einmal feststellen: In allen behandelten Ländern ist der Begriff der Straftat nicht gesetzlich definiert, ja werden Fragen der Verbrechenslehre als solche kaum einmal verbindlich im Gesetz geregelt.95 Gesetzlich angeordnet ist in allen vier untersuchten Ländern aber, dass es für eine Straftat zunächst eines bestimmten Straftatbestands als Anknüpfungspunkt bedarf.96 Dieser Straftatbestand bringt, wiederum abstrakt gesagt, die grundsätzliche Missbilligung eines bestimmten menschlichen Verhaltens zum Ausdruck. Dabei ist den behandelten Rechten in struktureller Hinsicht weiter gemeinsam, dass bei der Betrachtung dieses missbilligten Verhaltens prinzipiell zwischen eiletztlich die Kraft des besseren Arguments sein; in diesem Sinne auch Silva Sánchez, GA 2004, 679 (684). 94 Näher dazu unten C. II. 95 Vgl. Pradel, Droit pénal comparé, Rn. 172; Tiedemann, FS Lenckner, S. 411 (420); ders., Freiburg-Symposium, S. 3 (10). 96 Vgl. Tiedemann, FS Lenckner, S. 411 (421); vgl. bereits dens., Tatbestandsfunktionen, S. 36 f.
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nem „objektiven“ und einen „subjektiven“ Teil differenziert wird.97 Insoweit lässt sich freilich schon jetzt präzisieren, dass diese Differenzierung nicht in einem strengen Sinne gilt; insbesondere ist der vermeintlich „objektive“ Teil regelmäßig mit subjektiven Elementen durchsetzt.98 – Schließlich kann man noch feststellen, dass das Missbilligungsurteil überall zunächst bloß vorläufig gefällt wird. Das heißt, dieses Urteil kann noch aufgehoben werden, wenn bestimmte Gründe (abstrakt gesprochen) die Verantwortlichkeit einer Person aufheben. Nach dieser Struktur und Reihenfolge gehen grundsätzlich alle vier behandelten Straftatkonzeptionen vor. Eine Einschränkung hinsichtlich der Reihenfolge gilt lediglich für Frankreich: Wie dargestellt, negieren rechtfertigende Umstände dort bereits das élément légal der Straftat.99 In eine Prüfungsstruktur umgesetzt, wären diese Umstände also schon vor dem „objektiven“ und dem „subjektiven“ Element der Straftat zu prüfen. Dass eine solche Struktur nicht überzeugt – und dass dies von weiten Teilen der französischen Lehre ebenso gesehen wird –, ist hier bereits dargelegt worden.100 Dieser Aspekt des in Frankreich herrschenden Verbrechensmodells ist deshalb nicht auf eine europäische Ebene zu übernehmen. Gerade für die französische Perspektive müsste das um so akzeptabler sein, als in Frankreich das Gesetz selbst den soeben skizzierten Aufbau durchaus widerspiegelt: Der Code pénal widmet sich im Ersten Titel dem Strafgesetz; dann folgen allgemeine Bestimmungen zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit und erst danach (alle) Gründe für deren Ausschluss oder Minderung. Damit ist – wenn auch im Augenblick noch recht grob – das Programm für die folgenden Erörterungen gegeben: Erforderlich ist zunächst ein Straftatbestand. Dieser enthält grundsätzlich ein „objektives“ und ein „subjektives“ Element.101 Sind der Verhaltensnormverstoß und erforderlichenfalls seine objektiven Folgen (vorläufig) bejaht, vermögen bestimmte Umstände das Strafbarkeitsurteil gleichwohl noch zu hindern. 97 Pradel, Droit comparé général, Rn. 177, beschreibt die Straftat nach rechtsvergleichender Analyse als eine „notion complexe, faite à la fois d’un comportement matériel et d’un état d’esprit“; ähnlich konstatiert Tiedemann, FS Lenckner, S. 411 (421), als eine europäische Gemeinsamkeit „dass dem vorwiegend äußeren oder objektiven (Gesetzes-)Tatbestand historisch eine mehr auf das Subjekt und sein Inneres gerichtete Kategorie gegenüber gestellt und nachgeordnet wird, [. . .].“ Genauso ders., Freiburg-Symposium, S. 3 (10). Zuletzt schließlich in gleichem Sinne Sieber/Cornils, S. VII. 98 Besonders deutlich im Zusammenhang des Fahrlässigkeitsdelikts, vgl. oben Zweiter Teil, A. II. 2. b) cc); B. III. 2. b) bb) (4); C. III. 3. b) bb) (1); D. III. 2. b) cc). Die Schwierigkeiten einer strikten Trennung sind von dem hier befürworteten Ausgangspunkt des Verhaltensnormverstoßes aus auch ohne Weiteres einsichtig: Ein solcher lässt sich rein objektiv, das heißt ohne Beteiligung des Subjekts nicht begründen. 99 Oben Zweiter Teil, C. III. 1. b). 100 Oben in diesem Teil, A. III. 101 Die bereits aufgekommene Frage, wie weit diese übliche Aufspaltung sinnvoll durchführbar ist, sei an dieser Stelle noch zurückgestellt; zu ihr unten C. II. 1.
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3. Teil: Der Straftatbegriff im Rechtsvergleich
1. Erfordernis eines Straftatbestands a) Grundsatz: Keine Strafe ohne Gesetz Wenn eben behauptet worden ist, das Erfordernis eines Straftatbestands sei in allen vier Ländern gesetzlich niedergelegt, so wird man dem für Deutschland, Frankreich und Polen ohne Weiteres beipflichten. In diesen drei Ländern gilt – und zwar kraft Verfassungsrechts –, dass nur solche Handlungen oder Unterlassungen strafbar sein können, die zum Zeitpunkt der Tat in einem schriftlichen Text als strafbar normiert sind.102 Ein Unterschied besteht zwar hinsichtlich der Rangqualität dieses Textes: Während in Deutschland Art. 103 Abs. 2 GG und in Polen Art. 42 Abs. 1 der Verfassung ausnahmslos ein Gesetz als Grundlage jeder Strafbarkeit verlangen, bedarf es eines solchen gemäß Art. 111-3 des französischen CP nur für crimes und délits, wohingegen contraventions auch in einer Verordnung der Exekutive normiert werden dürfen. In allen drei Ländern setzt die Straftat aber stets einen geschriebenen Straftatbestand voraus, ein (in der Terminologie des deutschen Staatsrechts) Gesetz zumindest im materiellen Sinne. Demgegenüber scheint England aus dem Rahmen zu fallen – gibt es dort wie gesehen doch nach wie vor einige Straftaten, deren Voraussetzungen in keiner Strafvorschrift fixiert sind.103 Auch diese reinen Common Law crimes stellen allerdings in einem weiteren Sinne durchaus Straftatbestände dar; sie existieren als solche ebenfalls vor Begehung der Tat, nur eben nicht in abstrakt verschriftlichter Form, sondern lediglich in richterrechtlicher Gestalt.104 In dieser Gestalt aber sind sie auch in England unverzichtbare Voraussetzung einer jeden Straftat; die spontane „Erfindung“ neuer Straftatbestände in einem gegebenen Verfahren hat die englische Rechtsprechung wie gesehen mittlerweile aufgegeben.105 Schon aus diesem Grund fiele das englische Strafrecht nicht mehr völlig aus dem Rahmen.106 Bestätigt wird dieser Befund durch einen Blick auf Art. 7 Abs. 1 EMRK und die dazu ergangene Rechtsprechung. Unter der Überschrift „Keine Strafe ohne Gesetz“ 107 statuiert die Vorschrift in ihrem Satz 1, dass niemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden kann, die zur Zeit ihrer Begehung nicht strafbar war.108 Zwar wird diese Vorschrift nicht so strikt interpretiert, dass 102 Vgl. oben im Zweiten Teil, A. II. 1. a) zu Deutschland, C. III. 1. a) bb) zu Frankreich und D. III. 2. a) zu Polen. 103 Vgl. oben Zweiter Teil, B. I. 1. 104 Vgl. etwa Card, Ziff. 1.20. 105 Oben Zweiter Teil, B. I. 1. 106 So auch Tiedemann, Freiburg-Symposium, S. 3 (7). 107 Hervorhebung des Verfassers. 108 Dasselbe gilt seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon auch nach Art. 6 Abs. 1 i.V. m. Art. 49 Abs. 1 Satz 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – al-
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sie die Anwendung von Common Law crimes im Vereinigten Königreich schlechthin verböte.109 Sie erfordert aber, dass ein Straftatbestand des Common Law aufgrund der Rechtsprechung klar konturiert und der zugehörige Strafrahmen klar begrenzt sein muss.110 Jedenfalls in diesem Sinne würde demnach der Grundsatz „Keine Strafe ohne Gesetz“ in einem europäischen Strafrecht gelten. b) Konkretisierungen Zu klären bleibt, welche Konsequenzen ein europäischer Gesetzlichkeitsgrundsatz konkret zeitigen würde. Insofern kann man unterscheiden zwischen „klassischen“ rechtsstaatlichen Ausprägungen und der eben noch offen gelassenen Frage, ob die Strafbarkeit eines Verhaltens ausnahmslos durch ein formelles Gesetz normiert sein muss. aa) Klassische rechtsstaatliche Ausprägungen Als gemeinsame klassische rechtsstaatliche Ausprägungen des Gesetzlichkeitsgrundsatzes sind zu nennen: das Verbot der strafbegründenden Analogie, das Verbot der (belastenden) rückwirkenden Anwendung einer Strafvorschrift sowie das Gebot der hinreichenden Bestimmtheit von Strafvorschriften. Zu allen dreien lassen sich problemlos Übereinstimmungen zwischen den untersuchten Rechten ausmachen.111 Alle genannten Ausprägungen sind zudem nach der Rechtsprechung des EuGH schon seit langem auch für die Europäische Union als solche verbindlich – sei es kraft des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit, sei es als allgemeine Rechtsgrundsätze aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten.112 Analogieverbot, Rückwirkungsverbot und Bestimmtheitsge-
lerdings gerade nicht für das Vereinigte Königreich, das insoweit wie Polen und Tschechien ein opt-out-Recht hat. 109 Vgl. Frowein/Peukert, Art. 7 Rn. 4; Meyer-Ladewig, Art. 7 Rn. 6. – Das Vereinigte Königreich hat die EMRK – ohne Vorbehalt – unterzeichnet; mit dem Human Rights Act 1998 ist insbesondere auch Art. 7 EMRK in nationales Recht umgesetzt. 110 Frowein/Peukert, Art. 7 Rn. 1, 4. – Die erstmalige Bestrafung der Vergewaltigung in der Ehe auf der Grundlage des hergebrachten Tatbestands sah der Gerichtshof nicht als Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 EMRK an, weil es sich hierbei um eine auch für den juristischen Laien „vorhersehbaren Entwicklung“ gehandelt habe: EGMR v. 22.11.1995, Serie A, Bd. 335, S. 34 ff. – S.W./Vereinigtes Königreich. 111 Vgl. oben im Zweiten Teil, A. II. 1. a) zu Deutschland (zu dem dort eigens noch genannten Verbot strafbegründenden Gewohnheitsrechts s. sogleich noch im Text), B. III. 1. zu England, C. III. 1. a) bb) zu Frankreich und D. III. 2. a) zu Polen. 112 Zum Bestimmtheitsgebot s. EuGH, Rs. 169/80 – Gondrand Frères –, Slg. 1981, 1931, Ziff. 17; zum Rückwirkungsverbot EuGH, Rs. 63/83 – Regina/Kirk –, Slg. 1984, 2689, Ziff. 22; zum Analogieverbot EuGH, Rs. 117/83 – Könecke –, Slg. 1984, 3291, Ziff. 11.
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3. Teil: Der Straftatbegriff im Rechtsvergleich
bot sind demnach als Garantiesätze auch einem europäischen Strafrecht zugrunde zu legen.113 bb) Erfordernis eines formellen Gesetzes Weniger leicht lässt sich nach der Lektüre der Landesberichte folgende Frage beantworten: Impliziert der Gesetzlichkeitsgrundsatz, dass Strafvorschriften stets die Form eines formellen Gesetzes haben müssen? Grundsätzlich bejaht wird die Frage in Deutschland und in Polen, und zwar jeweils von Verfassungs wegen.114 In Frankreich dagegen können strafbare Übertretungen wie erwähnt durch règlement der Verwaltung begründet werden.115 Straftatbestände nach englischem Common Law schließlich setzen wie eben rekapituliert nicht einmal notwendig ein Gesetz im materiellen Sinn voraus, sondern können auch heute noch richterlich geschaffenem Gewohnheitsrecht entspringen. Angesichts dieser Differenzen lässt sich ein allen Ländern gemeinsamer Standpunkt, der unverändert auf die europäische Ebene gehoben werden könnte, zunächst nicht ausmachen. Die gemeinsame Tendenz spricht allerdings gegen die englische Lösung, da sie offenkundig Ausnahmecharakter besitzt, und zwar selbst im Vergleich zu ihrer französischen Verwandten. An deren Lösung wiederum fällt auf, dass die Übertretung unter den Erscheinungsformen der infraction qualitativ ebenfalls eine Ausnahme darstellt, erfordern doch délits und crimes jeweils eine Normierung durch Gesetz.116 Gegen das Erfordernis eines formellen Strafgesetzes könnte man nun freilich vorbringen, dass der Gesetzgeber – auch und gerade auf europäischer Ebene – die Normsetzung nicht so schnell und flexibel betreiben könne wie die Exekutive und dass (zumindest für den Bereich geringerer Verfehlungen) das Interesse an effizientem Rechtsgüterschutz Vorrang haben solle vor dem Interesse an der Gesetzesform von Straftatbeständen. Gegenwärtig erscheint solch ein Vorbringen zugegebenermaßen rein fiktiv. Denn eine Kriminalisierung derartiger geringer Verfehlungen auf europäischer Ebene steht ohnehin auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. Ungeachtet dessen gälte es insoweit aber Folgendes zu berücksichti113 Ebenso z. B. auch Asp u. a., ZIS 2009, 697 (698 f.). Auf den Inhalt der einzelnen Garantien soll an dieser Stelle im Einzelnen nicht eingegangen werden. Dazu näher, ebenfalls von einem europäisch-rechtsvergleichenden Ausgangspunkt her, Vogel, Freiburg-Symposium, S. 91 (92 ff.); Tiedemann, Freiburg-Symposium, S. 3 (7 ff.). Ein Gesetzlichkeitsprinzip mit entsprechenden Ausprägungen schöpft aus der Analyse europäischen Rechts auch Klip, European Criminal Law, S. 167 ff. 114 Zum deutschen Vorbehalt des Gesetzes s. oben Zweiter Teil, A. II. 1. a) (Fn. 19), zum polnischen Gebot des gesetzlichen Charakters der Tatbestandsmerkmale oben Zweiter Teil, D. III. 2. a). 115 Vgl. oben Zweiter Teil, C. III. 1. a) bb). 116 Der qualitative Unterschied wird beschrieben z. B. von Jeandidier, Art. 111-1, Ziff. 7 f.
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gen: Zumindest aus Sicht des deutsch geprägten Systems ist jede Kriminalstrafe – mag sie auch „nur“ als Reaktion auf kleinere Verfehlungen erfolgen – ein gravierender Eingriff in die Handlungsfreiheit des betroffenen Bürgers. Nicht von ungefähr genießt der Gesetzlichkeitsgrundsatz hier daher Verfassungsrang. Diesen Befund sollte nun aber ein europäisches Strafrecht (auch in ferner Zukunft) nicht unter Verweis auf Effektivitätsinteressen beiseite wischen. Denn kein Mitgliedstaat würde sich an einem europäischen Strafrecht beteiligen, das gegen seine Verfassung verstieße.117 Schon aus diesem Grund erweist sich das Erfordernis eines formellen Strafgesetzes als geradezu zwingend.118 Es liegt auf der Hand, dass der soeben entwickelte Gedanke über den hiesigen Kontext hinaus von Bedeutung ist. Man kann ihn also allgemein formulieren: Wenn das Recht eines Mitgliedstaats verfassungsrechtliche Vorgaben für das Strafrecht auch auf der europäischen Ebene nicht zur Disposition stellt, bleibt der Union nur die Möglichkeit, ein eigenes Strafrecht (soweit möglich) ohne diesen Mitgliedstaat ins Werk zu setzen – oder aber sich die durch das nationale Recht gezogene Grenze ebenfalls zu eigen zu machen. c) Strukturelle Verortung Ist der Inhalt eines europäischen Gesetzlichkeitsgrundsatzes skizziert, so gilt es abschließend die Frage zu beantworten, in welcher strukturellen Beziehung er zum Straftatbegriff steht. Konkret: Ist er – wie in Frankreich – integraler Bestandteil des Verbrechens, oder ist er eine äußere Vorbedingung desselben? Vom hiesigen Ansatz meint Straftat dabei nicht die gesetzliche Beschreibung eines verbotenen Verhaltens (infraction-description), sondern das verbotene Verhalten selbst (infraction-action); für dieses Verhalten soll hier eine gemeinsame dogmatische Struktur gefunden werden. Dann aber ist es in der Tat schief, die Strafvorschrift wie in Frankreich als ein eigenes Strukturelement einzubeziehen: Ein Text 117 Das Bundesverfassungsgericht etwa setzt es in seinem Lissabon-Urteil als geradezu selbstverständlich voraus, dass der Gesetzgeber über die Strafwürdigkeit von Verhaltensweisen entscheidet; und es setzt der Delegation nationalstaatlicher Kompetenzen an die EU insoweit klar Grenzen, BVerfG, NJW 2009, 2267 (2287 ff.). – Auf einem anderen Blatt steht die (theoretische) Frage, ob der EuGH solche Einschränkungen von Seiten nationaler Verfassungsgerichte hinnehmen würde. 118 Ebenso – auch für „bloße“ harmonisierende Anweisungen – Asp u. a., ZIS 2009, 697 (698). Die hier vertretene Auffassung spiegelte sich übrigens auch im Wortlaut von Art. III-415 der (wenn auch in dieser Form gescheiterten) Verfassung für Europa wider. Danach sollten die erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Betrügereien durch europäisches Gesetz oder Rahmengesetz festzulegen sein. Damit hatten die Mitgliedstaaten bereits zu erkennen gegeben, dass etwaige europäische Strafvorschriften nicht exekutiven Ursprungs sein sollen. – Nicht weiter thematisiert sei hier das Problem der bislang nur unvollständigen demokratischen Legitimation des europäischen Gesetzgebers. Klar ist aber: Wenn diese Legitimation ohnehin schon schwächer ist als wünschenswert, so darf wenigstens auf sie nicht verzichtet werden.
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3. Teil: Der Straftatbegriff im Rechtsvergleich
kann nicht materieller Bestandteil eines menschlichen Verhaltens sein.119 Dementsprechend wird die Strafvorschrift nicht nur in Deutschland und Polen als eine äußere Vorbedingung des Verbrechens angesehen, sondern bezeichnenderweise auch in England und sogar vor einer starken Minderheit in Frankreich selbst.120 Da mithin deutlich mehr als nur eine Tendenz gegen das französische Verständnis des élément légal spricht, scheidet dieses für eine europäische Konzeption aus. Festzuhalten ist damit: Das Erfordernis eines Strafgesetzes bildet die erste, grundlegende, vom eigentlichen Verbrechensbegriff jedoch unabhängige Bedingung der Strafbarkeit. 2. Gemeinsame Elemente der Straftat Die eigentlichen Elemente der Straftat sind angesprochen, wenn nunmehr detaillierter von der Missbilligung eines Verhaltens, von dessen „objektivem“ und „subjektivem“ Part, sowie von der Aufhebung strafrechtlicher Verantwortlichkeit die Rede sein wird. Als strukturelle Versatzstücke sind diese Elemente allen vier behandelten Ländern gemeinsam, und zwar grundsätzlich in der genannten Reihenfolge. Dennoch werden sie wie gesehen in durchaus unterschiedlicher Weise zu einem Gesamtsystem kombiniert. Im Folgenden wird deshalb zu klären sein, wie weit die Gemeinsamkeiten im Einzelnen reichen: strukturell, materiell und nicht zuletzt auch mit Blick auf den prozessualen Nachweis der jeweiligen Elemente. a) Menschliches Verhalten/Handlung Dass eine Kriminalstrafe an ein menschliches Verhalten anknüpfen muss, steht in keinem der hier untersuchten Länder in Zweifel. Unterschiede bestehen lediglich im Hinblick auf den Inhalt (und Nutzen) einer abstrakten materiellen Definition eines solchen Verhaltens- oder Handlungserfordernisses. Und Unterschiede bestehen auch hinsichtlich der Frage, an welcher Stelle innerhalb des Verbrechensbegriffs das Handlungserfordernis strukturell zu verorten ist. In beiden Punkten tritt der oben heraus gearbeitete Grundunterschied zwischen dem deutsch geprägten und dem gemeinwesteuropäischen Straftatsystem zutage: In Deutschland ist, maßgeblich bedingt durch die finalistische Verbrechenslehre, der „Handlungsbegriff“ über Jahrzehnte Gegenstand einer lebhaften dogmatischen Debatte gewesen. Und noch immer wird die „Handlung“ im weiteren Sinne als eigenständiges Straftatelement, gar als systematisches Fundament des gesamten Verbrechensbegriffs begriffen, auf dem die weiteren Elemente aufbauen.121 Dieser 119 120 121
Dasselbe gilt, nebenbei bemerkt, auch für Folgen eines (Fehl-)Verhaltens. Vgl. nochmals oben Zweiter Teil, C. III. 1. a). s. oben Zweiter Teil, A. II. 2. a).
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Systematik ist auch Polen gefolgt.122 Dagegen ist in England und Frankreich die Diskussion des Handlungserfordernisses kein Schwerpunkt der Verbrechenslehre; die Handlung erhält in den Straftatmodellen beider Länder auch keine vorgezogene, eigene Systemstelle, sondern wird in den actus reus bzw. das élément matériel integriert.123 Wenn demnach eine Entscheidung zwischen den beiden Modellen erforderlich ist, so sollte sie zugunsten des gemeinwesteuropäischen Modells ausfallen. Hierfür sprechen folgende Gründe: Die im deutsch geprägten Straftatsystem nach Jahrzehnten noch immer bunt schillernde Meinungspalette legt bereits nahe, dass augenscheinlich keiner der dort vertretenen Handlungsbegriffe den gestellten Anforderungen gerecht wird. Exemplarisch: Wenn etwa der kausale Handlungsbegriff auf ein gewillkürtes Körperverhalten mit Außenwelterfolg abhebt, lassen sich Unterlassungsdelikte hierunter jedenfalls nicht ohne Zwang fassen.124 Wenn der finale Handlungsbegriff die Steuerung eines Verhaltens durch Willensimpulse für entscheidend hält, so gerät er in Schwierigkeiten bei der Einbeziehung der Fahrlässigkeitsdelikte.125 Und wenn Handlung verstanden wird als „sozial erhebliches menschliches Verhalten“ 126, als „vermeidbares Nichtvermeiden“ 127 eines strafrechtlich relevanten Erfolgs oder als dasjenige, „was sich einem Menschen als seelisch-geistiges Aktionszentrum zuordnen lässt“ 128, dann erfordern all diese Definitionen eben doch Wertungen bereits auf einer vermeintlich wertungsfreien Systemebene.129 Im Übrigen muss die Prüfung eines Verhaltens auf seine Strafbarkeit ohnehin und stets am Maßstab eines konkreten Straftatbestands erfolgen. Wenn dem aber so ist, kann man sich eine vorgelagerte abstrakte Prüfung, ob überhaupt ein Verhalten vorliegt, sparen – es sei denn, es sprächen durchschlagende sachliche Gründe für eine solche Vorprüfung. Letzteres ist jedoch nicht der Fall.130 Ein vorgelagerter Handlungsbegriff vermag nämlich selbst die bescheidene ihm zugewiesene Aufgabe gar nicht zu erfüllen. Diese Aufgabe soll ja sein: sicherzustellen, dass ein geeignetes Objekt strafrechtlicher Bewertung vorliegt, bevor
122
s. oben Zweiter Teil, D. III. 1. s. oben im Zweiten Teil zu England B. III. 2. a), zu Frankreich C. III. 2. 124 Maurach/Zipf, AT I, § 16 Rn. 35; Jescheck/Weigend, S. 220. 125 Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, Vorbem §§ 13 ff. Rn. 31; Maurach/Zipf, AT I, § 16 Rn. 45. 126 So der soziale Handlungsbegriff bei Jescheck/Weigend, S. 223 f. 127 So der negative Handlungsbegriff etwa bei Herzberg, Unterlassung, S. 170 f., und bei Behrendt, Unterlassung, S. 130 ff., ders., FS Jescheck, S. 303 (304 ff.). 128 So der personale Handlungsbegriff von Roxin, AT I, § 8 Rn. 44. 129 Vgl. Baumann/Weber/Mitsch, § 13 Rn. 85, 90 f.; Freund, AT, § 1 Rn. 60; s. auch Otto, § 5 Rn. 40 f. 130 Zum Folgenden Freund, AT, § 1 Rn. 60. 123
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3. Teil: Der Straftatbegriff im Rechtsvergleich
diese Bewertung beginnt.131 Doch bereits die sachgerechte Bestimmung eines zu bewertenden Objekts ist immer davon abhängig, was für eine Bewertung genau ansteht. Und so ist auch die Handlung mitnichten eine fertig vorfindbare, „neutrale“ ontologische Größe, sondern schon sie kann nur im Wege einer Wertung bestimmt werden. Wenn dem aber so ist, so erscheint es in der Tat sachgerecht und auch schlicht praktischer, sofort die ohnehin erforderliche konkrete Bewertung anzugehen: Liegt ein tatbestandsmäßiges Verhalten vor? In diesem tatbestandsspezifischen Kontext klärt sich dann allemal früh genug, ob es womöglich an einem menschlichen Verhalten fehlt.132 Ein vorgezogenes Strukturelement „Handlung“ ist demnach entbehrlich. b) „Objektives“ Element Ob deutscher „objektiver Tatbestand“, englischer actus reus, französisches élément matériel oder die „objektive“ Seite des polnischen czyn zabroniony – ein „objektives“ Moment wird in allen untersuchten Ländern verlangt, und zwar überall als ein echtes Element der Straftat.133 Nach dem bis hierher Erarbeiteten kommt dieses „objektive“ Moment mithin auch als erstes eigentliches Strukturelement eines europäischen Verbrechensbegriffs in Betracht. Zu erörtern bleibt, welche Gemeinsamkeiten insoweit zum einen in materieller Hinsicht bestehen, zum anderen mit Blick auf den strafprozessualen Nachweis dieses Elements. aa) Materieller Inhalt des „objektiven“ Elements Versucht man zunächst die jeweiligen materiellen Inhalte des „objektiven“ Elements auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, so lässt sich abstrakt sagen: Es erfasst denjenigen Teil des Tatbestands, der außerhalb der geistig-seelischen Befindlichkeit des Täters liegt. Dabei gehen alle untersuchten Rechte implizit davon aus, dass eine isolierte Betrachtung dieses Tataspekts möglich und sinnvoll sei. Ob diese Prämisse tragfähig ist, bleibe hier weiterhin dahin gestellt.134 Zu konstatieren ist an dieser Stelle zunächst, dass die behandelten Straftatbegriffe durchgehend mit solch einem „objektiven“ Moment operieren: So wird das Erfordernis einer menschlichen Handlung oder Unterlassung, das allen Rechten ge131
s. oben Zweiter Teil, A. II. 2. a). So etwa auch Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, Vorbem §§ 13 ff. Rn. 37. Auch in der hiesigen Darstellung ist deshalb der Vergleich, was in materieller Hinsicht eine „Handlung“ ausmacht, unten im Kontext des tatbestandsmäßigen Verhaltens vorzunehmen. 133 Zur Vergleichbarkeit etwa des deutschen objektiven Tatbestands (bzw. Unrechtstatbestands) und des französischen élément matériel vgl. Tiedemann, FS Lenckner, S. 411 (422, 424). 134 Vgl. aber bereits die oben in diesem Teil unter B. II. geäußerten Zweifel; näher dazu noch unten C. II. 1. 132
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meinsam ist, (primär) unter dem Etikett des „objektiven“ Elements behandelt, wenn auch bereits unter Einbeziehung bestimmter subjektiver Elemente. Soweit dem Tun oder Unterlassen ein bestimmter Erfolg korrespondieren muss, wird auch dieser allseits im Rahmen des „objektiven“ Elements analysiert, ebenso wie die Frage des Ursachenzusammenhangs (oder Quasi-Zusammenhangs) zwischen Handlung (oder Unterlassung) und Erfolg. Und schließlich stellt sich noch die Frage nach der „objektiven“ Seite des Fahrlässigkeits- sowie des Versuchsdelikts. All das gilt es nunmehr so weit wie möglich zu konkretisieren. (1) Handlung Eine menschliche Handlung (act, action, czyn) ist grundsätzlich in allen vier betrachteten Ländern ein zentrales Erfordernis jeder Strafe. Die hieraus folgenden materiellrechtlichen Konsequenzen stimmen ebenfalls bis in Details miteinander überein.135 So besteht erst einmal länderübergreifend Einigkeit darüber, dass bloße üble Gedanken in keinem Fall strafbar sind. Des Weiteren werden über den Terminus der Handlung überall solche Ereignisse aus dem Bereich potenziell strafbaren Verhaltens ausgesondert, die unwillkürlich bzw. ungesteuert geschehen. Zu diesem Zweck betreiben die einzelnen Rechte unterschiedlich intensiven dogmatisch-definitorischen Aufwand. Im Ergebnis besteht jedoch Übereinstimmung: An einer Handlung fehlt es (insbesondere) bei Reflexen, Geschehnissen unter Einfluss von vis absoluta oder Körperbewegungen in schlafendem oder bewusstlosem Zustand. Diesen gemeinsamen Kern kann eine europäische Strafrechtsdogmatik in die Formel fassen: Eine Handlung im strafrechtlichen Sinne setzt stets die Möglichkeit voraus, einen Geschehensablauf willentlich zu steuern.136 Ausnahmen von dem Erfordernis einer Handlung scheint lediglich das englische Recht zu kennen, wenn es einerseits in Gestalt der state-of-affairs offences Strafen auch für bloße Zustände androht und andererseits über die vicarious liability bzw. das delegation principle bestimmte Personen für das Fehlverhalten anderer, voll verantwortlicher Personen strafrechtlich haften lässt.137 Bei Lichte betrachtet, dürfte indessen auch in diesen Fällen häufig eine Handlung im obigen Sinne gegeben sein: Wenn etwa strafbar ist, wer von Drogen berauscht in seinem Auto schläft, so dürfte der die Strafe motivierende Vorwurf in Wahrheit den Drogenkonsum betreffen. Und wenn einem Arbeitgeber die Verfehlung seines Arbeitnehmers als eigene Straftat zugerechnet wird, dann wird ihm in Wahrheit eine Verletzung seiner Auswahl- bzw. Überwachungspflichten vorgeworfen. 135 Vgl. jeweils im Zweiten Teil zu Deutschland A. II. 2. a); zu England B. III. 2. a) bb) (1); zu Frankreich C. III. 2.; zu Polen D. III. 1. 136 SK-Rudolphi, Vor § 1 Rn. 21 f.; MK-Freund, Vor §§ 13 ff. Rn. 124. 137 s. oben Zweiter Teil, B. III. 2. a) dd).
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Eine dem Gesetzlichkeitsgrundsatz und dem Schuldprinzip genügende Bestrafung müsste in solchen Fällen dann allerdings auch an dem tatsächlich „gemeinten“ (Vor-)Verhalten anknüpfen, sprich von adäquaten Straftatbeständen ausgehen. Wo es hingegen tatsächlich an jedwedem Verhalten einer Person fehlt – so wie etwa in der Rechtssache Larsonneur138 und vergleichbaren Fällen –, kann denknotwendig auch kein Strafe legitimierender Verhaltensnormverstoß vorliegen. Sofern das englische Recht solche Konstellationen als Zustands- oder Delegationsdelikte als strafbar erfasst, kann es nicht nur wegen seines insoweit offenkundigen Ausnahmecharakters, sondern darüber hinaus auch wegen Verletzung des europarechtlichen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nicht in ein europäisches Konzept der Straftat einfließen.139 Bei fehlendem Verhaltensnormverstoß besteht schon kein strafrechtliches Reaktionsbedürfnis. (2) Unterlassung Sowohl in Deutschland und Polen als auch in England und Frankreich ist es anerkannt, dass Straftaten auch in Form einer Unterlassung begangen werden können. In allen Ländern herrscht dabei aber die Einstellung vor, dass die Unterlassung gegenüber einem aktiven Tun qualitativ ein Weniger darstelle und deshalb nur unter strengeren Voraussetzungen strafbar sein dürfe. Am wenigsten stark ausgeprägt erscheint diese Zurückhaltung in Deutschland140 und in Polen,141 wo die Regelungen des § 13 Abs. 1 StGB bzw. des Art. 2 KK klarstellen, dass grundsätzlich jedes Delikt auch passiv begangen werden kann, solange der Täter (so die deutsche Formulierung) „rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands durch ein Tun entspricht“ bzw. wenn (so das polnische Gesetz) eine „besondere rechtliche Pflicht zur Abwendung des Erfolgs“ besteht. In England wird die Frage wie üblich pragmatisch im Einzelfall entschieden. Eine strafbare Unterlassung setzt dort aber immer eine besondere Handlungspflicht voraus; die einfache unterlassene Hilfeleistung ist nicht strafbar.142 Am stärksten ausgeprägt ist die Zurückhaltung gegenüber der Unterlassungsstrafbarkeit in Frankreich.143 Unter Verweis auf den Gesetzlichkeitsgrundsatz sowie auf Probleme bei der Feststellung der (Quasi-)Kausalität sehen sich Rechtsprechung und Lehre dort traditionell gehalten, Unterlassungen nur in sehr restriktiver Weise für strafbar zu erklären. So kennt der Code pénal heute zwar mehr Unterlassungsdelikte als früher; eine Unterlassung ist aber in der Tat nur dann strafbar, wenn sie im 138 139 140 141 142 143
Zweiter Teil, B. III. 2. a) dd). Vgl. noch einmal oben in diesem Teil, B. I. Vgl. oben Zweiter Teil, A. II. 2. b) aa) (2). Vgl. oben Zweiter Teil, D. III. 2. b) bb). Oben Zweiter Teil, B. III. 2. a) bb) (2). s. oben Zweiter Teil, C. III. 2. b).
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Gesetzestext ausdrücklich als solche pönalisiert ist. Der Tatbestand muss demnach explizit Formulierungen vorsehen wie: „Wer es unterlässt, . . .“, „Wer nicht benachrichtigt, . . .“ oder „Wer nicht anhält, . . .“. Mit dieser Haltung soll nicht zuletzt auch das „liberale Prinzip“ gegenüber einem „autoritären Prinzip“ hochgehalten werden.144 Nach diesen Ausführungen geht die Tendenz der beleuchteten vier Rechte dahin, dass die Unterlassung – bei Vorliegen bestimmter Bedingungen – genauso strafbar sein kann wie die Herbeiführung eines entsprechenden Erfolgs durch aktives Tun. Die restriktivere französische Position erscheint demgegenüber als eine Ausnahme, und zudem als eine, deren Begründung in der Sache nicht überzeugt: Wenn ein Unterlassen, ohne in der Fassung eines Tatbestands explizit erwähnt zu sein, dennoch als ein tatbestandliches Verhalten qualifiziert wird, so liegt darin gleichwohl kein Verstoß gegen den nullum-crimen-Satz, wenn die tatbestandliche Formulierung nur offen genug ist und normativ sachgerecht verstanden wird. Konkret: Wenn etwa Totschlag in Art. 221-1 CP definiert wird als „donner la mort à autrui“, also wörtlich: „jemandem den Tod zufügen“, so ist nicht ersichtlich, weshalb unter diese Definition nicht auch ein Unterlassen subsumiert werden sollte. Wer sein Kind vorsätzlich verhungern lässt, tötet es („lui donne la mort“) normativ betrachtet genauso wie derjenige, der es erschlägt. Dass im Einzelfall der Nachweis der (Quasi-)Kausalkette zwischen Unterlassung und Erfolg schwieriger sein kann als beim Begehungsdelikt, begründet ersichtlich keinen Einwand gegen die Strafbarkeit der Unterlassung als solche. Was ferner das angeblich zu wahrende „liberale Prinzip“ angeht, so handelt es sich doch um einen reichlich zweifelhaften Liberalismus, wenn er Opfer wie etwa die „Gefangene von Poitiers“ strafrechtlich schutzlos stellt.145 Freiheit ist durch das Recht nicht grenzenlos gewährleistet, sondern endet dort, wo geschützte Interessen anderer verletzt werden. Die Strafbarkeit der Unterlassung kann man insofern als selbstverständliche Kehrseite von Freiheit ansehen.146 Und schließlich noch: Wenn in Frankreich in einem konkreten Fall statt auf das Unterlassen eines Bremsmanövers auf das vorherige Fahren abgestellt wird,147 so nährt das die Vermutung, dass die oben beschriebene Zurückhaltung zum Teil nur vordergründiger Art ist – und dass zur Vermeidung unerwünschter Strafbarkeitslücken gegebenenfalls ein Unterlassen in ein aktives Tun „umgedeutet“ wird. Damit mag man zwar 144
Pradel, Droit pénal comparé, Rn. 179, 181. Im Übrigen zeigt sich das französische Recht an anderer Stelle wenig „liberal“, wenn es im Kontext der infractions matérielles die Durchsetzung von Ordnung und Disziplin über das Erfordernis individueller Schuld stellt – oben Zweiter Teil, C. III. 3. b) – oder wenn im Kontext der Einwilligung bestimmte Rechtsgüter prinzipiell nicht disponibel sein sollen, oben Zweiter Teil, C. III. 1. b) bb) (5). Kritisch zur französischen Unterlassungslehre auch Schünemann, Freiburg-Symposium, S. 103 (106 f.). 146 Näher dazu Freund, AT, § 6 Rn. 26 ff. 147 Conte/Maistre du Chambon, S. 184 (Ziff. 346), s. bereits oben Zweiter Teil, C. III. 2. c). 145
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letztlich ebenfalls zu einem sachgerechten Ergebnis gelangen. Der Umweg wirkt aber nicht nur kompliziert, sondern droht auch die wahre Rechtslage zu verschleiern. Ist demnach also auch die Unterlassung grundsätzlich einer Bestrafung zugänglich, bleibt noch die Frage nach deren genauen sachlichen Voraussetzungen. Als gemeinsames Kriterium kristallisiert der deutsch-englisch-polnische Vergleich insoweit heraus: die besondere Rechtspflicht zu aktivem Tun. Solch eine Pflicht wird einhellig angenommen etwa bei Eltern gegenüber ihren Kindern, bei freiwilliger Übernahme, zumal durch Vertrag, und auch angesichts einer selbst geschaffenen Gefahrenlage.148 Das Erfordernis der besonderen Rechtspflicht bietet sich auch für die europäische Ebene an und sollte in der Formulierung eines etwaigen europäischen Allgemeinen Teils akzentuiert werden. Als Vorbild eignet sich unter den hier untersuchten Ländern insoweit149 eher die Fassung des polnischen Art. 2 KK als die des deutschen § 13 Abs. 1 StGB. Denn sie verzichtet auf eine „Entsprechungsklausel“, die nach dem hier Ausgeführten lediglich deklaratorischen Nutzen besitzt, im Übrigen jedoch nur unnötig verkomplizierend wirkt.150 (3) Erfolg, Kausalität und Zurechnung Innerhalb ihres jeweiligen „objektiven“ Elements kennen alle hier betrachteten Länder eine Unterscheidung (unter anderem) zwischen solchen Delikten, die sich in einer bestimmten Handlung bzw. Unterlassung erschöpfen, und solchen, die zusätzlich einen bestimmten Erfolg erfordern. Bei diesen letzteren Straftaten wird als verbindendes Band überall ein Ursachenzusammenhang für notwendig erachtet; dieser wird allgemein in der Formel von der conditio sine qua non ausgedrückt, das heißt alle Bedingungen werden prinzipiell zunächst als gleichwertig angesehen.151 Dass sich mit dieser Formel die Kausalität nicht ermitteln lässt, sondern sie lediglich bereits bekannte Ursachenzusammenhänge in eine sprachliche Formel bringt, wird so nur selten ausgesprochen; der Befund trifft aber universal zu. 148 Vgl. oben im Zweiten Teil zu Deutschland A. II. 2. b) aa) (2), zu England B. III. 2. a) bb) (2), zu Polen D. III. 2. b) bb). 149 Ein Schwachpunkt der polnischen Formulierung ist dagegen die Bezugnahme auf einen Erfolg („besondere rechtliche Pflicht zur Abwendung des Erfolgs“). Denn z. B. der Versuch ist kein Erfolgsdelikt, lässt sich aber sehr wohl auch durch begehungsgleiches Unterlassen verwirklichen. 150 Schünemann, Freiburg-Symposium, S. 103 (119 ff.), schlägt hingegen als entscheidendes Kriterium die „Herrschaft über den Grund des Erfolgs“ vor; dieses sei – unabhängig von jedem Rechtsvergleich – „in der Sachlogik der Erfolgszurechnung verankert“. Vgl. dazu auch den Vorschlag Freunds zur Gesetzesreform in Deutschland, FS Herzberg, S. 225 (242 ff.); dens., AT, § 6 Rn. 112a ff. 151 Vgl. Zweiter Teil, A. II. 2. b) aa) (4) zu Deutschland, B. III. 2. a) bb) (3) zu England, C. III. 2. c) zu Frankreich und D. III. 2. b) aa) zu Polen.
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Gemeinsam ist den Ländern weiterhin, dass die naturalistisch gegebene Kausalität allein nicht ausreicht, um ein Ereignis als tatbestandlichen Erfolg zu qualifizieren. Dazu bedarf es vielmehr eines zusätzlichen, über die Kausalitätsfeststellung hinaus gehenden Zurechnungsurteils. Hinsichtlich der Herangehensweise an diese Zurechnungsproblematik bestehen nun jedoch wieder deutliche Differenzen zwischen dem deutsch geprägten und dem gemeinwesteuropäischen System; ja der stilistische Unterschied zwischen beiden Systemen tritt insoweit geradezu in typischer Weise zutage: Deutschland und Polen versuchen mit der Lehre von der „objektiven Zurechnung“ eine dogmatische Lösung. Laut dieser Lehre liegt ein zurechenbarer tatbestandlicher Erfolg allgemein gesagt dann vor, wenn der Täter eine rechtlich missbilligte, tatbestandsspezifische Gefahr des Erfolgseintritts geschaffen und genau diese Gefahr sich dann konkret auch realisiert hat.152 In England und in Frankreich hingegen strebt man eine abstrakte Formel zur Lösung der Zurechnungsfrage gar nicht erst an. Stattdessen regiert hier einmal mehr ein prinzipien- und einzelfallorientierter Ansatz. Am deutlichsten gibt dieser Ansatz sich im englischen Modell zu erkennen, wenn die Frage der so genannten legal causation ausdrücklich mit Hilfe des „gesunden Menschenverstands“ beantwortet werden soll.153 In Frankreich behandelt man die Zurechnungsproblematik als eine Tatfrage im Kontext der Kausalität.154 Da das Ziel dieser Arbeit wie dargelegt darin besteht, zur Entwicklung einer europäischen Straftatdogmatik beizutragen, wird hier grundsätzlich für eine Lösung im Sinne des deutsch geprägten Verbrechenssystems plädiert. Der Grundgedanke dieser Lösung besteht darin, dass ein Erfolg einer Person nur dann im strafrechtlichen Sinne zuzurechnen ist, wenn diese Person eine tatbestandsspezifische Gefahr geschaffen hat und genau diese Gefahr sich in dem eingetretenen Geschehen realisiert hat.155 Dass diese abstrakte Formel näherer Ausdifferenzierung in Fallgruppen bedürfen mag, spricht nicht gegen sie; ihr zutreffender abstrakter Grundgedanke lässt sich in jedem Fall nutzbar machen.156 Zutreffend ist insbesondere ihr Ausgangspunkt beim (tatbestandsspezifischen) Verhaltensnormverstoß, der ja als Kriterium in der Zurechnungsformel steckt. Wie bereits anklang,157 ist dieser Verhaltensnormverstoß freilich nicht als ein rein „objektives“ Geschehen auffassbar – auch hier kommt vielmehr notwendig Subjektives mit ins Spiel. Getrennt von dem personalen Fehlverhalten – und in diesem Sinne objektiv
152 Zu Deutschland s. Zweiter Teil, A. II. 2. b) aa) (4), zu Polen Zweiter Teil, D. III. 2. b) aa). 153 Oben Zweiter Teil, B. III. 2. a) bb) (3). 154 Vgl. oben Zweiter Teil, C. III. 2. c). 155 s. nochmals oben Zweiter Teil, A. II. 2. b) aa) (4) sowie D. III. 2. b) aa). 156 Natürlich spricht nichts dagegen, dabei auch den gesunden Menschenverstand zu gebrauchen! 157 Oben in diesem Teil, B. II.
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– ist (lediglich) die Frage, ob und wie sich infolge dessen ein tatbestandlicher Erfolg realisiert.158 (4) Fahrlässigkeit Der Begriff der Fahrlässigkeit taucht nach den vier Landesberichten an unterschiedlichen Stellen der Straftatstruktur auf. In England versteht man Fahrlässigkeit als ein ausschließlich „objektives“ Moment, mag sie auch unter dem Rubrum der mens rea abgehandelt werden.159 In Frankreich fasst die herrschende Meinung sie dagegen – als Hauptfall der faute non intentionnelle – unter die Kategorie der Schuld; soweit man ihr auch ein „objektives“ Moment zuschreibt, beschränkt sich dieses auf die bloße Verursachung des tatbestandlichen Erfolgs.160 In Deutschland kommt der Fahrlässigkeit eine Doppelfunktion zu: Auf Tatbestandsebene umschreibt sie die Verletzung der im Verkehr „objektiv“ erforderlichen Sorgfalt, durch die der Täter in „objektiv“ vorhersehbarer und „objektiv“ zurechenbarer Weise den tatbestandlichen Erfolg verursacht.161 In Polen verortet man die Fahrlässigkeit nunmehr gänzlich auf Tatbestandsebene, sowohl ihre „objektiven“ als auch ihre subjektiven Aspekte.162 Die Tendenz der untersuchten Rechte ergibt danach dreierlei: Erstens schreibt man Fahrlässigkeit mehrheitlich (Deutschland, England, Polen) – auch – ein „objektives“ Moment zu. Dieses ist, zweitens, charakterisiert durch die Verletzung einer Sorgfaltspflicht.163 Und für die Beurteilung einer solchen Verletzung kommt es, drittens, zunächst nicht entscheidend auf die individuellen Verhältnisse des Beschuldigten an, sondern jedenfalls erst einmal darauf, wie eine fiktive Maßstabsperson sich in dessen Situation verhalten hätte. Im deutsch geprägten System ist diese Maßstabsperson der „besonnene und gewissenhafte (Durchschnitts-)Mensch in der konkreten Lage und sozialen Rolle des Handelnden“; in England ist es der reasonable man.164 Diesem europäischen Durchschnittsmenschen werden – übereinstimmend – etwa vorhandene Sonderkenntnisse des kon158 Da diese Tatsachenfrage im Prozess unter Umständen schwer zu beantworten sein kann, liegt es im Übrigen nahe zunächst zu klären, ob das grundsätzlich tatbestandlich missbilligte Verhalten nicht vielleicht gerechtfertigt oder für eine Bestrafung nicht hinreichend gewichtig ist. Dann käme es auf die Frage der Erfolgszurechnung gar nicht an. 159 Vgl. oben Zweiter Teil, B. III. 2. b) bb) (4). 160 Vgl. oben Zweiter Teil, C. III. 3. b) bb) (1). 161 Oben Zweiter Teil, A. II. 2. b) cc) und d) dd) (3). – Die auch hier unverzichtbare und nicht sinnvoll abschichtbare subjektive Komponente sei an dieser Stelle noch nicht behandelt, zu ihr unten B. III. 2. c) aa) (2), zur Kritik der Trennung unten C. II. 2. b). 162 Oben Zweiter Teil, D. III. 2. b) cc). 163 Vgl. Pradel, Droit pénal comparé, Rn. 203; Vogel, Freiburg-Symposium, S. 125 (145): „der dogmatische Schlüsselbegriff für die Fahrlässigkeit“. 164 Vgl. oben im Zweiten Teil, A. II. 2. b) cc) für Deutschland, B. III. 2. b) bb) (4) für England; D. III. 2. b) cc) für Polen.
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kreten Beschuldigten zugrunde gelegt, grundsätzlich jedoch nicht auch umgekehrt dessen kognitive oder psychische Defekte. Angesichts dieser weit gehenden Übereinstimmung wäre dieses Verständnis auch auf europäischer Ebene mehrheitsfähig.165 (5) Versuch Im Hinblick auf den Versuch ist zunächst einmal bemerkenswert, dass sowohl im deutsch geprägten Verbrechenssystem, aber ebenso auch in England die Prüfung eines Versuchs vom üblichen Schema der Strafbarkeitsprüfung abweicht: Ausnahmsweise wird der subjektive Tatbestand bzw. die mens rea an erster Stelle untersucht.166 Was den hier jedoch zunächst interessierenden „objektiven“ Aspekt des Versuchs anbelangt, so offenbart der Vergleich der vier Landesberichte wiederum weit reichende Übereinstimmungen.167 Generell gilt, dass bloße Vorbereitungshandlungen straflos sind, es sei denn, sie erfüllen als solche einen selbstständigen Straftatbestand.168 Wann genau die Schwelle zum Versuch überschritten ist, beurteilt man in den einzelnen Ländern unterschiedlich. Als vorherrschend erweisen sich dabei überall kombinierte Formulierungen, die einerseits auf die deliktische Intention des Täters abstellen – also ein subjektives Kriterium – und andererseits auf den Stand des äußerlich bereits Erreichten.169 Im Vergleich dieser Formulierungen lässt sich als Konsens heraus schälen, dass es für einen Versuch stets eines aktiven Tuns oder eines Unterlassens bedarf, das nach der Vorstellung des Täters „unmittelbar“ auf die Vollendung der Tat gerichtet ist. Dem Begriff der Unmittelbarkeit ist dabei zwangsläufig eine nicht unbeträchtliche Rest-Unschärfe eigen, sodass mit einer solchen Formel die Lösung von Zweifelsfällen schwierig bleibt. Die Schwelle zum Versuch ist jedenfalls grundsätzlich überschritten, wenn der Täter mit der tatbestandlichen Ausführungshandlung bereits begonnen hat170 165
Inwieweit es auch sachgerecht ist, sei an späterer Stelle erörtert, s. unten C. II.
2. b). 166 Vgl. oben Zweiter Teil, A. II. 2. b) dd); B. III. 2. c); D. III. 2. b) dd). – Ein „Überwiegen des subjektiven Elements“ – außer in Frankreich – konstatiert auch Brockhaus, S. 32 f.; 449 f. – Auf diese Unregelmäßigkeit im Verbrechensaufbau wird in der Schlussbetrachtung noch einzugehen sein, unten C. II. 1. und 3. 167 Generell für „europaweit harmonisierungsfähig“ hält den Versuch am Ende seines umfassenden Rechtsvergleichs auch Brockhaus, S. 513; ebenso Tiedemann, FreiburgSymposium, S. 3 (18). 168 Zu demselben Ergebnis gelangen auch Pradel, Droit pénal comparé, Rn. 183, 187, und Brockhaus, S. 461 ff.; vgl. auch Safferling, ZStW 118 (2006), 682 (683). 169 Vgl. oben Zweiter Teil, A. II. 2. b) dd) zu Deutschland; B. III. 2. c) zu England; C. III. 2. d) zu Frankreich und D. III. 2. b) dd) zu Polen. 170 Pradel, Droit pénal comparé, Rn. 188; in diesem Sinne auch Cancio, FreiburgSymposium, S. 169 (182 f.). Ausführlich zum Versuchsbeginn aus rechtsvergleichender Sicht Brockhaus, S. 451 ff.
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– das ist im Übrigen auch die Lösung, die in Art. 11bis Abs. 2 Corpus Juris eingegangen ist.171 Als wichtige Gemeinsamkeit ist schließlich noch festzuhalten, dass auch der untaugliche Versuch im Grundsatz strafbar ist.172 In einem Strafrechtskonzept, das auf dem Verhaltensnormverstoß als zentralem Ausgangspunkt aufbaut, ist das zwanglos begründbar: Wer eine Leiche in der Annahme erschießt, sie sei ein lebender Mensch, trifft mit seinem Angriff auf das Leben eines Menschen zwar (zufällig) kein konkretes Opfer, stellt aber sehr wohl die Geltung der Verhaltensnorm „Du sollst nicht töten!“ in Frage. Insofern zeigt sich derselbe Verhaltensnormverstoß, der auch im tauglichen Versuch und in der Vollendungstat enthalten ist, beim untauglichen Versuch geradezu in Reinkultur.173 Bei einer Legaldefinition des Versuchs wäre darauf zu achten, negative Tatbestandsmerkmale wie in Art. 13 § 1 KK zu vermeiden. Dort ist das Ausbleiben der Vollendung als Bedingung des Versuchs festgeschrieben.174 Streng genommen wäre darum etwa der wegen Mordes Angeklagte freizusprechen, wenn (wegen Unauffindbarkeit einer Leiche) zweifelhaft bliebe, ob er die Tat vollendet hat oder nicht. Ein strafbefreiender Rücktritt vom Versuch ist dem deutschen, dem französischen sowie dem polnischen Recht geläufig – nicht dagegen dem englischen, das die freiwillige Aufgabe der Tatbestandsverwirklichung lediglich bei der Strafzumessung berücksichtigt.175 In der Tendenz überwiegt die Rücktrittsmöglichkeit also; und auch das Corpus Juris sieht eine solche Möglichkeit vor, Art. 11bis Abs. 3: Danach wird wegen Versuchs nicht bestraft, wer von der Vollendung der Tat freiwillig zurück tritt oder sie freiwillig verhindert. Wird die Tat nicht aus anderen Gründen vollendet, genügt es zur Straflosigkeit, dass sich der Betreffende freiwillig und ernsthaft bemüht, von der Tat zurückzutreten oder sie zu verhindern. Gemeinsame Kernvoraussetzung eines Rücktritts ist folglich, dass der Versuch noch nicht fehlgeschlagen ist und der Täter sich freiwillig für den Rücktritt entscheidet. – Was diese Mehrheitsansicht nicht berücksichtigt, ist der Umstand, dass auch der zurück tretende Versuchstäter einen Angriff auf die Geltungskraft einer Verhaltensnorm bereits vollendet hat.176 171
Zur Versuchsregelung dort s. Safferling, ZStW 118 (2006), 682 (704 ff.). Ebenso im Ergebnis ihrer rechtsvergleichenden Untersuchungen Brockhaus, S. 480 ff., und Schubert, S. 268 f., 284 f.; anders dagegen Cancio, Freiburg-Symposium, S. 169 (182): „Verständigung über die Bedeutung dieser Figur offensichtlich nicht festzustellen“. 173 Vgl. Freund, AT, § 8 Rn. 11. 174 Zur Erinnerung, vgl. oben Zweiter Teil, D. III. 2. b) dd): „Wegen Versuchs ist strafbar, wer mit dem Vorsatz der Begehung einer verbotenen Tat sein Verhalten unmittelbar auf deren Vollendung richtet, die aber ausbleibt.“ 175 Vgl. oben Zweiter Teil, A. II. 2. b) dd) zu Deutschland; B. III. 2. c) zu England; C. III. 2. d) zu Frankreich und D. III. 2. b) dd) zu Polen; s. ferner Brockhaus, S. 493 ff. 176 Kritisch dazu noch unten in diesem Teil, C. II. 3. 172
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bb) Der Nachweis des „objektiven“ Elements Zuletzt ist noch zu klären, von wem und in welcher Weise das Vorliegen des „objektiven“ Elements im Strafprozess darzulegen und zu beweisen ist. Zu diesen Fragen gibt es zwischen den behandelten Rechten wiederum ein hohes Maß an Übereinstimmung. Zunächst gilt eine umfassende Unschuldsvermutung; Darlegungs- und Beweislast obliegen demnach ausnahmslos der Strafverfolgung. Differenzen finden sich lediglich in den Formulierungen, ab wann ein Beweis als erbracht angesehen wird. Sowohl das deutsch geprägte als auch das gemeinwesteuropäische System bedient sich insoweit einer Kombination objektiver und subjektiver Kriterien. In Deutschland etwa gilt der rechtsgenügende Beweis als erbracht, wenn erstens die getroffenen Feststellungen (objektiv) mit hoher Wahrscheinlichkeit zutreffen und zweitens der entscheidende Richter (subjektiv) davon überzeugt ist, damit die Wahrheit gefunden zu haben.177 In England spiegelt sich dieser Gedanke äußerst verdichtet in der Formel „beyond reasonable doubt“ – „jenseits eines Zweifels“ bezeichnet das subjektive Element, das Korrektiv „vernünftig“ ist das objektive Element.178 Allein das französische Prozessrecht fordert von dem zur Entscheidung berufenen Richter lediglich eine „innerliche Überzeugung“ (intime conviction), ohne dass ein „objektives Korrektiv“ ersichtlich wäre.179 Nach welchen Regeln oder Kriterien Richter ihre erforderliche Überzeugung bilden, ihre etwaigen Zweifel zum Schweigen bringen (müssen) – diese Fragestellung wird in den untersuchten Ländern nicht weiter vertieft. In Deutschland und in Polen verweist man dazu auf den Grundsatz der freien Beweiswürdigung (in den Grenzen der Logik, des vorhandenen Wissens und der allgemeinen Lebenserfahrung).180 In England und Frankreich widmet sich die herrschende Lehre dem Problem soweit ersichtlich gar nicht. Damit laufen alle vier Rechte in der Sache auf eine weit gehende Autonomie der entscheidenden Richter hinaus. c) Subjektives Element Allen betrachteten Strafrechten ist in struktureller Hinsicht gemeinsam, dass sie dem soeben verglichenen „objektiven“ Aspekt der Tat einen „subjektiven“ Aspekt gegenüber stellen bzw. nachordnen.181 Dabei handelt es sich ebenfalls um ein echtes Verbrechenselement. Während allerdings in den einzelnen nationa177
Oben Zweiter Teil, A. II. 3.; zu Polen s. Zweiter Teil, D. III. 6. Oben Zweiter Teil, B. III. 2. a) cc). 179 Oben Zweiter Teil, C. III. 2. e). 180 Vgl. Zweiter Teil, A. II. 3. sowie D. III. 6. Auf dieses Verständnis ist unten C. II. 5. noch kritisch einzugehen. 181 Vgl. auch Tiedemann, Freiburg-Symposium, S. 3 (10); Vogel, Freiburg-Symposium, S. 125. 178
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len Ausprägungen des „objektiven“ Elements weitest gehend dieselben rechtlichen Phänomene und Probleme verortet werden, geben die „subjektiven“ Strukturelemente ein weitaus heterogeneres Bild ab – und zwar oftmals schon innerhalb ihres jeweiligen nationalen Kontextes.182 Zum französischen élément moral etwa zählt die herrschende Auffassung auch die (allgemeine) Zurechnungsfähigkeit.183 Dagegen liegt im deutschen „subjektiven Tatbestand“ und bei der polnischen subjektiven Seite der Tat, aber auch innerhalb der englischen mens rea das Augenmerk darauf, ob der Täter im Zeitpunkt seines Verhaltens dessen strafrechtlich relevante „objektive“ Umstände erkannt hat bzw. hätte erkennen müssen.184 In diesem letzteren Sinne soll auch hier verfahren werden: Zu vergleichen ist demnach, welche Arten des Bewusstseins um das „objektive“ Element die einzelnen Länder unterscheiden. Außerdem ist zu vergleichen, wie sich insoweit die Beweissituation darstellt. Schließlich wird noch die Frage zu beantworten sein, ob eine Straftat auch ohne ein „subjektives Element“ im dargestellten Sinne gegeben sein kann. aa) Materieller Inhalt des subjektiven Elements In der Frage des Bewusstseins um die Tat zeigt sich länder- und systemübergreifend eine grundlegende Unterscheidung: die zwischen (in deutscher Terminologie) Vorsatz und Fahrlässigkeit. Ihnen kommt in Deutschland eine doppelte Funktion zu, indem sie einerseits den (bei der Vorsatztat zusätzlich erforderlichen) speziellen subjektiven Teil des Tatbestands ausmachen, andererseits aber auch Schuldformen darstellen.185 In England und Frankreich werden Vorsatz und Fahrlässigkeit ebenfalls als Träger des Schuldvorwurfs verstanden, treten jedoch im Aufbau der Straftat nicht doppelt in Erscheinung.186 In Polen erscheinen Vorsatz und Fahrlässigkeit nur noch als Elemente des Tatbestands.187 – Neben diesen beiden Grundtypen gibt es in allen vier Ländern auch noch spezielle weitere Formen der subjektiven Einstellung. (1) Vorsatz Wie sich den Landesberichten entnehmen lässt, gilt die vorsätzlich begangene Straftat meist als der Prototyp strafbaren Verhaltens.188 Positiv definiert ist der Begriff des Vorsatzes allerdings nur im polnischen Art. 9 § 1 KK. In Deutschland 182 Vgl. etwa zum französischen élément moral Vogel, GA 1998, 127 (133); zur englischen mens rea oben Zweiter Teil, B. III. 2. b). 183 Oben Zweiter Teil, C. III. 3. a). 184 Vgl. oben Zweiter Teil, A. II. 2. b) bb), B. III. 2. b) aa), D. III. 2. b) cc). 185 Oben Zweiter Teil, A. II. 2. b) bb) (1), cc) sowie d) dd) (3). 186 Vgl. Zweiter Teil, B. III. 2. b) zu England, C. III. 3. b) zu Frankreich; s. ergänzend Vogel, GA 1998, 127 (146). 187 Zweiter Teil, D. III. 2. b) cc).
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enthält § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB eine (unvollständige) Negativumschreibung; in England und Frankreich schweigt sich das Gesetz zu diesem Punkt ganz aus. In der Sache ist allen vier Rechten jedoch Folgendes gemeinsam:189 Mit Vorsatz verbindet man überall einen Erkenntnis- und oft auch einen Willensaspekt; aus diesen setzen sich die jeweilige Grunddefinition sowie etwaige Varianten des Vorsatzes zusammen. Dabei differieren zwar von Land zu Land die Bezeichnungen im Einzelnen. Überall existiert jedoch eine Mindestform des Vorsatzes, deren Vorliegen grundsätzlich für eine Bestrafung wegen eines vorsätzlichen Delikts ausreicht. Konstitutiv ist für diese Mindestform aber überall bereits die bloße kognitive Erkenntnis, möglicherweise einen tatbestandlichen Erfolg herbei zu führen. Wenn dieses Wissenselement in handlungsrelevanter Weise aktuell gegeben ist, wird Vorsatz bejaht – mag der Täter den Erfolg auch noch so wenig „wollen“. In Deutschland, England und Polen ist diese Grundform des Vorsatzes offen anerkannt und trägt eine eigene Bezeichnung (dolus eventualis, oblique intention/recklessness).190 In Frankreich dagegen unterscheidet die herrschende Meinung – wenig hilfreich191 – zwischen „allgemeinem“ und „besonderem“ Vorsatz – und setzt theoretisch für beide Arten voraus, dass der Täter den verursachten Taterfolg auch „gewollt“ haben müsse. Die französische Rechtsprechung widerlegt diese Position freilich: In der Praxis ist es vielmehr auch hier regelmäßig hinreichend für die Vorsatzstrafe, wenn der Täter die Möglichkeit des Erfolgseintritts erkannt und dennoch gehandelt hat.192 Die erwähnte Grundform erhellt exemplarisch (und durchaus repräsentativ) aus der polnischen Legaldefinition: Danach verhält sich vorsätzlich hinsichtlich einer bestimmten Straftat, wer diese entweder begehen will oder die Möglichkeit ihrer Begehung vorhersieht und mit ihr einverstanden ist. Man sieht: Obwohl die letztere Form des Vorsatzes geringere Anforderungen aufstellt, ist sie der Ersteren qualitativ gleichwertig. Einverstanden zu sein, stellt dabei nur mehr einen sprachlichen Zusatz dar, keinen sachlichen. Denn wer die Möglichkeit der Tatbegehung erkennt und dennoch handelt, bringt das erforderliche Einverständnis zwangsläufig in konkludenter Weise zum Ausdruck. 188 In Deutschland erhellt dies bereits aus dem Aufbau des Straftatbegriffs selbst, vgl. oben Zweiter Teil, A. II. (Grundschema) und II. 2. b) cc) (Abweichung beim Fahrlässigkeitsdelikt). In Frankreich s. etwa Art. 1-123 CP. Deutlich in diesem Sinne auch Pradel, Droit pénal comparé, Rn. 197, 200. 189 Vgl. oben im Zweiten Teil, A. II. 2. b) bb) (1) zu Deutschland, B. III. 2. b) bb) (1) zu England, C. III. 3. b) aa) zu Frankreich, D. III. 2. b) cc) zu Polen. s. ferner Vogel, Freiburg-Symposium, S. 125 (126 ff.). 190 Vgl. oben Zweiter Teil, A. II. 2. b) bb) (1), B. III. 2. b) bb) (1), D. III. 2. b) cc). Dabei umfasst recklessness allerdings auch bestimmte Fälle der Fahrlässigkeit und der Leichtfertigkeit. 191 Vgl. z. B. Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 384, die konzedieren, dass beide Arten sich überschneiden könnten bzw. der dol spécial den dol général notwendig umschließt. 192 Vgl. oben C. III. 3. b) aa).
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In allen Ländern muss der Vorsatz sich konkret auf die Tatumstände beziehen, und er muss im Zeitpunkt ihrer Verwirklichung vorliegen. Eine weitere Gemeinsamkeit, die sich aus den bisherigen Darlegungen ebenfalls bereits ableiten lässt, besteht mit Blick auf den Irrtum über Tatumstände: Wer im Zeitpunkt seines Verhaltens einen die Tatbestandsverwirklichung begründenden Umstand nicht kognitiv erfasst hat, handelt hinsichtlich dieses Tatbestands nicht vorsätzlich.193 In der zwingenden Konsequenz dessen liegt es, dass auch demjenigen, der sich irrtümlich privilegierende Umstände vorstellt, vorsätzliches Verhalten nur hinsichtlich dieses privilegierenden Tatbestands vorgeworfen werden darf. Nur die polnische Regelung stellt in Art. 28 § 2 KK stattdessen überraschenderweise auf die Entschuldbarkeit des Irrtums ab.194 Sie fällt damit aus der Reihe und muss als inkonsequent abgelehnt werden. (2) Fahrlässigkeit Fahrlässigkeit fasst man in England wie erwähnt als reines „Objektivum“ auf;195 dagegen kommt ihr in Deutschland196 auch eine subjektive Seite zu. Dasselbe gilt auch für Polen – (nur) dort ist Fahrlässigkeit auch legaldefiniert, wenngleich in nicht vollauf überzeugender Weise.197 Diese subjektive Seite der Fahrlässigkeit manifestiert sich in der Frage: Hat derjenige, der gegen eine „objektive“ Sorgfaltspflicht verstoßen hat, seine Pflicht auch unter Berücksichtigung seiner individuellen Fähigkeiten und seines Horizonts verletzt? Verwandt mit dieser auf der „subjektiven Tatseite“ nun einhellig befürworteten individuellen Betrachtungsweise scheint auch die französische Konzeption einer „appréciation in concreto“.198 Insoweit ist allerdings Vorsicht geboten. Denn zumindest die französische Rechtsprechung lässt nicht erkennen, dass für die Beurteilung der Fahr193 Vgl. oben im Zweiten Teil zu Deutschland A. II. 2. b) bb) (1) am Ende; zu England B. III. 2. b) dd) (1), zu Frankreich C. III. 3. b) dd); zu Polen D. III. 2. b) cc); s. auch Tiedemann, FS Lenckner, S. 411 (429). – Auffällig ist, dass die entsprechende polnische Regelung sich im Kontext der Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe findet; kritisch dazu E. Weigend, ZStW 110 (1998), 114 (129). 194 Vgl. oben Zweiter Teil, D. III. 2. b) cc). 195 Vgl. oben Zweiter Teil, B. III. 2. b) bb) (4). 196 Vgl. oben Zweiter Teil, A. II. 2. b) cc). 197 Oben Zweiter Teil, D. III. 2. b) cc): Fahrlässig handele, wer „ohne den Vorsatz zu haben, die verbotene Tat zu begehen, sie infolge der Verletzung der unter den gegebenen Umständen erforderlichen Sorgfalt dennoch begeht, obwohl er die Möglichkeit ihrer Begehung voraus gesehen hat oder hätte voraus sehen können.“ Problematisch daran ist zum einen die negative Voraussetzung „ohne den Vorsatz zu haben“. Denn hiernach müsste der Grundsatz in dubio pro reo streng genommen zu einem Freispruch führen, wenn vorsätzliches Verhalten möglich erscheint, aber nicht sicher nachweisbar ist. – Zum anderen ist wegen der Bezugnahme auf die mögliche Vorhersehbarkeit die Abgrenzung zum dolus eventualis unsicher. 198 Vgl. oben Zweiter Teil, C. III. 3. b) bb) (1).
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lässigkeitsfrage tatsächlich allein die individuelle Situation des Beschuldigten zugrunde gelegt würde.199 Überhaupt mutet die französische Konzeption der Fahrlässigkeit ungeachtet (oder gerade wegen) der jüngsten Reformen kaum brauchbar an. Sie ist kompliziert und ausführlich, ohne dass sich daraus irgendein Klarheitsgewinn bei der Rechtsanwendung ergäbe.200 Sogar das französische Schrifttum räumt dies zum Teil offen ein.201 Kann demnach das französische Recht in diesem Punkt nicht als Modell dienen, so bleibt für ein europäisches Verbrechenskonzept die Lösung des deutsch geprägten Systems. Jedenfalls für die Fahrlässigkeit als Teil des subjektiven Elements der Straftat ist daher von den konkreten Gegebenheiten auszugehen, wie sie sich dem Betroffenen individuell – mit seinen Fähigkeiten und Defekten – präsentiert haben.202 Die so verstandene Fahrlässigkeit kann eine bewusste oder eine unbewusste sein.203 (3) Sonderformen Neben den gemeinsamen Begehungsformen Vorsatz und Fahrlässigkeit kennen die einzelnen nationalen Rechte noch weitere, spezielle Varianten von Wissen und Wollen der Tat: etwa die Absicht im deutschen oder knowledge im englischen Recht. In Frankreich nimmt insbesondere die mise en danger délibérée eine (im Einzelnen ungeklärte) Zwischenstellung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit ein.204 Diese Sonderformen und ihre Interpretation sind dann allerdings vorwiegend im Kontext des jeweiligen Tatbestands zu sehen, sie sind somit primär Materien des Besonderen Teils. Für die hier angestrebte Entwicklung von Grundlinien eines europäischen Verbrechensbegriffs können sie daher hintan gestellt werden.205
199 Gegen die Gleichsetzung des französischen Streits um eine appréciation in abstracto oder in concreto mit der deutschen Debatte um ein individualisiertes Fahrlässigkeitskonzept auch Pfefferkorn, S. 44. 200 Vgl. das Verdikt Pfefferkorns, S. 171; wonach „die französischen Gerichte auch nach der Neufassung des Art. 121-3 Abs. 3 CP an ihrer traditionellen, ebenso assoziativen wie apodiktischen Fahrlässigkeitsbewertung festhalten.“ 201 Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 385, etwa schließen sich dem Zitat Roux’ an, es gebe keine „Theorie, die von größerer Unklarheit erfüllt wäre“ als die Fahrlässigkeitsdogmatik. 202 s. näher den Definitionsvorschlag von Freund, FS Küper, S. 63 (78); ders., AT, § 5 Rn. 87c. 203 Die europaweite Verankerung dieser Unterscheidung konstatiert auch Vogel, Freiburg-Symposium, S. 125 (145). 204 Vgl. oben Zweiter Teil, C. III. 3. b) bb) (3). 205 Für Übernahme einer Zwischenform zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit auf die Ebene eines europäischen Strafrechts jedoch Vogel, Freiburg-Symposium, S. 125 (141 f.).
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bb) Der Nachweis des subjektiven Elements Von erheblicher Bedeutung ist demgegenüber wieder die Frage, wem hinsichtlich des subjektiven Elements prozessual die Darlegungs- und Beweislast obliegt. Die behandelten Rechte geben darauf – im Grundsatz einhellig – dieselbe Antwort wie schon im Kontext des objektiven Elements:206 Es gilt also wiederum eine absolute Unschuldsvermutung; die Anklage muss Vorsatz, Fahrlässigkeit oder andere erforderliche Einstellungen des Beschuldigten darlegen und beweisen. Die einzige Ausnahme betrifft die faute contraventionelle im französischen Recht, bei der die Schuld sich schon aus der „objektiven“ Erfüllung des Tatbestands ergeben soll bzw. vermutet wird.207 Diese Sichtweise macht für die Gruppe der Übertretungen ein subjektives Tatelement letztlich ganz entbehrlich. Inwiefern dies auf europäischer Ebene akzeptabel ist, soll sogleich in weiterem Zusammenhang ausführlich diskutiert werden. Was das Beweismaß im Rahmen des subjektiven Elements der Tat anbelangt, gilt ebenfalls nichts anderes als im Rahmen des objektiven Elements: In Deutschland und in Polen muss der Richter mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit überzeugt sein; in England „beyond reasonable doubt“; in Frankreich nach dem Kriterium der intime conviction. Im englischen Recht findet sich überdies mit section 8 Criminal Justice Act 1967 eine gesetzliche Anweisung speziell für den – naturgemäß nicht unproblematischen – Nachweis der subjektiven Tatseite. cc) Verzichtbarkeit des subjektiven Elements? In einem größeren Zusammenhang als nur bei den eben erwähnten Übertretungen stellt sich mit Blick auf das subjektive Element der Tat eine letzte wichtige Frage: Können Straftaten im Ausnahmefall (oder sogar regelmäßig) auch ohne „subjektives Element“ im hier nunmehr konkretisierten Sinne gegeben sein? In diesem Punkt stehen sich einmal mehr die beiden Ausgangssysteme konträr gegenüber: Nach deutscher und polnischer Konzeption ist die Frage zu verneinen: Eine rein „objektiv“ konstituierte Straftat wäre ein gravierender Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Schuldprinzip. Zwar gibt es im deutschen Recht wie erwähnt Tatbestände, die so genannte objektive Bedingungen der Strafbarkeit enthalten.208 Auch diese Tatbestände erfordern in jedem Fall allerdings zunächst 206 Zum Folgenden vgl. oben Zweiter Teil, A. II. 3. zu Deutschland, B. III. 2. b) cc) zu England; C. III. 3. d) zu Frankreich; D. III. 6. zu Polen. 207 Oben Zweiter Teil, C. III. 3. b) cc). 208 Vgl. oben Zweiter Teil, A. II. 2. e) aa). s. auch den eingehenden Rechtsvergleich bei Hörster, S. 163 ff., der zeigt, dass das deutsche (Neben-)Strafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht zu beweiserleichternden Tatbestandsausgestaltungen und außerordentlich hohen Sorgfaltspflichten neigt, die funktional betrachtet der englischen Lösung im Ergebnis „weitgehend gar nicht unähnlich seien“ (S. 230). Dennoch bekennt auch Hörster größere Sympathie für die deutsche Sichtweise, S. 231.
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einmal ein – vorsätzliches oder fahrlässiges – Fehlverhalten. Das Bundesverfassungsgericht sieht dieses Schuldprinzip in der Garantie der Menschenwürde verankert; damit ist es nach deutschem Verfassungsrecht nicht disponibel, auch nicht in einem supranationalen Rahmen.209 Demgegenüber hat sowohl der englische als auch der französische Landesbericht eine andere Position zutage gebracht: Mit den strict liability crimes bzw. den infractions matérielles (im Sinne der keine Schuld erfordernden Übertretungen) gibt es dort sehr wohl Kategorien von Straftaten, die ohne mens rea bzw. élément moral auskommen.210 Diese Kategorien sind dort auch von erheblicher praktischer Bedeutung. Ob ein derart diametraler Gegensatz in einem so fundamentalen Punkt des Straftatbegriffs sich harmonisch auflösen lässt, erscheint zweifelhaft.211 Zwar kann man – ganz ähnlich wie bereits oben im Zusammenhang mit dem Gesetzlichkeitsgrundsatz – konstatieren, dass zumindest in Frankreich die infractions matérielles qualitativ eine Ausnahme darstellen, weil sie auf den Bereich der Übertretungen beschränkt sind. Im Übrigen halten französische Autoren das Erfordernis individueller Schuld durchaus hoch.212 Und auch in England scheint die Kritik an dem Konzept der strict liability tendenziell stärker zu werden; jedenfalls ist sie keineswegs auf vereinzelte Stimmen in der Literatur begrenzt, sondern hat mittlerweile sogar das House of Lords erreicht, das wie gesehen die Anforderungen an die strict liability in jüngster Zeit maßgeblich verschärft hat.213 Insofern dürfte die Gesamttendenz der hier verglichenen Rechtsordnungen eher in Richtung einer ausnahmslosen Geltung des Schuldprinzips gehen. Anders als im Kontext des Gesetzlichkeitsprinzips scheint sich diese abzusehende Tendenz nicht noch zusätzlich durch bereits bestehendes europäisches Recht untermauern zu lassen – haben doch sowohl der Europäische Gerichtshof als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die nationalen Entscheidungen für eine in Teilbereichen schuldunabhängige „Strafbarkeit“ im
209 BVerfG, NJW 2009, 2267 (2289). In der praktischen Konsequenz heißt das, wie schon oben B. III. 1. b) bb) im Kontext des Gesetzlichkeitsgrundsatzes ausgeführt: An einem europäischen Strafrecht, das den Schuldgrundsatz nicht achtet, könnte sich Deutschland nicht beteiligen. Vgl. zu dieser Sicht des Gerichts Meyer, NStZ 2009, 657 (659 f.). Gleichwohl soll diese deutsche Position im Folgenden auch noch argumentativ untermauert werden. 210 Vgl. für England oben Zweiter Teil, B. III. 2. b) ee) (1); für Frankreich Zweiter Teil, C. III. 3. b) cc). – Europaweit ist dies sogar eher die Regel als die Ausnahme, vgl. Hörster, S. 114. 211 s. auch Tiedemann, FS Lenckner, S. 411 (428); dens., Freiburg-Symposium, S. 3 (13 f.), der den Gegensatz freilich relativiert. 212 Conte/Maistre du Chambon, S. 204 (Ziff. 377): „Responsabilité sans faute est une absurdité“. 213 Vgl. oben Zweiter Teil, B. III. 2. b) ee) (3).
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3. Teil: Der Straftatbegriff im Rechtsvergleich
Grundsatz gebilligt.214 Zu unterstreichen ist dabei jedoch: die nationale Entscheidung. Für die Frage, welchem Konzept ein eigenes europäisches Strafrecht sich anschließen sollte, folgt daraus nichts. Die Union (in Gestalt des EuGH) muss bei der Kontrolle nationalen Strafrechts, das grundsätzlich mitgliedstaatlicher Souveränität unterliegt, notwendig eine gewisse Zurückhaltung walten lassen. Bei der Gestaltung eines eigenen Strafrechts hingegen ist sie – eine entsprechende Kompetenz natürlich voraus gesetzt – weitest gehend frei. Vornehmlich muss sie beachten, dass sich ein unionseigenes Strafrecht in das Gefüge des bestehenden Primärrechts einpasst. Aus dem Letzteren lässt sich nun aber sehr wohl ein Argument gegen ein in Teilbereichen schuldunabhängiges Strafrecht ableiten: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, als Pfeiler des primären Europarechts, gestattet der Union nur den Einsatz solcher Mittel, die zur Erreichung des zulässigerweise verfolgten Ziels geeignet und erforderlich sind.215 Auch wenn der EuGH bei der Anwendung dieser Kriterien auf legislative Maßnahmen ein weites Ermessen gewährt;216 eine die individuelle Einstellung gar nicht berücksichtigende strafrechtliche Haftung ist hiernach unverhältnismäßig. Sie ist bereits ungeeignet, wenn man den legitimen Zweck von Strafe – wie hier begründet – darin erblickt, Verhaltensnormverstöße zu ahnden, um einen Normgeltungsschaden abzuwenden.217 Sie ist in diesem Fall deshalb ungeeignet, weil die „rein objektive“ Schädigung eines Rechtsguts richtigerweise niemals als ein Verhaltensnormverstoß angesehen werden kann. Ein solcher setzt vielmehr notwendig voraus, dass eine Person zumindest die in Rede stehende Norm sowie die den Normbruch in der konkreten Situation begründenden Umstände erfasst oder wenigstens erfassen kann. Wenn aber eine nur „objektiv“ festgestellte Schädigung noch kein Verhaltensnormverstoß sein kann, dann fehlt es auch an der Gefahr eines Normgeltungsschadens sowie an einer entsprechenden Störung des Rechtsfriedens – und eine dennoch ergehende Strafe kann ihren legitimen Zweck nicht erreichen. „Bestraft“ man die betroffene Person gleichwohl für bestimmte Umstände, die sie nicht beeinflussen kann (ihr So-Sein; einen Gegenstand, der sich bei ihr befindet usw.), so ist der mit der „Bestrafung“ erhobene Vorwurf unberechtigt. Es kann sich nur um eine
214 EuGH, Rs. C-326/88 – Hansen –, Slg. 1990, I-2911, Ziff. 20; EGMR, SalabiakuUrteil vom 7.10.1988, Serie A, Nr. 141-A, Ziff. 27. Vgl. auch Klip, European Criminal Law, S. 189, der strict liability für kompatibel mit bisherigem europäischem Recht hält. 215 Oppermann/Classen/Nettesheim, § 12 Rn. 30; Haratsch/Koenig/Pechstein, Rn. 183 f. – Umstritten ist, ob (wie in Deutschland) auf einer dritten Stufe auch die Angemessenheit des Mittels zu prüfen ist. Diese Frage kann hier jedoch dahin stehen. 216 So soll ein Rechtsakt nur dann unverhältnismäßig sein, wenn er zur Erreichung des angestrebten Ziels offensichtlich ungeeignet ist; EuGH, Rs. 265/87 – Schräder –, Slg. 1989, 2237, Ziff. 21 f.; EuGH, Rs. C-331/88 – FEDESA –, Slg. 1990, I-4023, Ziff. 14. 217 So Freund, AT, § 1 Rn. 10; Jakobs, AT, 1/9 ff.
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unzulässige Verdachtsstrafe oder aber um eine Maßregel der Besserung und Sicherung handeln. In der Tat spricht denn auch einiges dafür, dass die Mehrzahl der strict liability crimes und auch die infractions matérielles gar keinen strafrechtlichen Zweck in diesem erläuterten Sinne verfolgen, sondern in Wahrheit dem Zweck der Gefahrenabwehr dienen. Im englischen Recht legen dies die Begründungen der strict liability nahe, die oben am Beispiel des Falls Howells referiert worden sind,218 allen voran natürlich die besondere Gefährlichkeit des „strikt“ pönalisierten Verhaltens (im konkreten Fall: des Schusswaffenbesitzes). Und auch die apologetische Rechtfertigung, diese Verhaltensweisen seien „nicht wirklich kriminell“, deutet darauf hin, dass die strict liability crimes zum großen Teil gar nicht den Bereich betreffen, der zumindest im deutsch geprägten System mit dem Begriff der Straftat assoziiert wird. Ähnliches kann man auch von den infractions matérielles sagen, beziehen diese sich doch nicht von ungefähr gerade auch auf Polizeiübertretungen und sollen „Ordnung und Disziplin schnell und unnachsichtig durchsetzen“; ein sozialer Makel sei mit ihrer „Bestrafung“ nicht verbunden.219 Wenn es bei diesen Erscheinungsformen schuldunabhängiger Strafbarkeit aber in Wirklichkeit um Gefahrenabwehr geht, wenn die betroffenen Taten wirklich civil in nature220 sind, dann sollten sie auch nicht in criminal form gewandet werden – jedenfalls nicht auf einer gemeineuropäischen Ebene, der Länder angehören, in denen jegliche Strafe als Stigma, als ein gravierender Eingriff in Freiheitsrechte empfunden wird.221 Gefahrenabwehr lässt sich jedenfalls – um auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zurück zu kommen – mit milderen Mitteln als denen des Strafrechts erreichen. Die begriffliche Klarheit dient hier nicht zuletzt auch der notwendigen sachlichen Legitimation der jeweiligen (Sanktions-) Maßnahme.222 Im Ergebnis ist mithin festzuhalten: Für einen europäischen Straftatbegriff ist das „subjektive Element“ nicht verzichtbar.223 Diese Lösung steht im Übrigen auch in Einklang mit Art. 9 Corpus Juris, der für alle dort geregelten Delikte grundsätzlich Vorsatz, mindestens aber Leichtfertigkeit verlangt. 218
Oben Zweiter Teil, B. III. 2. b) ee) (2) (bei Fn. 329). s. oben Zweiter Teil, C. III. 3. b) cc). 220 s. oben Zweiter Teil, B. III. 2. b) ee) (2). 221 Zum Teil wird das durchaus auch in England so gesehen, vgl. nur Ashworth, Criminal Law, S. 18, 48. 222 In Frankreich plädiert denn auch Robert, FS Pradel, S. 161 (161 ff.), dafür, bloße Gefahrenabwehr nicht mit strafrechtlichen Mitteln zu realisieren, sondern (wieder) in einer eigenen Kategorie der contravention de police. Näher zu den spezifischen Legitimationsproblemen bei Strafe und Maßregel Freund, GA 2010, 193 ff. 223 Ebenso Vogel, Freiburg-Symposium, S. 125 (138), unter Verweis auf das Schuldprinzip als Teil der unantastbaren Menschenwürdegarantie; dazu zuletzt BVerfG, NJW 2009, 2267 (2289); s. ferner Safferling, Vorsatz und Schuld, S. 377, 489. 219
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d) Aufhebung der tatbestandlichen Missbilligung Das „objektive“ und das „subjektive“ Element im bislang erarbeiteten Sinne bilden zwar unverzichtbare Bestandteile einer jeden Straftat. Sie begründen aber wie erwähnt zunächst nur ein vorläufiges Missbilligungsurteil. Denn alle vier untersuchten Verbrechensbegriffe kennen Umstände, die das tatbestandliche Missbilligungsurteil doch noch aufheben, obwohl „objektives“ und „subjektives“ Element einer Straftat verwirklicht sind. Im Folgenden werden diese Umstände erst in materieller Hinsicht dargestellt; im Anschluss daran wird die Frage ihres Nachweises thematisiert. aa) Materielle Aufhebungsgründe Der bis hierher verwendete, bewusst abstrakt gewählte Arbeitsbegriff von der „Aufhebung der tatbestandlichen Missbilligung“ umfasst eine Vielzahl unterschiedlichster Sachkonstellationen. Aus dem deutschen Straftatmodell fallen darunter alle Umstände, die auf den Systemebenen von Rechtswidrigkeit und Schuld zur Straflosigkeit führen.224 Im polnischen Modell zählen dazu – wiederum ganz ähnlich – die Kontratypen und die Gründe für fehlende Schuld, hinzu kommt aber überdies die fehlende Sozialschädlichkeit.225 Frankreich steuert die causes d’irresponsabilité gemäß Art. 122-1 ff. CP bei;226 und aus dem englischen Verbrechensbegriff schließlich sind sämtliche defences erfasst.227 Derart beladen, erfordert der verwendete Arbeitsbegriff – zumindest im Interesse besserer Überschaubarkeit – eine nähere Sub-Kategorisierung. Es liegt nahe, sich zu diesem Zweck der Begriffe „Rechtfertigung“ und „Entschuldigung“ zu bedienen. Für das deutsch geprägte Straftatsystem bedarf es dazu keiner näheren Begründung; die Trennung von Unrecht und Schuld ist traditionell ja eines seiner grundlegenden Charakteristika.228 Im gemeinwesteuropäischen System verhält es sich anders. Darf man dennoch auch dessen Strafaufhebungsgründe in die Dichotomie von Rechtfertigung und Entschuldigung kleiden? Es ist zumindest den Versuch wert, und zwar vor allem aus zwei Gründen: Zum einen bietet das gemeinwesteuropäische System wie gesehen gar keine alternative dogmatische Kategorie an, mit deren Hilfe man die Untersuchung der strafaufhebenden Umstände fortsetzen könnte. Vor allem aber kennt auch dieses System die Unter224
Vgl. oben Zweiter Teil, A. II. 2. c) und d). Vgl. oben Zweiter Teil, D. III. 3., 4. und 5. 226 Oben Zweiter Teil, C. III. 3. – Die Gründe, die lediglich zu einer Minderung (atténuation) der strafrechtlichen Verantwortlichkeit führen, sollen für den Zweck dieser Arbeit ausgeblendet bleiben. 227 Vgl. oben Zweiter Teil, B. III. 2. d). 228 Die Gegenstimmen mehren sich allerdings; s. zuletzt Pawlik, FS Otto, S. 133 (133 ff. mit Nachweisen in Fn. 2). 225
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scheidung zwischen rechtfertigenden und entschuldigenden Umständen zumindest, mag es ihr auch keine dogmatische Bedeutung beimessen.229 Daran lässt sich für den hier verfolgten Zweck anknüpfen. Eine Klarstellung ist an dieser Stelle allerdings vonnöten. Die Begriffe Rechtfertigung und Entschuldigung können und sollen hier nun nicht – zumal ohne jede weitere Begründung – einfach im deutschen Sinne verwendet und als solche ihren englischen und französischen Pendants gleichsam übergestülpt werden. Sie werden stattdessen zunächst als „Hülsen“ genutzt, um Ordnung in die Darstellung zu bringen. Mit welchem gemeinsamen Gehalt sie zu füllen sind, ob und inwieweit sie auch materiell aufzuladen sind, kann erst die weitere vergleichende Betrachtung erweisen. Nicht (zumindest noch nicht) in den so gezogenen Rahmen passt die Sozialschädlichkeit nach polnischem Verständnis. Denn da sie eindeutig als eigene Systemstufe neben Rechtswidrigkeit und Schuld existiert, kann sie hier nicht von vornherein einer der beiden letzteren Kategorien zugeschlagen werden. Vor diesem Hintergrund wird der Aufhebungsgrund der fehlenden Sozialschädlichkeit in der folgenden Darstellung gesondert thematisiert. (1) Rechtfertigende Umstände Dass es Umstände gibt, die die Verwirklichung des „objektiven“ und „subjektiven“ Elements rechtfertigen, dieser Gedanke ist allen untersuchten Ländern gemeinsam. In der strukturellen Verankerung dieses Gedankens zeigen sich dann zwar Unterschiede.230 So bildet im deutsch geprägten Straftatsystem die Kategorie der Rechtswidrigkeit das zweite Glied der klassischen Verbrechenstrias, und zwar nach der Tatbestandsmäßigkeit, mit welcher gemeinsam sie das Unrecht der Tat konstituiert, und vor der Schuld. In Frankreich negieren faits justificatifs nach überwiegender Auffassung bereits das élément légal der Tat; und in England bildet die justification eine – als solche für nicht zwingend erforderlich gehaltene – Gruppe unter den die Straftat ausschließenden defences; aus dieser Gruppe ist im Landesbericht die self-defence behandelt worden. In der praktischen Handhabung der einzelnen Systeme besteht dann allerdings wieder Übereinstimmung. Denn auch in Deutschland und Polen, zumindest auf der Grundlage der dort herrschenden Ansichten, wird die Rechtswidrigkeit eines tatbestandsmäßigen Verhaltens – obwohl sie materiell ein positives Strafbarkeitserfordernis ist – im Regelfall eben nicht positiv etabliert. Man sieht sie vielmehr grundsätzlich als durch die Tatbestandserfüllung „indiziert“, wobei ein eingrei229 So in England, vgl. oben Zweiter Teil, B. III. 2. d) bb); s. ferner Dannecker, FS Hirsch, S. 141 (153). 230 Vgl. oben im Zweiten Teil, A. II. 2. c) zu Deutschland; B. III. 2. d) cc) zu England; C. III. 1. b) zu Frankreich; und D. III. 3. zu Polen, jeweils auch zum Folgenden.
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fender Rechtfertigungsgrund dieses Indiz noch widerlegen kann.231 Praktisch gesehen ist somit im deutsch geprägten System der Befund der Rechtswidrigkeit gleichbedeutend mit dem Befund, dass (eindeutig) kein Rechtfertigungsgrund vorliegt. Auch aus Sicht dieses Systems erscheint es mithin akzeptabel, zum Zweck eines Vergleichs weniger über das „Wesen“ der Rechtswidrigkeit an sich zu sinnieren als vielmehr konkret unter den einzelnen nationalen Rechtfertigungsgründen nach Gemeinsamkeiten zu forschen. (a) Vergleichende Betrachtung der behandelten Rechtfertigungsgründe Von diesen diversen nationalen Rechtfertigungsgründen haben die Landesberichte exemplarisch jeweils einige wenige dargestellt. Auf dieser Grundlage kann die Kategorie der Rechtfertigung hier natürlich nicht erschöpfend analysiert werden. Für die erhoffte Entwicklung von Grundlinien gibt das vorliegende Material aber allemal etwas her. So erweist der Vergleich zwar, dass es überall spezifisch nationale Rechtfertigungsgründe gibt. Zu nennen ist insoweit vor allem der polnische Kontratyp des erlaubten Risikos bei bestimmten Experimenten gemäß Art. 27 KK.232 Gleichwohl sind zentrale Rechtfertigungsgründe in allen behandelten Ländern in ähnlicher Gestalt anzutreffen. Besonders gilt das für die Notwehr,233 die ungeachtet ihrer theoretischen Herleitung in der Sache als die erforderliche Verteidigung gegen einen rechtswidrigen Angriff aufgefasst wird.234 Auch der Notstand ist als Institut überall geläufig und unterliegt jeweils ähnlichen sachlichen Voraussetzungen; allerdings differenziert nur das deutsch geprägte System zwischen einer rechtfertigenden und einer entschuldigenden Form des Notstands.235 – Alle Landesberichte zeigen schließlich, dass die strafbefreiende Wirkung einer Rechtfertigung nicht nur von äußeren Umständen abhängt; auch das Vorstellungsbild des Akteurs soll relevant sein.236 So postuliert das deutsch geprägte System ein „subjektives Rechtfertigungselement“, das übergrei231
Vgl. oben Zweiter Teil, A. II. 2. c) für Deutschland, D. III. 3. a) für Polen. Zum singulären Charakter dieser Regelung auch in einem weiteren Vergleich vgl. Jescheck, FS Spendel, 849 (863). 233 Hier im Zweiten Teil untersucht für England: B. III. 2. d) cc) (2); Frankreich: C. III. 1. b) bb) (2); und Polen: D. III. 3. b) aa). 234 Vgl. neben den hiesigen Ergebnissen zudem Tiedemann, FS Lenckner, S. 411 (426); ders., Freiburg-Symposium, S. 3 (12); und ferner EuGH, Rs. 154/78 u. a. – Valsabbia –, Slg. 1980, 907, Ziff. 138; Dannecker, Freiburg-Symposium, S. 147 (155 f.); zuvor schon ders., Madrid-Symposium, S. 331 (337); Wagemann, S. 87 ff. 235 Vgl. oben Zweiter Teil, A. II. 2. c) bb) (2) für Deutschland; B. III. 2. d) cc) (1) für England; C. III. 1. b) bb) (3) für Frankreich; D. III. 3. b) bb) für Polen. s. auch Tiedemann, Freiburg-Symposium, S. 3 (12); Dannecker, Freiburg-Symposium, S. 147 (158 ff.). 236 Zu diesem Ergebnis kommt in seiner rechtsvergleichenden Analyse auch Pradel, Droit pénal comparé, Rn. 198. 232
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fend für alle Rechtfertigungsgründe gilt.237 Bei dem zentralen Beispiel der Notwehr kommt es aber etwa auch in England zu einer Rechtfertigung des Verteidigers nur, wenn dieser subjektiv in Kenntnis der Notwehrlage handelt.238 (b) Gemeinsames Rechtfertigungsprinzip Ein solches Maß an Übereinstimmung in den Einzelheiten nährt die Hoffnung, dass sich die verschiedenen nationalen Rechtfertigungsgründe auch einem gemeinsamen materiellen Grundprinzip zuordnen lassen – oder, um im oben gezeichneten Bild zu bleiben: dass die „Hülse“ Rechtfertigung mit einem konsensfähigen materiellen Gehalt gefüllt werden kann. Das deutsch geprägte System bietet (kumulativ) zwei solche Grundprinzipien an: das Prinzip des überwiegenden Interesses und das Prinzip des mangelnden Interesses.239 Auch die französische Lehre nutzt diese Unterscheidung, wenn sie den Sachgrund der Rechtfertigung darin erblickt, das Verhalten des Gerechtfertigten sei „für die Gesellschaft nützlich oder zumindest unschädlich.“ 240 Bei näherer Betrachtung dürfte das „Prinzip des überwiegenden Interesses“ sogar allein geeignet sein, die hier behandelten Rechtfertigungsgründe sämtlich zu begründen. Sein Grundgedanke ist, auf die hier verwendete Terminologie hin gemünzt, folgender: Wer das „objektive“ und „subjektive“ Element einer Straftat erfüllt, verletzt normalerweise geschützte Interessen. Dies ist ihm aber ausnahmsweise nicht verboten, wenn er dadurch (eigene oder anderer) rechtlich höherrangige Interessen wahrt. In solchen Fällen liegt kein Verstoß gegen eine (legitimierbare) Verhaltensnorm vor. Denn der grundsätzlich geltende Ge- oder Verbotssatz vermag im Lichte eines überwiegenden gegenläufigen Interesses nicht zu bestehen. Dieser Gedanke konfligierender und daher gegeneinander abzuwägender Interessen tritt bei einigen Rechtfertigungsgründen besonders offenkundig zu Tage. Für den rechtfertigenden Notstand etwa formulieren § 34 StGB und § 26 Abs. 1 KK ganz explizit Abwägungsprogramme. Andere Rechtfertigungsnormen lassen sich als Ausdruck einer voran gegangenen impliziten Abwägung verstehen: Bei den verschiedenen nationalen Notwehrregelungen überwiegt das Interesse des Verteidigers, weil (und soweit) dieser einem rechtswidrigen Angriff ausgesetzt 237
Vgl. oben Zweiter Teil, A. II. 2. c) aa). Oben Zweiter Teil, B. III. 2. d) cc) (2). In Frankreich ist die Frage wie gesehen nicht geklärt: Oben Zweiter Teil, C. III. 1. b) bb) (4). Tiedemann, Freiburg-Symposium, S. 3 (12), hält das Erfordernis eines subjektiven Rechtfertigungselements jedoch für „europaweit akzeptabel“. 239 Vgl. oben Zweiter Teil, A. II. 2. c) aa) zu Deutschland; in Polen steht dagegen der Gedanke des (mangels Sozialschädlichkeit) überwiegenden Interesses im Vordergrund, vgl. oben Zweiter Teil, D. III. 3. a). 240 Oben Zweiter Teil, C. III. 1. b) aa). 238
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ist.241 Bei den erörterten Festnahmerechten steht ein überwiegendes (Allgemein-) Interesse im Raum, einen „auf frischer Tat Ertappten“ 242 oder „illegal auf freiem Fuß Befindlichen“ 243 dingfest zu machen. In den Fällen des § 27 Abs. 1 KK überwiegen Forschungs- und Allgemeininteressen, weil (und soweit) das wissenschaftliche Experiment einen erheblichen Nutzen erwarten lässt.244 Und auch die prototypische Konstellation eines „mangelnden Interesses“ – die Einwilligung245 – kann man letztlich unter das Prinzip des überwiegenden Interesses fassen:246 Wenn auf der einen Seite der Waagschale jegliches Interesse mangelt, überwiegt zwangsläufig die andere Seite. Denn dort liegt stets zumindest ein Interesse, das verfassungsrechtlichen Schutz genießt: jenes an der Ausübung allgemeiner Handlungsfreiheit. Überwiegt ein Interesse wie in diesen aufgezeigten Beispielen so stark, dass es rechtfertigende Wirkung zeitigt, so gewinnt es eine neue Qualität: Es verfestigt sich zu einem Recht. Insofern kann man als materiell gemeinsames Charakteristikum der Rechtfertigung auch – mit einer englischen Quelle – formulieren: Gerechtfertigtes Verhalten ist ein Verhalten, das vorzunehmen man ein Recht hat.247 Wie die Beispiele ebenfalls zeigen, ist dieses Recht in aller Regel ein geschriebenes, gesetzlich vertyptes. Bis auf Frankreich248 gehen alle untersuchten Länder aber davon aus, dass Rechtfertigungsgründe im Bedarfsfall auch ad hoc neu geschöpft werden können. Mit der allgemeinen Handlungsfreiheit als Ausgangspunkt und dem Prinzip des überwiegenden Interesses als Argumentationsprogramm ergibt sich diese „Offenheit“ zwanglos, wenn nicht gar zwingend. Ein numerus clausus der Rechtfertigungsgründe ist daher abzulehnen, auch im europäischen Rahmen – ja gerade dort: Die Verankerung rechtfertigender Umstände auf einem allgemeinen Prinzip ermöglicht sachgerechte Lösungen nämlich auch für den durchaus denkbaren Fall, dass auf europäischer Ebene zwar Straftatbestände ergehen, aber keine Regelungen zu Fragen des Allgemeinen Teils.249 241 Vgl. nochmals oben Zweiter Teil, B. III. 2. d) cc) (2); C. III. 1. b) bb) (2); D. III. 3. b) aa). 242 So die französische Regelung, vgl. oben Zweiter Teil, C. III. 1. b) bb) (1). Die hoheitliche Anordnung, als deren Unterfall das Festnahmerecht gesehen wird, ist auch ganz allgemein Ausdruck eines überwiegenden (staatlichen) Interesses. 243 So die englische Regelung, vgl. oben Zweiter Teil, B. III. 2. d) cc) (2). 244 Oben Zweiter Teil, D. III. 3. b) cc). 245 Im Zweiten Teil erörtert für Deutschland: A. II. 2. c) bb) (2) und für Frankreich: C. III. 1. b) bb) (5). 246 Instruktiv MK-Schlehofer, Vor §§ 32 ff. Rn. 55 f.; s. auch Freund, AT, § 3 Rn. 5 ff. 247 Uniacke, S. 9 ff., 26; ihr folgend Ashworth, Criminal Law, S. 136. – Genauer wäre zu sagen: ein Recht im Sinne einer Handlungsbefugnis. Ob auch ein Eingriffsrecht begründet werden kann, steht auf einem anderen Blatt. 248 Vgl. oben Zweiter Teil, C. III. 1. b) aa). 249 Allerdings betont Dannecker, Freiburg-Symposium, S. 147 (153 f.), es sei primär Aufgabe des Gesetzgebers, Handlungsfreiheit durch allgemeine Erlaubnissätze zu si-
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Zwar bringt das Prinzip des überwiegenden Interesses solche Lösungen natürlich nicht von selbst hervor. Es muss vielmehr im konkreten Fall stets argumentativ entfaltet werden. Das Prinzip ist aber insofern leistungsfähig, als es diese notwendige Argumentation von vornherein auf den sachlich entscheidenden Ausgangspunkt bringt – noch dazu auf unkomplizierte und aus allen nationalen Perspektiven nachvollziehbare Weise. (2) Strafwürdige Schuld aufhebende Umstände Der Begriff der „Schuld“ (fault, culpabilité, wina) ist allen vier behandelten Strafrechten geläufig. Was darunter zu verstehen ist und welche Funktion dieser Begriff hat, darüber gehen die Auffassungen allerdings erheblich auseinander – wobei wiederum Deutschland und Polen auf der einen, England und Frankreich auf der anderen Seite weit gehende Gemeinsamkeiten erkennen lassen. In den beiden ersteren Ländern ist das „Schuldprinzip“ verfassungsrechtlich verankert; es gilt als das tragende Fundament des Strafrechts und ist in seiner Bedeutung seit Jahrzehnten umstrittener Gegenstand theoretischer Diskussionen.250 – Auch das gemeinwesteuropäische System kennt ein Schuldprinzip. Dieses ist aber eines unter mehreren Prinzipien, es kann wie üblich Ausnahmen erleiden; und gerade im utilitaristisch geprägten England misst man dem Aspekt der Gefahrenabwehr traditionell einen höheren Stellenwert bei.251 Zudem werden Fragen der „Schuld“ in England und Frankreich kaum abstrakt thematisiert, sondern lediglich dort, wo sie praktisch relevant werden: in Gestalt von Vorsatz und Fahrlässigkeit, die Träger des Schuldvorwurfs sind, sowie in Gestalt bestimmter Strafausschlussgründe.252 Vor diesem Hintergrund verspricht es wenig Erfolg, den Schuldbegriff als solchen zum Gegenstand eines Vergleichs zu machen. Der oben angelegten Grundstruktur folgend, seien hier stattdessen „schuldaufhebende Umstände“ in den Blick genommen. Dabei sei vorsichtshalber nochmals in Erinnerung gerufen, wie dieser Terminus im hiesigen Zusammenhang benutzt wird: Er etikettiert zunächst einmal nur ein Gefäß. In diesem Gefäß werden alle Umstände gesammelt, die in den vier untersuchten Ländern die Strafbarkeit eines Verhaltens noch negieren können, obwohl „objektives“ und „subjektives“ Element der Straftat verwirklicht chern; er plädiert u. a. deshalb für eine Kodifizierung der Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe auf europäischer Ebene. Klip, European Criminal Law, S. 167, sieht die Aufgabe dagegen auf europäischer Ebene bei der Judikative. 250 s. oben Zweiter Teil, A. II. 1. c), 2. d) bb) für Deutschland; D. III. 5. a) für Polen, wo das Schuldprinzip durch seine Verankerung in Art. 1 § 3 KK jetzt noch förmlich aufgewertet erscheint. 251 Man vergegenwärtige sich etwa noch einmal den Fall Ellis, Street and Smith; oben Zweiter Teil, B. III. 2. b) dd) (1) (Fn. 310), oder die Caldwell recklessness; oben Zweiter Teil, B. III. 2. b) bb) (3). 252 Vgl. oben Zweiter Teil, B. III. 2. d) bb) und cc); sowie C. III. 3. b).
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sind und obwohl kein rechtfertigender Umstand im eben dargelegten Sinne vorliegt. Damit erfasst der Begriff aus dem deutsch geprägten Straftatsystem alle Elemente der Verbrechenskategorie „Schuld“; aus dem englischen Verbrechensmodell die Verteidigungseinreden, die als excuse eingeordnet werden; und aus dem französischen Straftatbegriff alle bislang noch nicht abgehandelten Aspekte des élément moral.253 Erst im Anschluss an den Vergleich der so versammelten Konstellationen kann sich zeigen, ob ihnen ein gemeinsames materielles Prinzip zugrunde liegt. (a) Freier Wille und Steuerungsfähigkeit Die Suche nach Gemeinsamkeiten unter den genannten Konstellationen ergibt als ersten wichtigen Befund: Alle vier untersuchten Straftatmodelle setzen zumindest implizit voraus, dass der Mensch grundsätzlich einen freien Willen hat, seine Entscheidungen mithin frei zu treffen vermag.254 Jüngste Erkenntnisse aus der Hirnforschung haben diesen Grundsatz bislang in keinem Land erschüttern können. Mag sich die Existenz eines freien menschlichen Willens auch nicht mit empirischen Mitteln beweisen lassen, so ist sie doch als normative Setzung die unverzichtbare Prämisse einer jeden modernen (Straf-)Rechtsordnung. Denn Strafe als Sanktion für das Fehlverhalten einer Person ergibt selbstverständlich nur dann einen Sinn, wenn diese Person zu einem anderen, rechtmäßigen Verhalten überhaupt fähig war. Ein Konzept, das hiervon abrücken wollte, hätte mit dem Strafrecht heutigen Verständnisses nichts mehr gemein. Denn, wie Krauß es treffend formuliert hat: Die Alternative zu einem auf die Willensfreiheit gegründeten Recht wäre „ein Recht ohne Subjektqualität des Normadressaten. Ein solches Recht wäre un-menschlich, es wäre nicht zu verstehen, ließe sich nicht einmal formulieren.“ 255 Auch einer europäischen Strafrechtsdogmatik ist demnach die normative Prämisse zugrunde zu legen, dass jeder Mensch grundsätzlich einen freien Willen bilden kann. Das soeben Gesagte leitet zu der Frage über, wie die vier untersuchten Rechte mit Fällen umgehen, in denen die Fähigkeit zu einer verantwortlichen freien Willensbildung noch nicht voll ausgereift oder aber mit einem Defekt behaftet ist. Angesprochen ist damit die fehlende Zurechnungs- bzw. Einsichts- und Steuerungsfähigkeit. Aus diesem Problemkreis haben die Landesberichte zum einen die „Schuldfähigkeit“ minderjähriger und geisteskranker Personen angerissen, zum anderen die besondere Problematik der im Rausch begangenen Tat.
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Zu alledem vgl. oben Zweiter Teil, A. II. 2. d); B. III. 2. d) cc); C. III. 3.; D. III.
5. c). 254 s. oben Zweiter Teil, A. II. 2. d) aa) zu Deutschland; B. III. 2. d) cc) (4) zu England; C. III. 3. a) zu Frankreich; D. III. 5. b) zu Polen. 255 Krauß, FS Jung, S. 411 (430).
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Was zunächst die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit Minderjähriger anbelangt, so definieren alle untersuchten Länder bestimmte Schwellen, von denen ab auf Tatbestands- und/oder auf Rechtsfolgenseite grundsätzlich dieselben Regeln gelten wie bei Erwachsenen.256 Diese Schwellen liegen im Einzelnen erstaunlich weit auseinander: So können in Deutschland und Polen Jugendliche erst ab 14 bzw. 15 Jahren (jugend-)strafrechtlich belangt werden; in England droht ihnen dies schon ab zehn Jahren und in Frankreich theoretisch sogar noch früher, wobei dort allerdings bis zum Alter von 13 Jahren lediglich Erziehungsmaßnahmen als Sanktionen in Betracht kommen. In diesem Punkt erforderlichenfalls 257 eine gemeinsame Position zu finden, dürfte gleichwohl keine allzu großen Probleme bereiten. Der Rechtssicherheit ist natürlich mit fixen Altersuntergrenzen am besten gedient. Da gerade Heranwachsende sich jedoch sehr unterschiedlich schnell entwickeln können, erscheint für diese Altersgruppe eine individuelle Prüfung der strafrechtlichen Mündigkeit sachgerecht. Zum strafrechtlichen Umgang mit geisteskranken Personen besteht zwischen den vier betrachteten Ländern im Grundsatz Einigkeit: Wer das „objektive“ und „subjektive“ Element einer Straftat (vermeintlich) verwirklicht, dies aber wegen einer Geisteskrankheit tatsächlich ohne hinreichende Einsichts- und Steuerungsfähigkeit tut, ist nicht strafbar. Welche Krankheiten genau zu einem solchen Mangel führen, ist eine medizinische Frage, die jeweils im Prozess sachverständig geklärt werden muss. Einer strafgesetzlichen Aufzählung einschlägiger Krankheitsbilder bedarf es nicht. Denn sie könnte mit dem Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis ohnehin nicht Schritt halten und liefe daher Gefahr, sachgerechte Falllösungen sogar zu erschweren.258 In den angesprochenen Konstellationen setzt sich das Gebot „Keine Strafe ohne Schuld“ gegen das unwillkürliche Ansinnen durch, auf eine – ja unleugbar vorhandene – Güterschädigung mit den Mitteln des Strafrechts zu reagieren. In eben diesem Spannungsfeld zwischen Schuldprinzip und Sanktionsverlangen sind auch die Fälle der Rauschtat angesiedelt: Jemand „erfüllt“ 259 das „objektive“ und „subjektive“ Element der Straftat, ist aber im Moment der Begehung infolge eines (in der Regel: Alkohol-)Rauschs nicht mehr fähig, sein Verhalten angemessen zu beurteilen und zu steuern. In dieser Frage tendieren die betrachteten nationalen Regelungen dazu, die Strafbarkeit des Handelnden für das im 256 Vgl. – auch zum Folgenden – oben Zweiter Teil, A. II. 2. d) dd) (1) für Deutschland; B. III. 2. d) cc) (3) für England; C. III. 3. a) aa) für Frankreich; D. III. 5. c) aa) für Polen. Die Verantwortlichkeit kann aber auch, wie in Frankreich generell und wie etwa in Deutschland im Falle Heranwachsender, von der individuellen Reife und Einsichtsfähigkeit in jedem Einzelfall abhängig gemacht werden. 257 Der für etwaige europäische Straftatbestände zu erwartende Täterkreis dürfte sich ja typischerweise nicht aus der Gruppe der Kinder und Jugendlichen rekrutieren. 258 So auch mit Blick auf die englische Rechtslage Mansdörfer, S. 128. 259 Sofern man davon ausgeht, ein Schuldunfähiger könne Unrechtsvorsatz haben.
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3. Teil: Der Straftatbegriff im Rechtsvergleich
Rausch begangene Delikt dennoch zu bejahen. Der Grundgedanke, der dieses Ergebnis tragen soll, ist in allen vier Ländern ganz ähnlich: Statt an den Zeitpunkt der unmittelbaren Verletzungshandlung knüpft man an den vorgelagterten Moment an, in welchem der spätere „Täter“ sich in seinen Rausch versetzt. In Deutschland wird dieses Ergebnis teils noch über die Lehre von der actio libera in causa erreicht; diese Konstruktion endet aber – jedenfalls bei Straßenverkehrsdelikten – unter Umständen an der Grenze des tatbestandlichen Wortlauts.260 In England und auch in Frankreich ist die Problematik nicht explizit geregelt. Traditionell wird dort jedoch dem bewusst herbei geführten Rausch nicht nur keine schuldausschließende Wirkung beigemessen, sondern sogar strafschärfende.261 Entlastend wirkt der Rausch allenfalls dann, wenn damit kein großer Verlust an social defence einher geht.262 In Polen schließlich fingiert das Gesetz ganz offen die Schuld desjenigen, der in noch nüchternem Zustand den Entschluss zu einer Straftat fasst, sich dann (vorsätzlich oder fahrlässig) in einen Rausch versetzt und die Tat schließlich in steuerungsunfähigem Zustand verübt.263 Bemerkenswerterweise neigt also auch das deutsch geprägte System – obwohl an sich dem Schuldprinzip verpflichtet – in den Rauschfällen zur „Verteidigung“ der Rechtsordnung durch Strafe. Dass dies ein Systembruch ist, wird in Polen von Teilen der Lehre offen eingestanden: Die Bestrafung der im Rausch verübten Tat sei nicht Ausdruck einer schuldstrafrechtlichen, sondern einer „objektiven sozialen Haftung“ und könne nur durch „traurige soziale Notwendigkeit“ gerechtfertigt werden.264 In dieser Weise lässt sich Strafe jedoch weder auf nationaler noch auf europäischer Ebene legitimieren.265 Ungeachtet der hier aufgezeigten weit reichenden Übereinstimmungen muss vielmehr Folgendes gelten: Auch und gerade im Bemühen um eine „gerechte Bestrafung“ von Rauschtaten sind die zwingenden Anforderungen an einen tatbestandsspezifischen Verhaltensnormverstoß zu beachten. Eine Strafe darf daher auch in diesen Konstellationen stets nur an ein Verhalten anknüpfen, das im Zustand hinreichender Einsichtsund Steuerungsfähigkeit geschieht. Als solches Verhalten kommt regelmäßig vor allem die (noch) gesteuerte Herbeiführung des Rauschs in Betracht. Existiert für dieses Verhalten ein Straftatbestand und wird dessen Wortlautgrenze gewahrt,
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s. oben Zweiter Teil, A. II. 2. d) dd) (1) am Ende. Vgl. oben Zweiter Teil, B. III. 2. d) cc) (5) für England, C. III. 3. a) bb) für Frank-
reich. 262
Vgl. Ashworth, Criminal Law, S. 211 f. Oben Zweiter Teil, D. III. 5. c) aa). 264 So – noch zum alten Recht, das sich in der Sache aber nicht von dem heutigen unterschied – Wolter, Nauka, S. 216. 265 Zum Zweck und zu den Grenzen des Strafrechts – auch auf europäischer Ebene – vgl. oben in diesem Teil, B. I.; zur Unverzichtbarkeit eines „subjektiven Elements“ oben in diesem Teil, III. 2. c) cc). 263
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dann ist eine Bestrafung legitimierbar266 – jenseits dieser Voraussetzungen allerdings nicht. (b) Unrechtsbewusstsein/Irrtumskonstellationen Gegen die Annahme von Schuld kann nach allen behandelten Rechten auch der Umstand sprechen, dass jemand nach dem äußeren Erscheinungsbild zu urteilen zwar die Elemente einer Straftat erfüllt, dabei aber innerlich einem Irrtum unterliegt. Durchgehend wird dabei zwischen dem Tatsachen- und dem Rechtsirrtum unterschieden. Der Vergleich der jeweiligen nationalen Lösungen erweist dazu dreierlei. Erstens: Wer einen Umstand nicht erfasst, der zum „objektiven“ Element der Tat zählt, handelt nicht vorsätzlich und ist insoweit straflos. Diese Sichtweise ist überall einhellig anerkannt.267 Interessant ist – zum zweiten –, ob dieselbe Lösung auch zu Gunsten desjenigen gilt, der irrtümlich eine rechtfertigende Sachlage annimmt.268 Gesetzlich geregelt ist dieser Fall nur in Polen. Dort sieht Art. 29 KK vor, dass einzig bei einem entschuldbaren Irrtum keine Straftat vorliegt; ansonsten kommt lediglich eine Minderung des Strafmaßes in Betracht. Damit hat Polen sich für eine strengere Haltung entschieden als die drei anderen Länder: In Deutschland verneint die herrschende Auffassung den Vorsatz bzw. die „Vorsatzschuld“ des Irrenden. Zu demselben Ergebnis gelangen inzwischen – freilich mit ungleich geringerem theoretischen Aufwand – sowohl die englische als auch die wohl herrschende französische Lösung. Demzufolge geht systemübergreifend eine deutliche Tendenz zur Verneinung der Vorsatztat. Das ist auch sachgerecht. Denn derjenige, der irrtümlich vom tatsächlichen Bestehen einer Rechtfertigungslage ausgeht, stellt die Rechtsordnung nicht in Frage – er ist „an sich rechtstreu“.269 In der Wertung besteht insofern kein Unterschied gegenüber demjenigen, der einen Umstand des „objektiven“ Straftatelements irrtümlich nicht erfasst. Für diesen letzteren Fall verneint aber auch das polnische Strafrecht eine Vorsatztat ungeachtet einer etwaigen Unentschuldbarkeit des Irrtums. Für eine europäische Strafrechtsdogmatik folgt aus alledem: Die irrtümliche Annahme einer rechtfertigenden
266 Allerdings muss auch der vorgesehene Strafrahmen verhältnismäßig sein, darf also insbesondere nicht einfach dem Strafrahmen einer später im Rausch und ohne „Schuld“ begangenen schwereren Tat entsprechen. 267 s. bereits oben in diesem Teil, B. III. 2. c) (aa) (1); ebenso auch Pradel, Droit pénal comparé, Rn. 212. 268 Vgl. – auch zum Folgenden – oben Zweiter Teil, A. II. 2. d) dd) (4) (b) zu Deutschland; B. III. 2. d) cc) (6) zu England; C. III. 3. b) dd) zu Frankreich; D. III. 5. c) dd) zu Polen. 269 BGHSt 3, 105 (107).
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Sachlage schließt das subjektive Element der Vorsatztat aus; möglich bleibt die Strafbarkeit wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts. Was drittens schließlich den Fall angeht, dass jemand trotz korrekter Erfassung der Tatsachen sein Verhalten irrtümlich für rechtmäßig hält,270 so differenziert das deutsch geprägte System – aber auch das französische – danach, ob dieser Rechtsirrtum „unvermeidbar“ war. War er vermeidbar, bleibt der Irrende grundsätzlich strafbar.271 War er dagegen unvermeidbar, ist der Irrende entschuldigt und also straflos. Nur das englische Recht steht materiellrechtlich noch auf dem Standpunkt, dass ignorantia juris neminem excusat, und lässt davon scheinbar keine Ausnahme zu. Diese strenge Position wird aber prozessual gebrochen, wenn der Irrende per absolute discharge ohne weitere nachteilige Rechtsfolge schuldig gesprochen wird. Damit liegt im sachlichen Ergebnis ebenfalls eine systemübergreifende Tendenz vor, auf die ein europäisches Strafrecht aufbauen kann: Zumindest „unvermeidbare“ Rechtsirrtümer schließen die Strafbarkeit aus.272 Ob bei auf Fahrlässigkeit beruhenden Rechtsirrtümern wegen vorsätzlicher Tatbegehung zu bestrafen ist, kann als ungeklärtes Grundsatzproblem hier nicht näher behandelt werden.273 (c) Entschuldigender Notstand/Zwang Als schuldaufhebend kommt nach allen vier behandelten Rechten ferner der Umstand in Betracht, dass jemand das „objektive“ und „subjektive“ Element einer Straftat unter dem Eindruck einer (persönlichen) Not- oder Zwangssituation erfüllt. Diesem gemeinsamen Sachproblem widmen sich die dargestellten Regelungen zum entschuldigenden Notstand in Deutschland und Polen, zur duress in England und zur (psychischen Variante der) contrainte in Frankreich.274 Ähnlich wie bei der Situation des rechtfertigenden Notstands stehen sich auch hier widerstreitende Interessen gegenüber. Allerdings lässt sich bei den jetzt betrachteten Fällen weniger klar – oder auch gar nicht mehr – feststellen, dass das verteidigte Interesse gegenüber dem verletzten überwöge. Die Verletzung ist daher – bis auf in Polen – überhaupt nur noch unter eingeschränkten Voraussetzungen gestattet: So erfordert der deutsche entschuldigende Notstand eine nicht anders abwend270 Vgl. Zweiter Teil, A. II. 2. d) dd) (4) (a) zu Deutschland; B. III. 2. d) cc) (6) zu England; C. III. 3. b) dd) zu Frankreich; D. III. 5. c) cc) zu Polen. 271 Vgl. auch Pradel, Droit pénal comparé, Rn. 214 f. 272 Dabei wäre zu klären, ob der wenig scharfe Begriff der „Vermeidbarkeit“ auf bestimmte Fallgruppen konkreter entfaltet werden kann: so für den Fall einer von berufener Stelle erhaltenen Rechtsauskunft oder Genehmigung. 273 Näher zur schwierigen Problematik der unterschiedlichen Behandlung von Tatund Rechtsfahrlässigkeit Freund, AT, § 4 Rn. 75 ff., § 7 Rn. 89 ff.; Herzberg, FS Otto, S. 265 (265 ff.); ders., JuS 2008, 385 (385 ff.). 274 Vgl. oben Zweiter Teil, A. II. 2. d) dd) (5) (a) zu Deutschland; B. III. 2. d) cc) (1) zu England; C. III. 3. a) cc) zu Frankreich; D. III. 5. c) bb) zu Polen.
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bare Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit des Betreffenden selbst, eines Angehörigen oder einer sonst nahe stehenden Person. Die englische duress setzt eine unabwendbare Bedrohung mit Tod oder schwerer Körperverletzung voraus, die französische contrainte eine die Entscheidungsfreiheit fast schon physisch ausschließende Zwangslage. Demnach lässt sich als allgemeine Erkenntnis festhalten: Wer das „objektive“ und „subjektive“ Element der Straftat erfüllt, ohne dass ein rechtfertigender Umstand, Steuerungsunfähigkeit oder eine Irrtumskonstellation vorliegt, kann dennoch straflos sein. Voraussetzung dafür ist, dass sein Verhalten einer außergewöhnlichen persönlichen Konflikt-, insbesondere Zwangslage entspringt. Die genaue Beschaffenheit einer solchen Lage variiert in den einzelnen Ländern; tendenziell ist die Schwelle zur Straflosigkeit recht hoch.275 Jedenfalls bei (unverschuldeter) Lebens- oder Leibesgefahr ist sie indes überschritten. In derartigen Situationen fehlt es entweder bereits an einer für den Betroffenen rechtlich verbindlichen Verhaltensnorm; oder aber der Verstoß gegen eine bestehende Verhaltensnorm ist so geringfügig, dass seine strafrechtliche Ahndung unverhältnismäßig wäre. (d) Vorsatz und Fahrlässigkeit, spezielle Schuldmerkmale Vorsatz und Fahrlässigkeit sind bereits als Erscheinungsformen des „subjektiven“ Elements der Straftat betrachtet worden.276 Wenn sie hier noch einmal aufgegriffen werden, dann aufgrund der „Doppelfunktion“, die sie im deutsch geprägten System tradierter Auffassung zufolge inne haben: Danach sind Vorsatz und Fahrlässigkeit nicht nur Arten der Tatbestandserfüllung, sondern auch Erscheinungsformen der Schuld; und auf der Straftatebene der Letzteren erscheinen sie denn auch noch einmal. Von dieser hergebrachten Sichtweise hat Polen sich indessen wie gesehen277 verabschiedet. Vorsatz und Fahrlässigkeit werden dort heute systematisch (nur) dem Tatbestand zugeordnet. Und auch in Deutschland ist inzwischen die Ansicht vorgedrungen, dass zumindest die Frage nach der Fahrlässigkeit ausschließlich eine Frage des Tatbestands ist – und dass zu ihrer Beantwortung sogleich die individuellen Verhältnisse des Beschuldigten zugrunde gelegt werden müssen.278 Soweit danach nur die „Vorsatzschuld“ auf der deutschen Straftatebene der Schuld verbleibt, fristet diese dort nicht nur ein einsames, sondern auch ein recht stiefkindliches Dasein. Ihre praktische Relevanz – und wohl auch ihr einziger Daseinszweck – beschränkt sich nämlich darauf, die strafbare Teilnahme an der „vorsätzlich begangenen rechtswidrigen Tat“ eines im 275 276 277 278
Ebenso Pradel, Droit pénal comparé, Rn. 211. Oben in diesem Teil, B. III. 2. c) aa) (1) und (2). Vgl. oben Zweiter Teil, D. III. 2. b) cc). Vgl. oben Zweiter Teil, A. II. 2. b) cc) am Ende.
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Erlaubnistatbestandsirrtum Befindlichen zu begründen – und dabei Widersprüche zum herrschenden Deliktsaufbau möglichst zu vermeiden. Ein sonderlich überzeugender Grund, diese deutsche Besonderheit auch in eine europäische Dogmatik zu überführen, ist das nicht.279 In der Gesamtschau spricht damit bereits das deutsch geprägte System nicht dafür, fehlenden Vorsatz und fehlende Fahrlässigkeit (auch bzw. erst) als „schuldaufhebende Umstände“ im hiesigen Sinne anzusehen. – Gestützt wird dieser Befund noch, wenn man ferner die englische und die französische Konzeption mit einbezieht. Alles, was danach Vorsatz und Fahrlässigkeit ausmacht, hat sich hier bereits in der Kategorie des „subjektiven“ Elements der Straftat „unterbringen“ lassen. Im Ergebnis ist eine nochmalige Verankerung der beiden Begehungsformen auf der Ebene der schuldaufhebenden Umstände mithin unnötig und deshalb abzulehnen. Auch die „speziellen Schuldmerkmale“ sind eine Eigenheit des deutschen Verbrechensbegriffs; die anderen untersuchten Länder kennen eine vergleichbare eigene Unterkategorie nicht. Ein Bedürfnis, solch eine Unterkategorie auf europäischer Ebene zu etablieren, ist auch nicht erkennbar. In dem hier bislang erarbeiteten Schema können „Gesinnungsmerkmale“, die ein Strafgesetz verlangt, ohne Weiteres schon im „subjektiven“ Element der Straftat beherbergt werden. (e) Gemeinsames Grundprinzip schuldaufhebender Umstände Sind die hier behandelten schuldaufhebenden Umstände nunmehr geordnet und verglichen, kann im nächsten Schritt die Frage angegangen werden: Beruhen diese Umstände auf einem gemeinsamen materiellen Prinzip? Diese Frage positiv zu beantworten erscheint schwieriger als im Fall der rechtfertigenden Umstände. Schon im rein nationalen Kontext hat sich die Kategorie der Schuld, des élément moral, der („schuldaufhebenden“) defences jeweils als die heterogenste erwiesen. So liegt es auf der Hand, dass die Zusammenführung von vieren dieser Kategorien ein noch facettenreicheres Gesamtbild ergibt. Andererseits hat der obige Vergleich die Flur durchaus schon etwas bereinigt. Zum einen: Vorsatz und Fahrlässigkeit müssen, wenn sie im Rahmen des „subjektiven“ Elements der Straftat bereits bejaht worden sind, nicht als Schuldformen noch ein zweites Mal thematisiert werden. Zum anderen sind auch, wie zu-
279 Natürlich muss ein Verbrechensmodell auch Beteiligungsprobleme aufnehmen und sachgerecht lösen können. Dieser Aspekt ist in der hiesigen Untersuchung ausgeklammert. Bemerkt sei aber: Dass Beteiligungsprobleme – speziell im Fall eines Erlaubnistatbestandsirrtums – auch ohne die deutsche Konstruktion einer Vorsatzschuld gelöst werden können, wird nicht nur durch die drei anderen untersuchten Länder belegt, sondern wird auch in Deutschland in verschiedenen Spielarten vertreten; vgl. etwa MK-Joecks, § 16 Rn. 92. – Ein einheitliches Beteiligungsmodell für Europa (im Sinne eines Einheitstäterkonzepts) unterbreitet auf rechtsvergleichender Grundlage Schöberl, S. 229 ff.
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letzt dargelegt, die speziellen Schuldmerkmale nach deutschem Verständnis im „subjektiven“ Element der Straftat gut aufgehoben. All diese Bestandteile der Tat belasten also die Systemstufe der schuldaufhebenden Umstände nicht. Dort verbleiben demnach lediglich drei Kategorien von Aufhebungsgründen: die fehlende Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, das fehlende Unrechtsbewusstsein (infolge Irrtums) und die Notstands-/Zwangssituation.280 Das gesuchte gemeinsame materielle Prinzip muss also erklären können, weshalb der im strafrechtlichen Sinne Minderjährige, der Geisteskranke und der zum Tatzeitpunkt rauschbedingt Steuerungsunfähige ebenso straflos ist wie derjenige, der fälschlich eine rechtfertigende Sachlage annimmt oder aber einem unvermeidbaren Rechtsirrtum unterliegt, und wie derjenige, der sich einer überwältigenden Notoder Zwangslage gegenüber sieht. Für das deutsch geprägte System liegt auf der Hand: Es ist das Schuldprinzip, das all diese Situationen zu erfassen vermag – alle Betroffenen handeln ohne (hinreichend gewichtige) Schuld; ihr Verhalten ist ihnen nicht (in hinreichendem Maße) vorwerfbar.281 Allein diese Begründung befriedigt allerdings noch nicht ganz, solange nicht auch feststeht, warum dem so ist. Zur Beantwortung dieser Frage sei in Erinnerung gerufen, welchem Zweck das Strafrecht (als Teil des öffentlichen Rechts) dient: Es artikuliert den Widerspruch gegen einen Verhaltensnormverstoß, mit dem Ziel, einen Normgeltungsschaden abzuwenden. Dabei muss die betreffende Verhaltensnorm rechtlich legitimierbar sein, insbesondere mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Einklang stehen.282 Wendet man sich von dieser Warte aus den einzelnen strafrechtlich relevante Schuld aufhebenden Umständen zu, so ergeben sich weiter führende Erkenntnisse. Dem rausch- oder geisteskrankheitsbedingt Einsichts- oder Steuerungsunfähigen etwa kann man aus folgendem Grund keinen Vorwurf machen: Eine Verhaltensnorm lässt sich legitimerweise nur gegenüber demjenigen postulieren, der überhaupt in der Lage ist, diese Norm zu erfassen und sie auch aus eigener Entscheidung zu befolgen – Unmögliches darf das Recht nicht verlangen. An dieser Fähigkeit fehlt es aber dem Einsichts- oder Steuerungsunfähigen, sei sein Defekt dauerhafter Natur oder auf den Moment seiner Güterschädigung beschränkt.283 Wenn er eine Güterschädigung verursacht, stellt er demnach nicht 280 Ähnlich auch Pradel, Droit pénal comparé, Rn. 203 ff., der lediglich die fehlende Strafmündigkeit als eigenen Strafausschlussgrund vorab behandelt. 281 Zum Verständnis von Schuld als Vorwerfbarkeit s. oben Zweiter Teil, A. II. 2. d) cc) (2) und D. III. 5. b). 282 s. nochmals oben in diesem Teil, B. I. 283 Beispielhaft: Die Verhaltensnorm „Wenn Du in steuerungsunfähigem Zustand bist, sollst Du keine fremden Sachen beschädigen!“ kann der tatsächlich steuerungsunfähige Adressat nicht befolgen; sie ist ihm gegenüber nicht legitimierbar. Legitimierbar ist dagegen die an den (noch) Steuerungsfähigen gerichtete Verhaltensnorm: „Achte darauf, Dich nicht in einen Zustand völliger Steuerungsunfähigkeit zu versetzen!“
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die Geltung einer Verhaltensnorm in Frage. Entsprechend wäre ein Strafeinsatz in solch einem Fall schon kein geeignetes Mittel zum Erhalt der (ja eben nicht in Frage gestellten!) Normgeltungskraft.284 – Dasselbe gilt auch bei vollkommener Schuldunfähigkeit zu junger Personen. Zu beachten ist allerdings, dass diese ihr Verhalten von einem bestimmten Zeitpunkt an jedenfalls teilweise bereits steuern können. Beispielsweise kann bei einem 13-jährigen Kind durchaus ein Verstoß gegen eine dem Kind gegenüber rechtlich legitimierte Verhaltensnorm vorliegen. Die entsprechende Infragestellung der Normgeltung ist aber infolge der generalisierenden Festlegung der Strafmündigkeitsgrenze als für eine strafrechtliche Reaktion nicht hinreichend gewichtig anzusehen. Die gesetzliche Festlegung der Schuldunfähigkeit ist in derartigen Fällen nicht im Sinne des zu verneinenden personalen (schuldhaften) Verhaltensunrechts überhaupt zu verstehen. Vielmehr dient sie nur der Ablehnung hinreichender strafrechtlich relevanter Schuld. Damit fehlt es zwar nicht am schuldhaften Verstoß gegen eine rechtlich legitimierte Verhaltensnorm. Dieser Verhaltensnormverstoß ist aber nicht strafbewehrt. In den Fällen derjenigen, die irrtümlich eine rechtfertigende Sachlage annehmen oder einem Rechtsirrtum unterliegen, sind folgende Differenzierungen angebracht: Diese Personen sehen sich nur dann legitimierbaren Verhaltensnormen gegenüber, wenn die entsprechenden Irrtümer vermeidbar sind – genauer noch: wenn diese auf Tat- oder Rechtsfahrlässigkeit beruhen. Ansonsten ist ihnen schon kein Verhaltensnormverstoß anzulasten: Wer bei einer Güterschädigung die Umstände einer ihn rechtfertigenden Situation annimmt, stellt die Geltungskraft der Verhaltensnormenordnung jedenfalls nicht vorsätzlich in Frage. Und wenn sein Irrtum nicht einmal auf Fahrlässigkeit beruht, fehlt es an einem Verhaltensnormverstoß überhaupt. Dasselbe gilt für denjenigen, der sein Verhalten infolge eines „unvermeidbaren“ Rechtsirrtums für rechtmäßig hält. In beiden Fällen gehen die Irrenden nicht nur subjektiv von der Rechtmäßigkeit ihres Verhaltens aus, sondern verstoßen bei angemessener rechtlicher Bewertung ihres Verhaltens bereits nicht gegen das Recht. Auch ihnen gegenüber wäre ein Strafeinsatz demnach kein geeignetes Mittel zur Aufrechterhaltung der Geltungskraft einer Verhaltensnorm. Wenn die Irrtümer dagegen auf Fahrlässigkeit beruhen, stellt sich die Frage nach dem hinreichenden Gewicht dieses Fehlverhaltens bzw. die (bislang meist noch unterschiedlich beantwortete) Frage der Vorsätzlichkeit des Verhaltensnormverstoßes. Ebenfalls zu differenzieren ist in den Fällen der persönlichen Notstandslage oder des Zwangs, in denen dem Handelnden kein strafrechtlicher Vorwurf gemacht werden kann. Ob dem Betreffenden gegenüber auch in der konkreten Notoder Zwangssituation eine bestimmte Verhaltensnorm Geltung beanspruchen kann, muss im Einzelfall erst einmal (am Maßstab des Verhältnismäßigkeitgrundsatzes) begründet werden können. Andernfalls fehlt es wiederum am Ver284
s. auch MK-Freund, Vor § 13 Rn. 215; ders., AT, § 4 Rn. 4 f.
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haltensnormverstoß als der Grundvoraussetzung des Strafeinsatzes. Kann eine solche rechtliche Verhaltensnorm in der konkreten Situation legitimiert werden, mag sich – angesichts der erheblichen Konfliktlage – das verwirklichte personale Verhaltensunrecht freilich immer noch als so gering darstellen, dass eine Bestrafung als eine unangemessene Reaktion erscheint. In diese Kategorie von Geringfügigkeitsfällen lassen sich auch weitere Konstellationen einordnen: so der deutsche Notwehrexzess und sonstige Fälle einer „Beinahe-Rechtfertigung“. Das materielle Kriterium für die „Entschuldigung“ ist hier überall darin zu sehen, dass trotz ungerechtfertigter Verwirklichung des „objektiven“ und „subjektiven“ Straftatelements der vorhandene Unwertgehalt für eine Straftat zu gering ist:285 Die (ebenfalls durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vorgegebene) „Untergrenze des Strafrechts“ 286 wird nicht erreicht. Mit dieser Analyse zeigt sich, dass die hier so genannten schuldaufhebenden Umstände nur auf Kosten einer doch erheblichen Ungenauigkeit auf nur ein gemeinsames Prinzip gegründet werden können. Diese Ungenauigkeit bestünde darin, dass man sich mit der unscharfen Redeweise von der „persönlichen Vorwerfbarkeit“ begnügte.287 Für das angemessene Verständnis wichtig ist jedenfalls folgende Unterscheidung: In manchen Fällen fehlt es völlig an einem Verhaltensnormverstoß. In den anderen ist er zwar vorhanden, aber nicht hinreichend gewichtig für einen Strafeinsatz. Für den Strafausschluss sind also zwei Gründe maßgeblich: fehlende Schuld – und damit fehlendes Fehlverhalten – oder nicht hinreichend gewichtiges Fehlverhalten. (3) Materielle Unterscheidung zwischen rechtfertigenden und entschuldigenden Umständen? Mit den vorangegangenen Ausführungen sind die Begriffshülsen der „rechtfertigenden“ und „entschuldigenden“ Umstände mit Inhalten versehen worden. Damit existiert nunmehr eine feste Basis, von der aus sich auch klären lässt, ob die hier zunächst zu Ordnungszwecken gewählte Trennung der beiden Subkategorien auch sachlich begründet – oder gar geboten – ist. Dazu lässt sich zunächst festhalten: Rechtfertigungsgründe und Gründe für fehlende Schuld unterscheiden sich nach dem hier Erarbeiteten nicht etwa darin, dass die Ersteren „objektiver“ Natur wären und die Letzteren „subjektiver“ Natur. Zwar scheint es verlockend, die Strafausschlussgründe gewissermaßen phänomenologisch zu klassifizieren in solche, die auf einer äußerlich sichtbaren, „objektiven“ Sachlage beruhen (etwa: Notwehr-, Festnahme- oder Experimentssituation), und solche, die aus innerper285
Vgl. Freund, AT, § 4 Rn. 6; Dannecker, Freiburg-Symposium, S. 147 (166 ff.). Dazu weiterführend Frisch, FS Stree/Wessels, 69 (98 ff.). 287 Unscharf deshalb, weil ja auch dem unvorsätzlich oder gerechtfertigt Handelnden die verursachte Güterschädigung nicht „persönlich vorgeworfen“ werden kann. 286
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sönlichen Verhältnissen erwachsen (etwa: Alter, Steuerungsunfähigkeit, Irrtum). Diese Unterscheidung findet sich denn auch bei vielen Autoren, gerade im gemeinwesteuropäischen System;288 und sie wird sogar als Essenz eines Strafrechtsvergleichs vorgeschlagen.289 Treffend ist sie gleichwohl nicht. Denn wie oben gezeigt, ist auch typischen Rechtfertigungskonstellationen durchaus ein „subjektives“ Element eigen – und umgekehrt.290 Dennoch kann man die verglichenen Strafaufhebungsgründe materiell voneinander trennen. Nach den eben gewonnenen Erkenntnissen verläuft die Grenze aber eher zwischen den rechtfertigenden Umständen sowie der ersten hier etablierten „Schuldaufhebungslinie“ einerseits und der letzten solchen Linie andererseits. Denn in der – ungleich größeren – ersten Gruppe von Konstellationen fehlt es jeweils an einem Verstoß gegen eine rechtlich legitimierbare Verhaltensnorm, während in den Fällen der zweiten Gruppe ein solcher Verstoß vorhanden ist und lediglich nicht das für eine Strafe erforderliche hinreichende Gewicht erreicht.291 Stützen lässt sich die im Vergleich ermittelte Trennung jedoch womöglich durch den oben eingeführten Gedanken, dass rechtfertigende Umstände demjenigen, der sich auf sie berufen kann, in der Tat ein Recht verleihen – entschuldigende Umstände vermögen dies hingegen nicht. Plakativ gesprochen: Ein Notwehrrecht, dem eine Duldungspflicht korrespondiert, ist denkbar, ein entsprechendes Recht zum Notwehrexzess nicht. Folgt nun aus dieser Unterscheidung, dass Unrecht und Schuld als Kategorien der Straftat dogmatisch und strukturell streng voneinander geschieden werden müssten? Das wird man kaum bejahen können. Die hier bislang erarbeitete Struktur jedenfalls dürfte sich auch ohne solch eine scharfe Trennung als „europatauglich“ erweisen. Für das Ziel dieser Untersuchung ist diese Trennung demnach entbehrlich.292 Dasselbe gilt im Übrigen auch für die (weitere) Klärung der 288 In Frankreich etwa Stefani/Levasseur/Bouloc, Ziff. 375; Desportes/Le Gunehec, Ziff. 629. 289 Von Pradel, Droit pénal comparé, Rn. 198. 290 Das räumt Pradel auch selbst ein, Droit pénal comparé, Rn. 198; ebenso auch Desportes/Le Gunehec, Ziff. 693. Konkretes Beispiel: Ab welchem Alter jemand strafmündig ist, hängt zwar der Idee nach von dessen Persönlichkeit, von innerlichen Entwicklungen ab. Tatsächlich und praktisch aber gibt die „objektiv“, nämlich im Gesetzestext gezogene Altersgrenze den Ausschlag: Keines der hier behandelten Rechte würde etwa einen Neunjährigen, der „subjektiv“ infolge einer außergewöhnlichen Frühreife geistig und sittlich einem Erwachsenen gliche, als schuldfähig behandeln. 291 Zu den Konsequenzen dieses Befunds für den Aufbau der Straftat s. noch unten C. II. 4. und 6. 292 Aus Sicht der deutschen herrschenden Lehre mag man einwenden, diese Entbehrlichkeit rühre nur daher, dass die Beteiligungslehre und das Maßregelrecht hier ausgeklammert bleiben. Dem ist aber zu entgegnen, dass man sich beider Materien – natürlich – auch anders annehmen kann als über eine Unterscheidung von Unrecht und Schuld. s. auch Vogel, GA 1998, 127 (143 f., 148); Tiedemann, FS Lenckner, S. 411 (423 f.); ders., Freiburg-Symposium, S. 3 (12); MK-Freund, Vor § 13 Rn. 246; und
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Begriffe „Rechtswidrigkeit“ und „Schuld“. Natürlich könnte man der Frage nachgehen, was diese Begriffe bedeuten, was ihr „Wesen“ ausmacht. Das hier erarbeitete Modell wäre insoweit durchaus für alle möglichen Antworten offen und anschlussfähig. Die aus dem deutsch geprägten System bekannte Diskussion um den „richtigen“ Schuldbegriff lässt jedoch befürchten, dass der Aufwand einer solchen Begriffsklärung deren Nutzen deutlich übersteigen würde. Die erwähnten Fragen sollen im Rahmen dieses Vergleichs daher nicht gestellt werden.293 (4) Fehlende Sozialschädlichkeit Wenn hier nach rechtfertigenden und schuldaufhebenden Umständen schließlich noch der Aufhebungsgrund der fehlenden Sozialschädlichkeit in den Blick genommen wird, so mag man dagegen womöglich Folgendes einwenden wollen: Da die Sozialschädlichkeit als Kategorie der Straftat einzig in Polen geläufig ist, könne sie von vornherein nicht Ausdruck einer gemeinsamen Tendenz und somit nicht gesamteuropäisch relevant sein. Eine solche Sichtweise wäre jedoch voreilig. Schließlich vermag erst eine genauere vergleichende Analyse überhaupt zu erweisen, ob und inwieweit ein Strafausschluss wegen fehlender Sozialschädlichkeit in der Sache nicht doch mehreren behandelten Ländern gemeinsam ist, mag auch nur Polen das Kriterium mit einer gesonderten Systemstelle bedenken. In der Vergangenheit hat es in der Tat Bestrebungen gegeben, die Strafbarkeitsvoraussetzung der gesellschaftlichen (damals noch:) Gefährlichkeit als eine Errungenschaft nicht des sozialistischen, sondern des deutschen Strafrechts zu reklamieren.294 Die entsprechende These lautete: Mit der deutschen EmmingerVerordnung sei bereits im Jahr 1924 – sprich noch vor der russischen Revolutionsgesetzgebung zur gesellschaftlichen Gefährlichkeit295 – die Möglichkeit eingeführt worden, das Strafverfahren wegen Geringfügigkeit einzustellen. Diesen Gedanken habe der sowjetische Gesetzgeber mit der materiellen Konzeption des Verbrechens lediglich rezipiert; diese Konzeption sei also gar nicht die sozialistische Errungenschaft,296 als die sie immer hochgehalten werde. Von polnischer Seite ist diese These indessen einigermaßen kühl als „Missverständnis“ bezeichnet worden.297 – Der Streit, der in der Rückschau anmutet wie ein (kleineres) ders., AT, § 3 Rn. 33 ff. – Für die Trennung zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld auch auf der Ebene eines europäischen Strafrechts hingegen Dannecker, Freiburg-Symposium, S. 147 (152 f.). 293 Sie wären als typische „Was?“-Fragen auch schlicht falsch gestellt. Vgl. dazu Grasnick, FAZ vom 4.1.2008, S. 36. 294 F.-C. Schroeder, ZStW 91 (1979), 1065 (1087); sich dem anschließend Golla, S. 105, und Schultze-Willebrand, S. 334. 295 Art. 6 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs der Russischen Sowjetrepublik von 1926, vgl. oben Zweiter Teil, D. II. 2. b) aa). 296 Vgl. Cieslak, ZStW 90 (1978), 504 (505 f.). 297 Andrejew, ZStW 99 (1987), 152 (160).
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3. Teil: Der Straftatbegriff im Rechtsvergleich
Scharmützel in einem „Kalten Krieg der Rechtswissenschaften“, ist heute wohl obsolet. Denn auch wenn der sozialistische materielle Verbrechensbegriff und das prozessuale Opportunitätsprinzip (das übrigens im französischen Recht schon ein gutes Jahrhundert vor der Emminger-Reform kodifiziert war298) in der Praxis auf ganz ähnliche Ergebnisse hinaus laufen mögen; der Akzent ist doch jeweils ein anderer: Die verfahrensrechtliche Einstellungsmöglichkeit setzt stets eine materiell komplette Straftat voraus; auch bei einer Einstellung verbleibt damit in der Sache ein strafrechtlicher und damit per se gravierender Tadel gegenüber dem Täter (!). Wird die (mehr als nur geringfügige) gesellschaftliche Gefährlichkeit bzw. Schädlichkeit der Tat dagegen als ein materielles Strafbarkeitserfordernis verstanden, so kommt bei ihrem Fehlen von vornherein kein endgültiger sachlicher Vorwurf gegenüber dem Beschuldigten zustande. Praktische Unterschiede können sich des Weiteren daraus ergeben, welche staatliche Instanz über das Vorliegen der Gefährlichkeit einerseits bzw. über die zur Einstellung berechtigende Geringfügigkeit andererseits zu entscheiden hat.299 Vergegenwärtigt man sich schließlich die zentrale (auch: politische) Rolle, die dem Kriterium der Gesellschaftsgefährlichkeit in allen sowjetisch geprägten Straftatbegriffen zukam, so lässt sich zweifelsohne von einer „sozialistischen Schöpfung“ sprechen.300 So wenig wie den älteren Begriff der gesellschaftlichen Gefährlichkeit, so wenig kann man – aus den genannten Gründen – auch den heutigen Begriff der Sozialschädlichkeit schlicht als materiellrechtliche Entsprechung des verfahrensrechtlichen Opportunitätsprinzips begreifen. Fragt sich also, ob der Begriff in anderer Hinsicht bestimmte Strafbarkeitsbedingungen zum Ausdruck bringt, die vergleichbar auch den anderen hier behandelten Ländern geläufig sind. Dazu gilt es, sich nochmals seine Funktionen im polnischen Recht in Erinnerung zu rufen. Erstens: Dem Gesetzgeber gebietet das Erfordernis der Sozialschädlichkeit, dass er nur solche Verhaltensweisen als Straftaten normiert, die abstrakt gesehen (mehr als nur geringfügig) gesellschaftsschädlich sind.301 Dieses Gebot gilt in der Tat nicht nur in Polen, sondern auch in den anderen Staaten und auch auf der europäischen Ebene selbst – es ist allerdings ein Gebot grundrechtlicher Natur.302 Damit ist es den hier interessierenden Elementen der Straftat zunächst einmal vorgelagert: Jede Strafe stellt einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in Freiheitsrechte dar. Bei Verhaltensweisen, die gar nicht „sozialschädlich“ sind, also 298 Und zwar im Code d’instruction criminelle von 1808, s. Andrejew, ZStW 99 (1987), 152 (159). 299 Den Unterschied zwischen dem materiellen Verständnis der Straftat und dem prozessualen Opportunitätsprinzip betont auch Andrejew, ZStW 99 (1987), 152 (159 f. mit Fn. 20), nach dessen Darstellung es indes ebenfalls die Staatsanwaltschaft war, die im Ermittlungsverfahren über die Einstellung wegen mangelnder gesellschaftlicher Gefährlichkeit entschied. Aus jüngster Zeit s. Zoll, ZStW 117 (2005), 749 (759). 300 Vgl. oben Zweiter Teil, D. II. 2. b), sowie Andrejew, ZStW 99 (1987), 152 (159). 301 Oben Zweiter Teil, D. III. 4. c). 302 Vgl. Zoll, ZStW 107 (1995), 417 (423).
B. Versuch einer Synthese
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weder individuelle noch kollektive Rechtsgüter verletzen,303 kann diese erforderliche Rechtfertigung in keinem Fall gelingen. Der Gesetzgeber darf daher zwangsläufig nur Verhaltensweisen inkriminieren, die tatsächlich sozialschädlich sind. Das entsprechende gesetzgeberische Urteil findet seinen Niederschlag dann in der konkreten Formulierung eines Straftatbestands. Daraus folgte dann aber: Mit der Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens wäre zugleich auch seine (allgemeine) Sozialschädlichkeit bejaht – damit erwiese sich deren nochmalige Prüfung als zusätzliches Element der Straftat als überflüssig.304 Für die hiesige Untersuchung relevant sein kann demnach allenfalls die zweite Funktion des polnischen Kriteriums der Sozialschädlichkeit: Das ist die Überprüfung, ob ein konkretes Verhalten ungeachtet seiner an sich gegebenen Tatbestandsmäßigkeit dennoch keine Straftat darstellt, weil es ausnahmsweise nicht (hinreichend) sozialschädlich ist.305 Es geht also um eine „Korrektur“ bei der Anwendung eines prinzipiell legitimen, im konkreten Einzelfall jedoch übermäßig weiten Tatbestands.306 Diese Funktion betrifft die Bedingungen der Strafbarkeit im engeren Sinn – und der ihr zugrunde liegende Gedanke findet sich in der Tat auch in den anderen Rechten wieder. So erfordert etwa im deutschen Recht eine körperliche Misshandlung im Sinne des § 223 Abs. 1 StGB definitionsgemäß eine „üble oder unangemessene Behandlung, durch die das körperliche Wohlbefinden mehr als nur unerheblich beeinträchtigt wird.“ 307 Das englische Recht kennt wie gesehen ebenfalls ein generelles de minimis principle, wonach geringfügiges Fehlverhalten aus dem Bereich der Strafbarkeit ausgeschieden wird.308 Strukturell unterscheiden sich diese Vergleichsfälle von der polnischen Regelung dadurch, dass der Ausschluss von Bagatellfällen bereits auf der Ebene des Tatbestands bzw. des actus reus stattfindet. Das muss freilich nicht immer so sein: So erfüllt etwa die Unterschlagung eines Cents formal sehr wohl den Tatbestand des deutschen § 246 Abs. 1 StGB. Jedoch fehlt es dem betreffenden Fehlverhalten an dem hinreichenden Gewicht, das für eine strafrechtliche Verurteilung erforderlich ist.309 Ausformuliert findet sich dieser Gedanke in Deutschland zum Beispiel im Strafausschlussgrund des § 326 Abs. 6 StGB, der den unerlaubten Umgang mit gefährlichen Abfällen für (doch) straflos erklärt, wenn schädliche Einwirkungen auf die Umwelt „wegen der geringen Menge der Abfälle of-
303 So das heutige („unpolitische“) polnische Verständnis des Begriffs sozialschädlich: vgl. oben Zweiter Teil, D. III. 4. b). 304 Man bemerke, dass in Polen mit eben dieser Argumentation das ältere Element der gesellschaftlichen Gefährlichkeit abgeschafft wurde; oben Zweiter Teil, D. III. 4. b)! 305 Vgl. oben Zweiter Teil, D. III. 4. c). 306 Vgl. Zoll, ZStW 107 (1995), 417 (425 f.). 307 So die geläufige, unumstrittene Definition, s. z. B. Joecks, § 223 Rn. 4. 308 Vgl. oben Zweiter Teil, B. III. 2. a) bb) (3). 309 MK-Freund, Vor § 13 Rn. 189 ff., 221 ff.; ders., AT, § 4 Rn. 8.
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3. Teil: Der Straftatbegriff im Rechtsvergleich
fensichtlich ausgeschlossen sind.“ Zu geringe Quantität schlägt mithin qualitativ in Straflosigkeit um. Der letztere Befund erweist: In seiner zweiten genannten Funktion ist das Erfordernis der Sozialschädlichkeit eine „sehr sinnvolle Bestimmung zur Einschränkung des Strafrechts“ 310, und zwar nicht nur beschränkt auf den nationalen polnischen Kontext. Der Grundgedanke, dass Strafeinsatz immer einen Verhaltensnormverstoß von hinreichendem Gewicht erfordert, ist allerdings im Rahmen der entschuldigenden Umstände bereits entwickelt worden. Von diesem oben erarbeiteten Prinzip dürfte sich das hiesige allenfalls in Nuancen unterscheiden. Dann aber spricht das Interesse an einem möglichst „schlanken“ Verbrechensmodell dafür, beide in nur einer Systemstelle zusammen zu führen. Zu verorten ist diese Systemstelle logischerweise erst hinter jenen entschuldigenden Umständen, bei denen es nach der obigen Analyse an einem Verhaltensnormverstoß schon dem Grunde nach fehlt. Was schließlich die Bezeichnung dieser eigenen Kategorie anlangt, erscheint die Redeweise vom „hinreichenden Gewicht des Fehlverhaltens“ treffender als die von der „Sozialschädlichkeit“, die hier und da doch noch ungute Assoziationen wecken mag.311 bb) Nachweis Um den Vergleich komplett zu machen, ist zum Abschluss noch die prozessuale Seite der analysierten Aufhebungen der Strafbarkeit in den Blick zu nehmen. Anders als im Kontext des „objektiven“ und des „subjektiven“ Elements ergibt dieser Blick nochmals einen wichtigen Unterschied zwischen der deutsch geprägten und der gemeinwesteuropäischen Sicht: Deutschland und Polen fassen Rechtswidrigkeit, Sozialschädlichkeit und Schuld ebenso als positive Verbrechensvoraussetzungen auf wie die Tatbestandsmäßigkeit. Dementsprechend muss die Anklage auch diese Verbrechenselemente darlegen und beweisen, muss der Richter von ihrem Vorliegen im Sinne einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit überzeugt sein.312 Im gemeinwesteuropäischen Modell dagegen wirkt sich die charakteristische Trennung zwischen positiven und negativen Voraussetzungen der Strafbarkeit313 entscheidend auf die prozessuale Praxis aus. So 310
So Jescheck, FS Spendel, 849 (853). E. Weigend, ZStW 110 (1998), 114 (120), etwa hält das Institut „durch seine häufig ideologische Interpretation und politisch gesteuerte Anwendung [für] diskreditiert.“ In diesem Zusammenhang sei jedoch noch einmal rekapituliert, dass dem Straftatelement der Sozialschädlichkeit in Polen heute keinerlei politische Bedeutung mehr beigemessen wird; s. Indecki/Liszewska, S. 82. Auch und erst recht in einer Union von 27 Rechtsstaaten ist es auszuschließen, dass ein Element des Verbrechensbegriffs politisch instrumentalisiert wird, wie dies im sozialistischen System mit dem Element der Sozialschädlichkeit geschah. 312 Oben Zweiter Teil, A. II. 3. sowie D. III. 6. 313 Vgl. oben in diesem Teil, B. II. 311
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hat der englische Landesbericht aufgezeigt, dass hinsichtlich der defences grundsätzlich eine Darlegungslast des Beschuldigten besteht, ausnahmsweise sogar eine Beweislast.314 Sogar noch einen Schritt weiter geht die französische Regelung, wenn sie dem Beschuldigten die Beweislast für das élément moral ausschließende Umstände aufbürdet.315 Man kann deshalb sagen: Im gemeinwesteuropäischen System gilt gerade auch in prozessualer Hinsicht eine fundamentale „Indizwirkung“ des Tatbestands.316 Auf den ersten Blick scheinen sich die unterschiedlichen Herangehensweisen der zwei Systeme nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen zu lassen. Erforderlich wäre demnach eine Entscheidung für eines der rivalisierenden Konzepte. Dabei ließe sich ein „europäisches“ Argument für die deutsch geprägte Lösung womöglich aus Art. 6 Abs. 1 EUV i.V. m. Art. 48 Abs. 1 der Grundrechtscharta ziehen: „Jeder Angeklagte gilt bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig.“ Es ließe sich durchaus argumentieren, dass jede auch nur teilweise Umkehr der Beweislast zu Lasten des Beschuldigten ausdrücklicher Festlegung bedurft hätte (und auch künftig bedürfte). Gerade weil die Charta nicht für alle Mitgliedstaaten rechtsverbindlich ist (ausgerechnet auch nicht gegenüber dem Vereinigten Königreich und Polen) steht eine auf sie bezogene Argumentation nun allerdings auf tönernen Füßen. Vorzuziehen wäre es daher allemal, wenn sich doch ein Mittelweg zwischen den beiden rivalisierenden Beweiskonzepten finden ließe. Solch ein Mittelweg könnte so aussehen, dass man dem Beschuldigten zwar keine Beweislast, aber doch immerhin eine Mitwirkungsobliegenheit hinsichtlich solcher Umstände auferlegt, die ihn ausschließlich entlasten. Der Beschuldigte müsste also rechtfertigende und entschuldigende Umstände darlegen, sich aber nicht selbst belasten. Mit solch einer Regelung – die der alltäglichen Prozesspraxis zumindest nicht fremd ist – wären die berechtigten Interessen des Beschuldigten gewahrt.317 Ihm überdies auch noch die Beweislast aufzubürden, ginge freilich zu weit:318 Der Bürger genießt gegenüber dem Staat – und auch gegenüber einem Hoheitsträger Europa – zunächst einmal umfassende (Handlungs-)Freiheit. Soll diese Freiheit beschränkt werden, so ist es an dem Hoheitsträger, die Voraussetzungen dafür zu ermitteln und sie im Streitfall auch zu belegen. Auch im Bereich der strafbarkeitsausschließenden Umstände hat es demnach im Ergebnis bei der Beweislast der Anklage zu bleiben; diese ist lediglich einzuschränken durch eine Mitwir-
314
Oben Zweiter Teil, B. III. 2. d) dd). Oben Zweiter Teil, C. III. 3. d). 316 Vogel, GA 1998, 127 (146). 317 Im Sinne einer solchen Mitwirkungsobliegenheit Freund, Tatsachenfeststellung, S. 128, Fn. 172. 318 Für eine solche prozessrechtliche Absicherung eines ausnahmslos geltenden Schuldprinzips auch Vogel, Freiburg-Symposium, S. 125 (138). 315
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3. Teil: Der Straftatbegriff im Rechtsvergleich
kungsobliegenheit des Beschuldigten hinsichtlich ihn ausschließlich entlastender Umstände.
IV. Zusammenfassung Mit diesen Bemerkungen ist der angestrebte Vergleich nunmehr komplett. Er hat ergeben, dass sich mit den Bausteinen aus Deutschland, England, Frankreich und Polen in der Tat ein gemeinsamer Straftatbegriff neu zusammensetzen lässt. Dieser Straftatbegriff schwebt, wenn man ihn einem künftigen europäischen Kriminalstrafrecht zudenkt, nicht im luftleeren Raum. Vielmehr wäre er dann auf das Fundament des europäischen „Verfassungsrechts“ zu gründen, wäre insbesondere vom Ausgangspunkt des europarechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips her zu denken. Demnach müsste er in angemessener Weise dem zulässigen Zweck jeglichen Strafeinsatzes dienen: dem Rechtsgüterschutz. Das durch europäische Sanktionsnormen geschützte Rechtsgut wäre dabei jeweils die Geltungskraft einer (ihrerseits rechtlich legitimierbaren) Verhaltensnorm. Der erarbeitete Straftatbegriff konstituiert sich als Synthese zweier verschiedener Systeme, dessen eines Deutschland mit Polen verbindet (deutsch geprägtes System), während das andere England und Frankreich vereint (gemeinwesteuropäisches System). Beide stimmen zwar in einer ganzen Reihe von Detailfragen sachlich überein; sie unterscheiden sich aber in stilistischer, struktureller und in wichtigen Punkten auch in materieller Hinsicht doch grundlegend voneinander. Ihre Verschmelzung zu einem gemeinsamen Verbrechensbegriff ist daher nur im Wege eines Ausgleichs möglich gewesen. Ein Aspekt dieses Ausgleichs liegt darin, dass sich das deutsch-polnische Schuldprinzip im entscheidenden materiellen Punkt zwar durchsetzt: Keine Straftat ohne subjektives Fehlverhalten – es gibt keine „strikte“ strafrechtliche Haftung. Dieses Ergebnis wird jedoch erreicht, ohne dass die „Schuld“ wie in Deutschland und Polen als gesonderte Systemkategorie der Straftat etabliert würde. Ebenso Ausdruck eines Ausgleichs ist es, dass Rechtfertigung und Entschuldigung im Modell zwar voneinander trennbar sind, jedoch wiederum nicht (zwingend) in systembildendem Sinne. Und auch die Zusammenführung gewisser entschuldigender Umstände mit der polnischen Sozialschädlichkeit in einer neuen eigenständigen Straftatkategorie ist als Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Systemen zu begreifen. Begleitet wird der gemeinsame Straftatbegriff vom Erfordernis eines formellgesetzlichen Straftatbestands. Dieser muss hinreichend bestimmt formuliert sein; er darf weder analog zu Lasten des Beschuldigten noch rückwirkend angewendet werden. Die eigentlichen Elemente des gemeinsamen Straftatbegriffs kann man in geraffter Zusammenfassung so beschreiben: 1. Das vollendete Erfolgsdelikt setzt sich nach herkömmlichem Verständnis zusammen aus „objektiven“ und „subjektiven“ Elementen.
B. Versuch einer Synthese
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a) Zum „objektiven“ Element rechnet die menschliche Handlung oder Unterlassung – es setzt sie also nicht als vorgelagerten Ansatzpunkt der strafrechtlichen Betrachtung voraus. Von Handlung oder Unterlassung lässt sich nur dann sprechen, wenn ihr Urheber zumindest die Möglichkeit gehabt hätte, den Geschehensablauf willentlich zu steuern. Fehlt es bereits daran, scheidet eine Straftat kategorisch aus. Einen elaborierteren „Handlungsbegriff“ kennt und benötigt der gemeinsame Straftatbegriff nicht. – Eine Unterlassung kann ohne Weiteres Grundlage einer Bestrafung sein, wenn den Untätigen eine besondere Rechtspflicht trifft, aktiv zu werden. Eine solche Sonderverantwortlichkeit folgt etwa aus einem persönlichem Näheverhältnis, aus freiwilliger Übernahme oder aus voran gegangenem Fehlverhalten. – Wenn über eine Handlung (oder Unterlassung) hinaus ein bestimmter tatbestandlicher Erfolg erforderlich ist, muss zwischen Ersterer und Letzterem jedenfalls ein ursächlicher (oder quasiursächlicher) Zusammenhang im Sinne der conditio-sine-qua-non-Formel bestehen. Darüber hinaus muss der Erfolg dem Beschuldigten auch zurechenbar sein. Zu bejahen ist das, wenn der Beschuldigte eine tatbestandsspezifische (rechtlich missbilligte) Gefahr geschaffen und genau diese Gefahr sich in dem eingetretenen Erfolg realisiert hat. Das „objektive“ Element eines Fahrlässigkeitsdelikts liegt in der Verletzung einer Sorgfaltspflicht. Eine solche Verletzung liegt vor, wenn ein fiktiver besonnener Durchschnittsbürger an Stelle des Täters dessen schadensträchtiges Verhalten vermieden hätte. Dabei wird die Maßstabsperson so konstruiert, dass sie etwaiges Sonderwissen des Beschuldigten besitzt, nicht aber dessen etwaige kognitive oder psychische Defekte aufweist. Auch der Versuch ist unter der Überschrift des „objektiven“ Elements behandelt worden. Dabei hat sich allerdings gezeigt, dass zur Bestimmung des Versuchsbeginns nicht nur rein „objektive“ Momente herangezogen werden, sondern vor allem auch die Vorstellung des Täters. Der Versuch beginnt denn auch „objektiv“ mit dem Verhalten, das nach dieser Vorstellung unmittelbar auf die Vollendung der Tat gerichtet ist. Diese Schwelle ist bei bloßen Vorbereitungshandlungen noch nicht erreicht. Sie ist jedenfalls überschritten, wenn der Täter mit der tatbestandlichen Ausführungshandlung bereits begonnen hat. Gibt der Täter den begonnenen, noch nicht fehlgeschlagenen Versuch freiwillig auf, verhilft ihm der Rücktritt zur Straflosigkeit oder jedenfalls zur Strafmilderung bzw. zum Absehen von Strafe. b) Das „subjektive“ Element des Fehlverhaltens bezeichnet die kognitive Einstellung, die der Täter bei der Verwirklichung des „objektiven“ Elements in Bezug auf dieses aufweist. Die zwei Grundformen dieser Einstellung sind Vorsatz und Fahrlässigkeit. Die Schwelle des Vorsatzes ist erreicht, wenn der Täter bei seinem Verhalten erfasst, dass dieses zumin-
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3. Teil: Der Straftatbegriff im Rechtsvergleich
dest möglicherweise die Merkmale des „objektiven“ Elements erfüllt – ein entsprechender Wille ist zusätzlich nicht erforderlich. Ist auch nur ein Merkmal des „objektiven“ Elements von dieser Erkenntnis nicht umfasst, so ist eine Vorsatztat ausgeschlossen. In Frage kommt aber eine Fahrlässigkeitstat. Fahrlässigkeit liegt vor, wenn die (bereits bejahte „objektive“) Sorgfaltspflichtverletzung auch dann noch anzunehmen ist, wenn man die konkreten Gegebenheiten zugrunde legt, wie sie sich dem Betreffenden individuell mit seinen Fähigkeiten und Defekten dargestellt haben. – Über diese beiden Grundformen hinaus können in besonderen Tatbeständen auch besondere Kognitionsgrade sowie weitere spezielle subjektive Merkmale verlangt sein. 2. Das (vorläufige) Missbilligungsurteil besteht nicht fort, wenn rechtfertigende oder schuldaufhebende Umstände eingreifen. a) Rechtfertigend wirken sich Verhaltensweisen aus, mit denen der tatbestandsmäßig Handelnde ein Interesse wahrt, das gegenüber dem Interesse des Beeinträchtigten überwiegt. So verhält es sich typischerweise bei der Notwehr, zu verstehen als die erforderliche Verteidigung gegen einen rechtswidrigen Angriff. Aus dem materiellen Prinzip des überwiegenden Interesses lassen sich fallbezogen auch neue Rechtfertigungsgründe entwickeln. Allgemein gilt, dass der Verteidiger die jeweilige Rechtfertigungslage auch subjektiv erfasst haben muss. b) An der für eine Bestrafung nötigen Schuld des vermeintlichen Täters fehlt es, wenn man ihm die Erfüllung des „objektiven“ und „subjektiven“ Elements nicht persönlich „vorwerfen“ kann. Das ist etwa der Fall, wenn er – wie etwa ein dreijähriges Kind – für eine rechtliche Verantwortlichkeit zu jung ist oder wenn er im Moment der Tat sonst vollkommen einsichtsund steuerungsunfähig war. Entsprechend verhält es sich, wenn der vermeintliche Täter unvermeidbar irrig rechtfertigende Umstände angenommen oder er sein Verhalten wegen eines nicht vermeidbaren Rechtsirrtums für rechtmäßig gehalten hat. Materiell erklärt sich die Straflosigkeit dadurch, dass in all diesen Fällen (doch) kein Verhaltensnormverstoß vorliegt. 3. Ein nach diesen Kriterien etabliertes Fehlverhalten muss schließlich noch hinreichend gewichtig sein. Daran kann es insbesondere bei demjenigen fehlen, der in einer persönlichen Not- oder Zwangslage gehandelt hat. Aber auch Fälle von Bagatellunrecht lassen sich wie gesehen über diese Systemkategorie von der Strafbarkeit ausnehmen. 4. Ausgangspunkt für den Tatnachweis ist zunächst eine umfassende Unschuldsvermutung zugunsten des Beschuldigten. Die Anklage trägt grundsätzlich die Darlegungs- und Beweislast; nur hinsichtlich ausschließlich entlastender Strafaufhebungsgründe obliegt dem Beschuldigten ausnahmsweise eine Dar-
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legungslast. Erbracht ist ein Beweis, wenn der Richter nach der gegebenen Sachlage bei verständiger Würdigung (subjektiv) davon ausgehen („überzeugt“ sein) darf, dass der zu beweisende Sachverhalt zutrifft. Feste Regeln gibt es dafür (leider) noch nicht. Vielmehr gilt der Grundsatz der „freien Beweiswürdigung“ mit einer verbreiteten Überakzentuierung der subjektiven Überzeugung.
C. Kritische Würdigung des gefundenen Straftatbegriffs I. Grundsätzliche Realisierbarkeit eines gemeineuropäischen Straftatbegriffs Wie angekündigt, soll das hier erarbeitete Ergebnis zum Abschluss noch einer kritischen Würdigung unterzogen werden. Als positiver Befund ist dabei zuallererst festzuhalten, dass sich die Ausgangsthese dieser Untersuchung bestätigt hat:319 Die behandelten Straftatbegriffe weisen so viele Gemeinsamkeiten auf, dass sie sich zu einem gemeineuropäischen Modell verschmelzen lassen. Entlang der hier entwickelten Grundlinien dürfte dieses Modell durchaus konsensfähig sein. Alle vier untersuchten Strafrechtsordnungen sind in ihm repräsentiert. Das deutsch geprägte System bringt dabei als wichtigstes materielles Element sein Schuldprinzip ein: Eine „strikte“, das heißt schuldunabhängige Bestrafung ist ausgeschlossen. Dafür setzt sich in struktureller Hinsicht der Pragmatismus des gemeinwesteuropäischen Systems durch. Damit genügt der vorgestellte gemeinsame Straftatbegriff ohne Weiteres auch den Anforderungen der Praxis.
II. Kritikpunkte Dass der erarbeitete Lösungsvorschlag allerdings nicht den Anspruch erheben kann, der „einzig richtige“ zu sein, ist bereits im Vorhinein klargestellt worden.320 Einige Kritikpunkte sollen denn abschließend auch hier schon angebracht werden. Sie betreffen allesamt Aspekte des Straftatbegriffs, in denen die verglichenen Länder übereinstimmend zu einer bestimmten Position gelangt sind und zu denen daher eine kritische Auseinandersetzung bisher noch nicht angezeigt war.321
319
Vgl. oben Erster Teil, C. II. 2. s. wiederum oben Erster Teil, C. II. 2. 321 Und zwar gemäß der gewählten Vergleichsmethode, dazu nochmals oben Erster Teil, C. II. 2. 320
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3. Teil: Der Straftatbegriff im Rechtsvergleich
1. Die verfehlte Aufspaltung des Tatbestands in ein „objektives“ und ein „subjektives“ Element Der erste dieser Kritikpunkte betrifft die Aufspaltung des tatbestandlichen Verhaltens in einen „objektiven“ und einen „subjektiven“ Teil. Diese Aufspaltung herrscht in allen vier untersuchten Straftatmodellen vor,322 ist auch überall kaum bestritten. Die Dichotomie „objektiv – subjektiv“ scheint sich ja auch in ihrer Vertrautheit und (vermeintlichen) Klarheit zunächst geradezu aufzudrängen für eine strukturelle Ordnung der Straftat.323 Dennoch sollte sie nicht auf die europäische Ebene übernommen werden, und zwar aus folgenden, oben324 auch schon angedeuteten Erwägungen: Zwar ist es richtig, dass beide Aspekte, Objektives und Subjektives, in einer Straftat enthalten sind. Die übliche Aufspaltung ist aber – wie teilweise auch offen eingeräumt wird – gar nicht durchführbar. Sie führt zu einer willkürlichen Trennung zusammen gehöriger Sinneinheiten, die dann als Bewertungsgegenstand nicht mehr brauchbar sind. Sinn ergibt die geläufige Trennung zwischen „objektiven“ und „subjektiven“ Voraussetzungen einer Straftat allenfalls dann, wenn man die beiden Begriffe – wie einst im klassischen deutschen Verbrechensbegriff – versteht als äußere, beobachtbare Merkmale einerseits und innere, persönliche andererseits.325 Dass sich mittels dieser Unterscheidung tatbestandliches Unrecht nicht angemessen erfassen lässt, ist aber zumindest in Deutschland eine uralte Erkenntnis.326 Die gegenwärtige Aufspaltung in einen „objektiven“ und „subjektiven“ Tatbestand offenbart denn auch etliche Brüche und Inkonsequenzen. Beispielhaft aus dem deutschen System: Die „objektive“ Rechtswidrigkeit der beabsichtigten Zueignung beim Diebstahl wird befremdlicherweise unter dem Rubrum des subjektiven Tatbestands geprüft.327 Und umgekehrt lässt sich nur unter Rückgriff auf subjektive Daten ausmachen, was eine Täuschung im Sinne des „objektiven“ Betrugstatbestand sei.328 Schwierigkeiten wie diese er322 Und noch darüber hinaus, vgl. Ambos, ZIS 2006, 464 (467 ff.), ferner – kritisch – Stuckenberg, S. 207 f. 323 Nicht von ungefähr findet sie sich denn auch an anderen Stellen des Verbrechensbegriffs wieder: Im gemeinwesteuropäischen System sucht man mit ihr etwa Rechtfertigung (= objektive Strafausschlussgründe) und Entschuldigung (= subjektive Strafausschlussgründe) zu unterscheiden, vgl. oben B. III. 2. c) aa) (3). 324 In diesem Teil, B. II. sowie III. 2. b) aa) (1) und (3). 325 Freund, AT, § 7 Rn. 22 ff.; MK-ders., Vor §§ 13 ff. Rn. 170, 177. 326 So sprach der deutsche Kriminalist Stübel, §§ 4, 18, bereits 1805 von einem „personalen Tatbestand“, der durch objektive Merkmale allein nicht sachgerecht konzipiert sei. So die interessante Entdeckung Ambos’, ZIS 2006, 464 (465); s. instruktiv kritisch zu der tradierten Dichotomie Puppe, FS Otto, S. 389 (393 ff.). – Zur Überwindung des klassischen Verbrechensbegriffs vgl. auch nochmals oben Zweiter Teil, A. I. 2. 327 Joecks, § 242 Rn. 8. 328 LK11-Tiedemann, § 263 Rn. 23; Lackner/Kühl, § 263 Rn. 6; dagegen etwa Fischer, § 263 Rn. 14.
C. Kritische Würdigung des gefundenen Straftatbegriffs
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klären sich dadurch, dass jede Handlung oder Unterlassung im strafrechtlich interessierenden Sinne immer auch etwas Subjektives erfordert. Sie lassen sich deshalb nicht einheitlich einem objektiven Element zuweisen. Besonders deutlich wird das etwa auch beim Fahrlässigkeitsdelikt – bezeichnend ist es hier, dass der Begriff der Fahrlässigkeit in England rein objektiv, in Frankreich rein subjektiv verstanden wird329 –, ferner beim Versuchsdelikt330 sowie bei der Lehre von der „objektiven“ Zurechnung.331 Zugestanden sei, dass die übliche Unterscheidung in der großen Mehrzahl der Fälle keine schädlichen Auswirkungen zeitigen mag. Dem ist aber nur deshalb so, weil man die Unterscheidung tatsächlich gar nicht ernst nimmt: Es gibt durchaus Beispiele, wo sich die scheinbare „Ordnung“ des tatbestandsrelevanten Stoffs in „objektive“ und „subjektive“ Momente kontraproduktiv auswirkt. Auch insofern lässt sich auf Deutschland verweisen: Dort hatte der BGH vor einiger Zeit einen Fall zu überprüfen, in dem der Täter sein Fahrzeug in – so der BGH – „äußerlich verkehrsgerecht“ scheinender Weise führte, dabei aber die Absicht hatte, Unfälle zu provozieren und daraus Versicherungsleistungen zu erlangen; überdies besaß der Täter Sonderwissen um die mit seiner Fahrweise verbundenen besonderen Unfallgefahren. Das Gericht billigte die Verurteilung wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr.332 Dieses – sachlich richtige – Ergebnis wäre indessen bei korrektem Aufbau der Falllösung gar nicht erreichbar gewesen. Mit der Verneinung des „objektiven“ Tatbestands (mangels äußerlichen Verkehrsverstoßes) hätte das Gericht die Prüfung beenden und den Autofahrer frei sprechen müssen. Zu dem individuellen Sonderwissen des Täters und der bösen Absicht, auf die der BGH die Strafbarkeit letztlich entscheidend stützte, hätten die Richter auf der Grundlage der geläufigen Tatbestandsaufspaltung und herrschenden Methodik danach korrekterweise gar nicht kommen können. – Man mag einen solchen Sachverhalt als außergewöhnlich abtun und für vernachlässigbar erklären. Von einem rechtsdogmatischen Standpunkt aus ist eine Konzeption, die auch nur einen Fall nicht korrekt zu erfassen vermag, jedoch abzulehnen: Ein 329 Zu England s. nochmals Zweiter Teil, B. III. 2. b) bb) (4); zu Frankreich Zweiter Teil, C. III. 3. b) bb) (1). In Deutschland fällt beim Fahrlässigkeitsdelikt die übliche Trennung in „objektiven“ und „subjektiven“ Tatbestand denn auch weg; vgl. nochmals oben Zweiter Teil, A. II. 2. b) cc). 330 Der Versuchstäter setzt jedenfalls beim untauglichen Versuch nur auf der Basis seiner Vorstellung „objektiv“ unmittelbar zur Tat an. 331 Zum Beispiel wenn die missbilligte Risikoschaffung nur aufgrund Sonderwissens des Täters bejaht werden kann. Das „Objektive“ hängt dann ohne den subjektiven Kontext gleichsam in der Luft. Näher zur immer gegebenen Subjektabhängigkeit des Zurechnungsurteils MK-Freund, Vor §§ 13 ff. Rn. 177 f. 332 BGH, NJW 1999, 3132. Zum Sachverhalt und der rechtlichen Würdigung s. ausführlich Freund, JuS 2000, 754 ff.; MK-ders., Vor §§ 13 ff. Rn. 166 ff. (dort jeweils auch zum Folgenden). Gegen die herkömmliche Aufspaltung in „objektiven“ und „subjektiven“ Tatbestand im deutschen Recht z. B. auch Frisch, in: Wolter/Freund, S. 135 (186 ff.).
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3. Teil: Der Straftatbegriff im Rechtsvergleich
Straftatbegriff soll zwar so klar und einfach sein wie möglich – aber eben auch so komplex wie nötig!333 Dass die Dichotomie „objektiv – subjektiv“ problematisch ist, wird übrigens wiederum auch außerhalb des deutsch geprägten Systems erkannt. In England etwa lässt sich schon der klassische Satz „Actus non facit reum, nisi mens sit rea.“ im Sinne einer Bewertungseinheit, einer zwingenden Zusammengehörigkeit von „außen“ und „innen“ verstehen.334 Vor diesem Hintergrund sei hier dafür plädiert, objektives und subjektives Element der Straftat in die umfassendere Kategorie des personalen Verhaltensunrechts zu überführen. Damit wird der Blick von vornherein auf den entscheidenden Punkt gelenkt: auf den (tatbestandsspezifischen) Verhaltensnormverstoß, der – wie inzwischen mehrfach ausgeführt – die Grundvoraussetzung für jegliche Bestrafung darstellt. Eine sinnvolle Zweiteilung der Straftatvoraussetzungen lässt sich dann freilich vornehmen, indem man die Konstituenten dieses personalen Fehlverhaltens abschichtet von denjenigen Bedingungen, die unabhängig davon zusätzlich noch für einen Strafeinsatz erforderlich sind. Zu diesen letzteren Bedingungen zählt der tatbestandliche Erfolg (der demnach zu Recht überall im Rahmen des „objektiven“ Elements abgehandelt wird). Denn ob zum Beispiel ein abgefeuerter Schuss – personales Fehlverhalten im Sinne des Totschlagstatbestands – wirklich zum Tod des in Aussicht genommenen Opfers führt, ist in der Tat ein rein objektiver Befund. Sobald der Täter den Abzug betätigt hat, hat er sich tatbestandsmäßig missbilligt verhalten.335 Die Flugphase der Kugel versinnbildlicht dann geradezu die Trennung zwischen dem Komplex des personalen Verhaltensunrechts einerseits und dem Komplex des Erfolgssachverhalts andererseits. Auf den Eintritt dieses tatbestandlichen Erfolgs hat der Täter keinen Einfluss mehr. Insofern hat (nur) der Erfolg, um es noch einmal zu wiederholen, objektiven Charakter.336 – Weitere objektive Sanktionserfordernisse sind zum Beispiel die im deutschen Recht so genannten objektiven Strafbarkeitsbedingungen,337 nicht zuletzt aber auch verfahrensrechtliche Voraussetzungen, etwa das Fehlen der Verjährung, der gelungene Tatnachweis oder ein gegebenenfalls notwendiger Strafantrag. Auf dieser (gebührend) nachrangigen Systemstufe lassen sich sämtliche Verfahrensaspekte bruchlos und überzeugend in den Verbrechensbegriff integrieren.
333
Silva Sánchez, GA 2004, 679 (686). In der heutigen englischen Lehre äußern sich kritisch zur Zweiteilung „objektiv – subjektiv“ z. B. Allen, S. 18; Card, Ziff. 3.4; Simester/Sullivan, S. 18 f. (mit Fn. 53); Robinson, Structure, S. 18 f.; vgl. auch Tur, in: Shute/Gardner/Horder, S. 213 (213 ff.). 335 Und zwar zunächst im Sinne einer versuchten Tötung. Zu den dogmatischen und aufbautechnischen Konsequenzen dieses Befunds s. noch unten C. II. 3. 336 Vgl. zu alledem Freund, AT, § 2 Rn. 4 ff.; MK-ders., Vor §§ 13 ff. Rn. 282 ff. 337 Vgl. oben Zweiter Teil, A. II. 2. e) aa). 334
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2. Perspektivenbetrachtung a) Allgemein: Maßgeblichkeit der Betroffenenperspektive Begreift man – wie hier vorgeschlagen – personales Verhaltensunrecht als den zentralen Angelpunkt des Straftatbegriffs, so ergeben sich daraus eine Reihe weiterer Konsequenzen. Eine besonders wichtige betrifft die Frage, welche Umstände herangezogen werden dürfen, um eine Verhaltensnorm in einer bestimmten Situation zu legitimieren: Lässt sich eine Verhaltensnorm etwa auf Umstände gründen, die zwar „objektiv“ vorliegen, dem Normadressaten in dieser Situation jedoch weder bekannt noch ersichtlich sind? Die Antwort darauf muss in einem Konzept des Verhaltensunrechts verneinend ausfallen. Beispielhaft: Die Verhaltensnorm „Du sollst nicht zuschlagen, wenn zwar aus Deiner Perspektive bei der von Dir zu erwartenden verständigen Würdigung eine Notwehrlage anzunehmen ist, objektiv gesehen aber nicht!“ kann ihre Funktion nicht erfüllen, sie ist sinnlos. Denn was „objektiv“ vorliegt, weiß der Laplacesche Weltgeist – der Normadressat, auf den es ankommt, aber kann es nicht wissen.338 Verhaltensnormen ergeben vielmehr nur dann Sinn, wenn sie die individuelle Perspektive des Normadressaten als maßgeblich zugrunde legen.339 In dem genannten Beispiel kann man zu dem korrekten Ergebnis der Straflosigkeit zwar auch gelangen, indem man den Vorsatz des Betreffenden verneint.340 Vom hier verfochtenen Standpunkt aus liegt jedoch schon kein zu missbilligendes personales Fehlverhalten vor. Ob ein solches vorliegt, ist aber in der Sache die entscheidende Frage. An ihrer Beantwortung kommt man nicht vorbei. Sie in spätere Stationen der Fallprüfung aufzuschieben, beispielsweise eben in den Zusammenhang des Vorsatzes oder aber der „objektiven Zurechnung“, ist zumindest unnötig und im schlechtesten Fall sogar schädlich.341 b) Insbesondere: Individualisierendes Verständnis der Fahrlässigkeit Die soeben gewonnene (allgemein gültige) Erkenntnis mag zunächst noch abstrakt wirken. Konkrete Auswirkungen hat sie jedoch unter anderem auf das sachgerechte Verständnis der Fahrlässigkeit. Für deren Bestimmung kommt nach dem Ausgeführten nämlich einzig und allein eine individualisierende Konzeption in Frage: Was vorhersehbar, vermeidbar und zurechenbar im Sinne eines Fahrlässigkeitsdelikts ist, muss unter Zugrundelegung der individuellen Perspektive des Betroffenen geklärt werden. Die weithin noch anzutreffende Fiktion einer Maßstabsperson ist demgegenüber verfehlt. 338 339 340 341
Freund, AT, § 2 Rn. 22 ff. MK-Freund, Vor §§ 13 ff. Rn. 164 f. Oder, im Kontext des Fahrlässigkeitsdelikts, die individuelle Vermeidbarkeit. Vgl. Freund, AT, § 2 Rn. 29.
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3. Teil: Der Straftatbegriff im Rechtsvergleich
Im deutschen Recht ist diese Sichtweise im Begriff sich durchzusetzen.342 Doch auch in den anderen behandelten Ländern wird die Konstruktion einer Maßstabsperson vielfach kritisiert, so etwa in England.343 Der dort geläufige reasonable man ist interessanterweise historisch erklärlich:344 Er ist ein Relikt aus einer Zeit, als der Angeklagte nach geltendem Prozessrecht nicht selbst Tatsachen zu seiner eigenen Verteidigung darlegen durfte. Vor diesem Hintergrund war die Jury zwangsläufig darauf angewiesen, das Verhalten nach dem Maßstab der vernünftigen Durchschnittsperson zu beurteilen. Dieser prozessrechtliche Zwang ist heute natürlich entfallen; und wie gesehen nimmt das heutige englische Recht ja teilweise bereits Abstand davon, den reasonable man zum Maßstab strafrechtlicher Beurteilung zu machen: beispielsweise im Kontext der Cunningham recklessness, bei der es gerade dem Angeklagten bewusst sein muss, dass er das Risiko eines Schadenseintritts schafft.345 – Auch in Frankreich gibt es durchaus Stimmen, die den bon père de famille als ein „Phantom“ kritisieren.346 Eine europäische Strafrechtsdogmatik sollte die Gelegenheit nutzen, diesen vernünftigen Durchschnittsbürger in den verdienten Ruhestand zu schicken. Um ein Missverständnis zu vermeiden: Bei dem soeben Ausgeführten geht es nicht darum, zur Bestimmung eines Fehlverhaltens statt eines objektiven einen subjektiven Maßstab anzulegen. Das hiesige Plädoyer betrifft vielmehr die Frage, ob Gegenstand der rechtlichen Bewertung das Verhalten der individuellen Person ist oder ob in generalisierender Weise von individuellen Momenten abgesehen werden, eine konkret gar nicht handelnde Person fingiert werden darf. Der Maßstab der Bewertung ist in beiden Fällen „objektiv“, das heißt vom konkreten Bewertungssubjekt unabhängig. Das muss er im Rahmen einer rechtlichen Bewertung auch sein.347 Im Übrigen ist auch die Maßstabsperson nur ein bestimmtes Subjekt mit bestimmten – generalisierend festgelegten – subjektiven Eigenschaften. Andernfalls könnte sie keine objektiv-rechtlich richtige Verhaltensnorm bilden. Es geht also gar nicht um den Gegensatz „objektiv“ oder „subjektiv“, sondern um den Gegensatz zwischen einer generalisierenden oder individualisierenden Konkretisierung der Verhaltensnorm. 342 s. etwa Jakobs, AT, 9/5 ff.; Gropp, § 12 Rn. 82 ff.; Otto, AT, § 10 Rn. 13 ff.; MKDuttge, § 15 Rn. 94; SK-Hoyer, Anh. zu § 16 Rn. 17 ff. 343 Kritisch z. B. Robinson, in: Shute/Simester, S. 73 (85 ff.). 344 Lord Nicholls in der Entscheidung B (A Minor) v. DPP (2000) 2 WLR 452 (457 f.), im Kontext des Irrtums über das Vorliegen von actus-reus-Merkmalen. 345 Vgl. oben Zweiter Teil, B. III. 2. b) bb) (3). 346 Conte/Maistre du Chambon, Ziff. 394, allerdings nur im Kontext des Tatsachenirrtums – im Kontext der Fahrlässigkeitsdelikte wird diese Kritik nicht geäußert, und im Zusammenhang des Rechtsirrtums plädieren die Autoren sogar wieder für eine prototypische Betrachtungsweise: Ziff. 398. 347 Freund, AT, § 5 Rn. 34 ff.; MK-ders., Vor §§ 13 ff. Rn. 164 f. Aus dem französischen Schrifttum s. Desportes/Le Gunehec, Ziff. 490: Beurteilung „de façon objective (et non subjective) et in concreto (mais non in abstracto).“
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Wichtig ist ein tragfähiges Verständnis der Fahrlässigkeit deshalb, weil diese ein zentrales Element der Straftat schlechthin darstellt. Denn ohne dass eine Person zumindest fahrlässig handelt, lässt sich ihr Tun oder Unterlassen in keinem Fall als Fehlverhalten qualifizieren.348 Auf der anderen Seite reicht Fahrlässigkeit aber auch in jedem Fall hin, um einen solchen Vorwurf zu begründen. Fahrlässigkeit ist demnach als die Grundform personalen Fehlverhaltens zu begreifen; sie ist als Minus auch in der Vorsatztat enthalten.349 Für das Straftatmodell folgt daraus: Das (zusätzliche) Erfordernis der Vorsätzlichkeit ist der einzige strukturelle Unterschied zwischen Fahrlässigkeits- und Vorsatztat – über diesen Unterschied hinaus gibt es keinen Anlass für einen unterschiedlichen Verbrechensaufbau. 3. Das Verständnis des Versuchs Auf die Versuchsstraftat wirkt sich das Konzept des personalen Fehlverhaltens zunächst einmal aufbautechnisch aus: Es beseitigt den dogmatisch unbefriedigenden Zustand, wonach das Versuchsdelikt schon im Ansatz anders konstruiert wird als die vollendete Tat. Der Grund für diese Unterscheidung liegt darin, dass das überkommene Modell bei der vollendeten Tat „subjektive“ Elemente eben erst einmal ausblenden möchte – was bei der versuchten Tat ganz offensichtlich nicht funktioniert. Das hier vertretene Konzept kommt ohne diese Konstruktionsunterschiede aus, weil es ausnahmslos immer ein personales Fehlverhalten verlangt; und dieses erhält wie dargelegt sein Gepräge immer erst (auch) durch subjektive Momente. Der Unterschied zwischen vollendeter und versuchter Straftat liegt nach diesem Konzept demnach nicht im grundsätzlichen Deliktsaufbau. In beiden Fällen bedarf es gleichermaßen eines spezifischen personalen Fehlverhaltens. Der Unterschied liegt darin, dass beim vollendeten Delikt – über das Fehlverhalten im Sinne eines Versuchstatbestands (das als Minus jeder vollendeten Tat eigen ist) hinaus – eben auch die besonderen Sanktionsvoraussetzungen des Vollendungsdelikts vorliegen müssen; insbesondere muss der tatbestandliche Erfolg (zurechenbar) eingetreten sein.350 Was das materielle Verständnis des Versuchs anbelangt, so erscheint die im hiesigen Vergleich gefundene Lösung auch im Lichte des Konzepts vom persona348 Zentral aus folgenden Gründen: Dies gilt jedenfalls, solange es keine Fehlverhaltensform gibt, die noch „niedriger“ angesiedelt ist als die Fahrlässigkeit. Eine solche kennt aber keines der hier behandelten Strafrechte – die „strikte“, das heißt rein objektive strafrechtliche Haftung ist ja gerade keine Form von Fehlverhalten. 349 So auch Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 40; Freund, AT, § 7 Rn. 35 ff.; NK-Puppe, Vor §§ 13 ff. Rn. 154, § 15 Rn. 5. – Anklänge in diese Richtung finden sich etwa auch in der französischen Lehre, s. Conte/Maistre du Chambon, S. 208 (Ziff. 386). 350 Zum grundsätzlichen Gleichlauf von Vollendung und Versuch s. Freund, AT, § 8 Rn. 29 ff.
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len Verhaltensunrecht angemessen. Kritik verdient demgegenüber aber die gemeinsame europäische Tendenz, wonach ein strafbarer Versuch bereits materiellrechtlich verneint wird, wenn der Täter die Vollendung seiner Tat freiwillig aufgibt.351 Festzuhalten ist hierzu, dass mit Bejahung der Versuchsvoraussetzungen ein zu missbilligendes Fehlverhalten, ein Angriff auf die Geltungskraft einer Verhaltensnorm vorliegt. Nun mag es zwar möglich sein, dass der Täter die angegriffene Normgeltung selbst weit gehend wieder herstellt, indem er (durch den Rücktritt oder anderweitig) Wiedergutmachung leistet. Dass eine solche Wiedergutmachung als nachträglicher Verhaltenswert den in die Welt gesetzten Verhaltensunwert aber tatsächlich vollständig kompensiert, erscheint indessen zweifelhaft. Zumindest wenn der Täter eine gravierende Straftat begangen hat, ist dies daher durch einen Schuldspruch zu verdeutlichen. Der damit erhobene Fehlverhaltensvorwurf trifft ja ungeachtet jeglichen Nachtatverhaltens zu; und eine Wiedergutmachung lässt sich ohne Weiteres auch auf die Weise honorieren, dass das Gericht im Anschluss an den Schuldspruch die Strafe mindert oder ganz von ihr absieht. Einen Freispruch hingegen könnte der Täter – und mit ihm die Rechtsgemeinschaft – fälschlicherweise so verstehen, als sei die Tat letztlich „doch nicht so schlimm“ gewesen. Sachgerecht zu erfassen wäre die Wiedergutmachung demnach nicht in einer materiellrechtlichen Rücktrittsklausel, sondern in einer Strafzumessungsregelung. Eine solche Regelung könnte (und sollte) im Übrigen auch andere Fälle positiven Nachtatverhaltens einbeziehen.352 4. Schuldaufhebende Umstände Schließlich folgt aus einem konsequent umgesetzten Konzept personalen Verhaltensunrechts ein Weiteres, und zwar im Hinblick auf die hier so genannten schuldaufhebenden Umstände: Wie oben ausgearbeitet,353 fehlt es bei Verhaltensweisen einsichts- und steuerungsunfähiger Personen bereits an einem Verhaltensnormverstoß; und Gleiches trifft auch für diejenigen Personen zu, die in unvermeidbar irriger Annahme rechtfertigender Umstände oder unter dem Eindruck eines unvermeidbaren Rechtsirrtums etwas tun oder unterlassen. Wenn dem so ist, dann bedeutet dies aber, dass die betreffenden Konstellationen systematisch nicht erst in einer Kategorie der schuldaufhebenden Umstände zu prüfen sind. Sie sind vielmehr schon bei der Bestimmung des (recht verstandenen) tatbestandsmäßigen Verhaltens zu würdigen.354 Im Rahmen dieser Bestimmung stellt sich die Frage, ob von der konkreten Person in der konkreten Situation von Rechts wegen ein anderes Verhalten zu erwarten gewesen wäre als das an den 351
Näher zum Folgenden Freund, GA 2005, 321 (328 f.). Einen konkreten Vorschlag unterbreiten insoweit Freund/Garro Carrera, ZStW 118 (2006), 76 (98 f.). 353 In diesem Teil, B. III. 2. c) aa) (2) (e). 354 Freund, AT, § 4 Rn. 12 ff.; MK-ders., Vor §§ 13 ff. Rn. 224 ff. 352
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Tag gelegte – und diese Frage ist in den erwähnten Fällen zu verneinen. Lediglich im Fall eines auf Fahrlässigkeit beruhenden Erlaubnistatbestandsirrtums liegt ein Verhaltensnormverstoß vor, der unter dem Aspekt einer Fahrlässigkeitstat zu ahnden sein kann. Entsprechendes gilt für den auf Fahrlässigkeit beruhenden Rechtsirrtum. Die noch verbreitet angenommene Strafbarkeit wegen einer Vorsatztat ist zumindest problematisch.355 5. Nachweis der Tat Eine letzte kritische Anmerkung sei schließlich noch der Art und Weise gewidmet, wie die untersuchten Strafrechte den Nachweis der Tat behandeln. Wie gesehen setzen sie zumindest als notwendige Bedingung (auch) voraus, dass der entscheidende Richter davon überzeugt sei, der Angeklagte habe die ihm vorgeworfene Tat begangen. Nirgends wird dabei näher vorgegeben – oder auch nur erörtert –, welche rechtlichen Kriterien diese Überzeugungsfindung leiten.356 Die „freie“ höchstpersönliche Entscheidung sei solchen Kriterien nicht zugänglich. Wäre dem wirklich so, dann könnte ein und dieselbe Tat bei identischer Beweislage von zwei verschiedenen Richtern allein aufgrund ihrer unterschiedlichen „persönlichen Überzeugung“ im einen Fall für strafbar erkannt werden, im anderen Fall für straflos. Es mag sein, dass die praktische Erfahrung einen solchen Befund sogar zu bestätigen scheint. Allein, aus rechtlicher Sicht ist das nicht akzeptabel. Genauso wie die Subsumtion eines Verhaltens unter die materiellen Voraussetzungen einer Straftat – unbestritten! – nicht der persönlichen Überzeugung des jeweiligen Richters unterliegt, sondern eine rechtliche ist, so darf auch die Frage des Tatnachweises nicht der persönlichen Überzeugung des Richters anheim gestellt werden.357 Zwar trifft es natürlich zu, dass richterliche Entscheidungen höchstpersönlicher Natur sind. Soll die höchstpersönliche Entscheidung (des Subjekts) eine rechtliche sein, muss sie aber rechtlichen Kriterien folgen, nicht (austauschbaren) persönlichen – auch das gilt für den Nachweis der Tat nicht weniger als für deren materielle Seite.358 Vor diesem Hintergrund überrascht es, dass die behandelten Länder sich sämtlich nicht der Frage stellen: Welche rechtlichen Kriterien gelten für den Tatnachweis? Wann ist es rechtlich legitimierbar, einen Angeklagten zu verurteilen, obwohl ein Risiko des Fehlurteils verbleibt? Die insoweit nötigen Entscheidungsnormen können am Ende dieser Arbeit nicht näher thematisiert werden.359 Es
355
Vgl. dazu oben in diesem Teil, B. III. 2. d) aa) (2) (b) (Fn. 273). Vgl. oben in diesem Teil, B. III. 2. b) bb), c) bb), d) bb). 357 Freund, FS Meyer-Goßner, 409 (417 f.). 358 Freund, FS Meyer-Goßner, 409 (418). 359 Ein ausführliches Konzept dazu findet sich im deutschen Schrifttum bei Freund, „Tatsachenfeststellung“, S. 56 ff. 356
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sollte jedoch deutlich geworden sein: Ohne solche Normen ist von Rechts wegen nicht auszukommen, auch nicht auf europäischer Ebene.360 6. Schematische Zusammenfassung Unter Berücksichtigung der dargelegten Kritikpunkte sieht der hier vorgeschlagene Straftatbegriff danach schematisch wie folgt aus:361 [Dem Straftatbegriff zur Seite gestellt362: Vorliegen eines gesetzlichen Straftatbestands] 1. Personales Verhaltensunrecht a) Tatbestandsmäßiges Verhalten b) Keine rechtfertigenden oder schuldaufhebenden Umstände c) Hinreichendes Gewicht des Fehlverhaltens d) Beim Vorsatzdelikt: Vorsatz in Bezug auf das Verhaltensunrecht 2. Tatbestandsmäßige Verhaltensfolgen Beim Vorsatzdelikt: Vorsatz in Bezug auf die Verhaltensfolgen 3. Sonstige Sanktionserfordernisse
III. Schlusswort Die soeben dargelegten kritischen Anmerkungen sollen das positive Ergebnis dieser Arbeit nicht trüben. Daher sei zum Schluss nochmals wiederholt: Die hier untersuchten Länder bilden in der Tat – auch nach Jahrhunderten noch – eine „Strafrechtskulturgemeinschaft“, die durch verschiedene nationale Stile nicht beeinträchtigt wird.363 Ihre materiellen Gemeinsamkeiten sind groß genug, um einen gemeinsamen europäischen Straftatbegriff zu tragen. Materielle Unterschiede hingegen verlaufen häufig genug gerade nicht entlang geografischer
360 Vgl. aus dem französischen Schrifttum Delmas-Marty, Droits 1996, 53 ff., die insoweit von „einer der unklarsten Fragen des Strafrechts“ spricht (59) und – allerdings nicht ohne Weiteres nachvollziehbar – eine Lösung über die Europäische Menschenrechtskonvention für möglich hält (60 ff.). 361 Es beruht auf dem in Deutschland unterbreiteten Vorschlag von Freund, JuS 1997, 235 ff.; 331 ff.; ders., AT, Anhang I. 362 Die Formulierung „Zur Seite gestellt“ ist hier bewusst gewählt an Stelle von „Dem Straftatbegriff vorgelagert“. Denn der gesetzliche Tatbestand ist – bei Erfüllung materieller Straftatvoraussetzungen eine zusätzliche selbstständige (formale) Schranke der Bestrafung. 363 Bacigalupo, FS Roxin, S. 1361 (1373 f.). Auch für Vogel, GA 2010, 1 (13), sind „Rechts- und auch Strafrechtskulturen nicht notwendigerweise an Nationen gebunden“.
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Grenzen, sondern entlang sachlicher Argumentationslinien – die sich oft länderübergreifend in ähnlicher Weise wiederfinden.364 Und so erscheint es denn – zumindest auf europäischer Ebene – durchaus in Reichweite, das große Ziel des Franz v. Liszt aus dem Jahr 1894: „Eine gemeinsame, allen einzelnen Rechten entnommene, aber über ihnen allen stehende Strafrechtswissenschaft: das wäre die [. . .] höchste Aufgabe unserer Rechtsvergleichung.“ 365
364 Vgl. schon Hirsch, FS Spendel, S. 43 (58): „Es gibt keine nur deutsche, keine nur japanische, italienische oder andere rein nationale Strafrechtswissenschaft, sondern hinsichtlich des zentralen Forschungsbereichs nur eine nach allgemeinen wissenschaftlichen Maßstäben ganz oder teilweise richtige oder aber falsche.“ s. auch dens., ZStW 116 (2004) 835 (840 f.). 365 v. Liszt, Einführung, S. XXV.
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Sachwortverzeichnis Absicht 64 absolute discharge 110, 126 act siehe Handlung in England actio libera in causa siehe Rausch in Deutschland actus reus 89, 90, 92, 93, 94, 95, 96, 98, 99, 101, 108, 109, 226 – beim Versuch 116 – Verhältnis zur mens rea 108, 111 Adäquanzformel – in Deutschland 62 – in Frankreich 149 – in Polen 179 Allgemeiner Teil 38 Analogieverbot – in Deutschland 54 – in England 92 – in Frankreich 148 – in Polen 177 – in rechtsvergleichender Sicht 221 Äquivalenzformel – in Deutschland 61 – in Frankreich 148 – in Polen 179 – in rechtsvergleichender Sicht 230 attempt siehe Versuch in England Aufhebung der tatbestandlichen Missbilligung, in rechtsvergleichender Sicht 244 basic intent offence 125 besondere Rechtsfolgehindernisse siehe sonstige Strafbarkeitsvoraussetzungen besondere Rechtsfolgevoraussetzungen siehe sonstige Strafbarkeitsvoraussetzungen
Bestimmtheitsgebot – in Deutschland 54 – in England 92 – in Polen 177 – in rechtsvergleichender Sicht 221 bewusste Gefährdung in Frankreich 161 bezprawnos´c´ siehe Rechtswidrigkeit in Polen Blankettgesetze – in Deutschland 54 – in Polen 178 bon père de famille siehe Maßstabsperson in Frankreich Caldwell recklessness siehe recklessness causalité 145, siehe auch Kausalität in Frankreich causation in fact siehe Kausalität in England causation in law siehe Erfolgszurechnung in England commendement de l’autorité légitime siehe Hoheitliche Anordnung in Frankreich Common Law 84 conditio sine qua non siehe Äquivalenzformel consentement de la victime siehe Einwilligung in Frankreich contrainte siehe Notstand in Frankreich contravention siehe Straftatbegriff in Frankreich contravention in Frankreich 134 Corpus Juris 39, 40, 47, 212, 234, 243 crime siehe Straftatbegriff in England, Frankreich
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Sachwortverzeichnis
culpabilité siehe Schuld in Frankreich Cunningham recklessness siehe recklessness czyn siehe Handlung in Polen czyn zabroniony siehe Tatbestandsmäßigkeit in Polen de minimis principle siehe hinreichendes Gewicht eines Fehlverhaltens in England defences siehe Verteidigungseinreden in England delegation principle siehe stellvertretende Verantwortlichkeit in England délit siehe Straftatbegriff in Frankreich délits in Frankreich 134 délits non intentionnels siehe Fahrlässigkeit in Frankreich délits obstacles 146 – in Frankreich 146 deskriptive Tatbestandsmerkmale 50, 58 direct intention siehe intention dol dépassé siehe Vorsatz in Frankreich dol général siehe Vorsatz in Frankreich dol imprécis siehe Vorsatz in Frankreich dol indéterminé siehe Vorsatz in Frankreich dol praeterintentionnel siehe Vorsatz in Frankreich dol spécial siehe Vorsatz in Frankreich duress siehe Notstand in England Einsichts- und Steuerungsfähigkeit – in Deutschland 76 – in England 124 – in Frankreich 152, 153 – in Polen 195 – in rechtsvergleichender Sicht 250, 257 Einverständnis 70 Einwilligung – in Deutschland 70 – in Frankreich 142
élément injuste 131 élément légal 130, 131 élément matériel 129, 131, 144 élément moral 129, 131, 152 EMRK 47, 83, 92, 114, 123, 136, 212, 220 entschuldigender Notstand – in Deutschland 80 – in Polen 196 – in rechtsvergleichender Sicht 254 Entschuldigungsgründe – in Deutschland 79 – in Polen 196 Erfolg – in Deutschland 60 – in Frankreich 145 – in Polen 179 – in rechtsvergleichender Sicht 230 Erfolgsdelikt 61 Erfolgszurechnung – in Deutschland 62 – in England 96 – in Frankreich 149 – in Polen 179 – in rechtsvergleichender Sicht 230, 231 Erlaubnistatbestandsirrtum siehe Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds in Deutschland erreur de droit siehe Rechtsirrtum in Frankreich erreur de fait siehe Irrtum über Tatumstände in Frankreich état de nécessité siehe Notstand in Frankreich Europäische Union – Schutz der Finanzinteressen 27, 29, 30, 42, 45 – Strafrechtsetzungskompetenz 28, 29 europäischer Straftatbegriff 41 europäischer Verbrechensbegriff siehe europäischer Straftatbegriff europäisches Strafrecht, Allgemeiner Teil 31
Sachwortverzeichnis Europäisierung des Strafrechts 25, 26, 32, 33, 38, 212, 303 – Notwendigkeit eines europäischen Dialogs 36 Eventualvorsatz siehe Vorsatz Fahrlässigkeit – in Deutschland 65, 77 – in England 106 – in Frankreich 148, 158, 159, 160 – in Polen 181 – in rechtsvergleichender Sicht 232, 238, 255 fait justificatif siehe Rechtfertigungsgründe in Frankreich faute caractérisée siehe Fahrlässigkeit in Frankreich faute contraventionnelle siehe Übertretungsschuld in Frankreich faute d’imprudence siehe Fahrlässigkeit in Frankreich faute de négligence siehe Fahrlässigkeit in Frankreich Finalismus 52, 53, 63, 74 freie Beweiswürdigung – in Deutschland 82 – in Frankreich 144, 164 – in Polen 199 – in rechtsvergleichender Sicht 235, 240 freier Wille – in Deutschland 71 – in England 123 – in Frankreich 152, 154 – in Polen 193 – in rechtsvergleichender Sicht 250 Garantenpflicht siehe Sonderverantwortlichkeit Geisteskrankheit – in Deutschland 76 – in England 123 – in Frankreich 153 – in Polen 195
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– in rechtsvergleichender Sicht 251 gemeinwesteuropäisches Straftatmodell 216 gerechtfertigte Experimente in Polen 187 gesellschaftliche Gefährlichkeit der Tat in Polen 169 Gesetzlichkeitsgrundsatz 53, 54, 171, 177, 221, 222, 223, 228, 241 – in Frankreich 130 – in rechtsvergleichender Sicht 220 Gesetzlichkeitsprinzip in Frankreich 132, 135 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 47, 54, 215, 242, 243 Handlung 23, 38, 50, 51, 52, 53, 55 ff., 202, 226, 267 – in Deutschland 55 ff. – in England 94 – in Frankreich 145 – in Polen 176 – in rechtsvergleichender Sicht 224, 227 hinreichendes Gewicht des Fehlverhaltens in rechtsvergleichender Sicht 259, 263 hinreichendes Gewicht eines Fehlverhaltens in England 97 hoheitliche Anordnung in Frankreich 139 Human Rights Act 1998 in England 88, 92 in dubio pro reo 83, 238 inchoate offence siehe Versuch in England indictable offences in England 115 individualisierendes Verständnis der Fahrlässigkeit – auf europäischer Ebene 273 – in Deutschland 66, 78 – in Frankreich 160 – in Polen 182 – in rechtsvergleichender Sicht 232, 238 Indizformel – in Deutschland 68
308
Sachwortverzeichnis
– in Polen 184 infancy siehe Strafmündigkeit in England infraction siehe Straftatbegriff in Frankreich infractions formelles in Frankreich 146 infractions matérielles in Frankreich 146, 162, 163 insanity siehe Geisteskrankheit in England intention in England 90, 101 intoxication siehe Rausch in England Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds – in Deutschland 79 – in England 121, 123, 125 – in Frankreich 163 – in Polen 197 – in rechtsvergleichender Sicht 253, 258 Irrtum über Tatumstände – in Deutschland 65 – in England 109, 125 – in Frankreich 163 – in Polen 182 – in rechtsvergleichender Sicht 238, 253 Jury siehe Strafverfahren in England justification und excuse siehe Rechtfertigung und Entschuldigung in England Kausalität – in Deutschland 61 – in England 96 – in Frankreich 145, 148 – in rechtsvergleichender Sicht 230 Klassifikation der Straftat in Frankreich 133 knowledge in England 103 Kodifikation des englischen Strafrechts 88 komplexer Schuldbegriff in Polen 194 kontratypy siehe Rechtfertigungsgründe in Polen
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten siehe EMRK légitime défense siehe Notwehr in Frankreich Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung 61 Liberalismus 50, 229 M’Naghten Rules siehe Schuldfähigkeit in England Maßstabsperson – auf europäischer Ebene 273 – in Deutschland 66, 78 – in England 104, 107 – in Polen 182 – in rechtsvergleichender Sicht 232 materieller Verbrechensbegriff in Polen 168 mens rea 89, 90, 92, 100 ff., 236 – beim Versuch 116 – Verhältnis zum actus reus 108, 111 Methodik 40, 48 – der Landesberichte 41 – der Strafrechtsvergleichung 40 mise en danger délibérée in Frankreich 156 mistake of fact siehe Irrtum über Tatumstände in England mistake of law siehe Rechtsirrtum in England Nachweis der Tat – auf europäischer Ebene 277 – in Deutschland 82 – in England 98, 108, 113, 126 – in Frankreich 143, 151, 164 – in Polen 199 – in rechtsvergleichender Sicht 235, 240, 264 negligence siehe Fahrlässigkeit in England
Sachwortverzeichnis
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niebezpieczenstwo społeczne czynu siehe Gesellschaftliche Gefährlichkeit der Tat in Polen niepoczytalnos´c´ siehe Geisteskrankheit in Polen normative Tatbestandsmerkmale 59 normativer Schulbegriff in Polen 193 Normentheorie siehe Verhaltensnorm, Sanktionsnorm Notbremse 29, 30, 46 Nothilfe – in Deutschland 70 – in Polen 186 Notstand – in England 120 – in Frankreich 141, 154 – in rechtsvergleichender Sicht 246, 254 Notwehr – in Deutschland 70 – in England 122 – in Frankreich 140 – in Polen 185 – in rechtsvergleichender Sicht 246 Notwehrexzess in Deutschland 81 nullum-crimen-Satz 43, 54, 72, 92, 135, 167, 168, 177, 221, 229
Perspektivenbetrachtung 66 – auf europäischer Ebene 273 – in Frankreich 155, 164 – in rechtsvergleichender Sicht 218 Pflichtenkollision in Polen 187 pomoc konieczna siehe Nothilfe in Polen Positivismus 50, 51 powinnos´c´ siehe normativer Schuldbegriff in Polen Präjudizien in England 85 principe de l’intime conviction siehe freie Beweiswürdigung in Frankreich principe de légalité siehe Gesetzlichkeitsprinzip in Frankreich principle of stare decisis in England 85 Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 27 Prinzip des mangelnden Interesses in Deutschland 69 Prinzip des überwiegenden Interesses 268 – in Deutschland 69 – in England 121 – in Polen 185 – in rechtsvergleichender Sicht 247, 248 przeste˛pstwo siehe Straftatbegriff in Polen
objektive Seite der verbotenen Tat siehe Tatbestandsmäßigkeit in Polen objektive Zurechnung siehe Erfolgszurechnung objektiver Tatbestand in Deutschland 53, 58 objektives Element der Straftat in rechtsvergleichender Sicht 226 oblique intention siehe intention obrona konieczna siehe Notwehr in Polen offence siehe Straftatbegriff in England omission siehe Unterlassung in England ordre de la loi siehe Hoheitliche Anordnung in Frankreich
ratio decidendi in England 86 Rausch – in Deutschland 76 – in England 124 – in Frankreich 153 – in Polen 196 – in rechtsvergleichender Sicht 251 reasonable man siehe Maßstabsperson in England rechtfertigender Notstand – in Deutschland 70 – in Polen 186 Rechtfertigung und Entschuldigung – in Deutschland 67 – in England 119 – in Polen 184
personales Verhaltensunrecht 272 Personenverbände – Strafbarkeit 43
310
Sachwortverzeichnis
– in rechtsvergleichender Sicht 244, 259 Rechtfertigungsgründe – in Deutschland 69 – in Frankreich 137 – in Polen 184 – in rechtsvergleichender Sicht 245 rechtsgenügender Beweis siehe Nachweis der Tat Rechtsgeschichte 32 – Entwicklung des Straftatbegriffs in Deutschland 49 – Entwicklung des Straftatbegriffs in England 89 – Entwicklung des Straftatbegriffs in Frankreich 129 – Entwicklung des Straftatbegriffs in Polen 166 Rechtsgüterschutz 51, 54, 213, 215, 222, 266 – Schutz eigener Rechtsgüter der Europäischen Union 30 Rechtsirrtum – in Deutschland 78 – in England 110, 125 – in Frankreich 163 – in Polen 198 – in rechtsvergleichender Sicht 253, 254, 258 Rechtskreise 25, 33, 36, 41, 128 – Besonderheiten des anglo-amerikanischen Rechts 83 Rechtsvergleichung 26, 32, 33, 38, 47, 48, 200, 279 – wertende ~ 44 Rechtswidrigkeit 50 – in Deutschland 67 – in Polen 184 recklessness in England 101, 104 regulatory offences in England 112, 113 Relevanzformel – in Deutschland 62 – in Polen 179 Rücktritt vom Versuch – auf europäischer Ebene 276
– in Deutschland 67 – in England 117 – in Frankreich 151 – in Polen 184 – in rechtsvergleichender Sicht 234 Rückwirkungsverbot – in Deutschland 54 – in England 92 – in Polen 177 – in rechtsvergleichender Sicht 221 rule of precedent in England 85 Sanktionsnorm 54, 213, 214 Schuld 50 – in Deutschland 71 – in Frankreich 155 – in Polen 192 Schuldausschließungs- und Entschuldigungsgründe – auf europäischer Ebene 276 – in rechtsvergleichender Sicht 249 Schuldausschließungsgründe – in Deutschland 79 – in Polen 195 Schuldfähigkeit – in Deutschland 76 – in England 123 – in Frankreich 152 – in rechtsvergleichender Sicht 258 Schuldprinzip 55, 72, 73, 82, 192, 228, 243, 249 – in rechtsvergleichender Sicht 240, 256 self defence siehe Notwehr in England skutek siehe Erfolg in Polen Sonderverantwortlichkeit – in Deutschland 60 – in England 95 – in Polen 180 – in rechtsvergleichender Sicht 230 sonstige Strafbarkeitsvoraussetzungen in Deutschland 81 Sozialschädlichkeit – in Polen 188
Sachwortverzeichnis – in rechtsvergleichender Sicht 261 specific intent offence 125 spezielle Schuldmerkmale – in Deutschland 77 – in rechtsvergleichender Sicht 255 społeczna szkodliwos´c´ siehe Sozialschädlichkeit in Polen stan wyz˙szej koniecznos´ci siehe rechtfertigender Notstand in Polen state-of-affairs offences siehe Zustandsdelikte in England stellvertretende Verantwortlichkeit in England 99 Stockholmer Programm 30, 45 Strafmündigkeit – in Deutschland 76 – in England 123 – in Frankreich 153 – in Polen 195 – in rechtsvergleichender Sicht 251, 258 Strafrechtskulturgemeinschaft 278 Strafrechtsvergleichung 25 – Nutzen 26 Straftat im prozessualen Sinn 43 Straftatbegriff 23, 42 – auf europäischer Ebene 31 – Kritik 269 – Zusammenfassung 266 – Einwände 33, 35 – gemeinsame Wurzeln 24 – in Deutschland 49 – in England 83 – in Europa siehe Straftatbegriff auf europäischer Ebene – in Frankreich 128 – in Polen 165, 175 – in rechtsvergleichender Sicht 200, 218 – materiellrechtliche Implikationen 37 – Nutzen 33, 34 – Zusammenfassung – in Deutschland 200 – in England 202 – in Frankreich 206
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– in Polen 210 Straftatsystem deutscher Prägung 215 Strafverfahren in England 86 strict liability 101, 111, 112, 113, 114, 115, 120, 242 – in England 101 – in rechtsvergleichender Sicht 241 – Verteidigungseinreden 127 subjektiver Tatbestand in Deutschland 63 subjektives Element der Straftat in rechtsvergleichender Sicht 235 subjektives Rechtfertigungselement – in Deutschland 69 – in England 121, 123 – in Frankreich 142 – in rechtsvergleichender Sicht 246 Systembildung – Vorzüge 34 Tatbestandsmäßigkeit 23, 50, 53, 56, 57, 67, 245 – in Polen 178 – verfehlte Trennung von Objektivem und Subjektivem 218, 270 Tätigkeitsdelikt 61 Tatnachweis siehe Nachweis der Tat tentative siehe Versuch in Frankreich transaction principle in England 111 transferred malice in England 110 Trunkenheit siehe Rausch 76 typ siehe Tatbestandsmäßigkeit in Polen Übertretungsschuld in Frankreich 162 Unrecht und Schuld siehe Rechtfertigung und Entschuldigung Unrechtsbewusstsein – in Deutschland 78 – in rechtsvergleichender Sicht 253 Unschuldsvermutung – in Deutschland 82 – in England 98 – in Frankreich 143, 164 – in Polen 199 – in rechtsvergleichender Sicht 235, 240
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Sachwortverzeichnis
untauglicher Versuch – in Deutschland 67 – in England 117 – in Frankreich 151 – in Polen 183 – in rechtsvergleichender Sicht 234 Untergrenze des Strafrechts 259 Unterlassung – in Deutschland 59 – in England 95 – in Frankreich 145, 147 – in Polen 179 – in rechtsvergleichender Sicht 228 Unternehmen – Strafbarkeit 43 usiłowanie siehe Versuch in Polen Utilitarismus 90, 91 Verbotsirrtum siehe Rechtsirrtum in Deutschland Verbrechensbegriff – finalistischer ~ 49, 52 – klassischer ~ 49 – neoklassischer ~ 49, 51 – siehe auch Straftatbegriff verfassungsrechtliche Vorgaben – auf europäischer Ebene 212 – in Deutschland 53, 57 – in England 91 – in Polen 177
Verhaltensnorm 54, 55, 213, 214, 215, 234, 247, 255, 257, 258, 260, 266, 273, 274, 276 – auf europäischer Ebene 272 – in rechtsvergleichender Sicht 242 Versuch – auf europäischer Ebene 275 – in Deutschland 66 – in England 115 – in Frankreich 145, 150 – in Polen 183 – in rechtsvergleichender Sicht 233 Verteidigungseinreden in England 90, 92, 93, 117, 118, 119, 120, 121, 127 Vertrag von Lissabon 27, 29, 46, 212 vicarious liability siehe stellvertretende Verantwortlichkeit in England voluntariness siehe Handlung in England Vorsatz – in Deutschland 63, 64, 77 – in Frankreich 155 – in Polen 181 – in rechtsvergleichender Sicht 236, 255 Vorsatzschuld in Deutschland 77 wina siehe Schuld in Polen zaniechanie siehe Unterlassung in Polen Zustandsdelikte in England 94, 98