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German Pages 225 Year 2023
Annette Riedel Sonja Lehmeyer Magdalene Goldbach Hrsg.
Moralische Belastung von Pflegefachpersonen Hintergründe – Interventionen – Strategien
Moralische Belastung von Pflegefachpersonen
Annette Riedel · Sonja Lehmeyer · Magdalene Goldbach (Hrsg.)
Moralische Belastung von Pflegefachpersonen Hintergründe – Interventionen – Strategien
Hrsg. Annette Riedel Soziale Arbeit, Bildung und Pflege Hochschule Esslingen Esslingen, Deutschland
Sonja Lehmeyer Soziale Arbeit, Bildung und Pflege Hochschule Esslingen Esslingen, Deutschland
Magdalene Goldbach Soziale Arbeit, Bildung und Pflege Hochschule Esslingen Esslingen, Deutschland
ISBN 978-3-662-67048-4 ISBN 978-3-662-67049-1 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-67049-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Sarah Busch Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Vorwort
Diesem Buch geht eine längere Phase der Auseinandersetzung und des Diskurses voraus. Die Modellentwicklung (Kap. 2) wie auch die partizipative Entwicklung des Wertekompasses (Kap. 5) sind Ergebnisse aus einem zweijährigen Forschungsprojekt, das durch das Land Baden-Württemberg gefördert wurde (dies im Programm „Förderung von FuE-Projekten an Hochschulen für angewandte Wissenschaften (HAW) durch das Land BadenWürttemberg – Innovative Projekte/Kooperationsprojekte“; IP 2020) und in Kooperation mit der Samariterstiftung in Nürtingen realisiert wurde. Die Intention für das Buch resultiert aus den erlangten Erkenntnissen und Erfahrungen im Verlauf dieser zwei Jahre. Wir danken sowohl dem Land Baden-Württemberg für die Förderung wie auch der Samariterstiftung für die gute Kooperation im Rahmen des Forschungsprojektes. Wir freuen uns auf eine breite Leser*innenschaft, die einerseits Interesse an der theoretischen und wissenschaftsbasierten Auseinandersetzung mit der, für die Pflege, für die Pflegefachpersonen wie auch für die pflegebedürftigen Menschen höchst relevanten Thematik hat und andererseits Antworten darauf sucht, wie das moralische Belastungserleben der Pflegefachpersonen präventiert und reduziert werden kann. Zugleich wollen wir Diskussionen dahingehend anregen, für das Phänomen des moralischen Belastungserlebens relevante Themen und Inhalte gemeinsam zu reflektieren und den Diskurs sowie die praktische Bearbeitung dieses ethisch bedeutsamen Phänomens bewusst zu vertiefen. Als Herausgeberinnen danken wir insbesondere allen Autor*innen und Mitautor*innen des Buches. Mit der jeweiligen Expertise und Perspektive ist ein Buch entstanden, das sowohl (Leitungs-)Verantwortliche im Pflegeund Gesundheitswesen wie auch Lehrende in der grundständigen und akademischen Pflegeausbildung, Ethikberater*innen im Gesundheitswesen und Studierende in den Pflegestudiengängen adressiert.
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Vorwort
Ein herzliches Dankeschön gilt Frau Busch, für ihr entgegengebrachtes Vertrauen und ihre Unterstützung vonseiten des Springer-Verlages. Im März 2023
Annette Riedel Sonja Lehmeyer Magdalene Goldbach
Einführung in die Bedeutsamkeit und Struktur des Buches
Der Titel des Buches „Moralische Belastung von Pflegefachpersonen“ kann möglicherweise den Impuls auslösen, es gleich wieder wegzulegen. Dies, um die Konfrontation mit einer weiteren Herausforderung in der Pflege zu vermeiden oder verbunden mit der Annahme, dass derartige Belastungen bei den Pflegefachpersonen in der eigenen Einrichtung, in dem eigenen ambulanten Dienst nicht existieren. Keine weiteren Belastungen, keine weiteren Probleme und schon gar nicht im Kontext der Moral – mag man als Pflegefach- oder als Führungsperson denken, wo doch schon ohne diese weitere Thematik und Perspektive die Gegebenheiten in der Pflege komplex und herausfordernd sind. Komplex angesichts des pflegesituationsspezifischen Grads an „Instabilität, Unsicherheit und Variabilität“ (Huber et al. 2020, S. 144; vgl. 2021; Gurtner et al. 2018), aber auch angesichts der vielfältigen unvorhersehbaren pflegebezogenen Entwicklungen, der sich stetig ändernden und weiter zunehmenden Anforderungen, der je individuellen Pflegesituationen und der damit verbundenen einmaligen situativen Bedürfnisse und professionellen Bedarfe, aber auch angesichts der situativen ethischen Konfliktpotenziale (Fairchild 2010; Riedel et al. 2022) sowie wirkenden, vielfach instabilen Kontextfaktoren (Mielke et al. 2022). Herausfordernd angesichts der Personalnot und -fluktuation, dem „Pflexit“ (BKK 2022), angesichts der Defizite im Kontext der Qualifizierung und der Ausbildung (Riedel und Lehmeyer 2022; ver.di 2022) wie auch der Gratifikationskrise seitens der Pflegefachpersonen, begleitet durch ein hohes Maß an Berufsunzufriedenheit, durch gesundheitliche Belastungen und Burnout (Rennert et al. 2022; Schmucker 2020). Diese Gegebenheiten, die den Pflegealltag aktuell prägen, können zugleich ausschlaggebend für die Entstehung moralischen Belastungserlebens der Pflegefachpersonen sein (z. B. Personalmangel, Komplexität der Entscheidungs- und Handlungssituationen) wie auch Indikatoren für existentes moralisches Belastungserleben darstellen (z. B. Burnout, Berufsunzufriedenheit, Berufsausstieg) (Riedel et al. 2022; Salari et al. 2022; Ghazanfari et al. 2022). Und: Die negativen Implikationen des Phänomens der VII
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Einführung in die Bedeutsamkeit und Struktur des Buches
moralischen Belastung weisen vergleichbare Konsequenzen für die Pflegefachpersonen, für die Pflege und das jeweilige Setting auf wie die Konsequenzen, die angesichts der aktuell herausfordernden Gegebenheiten in der Pflege und im Gesundheitswesen vorausgehend dargelegt wurden: Burnout, Berufsunzufriedenheit, die Intention, den Beruf zu verlassen, und die Reduktion der Pflegequalität (Morley et al. 2021; Le Claire 2022; Semler 2023). Die auslösenden Faktoren wie auch die Auswirkungen des moralischen Belastungserlebens auf die Pflegefachpersonen sind in Bezug auf den Moral Distress im Kontext unterschiedlicher Settings umfassend belegt1. Deutlich ist: Das Thema kann angesichts seiner Brisanz und Relevanz weder von den Pflegefachpersonen selbst, noch von Führungspersonen und Lehrenden ignoriert werden. Die Auseinandersetzung mit moralischem Belastungserleben ist auch angesichts dessen evident, als dass der ICN-Ethikkodex (2021) Folgendes einfordert: „Pflegefachpersonen sind persönlich zuständig und verantwortlich für eine ethische Pflegepraxis (…)“ (ICN 2021, S. 13), sowie: „Pflegefachpersonen tragen zu einer positiven und ethischen Arbeitsumgebung bei und setzen sich gegen unethische Praktiken und Umfelder ein“ (S. 16). Parallel dazu fordert der Ethikkodex die Pflegefachpersonen auf, Verantwortung für die eigene Kompetenzentwicklung zu übernehmen und „ihre eigene Würde, ihr Wohlbefinden und ihre Gesundheit“ wertzuschätzen (ICN 2021, S. 13). Auch in Bezug auf das Phänomen des moralischen Belastungserlebens äußert sich der für Pflegefachpersonen weltweit maßgebliche ethische Orientierungsrahmen indem er festhält: „Pflegefachpersonen und Führungspersonen in der Pflege wenden ethische Verhaltensweisen an und entwickeln Strategien, um in aufkommenden Krisen wie Pandemien oder Konflikten mit moralischen Belastungen umzugehen.“ (ICN 2021, S. 17). Bereits diese Forderungen aus dem ICN-Ethikkodex – der eine allgemeinverbindliche Beschreibung der ethischen Grundhaltung und der daraus resultierenden Verpflichtungen für die Pflegefachpersonen und die Pflege darstellt – untermauern den genuinen Auftrag der Pflegefach-, aber auch der Führungspersonen in Bezug auf eine praktizierte und gelebte (Pflege-)Ethik in der Pflegepraxis. Hierbei handelt es sich stets um eine geteilte Verantwortung zwischen den Pflegefach- und den Führungspersonen. Das Verständnis von Pflegeethik wäre zu kurz gefasst, würde man die damit verbundenen An- und Herausforderungen nicht zugleich in die professionellen wie auch in die organisatorischen, institutionellen und strukturellen Rahmenbedingungen verantwortungsvoll und nachhaltig einbinden2. Es geht also nicht um eine isoliert zu betrachtende, spezifische Anforderung an die Pflegefachpersonen als alleinige Adressat*innen, vielmehr geht es stets auch darum, dass Führungspersonen (in den Organisationen der pflegeberuf-
1 Hierzu z. B.: Weiste et al. (2023); Salari et al. (2022); Nikunlaakso et al. (2022); Semler (2023); Corradi-Perini et al. (2021). 2 Hierzu: Storaker et al. (2022); Koskenvuori et al. (2019); Asgari et al. (2019); Numminen et al. (2015); Suhonen et al. (2011).
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lichen Bildung, der pflegeprofessionellen Berufsausübung aber auch der berufsständischen/ -politischen Vertretung) verantwortungsvoll, aufmerksam und sensibel die moralischen Herausforderungen, ethischen Konflikte und Kontextfaktoren in Bezug auf (potenzielles) moralisches Belastungserleben der Pflegefachpersonen wahrnehmen, als solche zeitnah identifizieren und entsprechend zielgerichtet intervenieren3. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie eine menschenrechtsorientierte Pflegepraxis unter den aktuellen Bedingungen in einer Organisation realisiert werden kann, welche Rahmenbedingungen und Voraussetzungen seitens der Führungspersonen hierfür eröffnet werden müssen (Riedel und Lehmeyer 2022; Albisser Schleger 2022; Goldbach et al. 2022; Woellert 2022) und welche Interventionen erfolgen sollten, um moralisches Belastungserleben der Pflegefachpersonen zu präventieren bzw. zu reduzieren und in diesem Zusammenhang die moralische Integrität der Pflegefachpersonen zu erhalten bzw. zu stärken (Morley et al. 2021; Riedel et al. 2022). Es wird deutlich, dass moralisches Belastungserleben kein Thema ist, das negiert oder ignoriert werden kann, insbesondere dann nicht, wenn es das Ziel ist, Pflegefachpersonen kompetent, aber auch gesund und zufrieden im Beruf zu erhalten, eine menschenrechtsorientierte Pflege abzusichern und die Arbeits- und Pflegequalität zu gewährleisten. Das vorliegende Buch möchte einen Beitrag dazu leisten, für das Thema, für die Entstehung des moralischen Belastungserlebens und seine Einflussfaktoren zu sensibilisieren sowie zugleich konkrete Anregungen zum professionellen und aktiven Umgang mit moralischem Belastungserleben sowie zur moralischen Entlastung aufzeigen. Das vorliegende Buch weist in seiner Konzeption drei Teile auf • Teil I: Theoretische Hintergründe der zentralen Phänomene, Konzepte, Entstehungs- und Kontextfaktoren moralischen Belastungserlebens von Pflegefachpersonen (Kap. 1 und 2) • Teil II: Theoriebasierte und praxisorientierte Interventionen zur Prävention und Reduktion moralischen Belastungserlebens in der pflegeberuflichen Praxis (Kap. 3 bis 7) • Teil III: Notwendige Strategien der Praxis, Organisationen und (Berufs-)Politik zur nachhaltigen Prävention und Reduktion moralischen Belastungserlebens (Kap. 8 bis 10) die im Folgenden dargelegt und kontextualisiert werden. Das Buch richtet sich angesichts der vorausgehend dargelegten, komplexen und herausforderungsvollen Entwicklungen und Kontextfaktoren im Pflege- und Gesundheitswesen – sowie angesichts den damit zeitnah und
3
Vgl. hierzu: Amos und Epstein (2022); O’Donnell et al. (2022); Peng et al. 2023 ; unkeby et al. (2023); Haahr et al. (2022); Nikunlaakso et al. (2022); Asgari et al. M (2019).
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Einführung in die Bedeutsamkeit und Struktur des Buches
dringlich geforderten Interventionen und Handlungsbedarfen – insbesondere an Führungspersonen im Pflege- und Gesundheitswesen, an Lehrende in der grundständigen und akademischen Pflegeausbildung, an Studierende im Bereich der Pflege sowie an Ethikberater*innen im Pflege- und Gesundheitswesen. Gemäß dieser – überwiegend akademisch qualifizierten – Zielgruppe, verfügt das Buch über eine umfassende theoretische Hin- und Einführung (Teil I), die angesichts der Komplexität und der Aktualität des Themas, der inhärenten Konzepte und Phänomene wissenschafts- und studienbasiert erfolgt, mit vielfältigen und in diesem Kontext auch relevanten Verweisen auf einschlägige Studien und Reviews. Zugunsten der besseren Lesbarkeit finden sich diese zum Teil in den Fußnoten. Die ersten zwei Kapitel des Buches verfolgen das Ziel einer umfassenden Erläuterung und Einordnung des Phänomens selbst sowie der damit verbundenen Konzepte. Kap. 2 konturiert – aufbauend und Bezug nehmend auf Kap. 1 – modellhaft die Entstehung und Wirkung des moralischen Belastungserlebens bei Pflegefachpersonen. Die beiden einführenden Kapitel des Buches dienen der theoretischen Fundierung, aber auch der Sensibilisierung in Bezug auf die mit dem Phänomen verbundenen Implikationen, Effekte und Anforderungen. Sie bilden die relevante theoretische Grundlage für die weiteren Darlegungen. Zugleich verfolgt das Buch den Anspruch, moralisch entlastende Interventionen aufzuzeigen, sodass es nicht bei einer reinen Problemidentifikation bleibt. Teil II eröffnet in stringenter Weise konkrete, theoriefundierte Interventionen zur Prävention und Reduktion moralischen Belastungserlebens in der pflegeberuflichen Praxis, das heißt, es geht um konkrete Maßnahmen, die zur Prävention und im Umgang mit moralischem Belastungserleben unterstützend wirken. In den vorausgehenden Darlegungen zur Entstehung, aber auch zum Umgang mit moralischem Belastungserleben in Teil I der Publikation wird wiederholt die Bedeutsamkeit der Ethikkompetenz der Pflegefachpersonen erfassbar. Folglich greift das Kap. 3 die Implikationen für die Ethikbildung für Pflegefachpersonen und Führungspersonen auf. In zwei weiteren Kapiteln rücken die Perspektiven der Mitarbeitenden und der Teams in den Fokus (Kap. 4 und 5). Kap. 6 offeriert den Führungspersonen ein konkretes Instrument, das sie darin unterstützt, moralisches Belastungserleben im Kontext von Mitarbeitendengesprächen sensibel zu thematisieren und Kap. 7 verdeutlicht die Relevanz einer systematischen Implementierung von Interventionen zur Prävention und Bearbeitung moralischen Belastungserlebens von Pflegefachpersonen. In den vorausgehenden Darlegungen wird deutlich, dass es organisationsethische, settingspezifische wie auch (berufs-)politische Rahmungen erfordert – im Sinne notwendiger Strategien seitens der Organisationen, der Praxis und der (Berufs-)Politik – um eine nachhaltige Prävention und Reduktion moralischen Belastungserlebens abzusichern. In Teil III rückt zunächst die Bedeutsamkeit der Organisationsethik in den Fokus (Kap. 8). In Kap. 9 geht es um studienbasierte und settingspezifische Empfehlungen und Entlastungsvorschläge.
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Das abschließende Kapitel des Buches weitet die Perspektive auf die Verantwortlichkeiten der Berufspolitik in Bezug auf die Forderung nach entsprechenden professionsangemessenen Rahmenbedingungen und Kontextfaktoren (Kap. 10). Übergreifende Intention des Buches ist es, einen konstruktiven und langfristig professionellen wie auch verantwortungsvollen Umgang mit moralischem Belastungserleben in der Pflege anzuregen, dies im Sinne der geteilten Verantwortung der Pflegefach- und Führungspersonen, im Sinne der Kompetenzentwicklung und der Etablierung organisationsethischer Strukturen und insbesondere im Sinne einer menschenrechtsorientierten, qualitätsvollen und würdewahrenden Pflege derjenigen Menschen, die auf Hilfe und Pflege angewiesen sind. Annette Riedel Sonja Lehmeyer Magdalene Goldbach
Literatur Amos VK, Epstein E (2022) Moral distress interventions: An integrative literature review. Nurs Ethics 29(3):582–607 Albisser Schleger H (2022) Alltagsethische Fragen durch unzureichende strukturelle Rahmenbedingungen. Vorschlag für institutionelle Strukturen zur pragmatischen individual- und organisationsethischen Reflexion. In: Riedel A, Lehmeyer S (Hrsg) Ethik im Gesundheitswesen. Springer, Berlin, S 977–993 Asgari S, Shafipour V, Taraghi Z, Yazdani-Charati J (2019) Relationship between moral distress and ethical climate with job satisfaction in nurses. Nurs Ethics 26(2):346–356 BKK (2022) Literaturrecherche zum “Pflexit” – Internationale Erkenntnisse, Thesen und Schlussfolgerungen. Juni 2022 Corradi-Perini C, Rodrigues Beltrao J, de Catro Oliveira Ribeiro URV, (2021) Circumstances related to moral distress in palliative care: an integrative review. Am J Hosp Palliat Med 38(11):1391–1397 Fairchild RM (2010) Practical ethical theory for nurses responding to complexity in care. Nurs Ethics 17:353–362 Ghazanfari M et al (2022) Moral distress in nurses: resources and constraints, consequences, and interventions. Clin Ethics 17(3):265–271 Goldbach M, Lehmeyer S, Riedel A (2022) Ein bedeutsames Phänomen. Moralisches Belastungserleben von Pflegefachpersonen in der Langzeitpflege. Mabuse 47(1):75–77 Gurtner C, Spirig R, Staudacher D, Huber E (2018) Patientenbezogene Komplexität in der Pflege – kollektive Case Studies im Akutspital. Pflege 31(5):237–244 Haahr A, Norlyk A, Martinsen B, Dreyer P (2022) Nurses experiences of ethical dilemmas: a review. Nurs Ethics 27(1):258–272
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Huber E, Kleinknecht-Dolf M, Kugler C, Spirig R (2020) Kategorisierung patientenbezogener Komplexität der Pflege im Akutspital. Pflege 33(3):143–152 Huber E, Kleinknecht-Dolf M, Kugler C, Spirig R (2021) Patient-related complexity of nursing care in acute care hospitals – an updated concept. Scand J Caring and Science 35:178–195 ICN (International Council of Nurses) (2021) Der ICN-Ethikkodex für Pflegefachpersonen; überarbeitet 2021. https://www.dbfk.de/media/docs/ download/Allgemein/ICN_Code-of-Ethics_DE_WEB.pdf. Zugegriffen: 23. Dez 2022 Koskenvuori J, Numminen O, Suhonen R (2019) Ethical climate in nursing environment. A scoping review. Nursing Ethics 26:327–345 LeClaire M, Poplau S, Linzer M, Brown R, Sinsky C (2022) Compromised integrity, burnout, and intent to leave the job in critical care nurses and physicians. Crit Care Explor, 7; 4(2):e0629. https://doi.org/10.1097/ CCE.0000000000000629 Mielke J, de Geest S, Zúniga F, Brunkert T, Zullig LL, Pfadenhauer LM, Staudacher S (2022) Understanding dynamic complexity in context – Enriching contextual analysis in implementation science from a constructive perspective. Front Health Serv 2:953731. https://doi.org/10.3389/ frhs2022.953731 Morley G, Field R, Horsburgh CC, Burchill C (2021) Interventions to mitigate moral distress: a systematic review of the literature. Int J Nurs Stud 121:103984 Munkeby H, Bratberg G, Devik SA (2023) Meaning of troubled conscience in nursing homes: nurses’ lived experience. Nurs Ethics 30(1):20–31 Nikunlaakso R, Selander K, Weiste E et al. (2022) Understanding moral distress among Eldercare Workers: a scoping review. Int J of Environ Res Public Health. 29,19(15):9303 Numminen O, Leino-Kilpi H, Isoaho H, Meretoja R (2015) Ethical climate and nurse competence – newly graduated nurse’ perceptions. Nurs Ethics 22:845–859 O’Donnell C, Markey K, O’Brien B (2022) Guiding nurse managers in supporting nurses in dealing with the ethical challenge of caring. J Nurs Manag 30:2357–2361 Peng M, Saito S, Guan H, Ma X (2023) Moral distress, moral courage, and career identity among nurses: a cross-sectional study. Nurs Ethics 30(3):358–369. https://doi.org/101177/096973302211405112 Rennert D, Richter M, Kliner K (2022) Pflegefall Pflege? Ergebnisse der Beschäftigtenbefragung 2022. In: Knieps F, Pfaff H (Hrsg) Pflegefall Pflege? BKK Gesundheitsreport 2022, Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin, S 70–93 Riedel A, Lehmeyer S, Goldbach M (2022) Moralisches Belastungserleben im Gesundheits- und Pflegewesen. In: Riedel A, Lehmeyer S (Hrsg) Ethik im Gesundheitswesen. Springer, Berlin/Heidelberg, S 427–446 Riedel A, Lehmeyer S (2022) Organisationsethik in der stationären Langzeitpflege aus der Pflege heraus und mit der Pflege entwickeln – Professionelle Besonderheiten als Motiv und als intrinsische Motivation in den
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strukturierten Entwicklungs- und Implementierungsprozess einbinden. In: Riedel A, Lehmeyer S (Hrsg) Ethik im Gesundheitswesen. Springer, Berlin, S 995–1010 Salari N, Shohaimi S, Khaledi-Paveh B, Kateminia M, Bazrafshan M-R, Mohammedi M (2022) The severity of moral distress in nurses: a systematic review and meta-analysis. Philos Ethics and Humanit Med 9;17(1):13 Schmucker R (2020) Arbeitsbedingungen in Pflegeberufen. In: Jacobs K. Kuhlmey A, Greß S, Klauber J, Schwinger A (Hrsg) Pflege-Report 2019 – Mehr Personal in der Langzeitpflege – aber woher? Springer, Berlin, S 49–59 Semler LR (2023) Moral distress to moral success: Strategies to decrease moral distress. Nurs Ethics 30(1):58–70 Storaker A, Heggestad AKT, Saeteren B (2022) Ethical challenges and lack of ethical language in nurse leadership. Nurs Ethics 29(6):1372–1385 Suhonen R, Stolt M, Virtanen H, Leino-Kilpi H (2011) Organizational ethics: A literature review. Nurs Ethics 18:285–303 ver.di (Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft) (2022) Ausbildungsreport Pflegeberufe 2021 Weiste E et al (2023) Elderly Care Practitioners‘ perceptions of Moral Distress in the Work Development Discussions. Healthcare 11:291. https:// doi.org/10.3390/healthcare11030291 Woellert K (2022) Versorgungsqualität braucht Organisations- und Führungsqualität. In: Riedel A, Lehmeyer S (Hrsg) Ethik im Gesundheitswesen. Springer, Berlin, S 955–976
Inhaltsverzeichnis
Teil I Theoretische Hintergründe der zentralen Phänomene, Konzepte, Entstehungs- und Kontextfaktoren moralischen Belastungserlebens von Pflegefachpersonen 1
Moralisches Belastungserleben und moralische Resilienz . . . . 3 Annette Riedel, Magdalene Goldbach und Sonja Lehmeyer
2
Entstehung und Wirkung moralischen Belastungserlebens bei Pflegefachpersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Magdalene Goldbach, Annette Riedel und Sonja Lehmeyer
Teil II Theoriebasierte und praxisorientierte Interventionen zur Prävention und Reduktion moralischen Belastungserlebens in der pflegeberuflichen Praxis 3
Ethische Kompetenzen und lebenslange Ethikbildung . . . . . . 71 Annette Riedel, Magdalene Goldbach, Sonja Lehmeyer und Karen Klotz
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Organisationsethische Lern- und Entwicklungsprozesse in teambezogenen Arbeitsgruppen gestalten . . . . . . . . . . . . . . . Magdalene Goldbach, Annette Riedel und Sonja Lehmeyer
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Eckpunkte im Prozess der partizipativen Entwicklung eines Instrumentes zur Identifikation und Analyse der Ursachen moralischen Belastungserlebens . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Magdalene Goldbach, Annette Riedel und Sonja Lehmeyer
6
Moralisches Belastungserleben als Gegenstand von Mitarbeitendengesprächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Karen Klotz, Annette Riedel, Magdalene Goldbach und Sonja Lehmeyer
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Inhaltsverzeichnis
Implementierung von Interventionen zur Prävention und Bearbeitung moralischen Belastungserlebens von Pflegefachpersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Sonja Lehmeyer, Annette Riedel und Magdalene Goldbach
Teil III Notwendige Strategien der Praxis, Organisationen und (Berufs-)Politik zur nachhaltigen Prävention und Reduktion moralischen Belastungserlebens 8
Pflegefachpersonen moralisch entlasten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Heidi Albisser Schleger
9
Moralische Belastungen im Krankenhaus bei Pflege und Betreuung von Menschen mit geistiger und körperlicher Behinderung sowie kommunikativer Einschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Daniel Gregorowius und Ruth Baumann-Hölzle
10 Berufspolitische Verantwortung der Pflegefachpersonen . . . . 201 Karen Klotz, Annette Riedel, Magdalene Goldbach und Sonja Lehmeyer Übergreifende und Vertiefende Literatur zu den Inhalten des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
Teil I
Theoretische Hintergründe der zentralen Phänomene, Konzepte, Entstehungs- und Kontextfaktoren moralischen Belastungserlebens von Pflegefachpersonen
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Moralisches Belastungserleben und moralische Resilienz Begriffliche Darlegungen und theoretische Einordnungen zur Hinführung Annette Riedel, Magdalene Goldbach und Sonja Lehmeyer Zusammenfassung
Die COVID-19 Pandemie mit den vielfältigen ethischen Konfliktsituationen bzw. den moralisch herausforderungsvollen Situationen angesichts der pandemischen Gegebenheiten in allen Settings der Pflege, hat die Auslöser wie auch die Effekte des moralischen Belastungserlebens von Pflegefachpersonen in besonderem Maße herausgestellt. Demgegenüber ist die Notwendigkeit der Reduktion und Prävention moralischen Belastungserlebens evident und stellt folglich einen zentralen Auftrag der Führungsverantwortlichen dar, im Sinne der Pflege- und Versorgungsqualität, der Gesunderhaltung der Mitarbeitenden, der Berufszufriedenheit und Arbeitsqualität, aber auch im Sinne des Berufsverbleibs. Angesichts dessen werden die Auswirkungen des moralischen Belastungserlebens auf die und für die Pflegefachpersonen aufzeigt und
A. Riedel (*) · M. Goldbach · S. Lehmeyer Soziale Arbeit, Bildung und Pflege, Hochschule Esslingen, Esslingen, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Goldbach E-Mail: [email protected] S. Lehmeyer E-Mail: [email protected]
die Relevanz moralisch entlastender Interventionen und organisationsbezogener Konsequenzen wird herausgestellt. Da moralisches Belastungserleben ein höchst individuelles Phänomen ist, fordert es in der Folge unterschiedliche Maßnahmen der Entlastung und des Umgangs. Die moralische Resilienz – als individuelle Widerstandsfähigkeit – kann als eine Form der persönlichen Bewältigungskompetenz moralischen Belastungserlebens seitens der Pflegefachpersonen eingeordnet werden. Zu deren persönlicher Entwicklung und Stärkung bedarf es indes konkreter und dezidiert flankierender wie auch unterstützender Maßnahmen sowie eines ethischen Klimas und einer gelebten Ethikkultur. Der ein- und hinführende Beitrag konturiert das Phänomen des moralischen Belastungserlebens und das Konzept der moralischen Resilienz sowie die notwendigen lancierenden Elemente, um diese zu entwickeln und zu stabilisieren.
1.1 Einführung Moralisches Belastungserleben stellt für die Autor*innen einen Überbegriff für unterschiedliche Erlebensqualitäten der moralischen Belastung dar (moral distress, moral residue, moral injury), mit denen Pflegefachpersonen in ihrem beruflichen Handeln vielfach konfrontiert werden.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 A. Riedel et al. (Hrsg.), Moralische Belastung von Pflegefachpersonen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67049-1_1
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Dabei steht jegliche Erlebensqualität moralischen Belastungserlebens in einem engen Zusammenhang mit dem jeweils individuellen Integritätserleben der Pflegefachperson und fordert entsprechende Interventionen der Bearbeitung, der moralischen Entlastung ein, die auf den Schutz bzw. die Wiederherstellung moralischer Integrität abzielen. Gerade die COVID-19 Pandemie – mit den vielfältigen ethischen Konfliktsituationen bzw. den moralisch komplexen wie auch komplizierten Situationen angesichts der pandemischen Gegebenheiten und Forderungen in allen Settings der Pflege, aufgrund des damit einhergehenden erschwerten bzw. eingeschränkten moralischen Handlungsvermögens (vgl. Monteverde 2019) – hat die Auslöser wie auch die Effekte des moralischen Belastungserlebens von Pflegefachpersonen nochmals in besonderem Maße herausgestellt1. Die Ursachen für moralisches Belastungserleben – wie moral distress, als spezifische Erlebensqualität – wurden im Kontext der prekären Gegebenheiten und defizitären Rahmenbedingungen während der Pandemie wiederholt empirisch belegt2. Moral injury – als weitere Erlebensdimension – wurde als Phänomen im pflegerischen Kontext sowohl im Rahmen und wie auch im Nachgang der Pandemie in einem umfassenden Maße in Publikationen konturiert und in Studien untersucht3. Zu konstatieren ist indes, dass moralisches Belastungserleben nicht nur ein Phänomen der
1 Vgl.
hierzu u. a.: Monteverde (2023) Spilg et al. (2022); Riedel, P-L et al. (2022); Goldbach et al. (2021, 2022); Riedel und Lehmeyer (2022d, 2021a); Baumann-Hölzle und Gregorowius (2021, 2022). 2 Vgl. hierzu z. B.: Haslam-Larmer et al. (2023); Simonovich et al. (2022); Silverman et al. (2021); Dolgin et al. (2021); Sperling (2021); Vittone und Sotomayor (2021); Jia et al. (2021); Sperling (2021); Rushton et al. (2021a, b); Miljeteig et al. (2021); Dean (2023). 3 Vgl. hierzu z. B.: Mewborn et al. (2023); Marks et al. (2023); Dean (2023); Rusthon et al. (2022); Nelson et al. (2022); Mai et al. (2022); Benatov et al. (2022); D’Alessandro et al. (2022); Rosen et al. (2022); Hagerty und Williams (2022); Riedel et al. (2022b); Cartolovni et al. (2021); Hossain und Clatty (2021); Lesley (2021); Litam und Balkin (2021).
A. Riedel et al.
Pandemie ist. Vielfältige Studien und Reviews zeigen, dass insbesondere moral distress (aber auch moral injury) – in vielfältigen Settings der Pflege und des Gesundheitswesens – seitens der Pflegefachpersonen erlebt wird4. International liegt noch keine konsentierte Definition von moral distress vor, national fehlt es bislang an einer einheitlichen und konsentierten Übersetzung des Phänomens und seiner Implikationen5. In der Folge ist es notwendig, dass klar herausgestellt und definitorisch konturiert wird, was im jeweiligen Kontext und Sachverhalt unter moral distress (aber auch unter moral injury) verstanden und subsumiert wird. Da die Studien und Reviews zu moral distress in englischer Sprache verfasst sind und sich zudem die Ursprungsdefinition von moral distress (von Jameton 1984) in der englischsprachigen Literatur finden lässt, wird nachfolgend der englischsprachige Begriff verwendet. Auch bei den weiteren Qualitäten des moralischen Belastungserlebens (moral residue und moral injury) werden bewusst die englischsprachigen Begriffe genutzt, da die hinzugezogene Literatur überwiegend in englischer Sprache verfasst ist. Moralisches Belastungserleben ist ein höchst individuelles Phänomen. Sowohl das Erleben selbst (die Erlebensdimension) und die Ausprägung (die Erlebensqualität) wie auch die Empfänglichkeit für moralische Belastungen und die damit einhergehende Verletzung der moralischen Integrität variieren und werden von vielfältigen Faktoren beeinflusst. Hierunter fällt zum Beispiel die moralische Verfasstheit der Pflegefachperson, aber auch das ethische Klima innerhalb einer Organisation. Die vornehmlich tangierte individuelle Disposition und die ganz
4 Vgl. hierzu z. B.: Haslam-Larmer et al. (2023); Petersen und Melzer (2023); Goldbach et al. (2022); Mai et al. (2022); Midtbust et al. (2022); Nikunlaakso et al. (2022); Sarro et al. (2022); Emami Zeydi et al. (2022); Pearson (2021); Corradi-Perini et al. (2021); Atashzadeh-Shoorideh et al. (2021); Kada und Lesnik (2019); Pijl-Zieber et al. (2018); Young et al. (2017). 5 Hierzu:
Kolbe und de Melo-Martin (2022); Sperling (2022); Morley et al. (2021a); Deschenes et al. (2020); Monteverde (2019); Prentice und Gillam (2018).
1 Moralisches Belastungserleben und moralische Resilienz
persönliche Verletzbarkeit und Verletzlichkeit könnten voreilig zu der Schlussfolgerung führen, dass es die Pflegefachperson ist, die sich eigenverantwortlich vor dem Erleben moralischer Belastung schützen muss. Bedeutsam ist indes, dass die Reduktion der Integritätsverletzungen und die Stärkung im Umgang mit moralisch herausfordernden Situationen und moralischem Belastungserleben nicht ausschließlich seitens der (potenziell) Betroffenen eingefordert werden können. So kann die moralische Resilienz zwar als individuelle Widerstandsfähigkeit und in der Folge als persönliche Bewältigungskompetenz seitens der Pflegefachperson eingeordnet werden, allerdings werden für deren Entwicklung und Stärkung flankierende und unterstützende Maßnahmen benötigt. Das heißt: Moralische Resilienz fordert zugleich und in einem umfassenden Maße die verantwortlichen Leitungskräfte der Einrichtungen und Träger heraus, die entsprechenden Rahmungen für die Entwicklung und Stärkung moralischer Resilienz der Pflegefachpersonen zu eröffnen, insbesondere im Sinne eines ethischen Klimas und einer gelebten Ethikkultur. Das vorliegende Kapitel versteht sich als eine übergreifende theorie- und auch studienbasierte Einführung in die zentralen Sachverhalte des Buches. In einem ersten Schritt skizziert der Beitrag das Phänomen des moralischen Belastungserlebens (Abschn. 1.2 bis 1.3). Die Qualitäten des moralischen Belastungserlebens (moral residue und moral injury) werden hierbei in einen direkten Bezug zum moral distress gesetzt, um so die Varianz der Erlebensqualitäten erfassen zu können. Der definitorische Bezugspunkt in diesem Kapitel ist kongruent zu den Ausführungen in Kap. 2. Des Weiteren werden die Auswirkungen des moral distress auf die und für die Pflegefachpersonen aufzeigt und die Relevanz der entlastenden Interventionen und organisationsbezogenen Konsequenzen wird herausgestellt. Als zweiter wichtiger Teil dieses einführenden Abschn. (1.4 bis 1.6) wird die moralische Resilienz theoriefundiert dargelegt und definitorisch gerahmt. Diese Ausführungen sind sodann die Grundlage für die parallel zu ent-
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wickelnden resilienzförderlichen und moralisch entlastenden Interventionen bzw. Angebote auf der organisationsethischen Ebene. Folglich hat dieses Kapitel neben einer einführenden Funktion zugleich eine Scharnierbildende Funktion zwischen den übergreifenden Darlegungen zum moralischen Belastungserleben und den damit notwendigerweise verbundenen Interventionen. Das Augenmerk auf das moralische Belastungserleben der Pflegefachpersonen und auf die dringend indizierten und notwendigen Maßnahmen der Prävention, Bearbeitung und Entlastung richtend, stehen konsequent das Wohl der Pflegefachpersonen sowie deren moralische und professionelle Integrität wie auch die Qualität der Pflege und folglich das Wohl der pflegebedürftigen Menschen im Mittelpunkt; es geht um Berufszufriedenheit, aber auch um Berufsverbleib, es geht um Versorgungsqualität und Versorgungssicherheit.
1.2 Erlebensqualitäten moralischer Belastung Pflegefachpersonen kommt eine umfassende moralische Verantwortung zu. Außerdem fordert professionelles Pflegehandeln per se moralisches Handlungsvermögen, denn jegliche Pflegesituation hat einen moralischen Gehalt und jegliches Pflegehandeln hat eine situative moralische Dimension, die per se ein ethisch begründetes Handeln einfordert. Nicht immer können Pflegefachpersonen gemäß dem pflegeberuflich grundgelegten moralischen Kompass entscheiden und handeln. Sowohl die Gegebenheit, sich nicht an den gültigen ethischen Werten orientieren zu können, aber auch der Umstand, die moralische Verantwortung für Entscheidungen übernehmen zu müssen bzw. Entscheidungen mittragen zu müssen, die nicht mit dem professionellen Werteverständnis bzw. moralischen Kompass kongruent sind, wie auch die eigene Erkenntnis, die situative professionelle moralische Verantwortung nicht realisieren zu können, führen zu moralischem Belastungserleben. Moralisches Belastungserleben wird demnach wie folgt definiert:
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Definition Moralisches Belastungserleben, als subjektives Erleben, entsteht in der situativen und/ oder retrospektiven Bezugnahme zum subjektiven Erleben und individuellen Handeln in der Konfrontation bzw. im Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen, die wiederum von der persönlichen und professionellen Verfasstheit der Pflegefachperson wie auch durch die kontextuellen Rahmenfaktoren geprägt sind. Moralisches Belastungserleben kann unterschiedliche Erlebensqualitäten annehmen, die sich durch eine jeweils spezifische Ausprägung der Erlebenscharakteristika des moralischen Integritätserlebens und des erfahrenen moralischen Unbehagens auszeichnen. Die unterschiedlichen „Grade“ des moralischen Belastungserlebens werden als „Qualitäten“ bzw. als „Erlebensqualitäten“ bezeichnet. Dies soll verdeutlichen, dass das subjektive Erleben der moralischen Belastung wie auch der Charakter des Erlebens in seinen unterschiedlichen Formen (moral distress, moral residue, moral injury) variiert und sich das Erleben selbst in den je individuellen emotionalen aber auch psychischen und physischen Ausdrucksformen unterschiedlich darstellt (Riedel et al. 2022a; Riedel und Lehmeyer 2022d, 2021a). Das heißt, moralisches Belastungserleben wird hier übergreifend verstanden, als situatives subjektives Erleben und/oder Erfahren der Pflegefachpersonen in moralisch herausfordernden Situationen und in Situationen moralischer Verunsicherung nicht gemäß der moralischen Verantwortung und gemäß den ethischen Verpflichtungen entscheiden und/oder handeln zu können. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn • die Rahmenbedingungen ein solches Handeln nicht zulassen oder • die Aufforderung dahingehend besteht, die ethisch-normativen professionellen Verpflichtungen zu verletzen (aktiv und/oder passiv) oder • in moralisch komplexen Situationen gehandelt werden muss, in denen die Werteorientierung nicht klar ist bzw. es uneindeutig bleibt, welche Werte situativ gelten/wirksam werden,
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sodass die moralische Integrität der involvierten Pflegenden – als genuin persönliche moralische Verfasstheit – in der Folge bedroht ist oder als verletzt erlebt wird. Das heißt, „das persönliche moralische Integritätserleben der Pflegefachperson wird beeinflusst durch die subjektive Bewertung der moralischen Angemessenheit des eigenen Handelns vor dem Hintergrund der situativen moralischen Verantwortung und beeinflusst wiederum die situationsassoziierte empfundene Qualität des moralischen Belastungserlebens“ (Riedel et al. 2022a). Die Verletzung der moralischen Integrität hat das Potenzial, moral distress – als spezifische Erlebensqualität des moralischen Belastungserlebens – zu erzeugen6. Oder anders formuliert: Die erfahrene Verletzung der moralischen Integrität kann als ein zentrales Charakteristikum von moral distress bezeichnet werden (Campbell et al. 2018; Spilg et al. 2022; Caram et al. 2022). Deutlich ist: Die Erlebensqualität moralischen Belastungserlebens steht in einem engen Zusammenhang mit dem jeweils individuellen Integritätserleben der Pflegefachperson und fordert entsprechende Interventionen der moralischen Entlastung ein, die auf den Schutz, die Stabilisierung bzw. die Wiederherstellung moralischer Integrität abzielen. Als exemplarische spezifische Erlebensqualität des moralischen Belastungserlebens liegt das Hauptaugenmerk zunächst auf dem moral distress. Aufgrund der Varianz der definitorischen Darlegungen des Phänomens wird eine Grundlegung herausgearbeitet. Übergreifend geht es darum, denn Stellenwert des Phänomens im pflegeberuflichen Alltag herauszustellen und hinsichtlich der gebotenen Aufmerksamkeit für das damit verbundene belastende Erleben und die notwendigen Konsequenzen zu sensibilisieren. Moral distress ist ein international etabliertes und theoretisch fundiertes Phänomen (Morley et al. 2023; Corley 2021; Jones-Bonofiglio 2020; Monteverde 2019; Ulrich et al. 2018;
6 Hierzu: Prentice und Gillam (2018); Sastrawan et al. (2019); Riedel et al. (2022a); Epstein und Delgado (2010).
1 Moralisches Belastungserleben und moralische Resilienz
McCarthy und Monteverde 2018), das im Rahmen von Reviews und Studien wiederholt definitorisch gefasst und (neu) gerahmt wird7, das in spezifischen pflegebezogenen Kontexten empirisch konturiert und als Phänomen belegt8 und in Messinstrumenten hinterlegt ist9. Moral distress wird unter kulturellen und globalen Gesichtspunkten analysiert (vgl. z. B. Alimoradi et al. 2023; Prompahakul et al. 2021) und inzwischen vermehrt über die Pflege hinausgehend präzisiert10. Die Definitionen von moral distress variieren von sehr engen Darlegungen, die sich vielfach an die ursprüngliche Definition von Jameton aus dem Jahr 1984 anlehnen, bis zu erweiterten bzw. neu ausgerichteten Konturierungen. Gemäß Jameton tritt moral distress dann auf, wenn „one knows the right thing to do, but institutional constraints make it nearly impossible to pursue the right course of action“ (Jameton 1984, S. 6). Insbesondere in der COVID-19 Pandemie wurde der Zusammenhang zwischen bestehenden Kontext- und Rahmenfaktoren, den damit verbundenen Implikationen und dem moral distress der Pflegefachpersonen eindrücklich beschrieben11. So formulieren zum Beispiel
7 So zum Beispiel bei: Epstein und Hamric (2009); Lamiani et al. (2017); Fourie (2017); McCarthy und Gastmans (2015); Oh und Gastmans (2015); Jameton (2013); Morley et al. 2023; Morley et al. (2021a), Morley et al. (2019, 2020); McCarthy und Monteverde (2018); Musto und Rodney (2018); Campbell et al. (2018); Sanderson et al. (2019); Deschenes et al. (2020); Caram et al. (2022). 8 Wie z. B. bei: Weiste et al. (2023); Haslam-Larmer et al. (2023); Semler (2023); Salari et al. (2022); Midtbust et al. (2022); Nikunlaakso et al. (2022); Sarro et al. (2022); Emami Zeydi et al. (2022); De Brasi et al. (2021); Corradi-Perini et al. (2021); Jansen et al. (2020); Arnold (2020); Helmers et al. (2020); Maffoni et al. (2019); Young et al. (2017). 9 Z. b.: Kolbe und Melo-Martin (2022); Tian et al. (2021); Giannetta et al. (2020); Epstein et al. (2019); Awosoga et al. (2018). 10 Hierzu: Prentice und Gillam (2018); Sastrawan et al. (2019); Kherbache et al. (2022); Riedel et al. (2022a); Kühlmeyer et al. (2020); Epstein und Delgado (2010). 11 Z. b.: Hinzmann et al. (2023); Vig (2022); Miljeteig et al. (2021); Vittone und Sotomayor (2021); Sukhera et al. (2021); Dolgin et al. (2021).
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Hossain und Clatty (2021, S. 27): „The ethical dilemmas mentioned above, alone or in combination, can lead to severe moral distress. Moral distress occurs, when a person acts in a way that goes against an established ethical and moral response to a situation. Institutional and structural limitations have placed nurses in positions where they must make a series of decisions, shift after shift, minute by minute, which run counter to their training, responsibilities, and, often, personal beliefs. Repeatedly, these decisions are made knowing, they do not best serve a particular patient.“ Weniger deutlich wird in diesen beiden, vornehmlich situations- und kontextbezogenen definitorischen Ausrichtungen die Qualität des subjektiven situativen Erlebens der Pflegefachperson selbst. Aus der Überzeugung heraus, dass moral distress nicht alleine dadurch reduziert, bearbeitet oder auch präventiert werden kann, dass sich die (institutionellen) Kontextund Rahmenfaktoren verändern – wenngleich aufgrund deren Einfluss auf das moralische Handlungsvermögen hierin ein zentraler Interventionsansatz liegt – sondern parallel das Augenmerk auf die Pflegefachperson mit ihrer moralischen Verantwortung, mit ihren moralischen Überzeugungen und ihrer moralischen Integrität gerichtet werden muss, ist die subjektive Erlebensperspektive der Pflegefachperson in einer definitorischen Grundlegung von moralischem Belastungserleben evident. Dies auch angesichts dessen, dass unserer Überzeugung nach unter der höchst individuellen Erlebensdimension der Pflegefachperson im Kontext der Konfrontation und im Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen insbesondere drei Facetten verstanden werden (Riedel et al. 2022a): • das Erleben ihres Selbst in Bezugnahme zum moralischen Gehalt der Situation • das Erleben ihres Selbst in Bezug auf ihr situatives Handlungsvermögen entsprechend ihrer moralischen Verantwortung und ihrer damit verbundenen antizipierten sowie erlebten Selbstwirksamkeit in moralisch gehaltvollen Situationen
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• das Erleben ihres Selbst in Bezugnahme zu den die Situation beeinflussenden kontextuellen Rahmenfaktoren Rückt die Aufmerksamkeit auf die Entstehung und Wirkung des individuellen moralischen Belastungserlebens im Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen wie auch hinsichtlich der subjektiven Bewertung der moralischen Angemessenheit des Handelns und in der Folge auch auf die individuelle situative Erlebensdimension, so erlangt zugleich das persönliche moralische Integritätserleben als ein Erlebenscharakteristikum an Bedeutsamkeit. In der Folge erscheint uns eine Definition von moral distress als angemessen, die diese Elemente mit aufgreift. Denn erst wenn auch die subjektiven Formen des Erlebens der Pflegefachperson – in der Konfrontation mit moralisch gehaltvollen Situationen und in der situativen oder retrospektiven Bezugnahme zum subjektiven Erleben und individuellen Handeln – eine dezidierte Aufmerksamkeit erlangen, können passgenaue Interventionen abgeleitet werden, die sich auf die Erlebensdimension wie auch auf die Handlungsdimension der Pflegefachperson ausrichten und die persönliche wie professionelle Verfasstheit der Person positiv beeinflussen. Die Bezugnahme auf das Erleben selbst und auch auf die Integrität greift die Definition von Prentice und Gillam (2018) auf, die aus unserer Perspektive eine wichtige Ergänzung zu der Bezugnahme auf die restriktiven oder unzureichenden Rahmenbedingungen darstellt. Prentice und Gillam (2018, S. 265) definieren moral distress wie folgt: „Moral distress […] is the feeling that one has failed to act according to one’s moral conviction. It strikes at one’s integrity and threatens one’s fulfilment of professional obligations to act in a patient’s best interest“ (Prentice und Gillam 2018, S. 265). Das heißt zusammenfassend: Moral distress wird dann erlebt, wenn Pflegefachpersonen nicht moralisch angemessen und entsprechend ihrer professionellen moralischen Verantwortung agieren können. Dies geht mit der Erschütterung des professionellen Kompasses einher, erzeugt ein Höchstmaß an moralischem Unbehagen und
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reduziert in der Folge die moralische Integrität der Pflegefachperson. Das heißt auch: Das subjektive Erleben von moral distress verweist auf die Verletzung der individuellen moralischen Integrität der Pflegefachperson. Zugleich sind folgende Auswirkungen in Bezug auf zukünftige Situationen mit moralischem Gehalt zu beachten: Das subjektive moralische Belastungserleben wird von den Pflegefachpersonen nicht nur in der Situation selbst erlebt, sondern wirkt – bei einer retrospektiven reflexiven Bezugnahme auf die entsprechende Situation mit moralischem Gehalt – zugleich auf die persönliche und professionelle Verfasstheit, im Sinne der moralischen Verfasstheit der Pflegefachperson. In der Folge nimmt das Erleben Einfluss auf die nachfolgenden Konfrontationen mit moralisch herausfordernden, moralisch gehaltvollen Situationen und den damit einhergehenden ethischen Entscheidungserfordernissen wie auch auf das zukünftige moralische Handlungsvermögen. Zugleich kann durch die reflexive Bezugnahme auf die situativ erlebte moralische Belastung auch eine reaktive Belastung erfolgen, die als moral residue – als eine weitere Erlebensqualität des moralischen Belastungserlebens – bezeichnet wird, d. h. ein sich Aufstauen moralisch belastender Erfahrungen und Emotionen12. Diesen Mechanismus bezeichnen Epstein und Hamric (2009) als den „crescendo-effect“: „Each significant morally distressing situation adds to previous levels of moral residue that may result in a crescendo effect, a gradual increase in moral distress levels over time“ (Epstein et al. 2019, S. 11413). Ergänzend dahingehend, was die spezifische Qualität des subjektiven Belastungspotenzials für die jeweils erlebende Person betrifft, wird an dieser Stelle die definitorische Rahmung von moral residue der beiden Philosophen Webster
12 Hierzu: Morley et al. (2021a); Campbell et al. (2018); Lachmann (2016); Epstein und Delgado (2010); Riedel et al. (2022a); Riedel und Lehmeyer (2022d) (2021a); Corley (2021); Kherbache et al. (2022); Laabs (2011). 13 Vgl. hierzu auch: Epstein und Hamric (2009); JonesBonofiglio (2020); Riedel et al. (2022a); Caram et al. (2022).
1 Moralisches Belastungserleben und moralische Resilienz
und Baylis (2000, S. 218) ausgeführt. Sie charakterisieren moral residue als „… that which each of us carries with us from those times in our lives when in the face of moral distress, we have seriously compromised ourselves or allowed ourselves to be compromised. These times are usually very painful because they threaten or sometimes betray deeply held and cherished beliefs and values. They are usually also lasting and powerfully concentrated in our thoughts; hence the term moral residue.“ (in: Bennett und Chamberlin 2013, S. 153–154). Moral injury stellt neben dem moral distress und dem moral residue eine weitere Erlebensqualität dar. Untersuchungen dazu wurden insbesondere im Verlauf und im Nachgang der COVID-19 Pandemie publiziert14. Aber auch unabhängig von der Pandemie ist diese Form des moralischen Belastungserlebens im Gesundheitswesen angekommen (Dean et al. 2019; Jones-Bonofiglio 2020; Currier et al. 2020) Rushton et al. stellen den Zusammenhang zwischen moral distress und moral injury z. B. wie folgt dar: „When moral distress is unrelieved or becomes chronic, or the intensity of it overwhelms a person’s capacity to remain whole, it can lead to more severe forms of moral suffering, such as moral injury“ (Rushton et al. 2021a, b, S. 121). Beide Erlebensqualitäten sind in einem Bezugsrahmen – mit einerseits sich klar abgrenzenden und andererseits in Wechselwirkung stehenden sowie sich überschneidenden Elementen – zu konzeptualisieren (Rushton et al. 2021a, b; Cartolovni et al. 2021; Grimell und Nilsson 2020). So ist zum Beispiel die verletzte moralische Integrität für beide Erlebensqualitäten signifikant. Demgegenüber unterscheiden sie sich in den auslösenden Faktoren der jeweiligen moralischen Belastung. So differenzieren z. B.
14 Z. b.: Marks et al. (2023); Rushton et al. (2022a, b); Nelson et al. (2022); Cahill et al. (2022); Benatov et al. (2022); Hagerty und Williams (2022); D’Alessandro et al. (2022); Rosen et al. (2022); Dean et al. (2021); Cartolovni et al. (2021); Hossain und Clatty (2021); Vittone und Sotomayor (2021); Rushton 2021; Lesley (2021).
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Cartolovni et al. (2021, S. 597): „moral distress emerges from moral conflict in morally distressing situations“, während moral injury „emerges from potentially morally injurious events“. Bezogen auf die variierenden individuellen emotionalen Konsequenzen unterscheiden Cartolovni et al. (2021): moral distress resultiert in „a psychological disequilibrium and negative feeling state“ und moral injury führt zu „a deep emotional wound unique to those who bear witness to human suffering and/or cruelty“ (Cartolovni et al. 2021, S. 597). Bereits in diesen skizzierenden Darlegungen werden die unterschiedlichen Erlebensqualitäten moralischer Belastung erfassbar (Riedel et al. 2022a; Riedel und Lehmeyer 2022d, 2021a).
Zusammenfassung:
Jegliche Erlebensqualität moralischen Belastungserlebens steht in einem engen Zusammenhang mit dem jeweils individuellen Integritätserleben der Pflegefachperson und fordert entsprechende Interventionen der Bearbeitung und der moralischen Entlastung ein, die auf den Schutz bzw. die Wiederherstellung moralischer Integrität abzielen. Die dargelegten Qualitäten des moralischen Belastungserlebens sind zu reduzieren und zu präventieren, da sie mit einschneidenden Erfahrungen und Auswirkungen auf die Pflegefachpersonen verbunden sind und langfristige Konsequenzen nach sich ziehen. Es geht in Bezug auf die Interventionen um die Bearbeitung, um die moralische Entlastung und um die Prävention von moral distress, moral residue und moral injury als spezifische Erlebensqualitäten, aber auch um die Stabilisierung bzw. Wiederherstellung und den möglichst langfristigen Schutz der moralischen Integrität. Durch die Konsolidierung der persönlichen und professionellen Verfasstheit sollen Pflegefachpersonen für die zukünftige Konfrontation mit moralisch gehaltvollen Situationen ermutigt und gestärkt werden. ◄
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1.3 Auswirkungen auf die Pflegefachpersonen und notwendige Konsequenzen Im Folgenden liegt das Augenmerk auf den in der Literatur beschriebenen Auswirkungen des moralischen Belastungserlebens, den Konsequenzen und empfohlenen Interventionen zur moralischen Entlastung. Diesbezüglich gibt es keine Hierarchisierung, da die Auswirkungen des Erlebens moralischer Belastung von vielfältigen Kontextfaktoren und Rahmenbedingungen wie auch von der je ganz individuellen persönlichen und professionellen Verfasstheit der Pflegefachperson abhängen (Deschenes et al. 2020). Bezüglich der passgenauen Interventionen sind diese in einem ersten Schritt an den auslösenden Faktoren der Erlebensqualität und den je spezifischen und höchst individuellen Auswirkungen des moralischen Belastungserlebens auszurichten. Zugleich muss sich die jeweils passgenaue Maßnahme zur moralischen Entlastung insbesondere an der Pflegefachperson und zugleich an den Strukturen, Gegebenheiten, Defiziten und Rahmenbedingungen der Einrichtung orientieren und entsprechend konstituieren. Die Prävention des moralischen Belastungserlebens betreffend ist ein breites Spektrum der aufgezeigten Maßnahmen empfehlenswert. Die skizzierten Auswirkungen der spezifischen Erlebensqualitäten des moralischen Belastungserlebens sollen den dringenden Handlungsbedarf verdeutlichen und den Handlungsdruck in Bezug auf die entlastenden Interventionen erhöhen, im Sinne einer geteilten Verantwortung. Diese adressiert stets die Pflegefachpersonen und die Führungsverantwortlichen in den Einrichtungen, Diensten und Trägern (Deschenes et al. 2020). Denn: Der individuelle Umgang der Pflegefachperson mit ihrem persönlichen moralischen Belastungserleben ist stets auf die Angebote, Rahmenbedingungen und Strukturen der jeweiligen Einrichtung angewiesen, für die sich wiederum die jeweilige Führungsperson aktiv einsetzen und diese umsetzen muss. Zugleich bedarf es der ethischen Sensibilität der Führungsverantwortlichen, u. a. für die genuin ethischen Herausforderungen und die Situationen
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mit moralischem Gehalt, mit denen die Pflegefachpersonen tagtäglich in unterschiedlicher Komplexität konfrontiert sind – auch in der dezidierten Abgrenzung zu genuin pflegefachlichen Herausforderungen –; dementsprechend ist die Notwendigkeit fundierter Ethikkompetenzen der Führungspersonen evident (Storaker et al. 2022; Faraco et al. 2022; Blomqvist et al. 2023, 2022). Die nachfolgend dargelegten Auswirkungen des moralischen Belastungserlebens auf die Pflegefachpersonen wie auch die ausgeführten Maßnahmen zur Bearbeitung, Reduktion und Prävention differenzieren nicht zwischen den Erlebensqualitäten. Dies angesichts dessen, dass sich die je ganz individuellen Reaktionen vor dem Hintergrund des persönlichen Erlebens moralischer Belastungen formieren und sich weniger an der Qualität des Erlebens ausrichten (moral distress, moral residue oder moral injury), sondern sich vielmehr aus diesen heraus begründen. So können zum Beispiel sowohl moral distress als auch moral injury – als zwei spezifische Qualitäten des moralischen Belastungserlebens – zu Burnout, als ein spezifisches Syndrom (Erschöpfung, emotionale Distanz) führen.15 Es handelt sich bei der Erlebensqualität und der Reaktion um unterschiedliche Phänomene (Sarro et al. 2022; Rosen et al. 2022; Dean et al. 2021; Dzeng und Wachter 2019). Die subjektiven Auswirkungen des moralischen Belastungserlebens beeinträchtigen in einem erheblichen Ausmaß das psychische und physische Wohlbefinden, die Gesundheit der Betroffenen und können bis hin zu BurnoutSyndromen führen.16 Ein weiterer, in Studien
15 Vgl. hierzu z. B.: Burston und Tuckett (2012); Dzeng und Wachter (2019); Kok et al. (2021); Greenberg et al. (2020); Mai et al. (2022); Sarro et al. (2022); Dean (2023). 16 Vgl. hierzu: Spilg et al. (2022); Mai et al. (2022); Emami Zeydi et al. (2022); Riedel et al. (2022b); Hagerty und Williams (2022); Jia et al. (2021); Morley et al. (2021a, b); Vittone und Sotomayor (2021); Hossain und Clatty (2021); Rushton et al. (2021a, b); Kok et al. (2021); Antonsdottir et al. (2022, 2021); Jones-Bonofiglio (2020); Deschenes et al. (2020); Simha und Pandey (2021); Burston und Tuckett (2012); Dean (2023).
1 Moralisches Belastungserleben und moralische Resilienz
wiederholt dargelegter Effekt ist die Reduktion der moralischen Sensibilität.17 In der Versorgung der Patient*innen und Bewohner*innen führt moralisches Belastungserleben zu Qualitätseinbußen in der professionellen Pflege, Versorgung und Begleitung.18 Ein weiterer in der Literatur beschriebener Effekt ist die Berufsunzufriedenheit, die bis zu einem Berufsausstieg führen kann.19 Die genannten Effekte der Qualitätseinbußen und Berufsunzufriedenheit, des Burnout-Syndroms und der potenziell damit verbundene Berufsausstieg der Pflegefachpersonen entwickeln sich in der Kombination zu einer für die Versorgungssituation pflegebedürftiger Menschen prekären Gemengelage, die einer menschenrechtskonformen Pflege entgegensteht und diese langfristig und nachhaltig gefährdet. Deutlich ist, dass sich die Ursachen und die Folgen des moralischen Belastungserlebens insbesondere in zwei Kategorien unterteilen lassen (Burston und Tuckett 2012; Deschenes et al. 2020; Nelson et al. 2022): • die Pflegefachperson selbst betreffend und • die Institution bzw. das Versorgungssystem, die Rahmenbedingungen, Strukturen und Prozesse betreffend Deschenes et al. (2020) sprechen übergreifend von zwei Merkmalsausprägungen zur Entstehung und Ausprägung von moral distress: interne (internal: „unique to each individual“ (S. 1141)) und externe (external: „outside of the individual“ (S. 1141)).
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Die Interventionen zur Bearbeitung, Reduktion und Prävention moralischen Belastungserlebens adressieren zum einen die Pflegefachpersonen, parallel dazu müssen zum anderen die unterstützenden und förderlichen Maßnahmen und Rahmenbedingungen auf der Ebene der Institution/des Trägers geschaffen werden, auf die die Maßnahmen der Pflegefachpersonen vielfach angewiesen sind (Emami Zeydi et al. 2022; Deschenes et al. 2021). Beide Perspektiven werden nachfolgend – im Sinne der Konkretion potenzieller Einzelmaßnahmen – differenziert dargestellt, wenngleich in der Praxis die einzelnen Maßnahmen angesichts der beschriebenen Wechselwirkung (zwischen Pflegefachpersonen und Institutionen) zumeist nicht getrennt voreinander realisiert bzw. implementiert werden können und sollten. Die Pflegefachpersonen betreffend werden in der Literatur u. a. folgende Maßnahmen ausgeführt: • Stärkung der moralischen Integrität20 • Anwendung unterstützender Instrumente/ Tools (z. B. AACN (o. J.): „The 4 A’s to rise above moral distress“21 • E t h i k b i l d u n g / E t h i k k o m p e t e n z e n t wicklung22 – Stärkung des moralischen Mutes23 – Stärkung moralischer Resilienz24
20 Vgl. hierzu: Spilg et al. (2022); Caram et al. (2022); Rushton (2018a); Sala Defilipppis et al. 2020; Burston und Tuckett (2012). 21 Vgl. hierzu: Salari et al. (2022); Emami Zeydi et al. (2022); Amos und Epstein (2022); Epstein und Delgado (2010); Rushton (2006).
17 Vgl.
hierzu: Emami Zeydi et al. (2022); Sedghi Goyaghaj et al. (2022); Caram et al. (2022); Hossain und Clatty (2021); Mert et al. (2021). 18 Vgl. hierzu: Caram et al. (2022); Emami Zeydi et al. (2022); Cousins et al. (2021); Deschenes et al. (2020); Burston und Tucket (2012). 19 Vgl. hierzu: Peng et al. 2023 (2022); Emami Zeydi et al. (2022); Riedel et al. (2022b); Morley et al. (2021a, b); Naboureh et al. (2021); Jones-Bonofiglio (2020); Dzeng und Wachter (2020); Lamiani et al. (2017); Burston und Tuckett (2012); Dean 2023.
22 Vgl.
hierzu: Salari et al. (2022); Amos und Epstein (2022); Caram et al. (2022); Emami Zeydi et al. (2022); Konings et al. (2022); Morley et al. (2021a, b); Hauhio et al. (2021); Burston und Tuckett (2012). 23 Vgl. hierzu: Peng et al. 2023 (2022); Konings et al. (2022); Riedel und Lehmeyer (2022d, 2021a); Hauhio (2021); Kleemola et al. (2020); Gibson et al. (2020); Numminen et al. (2017). 24 Vgl. hierzu: Spilg et al. (2022); Wald und Monteverde (2021); Hossain und Clatty (2021); Antonsdottir et al. (2022, 2021); Rushton (2018b, c).
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Auf der Ebene der Institution bzw. des Trägers und die Aufforderung dahingehend, entsprechende Interventionen anzubahnen und zu realisieren, werden in der Literatur u. a. folgende Maßnahmen ausgeführt:
A. Riedel et al.
– sowie zur Stabilisierung und Stärkung der moralischen Resilienz29
26 Vgl. hierzu: Epstein et al. (2023); Amos und Epstein (2022); Cahill et al. (2022); Salari et al. (2022); Riedel und Lehmeyer (2022a); Emami Zeydi et al. (2022); Koonce und Hyrkas (2022); Morley et al. (2021a, b); Helmers et al. (2020); Burston und Tuckett (2012); Dean (2023) ; Epstein und Hurst (2017). 27 Vgl. hierzu: Hinzmann et al. (2023); Salari et al. (2022); Faraco et al. (2022); Koonce und Hyrkas (2022); Kherbache et al. (2022); Riedel und Lehmeyer (2022a, 2022c) (2021b, 2022a); Helmers et al. (2020); Sanderson et al. (2019); Dean et al. (2019); Koskenvuori et al. (2019); Walton (2018); Rushton und Sharma (2018); Epstein et al. (2019); Dean (2023) ; Burston und Tuckett (2012).
Unverkennbar fordert die Vielfalt der Auswirkungen des moralischen Belastungserlebens ein breites Spektrum an Interventionen und Angeboten zur Bearbeitung, Reduktion und Prävention des höchst subjektiven Phänomens. Die Komplexität und die Subjektivität des moralischen Belastungserlebens – sowohl in Bezug auf die wirkenden Faktoren, die zum Erleben einer moralischen Belastung führen, als auch in Bezug auf die Varianz des Erlebens und der damit einhergehenden Effekte und Konsequenzen für die jeweilige Pflegefachperson – führen zu der Herausforderung einer passgenauen individuellen Intervention. Die Subjektivität, die Komplexität und die Varianz der Wirkfaktoren und Effekte sind voraussichtlich auch der Grund dafür, dass bis dato keine Standardintervention und kein Standardpräventionsprogramm existieren (Deschenes et al. 2021) und es diese möglicherweise auch nicht geben kann. Die dargelegten Interventionen sind settingunabhängig umsetzbar. Ein breites Spektrum an Interventions- und Präventionsangeboten in der jeweiligen Einrichtung hat angesichts der dargelegten Komplexität und Subjektivität des Phänomens indes das Potenzial, eine größere Anzahl von Pflegefachpersonen mit ihrem je individuellen Belastungserleben zu erreichen und Entlastung zu ermöglichen (Amos und Epstein 2022; Deschenes et al. 2021). Denn, so wurde deutlich, das je subjektive moralische Belastungserleben erfordert ein hohes Maß an Flexibilität und Sensitivität für die höchst individuellen Bedürfnisse und Bedarfe der einzelnen moralisch belasteten Pflegefachperson (Morley et al. 2021b). Möglicherweise realisieren Einrichtungen im Pflege- und Gesundheitswesen bereits einzelne der genannten Interventionen. In diesem Falle ist zu evaluieren, inwieweit die Reduktion und Prävention des moralischen Belastungserlebens im Blick ist bzw. in konstruktiver Weise erfolgt
28 Vgl. hierzu: Amos und Epstein (2022); Emami Zeydi et al. (2022); Peng et al. 2023 (2022); Lesley (2021); Riedel und Lehmeyer (2022a, b, d)(2021a, 2022a, b); Morley et al. (2021a, b); Burston und Tucket (2012); Dean (2023)
29 Vgl. hierzu: Spilg et al. (2022); Jin et al. (2022); Cartolovni et al. (2021); Riess (2021); Gallagher (2020).
• Die Förderung der Sensibilität (auch der Führungspersonen) für das moralische Belastungserleben, deren Identifikation und Artikulation25 • Die Ermöglichung systematisierter ethischer Reflexion, Reflexion moralischer Überzeugung und Haltung; Ermöglichung der kollegialen Beratung; Eröffnen eines vertrauensvollen Gesprächsrahmens, Entwicklung von Teamstrategien26 • Das Stigma im Kontext des moralischen Belastungserlebens in der Einrichtung/ dem Dienst zu reduzieren (Jin et al. 2022) • Den Rahmen für die Entwicklung und Anwendung ethischer Orientierungshilfen schaffen (Riedel 2022) • Die Sicherstellung organisationsethischer Strukturen, einer gelebten Ethikkultur und eines ethischen Klimas27 • Die Sicherstellung regelmäßiger Fortund Weiterbildungsangebote und entsprechender Rahmenbedingungen – zur Entwicklung und Vertiefung ethischer Kompetenzen28 25 Vgl.
hierzu: Jin et al. (2022); Ghahremani et al. (2022); De Brasi et al. (2021); Dean (2023).
1 Moralisches Belastungserleben und moralische Resilienz
oder erfolgen kann. Darüber hinaus ist in diesem Kontext die bewusste Differenzierung zwischen der Intention einer systematischen Analyse, der Reflexion und Abwägung im Rahmen ethischer Dilemmata hin zu einer ethisch gut begründeten Entscheidung (z. B. durch ethische Fallbesprechungen) und der Intention der Bearbeitung, Reduktion und Prävention jeglicher Qualität des moralischen Belastungserlebens der Pflegefachpersonen zu beachten. Das heißt auch, es bedarf konsequent der dezidierten Differenzierung zwischen der Gegebenheit eines moralischen Dilemmas und dem Empfinden eines moralischen Belastungserlebens in der Konfrontation mit einer moralisch gehaltvollen Situation oder in der reflexiven Bezugnahme auf die Situation mit moralischem Gehalt. Moralisches Belastungserleben der Pflegefachpersonen (aber auch der Führungspersonen; vgl. z. B. Hertelendy et al. 2022; Ahokas und Hemberg 2022; Faraco et al. 2022) kann nicht per se eliminiert werden. Deren bedeutsame Rolle, als Indikator für moralische Affizierbarkeit, moralische Sensibilität der Pflegefachpersonen, für die Orientierung/Navigation des Handelns am moralischen Kompass in der Konfrontation mit moralisch gehaltvollen Situationen, ist zugleich ein Indikator für ethische Kompetenzen bzw. ethische Performanz und sollte als eine Ressource betrachtet werden (Carse und Rushton 2018; Jones-Bonofiglio 2020; Sedghi Goyaghaj et al. 2022) sowie als Prozessverstärker für positive Veränderungen in ethischen und moralischen Belangen fungieren. Demgegenüber ist die Notwendigkeit der Reduktion und Prävention moralischen Belastungserlebens evident und stellt einen zentralen Auftrag an die Führungsverantwortlichen dar (ICN 2021), dies im Sinne der Pflege- und Versorgungsqualität, der Gesunderhaltung der Mitarbeitenden, der Berufszufriedenheit, der Arbeitsqualität sowie im Sinne des Berufsverbleibs, aber auch angesichts der aktuellen Personalnot und -fluktuation, dem „Pflexit“ (BKK 2022; vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen 2023) wie auch vor dem Hintergrund der bestehenden Defizite im Kontext der Qualifizierung und der Ausbildung
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(ver.di 2022; Klotz et al. 2022a, b; Riedel und Lehmeyer 2022b). In der Folge liegt ein hohes Maß an Handlungsverantwortung bei den Führungsverantwortlichen, den Einrichtungen und Trägern sowie den Einrichtungen der Aus-, Fort- und Weiterbildung, das Phänomen des moralischen Belastungserlebens entsprechend seiner Brisanz und Tragweite verantwortungsvoll und zeitnah aufzugreifen und strukturiert entsprechende Formate der Intervention und Prävention zu implementieren. Das Ziel der Auseinandersetzung, Reduktion und Prävention des moralischen Belastungserlebens ist zu keiner Zeit die Entwicklung einer Gleichgültigkeit oder Toleranz gegenüber einer unethischen Pflegepraxis oder gegenüber moralischen Widrigkeiten und Herausforderungen. Intendiert ist weder die Desensibilisierung gegenüber Situationen mit moralischem Gehalt noch die Reduktion der moralischen Verantwortung der Pflegefachpersonen. Vielmehr geht es um eine Sensibilisierung und Befähigung zum Erkennen moralischen Belastungserlebens, den Mut und die Stärke, dieses anzusprechen und moralisch entlastende Interventionen einzufordern. Hierbei stehen konsequent das Wohl der Pflegefachpersonen sowie deren moralische und professionelle Integrität wie auch die Qualität der Pflege und folglich das Wohl der pflegebedürftigen Menschen im Mittelpunkt; es geht um Berufszufriedenheit, aber auch um Berufsverbleib, es geht um Versorgungsqualität und Versorgungssicherheit.
1.4 Moralisches Belastungserleben, (moralische) Vulnerabilität und (moralische) Resilienz Um den Konnex zu den vorausgehenden Ausführungen zu verdeutlichen, und bevor das Augenmerk auf der moralischen Resilienz und deren Stärkung liegt, wird in einem ersten Schritt der Zusammenhang zwischen dem moralischen Belastungserleben, der (moralischen) Vulnerabilität und der (moralischen) Resilienz dargelegt. Da Vulnerabilität und Resilienz zwei
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äußerst komplexe Konzepte darstellen, liegt der Schwerpunkt hier ausschließlich auf der Kontextualisierung der beiden Konzepte mit dem Phänomen des moralischen Belastungserlebens. Auf dieser Basis wird zugleich die Verbindung zwischen der (moralischen) Vulnerabilität und der Bedeutsamkeit der (moralischen) Resilienz von Pflegefachpersonen nachvollziehbar. Potenziell kann moralisches Belastungserleben bei Pflegefachpersonen in jeder Pflegesituation auftreten, davon ausgehend, dass jede Pflegesituation eine Situation mit moralischem Gehalt ist, die per se moralisches Handlungsvermögen einfordert. Wenn jeglichem Pflegehandeln eine situative moralische Dimension inhärent ist, ist seitens der Pflegefachperson folglich ein konsequent ethisch begründetes Handeln evident. Damit kommt professionell Pflegenden eine umfassende moralische Verantwortung zu. Allerdings können Pflegende nicht in jeder Pflegesituation gemäß dem pflegeberuflich grundgelegten moralischen Kompass, gemäß den professionell-normativen Prämissen (z. B. ICN-Ethikkodex 2021) entscheiden und handeln. Dies kann in der Folge und im zeitlichen – sich potenzierenden – Verlauf zu unterschiedlichen Erlebensdimensionen und -qualitäten der moralischen Belastung (moralisches Unbehagen, moral distress, moral residue, moral injury, …) führen30. An dieser Stelle ist zu pointieren: Der Grund bzw. der Ausgangspunkt für das moralische Belastungserleben liegt nicht ausschließlich bei der Pflegefachperson, sondern liegt auch im System begründet. So formulieren Epstein und Hurst (2017, S. 37) treffend: “… moral distress is a serious system problem – an alarm bell that some aspect of the situation has gone awry, not the staff are under-resilient …”. Wenngleich zunächst in Bezug auf den Umgang mit dem moralischen Belastungserleben die Pflegefachperson in den Mittelpunkt rückt, werden die Verantwortung und der Auftrag der Leitungskräfte und der Institutionen in Bezug auf die morali-
30 Vgl.
hierzu z. B.: Riedel et al. (2022a); Riedel und Lehmeyer (2022d, 2021a); Baumann-Hölzle und Gregorowius (2022); Morley et al. (2020); Rushton (2017).
A. Riedel et al.
sche Entlastung und die Entwicklung bzw. Stabilisierung der moralischen Resilienz im weiteren Verlauf dezidiert herausgearbeitet. Bereits vorausgehend wurde deutlich: Moralisches Belastungserleben der betroffenen Pflegefachperson – in jeder Erlebensdimension und -qualität – wirkt sich auf das moralische Integritätserleben der Person aus, denn das subjektive moralische Belastungserleben wird „von Pflegefachpersonen nicht nur situativ erlebt, sondern wirkt durch eine reflexive Bezugnahme der Pflegefachpersonen auf ihre persönliche und professionelle Verfasstheit – im Sinne der moralischen Verfasstheit – und nimmt dadurch wiederum Einfluss auf das Erleben und Handeln in der aktuellen wie auch in der zukünftigen Konfrontation mit moralisch gehaltvollen Situationen“ (Riedel et al. 2022a, S. 17). Die moralische Integrität ist ein Konzept der persönlichen und professionellen Verfasstheit der Pflegefachperson und prägt folglich den Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen. Angesichts der sich potenzierenden moralischen Belastung – wenn diese nicht angemessen bearbeitet wird – fordert das individuell erlebte moralische Belastungserleben entsprechende organisationsethische Formate und Interventionen der situativen und persönlichen moralischen Entlastung. Dies auch, um die Handlungsfähigkeit bzw. das moralische Handlungsvermögen abzusichern. Eine mögliche Unterstützung der Pflegefachperson bietet die Entwicklung moralischer Resilienz – als weiteres/ergänzendes Konzept der moralischen Verfasstheit und gleichsam zur Stärkung und zum Schutz der individuellen moralischen Integrität. Moralisches
Belastungserleben hat unterschiedliche Qualitäten der Belastung und verweist stets auf die verletzte moralische Integrität der Pflegefachperson. Moralisches Belastungserleben ist eine unerwünschte Gegebenheit und Erfahrung und wird – je weiter sich das Erleben vom moral comfort entfernt und je tiefer die moralische Integrität verletzt wird – zu
1 Moralisches Belastungserleben und moralische Resilienz
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einem negativen Erleben. Es ist ferner zu konstatieren, dass die potenzielle Verletzlichkeit der Pflegefachperson nicht alleine aufgrund ihrer Disposition entsteht (Verfasstheit), sondern wesentlich von den situativen Gegebenheiten mit beeinflusst wird. Diese Kontextfaktoren beeinflussen wiederum den Grad und das Potenzial der Verletzung sowie die Erfahrung der Verletzbarkeit.
oralischen Belastungserlebens spüren profesm sionell Pflegende, dass ihre moralische Integrität berührt oder gar verletzt ist. So formuliert Laabs (2011) im Kontext von „moral conflict“ und „moral distress“ in Bezug auf die Pflegenden: „Nurses (…) feel their moral integrity is in jeopardy, compromised, or betrayed“ (S. 432; vgl. Laabs 2007, S. 806) – was wiederum die enge Verbindung zwischen verletzter moralischer Integrität und moralischem Belastungserleben verdeutlicht und unterstreicht31.
Vulnerabilität wie auch ihr „Gegenbegriff“, die Integrität („integer“ steht für unversehrt, unverletzt, unverwundet) im Sinne der Unverletztheit (Coors 2022a, S. 10, b, S. 96), sind im Kontext des moralischen Belastungserlebens und der moralischen Resilienz zentrale Konzepte. Moralische Integrität – als eine Facette der intrapersonalen Integrität professionell Pflegender – wird nachfolgend verstanden als ein Gefühl der moralischen Unversehrtheit oder der moralischen Ganzheit (moral wholeness) (Rushton 2018a, S. 78; vgl. 2018c, S. 128; vgl. Hardingham 2004), die dann erlebbar ist, wenn es möglich ist, im Rahmen des professionellen Handelns zentrale moralische Werte, Prinzipien und professionell-ethische Verpflichtungen – im Sinne des moralischen Kompasses – einzuhalten bzw. zu realisieren. So formuliert Noelliste (2013): „… moral integrity is defined as an individual’s adherence to recognizable universal moral principles or commitments“ (S. 478; vgl. Wicclair 2017). Laabs definiert „moral integrity“ (2011, S. 431) „as living up to one’s personal moral code, so that one can sleep at night, or live with oneself, having demonstrated courage, patience, and perseverance in the face of conflict.“ Oder wie Rushton (2018a, S. 79; vgl. 2018c, S. 129) in Bezug auf die ethischen Herausforderungen formuliert: „Sustaining integrity is a matter of being true, as best one can, to one’s moral principles, ideals and commitments within the moral complexity and diversity of the clinical world.“ Im Kontext von moralischen und ethischen Konflikten, in heraufordernden Situationen und Konstellationen und insbesondere im Rahmen
Moralische Integrität ist dann erfahrbar, wenn die professionellen Pflegehandlungen mit den professionellen Werten und professionellen Überzeugungen, dem professionellen moralischen Kompass, aber auch dem persönlichen moralischen Kompass kongruent sind und die Pflegefachperson ihrer moralischen Verantwortung nachkommen kann. Moralische Integrität drückt sich dann in einem Gefühl/Empfinden der moralischen Ganzheit, der moralischen Unversehrtheit aus. Das heißt, „das persönliche moralische Integritätserleben der Pflegefachperson wird beeinflusst durch die subjektive Bewertung der moralischen Angemessenheit des eigenen Handelns vor dem Hintergrund der situativen moralischen Verantwortung und beeinflusst wiederum die situationsassoziierte empfundene Qualität des moralischen Belastungserlebens“ (Riedel et al. 2022a, S. 15). Das Konzept der Vulnerabilität – für das in der deutschen Sprache vielfach der Begriff der Verletzlichkeit steht – ist komplex (Coors 2022a, b; Lehmeyer 2022). Angesichts dessen wird zunächst klargelegt, was nachfolgend unter den hier verwendeten Begrifflichkeiten verstanden wird, um darauf basierend, angesichts von Vulnerabilität und der Gefahr der verletzten Integrität, die Bedeutsamkeit der moralischen Resilienz zu konturieren.
31 Vgl. hierzu auch: Epstein und Hamric (2009); Holtz et al. (2018); Rushton (2018a), Rushton et al. (2022a, 2017b); vgl. Hardingham (2004).
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Die Verletzbarkeit ist die Erfahrung, die die Pflegefachperson aufgrund des Verletztwerdens (Liebsch 2022) ihrer moralischen Integrität empfindet, zum Beispiel dadurch, dass sie schmerzhaft erfahren muss, dass sie ihre professionellen Werte nicht realisieren kann oder sie gar von außen gezwungen wird, gegen diese zu handeln. Diese Situationen wiederum können als Quellen der Verletzlichkeit (im Sinne der Empfänglichkeit; vgl. Klein 2022) der Pflegefachperson bezeichnet werden. Verletzlichkeit verweist an dieser Stelle darauf, dass „sich ein Mensch verletzen kann, nicht darauf, dass jemand verletzt ist“ (Coors 2022b, S. 92). Im hiesigen Kontext heißt das, dass die Person in der Situation mit moralischem Gehalt potenziell einem Verletztwerden unterliegt, einer Verwundung der moralischen Integrität ausgesetzt ist. Das Verletzlichsein der Pflegefachperson hat einerseits potenziell die negative Konsequenz der verletzten Integrität (weil Verletzung stets die Bedrohung der Integrität darstellt) und verweist andererseits auf die ethische Sensibilität, angesichts der Empfänglichkeit für das Verletztwerden. Die Wahrnehmung bzw. Sensitivität von Verletzlichkeit wiederum kann bereits dazu führen, dass Verletzungen antizipiert werden und die Wunden bzw. Schädigung vermieden werden. Wirkt sich diese Vermeidungsstrategie auf das Handeln aus, kann dies die Pflegequalität beeinflussen und zugleich neue/andersartige Verletzungen provozieren. Diese Gegebenheit entspricht der These von ten Have (2016), dass sich Vulnerabilität in drei Facetten gliedert: exposure, sensitivity und ability to adapt. Das heißt: Vulnerabilität umfasst erstens eine „Sensitivität“ oder „Empfindlichkeit“ für verletzende Ereignisse/eine „Exponiertheit für verletzende Ereignisse“ – im Sinne der „Verletzbarkeit“, zweitens das „Ausgesetztsein gegenüber möglicherweise verletzenden Ereignissen“ in der Situation oder aus der Situation heraus – im Sinne der „Verletzlichkeit“ – und drittens die „Reaktionsfähigkeit auf eine mögliche Verletzung“ oder die Fähigkeit, einer Verletzung auszuweichen (RehmannSutter 2022, S. 231). Die individuell und situativ bedingt variierenden Erlebensqualitäten moralischer Belastung
A. Riedel et al.
und die schmerzliche Erfahrung einer verletzten moralischen Integrität führen an dieser Stelle zu dem Begriff der moralischen Vulnerabilität (als Gegenbegriff zur moralischen Integrität). Unter moralischer Vulnerabilität wird hier die Verletzlichkeit der moralischen Integrität der Person verstanden, und damit auch die Verletzbarkeit der Person in ihrer moralischen Ganzheit, in ihrer moralischen Unversehrtheit und in ihrer moralischen Verfasstheit. So ist es die moralische Vulnerabilität, die einen Zugang zu den eigenen moralischen Fragen wie auch zu den moralischen Fragen des Gegenübers eröffnet. Folglich steht die moralische Vulnerabilität mit ihren jeweiligen moralischen Emotionen in einer engen Relation zur emotionalen und moralischen Sensibilität. Das heißt auch, dass subjektiv erlebte moralische Verletzbarkeit die moralische Sensibilität stärken kann. Zugleich ist an dieser Stelle zu konstatieren: Eine ausgeprägte moralische Sensibilität kann die Gegebenheit und das Potenzial der Verletzbarkeit wie auch die individuelle Verletzlichkeit erhöhen. Diese Wechselwirkung gilt es zu reflektieren und sich dieser immer wieder ethisch sensibel zu vergegenwärtigen. Die Anerkennung der moralischen Vulnerabilität professionell Pflegender und die Wahrnehmung der Verletzlichkeitserfahrungen im Kontext professionellen Pflegehandelns ermöglichen es, die erfahrenen Verletzungen einzuordnen und bestenfalls zu überwinden bzw. in zukünftigen Konstellationen Formen moralischer Vulnerabilität zu identifizieren, zu antizipieren oder gar zu präventieren. Die Anerkennung der moralischen Vulnerabilität – und folglich auch jedweder Form von professioneller Vulnerabilität – darf allerdings keinesfalls Stigmatisierungen jeglicher Genese provozieren. Wenn die Verletzlichkeit von Pflege-
fachpersonen in Situationen mit moralischem Gehalt ernst genommen wird, insbesondere dann, wenn moralische Verletzungen im Raum stehen, die sich in der jeweiligen Qualität des moralischen Belastungserlebens ausdrücken, und eine Verletzung der moralischen Integrität der Pflegefach-
1 Moralisches Belastungserleben und moralische Resilienz
person schmerzlich erfahrbar ist, dann sind die Pflegefachpersonen auf Schutz und Interventionen gegen nachhaltig wirkende Verwundungen/Verletzungen angewiesen. Wenn von Vulnerabilität die Rede ist, ist vielfach auch von Resilienz bzw. Widerstandsfähigkeit die Rede32, da sich beide Konzepte wechselseitig bedingen. Nach einer Konzeptanalyse definieren Cooper et al. die Resilienz von Pflegefachpersonen („nurse resilience/resilience in nursing“) zum ersten Mal („Resilience is a complex and dynamic process which when present and sustained enables nurses to positively adapt to workplace stressors, avoid psychological harm and continue to provide safe, high quality patient care.“ (Cooper et al. 2020, S. 567; vgl. S. 553) Nach einer nachfolgenden qualitativen Studie ergänzen und erweitern Cooper et al. (2022) ihre Definition von 2020, die insbesondere die Pflegefachperson fokussierte, um die Perspektive auf die beeinflussenden äußeren Faktoren („workplace conditions, organizational philosophy, the performance of managers, and the teams nurses work within“; Cooper et al. 2022, S. 1530) und unterstreichen übergreifend damit nochmals den Aspekt der Komplexität und der Dynamik, welche der Resilienz von Pflegefachpersonen inhärent ist. Die Resilienz von Pflegefachpersonen definieren Cooper et al. (2022, S. 1531) daraufhin wie folgt: „Resilience is a complex and dynamic process, that is influenced by individual factors, as well as modifiable workplace conditions, organizational philosophy, management performance, and the team nurses work within. These factors influence the extent to which resilience can be sustained, to enable nurses to positively adapt to workplace stressors, avoid psychological harm and continue to provide safe, high quality patient care.“
Mit dieser ergänzten Definition wird deutlich, dass die je individuelle Resilienz der Pflegefachperson nicht alleine personabhängig ist, sondern insbesondere auch von den Rahmenbedingungen 32 Z. b.:
Klein (2022); Rogers et al. (2021); Delgado et al. (2020); Graefe (2019).
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beeinflusst ist und wird, in der sie eingebunden ist. Diese Erweiterung hat zugleich Implikationen bezüglich der Stabilität und Nachhaltigkeit der Resilienz, was ebenfalls mit der veränderten und erweiterten Definition verdeutlich wird. Die Resilienz von Pflegefachpersonen betreffend identifizieren Cooper et al. (2020; vgl. 2022) folgende personenbezogenen Eigenschaften (personal attributes) (S. 567) als zentral: social support, self-efficacy, self-care, humour, optimism, being realistic (S. 565–566; S. 569). Vergleichbar hierzu formulieren Hart et al. (2014) in ihrem integrativen Review folgende Schlüsselkomponenten und Charakteristika der Resilienz Pflegender: Widerstandsfähigkeit (hardiness, S. 728), Selbstwirksamkeit bzw. Selbstvertrauen (self-efficacy, S. 728), eine hoffnungsvolle Grundhaltung (sense of hope, hopeful outlook, S. 728) und Optimismus (optimism, S. 728). Als persönliche Verfasstheit bzw. als Bedingungen für die Resilienz, insbesondere im Kontext herausforderungsvoller Gegebenheiten, formulieren Carpenter et al. (2012, S. 3249; vgl. S. 3252 ff.): „diversity, modularity, openness, reserves, feedbacks, nestedness, monitoring, leadership and trust“. Cooper et al. (2022) folgend, sind diese personenbezogenen Eigenschaften stets in Verbindung mit – den oben ausgeführten –beeinflussenden externen Rahmungen zu sehen. Es wird bereits an diesen beiden Beispielen deutlich, dass Resilienz als Phänomen bzw. Konzept eine persönliche Eigenschaft ist, die per se komplex ist sowie einen komplexen Prozess repräsentiert und sowohl individuelle (z. B. Selbstwirksamkeit) als auch organisationale (z. B. soziale Unterstützungssysteme) Voraussetzungen und Rahmungen einfordert die in Bezug auf die Resilienzförderung folglich parallel zu beachten sind.33 33 Hierzu z. B.: Cooper et al. (2020, 2022); Varasteh et al. (2023, 2022); Palacio et al. (2020); Arries-Kleyenstüber (2021); Rushton (2016); Hart et al. (2014). Die Ansätze und Konzepte zur Stärkung der Resilienz von Institutionen und Organisationen (vgl. hierzu z. B. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2023) und Deutscher Ethikrat (2022)) sind indes nicht Gegenstand dieser Ausführungen.
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(Moralische) Resilienz, verstanden als Widerstandsfähigkeit (und als Antwort auf die Verletzbarkeit und Verletzlichkeit) und somit als grundlegend für die Selbstwirksamkeit der Pflegefachperson im Umgang mit (moralischen) Belastungen, kann als eine schützende bzw. entlastende Bewältigungsfähigkeit aufgefasst werden, mit Stresssituationen, mit (unvorhersehbaren) Belastungssituationen, mit Situationen und Bedingungen von Ungewissheit so umzugehen, dass es nicht zu einer nachhaltigen Beeinträchtigung kommt. Es geht um Schutzfaktoren, die die situativen Belastungen zwar nicht beseitigen, es der Pflegefachperson indes ermöglichen, wirkungsvoll damit umzugehen bzw. „mit dieser Situation fertigzuwerden“ (Graefe 2019, S. 2134). Dies auch in dem Verständnis dessen, dass es nicht darum geht, das moralische Belastungserleben zu heilen (so formulieren Epstein und Hurst (2017, S. 38): „… resilience cannot cure moral distress“), sondern eine Resilienz zu entwickeln, die situativ stärkt und schützt. Die (moralische) Resilienz oder Widerständigkeit soll hierbei die Empfänglichkeit und Sensibilität für die Verletzlichkeit – als Ressource – nicht verschließen, vielmehr soll die moralische Resilienz die moralische Integritätsverletzung reduzieren oder bestenfalls verhindern. Oder in den Worten von RehmannSutter (2022, S. 231): „Verletzung – sowohl als mögliche als auch als wirkliche Verletzung – sollte nicht durch eine Überlagerung der Vulnerabilität mit dem Konzept der Resilienz in den Hintergrund rücken.“ Resilienz hat folglich nicht die Funktion, eine fehlende oder unzureichende Abwehrfähigkeit zu kompensieren oder eine gänzliche Unverletztheit zu konstituieren, ebenso wie es nicht darum geht, das moralische Belastungserleben und die moralische Vulnerabilität zu eliminieren oder ein Verständnis von Vulnerabilität zu etablieren, das eine Schwäche heraushebt.
A. Riedel et al.
Ein weiterer Aspekt ist im Kontext des moralischen Belastungserlebens bedeutsam: „Es stellt sich immer erst im Nachhinein heraus, wie resilient man wirklich war. (…) anders als die Prävention greift Resilienz erst nach dem Ereignis. Es handelt sich somit um eine antizipierte Reaktion, nicht um eine dem Ereignis zuvorkommende Aktion“ (Graefe 2019, S. 161). Zugleich darf eine Verletzung der (moralischen) Integrität nicht als ein Hinweis auf eine (noch) unzureichende (moralische) Resilienz der Pflegefachperson interpretiert werden, ebenso dürfen Situationen der moralischen Belastung nicht mit mangelnder oder unzureichender moralischer Resilienz gleichgesetzt werden. Die aktive, ethisch-reflexive Bezugnahme auf das moralische Belastungserleben kann indes die moralische Resilienz dadurch stärken (und folglich auf die persönliche und professionelle Verfasstheit der Pflegefachpersonen wirken), dass sich ein Bewusstsein dafür entwickelt, welche kontextuellen Faktoren das situative moralische Belastungserleben evoziert haben, die möglicherweise bearbeitet, eliminiert, kompensiert oder präventiert werden können (Rushton 2018c; Riedel et al. 2022a). (Moralische) Resilienz (von resilire, zurückprallen) ist hier nicht als Schlüsselkompetenz zu verstehen, sondern als eine Fähigkeit im professionellen Umgang mit (moralisch) komplexen, moralisch herausfordernden Situationen. Eine zwangsläufige Entwicklung vom (moralischen) Belastungserleben zur (moralischen) Belastbarkeit ist damit ebenso wenig verbunden wie die Wende vom (moralischen) Belastungserleben zur (moralischen) Entlastung. Ferner geht es nicht um eine „bessere Anpassung“ der Pflegefachpersonen angesichts restriktiver oder systemimmanenter Defizite (Graefe 2019, S. 109). Die moralische Resilienz ist im Pflege- und Gesundheitswesen wie auch in der Ethikbildung ein etabliertes Konzept bzw. Ziel35, das im Fol35 Vgl.
34 Vgl.
hierzu auch: Pollock et al. (2020); Cooper et al. (2020, 2022); Varasteh et al. 2023 (2022); Palacio et al. (2020); Davey et al. (2022); Clark et al. (2022).
z. B.: Resilient Nurses Initiative (2021); Sala Defillippis et al. (2020); American Nurses Association (2017); Rushton (2018b, c, d), Rushton et al. (2017b); Holtz et al. (2018); Monteverde (2014).
1 Moralisches Belastungserleben und moralische Resilienz
genden noch differenzierter in den Mittelpunkt rückt, mitsamt den damit verbundenen Implikationen.
1.5 Moralische Resilienz In den vorausgehenden Ausführungen wurde erfassbar, dass jegliche Qualität des moralischen Belastungserlebens potenziell mit einer Verletzbarkeit in Verbindung steht und vielfach mit der Verwundung der moralischen Integrität einhergeht. Moralische Resilienz lehnt sich definitorisch an die üblichen Ausführungen zur Resilienz an und differenziert sich dadurch, dass sie sich auf die moralischen Widrigkeiten, die moralische Bedrängnis und die moralischen Konflikte bezieht, die moralisches Belastungserleben und moralische Verletzungen nach sich ziehen, und folglich eine genuin ethische Konnotation erfährt.36 Die moralische Resilienz – im Sinne der schützenden Bewältigung und Verarbeitung im Umgang mit Verletzbarkeit und Verletzlichkeit in komplexen bzw. herausforderungsvollen Situationen mit moralischem Gehalt – wird nachfolgend anhand einschlägiger Definitionen präzisiert und konturiert. So verstehen z. B. Sala Defilippis et al. (2020, S. 5) „moral resilience“ als einen Wert und als Orientierungshilfe „for nurses during their daily moral practice“. In dieser übergreifenden Definition wird deutlich, dass moralische Resilienz eine Bedeutsamkeit für den pflegeberuflichen Alltag hat, was wieder zurückführt auf den Sachverhalt, dass jegliche Pflegesituation eine Situation mit moralischem Gehalt ist, die eine ethisch begründete Entscheidung und Handlung fordert. Die definitorische Rahmung der moralischen Resilienz betreffend ist die Definition von Rushton (2018d) bedeutsam, zumal sie äußerst anschlussfähig an die vorausgehenden Ausführungen ist: “… the capacity of an individual to sustain or restore his or her integ-
36 So
z. B. bei: Daly (2020); Palacio et al. (2020); Wocial (2020); Holtz et al. (2018); Young und Rushton (2017); Monteverde (2016); Lachmann (2016).
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rity in response to moral adversity, moral resilience includes regaining moral stability and balance in the wake of the experience of imperiled integrity” (S. 68; vgl. Rushton et al. 2022a; vgl. Rushton et al. 2017a, b), bzw. an anderer Stelle: „… if one is morally resilient, it is possible to find ways of addressing moral suffering and distress that overcome their negative, debilitating aspects“ (Rushton 2018b, S. 105). Das heißt, moralische Resilienz beschreibt die Fähigkeit der Pflegefachperson, die moralische Integrität zu erhalten, zu schützen oder wiederherzustellen bzw. angesichts einer verletzten Integrität wieder moralische Stabilität zu erlangen. Moralische Resilienz eröffnet somit eine individuelle Ressource, die es auch ermöglicht, die negativen, belastenden Effekte und Wirkungen des moralischen Belastungserlebens (moral distress, moral injury) abzuschirmen bzw. abzuwehren (Rushton et al. 2022a, b; Rushton et al. 2017a, b), Rushton (2016b); Kovanci und Özbas 2023; Cooper et al. 2022; Varasteh et al. 2023 2022), und folglich die Pflegefachperson in der Konfrontation mit moralisch herausfordernden und komplexen Situationen schützt (Riedel et al. 2022a; Arries-Kleyenstüber 2021). Als Antwort auf (in response to) eine moralische Widrigkeit verweist die Definition wiederum auf die Gegebenheit, dass die Resilienz erst nach der als belastend und verletzend erlebten Situation greift. Es geht folglich um die Widerstandsfähigkeit der Pflegefachperson angesichts einer als moralisch belastend erlebten Situation, die sich einerseits in moralischer Stabilität und Balance äußert und sich andererseits in der Fähigkeit zeigt, einen stützenden oder gar schützenden Umgang mit (zukünftigen) moralisch herausforderungsvollen Situationen zu eröffnen (Rushton 2018d; Rushton et al. 2016, 2017b, 2022a, b.; ANA o.J.). Das heißt: Die Stärkung der moralischen Resilienz wirkt nicht präventiv, sondern situativ, in den Situationen mit moralischem Gehalt. Sie ist retrospektiv-reflektierend – unter Bezugnahme auf das erfahrene situative moralische Belastungserleben bzw. die situative (verletzte) moralische Integrität – erfassbar. In der oben ausgeführten Definition von Rushton (2018d; vgl. 2018a, b, c, 2016) werden zugleich die enge
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Verknüpfung und das reziproke Verhältnis zwischen den beiden Konzepten der Resilienz und der Vulnerabilität erfassbar, insbesondere auch durch die Bezugnahme auf die Integrität, als Gegenbegriff zur Vulnerabilität. Heinze et al. (2021, S. 866) formulieren – Bezug nehmend auf Young und Rushton (2017, S. 584) – die folgenden Attribute moralischer Resilienz, die die Ansprüche, aber auch die Bedeutsamkeit moralischer Resilienz nochmals pointieren: „… enables a person to navigate morally complex situations; reduces moral distress; and supports a person to have integrity by being true to one’s values and convictions …“ Es geht folglich um die persönliche Integrität, aber auch um die situative Handlungsfähigkeit im Sinne des moralischen Handlungsvermögens und der situativen moralischen Selbstwirksamkeit. Beides wiederum steht in einer engen Verbindung zur Realisierung der professionellen Werte und zur Orientierung am persönlichen und professionellen moralischen Kompass. Definition Moralische Resilienz beschreibt die (Widerstands-)Fähigkeit der Pflegefachperson im Umgang mit erfahrenen moralischen Verletzungen im Rahmen einer Situation mit moralischem Gehalt. In diesem Verständnis kann die moralische Resilienz als eine Fähigkeit aufgefasst werden, die die moralische Integrität der Pflegefachperson schützt und stabilisiert. Die retrospektive, aktiv-reflexive Bezugnahme auf das Handeln und Entscheiden in der Situation mit moralischem Gehalt wie auch auf das erfahrene moralische Belastungserleben (auf dem Kontinuum zwischen der hohen moralischen Integrität und der verletzten moralischen Integrität) ermöglicht die Bewertung der eigenen situativ wirkenden moralischen Resilienz in dieser Situation. Hierbei geht es sowohl um die Einordnung des eigenen Handlungsvermögens, des situativen Handelns wie auch um die Reflexion der situativen Selbstwirksamkeit (Habe ich mich als ethisch handlungsfähig erlebt? War mein Handeln moralisch angemessen? Wenn nicht, was waren die Ursachen für ein moralisch unangemessenes Handeln?). Die erfahrene moralische Resilienz wirkt sich sodann auf die
A. Riedel et al.
professionelle Verfasstheit der Pflegefachperson aus. In diesem Falle hat die moralische Resilienz das Potenzial, die Pflegefachperson in einer zukünftigen Situation mit moralischem Gehalt zu stärken und die moralische Integrität der Pflegefachperson zu schützen. In der Studie von Spilg et al. (2022) wird er Zusammenhang zwischen moral distress und moral resilience untersucht. Die Autor*innen bezeichnen moralische Resilienz als „proactive measure against moral adversities“ (S. 2) und postulieren: „… higher moral resilience was correlated with lower stress, anxiety and depression symptoms. (…) this suggests that moral resilience may be especially important to limit the accumulation of moral distress in the context of a major stressor (such as a pandemic) with beneficial effect on wider mental health outcomes“ (S. 9). Sie kommen zu dem Schluss, dass moralische Resilienz zugleich wichtig ist für die psychische Verfassung/psychische Gesundheit der Pflegefachpersonen. Die Autor*innen erweitern in Bezug auf die Bedeutsamkeit der moralischen Resilienz somit die Perspektive und verweisen neben dem Schutz der moralischen Integrität auf den Schutz bzw. Erhalt der psychischen Gesundheit/der psychischen Verfassung. Zugleich verweisen sie auf die Gefahr einer Akkumulation des moral distress (moral residue). Es geht bei Spilg et al. (2002) folglich um den Schutz der moralischen Integrität und um das psychische Wohlbefinden (Spilg et al. 202237). Zusammenfassend wird deutlich: Gemäß den Darlegungen unterstützt die moralische Resilienz die Pflegefachperson – durch die Erfahrungen der situativen Widerstandsfähigkeit und der Selbstwirksamkeit – darin, die moralische Integrität in komplexen und herausforderungsvollen Situationen mit moralischem Gehalt zu stabilisieren und zu schützen. Zugleich ist davon auszugehen, dass moralisch resiliente Pflegende durch die geschützte bzw.
37 Vgl. hierzu auch: Hughes und Rushton (2022); Varasteh et al. (2023, 2022); Wocial (2020); Sala Defilippis et al. (2020).
1 Moralisches Belastungserleben und moralische Resilienz
stabilisierte moralische Integrität in der Lage sind, moralisches Belastungserleben im Sinne des „moral suffering“ (Rushton 2018b, S. 105; Heinze et al. 2021, S. 866; Holtz et al. 2018, S. e489) – in der aktiv reflexiven Bezugnahme – einzuordnen und in der Folge zukünftig souveräner mit diesem umzugehen38. So formuliert Rushton (2018c) den Zusammenhang wie folgt: „The hallmark of moral resilience is the capacity of an individual to sustain or restore his or her integrity in response to moral adversity“ (S. 127).
Unterdessen fördert eine (wieder) gefestigte moralische Integrität die stabilisierende Wirkung bzw. die stärkenden Effekte der moralischen Resilienz: „Accepting responsibility for being in alignment with our moral compass and the consequences of our action or inaction is inextricably linked to a robust notion of integrity. (…) Acting with integrity is closely tied to protecting the essence of one’s values and purpose against forces that may corrupt or degrade them“ (Rushton 2018a, S. 78). Demzufolge ist es nachvollziehbar, dass Rushton (2018a, S. 77) die moralische Resilienz als Stabilisator/als Anker (anchor) der moralischen Integrität bezeichnet. Hervorzuheben ist an dieser Stelle der evidente Zusammenhang bzw. die Wechselwirkung zwischen (moralischer) Vulnerabilität und deren „Gegenbegriff“ (Coors 2022a, S. 10, b, S. 96) – der (moralischen) Integrität im Sinne der Unverletztheit/der unverletzten Ganzheit/Verfasstheit – und der moralischen Resilienz. Das heißt auch, dass es in den Einrichtungen des Gesundheitswesens nicht hinreichend ist, moralisches Belastungserleben als Folge moralischer Verletzungen zu identifizieren, sondern dass parallel die Perspektive auf die individuelle Fähigkeit, aber auch auf unterstützende Angebote eines entlastenden Umgangs mit dem Erlebten zu richten ist. Wie die moralische Resilienz gestärkt werden kann, wird nachfolgend ausgeführt. Neben dem Fokus auf die Pflegefach-
person erweitert sich die Verantwortung auf die Leitungspersonen, die Einrichtungen und Träger.
1.6 Moralische Resilienz stärken Die Verantwortung bezüglich der Entwicklung einer moralischen Resilienz liegt nicht ausschließlich bei den Pflegefachpersonen, sondern fordert in einem umfassenden Maße die verantwortlichen Leitungskräfte der Einrichtungen und Träger heraus, entsprechende Rahmungen im Sinne eines ethischen Klimas zu etablieren und erfahrbar werden zu lassen (Brewer et al. 2023; Faraco et al. 2022; Clark et al. 2022). In Bezug auf die Leitungs- und Organisationsverantwortung formulieren Rushton und Sharma (2018, S. 207): „Building a culture that fosters moral resilience and ethical practice requires individuals, leaders and organizations to design solutions together“, und verdeutlichen damit die Relevanz einer Ethikkultur bzw. einer Kultur der Ethik in der Praxis39 sowie die Bedeutsamkeit gesundheitsförderlicher Rahmenbedingungen wie auch eines gesundheitsförderlichen Umfeldes (Rushton und Boston-Leary 2022). Clark et al. (2021, 2022) erfassen in ihren Studien einen direkten Zusammenhang zwischen der Reduktion von moral distress, persönlicher Resilienz, Arbeitsplatzbindung und Berufszufriedenheit. Für Holtz et al. (2018, S. e489) besteht ein direkter Zusammenhang zwischen individueller und systemischer Perspektive: „Moral resilience involves not only building and fostering the individual’s capacity to navigate moral adversity but also developing systems that support a culture of ethical practice for healthcare providers.“ Es geht folglich um die Entwicklung persönlicher Strategien, aber auch um eine institutionelle Kultur ethischer Praxis. Diese Forderungen unterstreichen Cartolovni et al. (2021) und formulieren: „This is on order to implement timely,
39 Vgl. 38 Vgl. hierzu: Heinze et al. (2021); Rushton (2016, 2018b, c); Holtz et al. (2018); Lachmann (2016).
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hierzu z. B.: Clark et al. (2022); Varasteh et al. (2023, 2022); Dean et al. (2021); Delgado et al. (2021); American Nurses Association (2017); vgl. Rushton et al. (2017a, b).
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preventive intervention measures to build additional resilience, and to enable those affected the possibility of receiving the needed help and support to survive these traumatic, injurious sets of experiences and continue to work effectively in our health services“ (Cartolovni et al. 2021, S. 598).40 Faraco et al. (2022, S. 1256) differenzieren in ihrer Studie folgende vier Elemente bzw. Dimensionen, die für die Entwicklung und Stärkung der moralischen Resilienz, für den Umgang mit moralisch komplexen, moralisch konflikthaften Situationen wie auch zur Prävention von moral distress grundlegend sind: 1. Personenbezogene Strategien der moralischen Resilienz („personal moral resilience strategies“): (1) intra- und (2) interpersonale Strategien („intrapersonal strategies“, „interpersonal strategies“) 2. Organisationsbezogene Strategien („organizational strategies“): (3) spezifische/immanente Management-Strategien und (4) Management durch Wandel („intrinsic management“, „transformational management“) Grundlegend für diese Dimensionen ist das Verständnis der Relationalität von individuums- und systembezogenen Strategien und Effekten zur Stärkung der moralischen Resilienz wie auch der moralischen Integrität (Faraco et al. 2022). Als exemplarische Subkategorie steht für die intrapersonale Strategie der moralische Mut (moral courage) und für die interpersonale Strategie die Subkategorie des Dialoges und des Einbezugs von Teammitgliedern. Für die organisationsbezogenen Strategien werden beispielhaft die Angebote der Ethikbildung und die Etablierung von Dialogstrukturen genannt (Faraco et al. 2022). Auf zwei der genannten Strategien wird nachfolgend noch dezidierter Bezug genommen: auf den moralischen Mut und die Ethikbildung. Deutlich ist bereits in diesen ausgewählten Darlegungen, dass es neben der individuel-
40 Vgl. hierzu auch: Clark et al. (2022); Hines et al. (2021); Delgado et al. (2021); Spilg et al. (2022); vgl. Cooper et al. (2020, 2022); Hart et al. (2014).
A. Riedel et al.
len moralischen Resilienz unterstützender organisationsethischer Rahmungen für die moralische Entlastung der Pflegefachpersonen bedarf. Das heißt: Pflegende „did seek a supportive climate for their needs and ethical concerns“, dies auch im Sinne eines „ethical climate“41, womit zugleich die institutionelle und leitungsbezogene Verantwortung konstitutiv wird42. Somit werden die Institution und deren Sorgeauftrag im Kontext des moralischen Belastungserlebens in den Fokus gerückt. Denn nur wenn die Rahmungen gegeben sind, das ethische Klima spürbar ist, kann Entlastung erfahrbar werden, können Verletzungen heilen und kann die moralische Integrität mittels moralischer Resilienz stabilisiert und gestärkt werden (Klotz et al. 2022a, b; Clark et al. 2022; Riedel und Lehmeyer (2022c, 2021b); Holtz et al. 2018). Ein Faktor, der zur Stärkung der moralischen Resilienz beiträgt, ist der moralische Mut (moral courage) (vgl. Faraco et al. 2022). Moralischer Mut wird verstanden als: „courage in the context of moral issue. (…) In nursing, moral courage refers to the nurse’s ability to rationally defend professional and personal ethical principles and values (…)“ (Numminen et al. 2021, S. 81043). Das heißt, moralischer Mut ist grundlegend dafür, die ethischen Anliegen und Prämissen in der Form moralisch verantwortungsvoll und advokatorisch zu vertreten und zu realisieren sowie die professionellen ethischen Werte und Prinzipien in der Weise zu schützen, dass diese situativ wirksam werden, eben dann, wenn sie seitens der professionell Pflegenden – im Rahmen ihrer Verantwortung und angesichts des professionellen Handelns – als evident und in der Folge als geboten eingeordnet werden.
41 Vgl.
hierzu: Spilg et al. (2022); Faraco et al. (2022); Clark et al. (2022); Hossain und Clatty (2021). 42 Vgl. hierzu: Varasteh et al. (2023, 2022); Rushton et al. (2021a, b); Spilg et al. (2022); Faraco et al. (2022); Klotz et al. (2022a, b); Clark et al. (2022); Storaker et al. (2022); Phoenix Australia und Centre of Excellence (2020); Cooper et al. (2020, 2022); Monteverde (2016). 43 Vgl. auch: Numminen et al. (2017, 2019); Pajakoski et al. (2021); Gallagher (2010).
1 Moralisches Belastungserleben und moralische Resilienz
Moralischer Mut kann moralische Integrität abstützen und stärken, zugleich unterstützt eine gefestigte moralische Integrität dabei, situativ moralischen Mut zu zeigen und diesem Ausdruck zu verleihen. Demgegenüber trägt fehlender moralischer Mut wiederum zu einem Unterminieren der moralischen Integrität der Pflegefachpersonen bei und führt zum moralischen Stress. Das heißt auch: Wenn moralischer Mut die moralische Integrität stärkt, trägt dieser auch ganz wesentlich dazu bei, sich als moralisch resilient zu erfahren bzw. das moralische Belastungserleben zu reduzieren (Riedel et al. 2022a; Corley und Minick 2002; vgl. Mohammadi et al. 2022). Moralischen Mut zu zeigen und diesem Ausdruck zu verschaffen, bedarf sowohl individueller Fähigkeiten, ethischer Kompetenzen und Standfestigkeit, aber auch unterstützender, ermutigender organisationaler Rahmungen sowie eines förderlichen ethischen Klimas (Pajakoski et al. 2021). Ein weiterer wichtiger Faktor zur Stärkung der moralischen Resilienz ist die Entwicklung und Vertiefung von spezifischen Ethikkompetenzen44. Das heißt: Zur Stärkung der moralischen Resilienz (im Sinne einer schützenden Bewältigungs- bzw. Verarbeitungskompetenz), zur Stabilisierung und zum Schutz der moralischen Integrität wie auch zur Entwicklung und Verdichtung des moralischen Mutes (als Schlüsselelemente ethischer Kompetenz) (Heggestad et al. 2022; Konings et al. 2022; Hauhio et al. 2021) und zur Entwicklung und Stabilisierung der moralischen Wirkkraft/Wirksamkeit („moral efficacy“; Holtz et al. 2018, S. 491) sind ethische Bildungsprozesse als wichtige, zu lancierende und seitens der Führungskräfte im Gesundheitswesen als zu unterstützende, zu fördernde und verantwortungsvoll organisationsethisch zu rahmende Maßnahmen für ihre Mitarbeitenden zu betrachten. Primäres Ziel der
44 Vgl.
hierzu auch: Faraco et al. (2022); Riedel et al. (2022a, b); Wald und Monteverde (2021); Resilient Nurses Initiative (2021); Gibson et al. (2020); Kleemola et al. (2020); Monteverde (2014, 2016); Rushton et al. (2017a, b); Rushton (2016, 2017).
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Ethikkompetenzentwicklung ist es, auf moralisches Belastungserleben in ethisch herausfordernden und ethisch komplexen Situationen professionell reagieren zu können, die moralische Integrität (wieder) zu stabilisieren, moralisches Belastungserleben möglichst zu reduzieren und bestenfalls zu präventieren.45 Zur Stärkung der moralischen Re-
silienz und des moralischen Mutes sind ethische Bildungsprozesse bzw. Angebote der Ethikkompetenzentwicklung und -vertiefung als wichtige, zu lancierende und seitens der Leitungs- und Bildungsverantwortlichen im Gesundheitswesen als konsequent zu unterstützende, zu fördernde und organisationsethisch verantwortungsvoll zu rahmende Maßnahmen evident. Sowohl der moralische Mut wie auch die Effekte der Ethikbildung bedürfen der organisationsethischen Rahmungen und begleitender Prozesse (Ali Awad und Al-anwer Ashour 2022; Faraco et al. 2022; Rushton et al. 2016, 2021a, b, 2022b; Delgado et al. 2020). Hierunter können dezidierte Weiterbildungsangebote zur Ethikkompetenzentwicklung bzw. -vertiefung fallen, die zum Beispiel situativ-ethisches Verhalten methodisch unterstützt rekonstruieren, theoriebasiert und systematisiert analysieren und reflektieren. Es geht in der Entwicklung der moralischen Resilienz gemäß Monteverde (2014, S. 393; vgl. Monteverde 2016) dezidiert um folgende zwei Bildungsziele: 1. „understanding and rational explanation of the underlying problem“ und „moral imagination“ im Sinne von „to frame the problem“;
45 Vgl. hierzu: Riedel et al. (2022a, b); Lehmeyer und Riedel (2022); Riedel und Lehmeyer (2022d) (2021a); Wald und Monteverde (2021); Rushton et al. (2021a, b); Hossain und Clatty (2021); Corley (2021); Hauhio et al. (2021); Jones-Bonofiglio (2020); Gallagher (2020); Gibson et al. (2020); Sala Defilippis et al. (2020) ; Monteverde (2016, 2014); Young und Rushton (2017).
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A. Riedel et al.
2. „judgements about the unacceptability of misbehavior based on ethical reasons“ und „moral courage“ im Sinne von „to name the problem“. Das heißt, es geht aus der Perspektive der Pflegefachpersonen und in der Entwicklung bzw. Stabilisierung der moralischen Resilienz darum, die moralische Komplexität der Situation erfassen zu können und in der Folge den inhärenten moralischen Gehalt dezidiert identifizieren, reflektieren und diskutieren zu können (Monteverde 2014, 2016, 201946). Intendiert ist ferner, die moralischen Stressoren und das moralische Belastungserleben mutig zu thematisieren, um so Maßnahmen der moralischen Entlastung anbahnen zu können. Deutlich ist: Ethikbildung mit der Perspektive auf die Entwicklung und Stärkung der moralischen Resilienz fordert inhaltsbezogene wie auch erfahrungsorientierte Lehr- und Lernarrangements. Zur übergreifenden bzw. auch begleitenden Ethikkompetenzentwicklung können ethische Fallbesprechungen oder Ethik-Cafés beitragen, die einerseits die Möglichkeit eröffnen, moralisches Belastungserleben zu thematisieren, und zugleich methodisch unterstützt eine moralische Entlastung anstreben, um die Selbstwirksamkeit der Pflegefachpersonen zu stärken und die moralische Resilienz (weiter) zu entwickeln (Riedel und Lehmeyer 2022a, b; Riedel et al. 2022b).
Deutlich ist, dass die Entwicklung und die Wahrung der moralischen Resilienz der Pflegefachperson spezifische Interventionen auf mehreren Ebenen fordern: auf der systemischen/institutionellen/organisationalen Ebene und auf der individuell/persönlichen Ebene der Pflegefachpersonen. Aufgrund der Relationalität der beiden Ebenen entfaltet sich deren Wirkung nur in der parallelen Umsetzung der jeweiligen Strategien.
46 Vgl. hierzu auch: Mielke et al. (2022); Selvakumar und Kenny (2023); Rushton et al. (2016).
Bezogen auf die Stärkung der persönlichen moralischen Resilienz und der Stabilisierung der moralischen Integrität ist abschließend und ergänzend ein Aspekt beachtlich: Moralisches Belastungserleben (wie z. B. moral distress) ist nicht nur bzw. per se negativ zu konnotieren und es sollte auch nicht einseitig die Belastungsperspektive in den Fokus rücken. So schreibt Jones-Bonofiglio (2020): „Moral distress: it can break you or build you“ (S. 137, vgl. S. 138; vgl. S. 12). Der moralische Stress – als eine Qualität des moralischen Belastungserlebens – kann zugleich eine kostbare Ressource (vgl. Carse und Rushton 2018; vgl. Epstein und Hurst 2017) und ein Verstärker für positive Veränderungen in ethischen und moralischen Belangen sein. Erlebte moralische Belastung ist so verstanden zunächst (auch) ein Indikator für ethische Sensibilität, für die intendierte Orientierung/Navigation des Handelns am moralischen Kompass und für die ethische Kompetenz (Riedel et al. 2022a). Auch das persönliche Bestreben, die eigene moralische Integrität (zukünftig noch) bewusster zu schützen, kann sich aus der Erfahrung der Verletzung der moralischen Integrität ableiten. Folglich bedarf es beiderlei: der Stärkung der moralischen Resilienz der Pflegefachpersonen und des Erhalts der Sensitivität für die Verletzbarkeit und die Verletzlichkeit angesichts der zunehmenden ethischen Komplexität alltäglicher Pflegesituationen. Zugleich ist zu konstatieren, dass die Prävention und Reduktion von moralischem Belastungserleben zu keinem Zeitpunkt das Ziel verfolgen, unethisches Handeln als mögliche Handlungsoption zu erwägen, sondern ausschließlich den Schutz der moralischen Integrität und der psychischen Gesundheit der Pflegefachperson intendieren und folglich auf die langfristige Pflege- und Versorgungsqualität wie auch auf die Berufszufriedenheit und den Berufsverbleib abzielen. So formulieren Spilg et al. (2022, S. 9): „The goal of reducing distress is not aimed at creating complacency or tolerance of unethical practices or moral adversity, but rather to acknowledge and confront the sources of distress and to provide resources to reduce their short- and long-term detrimen-
1 Moralisches Belastungserleben und moralische Resilienz
tal effects. Doing so may reduce the build-up of harmful moral residue and consequent risk of burnout, depression and secondary post-traumatic stress disorder“ (vgl. Rushton 2018d; vgl. Wocial 2020; Epstein und Hurst 2017). Folglich geht es bei der Stärkung und Entwicklung der moralischen Resilienz in keinster Weise darum, unethische und unmoralische Gegebenheiten zu tolerieren oder zu ignorieren (Wocial 2020). Die Konsequenz ist, dass es um das moralische Belastungserleben und die moralische Resilienz des Individuums geht, was zugleich der dezidierten moralischen Verantwortung der Pflegefachperson wie auch der Institution bedarf, als Korrektiv und auch als Rahmen.
Zusammenfassung
„Attention to resilience and ethical practice is fundamental to sustaining and retaining nurses in the profession“ (Resilient Nurses Initiative 2021, S. 25). Situationen mit ethischem Gehalt, komplexe ethische Herausforderungen und Emotionen moralischer Belastungen sind in der Pflege nicht auszuschließen. Sie repräsentieren die pflegeberuflichen Anforderungen, die Komplexität pflegerischer Entscheidungssituationen sowie die Vulnerabilität der zu pflegenden Menschen und der Pflegefachpersonen. Das Potenzial moralischer Belastungssituationen und der Umgang mit moralischem Belastungserleben verlangen demzufolge einen professionellen Umgang, um Wohlbefinden, Berufszufriedenheit, Berufsverbleib und Pflegequalität zu sichern47. Moralische Resilienz kann hierzu einen Beitrag leisten. Indes garantiert der alleinige Fokus auf die moralische Resilienz der Pflegefachpersonen noch nicht
47 Vgl.
hierzu: Antonsdottir et al. (2022); Spilg et al. (2022); Clark et al. (2022); Hughes und Rushton (2022); Emami Zeydi et al. (2022); Morley et al. (2020); Sala Defillippis et al. (2020); Rushton et al. (2016).
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die Reduktion oder Prävention moralischen Belastungserlebens, denn neben dem subjektiven Belastungserleben fordern auch das situative Entstehen der moralischen Belastungen bzw. die strukturellen Wirkfaktoren im Kontext der moralisch belastenden Situationen ein dezidiertes Augenmerk ein. Die Reduktion und Prävention moralischen Belastungserlebens von Pflegefachpersonen wie auch die Entwicklung, Stärkung und der Erhalt moralischer Resilienz der Pflegefachpersonen erfordern stets die parallele Initiative aus zwei Perspektiven: die verantwortungsvollen Angebote und organisationsethischen Rahmungen seitens des Managements in den Einrichtungen des Gesundheitswesens, die ethische Analyse und Reflexion eröffnen, und die ethische Reflexions- wie auch Bildungsoffenheit der Pflegefachpersonen, die das Benennen und Konkretisieren von moralischem Belastungserleben, aber auch moralischen Mut und ethische Kompetenz ermöglichen. ◄
1.7 Fazit Das einführende Kapitel endet mit einem Fazit in Form von Thesen. Die parallel geforderten Konsequenzen zur Reduktion und Prävention des moralischen Belastungserlebens der Pflegefachpersonen wie auch die Stärkung der moralischen Resilienz werden in den nachfolgenden Kapiteln des Buches aufgegriffen und dezidiert ausgeführt. • Moralisches Belastungserleben muss als ethisch bedeutsames Phänomen der Pflege – seitens der Pflegefachpersonen, der Leitungsverantwortlichen und der Lehrenden – fortwährend Beachtung erfahren. (Kap. 1, 2 und 3) • Die Sensibilisierung für die Qualitäten des moralischen Belastungserlebens sowie die Entwicklung und Vertiefung relevanter Ethikkompetenzen zur persönlichen und teambezogenen Reduktion und Prävention moralischen Belastungserlebens, die Anbahnung
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und Stärkung einer moralischen Resilienz müssen sich zum obligatorischen Gegenstand der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Pflegefachpersonen und Führungspersonen entwickeln. (Kap. 3) • Im Sinne der Pflegefachpersonen, ihrer Gesundheit und Gesunderhaltung, zur Absicherung der Pflegequalität und der Versorgungssicherheit der zumeist vulnerablen Zielgruppen, aber auch im Sinne der Achtung professionell-ethischer Standards sind in den Einrichtungen der Pflege und des Gesundheitswesens organisationsethische Strukturen zu etablieren sowie ein ethisches Klima und eine entsprechende Ethikkultur zu realisieren, die dazu beitragen, das moralische Belastungserleben der Pflegefachpersonen zu identifizieren, zu thematisieren, zu reduzieren und zu präventieren. (Kap. 4, 5, 6, 8 und 9) • Träger, Einrichtungen und Leitungspersonen in den Einrichtungen der Pflege und des Gesundheitswesens müssen ihre Verantwortung im Zusammenhang der Mitarbeitendenfürsorge und des betrieblichen Gesundheitsmanagements übernehmen, um gesunde und zufriedene, physisch, psychisch und moralisch entlastete Mitarbeitende zu erhalten und so bestenfalls dem Berufsausstieg entgegenzuwirken. (Kap. 6, 7 und 8) • Auf der (berufs-)politischen Ebene müssen die aktuellen Missstände und Unzulänglichkeiten in den Einrichtungen der Pflege und des Gesundheitswesens zeitnah ausgeräumt sowie die existente Unterfinanzierung, die unzulänglichen Personalressourcen und -qualifikationen aber auch die mangelnde Koordination von Gesundheitsleistungen zeitnah und nachhaltig behoben werden, um die Pflegequalität, Versorgungsqualität und -sicherheit zu gewährleisten, die aktuelle Gratifikationskrise zu überwinden und einem fortschreitenden „Pflexit“ zu begegnen. (Kap. 10) • Moralische Resilienz – so wurde deutlich – ist grundlegend für das Wohlbefinden der Pflegefachpersonen und folglich auch für die Berufszufriedenheit und für den Berufsverbleib. Sie ist zugleich förderlich für die Ver-
A. Riedel et al.
sorgungsqualität und folglich auch für das Wohlbefinden und die Lebensqualität der zu pflegenden Menschen. Sie gilt es zu fördern – im Sinne einer geteilten Verantwortung. (Kap. 1, 2 3 und 3)
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Entstehung und Wirkung moralischen Belastungserlebens bei Pflegefachpersonen Ein deskriptives Modell der Zusammenhänge eines komplexen Phänomens Magdalene Goldbach, Annette Riedel und Sonja Lehmeyer Zusammenfassung
Moralisches Belastungserleben bildet sich als subjektiv erlebtes, (ethisch) relevantes Phänomen ab, mit dem Pflegefachpersonen in allen pflegebezogenen Settings in ihrem beruflichen Handeln vielfach und wiederkehrend konfrontiert werden. Mit dem Ziel der Reduktion und Prävention moralischen Belastungserlebens bedürfen die verschiedenen Erlebensqualitäten jeweils für sich einer systematischen Auseinandersetzung und zielgerichteten Bearbeitung. Der vorliegende Beitrag erfasst die komplexen Entstehungs- und Wirkgefüge moralischen Belastungserlebens von Pflegefachpersonen in einem Modell, um es zu ermöglichen, Ansatzpunkte für Interventionen der Prävention und Reduktion
M. Goldbach (*) · A. Riedel · S. Lehmeyer Soziale Arbeit, Bildung und Pflege, Hochschule Esslingen, Esslingen, Deutschland E-Mail: [email protected] A. Riedel E-Mail: [email protected] S. Lehmeyer E-Mail: [email protected]
moralischen Belastungserlebens ursachenbezogen und zielgerichtet abzuleiten.
2.1 Hintergrund und Ziel der Modellentwicklung Angesichts der moralischen Dimension des professionellen Pflegehandelns (Corley 2002; Milliken 2018; Linde 2018) und der damit verbundenen vielschichtigen moralischen Verantwortung, die Pflegefachpersonen gegenüber den pflegebedürftigen Menschen, ihren Kolleg*innen, der Organisation und der Gesellschaft tragen (ICN 2021; Prentice und Gillam 2018), gestaltet sich das berufliche Handeln von Pflegefachpersonen als moralische Praxis (Sala Defilippis et al. 2019), die sich jedoch zunehmend moralisch komplex und herausfordernd abbildet (Lamb et al. 2019; Monteverde 2019). Werden Pflegefachpersonen damit konfrontiert, ihrer moralischen Verantwortung nicht umfassend nachkommen zu können, etwa weil ihre ethischen Kompetenzen sich nicht als ausreichend erweisen oder die Organisationen nicht über tragfähige organisationsethische Strukturen verfügen, die ethisches Handeln ermöglichen, erleben sie ihren beruflichen Alltag häufig als moralisch belastend (Riedel et al.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 A. Riedel et al. (Hrsg.), Moralische Belastung von Pflegefachpersonen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67049-1_2
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2022). Das Phänomen moralischen Belastungserlebens wurde erstmals durch den Philosophen und Psychologen Andrew Jameton (1984) thematisiert, der die Erlebensqualität des Moral Distress wie folgt definierte: „Moral distress arises when one knows the right thing to do, but institutional constraints make it nearly impossible to pursue the right course of action“ (Jameton 1984, S. 6). Während die Erlebensqualität des Moral Distress im wissenschaftlichen Diskurs vielfach aufgegriffen, thematisiert und neu definiert wurde (vgl. Campbell et al. 2016; vgl. Fourie 2017; vgl. Monteverde 2019; vgl. Arries-Kleyenstüber 2021; vgl. Riedel und Lehmeyer 2021; vgl. Prentice und Gillam 2018; vgl. Lachman 2016; vgl. Milliken 2018; vgl. Lee et al. 2020; vgl. Liaschenko und Peter 2016; vgl. Epstein und Hamric 2009; vgl. Sastrawan et al. 2019), blieb eine einheitliche Definition bisher aus. Deutlich wurde dennoch, dass auch andere Entstehungsbedingungen als die von Jameton (1984) formulierten „institutional constraints“ (Jameton 1984, S. 6) zum Erleben von Moral Distress führen können (vgl. hierzu Fourie 2017; Prentice und Gillam 2018; Campbell et al. 2016). Zugleich ist zu konstatieren, dass die Erlebensqualitäten moralischen Belastungserlebens individuell unterschiedliche Ausprägungen annehmen können (Rushton et al. 2021; Rushton 2018a, c; Riedel und Lehmeyer 2022; Riedel et al. 2022). Diese Vielfalt der Erlebensqualitäten bleibt neben der Erlebensqualität des Moral Distress jedoch bisher unterbeleuchtet. Ausgehend von der Komplexität der Entstehungsgefüge moralischen Belastungserlebens und der Vielfalt der Erlebensqualitäten, die jeweils für sich einer systematischen Auseinandersetzung und einer zielgerichteten Bearbeitung bedürfen, ist es Ziel des Beitrages, das Phänomen des moralischen Belastungserlebens von Pflegefachpersonen in seinen Entstehungs- und Wirkbezügen deskriptiv in einem Modell zu erfassen, um die Ursachen und Auswirkungen des Phänomens zu fokussieren, als Voraussetzung dafür, um Ansatzpunkte zu identifizieren, die es erlauben, ursachenbezogene und zielgerichtete Maßnahmen der Prävention und Reduktion mo-
M. Goldbach et al.
ralischen Belastungserlebens abzuleiten und somit einen aktiven Umgang mit moralischem Belastungserlebens als Aspekt des professionellen Pflegehandelns zu forcieren. Dabei kann das Modell für die Pflegefachpersonen selbst, aber auch für Leitungsverantwortliche im Bereich des Pflegemanagements und für Lehrende im Bereich der Ethikbildung von Nutzen sein.
2.2 Das deskriptive Modell der Entstehung und Wirkung moralischen Belastungserlebens 2.2.1 Übersicht über die zentralen Elemente und Konzepte des Modells und deren Zusammenwirken Das deskriptive Modell der Entstehung und Wirkung moralischen Belastungserlebens umfasst zentrale Elemente und Konzepte, die folgend in Bezugnahme zur Übersichtsdarstellung des Modells skizziert werden und anschließend in den Detailansichten des Modells in variierenden Ausprägungsformen und Wirkbezügen differenziert abgebildet werden. Zentrale Elemente und Konzepte des Modells, die individuell und situativ variieren können, sind: • die Pflegefachperson in ihrer persönlichen und professionellen Verfasstheit, die die jeweils individuelle moralische Verfasstheit konstituiert und den Ausgangs- und Bezugspunkt des Modells darstellt, • die Situation mit moralischem Gehalt, mit der die Pflegefachperson in ihrer persönlichen und professionellen Verfasstheit konfrontiert wird, • der moralische Kompass der Pflegefachperson, der durch seine Resonanz auf den situativen moralischen Gehalt verweist und durch internalisierte normative Orientierungsdirektiven in einer ethisch-reflexiven Bezugnahme als Orientierungsrahmen dienen kann,
2 Entstehung und Wirkung moralischen Belastungserlebens …
• das moralische Handlungsvermögen der Pflegefachperson in der Konfrontation und dem Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen und • das Kontinuum moralischen Belastungserlebens, das wiederum auf die persönliche und professionelle Verfasstheit der Pflegefachperson wirkt. Weiter strukturiert sich das Modell in Erlebensund Handlungsdimensionen, die jeweils von kontextuellen Rahmenfaktoren gerahmt werden (Abb. 2.1).
2.2.1.1 Erlebens- und Handlungsdimensionen im Kontext moralisch gehaltvoller Situationen Die Erlebens- und Handlungsdimensionen, die das Modell strukturieren und dabei lediglich analytisch voneinander getrennt werden können, beeinflussen sich in der komplexen Realität der Praxis ständig und unterliegen in ihrer jeweiligen Ausprägung damit einer gewissen Interdependenz. Das situative Erleben von Pflegefachpersonen spielt im Kontext moralisch gehaltvoller Situationen eine bedeutsame Rolle. So verweisen affektive Mechanismen auf den situativen moralischen Gehalt (Tanner und Christen 2014), die für die Pflegefachperson beispielsweise durch ein ungutes Bauchgefühl erfahrbar werden (Linde 2018; Hardingham 2004; Tanner und Christen 2014) oder moralische Emotionen wecken (Moore und Gino 2013; Tanner und Christen 2014; Malti und Dys 2015; Birnbacher 2011). Weiter verfügen elementare Konzepte, die im Kontext moralisch gehaltvoller Situationen wirken, über eine affektive Dimension, wie etwa das Gewissen (vgl. Jodaki et al. 2021; vgl. Lamb et al. 2019; vgl. Rushton 2018b) oder die moralische Integrität (vgl. Sastrawan et al. 2019; vgl. Rushton 2018b), und kennzeichnen beziehungsweise beeinflussen das situative Erleben von Pflegefachpersonen. Dabei spielt auch das Erleben des Selbst der Pflegefachperson in der Bezugnahme zum situativen moralischen Gehalt eine zentrale Rolle, beispielsweise hin-
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sichtlich der antizipierten Selbstwirksamkeit in Bezug auf einen moralisch angemessenen Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen (Rushton 2018c) oder des Erlebens des Selbst in Bezug auf die situative Involviertheit in moralisch unerwünschten Situationen (Campbell et al. 2016; Monteverde 2019) und die damit verbundene tatsächlich erlebte Selbstwirksamkeit in moralisch gehaltvollen Situationen. Die Handlungsdimension betreffend gestaltet sich professionelles Pflegehandeln als „wissenschaftlich fundiertes, personenbezogenes und interaktives Handeln […] [das] situationsbezogen gemeinsam mit dem Gegenüber abgestimmt und realisiert [wird]“ (Riedel et al. 2017, S. 162). Aufgrund dessen, dass das Gegenüber als Ausgangs- und Bezugspunkt des Handelns deklariert wird, lässt sich das professionelle Pflegehandeln als Form des ‚sozialen Handelns‘ einordnen (vgl. Abels 2020). Dabei umfasst der Handlungsbegriff dem Soziologen Weber (1920) zufolge nicht nur die aktive Form des Handelns, sondern auch das Dulden oder das Unterlassen stellen soziale Handlungsformen dar (Weber 1920, S. 670 f. in Abels 2020). Im Kontext der Konfrontation und des Umgangs mit moralisch gehaltvollen Situationen bezieht sich das Handeln nicht nur auf die Realisierung einer ethisch begründeten Entscheidung, sondern erfordert und umfasst auch ein sensibles Wahrnehmen des situationsspezifischen moralischen Gehalts sowie deliberative ethische Reflexionsprozesse (Riedel et al. 2017; Monteverde 2019; Tanner und Christen 2014). „Das heißt, das erfolgte Handeln zeigt sich nicht nur am Ergebnis der Handlung oder der Handlung selbst, sondern umfasst den gesamten Prozess bis zum eigentlichen Handlungsvollzug“ (Riedel et al. 2022, S. 5). Das Handeln in seiner jeweiligen Ausprägung nimmt im Kontext moralisch gehaltvoller Situationen wiederum Einfluss auf das Erleben der Pflegefachperson, denn moralisches Belastungserleben konstituiert sich in der Bezogenheit auf das situative Erleben und Handeln in moralisch gehaltvollen Situationen (z. B. angesichts der Wertung und Einordnung der moralischen Angemessenheit einer Handlung in der Bezugnahme
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M. Goldbach et al.
Abb. 2.1 Übersicht über die zentralen Elemente und Konzepte in der Entstehung und Wirkung moralischen Belastungserlebens. (Eigene Abbildung 2023)
2 Entstehung und Wirkung moralischen Belastungserlebens …
zu normativen Orientierungsdirektiven, der situativen moralischen Verantwortung und professionsethischen Verpflichtungen usw.) (vgl. Riedel et al. 2022; vgl. Fourie 2017; vgl. Jameton 1984; vgl. Campbell et al. 2016; vgl. Rushton 2018b) und der damit verbunden erlebten Selbstwirksamkeit. Die Erlebensdimension umfasst im vorliegenden Modell das Erleben des Selbst in Bezug zum situativen moralischen Gehalt sowie in Bezug auf die Einordnung der moralischen Angemessenheit des Handelns hinsichtlich der Erfüllung situativer moralischer Handlungsbedarfe und der damit verbundenen antizipierten sowie erfahrenen Selbstwirksamkeit. Die Handlungsdimension umfasst im vorliegenden Modell das (ausbleibende) Wahrnehmen des situativen moralischen Gehalts, das ethische Reflektieren und Entscheiden sowie die Realisierung der ethisch begründeten Entscheidung (Riedel et al. 2022). Dabei wird das Erleben und Handeln der Pflegefachperson nicht nur durch die individuellen Voraussetzungen der Pflegefachperson geprägt (persönliche und professionelle Verfasstheit), sondern auch von kontextuellen Rahmenfaktoren.
2.2.1.2 Kontextuelle Rahmenfaktoren im Zusammenhang mit moralisch gehaltvollen Situationen Das Erleben und Handeln von Pflegefachpersonen in moralisch gehaltvollen Situationen ist in eine soziale und organisationale Praxis eingebettet (Hardingham 2004) und die damit verbundenen kontextuellen Rahmenfaktoren, die diese beiden Dimensionen in der Konfrontation und dem Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen wesentlich prägen und das gesamte Modell umrahmen. Von besonderer Relevanz ist dabei der organisationale Kontext, der das Wahrnehmen, Entscheiden und Handeln von Pflegefachpersonen in der Konfrontation und dem Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen beeinflusst (Schuchter et al. 2021; Wallner 2022; Riedel et al. 2022; Großklaus-Seidel 2020; Hardingham 2004) sowie die Ethikkultur einer Einrichtung, die die Ausgestaltung des Umgangs mit moralisch gehaltvollen Situationen prägt (Großklaus-
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Seidel 2020; Schuchter et al. 2021; Hardingham 2004). Hardingham (2004) konstatiert: „The organization’s structure determines both what are seen as problems and how those problems are managed“ (Hardingham 2004, S. 130). Organisationale Entscheidungsprämissen und settingspezifische ethische Implikationen beeinflussen die spezifische Konstitution ethischer Fragestellungen selbst sowie die Perspektive, die der Auseinandersetzung mit moralisch gehaltvollen Situationen zugrundegelegt wird (Wallner 2022; Schuchter et al. 2021). Gleichzeitig setzt der organisationale Kontext normative Orientierungsdirektiven und dirigiert das ethische Verhalten der Pflegefachpersonen (Corley und Minick 2002; Rushton und Sharma 2018; GroßklausSeidel 2020). Organisationen fungieren als „moral community“ (Hardingham 2004, S. 132; Liaschenko und Peter 2016, S. 20). Dabei kann eine etablierte und gelebte Ethikkultur in Organisationen für Pflegefachpersonen den Raum für eine verantwortliche Auseinandersetzung mit moralisch gehaltvollen Situationen eröffnen und dadurch einen professionellen Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen ermöglichen, fördern und unterstützen (Corley 2002; Großklaus-Seidel 2020; Hardingham 2004; Rushton und Sharma 2018) und somit positiven Einfluss auf das Erleben und Handeln von Pflegefachpersonen in moralisch gehaltvollen Situationen nehmen. Zugleich bedingt die Reichweite der kontextuellen Rahmenfaktoren in der Konfrontation und im Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen, dass diese ebenso das Potenzial bergen, das Handeln von Pflegefachpersonen in moralisch gehaltvollen Situationen gleichermaßen zu limitieren oder gar unmöglich machen (Corley 2002; Großklaus-Seidel 2020; Monteverde 2019). In Anbetracht steigender Anforderungen in allen pflegebezogenen Settings bei gleichzeitigem Ökonomisierungsdruck sowie dem gravierenden Fachkräftemangel scheint dieser Einfluss von besonderer Relevanz. Die der Ökonomisierung unterliegenden Veränderungen im Gesundheitswesen beispielsweise werden nicht nur für die Organisationen selbst, sondern auch für die in den Organisationen arbeitenden Pflegefachpersonen spür- und erlebbar und
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lassen sich häufig nur schwer oder gar nicht mit ihrem professionellen Ethos und dem damit verbundenen ethischen Anspruch vereinen (Rushton und Sharma 2018). Limitierende kontextuelle Rahmenfaktoren wirken damit angesichts der ausbleibenden Möglichkeiten der Realisierung des Anspruchs einer ethisch verantwortlichen Pflegepraxis, die einen professionellen Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen voraussetzt, nicht nur restringierend auf das Handeln, sondern evozieren moralisches Belastungserleben (Riedel und Lehmeyer (2022, 2021). Das situative Erleben und das individuelle Handeln von Pflegefachpersonen in der Konfrontation und dem Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen werden neben den kontextuellen Rahmenfaktoren auch maßgeblich durch die persönliche und professionelle Verfasstheit der Pflegefachperson geprägt.
2.2.1.3 Die zentralen Konzepte der persönlichen und professionellen Verfasstheit der Pflegefachperson Die Pflegefachperson in ihrer persönlichen und professionellen Verfasstheit, die sich personenbezogen individuell konstituiert und damit interpersonell variiert, stellt den zentralen Ausgangsund Bezugspunkt des Modells dar. Dabei werden im vorliegenden Modell folgende Konzepte der persönlichen und professionellen Verfasstheit zugeordnet, die in ihrer jeweilig individuellen und situativen Konstitution die moralische Verfasstheit der Pflegefachperson auszeichnen: • • • • • •
der moralische Kompass das Gewissen die ethischen Kompetenzen die moralische Integrität die moralische Resilienz der Moral Residue
Der moralische Kompass Pflegefachpersonen sind in ihrem professionellen Handeln dazu aufgefordert, in konsistenter und kongruenter Ausrichtung zu ihrem moralischen Kompass zu agieren (Rushton 2018b). Tanner und Christen (2014) definieren den moralischen Kompass („moral compass“) wie folgt:
„The reference system containing one’s (either existing or newly formulated) moral standards, values or convictions which provide the basis for moral evaluation and regulation“ (Tanner und Christen 2014, S. 122). Dabei sind die Bezugspunkte dieses Referenzsystems – des moralischen Kompasses – vielseitig und umfassen sowohl professionelle als auch persönliche Anteile (Tanner und Christen 2014; Cribb 2011): „The content of the moral compass is multifaceted. Moral values, moral convictions, ethical principles, religious beliefs, personal goals, self-related beliefs as well as behavioral scripts, etc.,form such ingredients“ (Tanner und Christen 2014, S. 127). Die Elemente des moralischen Kompasses werden durch (professionelle Praxis-)Erfahrungen hinzugewonnen und durch iterative Lernprozesse, soziale und kulturelle Einflüsse geschärft, neukonfiguriert und gewinnen hierdurch an Komplexität (Tanner und Christen 2014). Auch die systematische Auseinandersetzung mit professionellen Werten kann den moralischen Kompass formen (Lee et al. 2020). Beruflich erfahrene und ethisch kompetente Pflegefachpersonen verfügen dadurch über komplexe internalisierte normative Orientierungsdirektiven, die auch ihr Selbstverständnis im beruflichen Handeln prägen (Tanner und Christen 2014). Der moralische Kompass, der sinnbildlich als innerer Navigator im Kontext moralisch gehaltvoller Situationen fungiert (Tanner und Christen 2014, S. 128; Lee et al. 2020; Moore und Gino 2013), hat dabei im Prozess des ethischen Wahrnehmens, Entscheidens und Handelns eine motivationale Funktion in der Auseinandersetzung mit moralisch gehaltvollen Situationen (im Sinne der situativen Evaluation und des damit verbundenen Verweises auf den situativen moralischen Gehalt und des Strebens nach der Realisierung internalisierter Werte und Normen) sowie eine navigierende Funktion im Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen (im Sinne der Orientierung durch die Bezugnahme zu internalisierten Werten und Normen, auf deren Grundlage Ereignisse, Handlungsoptionen und Verhaltensweisen kognitiv und affektiv bewertet und reguliert werden) und steuert folglich die Reaktion der Pflegefachperson auf
2 Entstehung und Wirkung moralischen Belastungserlebens …
die und in der Konfrontation mit moralisch gehaltvollen Situationen maßgeblich (Tanner und Christen 2014; Moore und Gino 2013). Gleichsam setzt die navigierende Funktion, das heißt die eindeutige Handlungsorientierung durch den moralischen Kompass, auch eine gewisse Stabilität und Eindeutigkeit normativer Bezugspunkte voraus: „Using the compass as a metaphor for our internal standards of behavior implies both that our moral center is stable (a compass always points North) and its orientiation clear (the needle pointing North is plain to see)“ (Moore und Gino 2013, S. 55). Indes können aber persönliche und professionelle normative Orientierungsdirektiven divergieren und infolgedessen Spannungs- und Konfliktfelder evozieren (Cribb 2011) und soziale sowie organisationale Einflussfaktoren können eine Verzerrung/Abweichung des moralischen Kompasses bedingen (Moore und Gino 2013). Das Gewissen Das Gewissen, als ‚innere Stimme‘ und/oder ‚(Bauch-)Gefühl‘ in Bezug auf die moralischethische Dimension professionellen Pflegehandelns („Conscience, as an inner voice or feeling“; Jodaki et al. 2021, S. 7; „internal sense of what is right and wrong“; Lamb et al. 2019, S. 39), wirkt als Erfahrungs- und Erlebensraum des moralischen Anspruchs (Rushton 2018b; Lamb et al. 2019; Steinkamp und Gordijn 2010) und ist für die betroffene Person durch physische, psychische, emotionale und spirituelle Reaktionen und Prozesse wahrnehmbar (Rushton 2018b). Dabei fungiert das Gewissen als ‚Warnsystem‘ („internal radar system“; „watchdog of one’s integrity and honesty and the quality of one’s actions“; Rushton 2018b, S. 87; „warning signal“; Jodaki et al. 2021, S. 5), das die (mangelnde) Kongruenz internalisierter Werte, moralischer Überzeugungen und Handlungen detektiert und auf diese verweist (Rushton 2018b; Lamb et al. 2019). Lamb et al. (2019) arbeiten in einer Konzeptanalyse drei zentrale Attribute des Gewissens heraus: „(1) an inner sense of responsibility that influences right and wrong actions, (2) the result of internalization of parental norms and customs of the culture, and (3) a
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reflection of the integrity and wholeness of the person“ (Lamb et al. 2019, S. 42). Dabei kann das Gewissen sowohl in Bezugnahme auf das eigene Handeln sowie in Bezugnahme auf das Handeln anderer situativ Beteiligter ‚aktiviert‘ werden: „The call of conscience can be activated by both one’s own choices and the actions of others. Commonly, it is activated when there is a perceived threat or violation of integrity in response to situations that provoke temptation to deviate from established moral values, commitments, or standards“ (Rushton 2018b, S. 89). Auch eine Divergenz persönlicher moralischer Überzeugungen und professioneller Werte kann das Gewissen aktivieren (Lamb et al. 2019). Folglich wohnt dem Gewissen eine erste (prä-) reflexive Urteilstendenz inne, im Sinne der situativen Bewertung der moralischen (Un-)Angemessenheit einer Handlung, der im Kontext des Protegierens und Realisierens ethisch verantwortungsvollen Handelns von Pflegefachpersonen eine grundlegende Bedeutsamkeit zukommt und die ‚unethisches Handeln‘ präventieren kann (Lamb und Pesut 2021; Jodaki et al. 2021; Rushton 2018b; Lamb et al. 2019; Munkeby et al. 2022). Zu beachten ist dabei jedoch: Obwohl die Resonanz des Gewissens als wichtiges Element der moralischen Verfasstheit auf den situativen moralischen Gehalt verweist, so bietet das Gewissen allein keine ausreichend reflexive Grundlage für ethisch verantwortungsvolles Handeln (Rushton 2018b). Dennoch nimmt die Berücksichtigung der Reaktion des Gewissens im Kontext der Entstehung moralischen Belastungserlebens, vor allem im Hinblick auf dessen Prävention, eine weitreichende Bedeutsamkeit ein (Lamb und Pesut 2021; Rushton 2018b; Lamb et al. 2019): „The ability of nurses to act as moral agents in accordance with their conscience is both an essential human freedom and an important part of professional ethics“ (Lamb und Pesut 2021, S. 1319; vgl. Rushton 2018b; vgl. Lamb et al. 2019). Können Pflegefachpersonen entsprechend der Reaktion ihres Gewissens handeln, so wird dies positiv wahrgenommen (Lamb et al. 2019; Laabs 2011) und als ‚reines Gewissen‘ („clear conscience“; Laabs 2011, S. 433) erlebt. Damit konfron-
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tiert zu sein, nicht entsprechend internalisierter Werte und moralischer Überzeugungen handeln zu können, ist hingegen mit negativen Emotionen verbunden, wie Schuld- und Reuegefühlen, Selbstvorwürfen (Rushton 2018b; Lamb et al. 2019; Munkeby et al. 2022), mit einem ‚schlechten Gewissen‘ („bad conscience“; Lamb et al. 2019, S. 43; Munkeby et al. 2022, S. 26) und kann langfristig dazu führen, dass das Gewissen ignoriert und/oder ‚stummgeschaltet‘ wird, um weiterhin handlungs- und arbeitsfähig zu sein (Laabs 2011). Die ethischen Kompetenzen Pflegefachpersonen tragen in ihrem beruflichen Handeln eine moralische Verantwortung, die sich vornehmlich gegenüber dem pflegebedürftigen Menschen manifestiert, aber auch gegenüber Kolleg*innen, der Organisation sowie der Gesellschaft (ICN 2021; Prentice und Gillam 2018). Professionsethischen Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen im Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen und ethischen Fragestellungen angemessen Rechnung zu tragen, setzt eine umfassende Ethikkompetenz der Pflegefachperson voraus (Andersson et al. 2022; Riedel et al. 2017; Riedel und Lehmeyer 2021), die im vorliegenden Beitrag als Summe der professionellen ethischen Kompetenzen verstanden wird. Folglich ist die Ethikkompetenz als zentrale Dimension pflegeberuflicher Handlungskompetenz zu verstehen und einzuordnen (Riedel et al. 2017). Dabei bezieht sich eine handlungswirksame und tragfähige Ethikkompetenz nicht nur auf kognitive Fähigkeiten, sondern umfasst auch Erfahrungen, Motivationen und Motive in Form von Haltungen, internalisierten Werten und Überzeugungen (Riedel et al. 2017; Andersson et al. 2022). Die Dimensionen einer umfassenden Ethikkompetenz betreffend konkretisieren Andersson et al. (2022): „Ethical competence contain components such as the capability to identify ethical problems, knowledge about the ethical and moral aspects of care, reflection on one’s own knowledge and actions, and the ability to make wise choices and carefully manage ethically challenging work situations“ (Andersson et al. 2022, S. 2). Im Rahmen eines integ-
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rativen Reviews operationalisieren Lechasseur et al. (2018) folgende Aspekte ethischer Kompetenz: „[e]thical sensitivity“, „[e]thical knowledge“, „[e]thical reflection“, „[e]thical desicion-making“, „[e]thical action“ und „[e]thical behavior“ (Lechasseur et al. 2018, S. 697–699). Riedel et al. (2017) spezifizieren in der Sektion Lehrende im Bereich der Pflegeausbildung und der Pflegestudiengänge in der Akademie für Ethik in der Medizin e. V. folgende Teilkompetenzen einer umfassenden und handlungswirksamen Ethikkompetenz für das professionelle Pflegehandeln: „Die Kenntnis ethischer Grundlagen professionellen Handelns“, „die Sensibilität für ethische Konfliktsituationen im Pflegealltag sowie im Kontext institutioneller und gesellschaftlicher Entwicklungen“, „die Identifikation und Analyse konkreter ethischer Fragestellungen“, „Empathiefähigkeit und die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel“, „Diskurs- und Konfliktfähigkeit sowie die Konsensorientierung in der Wahrnehmung der Verantwortung als professionell Pflegende“ und „Reflexion und Begründung beruflichen Handelns unter Einbezug ethischer Normierungen der Pflege und der anderen Heilberufe“ (Riedel et al. 2017, S. 164–165). Weiter formulieren die Autor*innen: „Diese Fähigkeiten gründen auf einer Haltung der Verantwortung, die sich am Individuum und seiner Selbstbestimmung, am Prinzip der (Für-)Sorge und am Gemeinwohl orientiert. Diese Haltung fordert einen verantwortlichen Umgang mit sich selbst, den pflegebedürftigen Menschen und dem Beruf, dessen Professionalisierung und Stärkung, mit der Zielsetzung, die bestmögliche Pflegequalität zu erreichen“ (Riedel et al. 2017, S. 165). Deutlich wird: Eine handlungswirksame Ethikkompetenz, die sich auch in der Performanz eines ethisch gut begründeten professionellen Pflegehandelns in der Konfrontation und dem Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen als tragfähig erweist, bezieht sich nicht nur auf die Realisierung einer Handlungsentscheidung, sondern setzt die Übernahme moralischer Verantwortung voraus, die sich auch in der Sensibilität für den situativen moralischen Gehalt und die damit verbundenen ethischen Im-
2 Entstehung und Wirkung moralischen Belastungserlebens …
plikationen, in der ethischen Reflexion, der ethischen Urteilsbildung und der Entscheidungsfindung abbildet. Damit sind umfassende ethische Kompetenzen Voraussetzung für eine (ethisch) qualitätsvolle Pflege (Andersson et al. 2022; Riedel et al. 2017). Die moralische Integrität Das Konzept der moralischen Integrität beschreibt die Verfassung ‚moralischer Ganzheit‘ („moral wholeness“; Rushton 2018b, S. 78; vgl. Hardingham 2004, S. 129; vgl. Sastrawan et al. 2019, S. 736). Das untrennbare Zusammenwirken persönlicher und professioneller Integrität (Sastrawan et al. 2019) bedingt dabei, dass die Integrität ein genuin persönliches Konzept darstellt (Sastrawan et al. 2019; Rushton 2018b), das sich sowohl in einer Handlungs- als auch in einer Erlebensdimension konstituiert (Sastrawan et al. 2019; Rushton 2018b): „Within the morale-oriented perspective, integrity is viewed as an outcome of an action/incidence. […] From a moral-oriented perspective, integrity is conceptualised around moral processes and actions“ (Sastrawan et al. 2019, S. 740). In Bezug auf die Handlungsdimension hebt Hardingham (2004) die Kongruenz von Werten, moralischen Überzeugungen und Handlungen als zentrales Merkmal integren Handelns hervor: „[W]hen we refer to our moral integrity, either as a person or as a professional, we think about a wholeness in the relationship between our actions and our values and beliefs, in other words about a certain conception of our self as being a consistent whole“ (Hardingham 2004, S. 129). Das Konzept tangiert demzufolge auch das Selbstbild der Person (Sastrawan et al. 2019; Hardingham 2004; Rushton 2018b; Laabs 2011). Das Erleben moralischer Integrität, das Sastrawan et al. (2019) als „outcome of an action“ (Sastrawan et al. 2019, S. 749) beschreiben, das in der Kongruenz ethischer Verpflichtungen, internalisierter Werte, moralischer Überzeugungen und Handlungen entsprechend der moralischen Verantwortung entsteht (Rushton 2018b; Sastrawan et al. 2019; Hardingham 2004), wird für die Pflegefachperson als ‚Gefühl innerer Harmonie‘ („sense of inner harmony“; Rushton 2018b, S. 77) erfahr-
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bar. Moralische Integrität ist substanziell für das persönliche und professionelle Wohlbefinden der Pflegefachperson (Sastrawan et al. 2019), sowie eine Voraussetzung für eine ethisch verantwortliche Praxis (Rushton 2018b; Sastrawan et al. 2019; Hardingham 2004; Laabs 2011), insbesondere in der Konfrontation mit moralisch herausfordernden und komplexen Situationen (Sastrawan et al. 2019; Rushton 2018b): „Clinicians of integrity are committed to being moral, steadfastly upholding their fundamental moral beliefs and values, discerning the moral features of a particular situation with emotional balance and insight, analyzing various moral points of view, and bringing about the best course of action based upon what they discern to be consonant with those values, commitments, and responsibilities, all things considered, and to the best of their ability“ (Rushton 2018b, S. 79). Dabei sind die Entstehungsbedingungen moralischer Integrität nicht nur an persönliche Voraussetzungen der Pflegefachperson gebunden (Cribb 2011; Rushton 2018b; Sastrawan et al. 2019; Laabs 2011), sondern auch an organisationale Voraussetzungen, die sich in entsprechenden kontextuellen Rahmenfaktoren abbilden, wie etwa in einer etablierten und gelebten Organisationskultur, die einen professionellen Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen ermöglicht und fördert (Hardingham 2004; Rushton 2018b). Die moralische Resilienz Die moralische Resilienz steht in engem Zusammenhang mit dem Schutz und Erhalt beziehungsweise der Wiederherstellung der Integrität in der Konfrontation mit moralisch herausfordernden Situationen (Rushton 2016, 2018c; Sala Defilippis et al. 2019; Arries-Kleyenstüber 2021). Lachman (2016) definiert das Konzept moralischer Resilienz wie folgt: „[t] he ability and willingness to speak and take right and good action in the face of an adversity that is moral/ethical in nature“ (Lachman 2016, S. 122). Moralische Resilienz erfordert demnach das Vermögen und die Motivation, einen professionellen, ethisch gut begründeten Umgang mit moralisch herausfordernden Situationen zu rea-
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lisieren. Hingegen konzeptualisieren Sala Defilippis et al. (2019) moralische Resilienz als Kompromissfähigkeit und Konsensorientierung in moralisch herausfordernden und komplexen Situationen, bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung moralischer Integrität: „We suggest that moral resilience should be considered as a character trait that allows people to remain open to compromises without compromising themselves. This means that people should contemplate compromises with themselves and according to the demands of a given situation. However, this should happen without compromising one’s own moral integrity. This understanding includes the ability to bounce back when people decide to make a concession in their ethical decision and to carry out and action they do not completely share but which does not compromise their moral integrity“ (Sala Defilippis et al. 2019, S. 5). Die Aufrechterhaltung, Protektion und/oder Wiederherstellung moralischer Integrität als zentrales Merkmal moralischer Resilienz hebt auch Rushton (2016) in ihrer Definition hervor: „[Moral resilience is] the capacity of an individual to sustain or restore their integrity in response to moral complexity, confusion, distress, or setbacks“ (Rushton 2016, S. 112). Obwohl bei dem Konzept moralischer Resilienz keine definitorische Klarheit herrscht, wird deutlich, dass moralische Resilienz ein wichtiges Potenzial in der Konfrontation und dem Umgang mit moralisch herausfordernden und komplexen Situationen darstellt sowie im professionellen Umgang mit moralischer Belastung bzw. einer bedrohten und/oder verletzten Integrität (Rushton 2016, 2018c; Lachman 2016; Sala Defilippis et al. 2019; Arries-Kleyenstüber 2021). Als Voraussetzung für die Entstehung moralischer Resilienz expliziert Rushton (2018c) in einer Inhaltsanalyse unterschiedlicher Definitionen des Konzeptes folgende Schlüsselattribute: „Integrity“, „Buoyancy“, „Moral Efficacy“, „Self-Regulation“, „Self-Stewardship“ (Rushton 2018c, S. 128–136). Wenngleich das Konzept moralischer Resilienz insbesondere personale Charakteristika des Individuums umfasst und voraussetzt (Rushton 2016, 2018c; Arries-Kleyenstüber 2021), unterstreicht Rushton (2018c)
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die organisationale Verantwortung in der Ermöglichung ethischen Handelns und damit verbunden in der Entstehung und Stärkung moralischer Resilienz: „Individual moral resilience is unlikely to flourish without concurrently adressing the organization’s ethical responsibility to create environments that support a culture of ethical practice“ (Rushton 2018c, S. 144). Der Moral Residue Moralische Belastung kann nicht nur situativ und akut in der Konfrontation mit moralisch gehaltvollen, möglicherweise komplexen und herausfordernden Situationen erlebt werden („initial distress“), sondern auch reaktiv im Nachgang einer als moralisch belastend erlebten Situation nachklingen („reactive distress“; Epstein und Hamric 2009, S. 330; Campbell et al. 2016, S. 2). Der damit verbundene Rückstand unzureichend bearbeiteter moralischer Belastung wird unter dem Begriff „Moral Residue“ gefasst (Epstein und Hamric 2009; Hardingham 2004; Campbell et al. 2016; Lachman 2016). Als wesentliches Merkmal bei der Entstehung des Moral Residue heben Webster und Baylis (2000) die eigene Kompromittierung hervor: „[Moral Residue is that feeling] which each of us carries with us from those times in our lives when in the face of moral distress we have seriously compromised ourselves or allowed ourselves to be compromised“ (Webster und Baylis 2000, S. 218 in Hardingham 2004, S. 128). Der Rückstand moralischer Belastung, die Erfahrung der eigenen Kompromittierung, kann zu tiefgreifenden, langanhaltenden und schmerzlichen Belastungserfahrungen führen (Hardingham 2004). Evident ist, dass Moral Residue nicht nur mit persönlichen Folgen für die Betroffenen verbunden ist, sondern sich auch auf das professionelle Erleben und Handeln auswirkt (Epstein und Hamric 2009; Sastrawan et al. 2019), beispielsweise die Resonanzfähigkeit und Affizierbarkeit in moralisch gehaltvollen Situationen einschränkt (vgl. Sastrawan et al. 2019) und folglich einen erheblichen negativen Einfluss auf das Erleben und Handeln in der Konfrontation und dem Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen zur Folge hat. Zu beachten
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ist außerdem, dass der Rückstand unbearbeiteter moralischer Belastung, der Moral Residue, sich sukzessive aufstaut, sodass sich das Ausgangspotenzial für die Entstehung moralischen Belastungserlebens in der wiederkehrenden Konfrontation mit moralisch gehaltvollen Situationen erhöht und Belastungsreaktionen demnach verstärkt werden (Epstein und Hamric 2009).
Die Konstitution der persönlichen und professionellen Verfasstheit variiert je nach Beschaffenheit der einzelnen Konzepte interpersonell und situativ. In ihrer Gesamtheit bilden die Elemente der persönlichen und professionellen Verfasstheit die moralische Verfasstheit der Pflegefachperson, die das subjektive Erleben (Erlebensdimension) und das individuelle Handeln (Handlungsdimension) der Pflegefachperson in der Konfrontation und dem Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen prägt und folglich als zentral beachtlicher Faktor in der Entstehung moralischen Belastungserlebens einzuordnen ist. Da auch vorangegangene Erfahrungen moralischen Belastungserlebens (Erlebensdimension) die persönliche und professionelle Verfasstheit beeinflussen (z. B. in Bezug auf den Moral Residue, die moralische Integrität oder die moralische Resilienz), schlagen sich an dieser Stelle auch (Aus-) Wirkungen moralischen Belastungserlebens in der Konstitution der moralischen Verfasstheit nieder, die dann wiederum auch in der erneuten Konfrontation mit moralisch gehaltvollen Situationen (bewusst oder unbewusst) mitwirken und das situative Erleben und Handeln der Pflegefachperson (Erlebens- und Handlungsdimension) beeinflussen.
Die Wirkung der persönlichen und professionelle Verfasstheit, im Sinne der moralischen Verfasstheit der Pflegefachperson in der Konfron-
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tation mit dem situativen moralischen Gehalt, wird folgend übergeordnet skizziert.
2.2.1.4 Der moralische Kompass im Kontext moralisch gehaltvoller Situationen Da die moralisch-ethische Dimension für das professionelle Pflegehandeln konstitutiv ist, ist den jeweils einzigartigen Pflegesituationen ein jeweils spezifischer moralischer Gehalt immanent (Andersson et al. 2022; Corley 2002; Milliken 2018; Linde 2018; Riedel et al. 2022). Dies bedingt, dass Pflegefachpersonen in ihrem beruflichen Alltag unumgänglich wiederkehrend mit moralisch herausfordernden, komplexen und teilweise auch ethisch spannungs- und konfliktreichen Situationen konfrontiert werden (Rushton 2018a; Andersson et al. 2022), die das Potenzial bergen die moralische Integrität der Pflegefachperson zu erschüttern und dadurch die Entstehung moralischen Belastungserlebens zu evozieren (Hardingham 2004; Prentice und Gillam 2018; Sastrawan et al. 2019; Andersson et al. 2022). Der moralische Kompass wirkt dabei als ‚moralisches Referenzsystem‘ („moral reference system“; Tanner und Christen 2014, S. 123) und detektiert in der situativen Bezugnahme zu internalisierten Werten und Normen den situativen moralischen Gehalt (Tanner und Christen 2014). Tanner und Christen (2014) beschreiben den Wirkmechanismus des moralischen Kompasses wie folgt: „It serves as a reference, based upon which events, options and conduct are cognitively and affectively evaluated and regulated“ (Tanner und Christen 2014, S. 127). Bei der Wahrnehmung des situativen moralischen Gehaltes handelt es sich zunächst um unbewusst und automatisch ablaufende Prozesse: „As an inherently perceptional process, it involves non-conscious matching of patterns according to which individuals automatically compare their observations with their standards“ (Tanner und Christen 2014, S. 130). Als ‚innere Stimme‘ („inner voice“; Moore und Gino 2013, S. 54) steuert der moralische Kompass die Reaktion der Pflegefachperson in moralisch gehaltvollen Situationen (Tanner und Christen 2014).
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Der moralische Kompass affiziert folglich durch seine Resonanz die Pflegefachperson vom situativen moralischen Gehalt, verweist durch evaluative Mechanismen auf einen Handlungsbedarf vor dem Hintergrund der professionsethischen Verantwortung, in der Bezugnahme zu internalisierten Werten und Normen (Tanner und Christen 2014), und bietet eine erste Orientierung in Bezug auf die situative moralische Angemessenheit (Moore und Gino 2013; Tanner und Christen 2014). Jedoch kann die Achtsamkeit und Affizierbarkeit von Pflegefachpersonen in moralisch gehaltvollen Situationen interpersonell variieren, allein weil der moralische Kompass sich individuell konstituiert und möglicherweise (noch) nicht über die Komplexität verfügt, die für eine differenzierte Wahrnehmung des situativen moralischen Gehalts erforderlich ist (vgl. Tanner und Christen 2014), weil Werte eine individuelle Bedeutsamkeit einnehmen und damit auch perspektivische Unterschiede in der Wahrnehmung des situativen moralischen Gehalts entstehen können (Tanner und Christen 2014) oder aber auch weil die Affizierbarkeit und Resonanzfähigkeit der Pflegefachperson gegenüber dem situativen moralischen Gehalt in Folge anhaltender moralischer Belastung eingeschränkt ist (vgl. Sastrawan et al. 2019). Weiter setzt die eindeutige Detektion des situativen moralischen Gehalts sowie die navigierende Funktion des moralischen Kompasses voraus, dass die relevanten normativen Orientierungsdirektiven stabil im moralischen Kompass verankert sind (Tanner und Christen 2014; Moore und Gino 2013). Jedoch ist der moralische Kompass in seiner Ausrichtung und Konfiguration dynamisch (Lee et al. 2020; Tanner und Christen 2014; Moore und Gino 2013) und damit auch gewissermaßen fragil, denn soziale sowie organisationale Einflüsse können eine Verzerrung des moralischen Kompasses bedingen (Moore und Gino 2013). Auch ersetzt der moralische Kompass keine deliberativen Prozesse der ethisch-reflexiven Bezugnahme und reicht damit als solcher auch nicht aus, um eine ethisch begründete Handlung zu initiieren (Tanner und Christen 2014). Dies setzt wiederum die Motivation und das Ver-
M. Goldbach et al.
mögen von Pflegefachpersonen voraus, sich mit dem situativen moralischen Gehalt in Bezug zu setzen (Tanner und Christen 2014), erfordert eine aktive Auseinandersetzung mit moralisch herausfordernden und komplexen Situationen, im Sinne einer ethisch sensiblen Wahrnehmung, einer ethischen Reflexion und einer ethisch gut begründeten Entscheidungsfindung (Andersson et al. 2022; Riedel et al. 2017; Lechasseur et al. 2018; Monteverde 2019). Der moralische Kompass mit seinen evaluativen Mechanismen und der damit verbundenen Regulation der Reaktion der Pflegefachperson auf die Konfrontation mit dem situativen moralischen Gehalt (Tanner und Christen 2014) markiert im Modell den Übergang von der Erlebensin die Handlungsdimension.
2.2.1.5 Das moralische Handlungsvermögen im Kontext moralisch gehaltvoller Situationen Die sensible Wahrnehmung und Erfassung der Komplexität moralisch gehaltvoller Situationen sowie der professionelle Umgang mit dem situativen moralischen Gehalt von Pflegefachpersonen erfordern ein spezifisches moralisches Handlungsvermögen (Monteverde 2019; Rushton 2018b), „das sich in der Befähigung und Ermächtigung der Akteurinnen zeigt, ethische Wahrnehmungen anzusprechen, sich darüber zu verständigen und tragfähige Lösungen zu suchen“ (Monteverde 2019, S. 347). Moralisches Handlungsvermögen umfasst somit die moralisch-ethische Wahrnehmung, die ethische Reflexion, die ethisch begründete Entscheidungsfindung sowie die Realisierung der Entscheidung und tangiert damit sowohl die Konfrontation als auch den Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen. Rushton (2018b) definiert das moralische Handlungsvermögen („Moral Agency“) wie folgt: „Broadly construed, the concept of moral agency includes considerations of the congruence (or lack thereof) among one’s intentions, character, choices, behaviors, and actions as well as one’s responsibility for them“ (Rushton 2018b, S. 81). Demnach zeichnet sich moralisches Handlungsvermögen
2 Entstehung und Wirkung moralischen Belastungserlebens …
durch die Kongruenz moralischer Werte, Überzeugungen und Handlungen in der Bezugnahme zur situativen moralischen Verantwortung aus. Weiter präzisiert Rushton (2018b) die Voraussetzungen eines wirksamen moralischen Handlungsvermögens: „It presumes a level of awareness of one’s values and conscientiousness that includes the intention to do what is morally justified, and the motivation to do so based on one’s values, commitments, and discernment of what is ethically justified“ (Rushton 2018b, S. 81). Moralisches Handlungsvermögen umfasst demnach die Bezugnahme zum situativen moralischen Gehalt, den situativen ethischen Implikationen und damit verbundenen Handlungsbedarfen, umfasst ethische Kompetenzen und setzt diese gleichermaßen voraus. Gleichzeitig erfordert ein situativ handlungswirksames moralisches Handlungsvermögen die Antizipation von Selbstwirksamkeit: „Possessing moral agency involves viewing oneself as capable of recognizing, deliberating about, embodying, and acting upon moral commitments and responsibilities“ (Rushton 2018c, S. 133). Ein tragfähiges moralisches Handlungsvermögen umfasst damit das Vermögen von Pflegefachpersonen, situativen ethischen Anforderungen und moralischen Verantwortlichkeiten zu entsprechen (Milliken 2018). Wobei dies jedoch nicht per se ein Handeln im Sinne des aktiven Intervenierens erfordert: „In some instances, the path involves taking conscientious action; in others, bearing witness to the reality of the situation or remaining silent or not acting is the most ethically responsible action“ (Rushton et al. 2018, S. 172). Beachtlich an dieser Stelle ist, dass ein handlungswirksames moralisches Handlungsvermögen, das sich in der komplexen Pflegepraxis als tragfähig erweist, bestimmten Anforderungen unterliegt, wie etwa spezifischer Attribute der Pflegefachperson, wie eine umfassende und handlungswirksame Ethikkompetenz (vgl. Riedel et al. 2017; vgl. Rushton 2018b; vgl. Andersson et al. 2022; vgl. Lechasseur et al. 2018), der Bezugnahme zu und Orientierung an professionellen Werten (Lee et al. 2020; Monteverde 2019; Linde 2018), und unterstützende kontextuelle Rahmungen erfordert, wie etwa
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tragfähige organisationsethische Prozesse und Strukturen, die ethisches Handeln (erst) ermöglichen (vgl. Großklaus-Seidel 2020; vgl. Schuchter et al. 2021; vgl. Wallner 2022). Das heißt zugleich, dass die Handlungswirksamkeit des moralischen Handlungsvermögens im beruflichen Alltag durch mannigfaltige Einflussfaktoren erschwert oder gar unmöglich macht (Monteverde 2019; Milliken 2018). Milliken (2018) fordert diesbezüglich in der Konzeptualisierung der Entstehung und Realisierung moralischen Handlungsvermögens die kontextuellen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen: „Rather than defining moral agency as a character trait, a virtue, or the outcome of a linear moral judgement, moral agency must be conceptualized in a way that reflects the fluid, ever-changing dynamics of healthcare settings and the way these dynamics can influence decision making and the mind“ (Milliken 2018, S. 4). Rushton (2018b) verweist zudem auf die Notwendigkeit der Klarlegung von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten: „These must be coupled with clear boundaries of responsibility that acknowledge one’s authority, role, power and capacities to bring about results or consequences“ (Rushton 2018b, S. 81). Die situative Konstitution des moralischen Handlungsvermögens prägt nicht nur die Wahrnehmung und den Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen, sondern in der Bezugnahme zur Konstitution des moralischen Handlungsvermögens, des situativen Erlebens (Erlebensdimension) und Handelns (Handlungsdimension) in der Konfrontation und dem Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen und der damit verbundenen Wertung der moralischen Angemessenheit einer Handlung, nimmt das moralische Handlungsvermögen in der Entstehung moralischen Belastungserlebens eine zentrale Bedeutsamkeit ein (Riedel et al. 2022; vgl. Monteverde 2019). Zusammenfassend lässt sich bis hier-
hin festhalten, dass sich das Erleben und Handeln von Pflegefachpersonen in der Konfrontation und dem Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen in Abhängigkeit von der in-
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M. Goldbach et al.
dividuellen moralischen Verfasstheit der Pflegefachperson, der Konfiguration des situativen moralischen Gehalts und damit verbundener Implikationen sowie der Tragfähigkeit des moralischen Handlungsvermögens unterschiedlich konstituiert. Die situative Konstitution des Erlebens und Handelns kann in der situativen und/ oder retrospektiven Bezugnahme moralisches Belastungserleben evozieren. Dabei kann das moralische Belastungserleben eine Bandbreite an unterschiedlichen Erlebensqualitäten annehmen (Riedel et al. 2022; Rushton 2018a; Rushton et al. 2021; Riedel und Lehmeyer 2022 2021).
2.2.1.6 Das Kontinuum moralischen Belastungserlebens Moralisches Belastungserleben wird im vorliegenden Modell verstanden als subjektives Erleben, das situativ und/oder retrospektiv in der Bezugnahme zum situativen Erleben und der individuellen Wahrnehmung und Wertung der moralischen Angemessenheit des Handelns in der Konfrontation und dem Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen erlebt wird und das spezifische Erlebensqualitäten annehmen kann, die sich auf einem Kontinuum zwischen den Endpolen des Moral Comfort einerseits und des Moral Distress andererseits abbilden (Riedel et al. 2022). Moral Comfort und Moral Distress können folglich als diametral gegenüberliegende Erlebensqualitäten verstanden werden (Corley 2002; Riedel et al. 2022). Die verschiedenen Erlebensqualitäten moralischen Belastungserlebens, wie die des Moral Comfort und des Moral Distress sowie die sich zwischen diesen Endpolen entlang des Kontinuums zu verortenden weiteren Erlebensqualitäten, wie beispielsweise die der moralischen Unsicherheit (vgl. Fourie 2017; vgl. Campbell et al. 2016) oder der moralischen Verletzung (vgl. Riedel und Lehmeyer 2022 2021; vgl. BaumannHölzle und Gregorowius 2022), zeichnen sich
durch eine jeweils spezifische Ausprägung der moralischen Integrität und des moralischen Unbehagens aus (Riedel et al. 2022). Die moralische Integrität konstituiert sich – wie bereits unter den Konzepten der persönlichen und professionellen Verfasstheit beschrieben – sowohl in einer Erlebens- als auch in einer Handlungsdimension (Sastrawan et al. 2019; Rushton 2018b). Dabei ist Integrität nicht als statischer Zustand zu verstehen, sondern als kontinuierlicher Prozess (Rushton 2018b), der sich relational ausgestaltet, eingebettet in eine soziale Praxis und deren Gefüge (Hardingham 2004; Rushton 2018b): „Sustaining integrity is a matter of being true, as best one can, to one’s moral principles, ideals, and commitments within the moral complexity and diversity of the clinical world“ (Rushton 2018b, S. 79). Die Komplexität moralisch gehaltvoller Situationen in der professionellen Pflegepraxis ist jedoch häufig mit Herausforderungen, Spannungs- und Konfliktfeldern verbunden, die auch die moralische Integrität tangieren und bedrohen (vgl. Hardingham 2004; vgl. Prentice und Gillam 2018; vgl. Sastrawan et al. 2019; vgl. Andersson et al. 2022; vgl. Campbell et al. 2016; vgl. Cribb 2011; vgl. Rushton 2018b). Während eine hohe moralische Integrität als Zustand der ‚Ganzheit‘ („wholeness“; Rushton 2018b, S. 78; Hardingham 2004; Sastrawan et al. 2019), der ‚Unversehrtheit‘ („being undiminished“; Rushton 2018b, S. 78) und der ‚Harmonie‘ („harmony“; Rushton 2018b, S. 78) erlebt wird, der sich auch positiv auf das Wahrnehmen und Erleben des Selbst auswirkt, im Sinne der Selbstachtung (Rushton 2018b; Corley 2002), kann eine Bedrohung oder gar Verletzung der moralischen Integrität, die durch eine Divergenz der Erwartungen der Pflegefachperson und der Praxisrealität entsteht (Sastrawan et al. 2019; Rushton 2018b), als moralisch spannungsreich erlebt werden (Rushton 2018b), leidvolle Zustände evozieren (Rushton et al. 2021; Corley 2002) und ist eng mit der Entstehung negativer Erlebensqualitäten moralischen Belastungserlebens assoziiert, wie der des Moral Distress (Hardingham 2004; Prentice und Gillam 2018;
2 Entstehung und Wirkung moralischen Belastungserlebens …
Sastrawan et al. 2019; Andersson et al. 2022; Campbell et al. 2016; Cribb 2011; Corley 2002). Moralisches Unbehagen – als entlang des Kontinuums gegenläufig zur moralischen Integrität verlaufendes Erlebenscharakteristikum der je spezifischen Erlebensqualitäten moralischen Belastungserlebens – verweist auf die situative Beteiligung von Werten (Linde 2018), und auf die situative moralische Komplexität (Monteverde 2019) und zeigt auf, „dass das jedem eigene Vorverständnis und Erschlossensein seines Handelns eine Irritation erfahren hat, die eine sorgfältige Auseinandersetzung erfordert“ (Steinkamp und Gordijn 2010, S. 285). In der Konfrontation und dem Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen kann das Erleben moralischen Unbehagens beispielsweise auf eine Einschränkung des moralischen Handlungsvermögens verweisen und/oder darauf, dass eine Handlung in der Bezugnahme zum moralischen Kompass, zu internalisierten Werten, Normen, moralischen Überzeugungen und professionsethischen Verpflichtungen und der damit verbundenen moralischen Verantwortung situativ und/oder retrospektiv als moralisch unangemessen gewertet wird und folglich eine Bedrohung der Integrität darstellt. Die situativ/retrospektiv erlebte moralische Integrität und das situativ/retrospektiv erlebte moralische Unbehagen werden in dem Modell als entlang des Kontinuums diametral zueinander verlaufende Erlebenscharakteristika verstanden, die in ihrer jeweiligen Ausprägung eine jeweils spezifische Erlebensqualität moralischen Belastungserlebens auszeichnen (Riedel et al. 2022). Die beiden Endpole des Kontinuums, Moral Comfort und Moral Distress, stellen dabei ebenfalls spezifische Erlebensqualitäten dar. Moral Comfort definieren Corley und Minick (2002) in Bezug auf das Erleben und die Entstehungsbedingungen: „Moral comfort is an individual’s feeling of ease about a decision related to ethical problems. It occurs when the professional is able to make decisions in the best interest of patients, has his or her ideas about patient care considered in the care plan, or is able to relieve or reduce the patient’s pain and suffering“ (Corley und Minick 2002, S. 8).
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Moral Comfort entsteht demnach dann, wenn es der Pflegefachperson möglich ist (individuell und organisational), ihrer situativen moralischen Verantwortung angemessen Rechnung zu tragen, und setzt folglich Fähigkeiten des sensiblen Wahrnehmens des situativen moralischen Gehalts, der ethischen Reflexion und der ethisch gut begründeten Entscheidungsfindung sowie Fähigkeiten zur Realisierung dieser Entscheidung voraus: „The greater the level of competence in each of these moral characteristics, the more morally competent they are and thus the greater moral comfort they will experience“ (Corley 2002, S. 647). Gleichzeitig kennzeichnet sich Moral Comfort durch ein Handeln, das internalisierten Werten und moralischen Überzeugungen sowie der situativen moralischen Verantwortung entspricht (Corley 2002; vgl. Corley und Minick 2002). Dies sind gleichzeitig Entstehungsbedingungen wie auch Kennzeichen einer hohen moralischen Integrität (vgl. Rushton 2018b; vgl. Sastrawan et al. 2019; vgl. Hardingham 2004). Die Erlebensqualität des Moral Distress definieren Prentice und Gillam (2018) in der Bezugnahme zum situativen Integritätserleben der Pflegefachperson vor dem Hintergrund ihrer situativen moralischen Verantwortung und ihrer professionsethischen Verpflichtung: „Moral distress […] is the feeling that one has failed to act according to one’s moral conviction. It strikes at one’s integrity and threatens one’s fulfilment of professional obligations to act in a patient’s best interest“ (Prentice und Gillam 2018, S. 265). Moral Distress erleben Pflegefachpersonen demnach dann, wenn sie sich damit konfrontiert sehen, nicht entsprechend ihrer situativen moralischen und professionsethischen Verantwortung handeln zu können (situativ) oder gehandelt zu haben (retrospektiv). Verbunden damit ist eine Inkongruenz von Werten, Überzeugungen und Verpflichtungen, die im moralischen Kompass verankert sind, die ein erhebliches Maß an moralischem Unbehagen erzeugt, beispielsweise da Handlungen situativ und/oder retrospektiv als moralisch unangemessen bewertet werden. Das Erleben von Moral Distress ist demnach die Folge verletzter moralischer Integrität (Harding-
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ham 2004; Prentice und Gillam 2018; Sastrawan et al. 2019; Andersson et al. 2022; Corley 2002). Die jeweils situativ und/oder retrospektiv subjektiv erlebte Erlebensqualität moralischen Belastungserlebens wirkt sich wiederum auf die persönliche und professionelle Verfasstheit, im Sinne der moralischen Verfasstheit aus. Dabei können diese Wirkbezüge – je nach Erlebensqualität und Grad der aktiv-reflexiven Auseinandersetzung – sowohl das Entstehen moralischer Resilienz fördern, aber auch zur Entstehung von Moral Residue führen. Rushton (2018c) konstatiert, dass eine aktive Auseinandersetzung mit dem moralischen Belastungserleben selbst als Folge des Erlebens von Moral Distress, zur Entstehung moralischer Resilienz führen kann: „Instead of seeing ourselves as broken and permanently damaged, it is possible to restore ourselves to wholeness, not by denying our moral suffering but by intentionally and constructively engaging in a process of moral repair that weaves together both the suffering and our basic goodness in a new way. In so doing we are able to strengthen our integrity and capacity to learn and grow in response to moral adversity“ (Rushton 2018c, S. 127). Dies fördert den Erhalt sowie den Schutz moralischer Integrität (Rushton 2018c), erfordert jedoch eine reflektierte Auseinandersetzung, die sich förderlich auf den Umgang in der zukünftigen Konfrontation mit moralisch gehaltvollen Situationen auswirken kann: „By confronting adversity from a place of wisdom rather than reaction, we have the potenzial to shift from powerlessness and despair to empowered moral agency and moral efficacy“ (Rushton 2018c, S. 144). Moral Residue hingegen beschreibt das anhaltende Belastungserleben im Nachgang einer moralisch herausforderungsvollen Situation („reactive distress“), das dann entsteht, wenn akute moralische Belastung („inital distress“; Epstein und Hamric 2009, S. 330; vgl. Campbell et al. 2016, S. 2) nicht angemessen bearbeitet und aufgearbeitet wird (Epstein und Hamric 2009). Die Auswirkungen des Moral Residue führen nicht nur auf der persönlichen Ebene zu psychologischen Reaktionen (Epstein und Ham-
M. Goldbach et al.
ric 2009), sondern nehmen zugleich Einfluss auf das professionelle Erleben und Handeln und können beispielsweise zu einer Einschränkung der Resonanzfähigkeit und Affizierbarkeit im Kontext moralisch gehaltvoller Situationen führen (vgl. Sastrawan et al. 2019). Zugleich staut sich unbearbeitete moralische Belastung sukzessive auf, sodass das Ausgangspotenzial für die Entstehung moralischen Belastungserlebens bzw. für die Entstehung von initialem Distress, in zukünftigen Konfrontationen mit moralisch gehaltvollen Situationen nach und nach erhöht wird, sodass das Erleben moralischer Belastung verstärkt wird, was als „crescendo effect“ (Epstein und Hamric 2009, S. 3) bezeichnet wird. Deutlich wird, dass eine aktive reflexive Bezugnahme die Wirkung moralischen Belastungserlebens auf die persönliche und professionelle Verfasstheit und somit auch die (Aus-) Wirkung moralischen Belastungserlebens auf die und in der zukünftigen Konfrontation mit moralisch gehaltvollen Situationen erheblich beeinflussen kann und sich bezüglich eines professionellen Umgangs mit moralischem Belastungserleben als förderlich zeigt. Gleichsam wirkt das moralische Belastungserleben bei ausbleibender reflexiver Bezugnahme diffus auf die Konstitution der persönlichen und professionellen Verfasstheit und nimmt dadurch in folgenden Konfrontationen mit moralisch gehaltvollen Situationen ebenfalls Einfluss auf das situative Erleben und Handeln der Pflegefachperson. Beachtlich dabei ist, dass das Entstehen moralischer Resilienz eine reflektierte Auseinandersetzung erfordert (Rushton 2018c), wohingegen unbearbeitete moralische Belastung die Entstehung von Moral Residue nach sich zieht (Epstein und Hamric 2009).
2.2.1.7 Übersicht über die unterschiedlichen Entstehungsund Wirkbezüge moralischen Belastungserlebens Dem Modell liegen – auch in den folgenden Detailansichten – mehrere zentrale, feststehende Elemente und Konzepte zugrunde, die in ihrer jeweiligen Ausprägung und in ihrem jeweiligen
2 Entstehung und Wirkung moralischen Belastungserlebens …
Zusammenwirken unterschiedliche Konstellationen der Entstehung und Wirkung moralischen Belastungserlebens auszeichnen. Das Erleben (Erlebensdimension) und Handeln (Handlungsdimension) von Pflegefachpersonen ist immer in kontextuelle Rahmenfaktoren eingebettet, die das subjektive Erleben und situative Handeln wiederum prägen. Ein in den Detailansichten wiederkehrendes Element ist die Pflegefachperson in ihrer persönlichen und professionellen Verfasstheit, die sich in ihrer Verfassung per se interpersonal (je nach Konstitution der der Verfasstheit inhärenten Konzepte) und situativ (je nach kontextuellen Rahmenfaktoren, situativen Implikationen, usw.) unterschiedlich konstituiert und deshalb einer situativen Analyse bedarf. In ihrer persönlichen und professionellen Verfasstheit wird die Pflegefachperson in ihrem beruflichen Handeln wiederkehrend mit Situationen mit einem jeweils spezifischen moralischen Gehalt konfrontiert. In der Wahrnehmung des situativen moralischen Gehalts (Erlebensdimension), in der Gewinnung von Handlungsorientierung im Kontext des moralischen Handlungsvermögens (Handlungsdimension) sowie in der Wertung der moralischen Angemessenheit einer Handlung und der daraus resultierenden, je subjektiv erlebten Erlebensqualität moralischen Belastungserlebens (Erlebensdimension) spielt der moralische Kompass als Referenzsystem durch die Bezugnahme zu internalisierten Werten, Normen und Erfahrungen eine zentrale Rolle. Situative Implikationen können dabei unterschiedliche Verfassungen des moralischen Handlungsvermögens bedingen. In dem vorliegenden Modell wird an dieser Stelle zwischen folgenden situativen Konstellationen und Konstitutionen des moralischen Handlungsvermögens in der Konfrontation und dem Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen unterschieden (Abb. 2.2): A) Fehlendes moralisches Handlungsvermögen B) Eindeutiges moralisches Handlungsvermögen C) Nicht aktiviertes moralisches Handlungsvermögen D) Eindeutiges/Irritiertes/Kompromittiertes moralisches Handlungsvermögen
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Die jeweilige Konstitution des moralischen Handlungsvermögens wird dabei beeinflusst von • der jeweilig individuellen Konstitution der persönlichen und professionellen Verfasstheit, wie beispielsweise der ethischen Kompetenzen, des Gewissens und der Integrität (Rushton 2018b), im Sinne der moralischen Identität („moral identity“, Liaschenko und Peter 2016, S. 19) und der moralischen Affizierbarkeit („emotional attunement“; Rushton 2018b, S. 82), • der Konstitution des situativen moralischen Gehalts, im Sinne „moralischer Komplexität“ (Monteverde 2019, S. 347), der damit verbundenen ethischen Implikationen in der Bezugnahme zur situativen moralischen Verantwortung (Rushton 2018b), • den kontextuellen Rahmenfaktoren, die das Erleben und Handeln der Pflegefachperson in moralisch gehaltvollen Situationen prägen und beeinflussen (Milliken 2018; Liaschenko und Peter 2016; Monteverde 2019). Werden Pflegefachpersonen in der ethisch komplexen Pflegepraxis damit konfrontiert, dass ihr moralisches Handlungsvermögen nicht zum Tragen kommt, birgt dies das Potenzial für die Entstehung moralischen Belastungserlebens (Milliken 2018; Monteverde 2019). Hingegen kann ein wirksames und tragfähiges moralisches Handlungsvermögen der Entstehung moralischen Belastungserlebens präventieren (Liaschenko und Peter 2016). Entsprechend der situativen Konstitution des moralischen Handlungsvermögens, das wiederum das situative Erleben und Handeln von Pflegefachpersonen in moralisch gehaltvollen Situationen prägt, (be-)werten Pflegefachpersonen die moralische Angemessenheit ihres Handelns situativ und/oder retrospektiv. Basierend auf dieser (Be-)Wertung sowie in der Bezugnahme zum situativen Erleben (Erlebensdimension) und Handeln (Handlungsdimension), erlebt die Pflegefachperson ein jeweils situatives und individuelles Maß an moralischer Integrität und an moralischem Unbehagen, das in seiner jeweiligen Ausprägung eine spezifische
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Abb. 2.2 Übersicht über die unterschiedlichen Entstehungs- und Wirkbezüge moralischen Belastungserlebens. (Eigene Abbildung 2023)
2 Entstehung und Wirkung moralischen Belastungserlebens …
E rlebensqualität moralischen Belastungserlebens konstituiert. Folgend sollen in den Detailansichten A-D situative Konstellationen der Entstehungs- und Wirkgefüge moralischen Belastungserlebens von Pflegefachpersonen differenziert abgebildet werden.
2.2.2 Detaillierte Entstehungsund Wirkbezüge im Kontext moralischen Belastungserlebens 2.2.2.1 Detailansicht A – Fehlendes moralisches Handlungsvermögen In Detailansicht A wird die Pflegefachperson in ihrer persönlichen und professionellen Verfasstheit mit einer moralisch gehaltvollen Situation konfrontiert (Abb. 2.3). Die Resonanz des moralischen Kompasses bleibt in dieser Situation jedoch aus, denn die Entstehung einer Resonanz setzt voraus, dass entsprechende Werte und Normen als Referenz- und Bezugsrahmen herangezogen werden können, wie Tanner und Christen (2014) betonen: „[A] moral agent needs to have some moral standards available and acessible“ (Tanner und Christen 2014, S. 122). Beachtlich ist dabei, dass der moralische Kompass sich interpersonal in seinen Bezugspunkten, hinsichtlich internalisierter Werte und Normen unterscheidet und sich darüber hinaus stetig (neu-) konfiguriert und erst mit zunehmender (Berufs-)Erfahrung an entsprechender Komplexität gewinnt (Tanner und Christen 2014). Dies hat zur Konsequenz, dass die Achtsamkeit und Affizierbarkeit gegenüber dem situativen moralischen Gehalt variiert (Tanner und Christen 2014). Kann die Komplexität des situativen moralischen Gehalts aufgrund der unzureichenden Komplexität internalisierter Werte und Normen nicht erfasst werden, führt dies dazu, dass der situative moralische Gehalt, die situative ethische Dimension des professionellen Pflegehandelns, nicht erkannt und ein entsprechender
moralisch- ethischer Handlungsbedarf wahrgenommen wird.
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nicht
Beispiel Eine Auszubildende im ersten Ausbildungsjahr erhält von einer Pflegefachperson den Auftrag, einer demenziell erkrankten Bewohnerin die abendliche Medikation anzureichen. Als die Auszubildende der Bewohnerin die Tabletten anreicht, kneift diese die Lippen zu. Da die Auszubildende um die Wichtigkeit der regelmäßigen Tabletteneinnahme weiß und von der Pflegefachperson die Verantwortung übertragen bekommen hat, die Tabletten zu verabreichen, gibt sie der Bewohnerin die Tabletten mit Nachdruck ein. Eine mögliche Ursache für dieses Handeln kann sein, dass die Pflegefachperson aufgrund mangelnder Berufserfahrung noch nicht über die notwendige Konstitution des moralischen Kompasses verfügt, die zur Erfassung des situativen moralischen Gehalts erforderlich ist. Aber auch zurückliegende und unaufgearbeitete Erfahrungen moralischer Belastung, die zu Moral Residue führen, können die Resonanzfähigkeit und die Affizierbarkeit der Pflegefachperson gegenüber dem situativen moralischen Gehalt negativ beeinflussen (vgl. Sastrawan et al. 2019) und zur Folge haben, dass der situative moralische Gehalt verkannt wird. In beiden Fällen ist die Pflegefachperson aufgrund ihres stumm bleibenden moralischen Kompasses nicht vom moralischen Gehalt der Situation affiziert und nimmt in der Folge auch keinen moralisch-ethischen Handlungsbedarf wahr. Im Modell entspricht dies einem fehlenden moralischen Handlungsvermögen. Dabei findet einerseits kein aktiver Übergang in die Handlungsdimension statt und andererseits wirkt sich diese Situation aufgrund dessen, dass der situative moralische Gehalt gar nicht wahrgenommen wird, aber auch aufgrund der damit verbundenen mangelnden Resonanz und Affektion nicht auf das Erleben der Pflegefachperson, im Sinne des moralischen Belastungserlebens aus.
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Abb. 2.3 Detailansicht A – Fehlendes moralisches Handlungsvermögen. (Eigene Abbildung 2023)
2 Entstehung und Wirkung moralischen Belastungserlebens …
2.2.2.2 Detailansicht B – Eindeutiges moralisches Handlungsvermögen Auch in Detailansicht B wird die Pflegefachperson in ihrer persönlichen und professionellen Verfasstheit mit einer Situation mit moralischem Gehalt konfrontiert. Die Resonanz des vernehmbaren moralischen Kompasses affiziert hier die Pflegefachperson vom situativen moralischen Gehalt (Abb. 2.4). Werden Pflegefachpersonen in ihrem Erleben und Handeln wiederkehrend mit ähnlichen situativen Merkmalen und Zielen konfrontiert, bietet ihnen dies unter bestimmten Bedingungen das Potenzial automatischer, unbewusster Prozesse der Selbstregulation. In der Konfrontation und dem professionellen Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen erfordert dies von den Pflegefachpersonen leicht zugängliche und angemessene moralische Strukturen, die in Verbindung mit entsprechenden Handlungen stehen, die seitens der Pflegefachperson insbesondere dann vorhanden sind, wenn der moralische Kompass der Pflegefachperson über eine entsprechende Komplexität und die Pflegefachperson über weitreichende und situationsähnliche Erfahrungen verfügt (Tanner und Christen 2014). Tanner und Christen (2014) konstatieren, dass diese automatischen Prozesse dann moralisch angemessenes Handeln ermöglichen: „From individuals high in MI [Moral Intelligence], we generally expect that they will behave ‘more expert-like’ and will quickly come up with integrative and morally satisfactory solutions (under conditions that trigger automatic processes)“ (Tanner und Christen 2014, S. 134). Konstituiert sich der situative moralische Gehalt eindeutig und verfügt die Pflegefachperson über leicht zugängliche und angemessene moralische Strukturen in ihrem moralischen Kompass, die die situativen Implikationen adäquat erfassen und abbilden, sowie über entsprechende Erfahrungen in der Konfrontation und dem Umgang mit ähnlichen moralisch gehaltvollen Situationen, die sie in eine Verbindung mit situativ moralisch angemessenen Handlungsweisen bringen kann, so bietet ihr der moralische Kompass
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eine eindeutige Handlungsorientierung, ähnlich einer Routine, die ein eindeutiges moralisches Handlungsvermögen ermöglicht. Beispiel Die Pflegefachperson möchte einen Bewohner mit erhöhtem Dekubitusrisiko nach einiger Zeit in gleicher Liegeposition neu positionieren. Da er aber argumentiert, dass er bequem liege und so liegen bleiben möchte, klärt sie den Bewohner stattdessen über das Risiko eines ausbleibenden Positionswechsels auf und dokumentiert dies entsprechend. B1 Wird die Handlung situativ und/oder retrospektiv als moralisch angemessen gewertet, so erfährt die Pflegefachperson mit hoher Wahrscheinlichkeit entsprechend dem situativen Erleben und Handel ein hohes Maß an moralischer Integrität, das die Erlebensqualität des Moral Comfort kennzeichnet. In der aktiven reflexiven Bezugnahme bietet die situative Erfahrung der Selbstwirksamkeit in moralisch gehaltvollen Situationen das Potenzial für die Entstehung moralischer Resilienz. Zugleich hat der Moral Comfort auch bei einer ausbleibenden reflexiven Bezugnahme diffusen Einfluss auf die Konstitution der persönlichen und professionellen Verfasstheit. B2 Wird die Handlung situativ und/oder retrospektiv als moralisch unangemessen gewertet, beispielsweise da situative moralische Implikationen zuerst nicht erkannt wurden oder neue Informationen hinzukommen, die den situativen moralischen Gehalt selbst verändern, und folglich das realisierte Handeln nicht mehr dem situativen moralischen Handlungsbedarf entspricht, kann dies zur Aktivierung des Gewissensraumes führen und weitere affektive und kognitive Prozesse nach sich ziehen, die – je nach Situation – den Abläufen von Detailansicht C oder Detailansicht D entsprechen.
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Abb. 2.4 Detailansicht B – Eindeutiges moralisches Handlungsvermögen. (Eigene Abbildung 2023)
2 Entstehung und Wirkung moralischen Belastungserlebens …
2.2.2.3 Detailansicht C – Nicht aktiviertes moralisches Handlungsvermögen Auch in Detailansicht C wird die Pflegefachperson in ihrer persönlichen und professionellen Verfasstheit mit einer Situation mit moralischem Gehalt konfrontiert, der vom moralischen Kompass detektiert wird. Ist die Pflegefachperson durch die Resonanz ihres vernehmbaren moralischen Kompasses vom situativen moralischen Gehalt affiziert, jedoch nicht in der Lage, in der Bezugnahme zur Resonanz ihres moralischen Kompasses unmittelbar eine eindeutige Handlungsorientierung hinsichtlich des situativen moralischen Handlungsbedarfes zu erlangen, beispielsweise aufgrund der Komplexität des situativen moralischen Gehalts (Monteverde 2019), so führt dies zu einer Aktivierung des Gewissensraumes: „Conscience engages physical, emotional, mental, and spiritual processes that are activated and reactivated as one detects potenzial threats or challenges to one’s moral core and integrity. Its role is to recognize the gap between one’s fundamental moral commitments and what one contemplates doing or what one has chosen to do“ (Rushton 2018b, S. 89). Der Gewissensraum wirkt damit als Erlebensraum des moralischen Anspruchs (Rushton 2018b; Steinkamp und Gordijn 2010) dem verschiedene affektive Mechanismen inhärent sind, die auf simpelsten kognitiven Prozessen der Urteilsbildung basieren und folgend skizziert werden (Abb. 2.5). Die moralische Irritation (Linde 2018) verweist auf die Komplexität des situativen moralischen Gehalts und auf den situativen moralischen Handlungsbedarf. Diese Form „moralische[r] Empfindungen“ (Birnbacher 2011, S. 116), die im vorliegenden Modell unter dem Begriff der moralischen Irritation gefasst wird, zeichnet sich Birnbacher (2011) zufolge durch vier Charakteristika aus: „(1) Sie sind flüchtiger, können momentan oder vorübergehend auftreten. […] (2) Sie werden aktual gefühlt […]. (3) Moralische Empfindungen sind spontan und unwillkürlich und lassen sich nur schwer willensmäßig beeinflussen und umsteuern. Man kann sich nicht dazu entschließen, bestimmte mora-
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lische Empfindungen zu haben oder nicht zu haben […]. (4) Moralische Empfindungen gehen der Abwägung der verschiedenen moralisch relevanten Aspekte eines Falls bzw. der Prüfung der Akzeptabilität eines moralischen Urteils oder Prinzips voraus. Sie sind ›präreflexiv‹ und stellen gewissermaßen das Material zur Verfügung, aus dem mithilfe moralischer Urteilskraft eine reflektierte, abwägende Einstellung gewonnen werden kann […]“ (Birnbacher 2011, S. 116). Diese präreflexiven, affektiven Mechanismen der moralischen Irritation bilden damit die Grundlage für eine erste Bewertung und Einordnung des situativen moralischen Gehalts. Moralische Intuitionen stellen Automatismen vortheoretischer Urteile dar, denen zwar eine gewisse Bewertung und Einordnung des moralischen Gehalts innewohnt, die sich jedoch ethisch unreflektiert und undifferenziert (ab-)bilden und keiner systematischen Urteilsbildung entsprechen (Birnbacher 2011; Haidt 2001; Woodward und Allman 2007; Tanner und Christen 2014). Haidt (2001) definiert diese erste Urteilstendenz in der Konfrontation mit dem situativen moralischen Gehalt wie folgt: „[M]oral intuition can be defined as the sudden appearance in consciousness of a moral judgment, including an affective valence (good-bad, like-dislike), without any conscious awareness of having gone through steps of searching, weighing evidence, or inferring a conclusion. […] One sees or hears about a social event and one instantly feels approval or disapproval“ (Haidt 2001, S. 818). Entgegen dem Urteil selbst, das durch emotionale Reaktionen und Resonanzen affektiv erfahrbar wird (Haidt 2001; Birnbacher 2011), ist der Prozess der vortheoretischen Urteilsbildung im Sinne der moralischen Intuition der Kognition nicht zugänglich (Haidt 2001) und generiert sich folglich auch unwillkürlich (Birnbacher 2011; Haidt 2001). Demnach ersetzt die vortheoretische Urteilsbildung der moralischen Intuition keine systematischen, deliberativen Prozesse der ethischen Entscheidungsfindung. Die (Be-)Wertung des situativen moralischen Gehalts, die vortheoretische Urteilstendenz, wird
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Abb. 2.5 Detailansicht C – Nicht aktiviertes moralisches Handlungsvermögen. (Eigene Abbildung 2023)
2 Entstehung und Wirkung moralischen Belastungserlebens …
für die jeweilige Pflegefachperson durch eine emotionale Resonanz, durch das Erleben moralischer Emotionen erfahrbar (Malti und Dys 2015; Tanner und Christen 2014). Hierunter fallen beispielsweise negative Gefühle der Schuld (Malti und Dys 2015), der Reue und der Empörung (Birnbacher 2011), aber auch positive Gefühle wie Stolz (Malti und Dys 2015). Malti und Dys (2015) heben hervor, dass moralischen Emotionen durch ihren Ursprung der vortheoretischen Urteilstendenz bereits einfachste kognitive Prozesse vorausgehen: „We argue that moral emotions are complex emotions, which unlike basic emotions, necessarily involve a substantial degree of cognitive processing. These emotions developmentally presuppose at least a basic understanding of the other’s mind and understanding about why it is wrong to break moral norms of fairness, justice, and care“ (Malti und Dys 2015, S. 454). Jedoch ersetzen auch aufkommende moralische Emotionen keine deliberative ethische Entscheidungsfindung, sondern bergen vielmehr das Risiko einer emotionalen Beeinflussung und möglicherweise gar einer Verzerrung der Urteilsbildung (Tanner und Christen 2014; Haidt 2001; Woodward und Allman 2007; Lee et al. 2020). Diesbezüglich argumentieren Tanner und Christen (2014): „For example, it has been argued that our emotions reflect an inherent ‘moral sense’ […] or that moral judgments are sometimes influenced, if not dominated, by ‘gut feelings’, which tell us that something is right or wrong“ (Tanner und Christen 2014, S. 126). Dieser mögliche Bias der sich auch auf das Handeln auswirken kann, unterstreicht die Relevanz einer differenzierten, möglichst objektiven ethischen Auseinandersetzung (Lachman 2016; Lee et al. 2020). Gleichsam können affektive Mechanismen in der Konfrontation mit moralisch gehaltvollen Situationen, wie moralische Emotionen, als motivationale Ressource in Bezug auf die moralische Urteilsbildung und die ethische Entscheidungsfindung dienen und eine aktive, differenzierte Auseinandersetzung mit dem situativen moralischen Gehalt protegieren (Moore und Gino 2013; Tanner und Christen 2014; Malti und Dys 2015; Birnbacher 2011) und folglich ethi-
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sches Verhaltens fördern und regulieren (Tanner und Christen 2014; Malti und Dys 2015). Deutlich wird: Obwohl das irritierende Momentum moralischer Empfindungen einen präreflexiven Charakter hat, moralische Intuitionen lediglich vortheoretische Urteilstendenzen abbilden und moralische Emotionen die moralische Urteilsbildung möglicherweise sogar verzerren können, verweist das Aufkommen dieser vornehmlich affektiven Mechanismen des Gewissens auf die ‚moralische Aufmerksamkeit‘ der Person („moral attention“; Rushton 2018b, S. 90) gegenüber dem situativen moralischen Gehalt und unterstreicht zugleich die Notwendigkeit einer differenzierten, ethisch reflektierten Auseinandersetzung, hin zu einer ethisch gut begründeten Entscheidungsfindung: „Clinicians of integrity inquire into the truth or falsity of their cognitive moral claims, examine their moral convictions, and pause to investigate the meaning and significance of the call of their conscience. […] Conscience alone ought not be the final arbiter of moral/ethical discernment and action; it must be constructively and mindfully engaged to discover the path of wisdom and integrity“ (Rushton 2018b, S. 90). Verfügt die Pflegefachperson an dieser Stelle jedoch nicht über das Vermögen und/oder die Motivation, sich mit dem situativen moralischen Gehalt ethisch differenziert auseinanderzusetzen, kann dies dazu führen, dass ein situativer moralischer Gehalt durch eine Resonanz des moralischen Kompasses zwar wahrgenommen wird und das Gewissen aktiviert wird, zugleich aber die Resonanz des moralischen Kompasses beziehungsweise des Gewissens, die jeweils auf den situativen moralischen Gehalt und die ethischen Abwägungs- und Entscheidungserfordernisse verweisen, ignoriert wird oder der moralische Kompass keine ausreichende Handlungsorientierung bietet. Dies wird im Modell unter dem Begriff des nicht aktivierten moralischen Handlungsvermögens gefasst. Das Ignorieren beziehungsweise das Verschleiern des situativen moralischen Gehalts, und damit verbunden die Loslösung von der professionsethischen Verantwortung, ist häufig eine Folge aus der Erfahrung unzureichender Selbstwirksamkeit in
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moralisch gehaltvollen Situationen, möglicherweise auch aufgrund limitierender kontextueller Rahmenfaktoren, und aus vorausgegangenen moralischen Belastungserfahrungen (Fida et al. 2016; Hyatt 2017; Corley 2002; Laabs 2011; Sastrawan et al. 2019). Dies wird in der Literatur unter dem Begriff des „moral disengagement“ (Fida et al. 2016, S. 548; Hyatt 2017, S. 15; Zhao und Xia 2019, S. 357) gefasst. Zhao und Xia (2019) konstatieren, dass die negativen affektiven Erfahrungen von Pflegefachpersonen in der Konfrontation mit moralisch gehaltvollen Situationen dazu führen können, dass undifferenzierte und unreflektierte Handlungen ergriffen werden: „Negative affective states narrow individuals’ momentary thought‐action repertoire. This narrowing leads the individual to pursue quick and decisive actions that carry direct and immediate benefit“ (Zhao und Xia 2019, S. 358). In der Praxis kann das Wahrnehmen eines situativen moralischen Gehalts und eines damit verbundenen Handlungsbedarfes demnach dazu führen, dass die Pflegefachperson handelt, um einem wahrgenommenen Handlungsbedarf Rechnung zu tragen, die Handlung sich aber nicht aus einer ethischen Reflexion und einer ethisch begründeten Entscheidungsfindung speist und damit in Folge mit hoher Wahrscheinlichkeit keine ethisch angemessene Handlung darstellt. Beispiel Ein Patient meldet sich nachts bei der Pflegefachperson und erzählt ihr, dass er nicht schlafen könne, da er Angst habe, ob und wie er die Operation, die für den nächsten Tag geplant ist, überstehe. Da die Pflegefachperson nicht weiß, wie sie mit den Ängsten des Patienten umgehen soll und ihn beruhigen kann, gibt sie ihm eine Schlaftablette. Da er nach einer Weile schläft und augenscheinlich zur Ruhe gekommen ist, wertet sie ihre Handlung als moralisch angemessen. Deutlich ist: Das Verschleiern des situativen moralischen Gehalts kann auch unethisches Verhalten moralisch angemessen erscheinen lassen (Zhao und Xia 2019). Ist dies der Fall, beruhigt sich das Gewissen und in der Folge wird
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die Handlung als moralisch angemessen wahrgenommen, da der Handlungsvollzug angesichts eines vorhandenen Handlungsbedarfs per se als moralisch angemessen wahrgenommen wird. Demgegenüber besteht aber auch die Möglichkeit, dass sich die Pflegefachperson situativ gewahr wird, dass ihre Handlung nicht ihrer situativen professionsethischen Verantwortung Rechnung trägt. Das Gewissen ist dann weiterhin in Unruhe und die Handlung wird in der Konsequenz als moralisch unangemessen gewertet. Entsprechend dem situativen Erleben und Handeln in der Konfrontation mit der moralisch gehaltvollen Situation und der subjektiven Wertung der moralischen Angemessenheit des Handelns, erlebt die Pflegefachperson eine spezifische Ausprägung moralischen Belastungserlebens, die sich auf dem Kontinuum zwischen den Endpolen des Moral Comfort und des Moral Distress abbildet und sich durch eine jeweils spezifische Ausprägung der moralischen Integrität und des moralischen Unbehagens konstituiert. Eine reflexive aktive Bezugnahme kann im Nachgang zum Entstehen moralischer Resilienz beziehungsweise von Moral Residue beitragen, wobei die jeweils subjektiv erlebte Erlebensqualität moralischer Belastung auch bei einer ausbleibenden reflexiven Bezugnahme diffus auf die persönliche und professionelle Verfasstheit der Pflegefachperson wirkt.
2.2.2.4 Detailansicht D – Eindeutiges/ Irritiertes/Kompromittiertes moralisches Handlungsvermögen Wie in den vorangegangenen Detailansichten wird auch in der Detailansicht D die Pflegefachperson in ihrer persönlichen und professionellen Verfasstheit mit einer Situation mit moralischem Gehalt konfrontiert. Wie auch in Detailansicht C ist die Pflegefachperson vom situativen moralischen Gehalt durch die Resonanz ihres vernehmbaren moralischen Kompasses affiziert. Zugleich ermöglicht ihr der moralische Kompass keine eindeutige Handlungsorientierung, beispielsweise da sich der situative moralische Gehalt als komplex und/oder herausfordernd erweist. In der Folge wird der Gewissensraum mit
2 Entstehung und Wirkung moralischen Belastungserlebens …
seinen affektiven Prozessen der moralischen Irritation, der moralischen Intuition und der moralischen Emotionen aktiviert (Abb. 2.6). Im Gegenzug zur vorangegangenen Detailansicht verfügt die Pflegefachperson jedoch hier über die Motivation und das Vermögen zur Auseinandersetzung mit dem situativen moralischen Gehalt, um ihrer professionsethischen Verantwortung gerecht zu werden. So formulieren Rushton et al. (2018): „In ethically challenging cases […] decisions must be made when outcomes are uncertain and the path of integrity is unclear. At such times, the exercise of moral agency demands the objectivity, insight, and courage to resolve any confusion or dissonance that may occur“ (Rushton et al. 2018, S. 172). In dieser Aussage repräsentieren sich die Entstehungsvoraussetzungen für die moralische Sensibilität, die an dieser Stelle als reflexive Schlüsselkompetenz zu verstehen ist. Kraaijeveld et al. (2021) zufolge sind folgende vier Aspekte für die definitorische Rahmung der moralischen Sensibilität relevant: „(1) include an initial judgement of good and bad based on emotions, (2) hold the ability to reflect on the initial judgement and the associated emotions, (3) include the ability to understand other stakeholder’s perspectives based on the ideal-types and (4) […] include a personal decision on the right course of action“ (Kraaijeveld et al. 2021, S. 188). Moralische Sensibilität ordnet demzufolge die moralischen Emotionen in einen ethischen Reflexionsrahmen ein. Die Bezugnahme zum affektiven Momentum in der Konfrontation und dem Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen als zentrale Dimension moralischer Sensibilität unterstreichen auch Lützén et al. (2006) in der Konturierung moralischer Sensibilität (hier „moral sensitivity“): „[M]oral sensitivity involves more dimensions than simply a cognitive capacity, especially feelings, sentiments, moral knowledge and skills“ (Lützén et al. 2006, S. 195). Die moralische Sensibilität umfasst im vorliegenden Modell damit das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer ethisch-reflexiven Auseinandersetzung mit dem situativen moralischen Gehalt in der Bezugnahme zu situativen moralischen Emotio-
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nen sowie die Bereitschaft diese Auseinandersetzung zu vollziehen. Damit markiert die moralische Sensibilität den Übergang von der Erlebens- in die Handlungsdimension: „A foundation of moral sensitivity and attunement informs the cognitive processes that follow our awareness of an ethical issue and invites more nuanced moral analysis“ (Rushton et al. 2018, S. 169). Die differenzierte ethisch reflektierte Auseinandersetzung konstituiert sich im vorliegenden Modell durch die ethisch-reflexive Bezugnahme durch die Person zur Situation, zum moralischen Gehalt der Situation, zur eigenen situativen professionellen Verantwortung sowie zu den individuellen, situativen und strukturellen Handlungsmöglichkeiten. Moralische Sensibilität als differenzierte, ethisch reflektierte Auseinandersetzung mit dem situativen moralischen Gehalt und den die Situation prägenden Aspekten ist damit folglich einerseits die Voraussetzung für das Entstehen und andererseits auch ein zentraler Aspekt eines handlungswirksamen moralischen Handlungsvermögens. Aus dieser ethisch-reflexiven Bezugnahme, die durch den motivationalen Charakter moralischer Emotionen protegiert wird (vgl. Moore und Gino 2013; Tanner und Christen 2014; Malti und Dys 2015; Birnbacher 2011), entspringt die Volition, also der Wille dazu, die moralisch angemessene Handlung, die in einer ethischen Reflexion und ethischen Entscheidungsfindung gründet, zu realisieren. Ethisch verantwortungsvolles Handeln erfordert folglich sowohl die Motivation der differenzierten Auseinandersetzung mit dem situativen moralischen Gehalt als auch die Volition des ethisch begründeten Handelns in der Praxis: „Abwägen und Bewerten werden dabei als motivationale Phasen betrachtet, Planen und Handeln gelten als volitionale Phasen“ (Strobach und Wendt 2018, S. 55). Zugleich kann die jeweils spezifische und einzigartige Konstitution der Situation, mit all den die Situation prägenden Faktoren, unterschiedliche Konstitutionen des moralischen Handlungsvermögens hervorrufen. Ermöglicht der moralische Kompass mit seinen internalisierten Werten, Normen und Über-
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Abb. 2.6 Detailansicht D – Eindeutiges/Irritiertes/Kompromittiertes moralisches Handlungsvermögen. (Eigene Abbildung 2023)
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zeugungen sowie den jeweiligen Erfahrungen (vgl. Tanner und Christen 2014; vgl. Lee et al. 2020) durch die differenzierte ethisch-reflexive Bezugnahme eine eindeutige Handlungsorientierung, so kann auch in moralisch komplexen und herausfordernden Situationen ein eindeutiges moralisches Handlungsvermögen entstehen. Die Bezugnahme zu professionellen Werten kann an dieser Stelle einen reflexiven Schritt eröffnen, weg von der eigenen emotionalen Betroffenheit hin zu einer professionellen Perspektive (Linde 2018; Lee et al. 2020). Die damit verbundene eindeutige ethische Orientierung ermöglicht der Pflegefachperson damit, entsprechend ihrer moralischen Verantwortung zu handeln (Rushton 2018b; Monteverde 2019). Beispiel Ein schwer erkrankter Bewohner zeigt in seinem Alltag vermehrt das Bedürfnis nach Rückzug und hält sich viel in seinem Bett auf. Seine Ehefrau wirft den Pflegefachpersonen in der Einrichtung vor, dass sie ihren Mann vernachlässigen würden, und fordert diese dazu auf, ihn bei aktivierenden Angeboten unbedingt mit einzubeziehen. Die Pflegefachpersonen sind zunächst unsicher, ob sie ihrer Verantwortung gerecht geworden sind und sie den Bewohner tatsächlich mehr zur Teilnahme an Aktivierungsangeboten motivieren sollten. Durch die ethisch-reflexive Bezugnahme wird ihnen deutlich, dass es in dieser Situation ihre Verantwortung ist, seinem Bedürfnis nach Rückzug zu entsprechen, und sie führen mit der Ehefrau ein Gespräch, in dem sie diese Entscheidung begründen. In der Pflegepraxis kann sich der situative moralische Gehalt auch als sehr komplex erweisen (Monteverde 2019; Lamb et al. 2019; Tanner und Christen 2014), es möglicherweise erschweren, situativ beteiligte Werte zu identifizieren (Monteverde 2019; Campbell et al. 2016) und folglich auch die moralisch angemessene und ethisch begründete Handlung zu erfassen (Tanner und Christen 2014; Campbell et al. 2016). Die situative Handlungsunsicherheit kann auch dadurch entstehen, dass das moralische Handlungsvermögen der Pflege-
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fachperson nicht ausreicht, um eine eindeutige Handlungsorientierung in Bezug auf die situativ moralisch angemessene Handlung zu erlangen (Lamb und Pesut 2021), oder dadurch, dass Rollen und Verantwortlichkeiten der Pflegefachperson nicht ausreichend definiert sind (Campbell et al. 2016). Die Handlungsunsicherheit bei gleichzeitig wahrgenommenem Handlungsbedarf kann von involvierten Pflegefachpersonen als moralisch belastend wahrgenommen werden (Fourie 2017; Monteverde 2019; Campbell et al. 2016): „So kennt die klinische Alltagsroutine zahlreiche Situationen von hohem Druck, in denen die Person […] eine moralische Beteiligung wahrnimmt, die moralisch unerwünscht ist, weil sie eine unmittelbare Antwort erfordern, die zu geben sie sich nicht unmittelbar in der Lage fühlt“ (Monteverde 2019, S. 354). Zugleich können auch situativ beteiligte Werte im Handeln konfligieren (Monteverde 2019; Linde 2018) und ethische Dilemmata erzeugen, die sich dadurch kennzeichnen, dass sich situativ geltende Werte und Pflichten gegenseitig ausschließen (Linde 2018). Dies erschwert es der Pflegefachperson, eine eindeutige Handlungsorientierung zu erlangen, da Ambiguitäten für Dilemmata konstitutiv sind (Hardingham 2004; Rushton 2018b; Monteverde 2019) und es keine Handlungsoption gibt, die als moralisch ‚richtig‘ einzuordnen ist (Hardingham 2004; Campbell et al. 2016). Auch diese situative moralische Unsicherheit bezüglich der ethisch angemessenen Handlung kann durchaus als belastend wahrgenommen werden (Monteverde 2019; Fourie 2017; Rushton 2018b; Hardingham 2004; Jameton 1984; Campbell et al. 2016), Irritationen wecken (Linde 2018) und ebenfalls die Integrität der Pflegefachperson tangieren (Rushton 2018b), denn: „Pflegende stehen in einem Dilemma unter Handlungsdruck und sind dabei gezwungen, Werte zu verletzen“ (Linde 2018, S. 58). Diese Situationen, die sich dadurch kennzeichnen, dass der moralische Kompass keine eindeutige Handlungsorientierung bietet, werden im Modell unter dem Begriff des irritierten moralischen Handlungsvermögens gefasst.
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Beispiel Eine demenziell erkrankte Bewohnerin mit hohem Aktivitätsgrad und starkem Bewegungsdrang hat sich bei einem Sturz eine Femurfraktur zugezogen, die operativ versorgt wurde. Nach der Operation erhält die Bewohnerin die Anordnung, ihr Bein für einige Zeit nur kontrolliert und nicht mit vollem Gewicht zu belasten, damit die operative Versorgung nicht beschädigt wird. Die Bewohnerin zeigt aber deutlich, dass eine Teilbelastung ihr koordinativ nicht möglich ist. Zugleich ist sie unruhig und möchte sich gerne wie gewohnt bewegen. Weiter kann sich die Situation so abbilden, dass der moralische Kompass durch die ethischreflexive Bezugnahme zwar eine eindeutige Handlungsorientierung bietet, die damit verbundene Handlung aber in der Praxis aufgrund kontextueller Rahmenfaktoren nicht realisiert werden kann. Die Pflegefachperson weiß also, welches Handeln moralisch angemessen und ethisch geboten ist, kann dies jedoch aufgrund der situativen Rahmungen nicht umsetzen (Fida et al. 2016; Monteverde 2019; Fourie 2017; Epstein und Hamric 2009; Jameton 1984; Campbell et al. 2016). Dies etwa aufgrund der kontextuellen Rahmenfaktoren, die das Erleben und Handeln der Pflegefachperson in der Konfrontation und dem Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen prägen, wie etwa prekäre Arbeitsbedingungen oder der Druck ökonomischer Effizienz (Fida et al. 2016), aber auch aufgrund anderer die Situation kennzeichnenden und beeinflussenden Faktoren. Beispiel Eine Pflegefachperson macht in ihrer Nachtschicht den ersten Durchgang durch die Bewohner*innenzimmer. Dabei fällt ihr auf, dass ein Bewohner, der ihr von der Kollegin bereits als ‚sterbend‘ übergeben wurde, sehr unruhig ist. Sie setzt sich kurz zu ihm. Als es in einem anderen Zimmer klingelt, muss sie das Zimmer jedoch verlassen, da sie alleine auf dem Wohn-
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bereich ist. Als sie nach einiger Zeit wiederkommt, ist der Bewohner verstorben. Im Modell wird die Konfrontation damit, die als eindeutig angemessen identifizierte und eingeordnete moralische Handlungsorientierung aufgrund von Restriktionen und hemmenden kontextuellen Rahmenfaktoren nicht realisieren zu können, unter dem Begriff des kompromittierten moralischen Handlungsvermögens gefasst. Das damit verbundene Handeln entgegen dem moralischen Kompass und der professionsethischen Verantwortung kann erhebliche Auswirkungen auf das Integritätserleben der Pflegefachperson haben (Rushton 2018b; Prentice und Gillam 2018; Hardingham 2004) und als moralisch belastend erlebt werden (Monteverde 2019; Prentice und Gillam 2018; Riedel und Lehmeyer 2022 2021; Fourie 2017; Campbell et al. 2016; Jameton 1984; Corley 2002; Liaschenko und Peter 2016). Entsprechend der situativen Konstitution des (realisierten) moralischen Handlungsvermögens beruhigt sich das Gewissen und die Handlung wird als moralisch angemessen gewertet oder aber das Gewissen ist weiterhin in Unruhe und die Handlung wird durch die Pflegefachperson als moralisch unangemessen gewertet. Wie auch in den vorangegangen Detailansichten führen das jeweils situative subjektive Erleben und das individuelle Handeln, die situativ und/oder retrospektiv erfahrene Integrität sowie das erlebte moralische Unbehagen, in der Bezugnahme zur Wertung der moralischen Angemessenheit der Handlung, zu einer spezifischen Qualität moralischen Belastungserlebens, die durch eine aktive reflexive Bezugnahme das Potenzial für die Entstehung moralischer Resilienz oder Moral Residue birgt, aber auch bei ausbleibender reflexiver Bezugnahme diffus die Konstitution der moralischen Verfasstheit der Pflegefachperson beeinflusst und folglich in der wiederkehrenden Konfrontation mit moralisch gehaltvollen Situationen wirkt.
2 Entstehung und Wirkung moralischen Belastungserlebens …
2.3 Zusammenfassende Aspekte und Nutzen des Modells der Entstehung und Wirkung moralischen Belastungserlebens von Pflegefachpersonen Das Modell verdeutlicht: Die Entstehungs- und Wirkgefüge moralischen Belastungserlebens konstituieren sich durch ein komplexes Zusammenwirken individueller Voraussetzungen, situativer (ethischer) Implikationen und kontextueller Rahmenfaktoren. Die Subjektivität des moralischen Belastungserlebens sowie die jeweils individuell und situativ variierende Konstitution der zentralen individuellen, situativen und kontextuellen Elemente und Konzepte im Kontext der Entstehung und Wirkung des Phänomens machen es erforderlich, dass jede Konfrontation mit moralischem Belastungserleben, jede subjektiv erlebte Erlebensqualität für sich eine Analyse der Ursachen erfordert, um Ansatzpunkte für Maßnahmen der Prävention und Reduktion wirklich ursachenbezogen und damit auch zielgerichtet für die einzelne Pflegefachperson abzuleiten. Einen aktiven Umgang mit moralisch komplexen und herausfordernden Situationen sowie mit moralischem Belastungserleben als Gegenstand des professionellen Handelns zu kultivieren und zu realisieren, ist von besonderer Relevanz, denn: Die Konfrontation mit moralisch komplexen und herausfordernden Situationen, die das Potenzial bergen, die moralische Integrität zu tangieren, ist im beruflichen Alltag von Pflegefachpersonen unvermeidbar (Rushton 2018a; Andersson et al. 2022), da ethische Spannungs- und Konfliktfelder dem professionellen Pflegehandeln inhärent sind und somit in erster Linie nicht auf ein Verschulden der Pflegefachperson oder allein auf mangelhafte strukturelle Gegebenheiten verweisen (Andersson et al. 2022). Folglich ist auch die Entstehung moralischen Belastungserlebens nur zu einem gewissen Grad zu präventieren (Rushton 2018c). Ein aktiver Umgang mit moralischem Belastungserleben ist an verschiedene Verantwortlichkeiten gebunden. Beispielsweise
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erfordert dies von Pflegfachpersonen die Entwicklung präventiver und proaktiver Fähigkeiten und Fertigkeiten in der Konfrontation mit moralisch herausfordernden Situationen, um die moralische Integrität zu schützen beziehungsweise wiederherzustellen (Rushton 2018c). Aber: Pflegefachpersonen müssen auch für die ethisch komplexe Pflegepraxis handlungsfähig gemacht werden (Milliken 2018). Angesichts dessen, dass beispielsweise der Ethikkompetenz eine besondere Bedeutsamkeit im Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen und auch in der Prävention und Reduktion moralischen Belastungserlebens zukommt (Andersson et al. 2022), ist dies auch an eine Verantwortung der Lehrenden in der Ethikbildung gebunden. Nicht zuletzt kommt auch Leitungsverantwortlichen und Organisationen eine erhebliche Verantwortung zu: Diese müssen die Ermöglichungsbedingungen für ethisches Handeln sichern (Rushton 2018b; Großklaus-Seidel 2020; Rushton und Sharma 2018) und Strukturen schaffen, die die Wiederherstellung von Integrität ermöglichen (Rushton 2018b; Rushton und Sharma 2018). Um die verschiedenen Verantwortlichkeiten im Kontext der Reduktion und Prävention moralischen Belastungserlebens zu systematisieren und klarzulegen und um dabei der jeweiligen Verantwortung Rechnung zu tragen, kann das Modell für Pflegefachpersonen, für Leitungsverantwortliche im Bereich des Pflegemanagements und für Lehrende im Bereich der Ethikbildung in vielfältigen Bereichen unterstützend sein. Exemplarisch sind folgende Nutzungsbereiche zu nennen (Riedel et al. 2022): Pflegefachpersonen kann das Modell dabei unterstützen, … • eigene moralische Belastung als solche zu identifizieren und einzuordnen und von anderen Belastungserfahrungen in ihrem beruflichen Alltag abzugrenzen. • konkrete Ursachen für die eigene situative und/oder retrospektive moralische Belastung auszumachen und in der Folge ursachenbezogene Interventionsbedarfe zur Reduktion und Prävention des eigenen moralischen Be-
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lastungserlebens zu identifizieren und zu formulieren. • sich der Konstitution der eigenen moralischen Verfasstheit gewahr zu werden und deren Wirkung im Erleben und Handeln in der Konfrontation und dem Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen zu reflektieren sowie (Weiter-)Entwicklungspotenziale zu identifizieren. • den Einfluss der situativen und organisationalen kontextuellen Rahmenfaktoren auf ihr Erleben und Handeln in der Konfrontation und dem Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen kritisch zu reflektieren und diese als förderlich oder limitierend einzuordnen. Leitungsverantwortliche im Bereich des Pflegemanagements kann das Modell dabei unterstützen, … • sich der Bedeutsamkeit und Reichweite des moralischen Belastungserlebens von Mitarbeitenden gewahr zu werden. • Personalentwicklungsbedarfe der Mitarbeitenden im Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen strukturiert zu identifizieren und entsprechende Handlungsbedarfe ursachenbezogen und somit zielgerichtet abzuleiten und umzusetzen. • die Reichweite der kontextuellen Rahmenbedingungen der Organisation im Zusammenhang mit der Entstehung und Wirkung moralischen Belastungserlebens unter der Perspektive der Prävention und Reduktion des Phänomens zu reflektieren und damit verbundene Entwicklungs- und Änderungsbedarfe in organisationalen Entscheidungen des Pflegemanagements einzubringen und einzufordern. • ihrer Leitungsverantwortung im Kontext der Gestaltung einer nachhaltigen Organisationsethik Rechnung zu tragen, insbesondere in der (Weiter-)Entwicklung und Sicherung organisationsethischer Prozesse und Strukturen, die ethisches Handeln im Sinne eines professionellen Umgangs mit moralisch gehaltvollen Situationen ermöglichen und absichern sowie einen aktiven Umgang mit mo-
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ralischem Belastungserleben als Gegenstand des professionellen Pflegehandelns unterstützen. Lehrende in der Ethikbildung kann das Modell in der Gestaltung von Lehr-Lernprozessen dabei unterstützen, … • moralisches Belastungserleben zu thematisieren und es den Lernenden zu ermöglichen, ein vielfach diffus erlebtes Phänomen aus einer professionellen Perspektive anschlussfähig einzuordnen. • Lernenden unterschiedliche Entstehungsfaktoren und -zusammenhänge moralischen Belastungserlebens aufzuzeigen und ihnen dahingehend einen Reflexionsraum der eigenen praktischen Erfahrungen zu eröffnen. • die situative und/oder retrospektive Reflexion des subjektiven Erlebens und individuellen Handelns Lernender in moralisch gehaltvollen Situationen zu strukturieren. • (Weiter-)Entwicklungsbedarfe der moralischen Verfasstheit – mit Perspektive auf die professionelle Verfasstheit – zu identifizieren und Lehr-Lernprozesse dahingehend systematisch und zielgerichtet auszugestalten. • die Reichweite kontextueller Rahmenfaktoren in Bezug auf das subjektive Erleben und individuelle Handeln von Lernenden in moralisch gehaltvollen Situationen darzulegen sowie unterstützende und hemmende Rahmenfaktoren zu reflektieren.
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Teil II
Theoriebasierte und praxisorientierte Interventionen zur Prävention und Reduktion moralischen Belastungserlebens in der pflegeberuflichen Praxis
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Ethische Kompetenzen und lebenslange Ethikbildung Die Bedeutsamkeit für Pflegefachpersonen und Führungspersonen Annette Riedel, Magdalene Goldbach, Sonja Lehmeyer und Karen Klotz Zusammenfassung
Für die Etablierung einer gelebten Organisa tionsethik und die Nachhaltigkeit der Ethikkultur in den Einrichtungen des Gesundheitswesens ist es grundlegend, dass sowohl die Pflegefach- wie auch die Führungspersonen über ethische Kompetenzen verfügen. Ziel des Beitrages ist es, den Stellenwert der Ethikkompetenz von Pflegefach- und Führungspersonen insbesondere in der Konfrontation mit moralisch gehaltvollen Situationen darzulegen wie auch die Bedeutsamkeit ethischer Kompetenzen im aktiven Umgang mit erlebter moralischer Belastung aufzuzeigen. Zusammenfassend wird die Bedeutung einer lebenslangen Ethikbildung für Pflegefachpersonen und für Führungspersonen in der Pflege herausgestellt.
A. Riedel (*) · M. Goldbach · S. Lehmeyer · K. Klotz Hochschule Esslingen, Soziale Arbeit, Bildung und Pflege, Esslingen, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Goldbach E-Mail: [email protected] S. Lehmeyer E-Mail: [email protected] K. Klotz E-Mail: [email protected]
3.1 Einführung Das in diesem Buch beschriebene Modell der Entstehung und Wirkung moralischen Belastungserlebens von Pflegefachpersonen eröffnet zugleich einen Eindruck dahingehend, wie vielschichtig die Analyse-, Abwägungs- und Entscheidungserfordernisse in der Konfrontation mit moralisch gehaltvollen Situationen sind und welche Einflussfaktoren auf das situationsbezogene Handlungsvermögen wirken. Zugleich lassen sich aus dem Modell wirkende bzw. notwendige Ethik(teil)kompetenzen ableiten, um als Pflegefachperson situativ und retrospektiv das eigene moralische Erleben, aber auch die situativen Entscheidungs- und Handlungserfordernisse und dementsprechend das eigene situative Entscheidungs- und Handlungsvermögen einzuordnen und zu reflektieren. Ethische Kompetenzen sind im dargelegten Modell sowohl als Ausgangspunkt (als Facette der persönlichen und moralischen Verfasstheit der Pflegefachperson) wie auch als sich (weiter)entwickelnde Kompetenzen zu sehen – sowohl in der Auseinandersetzung mit dem situativen Entscheidungs- und Handlungsvermögen als auch in der ethisch-reflexiven Bezugnahme hinsichtlich der jeweils einmaligen Situation mit moralischem Gehalt. Identisches gilt für die moralische Resilienz, die je nach Verfasstheit der Pflegefachperson bereits in die Situation
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 A. Riedel et al. (Hrsg.), Moralische Belastung von Pflegefachpersonen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67049-1_3
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hineinwirkt. Zugleich können die Bewerkstelligung der Situation mit moralischem Gehalt und die aktive reflexive Bezugnahme zu einer (weiteren) Stärkung der persönlichen moralischen Resilienz beitragen. Die moralische Sensibilität wird in dem Modell als „reflexive Schlüsselkompetenz“ bezeichnet. Das heißt, ihr ist in der Konfrontation mit der je einzigartigen Situation mit moralischem Gehalt eine essenzielle Rolle zuzuordnen. Sie bildet den Übergang, die Brücke, von der Erlebensdimension zur Handlungsdimension. Deutlich ist: Ethik(teil)kompetenzen und in der Folge auch die Ethikbildung sind im Umgang mit moralisch gehaltvollen, ethisch herausforderungsvollen Situationen, aber auch hinsichtlich der Analyse des situativen Handlungs(un)vermögens sowie der Reflexion und des Umgangs mit möglichem moralischen Belastungserleben von grundlegender Bedeutsamkeit. Ethikkompetenz wiederum bedarf der Möglichkeit, sich im beruflichen Handeln adäquat auszudrücken. Moralische Dilemmasituationen, moralische Ungewissheit und die Verletzung moralischer Normen und Werte im Rahmen des pflegeprofessionellen Handelns stellen potenzielle und vielfach wiederkehrende Quellen moralischer Belastung und moralischen Belastungserlebens der Pflegefachpersonen dar1. Das heißt: Die fehlende bzw. begrenzte Möglichkeit, als Pflegefachperson ethisch reflektiert das moralisch Gebotene zu tun und das moralisch nicht zu Legitimierende zu unterlassen, kann dazu führen, dass moralische Belastungen entstehen und sich nach und nach aufbauen. Das moralische Belastungserleben wiederum hat einen erheblichen Einfluss auf die Berufszufriedenheit und den Berufsverbleib, aber auch auf die pflegerische Versorgungsqualität und -sicherheit (Corley 2021; Andersson et al. 2022). Angesichts dieser Zusammenhänge ist sowohl in der Pflegeausbildung wie auch in der pflegeberuflichen Weiterbildung für diese spezifische Form des Belastungserlebens zu sensibilisieren. Innerhalb der Bildungsangebote sind entsprechende Kompetenzen anzubahnen bzw. zu vertiefen, um in Situationen mit moralischem Gehalt ethisch professionell agieren
A. Riedel et al.
und auf moralisches Belastungserleben selbstfürsorglich, selbstwirksam und professionell reagieren zu können. Der Beitrag unterstreicht in der Folge die Bedeutsamkeit der lebenslangen Ethikbildung. Davon ausgehend, dass sowohl die Pflegefachpersonen wie auch die Führungspersonen in den Einrichtungen des Gesundheitswesens ethisch reflektiert entscheiden und ethisch gut begründet handeln müssen, werden ergänzend zu den zentralen Ethik(teil)kompetenzen der Pflegefachpersonen bedeutsame Ethik(teil)kompetenzen der Leitungsverantwortlichen aufgezeigt. Ziel des Beitrages ist es, den Stellenwert der Ethikkompetenz von Pflegefach- und Führungspersonen insbesondere in der Konfrontation mit moralisch gehaltvollen Situationen darzulegen wie auch die Bedeutsamkeit ethischer Kompetenzen im aktiven Umgang mit erlebter moralischer Belastung aufzuzeigen. Zusammenfassend wird die Bedeutung einer lebenslangen Ethikbildung für Pflegefachpersonen und für Führungspersonen in der Pflege herausgestellt.
3.2 Ethikkompetenz und Ethik(teil)kompetenzen von Pflegefachpersonen und Führungspersonen Ethik(teil)kompetenzen der Pflegefachpersonen Corley bezeichnet Pflege als eine „moralische Aufgabe“ und die Ziele professionellen Pflegehandelns als „nachweislich ethischer Natur“ (Corley 2021, S. 223, 224). Zugleich ist der pflegeberufliche Alltag von vielfältigen und vielschichtigen ethischen Implikationen geprägt. Konzeptionelle wie technische Innovationen, gesellschaftliche wie ökologische Veränderungen und Umbrüche fordern die Ethikkompetenz der Pflegefachpersonen, um auf die 1 Vgl.
hierzu zum Beispiel: Riedel et al. (2022a); Lehmeyer und Riedel (2022a, b); Riedel und Lehmeyer (2022d) (2021a); Corley (2021); Hakimi et al. (2020); Riedel (2019); Monteverde (2016, 2019); Morley et al. (2023, 2019).
3 Ethische Kompetenzen und lebenslange Ethikbildung
damit jeweils einhergehenden neuen ethischen Herausforderungen und veränderten ethischen Fragestellungen im Kontext des professionellen Pflegehandelns ethisch reflektiert zu reagieren und ethisch begründet zu handeln. Blickt man darüber hinaus auf die zukünftigen Themen und bereits heute antizipierbaren ethischen Herausforderungen in der Pflege und im Gesundheitswesen (wie z. B. die Auswirkungen der fortschreitenden Durchdringung des Praxisfeldes durch den zunehmenden Einbezug Künstlicher Intelligenz, die sich stetig verschärfenden Folgen der bestehenden Gratifikationskrise, die weitere Zunahme der Personalnot, der demografische Wandel, Pandemien und die Klimakrise, aber auch die Fragestellungen rund um den assistierten Suizid), werden Ethikbildung und Ethikkompetenz für die eingeforderten, ethisch gut begründeten Entscheidungen weiter an Bedeutsamkeit hinzugewinnen. Die jüngst erfolgte Aktualisierung des für Pflegefachpersonen handlungsleitenden Ethikkodex des International Council of Nurses (ICN) (2021) greift die (erwartbaren) Entwicklungen im Pflege- und Gesundheitswesen bereits eindrücklich auf (so zum Beispiel in Element 1, dort in 1.11 (S. 10); in Element 3, dort in 3.7 (S. 16), in Element 4 (S. 19, 20)). Zugleich ist die Notwendigkeit ethischer Expertise von Pflegefachpersonen angesichts zunehmender Werteuneindeutigkeiten und -konflikte sowie komplizierter, vielfach belastender moralischer Irritationen und ethischer Divergenzen im Zuge einer menschenrechtssensiblen und umfassend professionellen pflegerischen Versorgung der Bevölkerung evident. Der Bedarf einer fundierten Ethikkompetenz von Pflegefachpersonen lässt sich auch in Bezug auf die vielfältigen empirischen Erkenntnisse zu den Phänomenen des moralischen Belastungserlebens mit seinen unterschiedlichen Erlebensqualitäten, wie die des moralischen Unbehagens, die der moralischen Unsicherheit und die des moralischen Stresses, sowie den damit einhergehenden komplexen Folgewirkungen unterstreichen2.
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Beachtlich ist, dass moralische Belastungsund Stressphänomene potenziell das berufliche Selbstverständnis und Integritätserleben von Pflegefachpersonen nachhaltig erschüttern können, gesundheitliche Belastungsreaktionen evozieren sowie den dauerhaften Berufsverbleib infrage stellen. Auch potenziell negative Auswirkungen auf die pflegeprofessionelle Beziehungsgestaltung, die pflegerische Leistungserbringung und die darstellbare Pflegequalität unterstreichen den Bedarf ethischer Kompetenzen für die Ausprägung einer professionellen, moralisch gestützten Identität der Pflegenden sowie für die Absicherung einer menschenrechtsorientierten qualitätsvollen wie zukunftssicheren pflegerischen Versorgung der auf professionelle Pflege verwiesenen Menschen in unserer Gesellschaft3. In Anerkennung der vielfältigen Situationsund Beziehungskonstellationen, in denen Pflegende im Rahmen ihrer professionellen Berufsausübung stehen – unter Einbezug der darin eingebetteten komplexen und individuell zu realisierenden und zu verantwortenden Abwägungs-, Entscheidungs- und Begründungsprozesse sowie unter Berücksichtigung der übergeordnet rahmenden Bedingungs- und Einflussfaktoren des Handlungsfeldes – wird die untrennbare Verwobenheit und essenzielle Bezüglichkeit moralisch-ethischer Wissenskomponenten und Kompetenzdimensionen ersichtlich (Riedel und Lehmeyer 2022c; Lehmeyer und Riedel 2022a, b). Das Verständnis und der Gegenstand einer professionellen Ethik in der Pflege lassen sich folgendermaßen rahmen:
2 Vgl. hierzu: Andersson et al. (2022); Riedel und Lehmeyer (2022a, b, d) (2021a, 2022a, b); Lehmeyer und Riedel (2022a, 2019); Corley (2021); Morley et al. (2019); Monteverde (2016, 2019); Lamiani et al. (2017). 3 Vgl. hierzu: Riedel und Lehmeyer (2022c); Lehmeyer und Riedel (2022a); Riedel et al. (2022a); Riedel und Lehmeyer (2022d) (2021a); Baumann-Hölzle und Gregorowius (2022); Riedel (2019); Albisser Schleger (2019a); Amiri et al. (2019); Riedel und Giese (2018); Poikkeus et al. (2018).
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Definition „Professionelle Ethik in der Pflege repräsentiert sich insbesondere in der ethischen Reflexion und Abwägung hin zu einer ethisch gut begründeten, menschenrechtskonformen und verantwortbaren Entscheidung professionellen Pflegehandelns. Die professionelle Ethik in der Pflege beschäftigt sich mit den ethischen Dimensionen, den moralischen Problemen und ethischen Konfliktsituationen der Pflege als Profession und insbesondere im konkreten Pflegehandeln. Der Charakter der ethischen Fragestellungen richtet sich konsequent an dem pflegeprofessionellen Auftrag und den damit verbundenen Verantwortlichkeiten aus. Die professionelle Ethik der Pflege bezieht sich somit vorwiegend auf pflegespezifische Entscheidungs- und Handlungssituationen und das professionelle, verantwortliche Entscheiden und Handeln in den unterschiedlichen Settings der Pflege. Kennzeichnend für das professionell-pflegerische Handeln, für die pflegerische Sorge, ist die professionelle intersubjektive Beziehungsgestaltung mit vulnerablen Personengruppen in vielfach reziproken, existentiellen und leiblich geprägten Situationen, die wiederum durch eine zunehmende Komplexität gekennzeichnet sind. Professionelle Ethik impliziert darüber hinaus ebenso alle überpersonalen Aspekte, welche sich jenseits der konkreten Begegnungssituation zwischen professionell Pflegenden und pflegebedürftigen Menschen konfigurieren, wie z. B. im Kontext der Forschungsethik, aber auch im Kontext des ethisch fundierten Handelns innerhalb kollegialer wie interprofessioneller Bezüge auch im organisationsethischen Kontext, des ethisch verantwortlichen Agierens in Form von berufsständischen/berufspolitischen Vertretungen und des achtsamen Umgangs mit sich selbst und der eigenen Gesundheit“ (Lehmeyer und Riedel 2022a, S. 4).4 Die zweite wichtige definitorische Grundlegung im Rahmen dieses Kapitels – die der Ethik4 Vgl.
hierzu auch: Lehmeyer und Riedel (2022b, 2019); Riedel et al. (2022b); Riedel und Lehmeyer (2022a, b); Olbrich (2023).
A. Riedel et al.
kompetenz – leitet sich aus der Analyse aktueller theoretischer wie empirischer (inter)nationaler Wissensbestände5, normativer Direktiven – zentral zu nennen sind hier insbesondere der ICN-Ethikkodex für Pflegefachpersonen (ICN 2021) und der Code of Ethics for Nurses (ANA 2015) – sowie aus aktuellen Empfehlungen (Riedel et al. 2017; SAMW 2019) ab. Darauf basierend lässt sich die Ethikkompetenz von Pflegefachpersonen wie folgt konturieren (Riedel 2019): Definition Demnach zeigt sich die Ethikkompetenz von Pflegefachpersonen in der moralischen Sensitivität bzw. Sensibilität, Achtsamkeit und Verantwortlichkeit im Handlungsfeld professioneller Pflege, ethische Konflikte und Probleme von situativ Beteiligten und Betroffenen wahrzunehmen bzw. als solche zu identifizieren und in der Folge als ethische Konflikte professionell zu benennen und (im interdisziplinären Team) zu kommunizieren.
Diese Fähigkeit setzt ein theoretisch fundiertes normatives Wissen voraus, einen professionellen moralischen Kompass, wie auch die dezidierte Kenntnis professionsspezifischer ethischer und normativer Verpflichtungen. Pflegespezifische ethische Kompetenz umfasst die Fähigkeit und die Selbstverpflichtung, das Handeln an den professionsethischen Werten und Normen auszurichten, und die Bereitschaft zum Perspektivwechsel, auch in Bezug auf anderweitig vertretene Werte, Normen, Prinzipien bzw. moralische Überzeugungen (das heißt, aus der Perspektive derer zu denken, die mit dem vorliegenden ethischen Konflikt befasst oder ihrerseits betroffen sind). Darüber hinaus besteht die Bereitschaft zur konsequenten Selbstreflexion des persönlichen und professionellen moralischen Standpunktes, aber auch die ethisch-reflexive Bezugnahme auf
5 Hier insbesondere: Poikkeus et al. (2018); Christensen et al. (2018); Lechasseur et al. (2018); Amiri et al. (2019); Pohling et al. (2016); Christen et al. (2016); Tanner und Christen (2014); Monteverde (2014); Rabe (2017); Rest (1986, 2016).
3 Ethische Kompetenzen und lebenslange Ethikbildung
die eigene ethische Verantwortung im Kontext situativer Handlungsoptionen. Ethikkompetenz der Pflegefachpersonen umfasst die Fähigkeit zur organisatorischen Anbahnung und konstruktiven Mitwirkung an diskursethischen Prozessen der systematischen ethischen Abwägung, der ethischen Reflexion, der kritisch-argumentativen Prüfung (der Konsistenz, der Konsequenz usw.), zur ethischen Urteilsbildung/Urteilsfähigkeit wie auch zur ethischen Begründung und Konsensfindung. Ethikkompetenz im professionellen Pflegehandeln zeigt sich weiterhin in der argumentativen Stabilität, um ethisch gut begründete Entscheidungen bzw. den (interdisziplinär) erlangten Konsens im professionellen Pflegehandeln fachlich kompetent umzusetzen und bei Bedarf gegenüber der eigenen Profession, aber auch gegenüber anderen Professionen zu vertreten. Professionelle Integrität (Orientierung an professionsethischen Handlungsorientierungen), Mut (ethische Konflikte zu benennen) und Selbstwirksamkeitserwartung (in Bezug auf den Umgang mit ethischen Konflikten) stellen hierbei wesentliche personale Merkmale ethisch kompetenter Pflegefachpersonen dar. Professionelle Ethikkompetenz inkludiert als Handlungsdisposition aufseiten der Pflegefachpersonen einen kompetenten Umgang mit ethisch herausforderungsvollen Situationen, Konflikten und Dilemmata. Werden die dann notwendigen Strukturen und Prozesse der ethischen Reflexion, Entlastung und Stabilisierung nicht gewährleistet, kann die Entstehung moralischer Belastung der Pflegefachpersonen – begleitet von den unerwünschten Folgen – antizipiert werden (Riedel et al. 2022a). Die Entwicklung von Ethikkompetenz muss folglich stets auch bedeuten: • Fördern moralischer Resilienz • Fördern und Schützen der moralischen Integrität • Gewährleisten moralisch angemessener Arbeitsbedingungen und pflegeprofessioneller Entscheidungsrahmen • Bereitstellung von moralischen Entlastungsmöglichkeiten auf organisationaler Ebene
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Im Folgenden wird die ethische/moralische Sensibilität bzw. die ethische Sensitivität als eine exemplarische und zugleich zentrale, grundlegende Ethik(teil)kompetenz näher betrachtet; dies auch aufgrund dessen, dass sie in dem Modell der Entstehung und Wirkung moralischen Belastungserlebens von Pflegefachpersonen als „reflexive Schlüsselkompetenz“ bezeichnet wird. Die Bedeutsamkeit dieser Teilkompetenz lässt sich zudem damit begründen, dass sie in einschlägigen Modellen zur Beschreibung der Ethikkompetenz (z. B.: SAMW 2019; Tanner und Christen 2014; Christen et al. 2016; Rest 2016) ausgeführt und im ICN-Ethikkodex eingefordert wird (z. B.: ICN 2021, S. 10), zur (ethischen) Professionalität der Pflegefachpersonen beiträgt (z. B.: Nesime und Belgin 2022) und ihre Rolle im Rahmen der Entstehung von moral distress wiederholt dargelegt wird (z. B.: Caram et al. 2022; Ramos et al. 2016; Amos und Epstein 2022). Die nachfolgenden definitorischen Grundlegungen verweisen einerseits auf die Bedeutsamkeit der Ethik(teil)kompetenz in der Wahrnehmung von und im Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen und zeigen angesichts der Komplexität zugleich den Stellenwert der lebenslangen Ethikbildung auf. Die beiden Begrifflichkeiten Sensibilität und Sensitivität und die jeweiligen Ergänzungen ethisch bzw. moralisch werden zum Teil synonym, alternativ oder in einem engen Zusammenhang zueinander ausgeführt, wie bei Lützén exemplarisch deutlich wird, denn auch in der englischsprachigen Literatur findet sich sowohl der Begriff der „moral sensitivity“ als auch der Begriff der „ethical sensitivity“ – „at times interchangeably“ (Lützén et al. 2006, S. 189). Lützén et al. (2006, S. 189) schlagen die folgende Differenzierung vor: “A distinction could feasibly be made between the two concepts: ethical sensitivity referring to knowledge of ethics theory and principles, and moral sensitivity relating to personal agency within the interpersonal relationship.” Milliken und Grace (2017) nutzen den Begriff der „ethical sensitivity“ und sehen diesen als synonym zur „moral sensitivity“, verweisen aber zugleich auf die definitorische Un-
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schärfe des Begriffs. Im Folgenden werden bei den definitorischen Bezugnahmen stets die seitens der Autor*innen genutzten Begrifflichkeiten ausgeführt. Die nachfolgenden Darlegungen aus einschlägigen Publikationen sind als exemplarisch zu betrachten. Moral sensitivity umfasst nach Lützén et al. (2006, S. 195) drei Faktoren: “a sense of moral burden, moral strength and moral responsibility”, und sie formulieren weiter: “moral sensitivity involves more dimensions than simply a cognitive capacity, especially feelings, sentiments, moral knowledge and skills”. Die Definition umfasst bereits drei Elemente der ethischen Sensitivität: • die Wahrnehmung moralischer Verletzung(en), • die (situative) moralische Klarheit bzw. moralische Stärke und • die Wahrnehmung/Realisierung der (situativen, professionellen) moralischen Verantwortung. Die benannten Dimensionen verweisen auf die Komplexität, die neben Wissen und kognitiven Fähigkeiten auch Empfindungen und Emotionen einschließt. Die erste der Dimensionen (die Wahrnehmung moralischer Verletzung(en)) weist im Sinne eines „Störfaktors“ auf die Situation mit moralischem Gehalt, auf einen Wertekonflikt hin. Die ethisch sensible retrospektive Situationsanalyse wiederum kann darauf verweisen, dass moralisch sensibel zu sein auch durchaus belastend sein kann und in der Folge dann zu einem moralischen Belastungserleben führt, wenn dem durch die moralische Sensibilität situativ wahrgenommenen moralischen Handlungsbedarf nicht angemessen begegnet werden kann (Riedel et al. 2022a; Riedel und Lehmeyer 2022b, 2022d, e 2021a, b). Kraaijeveld et al. (2021) unterwerfen das Konzept „moral sensitivity“ nochmals grundlegenden Überlegungen, dies unter der Hinzunahme zentraler Bezugswissenschaften (Philosophie und Psychologie). Das Konzept nach Kraaijeveld et al. (2020) verweist auf die inhärente emotionale Dimension, die in unterschiedlicher Qualität und Intensität im Kontext moralischen
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und ethischen Agierens von Pflegefachpersonen zum Tragen kommen. Die moralisch bedeutsamen Emotionen bzw. die Emotionen im Kontext des situativ ethisch motivierten Reagierens und Verhaltens haben im pflegeprofessionellen Handeln gemäß den Autor*innen eine eindeutige Funktion: “they (emotions) include evaluations of good and bad, and they indicate individual concerns and sometimes directly lead to moral behavior” (Kraaijeveld et al. 2020, S. 186). Hierbei werden Reflexion, Argumentation und Kognition nicht in Abrede gestellt, vielmehr werden die Emotionen in einen größeren Gesamtkontext gestellt und unterstützen das situative Entscheiden und Handeln wechselseitig. Für die Autor*innen umfasst die Definition von „moral sensitivity“ folgende Komponenten: Moral sensitivity should … • “include an initial judgement of good and bad based on emotions”, • “hold the ability to reflect on the initial judgement and the associated emotions”, • “include the ability to understand other stakeholder’s perspectives based on the ideal types”, • “include a personal decision on the right course of action” (Kraaijeveld et al. 2020, S. 188). Deutlich wird an dieser definitorischen Konturierung, dass „moral sensitivity“ konkrete Anforderungen an die Fähigkeit der Pflegefachpersonen stellt, die sowohl emotionaler, rationaler, reflexiver wie auch argumentativer Gestalt sind. Die Perspektive wird hierbei auf die Situation, das Entscheiden und Handeln, auf die eigene Person sowie auf die Betroffenen und Beteiligten gerichtet. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) unterscheidet zwischen moralischer Sensitivität und der Sensitivität für moralische Wertekonflikte. Unter der moralischen Sensitivität subsumiert die SAMW (2019) das „Identifizieren und Beschreiben von Wertkonflikten und ethischen Herausforderungen“ sowie das Erkennen von rechtlichen und ethischen Diskrepanzen. Unter der Sensitivität für moralische Wertekonflikte
3 Ethische Kompetenzen und lebenslange Ethikbildung
wird die Fähigkeit verstanden, „zwischen genuinen ethischen Fragestellungen und Unbehagen“ sowie „zwischen genuinen ethischen Fragen und fehlendem Fachwissen“ unterscheiden zu können (SAMW 2019, S. 21). Christen et al. (2016) sehen moralische Sensitivität als eine Vorbedingung, um „moralische Entscheidungen zu initiieren“, und definieren diese wie folgt: Moralische Sensitivität bezeichnet „… die wahrnehmungsbezogene Fähigkeit, moralische Aspekte und Implikationen im Berufsalltag zu erkennen und als relevant einzuschätzen; z. B. dass eine gegebene Situation und daraus folgende Handlungen das Wohlbefinden anderer beeinflussen oder aber dadurch Verletzungen von moralischen Standards und Ethikkodizes resultieren könnten. (…) Moralische Sensitivität wird durch die Fähigkeit zu Empathie und Perspektivenübernahme unterstützt“ (Christen et al. 2016, S. 1263). Das heißt, es geht um das Erkennen moralischer Merkmale und um die Antizipation potenzieller Konsequenzen, wie zum Beispiel die Verletzung von Werten des professionellen moralischen Kompasses, professionsethischer Ansprüche oder moralischer Standards. Zugleich wird in der Definition deutlich, dass die moralische Sensitivität ihrerseits weitere Fähigkeiten einfordert, wie zum Beispiel den Wechsel der mitwirkenden Perspektiven. In den nachfolgenden Ausführungen wird der Begriff der moralischen Sensibilität präferiert, hier im Sinne von empfindsam sein, zur Empfindung fähig sein und der Fähigkeit zur bewussten Wahrnehmung. Angelehnt an die vorausgehenden Ausführungen sind folgende Merkmale und Komponenten besonders bedeutsam (vgl. auch Riedel und Lehmeyer 2022b): Moralische Sensibilität • verweist die Pflegefachperson auf die ethische Dimension, den moralischen Gehalt einer Pflegesituation, • lenkt die Perspektive auf die Pflegefachperson selbst, die Beteiligten und die Betroffenen sowie auf die situativen moralischen Abwägungs-, Reflexions- und Entscheidungserfordernisse,
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• umfasst die Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Identifikation, Interpretation, Einordnung und Darlegung der ethischen Dimension einer Pflegesituation durch die Pflegefachperson, • verweist die Pflegefachperson in emotionaler, rationaler und reflexiver Weise auf eine mögliche Werteverletzung, auf die Verletzung moralischer Prämissen und ethischer Prinzipien, auf die Verletzung des professionellen Wertekompasses, auf Wertekonflikte, möglicherweise auch auf die Ambiguität einer Situation, • verweist die Pflegefachperson auf eine moralisch belastende Situation, • erfordert die Übernahme professioneller Verantwortung und in der Folge die persönliche und professionelle moralische Verfasstheit, Stärke und den moralischen Mut der Pflegefachperson, situative ethische Ungereimtheiten und Werteverletzungen zu thematisieren, ethische Konfliktsituationen anzuzeigen und für professionelle Werte und Prinzipien einzustehen, • beugt unethischem Verhalten vor und trägt zur Pflege- und Versorgungsqualität bei. Die moralische Sensibilität ist – wie die Ethikkompetenz per se – grundlegend für die Pflegeund Versorgungsqualität6. Sie spielt eine zentrale Rolle in der Konfrontation einer Situation mit moralischem Gehalt und erlangt angesichts dessen in der Ethikbildung eine spezifische Bedeutsamkeit7. Moralische Sensibilität als Ethik(teil)kompetenz bewahrt die Pflegefachperson nicht vor dem moralischen Belastungserleben. So erleben gerade Pflegefachpersonen
6 Vgl. hierzu: Kraaijeveld et al. (2020); Corley (2021); Mert et al. (2021); Chen et al. (2022); Koskinen et al. (2022); Hemberg und Bergdahl (2020); Gallagher (2020); Amiri et al. (2019); Lechasseur et al. (2018). 7 Vgl. hierzu zum Beispiel: Riedel und Lehmeyer (2022b); Riedel et al. (2022b, 2017); Maluwa et al. (2022); Andersson et al. (2022); Katsarov et al. (2021); Kraaijeveld et al. (2020); Spekkink und Jacobs (2021); Hemberg und Bergdahl (2020); Zangh et al. (2020); SAMW (2019); Wocial (2019); Lechasseur et al. (2018); Milliken und Grace (2017); Robichaux (2017); Tanner und Christen (2014); Gallagher (2006).
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mit einer hohen moralischen Sensibilität und einem hohen moralischen Engagement, deren Ethikkompetenz darüber hinaus begrenzt, deren moralischer Mut minimal oder gar nicht ausgeprägt ist und/oder deren Strategien im Kontext ethischer Herausforderungen eingeschränkt sind, vielfach moralisches Belastungserleben. Das heißt in der Folge: Einrichtungen im Pflege- und Gesundheitswesen müssen entsprechende Rahmenbedingungen schaffen und Angebote unterbreiten, die Pflegefachpersonen bei der ethischen Analyse, Reflexion und dem Urteilsvermögen hin zu einer ethisch gut begründeten Entscheidung unterstützen, die Strategien im Umgang mit ethisch herausforderungsvollen Situationen begleitend einüben und somit Ethikkompetenzen vertiefen und zugleich zur moralischen Entlastung beitragen (Gallagher 2006; Corley 2021; Caram et al. 2022; Andersson et al. 2022; Peng et al. 2023, 2022). Die Bearbeitung moralischen Belastungserlebens kann einerseits durch die Pflegefachperson mittels Selbstreflexion und Selbsteinschätzung selbst angebahnt werden, indem sie zum Beispiel entsprechende Instrumente nutzt (z. B.: 4-A-Strategie; American Association of Critical-Care Nurses (AACN) o. J.). Die Verantwortung zur moralischen Entlastung darf indes nicht bei den Pflegefachpersonen alleine liegen, vielmehr bedarf es organisationsethisch etablierter Angebote, die moralische Entlastung ermöglichen bzw. die moralische Belastung präventieren (Grady et al. 2018; Rushton und Sharma 2018). Hierunter fallen die Formate der Ethikberatung wie zum Beispiel Ethik-Cafés (Riedel und Lehmeyer 2022b), aber auch prospektive, aktuelle oder retrospektive ethische Fallbesprechungen (Klotz et al. 2022; Monteverde 2019; Albisser Schleger 2022; Simon 2022; Herrmann 2022). Um moralische Entlastung zu erfahren, um moralisches Belastungserleben mittels der exemplarisch genannten Formate der Ethikberatung zu präventieren, ist es wichtig, sich als Pflegefachpersonen in den strukturierten Austausch bzw. systematisierten Diskurs konstruktiv einzubringen. Hierzu bedarf es wiederum spezifischer Ethik(teil)kompetenzen. Die
A. Riedel et al.
ethischen Kompetenzen, um in intra- und interprofessionellen Diskussionen zu einer ethischen Fragestellung bzw. im Rahmen einer ethischen Fallbesprechungen sprachfähig zu sein, um sich moralisch mutig und ethisch reflexiv einzubringen und um ethische Argumente zu generieren und zu vertreten, lassen sich aus der vorausgehenden Definition der Ethikkompetenz ableiten. Von besonderer Bedeutung im Kontext der Analyse des situativen Handlungs(un)vermögens und der Einordnung der Entstehung des situativen moralischen Belastungserlebens ist die ethische Reflexionsfähigkeit. In der Folge wird sie als zweite exemplarische Ethik(teil) kompetenz näher expliziert. Im Vordergrund steht dabei insbesondere die Reflexion des eigenen situativen Denkens, Abwägens und Entscheidens und deren jeweiliger Beweggründe und es geht um die Reflexion „… des spezifischen professionellen Handelns vor dem Hintergrund ethischer Überlegungen“ (Kühlmeyer et al. 2022, S. 310). Insbesondere geht es um die ethisch-reflexive Bezugnahme auf die Situation mit moralischem Gehalt, die ethisch-reflexive Bezugnahme zur eigenen situativen professionellen Verantwortung, zu den individuellen situativen und strukturellen Handlungsmöglichkeiten und dem moralischen Handlungsvermögen. Dazu gehört die aktive reflexive Bezugnahme auf das situationsbezogene und individuelle (Belastungs-)Erleben. Da eine reflektierte Praxis per se ein Merkmal professionellen Pflegehandelns ist und die Reflexion in diesem Kontext nicht nur retrospektiv bedeutsam, sondern ebenfalls prospektiv sowie begleitend zum Handeln erfolgt (Olbrich 2023; Tracy 2019), lohnt es sich, die Spezifika ethischer Reflexion als eine zentrale Ethik(teil) kompetenz näher zu betrachten8.
8 Vgl~. hierzu auch: Caram et al. (2022); Koskinen et al. (2022); Wocial (2019); Gallagher (2006); van der Arend und Gastmans (1996).
3 Ethische Kompetenzen und lebenslange Ethikbildung
Gallagher (2006, S. 232) unterscheidet zunächst drei Formen ethischer Reflexion: “Reflecting on ethical ideas, concepts and theories; reflecting on professional practice, people and events; reflecting on self”. Für den hiesigen Kontext erscheinen die Selbstreflexion und insbesondere auch die Reflexion in Bezug auf die Praxis, die betroffenen und beteiligten Personen und die situativen Gegebenheiten, Ereignisse als zentral. Davis et al. (2006, S. 348) differenzieren zwischen einer „initial reflection“, in der Pflegefachpersonen als Einzelpersonen ihre Reaktionen und ihr Handeln überdenken, und „guided reflection“, d. h. eine initiierte Diskussion. So formulieren die Autor*innen: “This discussion helps the professionals involved to understand more clearly the values and beliefs that form part of their professional identity. They also see how their beliefs and values may differ from those of other people” (Davis et al. 2006, S. 348). Es geht somit um die Selbstreflexion, aber auch um Formate der kollegialen, der interprofessionellen Reflexion, die den Perspektivenwechsel auf weitere beteiligte bzw. betroffene (professionelle) Werte und Einstellungen einfordert. Die SAMW bezeichnet die Reflexionsfähigkeit als eine der vier Domänen der Ethikbildung (2019, S. 15). Hierunter fallen Reflexionsmethoden wie das kritische Denken und der Perspektivenwechsel. Unter die Domäne der Reflexionsfähigkeit fallen ferner die zuvor beschriebene „moralische Sensitivität“ und die „Sensitivität für moralische Wertekonflikte (Moral Distress)“ (S. 21; vgl. Wocial 2019). Es geht gemäß der SAMW (2019, S. 15, 21) um das Identifizieren und Beschreiben von Wertekonflikten und genuin ethischen Herausforderungen sowie um die Identifikation und Abgrenzung einer ethischen Fragestellung bzw. moralischen Unsicherheit von anderen Fragestellungen und Formen der situativen Ungewissheit. Wenngleich die Klarlegung der situativ zutreffenden ethischen Fragestellung zentraler Gegenstand im Rahmen einer systematisierten ethischen Fallbesprechung ist, so unterstützt die Kompetenz der hier dargelegten Reflexionsfähigkeit die notwendige Sprachfähigkeit
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und diskursive Mitwirkung an ethischen Fallbesprechungen und ethischen Diskursen. Hervorzuheben ist gemäß van der Arend und Gastmans (1996, S. 36): „Die ethische Reflexion macht das spontane ethische Reagieren nicht überflüssig.“ Vielmehr eröffnen die ethische Analyse und Reflexion eine umfassendere situative Einordnung, in dem sie helfen, „den persönlichen emotionalen Schleier, der häufig ethische Probleme verdeckt, zu lichten, danach die eine Rolle spielenden Werte und Normen auszumachen und sie schließlich in einen logischen Zusammenhang zu stellen, um letztlich ethisch verantwortete Entscheidungen vorzustellen“ (van der Arend und Gastmans 1996, S. 36). Davon ausgehend, dass der professionelle Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen ein wirksames moralisches Handlungsvermögen erfordert (Monteverde 2019), das in der Konfrontation mit moralisch herausforderungsvollen Situationen in der sensiblen Wahrnehmung des situativen moralischen Gehalts, in der aktiven Bezugnahme zu den situativen Implikationen sowie der verantwortungsvollen ethischen Reflexion der moralischen Divergenzen und in der Übernahme von Verantwortung in Bezug auf situative moralische Entscheidungs- und Handlungsbedarfe zum Tragen kommt (Meeker und White 2021; Monteverde 2019; Rushton 2018), spielt die situative oder retrospektive ethische Reflexion in der Analyse des situativen Handlungsvermögens eine zentrale Rolle. Denn: Moralisches Handlungsvermögen beschreibt das Vermögen von Pflegefachpersonen, situativen ethischen Anforderungen und moralischen Verantwortlichkeiten zu entsprechen (Meeker und White 2021; Milliken 2018). Moralisches Handlungsvermögen erfordert somit nicht nur kognitives Wissen, sondern auch die Motivation und das Engagement der Pflegefachperson zum Perspektivenwechsel und zur aktiven ethisch-reflexiven Auseinandersetzung mit dem moralischen Gehalt der Situation. Ist das moralische Handlungsvermögen irritiert oder gar kompromittiert, kann die bewusste situative oder retrospektive ethische Reflexion dazu beitragen, die Hintergründe für das eingeschränkte bzw. verhinderte Handlungsvermögen zu ana-
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lysieren oder einzuordnen; dies angesichts dessen, dass die ethische Reflexion – bezugnehmend auf die exemplarischen Definitionen – als Ethik(teil)kompetenz die Pflegefachpersonen dahingehend befähigt: • den Einfluss, die Rolle und Orientierungswirkung des eigenen moralischen Kompasses in der Situation mit moralischem Gehalt zu reflektieren (vgl. Davis et al. 2006: vgl. van der Arend und Gastmans 1996), • die moralische Unsicherheit von anderen Formen der Unsicherheit abzugrenzen (vgl. SAMW 2019), • das situativ wirkende ethische Dilemma/ den Wertekonflikt in der Situation zu identifizieren (vgl. SAMW 2019), • den notwendigen Perspektivenwechsel zu realisieren (vgl. SAMW 2019; vgl. van der Arend und Gastmans 1996; vgl. Davis et al. 2006), • die beeinflussenden Kontextfaktoren und die limitierenden Rahmenbedingungen in Bezug auf das als moralisch angemessene Handeln zu erfassen (vgl. Riedel et al. 2022a; vgl. Gallagher 2006) und damit auch die Ursachen moralischen Handlungs(un)vermögens zu analysieren, • die professionelle Verantwortung(sübernahme) und das professionelle Selbstverständnis angesichts der Situation mit moralischem Gehalt zu überdenken. Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass ethische Reflexion gemäß der Definition von van der Arend und Gastmans (1996), aber auch angesichts der vorausgehenden definitorischen Rahmungen zum einen grundlegend ist für die Analyse der Wirksamkeit und Tragfähigkeit des eigenen moralischen Handlungsvermögens – unter entsprechender Bezugnahme auf die identifizierten ethischen Handlungsbedarfe wie auch auf die wirkenden/beeinflussenden individuellen und strukturellen Faktoren – und zum anderen die Analyse der Entstehung und der Ursachen des moralischen Belastungserlebens (individuell, strukturell) ermöglicht. Bezugnehmend auf die Reflexionsfähigkeit lassen sich zentrale Elemente der individuellen
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ethischen Selbstreflexion, aber auch der systematischen ethischen Reflexion in einer Gruppe von mehreren Pflegefachpersonen oder Professionen ableiten. So geht es insbesondere auch um den Perspektivenwechsel, die Varianz zwischen den von einem selbst vertretenen Werten und Wertvorstellungen zu denen der anderen beteiligten Professionellen sowie um das Verständnis und die Vergegenwärtigung der persönlich vertretenen ethischen Werte und Überzeugungen als Teil der professionellen Identität, aber auch als Teil der moralischen Integrität. Die ethische Reflexion innerhalb eines Teams bzw. einer Organisationseinheit abzusichern, ist genuiner Gegenstand der Organisationsethik, deren Umsetzung in der Verantwortung der Führungspersonen in den Einrichtungen liegt. Um organisationsethische Strukturen zu implementieren und nachhaltig zu etablieren, bedarf es wiederum spezifischer Ethik(teil)kompetenzen der Führungspersonen, die nachfolgend in den Mittelpunkt rücken. Ethik(teil)kompetenzen der Führungspersonen Die „kontextuellen Rahmenfaktoren“ rahmen das Modell der Entstehung und Wirkung des moralischen Belastungserlebens von Pflegefachpersonen. Hierunter fallen sowohl die organisationsethischen Strukturen der Einrichtung, aber auch die aktuellen personalen und strukturellen Gegebenheiten. Da moralisches Belastungserleben in einem direkten Zusammenhang mit Restriktionen, Vorgaben und Rahmenbedingungen steht – eindrücklich zeigten uns das die ersten Wellen der COVID-19-Pandemie (Riedel und Lehmeyer 2022d 2021a; Baumann-Hölzle und Gregorowius 2022; Peter et al. 2022) – ist die ethische Kompetenz der Leitungsverantwortlichen im Zusammenhang mit der Organisation und Etablierung von Angeboten und Formaten der ethischen Entscheidungsfindung, der Ethikbildung, aber auch der moralischen Entlastung als bedeutsam einzuordnen9.
9 Vgl. hierzu: Poikkeus et al. (2020, 2018); Amos und Epstein (2022); Andersson et al. (2022); Storaker et al. (2022).
3 Ethische Kompetenzen und lebenslange Ethikbildung
Es ist eine genuine Führungsaufgabe, die Realisierung organisationsethischer Programme, Strukturen und Prozesse zu unterstützen und zu steuern10. Es bedarf einer ethisch-unterstützenden Umgebung, eines ethischen Klimas und einer ethischen Diskurskultur, die die Umsetzung moralischer Standards ermöglichen. Sowohl die Ethik(kultur) in der Organisation wie auch die (Führungs-)Ethik der Organisation sind hierbei wichtig. Diese Strukturen zu eröffnen, zu implementieren und nachhaltig zu etablieren, fordert die Führungspersonen und deren Ethikkompetenz heraus. Eine der Zielperspektiven ist die „Integrität der Organisation“. Diese lässt sich daran ablesen, „wie ethisches Handeln und Entscheiden umgesetzt werden“ (Großklaus-Seidel 2020, S. 119; vgl. Albisser Schleger 2019b; vgl. Baumann-Hölzle und Arn 2009), aber auch in welcher Ausprägung die Organisationskultur lebendig ist. Es geht um die Ermutigung der Pflegefachpersonen, an Formaten der ethischen Reflexion zu partizipieren und an Prozessen der ethischen Entscheidungsfindung mitzuwirken. In der englischsprachigen Literatur findet sich vielfach die Bezugnahme auf das ethische Klima einer Einrichtung („ethical climate“). Numminen et al. verstehen darunter “… in nursing, ethical climate has been described as the nurses’ perceptions of handling ethical issues in their working setting” (Numminen et al. 2015, S. 846–847). Diese Definition von ethischem Klima greift das auf, was im Kontext des Umgangs mit und der Prävention von moralischem Belastungserleben im Mittelpunkt stehen soll, die Möglichkeit, als Pflegefachperson ethisch reflektiert das moralisch Gebotene zu erfassen und zu tun und das moralisch nicht zu Legitimierende zu unterlassen. Es geht darum, den Umgang mit moralischen Konfliktsituationen (prospektiv, retrospektiv, in Bezug auf einen aktuellen ethischen
10 Vgl. hierzu: Storaker et al. (2022); Wehkamp (2022); Poikkeus et al. (2018, 2020); Devik et al. (2020); Helmers et al. (2020); Jones-Bonofiglio (2020); Grady et al. (2018); Rushton und Sharma (2018); Suhonen et al. (2011).
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Konflikt) zu eröffnen, als Pflegefachperson den Umgang mit ethischen Belangen und Herausforderungen wie auch dem situativen moralischen Entscheidungs- und Handlungsvermögen in einem unterstützenden Klima zu reflektieren, zu bearbeiten und bestenfalls moralische Entlastung zu erfahren. Hier wird der Auftrag der Führungspersonen innerhalb der organisationsethischen Prozessgestaltung und Ethikkultur ersichtlich. Zugleich verweisen die Anforderungen auf die damit unabdingbar verbundenen, grundlegenden Ethik(teil)kompetenzen, über die Führungspersonen verfügen sollten. Für die Entlastung und die Berufszufriedenheit der Pflegefachpersonen, deren ethische Handlungssicherheit und ethische Kompetenz sind sowohl organisationsbezogene wie auch individuumsbezogene Unterstützungsfaktoren evident11. Das heißt: Die Ethik(teil)kompetenzen der Führungspersonen befähigen bestenfalls dahingehend, moralisch unterstützende und entlastende Elemente für die einzelne Pflegefachperson wie auch organisationsethische Unterstützungsfaktoren zu konzeptualisieren, zu implementieren und zu evaluieren. Angelehnt an die Empfehlungen der SAMW „Ethikausbildung für Gesundheitsfachpersonen“ (2019), deren Domänen (Wissen, Fertigkeiten, Reflexionsfähigkeit, Haltungen) und Vertiefungen werden zentrale Ethik(teil)kompetenzen für Führungspersonen abgeleitet (SAMW 2019, S. 17–21), die maßgeblich dafür sind, dass Führungspersonen die Pflegefachpersonen in ihrem professionellen Auftrag, ethisch begründet zu handeln, unterstützen und befähigen können, und dafür, die grundlegenden organisationsethischen Strukturen zu realisieren, um die Umsetzung moralisch entlastender bzw. präventierender Strukturen und Prozesse (der Ethikberatung) zu steuern und zu begleiten.
11 Vgl. hierzu: Poikkeus et al. (2020); Amos und Epstein (2022); Andersson et al. (2022); Storaker et al. (2022); Grady et al. (2018); Rushton und Sharma (2018).
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Wissen: Die Führungsperson … • kennt die zentralen Grundkonzepte der Pflegeethik und die damit verbundenen professionellen Wertorientierungen und Ansprüche. • weiß um die Entstehungsfaktoren und um die Folgen moralischen Belastungserlebens von Pflegefachpersonen. • weiß um die Zusammenhänge zwischen moralischem Belastungserleben, Berufszufriedenheit, ethischer Handlungssicherheit und Pflegequalität. • ist sich der Bedeutung einer gelebten Organisationsethik bewusst und kennt die damit verbundenen strukturellen Erfordernisse sowie die unterstützenden und förderlichen Elemente einer Ethikkultur, des ethischen Klimas und der Ethikbildung. Fertigkeiten Die Führungsperson … • ist in der Lage, organisationsethische Strukturen systematisch zu entwickeln, zu implementieren und deren Umsetzung kontextsensibel zu begleiten und nachhaltig abzusichern (z. B. Angebote der Ethikberatung, der moralischen Entlastung, der Ethikbildung). • verfügt über die Aufmerksamkeit, die das moralische Belastungserleben auslösenden individuellen und strukturellen Dimensionen zu identifizieren oder gar zu antizipieren. • verfügt über die Kommunikationsfähigkeit, moralisches Belastungserleben sensibel und zugewandt anzusprechen und Strategien zur Entlastung zu unterbreiten. • ist in der Lage, die Institution durch den eigenen Führungsstil, die partizipative Entwicklung eines Leitbildes und den bewussten Umgang mit Verantwortung und Verantwortlichkeiten zu einer ethisch gerahmten „Kompetenzbasis“ (Olbrich 2023, S. 259) zu entwickeln. • ist in der Lage, die implementierten organisationsethischen Strukturen inklusive der Angebote zur Ethikkompetenzentwicklung
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der Pflegefachpersonen, deren Effekte und deren Beitrag zur moralischen Entlastung formativ und summativ zu evaluieren, bei Bedarf anzupassen und zu ergänzen. Reflexionsfähigkeit Die Führungsperson … • ist in der Lage, die Perspektive zu wechseln bzw. unterschiedliche Perspektiven einzunehmen, um ethische Herausforderungen als solche zu identifizieren und um moralisches Belastungserleben von Pflegefachpersonen angesichts struktureller, personeller und situativer Gegebenheiten respektvoll aufzugreifen und die notwendigen Interventionen einzuleiten. • ist sensibel für den Unterschied zwischen ethischen Fragestellungen/ethischen Konflikten und fehlendem Fach- bzw. Führungswissen und bindet diese Differenzierung hinsichtlich der Auswahl unterstützender bzw. entlastender Interventionen bewusst ein. • reflektiert eigenes moralisches Belastungserleben, sorgt für die persönliche moralische Entlastung und entwickelt Strategien im zukünftigen Umgang damit. Haltung Die Führungsperson … • ist Vorbild in Bezug auf die Ethik- und Wertekultur, lebt Werte vor. • ist respektvoll, empathisch und wertschätzend im Umgang mit dem angezeigten moralischen Belastungserleben seitens der Pflegefachperson(en) oder eines Teams und geht vertrauensvoll mit den ihr gegenüber eröffneten/angezeigten Belastungen um. • übernimmt die Verantwortung zur Umsetzung jeglicher Maßnahmen zur moralischen Entlastung der Pflegefachpersonen und zeigt dabei Verlässlichkeit. • setzt sich verantwortlich und fürsorglich für eine gesicherte Finanzierung jeglicher Maßnahmen ein, die im Rahmen der Organisationsethik die Ethikkultur abstützen und ein ethisches Klima absichern.
3 Ethische Kompetenzen und lebenslange Ethikbildung
Deutlich ist, dass diese Kompetenzen der Führungsperson über die grundlegende Ethikkompetenz von Pflegefachpersonen hinausgehen. Letztere bilden die Grundlage für die spezifischen Ethik(teil)kompetenzen der Führungspersonen. Das unterstreicht das Plädoyer des Beitrages für die lebenslange berufsbegleitende Ethikbildung.
3.3 Lebenslange berufsbegleitende Ethikbildung Sowohl die Ausbildung als auch die Weiterbildung sind grundlegend für die Entwicklung und Vertiefung von Ethik(teil)kompetenzen12. Da sich aktuelle, neuartige ethisch herausforderungsvolle Situationen in ihrer Komplexität und Komplizität (Monteverde 2019, 2022) sowie bislang unbekannte ethische Konfliktsituationen und das damit möglicherweise verbundene moralische Belastungserleben in den jeweiligen Ausprägungen und Varianzen vornehmlich in der pflegeberuflichen Praxis, im konkreten professionellen Handeln herausbilden, ist die berufsbegleitende Ethikbildung unerlässlich. Angesichts der stetigen Weiterentwicklungen in der Pflege und Medizin und in der Folge der damit verbundenen Veränderung der professionellen Pflegeethik ist eine lebenslange Ethikbildung – für eine ethisch reflektierte Pflegepraxis wie auch zum Erhalt der moralischen Integrität der Pflegefachpersonen – evident. Lebenslanges Lernen wird bereits in der Grundausbildung angebahnt und repräsentiert sich in Bezug auf die Ethik in der pflegeberuflichen Praxis zum Beispiel in der Teilnahme an systematisierten Formen der Ethikberatung wie auch in der Teilnahme an Weiterbildungsangeboten zu aktuellen ethischen Themen und Kontroversen. 12 Vgl.
hierzu: SAMW (2019); Martins et al. (2020, 2021); Obeid und Man (2020); Riedel und Lehmeyer (2022c); Caram et al. (2022); Koskinen et al. (2022); Andersson et al. (2022).
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Die Musterweiterbildungsordnung für Pflegeberufe (MWBO PflB) des Deutschen Bildungsrates für Pflegeberufe (DBR 2020) konturiert den übergreifenden Weiterbildungsbedarf von Pflegefachpersonen wie folgt: „Vertiefungen, Spezialisierungen auf bestimmte Pflege- und Versorgungsbedarfe bzw. für spezifische Klientengruppen, neue Herausforderungen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse sowie technische Fortschritte und Entwicklungen erfordern dagegen als Antwort und zum Erhalt sowie zur Aktualisierung der pflegeprofessionellen Kompetenzen eine systematische, standardisierte Weiterbildung, welche die fachliche und persönliche Weiterentwicklung der professionell Pflegenden im Prozess des lebenslangen Lernens begleitet“ (DBR 2020, S. 7). Die Definition nimmt keinen expliziten Bezug auf die zunehmenden, neuen bzw. sich verändernden ethischen Herausforderungen im pflegeberuflichen Handeln, sondern bleibt hier sehr allgemein. Dieser spezifische Weiterbildungsbedarf ist indes evident, wie im Zitat von Koskinen et al. (2022) deutlich wird: “Ethics is seen as a lifelong practice, not something one finishes (…)” (S. 1008). Der ICN-Ethikkodex für Pflegefachpersonen (ICN 2021) verweist auf die genuine Verantwortung der Pflegenden und formuliert: „Pflegefachpersonen sind persönlich zuständig und verantwortlich für eine ethische Pflegepraxis und den Erhalt ihrer Kompetenzen durch kontinuierliche berufliche Weiterentwicklung und lebenslanges Lernen“ (S. 13; vgl. S. 14). Die konsequente selbstverantwortliche berufsbegleitende Ethik(weiter)bildung ist grundlegend für die Weiterentwicklung und Verdichtung zentraler Ethik(teil)kompetenzen. Diese müssen angesichts neuer professioneller Aufträge, veränderter Anforderungen und Erwartungen stets entsprechend ausgerichtet, konturiert und in den jeweiligen Bildungsformaten
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methodisch angemessen entwickelt werden13. Ethikbildung und Ethikkompetenzentwicklung, die Rückbesinnung auf zentrale ethisch-normative Bezugspunkte und die damit verbundene Auseinandersetzung mit dem moralischen Kompass – angesichts der kontextuellen Veränderungen und veränderten ethischen Herausforderungen – sind zugleich grundlegend für den reflexiven Umgang mit (neuen) moralischen Entscheidungserfordernissen und dem moralischen Handlungsvermögen. Da sich sowohl die Anforderungen an das ethisch gut begründete Pflegehandeln als auch die Umstände, die zu einem moralischen Belastungserleben führen, stetig verändern und im pflegeberuflichen Handeln variieren, kann die Ethikbildung einer Pflegefach- und Führungsperson zu keinem Zeitpunkt des Berufslebens als abgeschlossen bezeichnet werden. Lebenslange Ethikbildung ist folglich unerlässlich. Eine methodisch und inhaltlich fundiert ausgestaltete, lebenslange berufsbegleitende Ethikbildung für Pflegefachpersonen … • basiert auf den jeweils aktuellen/gültigen ethisch-normativen Bezugspunkten, • entwickelt bzw. vertieft – angesichts aktueller/veränderter ethischer Herausforderungen – die jeweils notwendigen Ethik(teil)kompetenzen, • ermöglicht die Kalibrierung des professionellen und des persönlichen moralischen Kompasses, • stärkt die moralische Resilienz, • fördert und stärkt den moralischen Mut, • trägt zum Erhalt, zur Stabilisierung und zur Stärkung der professionellen und persönlichen moralischen Integrität bei, • reduziert bzw. präventiert den moral residue, • fördert die Reflexion des moralischen Handlungsvermögens, 13 Vgl. hierzu: Riedel und Lehmeyer (2022b); Riedel et al. (2022b); Andersson et al. (2022); Monteverde (2022); Knox und Svendsen (2022); Martins et al. (2021).
A. Riedel et al.
• unterstreicht die Bedeutsamkeit der aktiven reflexiven Bezugnahme auf das situative moralische Belastungserleben, • stabilisiert die ethische Entscheidungsqualität und fördert das ethisch begründete Handeln, • verbessert die Pflegequalität, • fördert durch die Vertiefung der ethischen Sensibilität die aktive Inanspruchnahme von Methoden und Angeboten der Ethikberatung, • trägt zur Berufszufriedenheit bei. Eine methodisch und inhaltlich fundiert ausgestaltete, lebenslange berufsbegleitende Ethikbildung für Führungspersonen … • vertieft die vorhandene Ethikkompetenz angesichts aktueller Entwicklungen, Krisen und Anforderungen und der damit verbundenen (organisations)ethischen Herausforderungen, • verdichtet das ethische Denken und die ethische Sprachfähigkeit (Storaker et al. 2022), • unterstützt die Entwicklung und Implementierung von Angeboten der Ethikberatung, • fördert die Sensibilität für die Wahrnehmung und Identifikation (aktueller, veränderter, restriktiver, begrenzender, unzulänglicher, …) einrichtungsbezogener Kontext- und Rahmenfaktoren, die zum moralischen Belastungserleben von Pflegefachpersonen beitragen, • trägt zur Reflexion der bestehenden Zusammenhänge zwischen moralischem Belastungserleben, Berufszufriedenheit, ethischer Handlungssicherheit und Pflegequalität bei und unterstreicht angesichts dessen die Bedeutung und Rolle einer etablierten Organisationsethik, • fördert und unterstützt systematisierte Implementierungsprozesse – hin zu einer gelebten Organisationsethik und Wertekultur, • fördert die Kommunikationsfähigkeit, moralisches Belastungserleben bei den Mitarbeitenden sensibel und zugewandt anzusprechen und Strategien zur Entlastung zu unterbreiten, • fördert den konsequenten Perspektivenwechsel,
3 Ethische Kompetenzen und lebenslange Ethikbildung
• fordert die Reflexion des Führungsstils, eigener Wertehaltung wie auch die Beeinflussung der Wertekultur (Wehkamp 2022), • vertieft die Kompetenzen einer formativen wie auch summativen Evaluation organisationsethischer Strukturen und etablierter moralisch entlastender Angebote. Die Relevanz einer lebenslangen Ethikbildung fordert angemessene Bildungsangebote, kompetenzförderliche Praxisgegebenheiten und die hierfür notwendige Unterstützung und Förderung seitens der verantwortlichen Führungspersonen in den jeweiligen Einrichtungen und Trägern.
3.4 Zusammenfassung Eine lebenslange Ethikbildung ist unabdingbar für den Erhalt und die Weiterentwicklung der vorausgehend explizierten Ethik(teil)kompetenzen von Pflegefach- und Führungspersonen. Ethikbildung und Ethikkompetenz tragen nachweislich zum professionellen und entlastenden Umgang mit moralischem Belastungserleben (Zeydi et al. 2022; Andersson et al. 2022; Kulju et al. 2016) wie auch zur Berufszufriedenheit der Pflegefachpersonen bei (Poikkeus et al. 2020). Beide Faktoren wiederum sind grundlegend für die professionelle Ethik in der Pflege wie auch für das ethisch reflektierte und begründete professionelle Pflegehandeln, für den Berufsverbleib und die Pflegequalität. Bereits dieser Zusammenhang verpflichtet zur lebenslangen Ethikbildung der Pflegefach- und Führungspersonen und fordert insbesondere die Leitungsverantwortlichen in den Diensten und Einrichtungen dazu auf, für verbindliche organisationale Bedingungsfaktoren und Rahmenbedingungen für die Ethikbildung sowie für weitere lancierende Interventionen Sorge zu tragen, um auf das moralischen Belastungserleben – das aufgrund der aktuellen Gegebenheiten in der Pflege per se nicht eliminiert werden kann (Andersson et al. 2022; Epstein und Hurst 2017) –, in seiner subjektiven Erlebensqualität und ange-
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sichts der Komplexität seines Entstehungs- und Wirkgefüges nachhaltig zu reagieren (Morley et al. 2021).
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4
Organisationsethische Lernund Entwicklungsprozesse in teambezogenen Arbeitsgruppen gestalten Die Partizipation von Pflegefachpersonen in der Entwicklung organisationsethischer Prozesse und Strukturen Magdalene Goldbach, Annette Riedel und Sonja Lehmeyer Zusammenfassung
Ein ethisch begründeter Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen wie auch ein aktiver Umgang mit moralischem Belastungserleben müssen organisational abgesichert werden. Dabei sind Pflegefachpersonen – als zentrale Berufsgruppe in Einrichtungen des Gesundheitswesens – partizipativ in die Entwicklung organisationsethischer Strukturen und Prozesse einzubeziehen. Der vorliegende Beitrag zeigt die Relevanz des partizipativen Einbezugs von Pflegefachpersonen in organisationsethische Lern- und Entwicklungsprozesse als Voraussetzung einer nachhaltigen und gelebten Organisationsethik auf und stellt elementare Eckpunkte zur Ausgestaltung des partizipativen Einbezugs heraus.
M. Goldbach (*) · A. Riedel · S. Lehmeyer Hochschule Esslingen, Soziale Arbeit, Bildung und Pflege, Esslingen, Deutschland E-Mail: [email protected] A. Riedel E-Mail: [email protected] S. Lehmeyer E-Mail: [email protected]
4.1 Einleitung Im Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen und ethischen Fragestellungen tragen Pflegefachpersonen in ihrem beruflichen Handeln eine umfassende professionsethische Verantwortung (Klotz et al. 2022; Riedel et al. 2022), die sich darin widerspiegelt, eine Pflege der ihnen anvertrauten Menschen entsprechend professionsethischen Werten und Verpflichtungen und in Orientierung an den Wünschen und Bedürfnissen des Gegenübers zu realisieren (Klotz et al. 2022). Die Gestaltung und Sicherung einer guten und verantwortungsvollen ethischen Praxis, das Wahrnehmen und Berücksichtigen der professionellen Verantwortung von Pflegefachpersonen in der Konfrontation und dem Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen, ethischen Fragestellungen und Reflexions- und Entscheidungserfordernissen erfordern: • einerseits eine umfassende und handlungswirksame Ethikkompetenz der Pflegefachpersonen (Klotz et al. 2022; Riedel et al. 2017, 2022; Riedel und Lehmeyer 2022). Die Ethikkompetenz ist dabei zentraler Aspekt der professionellen Handlungskompetenz von Pflegefachpersonen. Sie kann angesichts
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 A. Riedel et al. (Hrsg.), Moralische Belastung von Pflegefachpersonen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67049-1_4
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d essen, dass eine moralisch-ethische Dimension dem professionellen Pflegehandeln immanent ist und folglich auch den einzelnen Begleitungs- und Versorgungssituationen, die jeweils für sich ein sensibles Wahrnehmen von und einen professionellen Umgang mit ethischen Fragestellungen erfordern, als Querschnittskompetenz eingeordnet und verstanden werden, die alle Bereiche professionellen Pflegehandelns tangiert (Riedel et al. 2017). • andererseits eine etablierte, gelebte und tragfähige Organisationsethik, die Pflegefachpersonen ethisch begründetes Handeln ermöglicht und dieses im beruflichen Alltag protegiert (Großklaus-Seidel 2020; Riedel und Lehmeyer 2022, 2021; Albisser Schleger 2021). Dabei gilt es, Wahrnehmungs-, Abwägungs- und Entscheidungsprozesse organisational zu verankern, um die ethische Entscheidungsqualität durch organisationsethische Rahmungen abzusichern (Riedel und Lehmeyer 2022, 2021; Schuchter et al. 2021; Albisser Schleger 2022, 2022). Gleichzeitig zeigt sich die Realisierung der professionsethischen Verantwortung im beruflichen Handeln von Pflegefachpersonen häufig als anspruchsvoll und herausfordernd, denn die moralisch-ethische Dimension des professionellen Pflegehandelns ist von einer zunehmenden Komplexität gekennzeichnet (Riedel und Lehmeyer 2022, 2021; Devik et al. 2020; Koskenvuori et al. 2019). Außerdem prägen unzureichende strukturelle Rahmenbedingungen zunehmend den beruflichen Alltag von Pflegefachpersonen und evozieren häufig ethische Spannungsfelder (Albisser Schleger 2022, 2021). Nicht selten sind diese ethischen Spannungsfelder und Dilemmata, mit denen sich Pflegefachpersonen in Organisationen des Gesundheitswesens auseinandersetzen müssen, sogar unauflösbar (Schuchter et al. 2021). Zugleich können ethischer Anspruch, handlungsleitende Werte und tatsächlich gelebte Wirklichkeit in der Handlungspraxis – im Sinne der gelebten
M. Goldbach et al.
Organisationskultur – divergieren und dabei in Folge nicht nur Irritationen evozieren, sondern auch negative Auswirkungen nach sich ziehen (Großklaus-Seidel 2020). Werden Pflegefachpersonen beispielsweise damit konfrontiert, ihrer professionsethischen Verantwortung nicht angemessen Rechnung tragen zu können, so bietet dies das Potenzial für die Entstehung moralischen Belastungserlebens, das mit weitreichenden Folgen für die Pflegefachperson selbst, die Pflegequalität und die Organisation verbunden sein kann (Riedel et al. 2022; Klotz et al. 2022; Albisser Schleger 2022, 2021). Beachtlich dabei ist, dass organisationale Angebote, die die Ethikkultur einer Organisation unterstützen und abstützen sollen, häufig nur unzureichend entwickelt und/oder organisational verankert sowie selten nachhaltig implementiert sind und die Ethikkompetenz der Pflegefachpersonen damit häufig nicht zum Tragen kommen kann (Albisser Schleger 2022, 2021; Devik et al. 2020). Teambezogene Arbeitsgruppen in Lernund Entwicklungsprozessen einer nachhaltigen Organisationsethik, in die Pflegefachpersonen und weitere Beteiligte einer Organisation partizipativ eingebunden sind und in der (Weiter-)Entwicklung organisationsethischer Strukturen und Prozesse aktiv mitwirken, bieten das Potenzial, sowohl die ethischen Kompetenzen der Pflegefachpersonen zu fördern und zu vertiefen als auch für die Praxis der Pflegefachpersonen handlungsleitende Prozesse und Strukturen (weiter-) zu entwickeln, die eine tragfähige Organisationsethik fördern, die sich wiederum durch eine gelebte Ethikkultur im Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen und ethischen Reflexionsund Entscheidungserfordernissen auszeichnet (Riedel und Lehmeyer 2022 2021). Ziel des folgenden Beitrages ist es, die Relevanz des partizipativen Einbezugs von Pflegefachpersonen in organisationsethische Lern- und Entwicklungsprozesse als Voraussetzung einer nachhaltigen und gelebten Organisationsethik aufzuzeigen und elementare Eckpunkte zur Ausgestaltung des partizipativen Einbezugs herauszuarbeiten.
4 Organisationsethische Lern- und Entwicklungsprozesse …
4.2 Organisationales Lernen im Kontext organisationsethischer Entwicklungsprozesse 4.2.1 Relevanz einer etablierten und gelebten Organisationsethik Professionsethische Werte, Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen, die beispielsweise im Ethikkodex des International Council of Nurses erklärt werden (ICN 2021), konfigurieren die ethische Identität von Pflegefachpersonen (Riedel et al. 2017; Riedel und Lehmeyer 2022 2021) und sind für die ethische Praxis als leitend zu verstehen (ICN 2021). Damit können pflegeethische Werte und normative Orientierungsdirektiven Pflegefachpersonen in der Konfrontation mit moralisch gehaltvollen Situationen eine Orientierung im Umgang mit ethischen Reflexions- und Entscheidungserfordernissen bieten (ICN 2021; Großklaus-Seidel 2020; Koskenvuori et al. 2019; Riedel et al. 2017). Zugleich wird das ethische Handeln von Pflegefachpersonen in Organisationen des Gesundheitswesens maßgeblich durch den organisationalen Kontext geprägt (Schuchter et al. 2021; Wallner 2022; Riedel et al. 2022; Großklaus-Seidel 2020). Dies gilt einerseits für die Konstitution der moralischen Dimension und damit verbundener ethischer Fragestellungen selbst (Schuchter et al. 2021): Während beispielsweise im Krankenhaus vornehmlich medizinische und notfallmäßige Entscheidungen im Vordergrund stehen, prägen das professionelle Pflegehandeln im Setting der Altenpflege primär alltagsethische Fragestellungen (Schuchter et al. 2021). Gleichzeitig dirigiert der organisationale Kontext auch die Wahrnehmung von und den Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen und ethischen Fragestellungen (Schuchter et al. 2021; Wallner 2022; Riedel et al. 2022; Großklaus-Seidel 2020) und nimmt Einfluss auf die in die ethische Auseinandersetzung einzubeziehenden (professions)ethischen Perspektiven (Schuchter et al. 2021).
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Schuchter et al. (2021) differenzieren als kontextuelle Rahmenfaktoren, die die Wahrnehmung und den Umgang mit ethischen Fragestellungen und Entscheidungszusammenhängen beeinflussen, „dass das Was und Wie des ethischen Fragens abhängig a) von der Eigenlogik der jeweiligen Organisation, b) von der Rolle in der Hierarchie und im Behandlungsarrangement, aus der heraus ethische Fragen aufgegriffen werden, c) von der fachlichen Perspektive (z. B. Medizin oder Pflege oder andere) oder dem persönlichen Involviertsein (z. B. Angehörige), d) von den eigenen ethischen Grundannahmen und Hintergrundtheorien bzw. von jenen Grundannahmen, die Gültigkeit beanspruchen können“ (Schuchter et al. 2021, S. 245). ist: Wallner (2022) hingegen subsumiert unter den beeinflussenden kontextuellen Rahmenfaktoren an dieser Stelle „klinische“, „professionale“, „betriebswirtschaftliche“ und „soziale Entscheidungszusammenhänge“ (Wallner 2022, S. 60) und führt aus: „Hierbei handelt es sich um organisationale bzw. systemische Entscheidungszusammenhänge, die im Einzelfall klinischer Ethikberatung üblicherweise als gegebene Randbedingung der Entscheidungsfindung akzeptiert werden (müssen), dabei jedoch zu einer Wiederkehr derselben Probleme führen“ (Wallner 2022, S. 60). Zugleich stehen Organisationen in der Verantwortung, die Ermöglichungsbedingungen für ethisches Handeln der beteiligten Akteur*innen zu schaffen (Großklaus-Seidel 2020; Devik et al. 2020). Die Entwicklung und Etablierung einer Organisationsethik, die ethisch begründetes Handeln strukturell und systematisch ermöglicht, unterstützt und absichert, als Auftrag der Organisation zu verstehen, ist angesichts der zunehmenden Komplexität der ethischen Dimension obligat (Großklaus-Seidel 2020; Schuchter et al. 2021; Riedel und Lehmeyer 2022 2021). Die Wahrnehmung dieses Bedarfs und der damit verbundenen organisationalen Verantwortung
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gewinnt angesichts des Anwachsens unzureichender struktureller Rahmenbedingungen weiter an Bedeutsamkeit (Albisser Schleger 2022 2021), denn: „Die Auseinandersetzung mit ethischen Fragestellungen stellt keine der Organisation von außen aufgetragene Betrachtungsweise dar, sondern entwickelt sich aus elementaren Prozessen und Strukturen der Organisation selbst“ (Großklaus-Seidel 2020, S. 116). Schuchter et al. (2021) beschreiben Organisationsethik als „Kompetenz, die Fähigkeit und Verantwortung zur Selbstmitteilung in existentiellen Fragen zu stärken und dazu auch strukturell an geeigneten Räumen und Regeln sowie kulturell an förderlichen Rahmenbedingungen mitarbeiten zu können“ (Schuchter et al. 2021, S. 249). Großklaus-Seidel (2020) beschreibt, dass die Funktion der Organisationsethik darin liegt, „Werte und Normen in der Organisationskultur zu präzisieren und die Organisationskultur so zu modifizieren, dass die Umsetzung von ethischen Standards möglich wird. Zielrichtig ist die »Integrität der Organisation«, die sich daran zeigt, wie ethisches Handeln und Entscheiden umgesetzt werden“ (Großklaus-Seidel 2020, S. 119). definitorischen Rahmungen der Organisationsethik verweisen auf die Relevanz einer strukturellen Ausgestaltung und organisationalen Verankerung ethischen Wahrnehmens, Reflektierens und Entscheidens sowie auf die damit verbundene Förderung einer gelebten Kultur des Aufgreifens von und des Auseinandersetzens mit moralisch gehaltvollen Situationen und ethischen Fragestellungen. Organisationsethik dient damit als Orientierungsrahmen für Pflegefachpersonen und weitere Beteiligte in der Konfrontation und dem Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen (Großklaus-Seidel 2020; Albisser Schleger 2022 2021) und sichert zugleich die ethische Entscheidungsqualität organisational ab (Riedel und Lehmeyer 2022 2021; Albisser Schleger 2022 2021).
Obwohl sich die Differenzierung der kontextuellen Rahmenfaktoren, die das ethische Handeln beeinflussen, in den vorangegangenen Ausführungen unterscheidet, wird allein aufgrund der Reichweite des organisationalen Kontextes in der Konstitution ethischer Fragestellungen sowie der Wahrnehmung und dem Umgang mit moralisch gehaltvollen und ethisch reflexionswürdigen Situationen im Umkehrschluss deutlich: Im Sinne der Nachhaltigkeit und Tragfähigkeit einer Organisationsethik ist der organisationale Kontext in der Planung und Konzeptualisierung organisationsethischer Lern- und Entwicklungsprozesse zwingend zu berücksichtigen und mithin als zentraler Ausgangs- und Bezugspunkt zu verstehen (Wallner 2022; Schuchter et al. 2021; Großklaus-Seidel 2020). Die Entwicklung und Etablierung einer Organisationsethik, die sich in einer gemeinsam gelebten Kultur im Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen widerspiegelt (GroßklausSeidel 2020; Schuchter et al. 2021), ist folglich als organisationaler Lern- und Entwicklungsprozess einzuordnen (Schuchter et al. 2021).
Wichtig Die
4.2.2 Lern- und Entwicklungsprozesse einer nachhaltigen Organisationsethik Da das organisationale Handeln anderen Bedingungen unterliegt als das Handeln von Personen, stellt das organisationale Lernen ein wesentliches Prinzip in der Entwicklung einer nachhaltigen und tragfähigen Organisationsethik dar (Schuchter et al. 2021). Organisationales Lernen, als „Lernen in, von und zwischen Organisationen“ (Dehnbostel 2022, S. 71), ist damit für eine nachhaltige, tragfähige und gelebte Organisationsethik nicht nur Voraussetzung, sondern geradezu konstitutiv (Schuchter et al. 2021). Das Ziel des organisationalen Lernens liegt „in der Entwicklung von kollektivem Wissen, von kollektiven Werten und einer
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gemeinsamen Kompetenz- und Kulturentwicklung“ (Dehnbostel 2022, S. 71). „Organisationales Lernen ist das Lernen in, von und zwischen Organisationen. Es stellt die Fähigkeit von Organisationen zur systematischen Entwicklung und Veränderung in den Mittelpunkt und steht in Wechselbeziehung zu individuellen und gruppenbezogenen Lernprozessen, die dessen Ausgangspunkt bilden. Organisationales Lernen generiert organisationales Wissen, organisationale Kompetenzen und gemeinschaftliche Werte und Regeln, die von Organisationsmitgliedern aufgenommen und rekursiv reproduziert werden“ (Dehnbostel 2022, S. 73). Diese Definition des organisationalen Lernens von Dehnbostel (2022) verdeutlicht, dass zu konzipierende Lernprozesse des organisationalen Lernens in der Entwicklung einer nachhaltigen Organisationsethik sowohl am Individuum (bspw. die Pflegefachperson oder die Leitungsperson) als auch an der Gruppe (bspw. das pflegerische Team oder das multiprofessionelle Team) ansetzen müssen: „Organisationen lernen nur, wenn die einzelnen Menschen etwas lernen. Das individuelle Lernen ist keine Garantie dafür, daß [sic!] die Organisation etwas lernt, aber ohne individuelles Lernen gibt es keine lernende Organisation“ (Senge 1996, S. 171, in Dehnbostel 2022, S. 71). Die Initiierung und Unterstützung von Prozessen der Organisationsentwicklung – in diesem Beitrag im Kontext der Entwicklung und Etablierung einer nachhaltigen und tragfähigen Organisationsethik – liegen zwar in der Verantwortung von Führungspersonen (Müller 2020; Klotz et al. 2022; Riedel und Lehmeyer 2022 2021), auch vor dem Hintergrund, dass organisationsethische Strukturen und Prozesse die Ermöglichungsbedingungen für ethisches Handeln in der Organisation absichern (Großklaus-Seidel 2020). Indes würde eine Fokussierung der Leitungsperspektive in diesen Entwicklungsprozessen das Risiko bergen, vorrangig ökonomische und organisatorische Gesichtspunkte als Bezugspunkte einzubeziehen
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(Albisser Schleger 2022 2021). Zugleich müssen diese Entwicklungsprozesse durch alle Beteiligten mitgetragen werden (Müller 2020). Im Kontext des organisationalen Lernens erfordern Prozesse und Strategien der Organisationsentwicklung hin zu „gemeinsamen Wissens-, Kompetenz- und Kulturbestände[n]“ Lern- und Entwicklungsprozesse, die in der „Wechselwirkung von Individuum und Organisation aufgebaut und weiterentwickelt“ (Dehnbostel 2022, S. 71) werden. Nur im gemeinsamen Zusammenwirken lässt sich dabei eine Organisationsethik entwickeln, die von allen Beteiligten gelebt und realisiert wird (Albisser Schleger 2022 2021), wie nachfolgend deutlich wird.
4.3 Teambezogene Arbeitsgruppen im Kontext organisationsethischer Lernund Entwicklungsprozesse 4.3.1 Gründe für den partizipativen Einbezug von Pflegefachpersonen in organisationsethische Lern- und Entwicklungsprozesse Pflegefachpersonen – als zentrale Berufsgruppe und Profession im Gesundheitswesen im Allgemeinen sowie in pflegebezogenen Settings im Speziellen – nehmen im Kontext der Organisationsethik und der durch diese gelebten Ethikkultur eine bedeutsame Rolle ein, „einerseits als diejenigen, die die etablierten Ethikstrukturen nutzen wie auch als diejenigen, die die Organisationskultur mitgestalten“ (Riedel und Lehmeyer 2022, S. 997 2021, ). Folglich ist der stringente partizipative Einbezug von Pflegefachpersonen in Lern- und Entwicklungsprozesse organisationsethischer Entwicklungen durch Leitungspersonen zu unterstützen, zu fördern und zu fordern. Folgende Aspekte sind beachtlich dabei, die Partizipation von Pflegefachpersonen in Lern- und Entwicklungsprozessen
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einer nachhaltigen Organisationsethik begründet und zielgerichtet zu initiieren, zu gestalten und auszusteuern: • Pflegefachpersonen sind in ihrem beruflichen Handeln vielfach mit moralisch gehaltvollen und herausfordernden Situationen konfrontiert, die das Potenzial bergen, moralisches Belastungserleben zu evozieren, sofern Pflegefachpersonen ihrer professionsethischen Verantwortung nicht angemessen Rechnung tragen können (Riedel und Lehmeyer 2022 2021; Klotz et al. 2022; Riedel et al. 2022). Nicht selten und weiter zunehmend sind hierfür unzureichende strukturelle Rahmenbedingungen (mit) ursächlich (Albisser Schleger 2022 2021). • Der Einbezug in die (Weiter-)Entwicklung organisationsethischer Rahmungen und Strukturen, die hier als Ermöglichungsbedingungen für ethisches Handeln in der Pflege zu verstehen sind (Großklaus-Seidel 2020; Riedel und Lehmeyer 2022 2021), kann als intrinsischer Motivator wirken, eine ethisch verantwortliche Praxis zu fördern, zu realisieren und zu sichern und so langfristig moralisches Belastungserleben und dessen negative Effekte zu reduzieren (Riedel und Lehmeyer 2022 2021). • Neben der intrinsischen Motivation zur Partizipation in organisationsethischen Entwicklungsprozessen ist weiter beachtlich, dass mit der moralischen Dimension des Pflegehandelns und damit verbundenen ethischen Reflexions- und Entscheidungserfordernissen eine spezifische ethische Verantwortung und professionelle Verpflichtung der Pflegefachpersonen einhergeht, die sich in der Mitgestaltung und Absicherung einer ethisch verantwortungsvollen und verantwortbaren Pflegepraxis abbildet und sich in ethisch reflektierten und ethisch gut begründeten Entscheidungen manifestiert (ICN 2021; Riedel und Lehmeyer 2022 2021). Somit kommt den Pflegefachpersonen in der Förderung einer ethischen Praxis eine erhebliche Verantwortung im Sinne einer professionellen Verpflichtung zu (ICN 2021). Die
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Sektion Lehrende im Bereich der Pflegeausbildung und der Pflegestudiengänge in der Akademie für Ethik in der Medizin e. V. formuliert: „Den Zielen der Professionalisierung und Gemeinwohlorientierung der Pflege dient eine Lösung der ethischen Orientierung aus dem Bereich des nur Erwünschten und quasi Supererogatorischen heraus, hinein in den Bereich der Verbindlichkeit von Verpflichtungen und Selbstverpflichtungen“ (Riedel et al. 2017, S. 163). Riedel und Lehmeyer (2022) (2021) heben organisationsethische Entwicklungen als Potenzial für die Realisierung dieser Verantwortung hervor: „Organisationsethik ist ein grundlegend förderlicher Faktor dafür, den pflegeprofessionellen ethischen und menschenrechtsbezogenen Verpflichtungen Rechnung zu tragen, ethische Reflexion in professionelle Entscheidungsprozesse einzubeziehen und ethisch begründetes Handeln zu protegieren“ (Riedel und Lehmeyer 2022, S. 998-999 2021, ). • Organisationsethische Entwicklungen, mit dem Ziel partizipativer Verständigungsprozesse und der Übernahme gemeinsamer Verantwortung in der Auseinandersetzung mit ethischen Fragestellungen (Schuchter et al. 2021), nehmen wesentlichen Einfluss auf die Zusammenarbeit im Team und setzen diese wiederum voraus. Salloch und Seidlein (2022) sprechen sich für den Einbezug des Teams in organisationsethische Entwicklungen und Auseinandersetzungen vor dem Hintergrund der professionellen Verpflichtung gegenüber Kolleg*innen aus: „Soziale Beziehungen und Rollen innerhalb des Teams prägen die Zusammenarbeit, weshalb Teambildungsmaßnahmen integraler Bestandteil einer umfassenden organisationsethischen Herangehensweise sein sollten. […] Auch die Einsicht, dass eine Pflege von Beziehungen nicht nur Teil der professionellen Selbstverpflichtung gegenüber Patient:innen, sondern auch gegenüber den Mitgliedern des Behandlungsteams ist, fordert alle dazu auf, die Aufmerksamkeit auf das Team zu lenken“ (Salloch und Seidlein 2022, S. 44).
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• Nicht zuletzt fördert eine systematische Auseinandersetzung mit moralisch gehaltvollen und möglicherweise auch herausfordernden oder gar belastenden Situationen, wie beispielsweise in partizipativen Formaten des organisationalen Lernens im Kontext der Entwicklung einer Organisationsethik, zentrale ethische Kompetenzen der Pflegefachpersonen. Exemplarisch ist hier die ethische Sensibilität zu nennen (Riedel und Lehmeyer 2022 2021), die ihrerseits wiederum einen organisationsethischen Rahmen braucht, um sich auch in der Performanz handlungswirksam abbilden zu können (Albisser Schleger 2022 2021; Riedel und Lehmeyer 2022 2021). Die Wechselwirkung der parallelen Entwicklungsprozesse im organisationalen Lernen wird an diesem Beispiel beeindruckend deutlich. • Der Einbezug von Pflegefachpersonen in organisationsethische Lern- und Entwicklungsprozesse bietet für Pflegefachpersonen das Potenzial, eine Orientierung organisationsethischer Prozesse und Strukturen an ihrer professionellen Perspektive (vgl. Riedel und Lehmeyer 2022 2021; vgl. ICN 2021; vgl. Albisser Schleger 2022 2021) und dem spezifischen organisationalen Kontext (vgl. Schuchter et al. 2021; vgl. Wallner 2022) abzusichern, und kann sich gleichzeitig hinsichtlich der Akzeptanz für organisationsethische Entwicklungen zuträglich zeigen (Riedel und Lehmeyer 2022 2021). Die aufgeführten Perspektiven – die organisations- und kontextspezifisch weiter zu ergänzen sind – verdeutlichen die Relevanz, den partizipativen Einbezug von Pflegefachpersonen in der konzeptionellen Planung und Aussteuerung organisationsethischer Entwicklungen stets mitzudenken. Dies auch vor dem Hintergrund, dass das organisationale Lernen in den Lern- und Entwicklungsprozessen selbst sowie in den Auswirkungen des Lernens nicht nur die Organisation tangiert, sondern auch die in den Organisationen wirkenden Individuen: „Über das organisationale Lernen schlagen sich Wissens-
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zuwächse, Kompetenzverschiebungen, Strukturveränderungen, Werte und Regeln in einer entpersonalisierten Form in der Organisation nieder und generieren allgemein geteilte handlungsanleitende Zielorientierungen und überindividuell gültige Routinen“ (Dehnbostel 2022, S. 72).
Folglich sind die beteiligten Personen, exemplarisch im pflegerischen Kontext die Pflegefachpersonen, nicht nur in den Blick zu nehmen, sondern in die Entwicklungsprozesse einer nachhaltigen Organisationsethik miteinzubeziehen. Hierbei reicht die Arbeit an den beteiligten Personen alleine nicht aus, sondern die Arbeit an der Entwicklung von Strukturen und Prozessen einer nachhaltigen Organisationsethik muss mit den beteiligten Personen erfolgen (Wallner 2022).
Im Weiteren sollen potenzielle Effekte der Partizipation von Pflegefachpersonen in organisationsethischen Lern- und Entwicklungsprozessen aufgezeigt und beachtliche Eckpunkte in der Gestaltung teambezogener Arbeitsgruppen skizziert werden.
4.3.2 Potenzielle Effekte der Partizipation von Pflegefachpersonen in teambezogenen Arbeitsgruppen Während mannigfaltige professions- und organisationsspezifische Gründe für den partizipativen Einbezug von Pflegefachpersonen sprechen, bilden sich darüber hinaus zahlreiche potenzielle Effekte in der Gestaltung von organisationsethischen Lern- und Entwicklungsprozessen in teambezogenen Arbeitsgruppen ab: Für partizipierende Pflegefachpersonen ermöglicht der partizipative Einbezug: • die Sensibilisierung für den Einfluss kontextueller Rahmenfaktoren auf das eigene pro-
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fessionelle Pflegehandeln und für die Relevanz der Reflexion dieser Rahmenfaktoren im Kontext ethischer Reflexions- und Entscheidungserfordernisse (vgl. Albisser Schleger 2022 2021). • die Förderung und Verdichtung ethischer Kompetenzen, insbesondere der moralischen Sensibilität, der ethischen Reflexions-, Argumentations- und Diskursfähigkeit, beispielsweise durch die gemeinsame Auseinandersetzung mit moralisch gehaltvollen Situationen und deren ethischen Implikationen (Riedel und Lehmeyer 2022 2021). • die Sensibilisierung für mögliche Ursachen moralischen Belastungserlebens, als wesentlicher Grundstein dafür, Ursachen erlebter moralischer Belastung zu analysieren, zu verbalisieren und ursachenbezogene Maßnahmen zur Reduktion moralischen Belastungserlebens abzuleiten und Maßnahmen zur Prävention moralischen Belastungserlebens zu fördern (vgl. Riedel et al. 2022). • die Akzeptanz für Strukturen und Prozesse einer nachhaltigen Organisationsethik und die Motivation dafür, diese gemeinsam zu leben (Riedel und Lehmeyer 2022 2021). • die Förderung moralischer Resilienz in der beruflichen Konfrontation mit moralisch gehaltvollen Situationen, durch die aktive Mitgestaltung als wichtige*r Akteur*in einer ethisch verantwortlichen Praxis (Riedel und Lehmeyer 2022 2021). • die Prävention moralischen Belastungserlebens durch eine gemeinsam gelebte Kultur im Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen (Riedel und Lehmeyer 2022 2021). Für die Leitungspersonen ermöglicht die Förderung von und Teilhabe an teambezogenen Arbeitsgruppen: • die Sensibilisierung für die Auswirkungen kontextueller Rahmenfaktoren auf die ethische Entscheidungsqualität im professionellen Pflegehandeln und damit verbundener (negativer) Effekte, wie die Entstehung moralischen Belastungserlebens von Pflegefachpersonen.
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• die Realisierung ihrer Verantwortung als Führungsperson, Ermöglichungsbedingungen für ethisches Handeln in der Organisation zu fördern und organisational abzusichern (Großklaus-Seidel 2020; Albisser Schleger 2022 2021; Devik et al. 2020). • die Realisierung ihrer Fürsorgeverantwortung für Mitarbeitende im Sinne der Gesunderhaltung (Klotz et al. 2022) durch die Gestaltung eines positiven „ethische[n] Klima[s]“ (Großklaus-Seidel 2020, S. 117; vgl. Koskenvuori et al. 2019) und Effekte der moralischen Entlastung (Riedel und Lehmeyer 2022 2021). Aus organisationaler Perspektive sind folgende Effekte der Gestaltung organisationsethischer Lern- und Entwicklungsprozesse in teambezogenen Arbeitsgruppen beachtlich: • die Entwicklung von Prozessen und Strukturen einer Organisationsethik, die sich am organisationalen Kontext und damit verbundenen einflussnehmenden Entscheidungsprämissen (vgl. Schuchter et al. 2021; vgl. Wallner 2022) und den ethischen Bezugspunkten des professionellen Pflegehandelns (vgl. ICN 2021; vgl. Riedel und Lehmeyer 2022 2021; vgl. Albisser Schleger 2022 2021) orientieren und somit das Potenzial bergen, in der pflegeberuflichen Praxis handlungsleitend wirksam zu sein, sich in der Komplexität des beruflichen Alltages als tragfähig zu erweisen und in Form einer gemeinsam gelebten Kultur zu etablieren. • die Steigerung der ethischen Wahrnehmungs-, Reflexions- und Entscheidungsqualität und damit verbunden die Absicherung einer ethisch verantwortlichen Pflegepraxis (Riedel und Lehmeyer 2022 2021). • die Herstellung der „Integrität der Organisation“ (Großklaus-Seidel 2020, S. 119), die sich in der Realisierung ethischen Wahrnehmens, Entscheidens und Handelns abbildet (Großklaus-Seidel 2020). • die Entwicklung und organisationale Verankerung von Rahmenbedingungen, die die moralische Integrität von Pflegefachpersonen
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unterstützen und schützen (vgl. Riedel et al. 2022) und damit auch deren Berufszufriedenheit fördern (Riedel und Lehmeyer 2022 2021) sowie den Berufsverbleib sicherstellen. Um die positiven Effekte der Gestaltung organisationsethischer Lern- und Entwicklungsprozesse in teambezogenen Arbeitsgruppen zu erzielen, bedarf es jedoch eines sorgfältig geplanten und systematisch durchgeführten Vorgehens. Dabei übergeordnet zu beachtende Eckpunkte in der Gestaltung teambezogener Arbeitsgruppen werden folgend skizziert.
4.3.3 Beachtliche Eckpunkte in der Gestaltung teambezogener Arbeitsgruppen Ansatz- und Bezugspunkte organisationsethischer Entwicklungen Eine nachhaltige Organisationsethik, die sich in einer gemeinsam gelebten Ethikkultur widerspiegelt, kann durch verschiedene Ansatzund Bezugspunkte gestaltet und gezielt ausgesteuert werden. Als Ansatz- und Bezugspunkte organisationsethischer Entwicklungen definiert Wallner (2022) „Programme“, „Strukturen/Prozesse“, „Personen“ und die „Kultur“ (Wallner 2022, S. 62). Teambezogene Arbeitsgruppen eröffnen durch die Partizipation von Pflegefachpersonen die Möglichkeit, in der prozessualen Ausgestaltung der Lern- und Entwicklungsprozesse zugleich mehrere dieser Entscheidungsprämissen zu adressieren. Beispielsweise beeinflusst die gemeinsame Arbeit an Programmen (z. B. dem Leitbild) und/oder Strukturen und Prozessen (z. B. Strukturen der ethischen Reflexion und Entscheidungsfindung) mit den beteiligten Personen die gemeinsam gelebte Kultur im Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen sowie die Ethikkompetenz der partizipierenden Individuen. Insofern bietet die Partizipation von Pflegefachpersonen das Potenzial – im Sinne des organisationalen Lernens (vgl. Dehnbostel 2022) – das Zusammenwirken individueller und gruppenspezifischer Lernprozesse zu fusionieren, hin zu einer gemeinsam gelebten Organisationskultur der Aus-
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einandersetzung mit ethischen Fragestellungen, Reflexions- und Entscheidungserfordernissen, die wiederum organisational verankert und durch gemeinsam entwickelte und etablierte Strukturen, Prozesse und Programme einer nachhaltigen Organisationsethik abgesichert ist. Inhaltliche Bezugspunkte organisationsethischer Entwicklungen Im pflegerischen Kontext sind professionsethische Orientierungsdirektiven (vgl. ICN 2021) und die Pflegesituation/das Pflegehandeln konstituierende Bezugspunkte im Kontext der ethischen Entscheidungsfindung von besonderer Relevanz. Riedel und Lehmeyer 2022 (2021) formulieren diesbezüglich drei inhaltlich zu beachtende Bezugspunkte partizipativer organisationsethischer Lern- und Entwicklungsprozesse, konkretisiert für den spezifischen Kontext der stationären Langzeitpflege: „1. Die Perspektive auf die zu pflegenden Bewohnerinnen und Bewohner in der stationären Langzeitpflegeeinrichtung: ihre Vulnerabilität und die erlebbare Pflegequalität, 2. die Perspektive auf die professionell Pflegenden: ihre Vulnerabilität, ihre Professionalität und ihre Berufszufriedenheit und. 3. die Perspektive auf das Management: ihre Verantwortung und die organisationsspezifische Entscheidungs- und Versorgungsqualität“ (Riedel und Lehmeyer 2022, S. 1001 2021, ). Deutlich wird: Das professionelle Pflegehandeln ist komplex und zeichnet sich durch verschiedene Perspektiven aus. Diese Multidimensionalität und Perspektivenvielfalt sind in der Planung und Ausgestaltung organisationsethischer Lern- und Entwicklungsprozesse besonders beachtlich, um Pflegefachpersonen durch die entwickelten organisationsethischen Prozesse und Strukturen dabei zu unterstützen, ihrer professionsethischen Verantwortung vollumfänglich Rechnung zu tragen. Konzeption und Ausgestaltung partizipativer Prozesse Aufgrund der Komplexität der Organisationsethik selbst und der Anforderungen, die sich an eine nachhaltige und tragfähige Ethikkultur der Organisation stellen, formieren sich Lern-
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und Entwicklungsprozesse in diesem Kontext nicht allein durch praktische Erfahrungen, sondern erfordern stets eine professionelle Konzeption, Einbettung und Ausgestaltung in Bezugnahme zu Methoden der Organisationsberatung und -entwicklung und deren professionellen Standards (Wallner 2022). Dabei bedarf es in der Konzeption organisationsethischer Lern- und Entwicklungsprozesse einer begründeten Systematik und präzisen Planung: „Grundlegend für die Akzeptanz und Mitwirkung im komplexen Entwicklungs- und Implementierungsprozess selbst ist folglich ein sorgfältiger, partizipativ angelegter Prozess, bestenfalls unterstützt durch ein implementierungswissenschaftliches Modell“ (Riedel und Lehmeyer 2022, S. 1005 2021, ). Dies auch als Voraussetzung dafür, dass die Planung und Konzeption organisationsethischer Lern- und Entwicklungsprozesse auch an den organisationsethischen Bedarfen der jeweiligen Institution und der Mitarbeitenden ansetzt und zu einer zielgerichteten Förderung einer nachhaltigen Organisationsethik beiträgt.
4.4 Zusammenfassung Etablierte und nachhaltige Prozesse und Strukturen der Organisationsethik sichern eine ethisch verantwortliche Pflegepraxis ab und sind angesichts der zunehmenden Komplexität moralisch gehaltvoller Situationen gegenwärtig von besonderer Bedeutsamkeit (Riedel und Lehmeyer 2022 2021; Großklaus-Seidel 2020; Albisser Schleger 2022 2021). Gleichzeitig sind organisationsethische Prozesse und Strukturen in Organisationen des Gesundheitswesens jedoch häufig nicht ausreichend entwickelt und/ oder organisational verankert (Albisser Schleger 2022 2021). Diese prekären Gegebenheiten erfordern organisationale Aufmerksamkeit und die Übernahme organisationaler Verantwortung dahingehend, eine ethisch verantwortliche Pflegepraxis durch organisationsethische Lern- und Entwicklungsprozesse zu protegieren. Der damit verbundene Prozess der Organisationsentwicklung fordert einen Prozess der gemeinsamen Auseinandersetzung (Müller 2020), der die „Wechselwirkung von
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I ndividuum und Organisation“ (Dehnbostel 2022) berücksichtigt. Der partizipative Einbezug von Pflegefachpersonen in Prozesse organisationsethischer Entwicklungen sichert dabei das Einbringen professionsethischer Bezugs- und Orientierungsdirektiven (vgl. Riedel und Lehmeyer 2022 2021), ermöglicht die Bezugnahme zu setting- und organisationsspezifischen Entscheidungsprämissen (vgl. Schuchter et al. 2021; vgl. Wallner 2022) und fördert die ethischen Kompetenzen der Partizipierenden (Riedel und Lehmeyer 2022 2021). Dies kann sich einer Entwicklung organisationsethischer Strukturen und Prozesse förderlich zeigen, die sich an der Begleitungsund Versorgungsrealität der Pflegefachpersonen in ihrem professionellen Handeln orientieren, sich in der Praxis damit als handlungswirksam und tragfähig erweisen, sich damit auch nachhaltig etablieren und langfristig gelebt werden. Um die Handlungswirksamkeit und Tragfähigkeit organisationsethischer Strukturen und Prozesse schlussendlich in der Praxis zu sichern, eignen sich zunächst Pilotprojekte, die evaluiert und in Bezugnahme zu den Lernerfahrungen aus der Pilotphase angepasst, anschließend sukzessive ausgeweitet und auf die Gesamtorganisation transferiert werden können (Wallner 2022). Zu beachten im Kontext organisationsethischer Entwicklungen ist jedoch die Kontinuität organisationsethischer Lern- und Entwicklungsprozesse, denn: Auch eine etablierte und gelebte Organisationsethik zeichnet sich nicht als abschließend entwickelte Dimension einer Organisationskultur aus, sondern vielmehr als stetiges reflexiv-prozessuales Geschehen (Schuchter et al. 2021; Müller 2020).
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Eckpunkte im Prozess der partizipativen Entwicklung eines Instrumentes zur Identifikation und Analyse der Ursachen moralischen Belastungserlebens Der Wertekompass als exemplarisches Instrument zur Förderung eines professionellen Umgangs mit moralischem Belastungserleben Magdalene Goldbach, Annette Riedel und Sonja Lehmeyer Zusammenfassung
Moralisches Belastungserleben zeichnet sich als ethisch bedeutsames Phänomen ab, mit dem Pflegefachpersonen in ihrem professionellen Handeln vielfach und wiederkehrend konfrontiert werden. Die negativen Folgen des Phänomens, die sich auf die betroffene Pflegefachperson, die Pflegequalität und die organisationale Ebene auswirken, unterstreichen die Dringlichkeit eines aktiven Umgangs mit moralischem Belastungserleben,
M. Goldbach (*) · A. Riedel · S. Lehmeyer Hochschule Esslingen, Soziale Arbeit, Bildung und Pflege, Esslingen, Deutschland E-Mail: [email protected] A. Riedel E-Mail: [email protected]
der sich in Maßnahmen der Reduktion und Prävention abbildet, die organisational verankert und abgesichert werden müssen. Dabei ist grundlegend, dass moralisch entlastende Interventionen an den jeweils spezifischen Ursachen des subjektiv erlebten moralischen Belastungserlebens ansetzen. Der vorliegende Beitrag skizziert – basierend auf Erfahrungen im Rahmen eines Forschungsprojektes zum moralischen Belastungserleben von Pflegefachpersonen – zentrale Eckpunkte im Prozess der partizipativen Entwicklung eines Instrumentes, das die Identifikation und Analyse moralisch komplexer und herausfordernder Situationen systematisiert, dadurch die ursachenbezogene und zielgerichtete Ableitung moralisch entlastender Maßnahmen ermöglicht und einen aktiven Umgang mit moralischem Belastungserleben protegiert.
S. Lehmeyer E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 A. Riedel et al. (Hrsg.), Moralische Belastung von Pflegefachpersonen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67049-1_5
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5.1 Einleitung Pflegefachpersonen erleben ihren beruflichen Alltag dann als moralisch belastend, wenn sie damit konfrontiert werden, dass sie ihrer moralischen Verantwortung nicht oder nur unzureichend nachkommen können, etwa weil ihre ethischen Kompetenzen angesichts der situativen moralischen Komplexität dazu nicht ausreichen oder die kontextuellen Rahmenfaktoren in der Situation ethisches Handeln nicht ermöglichen (Riedel und Lehmeyer 2021a 2022a; Klotz et al. 2022; Riedel et al. 2022). Moralisches Belastungserleben konstituiert sich dabei als subjektives Erleben, das in der situativen und/oder retrospektiven Bezugnahme zum subjektiven Erleben und zur Wertung der moralischen Angemessenheit des Handelns in der Konfrontation und dem Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen entsteht und unterschiedliche Erlebensqualitäten einnehmen kann (Riedel et al. 2022). Die komplexen Gefüge in der Entstehung und Wirkung moralischen Belastungserlebens sowie die Subjektivität des Erlebens bedingen, dass jede Konfrontation mit moralischem Belastungserleben, jede subjektiv erlebte Erlebensqualität, eines aktiven Umgangs bedarf, der an den situativen Ursachen der Entstehung moralischen Belastungserlebens ansetzt und somit ursachenbezogen und zielgerichtet ausgestaltet wird. Im Rahmen des praxiskooperativen Forschungsprojektes „Moralisch entlastende Interventionen in der professionellen Altenpflege. Gemeinsam: Strukturen schaffen – Kompetenzen stärken – Entlastung sichern“ wurde in moderierten partizipativen Arbeitsgruppen ein jeweils einrichtungs-/dienstspezifisches Instrument zur Identifikation und Analyse moralisch komplexer und herausfordernder Pflegesituationen entwickelt. Das Instrument – der einrichtungs-/ dienstspezifische Wertekompass für das professionelle Pflegehandeln – zielt auf die Ableitung ursachenbezogener moralisch entlastender Handlungsbedarfe, unterstützt dadurch das Ergreifen zielgerichteter Interventionen und fördert zugleich die Realisierung eines aktiven Umgangs
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mit moralischem Belastungserleben als Gegenstand des professionellen Pflegehandelns, der zudem organisational abgesichert ist. Die Erfahrungen der partizipativen Instrumentenentwicklung im Rahmen des Forschungsprojektes greift der vorliegende Beitrag auf. Ziel der Ausführungen ist es, didaktische und methodische Eckpunkte in der Ausgestaltung des Prozesses der partizipativen Entwicklung eines einrichtungs-/dienstbezogenen Instrumentes zur Identifikation und Analyse moralisch komplexer und herausfordernder Situationen und zur Ableitung moralisch entlastender Handlungsbedarfe zu skizzieren, die sich einerseits hinsichtlich der Instrumentenentwicklung und andererseits bezüglich der Ethikkompetenzentwicklung als förderlich erweisen und sich damit im Prozess der Wertekompassentwicklung als gewinnbringend und tragfähig zeigten.
5.2 Der Wertekompass als exemplarisches Instrument zur Förderung eines professionellen Umgangs mit moralischem Belastungserleben 5.2.1 Hintergrund der Entwicklung eines einrichtungs-/ dienstspezifischen Wertekompasses Der Wertekompass wird im vorliegenden Beitrag als Dimension des moralischen Kompasses eingeordnet. Der moralische Kompass fungiert als ‚Referenzsystem‘ (Tanner und Christen 2014) und ‚innerer Navigator‘ (Tanner und Christen 2014; Christen et al. 2016; Lee et al. 2020) der Pflegefachperson in der Konfrontation und dem Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen. Das Konzept des moralischen Kompasses definieren Tanner und Christen (2014) wie folgt: „[t]he reference system containing one’s (either existing or newly formulated) moral standards, values or convictions
5 Eckpunkte im Prozess der partizipativen …
which provide the basis for moral evaluation and regulation“ (Tanner und Christen 2014, S. 122). Dabei zu beachten ist, dass sich der moralische Kompass sowohl aus persönlichen als auch aus professionellen Anteilen konfiguriert: „The content of the moral compass is multifaceted. Moral values, moral convictions, ethical principles, religious beliefs, personal goals, self-related beliefs as well as behavioral scripts, etc., form such ingredients“ (Tanner und Christen 2014, S. 127). In Bezug auf die professionelle Perspektive von Pflegefachpersonen „[r]epräsentiert [der moralische Kompass] die für eine Gesellschaft, eine Institution, ein Unternehmen oder ein Individuum relevanten Werte und Prinzipien“ (Christen et al. 2016, S. 1263). Dabei formen sich die Bestandteile und Bezugspunkte des moralischen Kompasses („moral schemas“; Tanner und Christen 2014, S. 128) durch Praxiserfahrungen, iterative Lernprozesse, soziale und kulturelle Einflüsse, sodass die Konstitution des moralischen Kompasses inhaltlich und strukturell interpersonell variiert (Tanner und Christen 2014). Gleichwohl der Begriff des ‚moralischen Kompasses‘ geläufig ist, fokussiert die Instrumentenentwicklung in besonderem Maße die professionelle Perspektive von Pflegefachpersonen, denn: Die professionelle Perspektive, die sich aus der Bezugnahme zu professionellen Werten speist, ist für das professionelle Pflegehandeln als leitend zu verstehen (ICN 2021; Riedel und Giese 2017; Linde 2018). Somit umfasst das entwickelte Instrument professionsethische Bezugspunkte, Werte und Prinzipien, die einrichtungs-/dienstspezifisch für das professionelle Pflegehandeln zentral sind. Um diesen Fokus zu unterstreichen, wurde der Begriff des Wertekompasses gewählt, ausgehend davon, dass professionelle Werte und Prinzipien, die als ethischer Bezugsrahmen der professionellen Perspektive von Pflegefachpersonen dienen, lediglich einen – wenn auch zentralen – Aspekt des moralischen Kompasses ausmachen (vgl. hierzu Tanner und Christen 2014). Evident ist, dass die Auseinandersetzung mit der ethischen Dimension des professionellen Pflegehandelns in der Bezugnahme zu professions-
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ethischen Werten und Prinzipien die Pflegefachpersonen für die situative ethische Dimension in alltäglichen Situationen des professionellen Pflegehandelns sensibilisiert, sie in der Konfrontation und im Umgang mit ethischen Spannungs- und Konfliktfeldern stärkt und dabei das Einnehmen einer professionellen Perspektive in der ethischen Analyse, der ethischen Reflexion, der ethischen Argumentation und der ethisch begründeten Entscheidungsfindung fördern kann (Lee et al. 2020; Riedel und Giese 2017). Da der organisationale Kontext die Konstitution des situativen moralischen Gehaltes (Schuchter et al. 2021) wie auch die Wahrnehmung von und den Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen prägt (Schuchter et al. 2021; Wallner 2022; Riedel et al. 2022), findet die Entwicklung des Wertekompasses einrichtungs-/dienstspezifisch statt. Der Wertekompass unterstützt Pflegefachpersonen durch die Identifikation und Analyse moralisch komplexer und herausfordernder Situationen dabei, die situativ spezifische ethische Fragestellung zu identifizieren. Die Auseinandersetzung mit sowie die Anbindung an und Bezugnahme zu professionellen Werten, die im Wertekompass verankert sind und für das professionelle Pflegehandeln in der jeweils spezifischen Einrichtung/dem jeweils spezifischen Dienst von zentraler Bedeutsamkeit sind, unterstützen an dieser Stelle das Einnehmen einer professionellen Perspektive (vgl. Lee et al. 2020; vgl. Linde 2018; vgl. Riedel und Giese 2017). Der Wertekompass bietet neben den professionellen Werten und Prinzipien einen mehrstufigen Analyserahmen des situativen moralischen Gehalts, der die Identifikation der situationsspezifischen Ursachen des moralischen Belastungserlebens (situativ und/oder retrospektiv) systematisiert und strukturiert. Die Identifikation der spezifischen ethischen Fragestellung in der Bezugnahme zu situativ bedeutsamen professionellen Werten dient dabei als Grundlegung für die Identifikation der Ursachen situativ und/oder retrospektiv erlebten moralischen Belastungserlebens. Dabei greift das Instrument unterschiedliche situative Entstehungsgefüge auf, die das Potenzial bieten, moralisches Belastungserleben zu
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evozieren, wie beispielsweise die Unsicherheit der Pflegefachperson hinsichtlich der Konstitution des situativen moralischen Gehalts, hinsichtlich situativ beteiligter Werte und der situativ moralisch angemessenen Handlung (vgl. Fourie 2017; vgl. Monteverde 2019, 2020; vgl. Campbell et al. 2016; vgl. Riedel et al. 2022), hinsichtlich ethischer Spannungs- und Konfliktfelder, wie ethische Dilemmata (vgl. Monteverde 2019, 2020; Linde 2018; vgl. Riedel et al. 2022) oder die Einschränkung des moralischen Handlungsvermögens in der Realisierung der moralisch angemessenen Handlung durch kontextuelle Rahmenfaktoren (vgl. Fourie 2017; vgl. Monteverde 2019, 2020; vgl. Campbell et al. 2016; vgl. Riedel et al. 2022; vgl. Riedel und Lehmeyer 2022a 2021a; vgl. Klotz et al. 2022). Die Analyse der situationsspezifischen Ursachen situativ und/oder retrospektiv erlebten moralischen Belastungserlebens ermöglicht es, entsprechende moralisch entlastende Handlungsbedarfe ursachenbezogen abzuleiten und Interventionen folglich zielgerichtet zu planen, auszugestalten und zu initiieren.
5.2.2 Ziele der Arbeit in der Arbeitsgruppe Um einen aktiven Umgang mit moralischem Belastungserleben nachhaltig zu realisieren, muss dieser organisational verankert und durch entsprechende organisationsethische Strukturen und Prozesse abgesichert werden. Der Einbezug von Pflegefachpersonen in die Entwicklung organisationsethischer Strukturen und Prozesse ist obligat (Wallner 2022; Riedel und Lehmeyer 2021b 2022b), denn: Die Partizipation von Pflegefachpersonen in der Entwicklung organisationsethischer Prozesse und Strukturen ermöglicht es Pflegefachpersonen, diese an ihrer professionellen Perspektive (Riedel und Lehmeyer 2022b 2021b) sowie am setting- und organisationsspezifischen Kontext auszurichten (vgl. Schuchter et al. 2021; vgl. Wallner 2022), und entspricht durch die Förderung einer ethischen Praxis der professionsethischen Verantwortung als Pflegefachperson (ICN 2021).
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Weiter kann die Partizipation von Pflegefachpersonen der Akzeptanz für organisationsethische Entwicklungen sowie der Motivation für eine gemeinsam gelebte Ethikkultur zuträglich sein (Riedel und Lehmeyer 2022b 2021b) und durch die systematische Auseinandersetzung mit der moralisch-ethischen Dimension professionellen Pflegehandelns im Kontext der Entwicklung organisationsethischer Strukturen und Prozesse wertvolle Paralleleffekte der Entwicklung und Förderung einer umfassenden Ethikkompetenz bergen (Riedel und Lehmeyer 2022b 2021b). Die partizipative Entwicklung eines einrichtungs-/dienstspezifischen Wertekompasses in den kooperierenden Einrichtungen und Diensten verfolgte übergeordnet folgende Ziele: • Die Teilnehmenden der Arbeitsgruppe sind für das Phänomen des moralischen Belastungserlebens von Pflegefachpersonen und dessen Bedeutsamkeit für das professionelle Pflegehandeln sensibilisiert. • Eine gemeinsame ethische Ausrichtung und Orientierung der Pflegefachpersonen in der Bezugnahme zu professionellen Werten und Prinzipien vor dem Hintergrund der professionsethischen Verantwortung ist konsentiert. • Die ethischen Kompetenzen der Pflegefachpersonen für einen professionellen Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen – entsprechend der professionsethischen Verantwortung – sind gestärkt. • Ein Instrument, das sich an der komplexen Pflegepraxis ausrichtet und sich in dieser hinsichtlich der Identifikation und Analyse moralisch gehaltvoller Situationen und der Ableitung moralisch entlastender Handlungsbedarfe als anwendbar, tragfähig und handlungsleitend erweist, ist partizipativ entwickelt. • Die Akzeptanz sowie die Motivation zur Nutzung des einrichtungs-/dienstspezifischen Wertekompasses für einen professionellen Umgang mit moralischem Belastungserleben ist gestärkt. • Ein aktiver Umgang mit moralischem Belastungserleben – als Gegenstand des profes-
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sionellen Pflegehandelns – ist organisational abgesichert. Deutlich wird: Die Effekte und Ziele des partizipativen Prozesses der Wertekompassentwicklung reichen über die Erarbeitung eines tragfähigen und handlungsleitenden Instrumentes für die Pflegepraxis zur Identifikation und Analyse moralisch gehaltvoller Situationen und zum Ableiten moralisch entlastender Handlungsbedarfe hinaus. Sie adressieren gleichermaßen die Entwicklung und Förderung der Ethikkompetenz der partizipierenden Pflegefachpersonen, die wiederum Voraussetzung für die Anwendung des Instrumentes und einen ethisch verantwortlichen Umgang mit moralisch komplexen und herausfordernden Situationen sowie mit moralischem Belastungserleben ist. Diese Zielorientierung muss sich auch in der Konzeption und Ausgestaltung des Prozesses der partizipativen Wertekompassentwicklung abbilden, denn: Ethikkompetenz und dahingehende Bildungsbedarfe umfassen mehr als reines Wissen um die moralische Dimension professionellen Pflegehandelns, sondern implizieren auch die ethische Analyse-, Reflexions- und Urteilskompetenz (Andersson et al. 2022; Riedel und Giese 2017; Lehmeyer und Riedel 2019). Dabei steht im Kontext des Pflegehandelns die professionelle Perspektive stets im Vordergrund (Riedel und Giese 2017), professionsethische Werte und Orientierungsdirektiven sind dabei als leitend zu verstehen (ICN 2021; Riedel und Giese 2017; Linde 2018). Es geht demnach nicht um eine reine Wissensvermittlung, sondern um die Sensibilisierung für den situativen moralischen Gehalt in Pflegesituationen in der Bezugnahme zur moralischen Verantwortung der Pflegefachpersonen, um die Sensibilisierung für professionsethische Werte als Bezugsrahmen für ethische Reflexions- und Entscheidungserfordernisse sowie in der ethischen Argumentation. Um die vielfältigen Ziele und Effekte der Arbeit in den partizipativen Arbeitsgruppen vollumfänglich zu ermöglichen, muss sich die Ausgestaltung des Prozesses der Wertekompassentwicklung demnach nicht nur an der Erarbeitung des Werte-
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kompasses, sondern auch an didaktischen und methodischen Eckpunkten der Ethikbildung orientieren. Folgend werden zunächst didaktische Schritte skizziert, die von der Auseinandersetzung mit der moralischen Verantwortung von Pflegefachpersonen über die Erarbeitung des Instrumentes bis hin zur Anwendung und Evaluation des Instrumentes reichen und sich in den Arbeitsgruppen im Rahmen des Forschungsprojektes hinsichtlich der Zielerreichung als tragfähig und gewinnbringend gezeigt haben.
5.2.3 Didaktische Schritte Die im Folgenden dargelegten Schritte, die die Arbeit in den Arbeitsgruppen im Prozess der Entwicklung eines einrichtungs-/dienstspezifischen Wertekompasses systematisieren und strukturieren, stellen übergeordnete Entscheidungen zur Ausgestaltung des Prozesses dar. Situativ zu ergänzen sind dabei auch Impulse zur Hinführung auf und zum Einstieg in das Thema in der Bezugnahme zum Phänomen des moralischen Belastungserlebens sowie jeweils spezifische, für die Partizipierenden anschlussfähige Anknüpfungspunkte und theoretische Impulse (bspw. zu den Begrifflichkeiten Moral, Ethik, Werte, usw. und deren jeweilige Bedeutsamkeit für das professionelle Pflegehandeln). Da diese Impulse und theoretischen Einschübe jedoch situativ im Zuschnitt auf die Partizipierenden und deren Voraussetzungen und Bedarfe auszugestalten sind, werden diese in der folgenden übergeordneten Beschreibung nicht explizit aufgegriffen. Je nach Vorwissen der Arbeitsgruppe ist hierbei abzuwägen, inwieweit es situativ sinnvoll ist, zunächst theoretische Grundkenntnisse zu vermitteln und anschließend praktische Bezüge herzustellen oder von den praktischen Erfahrungen ausgehend die theoretischen Grundlagen zu erarbeiten (Rabe 2020). Die didaktischen Entscheidungen und Eckpunkte in der Ausgestaltung der partizipativen Entwicklung eines einrichtungs-/dienstspezifischen Wertekompasses orientieren sich an didaktischen Grundsätzen der Ethikbildung
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nach Rabe (2020): Der Grundsatz „Primat der Ziele“ umfasst, dass jeglichen didaktischen Entscheidungen Bildungsziele vorausgehen und zugrunde gelegt werden, die „Exemplarizität, Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung“ gilt als Grundlegung in Bezug auf die Themenauswahl, die „Verbindung von Erfahrungs- und Sachorientierung“ steht in Bezug zum Erfahrungs- und Wissenszuwachs der Lernenden, die „Pluralität der Lernformen“ bezieht sich auf die verschiedenen Lernkanäle der Lernenden und die Struktur der Themen, die „Offene Planung“ zielt auf die Flexibilität der Lehrenden und die Partizipation von Lernenden und die „Förderung der Vernetzung der Lernorte“ erfordert einen stringenten Theorie-Praxis-Transfer (Rabe 2020, S. 152–153). Ausgangs- und Bezugspunkt der Wertekompassentwicklung ist die moralische Verantwortung von Pflegefachpersonen in ihrem professionellen Handeln. Dimensionen moralischer Verantwortung im professionellen Pflegehandeln Hintergrund: Pflegefachpersonen tragen in ihrem beruflichen Handeln eine umfassende moralische Verantwortung (Prentice und Gillam 2018; ICN 2021; Riedel und Giese 2017; Andersson et al. 2022; Lee et al. 2020; Lehmeyer und Riedel 2019), die sich vornehmlich gegenüber dem pflegebedürftigen Menschen, aber auch gegenüber den Kolleg*innen beziehungsweise der Profession, der Organisation, in der sie arbeiten, und gegenüber der Gesellschaft abbildet (Prentice und Gillam 2018; ICN 2021). Im ICN-Ethikkodex des International Council of Nurses (ICN) (2021) werden folgende Dimensionen der Verantwortung von Pflegefachpersonen differenziert: „Pflegefachpersonen und Patientinnen und Menschen mit Pflegebedarf“, „Pflegefachpersonen und die Praxis“, „Pflegefachpersonen und der Beruf“ und „Pflegefachpersonen und globale Gesundheit“ (ICN 2021, S. 5). Die Auseinandersetzung mit der vielschichtigen und umfassenden moralischen Verantwortung von Pflegefachpersonen soll einführend die
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v moralische Komplexität ihres beruflichen Handelns verdeutlichen und eine erste Hinführung an die dem professionellen Handeln immanenten moralischen Spannungs- und Konfliktfelder ermöglichen. Mögliche Impulse, die die Auseinandersetzung mit den Dimensionen der moralischen Verantwortung von Pflegefachpersonen systematisieren und strukturieren können: • Gegenüber wem haben Sie in Ihrem professionellen Pflegehandeln eine moralische Verantwortung? • Wie/Worin zeigt sich diese moralische Verantwortung in Ihrem professionellen Handeln? • An welchen Stellen gestaltet sich die Realisierung der moralischen Verantwortung im professionellen Pflegehandeln herausfordernd? Dabei verfolgt die Auseinandersetzung mit den Dimensionen der moralischen Verantwortung von Pflegefachpersonen folgende Ziele: • Die Teilnehmenden sind sich der Komplexität und Vielschichtigkeit ihrer moralischen Verantwortung gewahr. • Die Teilnehmenden sind für die ethische Dimension des professionellen Pflegehandelns auch in alltäglichen Situationen sensibilisiert. • Die Teilnehmenden reflektieren ihre moralische Verantwortung gegenüber verschiedenen Personengruppen und ordnen diese als Dimension ihres pflegeprofessionellen Handlungsauftrags ein. • Die Pflegefachpersonen identifizieren moralische Spannungs- und Konfliktfelder in der Realisierung ihrer moralischen Verantwortung und reflektieren diese in der Bezugnahme zum Phänomen des moralischen Belastungserlebens. Ergänzende Bezugnahme zum professionsspezifischen ICN-Ethikkodex Hintergrund: Ethikkodizes definieren das Pflegeethos (Monteverde 2020) und ethische
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Standards einer ethisch verantwortlichen Praxis (Lehmeyer und Riedel 2019; ICN 2021; Monteverde 2020), im Sinne des „Guten und Richtigen“ (Monteverde 2020, S. 21). Der ICN-Ethikkodex umfasst pflegeethische Werte und Verpflichtungen, die für Pflegefachpersonen in ihrem professionellen Handeln verpflichtend sind, er fungiert demnach als Orientierungsrahmen im Kontext pflegebezogener ethischer Entscheidungs- und Handlungserfordernisse und leitet folglich die ethische Pflegepraxis (ICN 2021). Aufgrund des verpflichtenden Charakters des ICN-Ethikkodex ist eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Dokument obligat, denn: „Er [der ICN-Ethikkodex] wird als Dokument nur Bedeutung haben, wenn er im Alltag der Pflege und des Gesundheitswesens in allen Arbeitsumgebungen, in denen Pflege geleistet wird, angewendet wird. Um seinen Zweck zu erreichen, muss der Kodex von den Pflegefachpersonen in allen Aspekten ihrer Arbeit verstanden, verinnerlicht und angewendet werden“ (ICN 2021, S. 5). Weiter kann die Auseinandersetzung mit den Inhalten des ICN-Ethikkodex in einem nächsten Schritt die Identifikation von und Bezugnahme zu professionellen Werten unterstützen. Mögliche Impulse, die die ergänzende Bezugnahme zum professionsspezifischen ICN-Ethikkodex systematisieren und strukturieren können: • Was bedeutet der ICN-Ethikkodex für Sie in Ihrem professionellen Handeln? • Welche Dimensionen moralischer Verantwortung, die im ICN-Ethikkodex abgebildet sind, können Sie gegebenenfalls ergänzen? • Wo kann der Ethikkodex Sie im professionellen Pflegehandeln unterstützen, dieses ethisch absichern und/oder Ihnen Orientierung bieten? Dabei verfolgt die ergänzende Bezugnahme zum professionsspezifischen ICN-Ethikkodex folgende Ziele: • Die Teilnehmenden kennen den ICN-Ethikkodex und ordnen diesen als verpflichtend zu berücksichtigendes Dokument für ihr professionelles Pflegehandeln ein.
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• Die Teilnehmenden erkennen die leitende Funktion des ICN-Ethikkodex für die ethische Praxis des professionellen Pflegehandelns an. • Die Teilnehmenden identifizieren zentrale Elemente, Verantwortungsbereiche und Werte des ICN-Ethikkodex und reflektieren deren Bedeutung für ihr professionelles Handeln. Bedeutsamkeit der Anbindung an und Bezugnahme auf professionelle Werte für das Pflegehandeln Hintergrund: Die Professionalisierung der Pflege ist eng mit der Entwicklung der Ethik in der Pflege verbunden, die sich in spezifischen Werten konkretisiert, an denen sich die Mitglieder einer Profession orientieren (Monteverde 2020) und die als „Bezugsrahmen der Reflexion“ (Rabe 2020, S. 148) dienen, die das Einnehmen einer professionellen Perspektive ermöglichen und fördern (Riedel und Giese 2017; Linde 2018) sowie begründete Entscheidungen unterstützen (Monteverde 2020). Professionelle Werte sind erstrebenswert (ICN 2021; Linde 2018), sie markieren „jene Ziele, die sowohl vom Beruf als auch in der Pflegefachperson-Patientin-Beziehung angestrebt werden“ (ICN 2021, S. 30), schärfen die professionelle Perspektive (Rabe 2020; Riedel und Giese 2017; Linde 2018) und das pflegerische Selbstverständnis sowie das Verantwortungsbewusstsein von Pflegefachpersonen (Rabe 2020) und sind für Professionsangehörige verpflichtend (ICN 2021). Die Auseinandersetzung mit professionellen Werten beziehungsweise mit der professionellen Perspektive von Pflegefachpersonen, die in der Bezugnahme zu und Anbindung an professionellen Werten gründet, kann an dieser Stelle das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer gemeinsamen ethischen Perspektive sowie für die Notwendigkeit der Bezugnahme zu professionellen Werten im professionellen Pflegehandeln unterstützen, die für die Identifikation und Analyse moralisch komplexer und herausfordernder Situationen grundlegend sind, um die konkrete situative ethische Fragestellung zu identifizieren und einen professionellen Umgang mit
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moralisch gehaltvollen Situationen zu realisieren (vgl. Lehmeyer und Riedel 2019; vgl. Riedel und Giese 2017). Mögliche Impulse, die die Auseinandersetzung mit der Bedeutsamkeit von Werten für das professionelle Pflegehandeln strukturieren und systematisieren können: • Welche Bedeutung/Funktionen haben Werte im Allgemeinen? • Welche Bedeutung/Funktionen haben Werte im professionellen Pflegehandeln? Dabei verfolgt die Auseinandersetzung mit der Bedeutsamkeit von Werten für das professionelle Pflegehandeln folgende Ziele: • Die Teilnehmenden reflektieren die Bedeutsamkeit von Werten in Bezug auf das Erleben und Handeln in moralisch gehaltvollen Situationen. • Die Teilnehmenden reflektieren das Zusammenwirken von persönlichen und professionellen Werten und die daraus möglicherweise resultierenden Spannungsfelder. • Die Teilnehmenden wissen um die Bedeutsamkeit einer professionellen Perspektive in ihrem beruflichen Handeln, die in der Anbindung an und der Bezugnahme auf professionelle Werte gründet. Der Kompass als Metapher für ein navigierendes, Orientierung bietendes Instrument Hintergrund: Der moralische Kompass stellt eine Metapher in Anlehnung an einen Kompass dar (Moore und Gino 2013; van Stekelenburg et al. 2021). Analog den Zielen eines Kompasses, der Orientierung bietet und Navigierung ermöglicht, sind dies zugleich die Ziele des moralischen Kompasses beziehungsweise des Wertekompasses (Moore und Gino 2013; van Stekelenburg et al. 2021; Lee et al. 2020; Tanner und Christen 2014; Christen et al. 2016): „The metaphorical ethical compass provides guidance by orienting an individual to the ethical north in professional work contexts, particularly in unknown situations or situations in which
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one is confronted with an ethical dilemma and does not know which way to turn“ (van Stekelenburg et al. 2021, S. 92). Dabei kann die Annäherung an das schlussendlich zu entwickelnde Instrument des einrichtungs-/dienstspezifischen Wertekompasses über die Auseinandersetzung mit der Metapher des Kompasses ein wertvoller assoziativer Zugang sein: „[M]etaphors stimulate the poetic imagination, are couched in extraordinary language, and structure how we perceive, think, and make choices“ (van Stekelenburg et al. 2021, S. 92). Mögliche Impulse, die die Auseinandersetzung mit der Metapher des Kompasses systematisieren und strukturieren können: • Welche Funktionen erfüllt ein Kompass? • Welche Voraussetzungen muss er erfüllen, damit er Sie unterstützt? • Welche Einflüsse können die Funktion des Kompasses möglicherweise einschränken oder die Orientierung des Kompasses verzerren? Dabei verfolgt die Auseinandersetzung mit der Metapher des Kompasses folgende Ziele: • Die Pflegefachpersonen erkennen unterschiedliche Funktionen des Kompasses und transferieren diese mit Blick auf den Wertekompass auf ihre (ethische) Handlungspraxis. • Die Pflegefachpersonen identifizieren Voraussetzungen, die ein Kompass erfüllen muss, um seine Funktion(en) zu erfüllen und transferieren diese auf die Entwicklung des Wertekompasses. • Die Pflegefachpersonen reflektieren verzerrende Einflüsse auf die navigierende Funktion des Kompasses und transferieren diese auf ihre komplexe Pflegepraxis in der Bezugnahme zu kontextuellen Rahmenfaktoren. Explikation und Reflexion handlungsleitender professioneller Werte Hintergrund: Damit professionelle Werte in der Praxis des professionellen Pflegehandelns als
5 Eckpunkte im Prozess der partizipativen …
zentraler Bezugspunkt auch leitend wirksam werden, müssen diese den Pflegefachpersonen zugänglich sein (vgl. Tanner und Christen 2014). Der zu entwickelnde Wertekompass, der zentrale professionelle Werte für das Handeln in der jeweiligen Einrichtung/im jeweiligen Dienst fasst, wird hierbei als Orientierung bietende und zugängliche Struktur verstanden, die Identifikation und Analyse wie auch das Einnehmen einer professionellen Perspektive und Werteorientierung unterstützt und in der Folge die Abgrenzung von persönlichen Werten ermöglicht. Voraussetzung hierfür ist, dass die zentralen handlungsleitenden professionellen Werte für das professionelle Pflegehandeln in der jeweiligen Einrichtung/im jeweiligen Dienst, auch im Instrument verankert sind. Mögliche Impulse, die die Explikation und Reflexion handlungsleitender Werte systematisieren und strukturieren können: • Welche Werte sind für Sie bis dato in Ihrem professionellen Handeln bedeutsam? – Welche Werte stellen professionelle Werte dar? – Wo wirken persönliche Wertvorstellungen mit? – Was bedeutet das Zusammenwirken verschiedener Werte für Ihr professionelles Handeln? • Wo ergeben sich mit Blick auf die Werteorientierung Unsicherheiten, Spannungs- und Konfliktfelder? Dabei verfolgt die Explikation und Reflexion handlungsleitender Werte im professionellen Pflegehandeln folgende Ziele: • Die Teilnehmenden erkennen die Relevanz einer gemeinsamen, an den professionsethischen Werten ausgerichteten Werteorientierung für das professionelle Pflegehandeln und den Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen in ihrer Einrichtung/ ihrem Dienst. • Die Pflegefachpersonen erkennen das Zusammenwirken persönlicher und professioneller Werte und können diese, mit dem
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Fokus auf die professionelle Perspektive, voneinander unterscheiden und abgrenzen. • Die Pflegefachpersonen identifizieren handlungsleitende Werte aus einer professionsethischen Perspektive. • Die zentralen einrichtungs-/dienstspezifischen pflegeprofessionellen Werte für das professionelle Pflegehandeln der Pflegefachpersonen sind identifiziert, konsentiert und im Instrument des Wertekompasses verankert. Exemplarische handlungsleitende Operationalisierung der professionellen Werte Hintergrund: Nicht nur die Werte an sich, sondern auch das Werteverständnis können interpersonell divergieren (Tanner und Christen 2014). Eine gemeinsame professionelle Perspektive setzt damit nicht nur die Bezugnahme zu professionellen Werten voraus, sondern auch ein gemeinsames Werteverständnis, das sich in der Übersetzung situativ geltender Werte in ihrer Bedeutung für das situative Pflegehandeln abbildet. Die gemeinsame Auseinandersetzung mit der Bedeutung der Werte für das Pflegehandeln, die exemplarische handlungsleitende Operationalisierung professioneller Werte, kann hier eine Annäherung an ein gemeinsames Werteverständnis anbahnen sowie die situative Begründung der Pflegefachpersonen in der Bezugnahme zu professionellen Werten, im Sinne des Verständnisses der Bedeutung der Werte für die jeweils einzigartigen Pflegesituationen, fördern. Mögliche Impulse, die die exemplarische handlungsleitende Operationalisierung professioneller Werte systematisieren und strukturieren können: • Was bedeuten die Werte für unser professionelles Handeln in der Praxis? • Wie werden diese Werte für die pflegebedürftigen Menschen/Angehörige/Kolleg*innen erlebbar? • Zwischen welchen Werten ergeben sich wiederkehrend Spannungs- und Konfliktfelder?
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M. Goldbach et al.
Dabei verfolgt die exemplarische handlungsleitende Operationalisierung der Werte folgende Ziele:
• Das Instrument sowie die Verfahrensanweisung sind den Teilnehmenden bekannt und vertraut.
• Die zentralen pflegeprofessionellen Werte sind in ihrer normativen Bedeutsamkeit für das professionelle Pflegehandeln operationalisiert. • Die Teilnehmenden übersetzen die Bedeutung professioneller Werte für die je einzigartige Pflegesituation. • Die Teilnehmenden sind für Spannungs- und Konfliktfelder ihrer alltäglichen Praxis in der Bezugnahme zu professionellen Werten sensibilisiert. • Ein gemeinsames Werteverständnis für die Werte des einrichtungs-/dienstspezifischen Wertekompasses ist abgesichert.
Gemeinsame exemplarische Anwendung des Wertekompasses anhand eines Fallbeispiels und Reflexion der Instrumentenanwendung Hintergrund: Damit das Instrument des einrichtungs-/dienstspezifischen Wertekompasses in der komplexen Pflegepraxis zum Tragen kommt, muss es verständlich, nachvollziehbar, eindeutig und handlungsleitend sein. Um dies in einem ersten Schritt zu überprüfen, kann die gemeinsame exemplarische Anwendung des Instrumentes anhand eines Fallbeispiels von Nutzen sein, im Sinne eines ‚Pre-Tests‘. Die Arbeit mit einem konstruierten Fallbeispiel kann das Einnehmen einer gemeinsamen Perspektive in der Wahrnehmung des situativen moralischen Gehaltes erleichtern, da die Perspektive der Teilnehmenden in der Wahrnehmung der Situation hier noch nicht durch unterschiedliche Erfahrungen und eine emotionale Beteiligung geprägt ist. Weiter kann die Arbeit mit einem konstruierten Fallbeispiel, das die komplexe Realität der Pflegepraxis gewissermaßen simplifiziert, es den Teilnehmenden erleichtern, situativ beteiligte und bedeutsame Werte zu identifizieren. Die Teilnehmenden werden durch einen moderierten Prozess unter Zuhilfenahme der Verfahrensanweisung schrittweise in die Instrumentenanwendung eingeführt. Die Erfahrung aus der gemeinsamen exemplarischen Anwendung anhand eines Fallbeispiels dient als Grundlegung für die Reflexion der Instrumentenanwendung und verweist möglicherweise auf Änderungs- und Anpassungsbedarfe des Instrumentes und/oder der Verfahrensanweisung. Mögliche Impulse, die die Reflexion und Evaluation der Instrumentenanwendung systematisieren und strukturieren können:
Einführung in den einrichtungs-/dienstspezifischen Wertekompass und die mitgeltende Verfahrensanweisung Bitte wie oben ändern Der Wertekompass stellt ein einrichtungs-/ dienstspezifisches Instrument dar, das die Pflegefachpersonen in der Identifikation und Analyse moralisch gehaltvoller Situationen leitet. Dies setzt voraus, dass die Pflegefachpersonen wissen, wann und wie das Instrument anzuwenden ist und welche Ziele die Anwendung des Instrumentes verfolgt. Die gemeinsame Auseinandersetzung mit dem Instrument und der zugehörigen, mitgeltenden Verfahrensanweisung dient hierbei als Grundlage. Dabei verfolgt die Einführung in den einrichtungs-/dienstspezifischen Wertekompass und die mitgeltende Verfahrensanweisung folgende Ziele: • Die Teilnehmenden kennen die Ziele und den Anwendungsbereich des Instrumentes des einrichtungs-/dienstspezifischen Wertekompasses. • Die Teilnehmenden können die einzelnen Anwendungsschritte der Arbeit mit dem Wertekompass vor dem Hintergrund der Zielsetzung des Instrumentes nachvollziehen.
• Sind alle zentralen Werte im Wertekompass verankert, die für das professionelle Pflegehandeln in Ihrer Einrichtung/in Ihrem Dienst
5 Eckpunkte im Prozess der partizipativen …
relevant sind, oder bedarf es noch der Ergänzung um spezifische Werte? • Sind die 10 Leitfragen für die Arbeit mit dem Wertekompass eindeutig formuliert und zielführend zur Identifikation und Analyse moralisch komplexer und heraufordernder Situationen? • Inwieweit bietet Ihnen der Wertekompass die Möglichkeit Ihr moralisches Belastungserleben systematisch zu identifizieren und mögliche Ursachen zu analysieren? • Inwieweit unterstützt Sie der Wertekompass dabei, Ihr moralisches Belastungserleben mit anderen (im Team/mit Leitungspersonen) zu thematisieren? • Inwieweit unterstützt Sie der Wertekompass dabei, abzuleiten, was Sie situativ oder im Nachgang einer Situation benötigen, um moralische Entlastung zu erfahren? • Benötigt es noch Ergänzungen zur handlungsleitenden Anwendung des Wertekompasses im professionellen Pflegehandeln? Dabei verfolgen die exemplarische Anwendung des Wertekompasses sowie die Reflexion und Evaluation der Instrumentenanwendung folgende Ziele: • Die Teilnehmenden wenden das Instrument unter Zuhilfenahme der Verfahrensanweisung exemplarisch an. • Die Teilnehmenden explizieren ggf. notwendige Anpassungsbedarfe, die die Zielerreichung der Instrumentenanwendung handlungsleitend unterstützen. • Das Instrument des einrichtungs-/dienstspezifischen Wertekompasses ist konsentiert. Exemplarische Anwendung des Wertekompasses anhand eines Fallbeispiels aus der Praxis der Einrichtung/des Dienstes Hintergrund: Damit sich das Instrument des einrichtungs-/ dienstspezifischen Wertekompasses auch im professionellen Pflegehandeln als tragfähig und handlungsleitend erweist, muss es in der komplexen Realität der Pflegepraxis anwendbar sein.
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Auch wenn Änderungs- und Anpassungsbedarfe des Instrumentes womöglich schon durch die exemplarische Anwendung des Instrumentes an einem konstruierten Fallbeispiel identifiziert werden konnten, kann die Anwendung an einem Fallbeispiel aus der komplexen Pflegepraxis möglicherweise weitere Anpassungsbedarfe aufzeigen. Dabei verfolgt die exemplarische Anwendung des Wertekompasses anhand eines Fallbeispiels aus der Praxis der Pflegefachpersonen folgende Ziele: • Die Teilnehmenden wenden das Instrument unter Zuhilfenahme der Verfahrensanweisung exemplarisch an einem Fallbeispiel aus ihrer komplexen Pflegepraxis an. • Die Teilnehmenden explizieren ggf. notwendige Anpassungsbedarfe, die die Zielerreichung der Instrumentenanwendung handlungsleitend unterstützen. • Das Instrument des einrichtungs-/dienstspezifischen Wertekompasses ist abschließend konsentiert. Moralisch entlastende Interventionen/Strategien in das professionelle Pflegehandeln integrieren Hintergrund: Der einrichtungs-/dienstspezifische Wertekompass unterstützt durch die Systematisierung der Identifikation und Analyse moralisch komplexer und herausfordernder Situationen nicht nur einen professionellen Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen, sondern ermöglicht es auch, ursachenbezogen moralisch entlastende Handlungsbedarfe abzuleiten. Damit entsprechend den Handlungsbedarfen auch zielgerichtete Interventionen initiiert werden können und die Pflegefachpersonen situativ angemessen moralische Entlastung erfahren, erfordert dies, dass die Pflegefachpersonen die Handlungsbedarfe benennen und zielgerichtete Interventionen und Strategien ableiten und in der Folge auch einfordern können. Die systematische Auseinandersetzung mit moralisch entlastenden Interventionen und Strategien in der Bezugnahme zu unterschiedlichen Ursachen der Entstehung moralischen Belastungserlebens
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(und daraus resultierender Handlungsbedarfe) kann bei der Identifikation zielgerichteter Interventionen zur moralischen Entlastung von Nutzen sein. Mögliche Impulse, die die Auseinandersetzung mit moralisch entlastenden Interventionen und Strategien systematisieren und strukturieren können: • Welche Interventionen und/oder Strategien unterstützen Sie dabei, moralischem Belastungserleben vorzubeugen oder dieses zu reduzieren? – auf der individuellen Ebene – auf der Ebene des Teams – auf der Ebene der Leitungsverantwortlichen – auf der Ebene der Organisation • Wie können Sie die Nutzung/den Erfolg der Maßnahmen unterstützen? • Welche Prozesse und Strukturen benötigen Sie dafür in Ihrer Einrichtung/Ihrem Dienst? Dabei verfolgt die Auseinandersetzung mit moralisch entlastenden Interventionen und Strategien folgende Ziele: • Die Teilnehmenden erkennen und formulieren moralisch entlastende Interventionen/ Strategien, die an verschiedenen Ebenen ansetzen. • Die Teilnehmenden erkennen die eigene Verantwortung sowie die Verantwortung des Teams und der Organisation im Kontext der moralischen Entlastung. Das Instrument des Wertekompasses in die Zusammenarbeit im Team einbinden Hintergrund: Da nicht alle Mitglieder der Teams in die partizipative Entwicklung des Wertekompasses eingebunden sind, aber dennoch vom Nutzen des Instrumentes in ihrem professionellen Pflegehandeln profitieren können und da zugleich der einrichtungs-/dienstspezifische Wertekompass nicht nur durch die Einzelperson, sondern auch im Team angewendet werden kann, setzt dies voraus, dass die Kolleg*innen an das Instrument herangeführt sind und das Instrument
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in die Zusammenarbeit des Teams eingebunden ist. Da die partizipierenden Pflegefachpersonen sowohl Expert*innen der Praxis in ihren Einrichtungen/Diensten sind als auch durch die Partizipation im Entwicklungsprozess des Instrumentes Expert*innen für den Wertekompass sind, kann es gewinnbringend sein, bereits in den Arbeitsgruppen Ideen für die Einführung und Verankerung des Instrumentes im Team zu skizzieren, die später durch die partizipierenden Pflegefachpersonen mit- und auszugestalten sind. Mögliche Impulse, die die Auseinandersetzung mit der Einbindung des Wertekompasses in die Zusammenarbeit im Team systematisieren und strukturieren können: • Wie können Sie Kolleg*innen, die nicht in die Arbeitsgruppe eingebunden waren, an das Instrument des Wertekompasses und dessen Anwendung heranführen? • Welches Fallbeispiel scheint Ihnen geeignet, um das Instrument exemplarisch im Team anzuwenden? • Welche Voraussetzungen stellt dies an – Sie als dreijährig examinierte Pflegefachkräfte, – Sie als Team, – Ihre Organisation, damit Sie das Instrument gemeinsam im Team nachhaltig handlungsleitend einbinden und nutzen können?
Dabei verfolgt die Auseinandersetzung mit der Einbindung des Wertekompasses in die Zusammenarbeit im Team folgende Ziele: • Die Teilnehmenden benennen Möglichkeiten, Ihre Kolleg*innen im Team an das Instrument des Wertekompasses heranzuführen und gemeinsam als Team mit diesem zu arbeiten. • Die Teilnehmenden erkennen ihre Eigenverantwortung sowie die Verantwortung des Teams und der Organisation hinsichtlich der nachhaltigen Integration und Anwendung des Instrumentes im professionellen Pflegehandeln. • Die Teilnehmenden haben eine konkrete Vorstellung bzgl. des Vorgehens (Zielgruppe/ Ziele/Inhalte) der Einführung des Wertekompasses im Team, z. B. im Rahmen einer Teamsitzung.
5 Eckpunkte im Prozess der partizipativen …
Neben den didaktischen Eckpunkten sind in der Ausgestaltung des Prozesses der einrichtungs-/ dienstspezifischen Wertekompassentwicklung auch methodische Überlegungen zu treffen.
5.2.4 Methodische Empfehlungen Folgend werden exemplarische methodische Empfehlungen für die Ausgestaltung des Prozesses der Wertekompassentwicklung skizziert, die sich in den partizipativen Arbeitsgruppen angesichts der Zielorientierung der Instrumentenentwicklung sowie der Entwicklung und Stärkung der Ethikkompetenz als tragfähig und gewinnbringend gezeigt haben. Wechselseitiger Bezug zur Praxis der Pflegefachpersonen und Anbindung an theoretische Grundlegungen Grundlegend für die methodische Ausgestaltung ist, die Bedeutsamkeit der Theorie für die Praxis sowie die Wechselbeziehung dieser beiden Bereiche darzulegen und dahingehend im Lernund Entwicklungsprozess die stetige Bezüglichkeit theoretischer Grundlegungen, wie beispielsweise professionsethischer Werte, und praktischer Erfahrungen der Pflegefachpersonen herzustellen (Andersson et al. 2022; Lehmeyer und Riedel 2019; Rabe 2020) sowie wiederkehrende Impulse der ethischen Analyse, Reflexion und Argumentation anzuregen (Riedel und Giese 2017; Rabe 2020), denn: „Verstehen entsteht dann, wenn es eine Hin- und Herbewegung gibt zwischen Erfahrung und Begriff, zwischen Grundlagenwissen und Fallverstehen. Dies ist für die Frage des Verhältnisses von Theorie und Praxis von großer Bedeutung“ (Rabe 2020, S. 151). Die Bedeutsamkeit des Zusammenwirkens von Theorie und Praxis für das Verstehen, Argumentieren und Handeln von Pflegefachpersonen unterstreicht auch Monteverde (2020): „Im Umgang mit Menschen in verschiedensten Lebenslagen übersetzen Pflegende tagtäglich, was Pflege als moralische Praxis im Kern auszeichnet. Die Antworten darauf kritisch zu reflektieren gehört zu den vordringlichsten Aufgaben der Pflegeethik. Nur wenn sie
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diese von innen her versteht, kann sie sich nach außen darüber verständigen“ (Monteverde 2020, S. 41). Um den Bezug von Theorie und Praxis methodisch auszugestalten, kann es beispielsweise hilfreich sein, praktische Erfahrungen der Pflegefachpersonen als Ausgangspunkt aufzugreifen, diese in der Bezugnahme zu und Anbindung an professionelle Werte einer ethischen Analyse und Reflexion zu unterziehen und anschließend wiederum die Bedeutung für die Praxis abzuleiten (Rabe 2020). Dieses Verhältnis zwischen Theorie (exemplarisch die Bezugnahme zu professionellen Werten) und Praxis (exemplarisch das Aufgreifen der Erfahrungen der Pflegefachpersonen) in der methodischen Ausgestaltung aufzugreifen, unterstützt Pflegefachpersonen dabei, das Einnehmen einer professionellen Perspektive einzuüben. Arbeit mit Fallbeispielen Methodisch konkret kann die Bezugnahme zu realen Alltagserfahrungen in der Arbeit mit Fallbeispielen (konstruiert oder aus der Pflegepraxis) stattfinden, die es den Teilnehmenden ermöglicht, die situative moralische Dimension zu identifizieren, sich mit theoretischen Begriffen, mit professionellen Werten in Bezug zu setzen, die konkrete ethische Fragestellung zu formulieren und Abwägungs- und Entscheidungserfordernisse abzuleiten (Rabe 2020; Andersson et al. 2022). Moderierter Diskurs In einem moderierten ethischen Diskurs – beispielsweise zu einer spezifischen moralisch gehaltvollen Situation – können Pflegefachpersonen unterschiedliche Perspektiven einbringen, diskutieren und in Folge zu einem vertieften Verständnis über die ethische Komplexität der Pflegepraxis gelangen. Dies beispielsweise auch, weil die diskursive Auseinandersetzung mit Beispielen aus der eigenen Praxis den Teilnehmenden durch das Einbringen unterschiedlicher Wahrnehmungen und Interpretationen zu ein und derselben Situation eine Perspektiverweiterung eröffnet. Dabei birgt die gemeinsame Auseinandersetzung mit moralisch komplexen und herausfordernden Situationen, mit ethischen Spannungs- und Konflikt-
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feldern auch das Potenzial, sowohl die einzelnen Pflegefachpersonen als auch die Beziehung unter den Kolleg*innen zu stärken. Dies setzt allerdings eine Atmosphäre der Offenheit und des Vertrauens voraus (Andersson et al. 2022).
5.2.5 Instrument und Verfahrensanweisung Das Instrument des einrichtungs-/dienstbezogenen Wertekompasses gliedert sich in zwei zentrale Teile, die nachfolgend abgebildet sind (Abb. 5.1 und 5.2). Bei diesen Abbildungen handelt es sich um einen exemplarischen Wertekompass, der im Rahmen des Forschungsprojektes in einem moderierten Prozess durch die Pflegefachpersonen einer Einrichtung partizipativ erarbeitet wurde. Die jeweils einrichtungs-/dienstspezifischen Instrumente variieren hinsichtlich der im Kompass verankerten Werte dementsprechend, welche Werte für das professionelle Pflegehandeln in der jeweiligen Einrichtung/im jeweiligen Dienst zentral bedeutsam sind und/oder welche Bedeutung den Werten zugeschrieben wird, im Sinne des Werteverständnisses. Die Struktur des Wertekompasses an sich (Abb. 5.1) sowie die Schritte der Identifikation und Analyse moralisch gehaltvoller Situationen (Abb 5.2) wie auch die Verfahrensanweisung (Abb. 5.3, 5.4, 5.5, 5.6 und 5.7) bilden den einrichtungs-/dienstunabhängigen geltenden strukturellen Rahmen des Instrumentes. Teil 1 des Instrumentes (Abb. 5.1) umfasst die zentralen professionsethischen Werte für das professionelle Pflegehandeln in der jeweiligen Einrichtung/im jeweiligen Dienst. Dabei stehen diese Werte situativ immer in einem engen Bezug zur jeweils einzigartigen Pflegesituation, die das Zentrum des Wertekompasses ausmacht. Weiter ist ein ‚Platzhalter‘ für die situative Ergänzung eines weiteren Wertes/weiterer Werte integriert, denn: Nicht immer sind alle Werte situativ (gleichwertig) bedeutsam und/oder gegebenenfalls müssen die im Wertekompass verankerten Werte situativ um einen oder mehrere
M. Goldbach et al.
situativ bedeutsame Werte ergänzt werden. Um dies situationsspezifisch identifizieren und analysieren zu können, dienen die Analyseschritte, die den Kompass in Teil 1 des Instrumentes umrahmen und in Teil 2 des Instrumentes differenziert abgebildet werden. Teil 2 des Instrumentes (Abb 5.2) umfasst die aufeinander aufbauenden Schritte der Identifikation und Analyse moralisch komplexer und herausfordernder Pflegesituationen, die diesen Prozess durch Leitfragen strukturieren, dabei das Einnehmen einer professionellen Perspektive unterstützen sowie die ethische Analyse und Reflexion moralisch gehaltvoller Situationen systematisieren. Die Identifikation und Analyse der moralischen Dimension einer Pflegesituation bietet wiederum die Grundlage für die Identifikation und Analyse der Ursache(n) der situativ und/oder retrospektiv erlebten moralischen Belastung, die Voraussetzung dafür ist, moralisch entlastende Handlungsbedarfe ursachenbezogen abzuleiten und entsprechend zielgerichtete Interventionen der Reduktion moralischen Belastungserlebens einzufordern, zu konzipieren, auszugestalten und zu initiieren. Die Verfahrensanweisung (Abb. 5.3, 5.4, 5.5, 5.6 und 5.7) dient der Sicherheit der Pflegefachperson/des Teams in der korrekten Anwendung des Instrumentes. Vorab wird das Instrument des Wertekompasses definitorisch gerahmt und der Anwendungsbereich sowie die Ziele der Anwendung des Wertekompasses werden dargelegt. Dies dient der Überprüfung, ob es sich beim Wertekompass situativ um das geeignete Instrument handelt oder ob gegebenenfalls andere Interventionen entsprechend den situativen Bedarfen passgenauer sind und in der Folge vorzuziehen sind. Anschließend werden in der Verfahrensanweisung die einzelnen Anwendungsschritte des Wertekompasses differenziert beschrieben und nachvollziehbar dargelegt, dies als Unterstützung dafür, den Prozess der Identifikation und Analyse moralisch komplexer und herausfordernder Situationen sicher und korrekt auszugestalten und durchzuführen.
5 Eckpunkte im Prozess der partizipativen …
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Wertekompass für das professionelle Pflegehandeln Den Wertekompass zur Idenfikaon und Analyse moralisch komplexer und herausfordernder Pflegesituaonen heranziehen und moralisch entlastende Handlungsbedarfe ableiten
Fürsorge
Subjekve Lebensqualität
Sicherheit
Würde Selbstbesmmung
Pflegesituaon
Soziale Teilhabe Verantwortung Gerechgkeit
Abb. 5.1 Exemplarischer Wertekompass für das professionelle Pflegehandeln Teil 1. (Eigene Abbildung 2023)
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M. Goldbach et al.
Wertekompass für das professionelle Pflegehandeln Den Wertekompass zur Idenfikaon und Analyse moralisch komplexer und herausfordernder Pflegesituaonen heranziehen und moralisch entlastende Handlungsbedarfe ableiten
1. Innehalten • Was verunsichert und/oder irriert mich/uns in der Situaon? 2. Hinterfragen • Welche situaven Spannungs- und Konflikelder zeichnen sich ab, die die Verunsicherung/Irritaon verursachen? 3. Idenfizieren • Sind persönliche und/oder professionelle Werte in der Situaon betroffen? Ja
Nein
4. Reflekeren • Wenn persönliche Werte beteiligt sind: Welche sind das? Wie wirken sich diese auf die Wahrnehmung und Einordnung der Situaon aus? 5. Reflekeren • Wenn professionelle Werte beteiligt sind: Sind diese eindeug? Wenn ja, welche sind das? Ja
Nein
6. Unterscheiden • Smmen in der Situaon beteiligte persönliche und professionelle Werte überein? Ja
Nein
7. Analysieren • Können alle beteiligten professionellen Werte in der Situaon gleichwerg und gleichzeig realisiert werden? Nein Ja 8. Analysieren • Können die professionellen Werte unter den situaven Rahmungen realisiert werden? Ja
Nein
9. Wahrnehmen • Erlebe/n ich mich/wir uns (weiterhin) als moralisch belastet? Ja
Nein
10. Ableiten • Was brauche/n ich/wir, um in der Situaon moralische Entlastung zu erfahren?
Sind weder persönliche noch professionelle Werte betroffen, so liegt der Verunsicherung/ Irritaon kein moralischer Gehalt zugrunde und die Bearbeitung der Verunsicherung/Irritaon bedarf anderweiger Strategien
Sind die beteiligten professionellen Werte auch durch die Anwendung des Wertekompasses nicht eindeug zu idenfizieren, so sind anderweige Maßnahmen zu ergreifen, um ethisch und professionell verantwortungsvolles Handeln zu sichern Auch wenn die professionellen Werte situav als handlungsleitend zu verstehen sind, so kann eine Verletzung der persönlichen Werte situav moralisches Belastungserleben erzeugen
Welche Werte bilden das ethische Dilemma ab?
Welche professionellen Werte sind aufgrund der situaven Rahmungen bedroht oder verletzt?
Prüfen Sie, welche Intervenonen geeignet sind, um ethische Handlungssicherheit abzusichern und bestehende Werteverletzungen zu bearbeiten
Abb. 5.2 Exemplarischer Wertekompass für das professionelle Pflegehandeln Teil 2. (Eigene Abbildung 2023)
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Moralisch entlastende Intervenonen in der professionellen Altenpflege Gemeinsam: Strukturen schaffen – Kompetenzen stärken – Entlastung sichern
Verfahrensanweisung für das Instrument „Wertekompass für das professionelle Pflegehandeln“ Definion – Was ist der Wertekompass? Der Wertekompass ist eine Zusammenfassung der professionellen Werte und normaven Orienerungsdirekven, die aus Ihrer Perspekve als dreijährig examinierte Pflegefachkrä
e moralisch gutes und folglich erstrebenswertes professionelles Pflegehandeln kennzeichnen. Der Wertekompass bietet Ihnen somit einen Orienerungsrahmen für Ihr professionelles Pflegehandeln entsprechend Ihrer moralischen Verantwortung. Gleichzeig unterstützt Sie der Wertekompass bei der Idenfikaon und Analyse moralisch komplexer und herausfordernder Situaonen, die in Ihrer alltäglichen Pflegepraxis bei Ihnen möglicherweise eine Verunsicherung und/oder Irritaon auslösen und moralisches Belastungserleben erzeugen (können). Die Verunsicherung und/oder Irritaon in der Konfrontaon mit moralisch gehaltvollen Situaonen ist dabei unbedingt als Ausdruck der ethischen Sensibilität einzuordnen und somit ein Aspekt Ihrer Ethikkompetenz. Die Anwendung des Wertekompasses dient dabei als Grundlegung, um die Ursachen moralischen Belastungserlebens zu idenfizieren, zu analysieren und in Folge ursachenbezogene sowie zielgerichtete moralisch entlastende Intervenonen abzuleiten. Das Instrument des Wertekompasses fördert somit einen akven Umgang mit moralischem Belastungserleben als Teil des professionellen Pflegehandelns. Abb. 5.3 Verfahrensanweisung für den Wertekompass Seite 1. (Eigene Abbildung 2023)
5.2.6 Voraussetzungen für die Anwendung des Wertekompasses Die nachhaltige Integration des Wertekompasses in die Praxis der Pflegefachpersonen und der Teams wie auch die Anwendung des Instrumentes stellen bestimmte Voraussetzungen an die Situation, die anwendenden Pflegefachpersonen, die Leitungsverantwortlichen sowie die Organisation. Grundlegend hierfür ist, dass der Wertekompass in der jeweiligen Einrichtung/dem jeweiligen Dienst systematisch und nachhaltig implementiert wird und alle Pflegefachpersonen in der Anwendung des Instrumentes geschult werden. Weiter setzt die zielgerichtete Anwendung des einrichtungs-/dienstspezifischen Wertekompasses voraus, dass
• es sich um das situativ geeignete Instrument handelt im Sinne des formulierten Anwendungsbereiches. • die Anwendenden über die ethischen Kompetenzen zur Identifikation und Analyse moralisch komplexer und herausfordernder Situationen und zur ursachenbezogenen Ableitung moralisch entlastender Handlungsbedarfe – unter Zuhilfenahme des Instrumentes – verfügen. • das Instrument eine organisationale Verankerung in organisationsethischen Prozessen und Strukturen findet, die den Rahmen für die Anwendung eröffnet. • Leitungsverantwortliche zielgerichtete moralisch entlastende Interventionen für Pflegefachpersonen – entsprechend den identifizierten Handlungsbedarfen – eröffnen und initiieren.
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Anwendungsbereich – Wann wende/n ich/wir den Wertekompass an? Zielgruppe Der Wertekompass kann sowohl - für Sie als dreijährig examinierte Pflegefachkra alleine als auch - gemeinsam im Team Anwendung finden. Anlass der Anwendung Der Wertekompass unterstützt Sie als dreijährig examinierte Pflegefachkra und als Team in Situaonen der Verunsicherung und/oder Irritaon, denen ein moralischer Gehalt zugrunde liegt, bspw. da - aufgrund der Komplexität der Situaon nicht eindeug ist, welche professionellen Werte bedeutsam sind und welches Handeln damit moralisch angemessen und/oder geboten ist, - sich situav ethische Spannungs- und Konflikelder abbilden, etwa weil sich professionelle (und persönliche) Werte gegenüberstehen oder professionelle Werte aufgrund der situaven Rahmungen im Handeln nicht realisiert werden können. Zeitpunkt der Anwendung Den Wertekompass können Sie sowohl - zur Idenfikaon und Analyse in einer konkreten Situaon anwenden, die bei Ihnen eine Verunsicherung und/oder Irritaon – in der Konfrontaon mit dem moralischen Gehalt – erzeugt, als auch - zur retrospekven Idenfikaon und Analyse im Nachgang einer Situaon, wenn bei Ihnen möglicherweise moralisches Belastungserleben nachklingt.
Abb. 5.3 (Fortsetzung)
5.2.7 Fazit der partizipativen Entwicklung eines einrichtungs-/dienstspezifischen Wertekompasses Die Erfahrungen aus dem Prozess der Wertekompassentwicklung sowie die Evaluationsergebnisse der partizipativen Arbeitsgruppen, in denen einrichtungs-/dienstspezifisch das Instrument entwickelt wurde, verweisen auf die positiven Effekte des Instrumentes hinsichtlich der Förderung eines professionellen Umgangs mit moralisch gehaltvollen Situationen entsprechend der moralischen Verantwortung von Pflegefachpersonen und hinsichtlich der Förderung eines professionellen und aktiven Umgangs mit moralischem Belastungserleben. Zugleich wurde im Prozess der Wertekompassentwicklung deutlich, dass die gemeinsame Auseinandersetzung der Pflegefachpersonen mit der eigenen Handlungs-
praxis – in einer Atmosphäre der Offenheit und des Vertrauens – moralisch entlastend wirkt, für die ethischen Aspekte der eigenen Handlungspraxis sensibilisiert und das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer gemeinsam gelebten Ethikkultur, im Sinne des Miteinanders im Team, stärkt. Die Moderation sowie die Begleitung des Prozesses durch eine externe Person haben sich hierbei bezogen auf die Strukturierung und Systematisierung der Auseinandersetzung als zuträglich gezeigt und die stetige Fokussierung einer professionellen Perspektive abgesichert. Die positiven Erfahrungen aus dem Prozess der Wertekompassentwicklung sowie die Rückmeldungen der Partizipierenden verdeutlichen den Gewinn einer einrichtungs-/dienstspezifischen Wertekompassentwicklung – sowohl durch das Instrument als auch durch den Prozess an sich – der für alle pflegebezogenen Settings bedeutsam ist.
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Moralisch entlastende Intervenonen in der professionellen Altenpflege Gemeinsam: Strukturen schaffen – Kompetenzen stärken – Entlastung sichern
Ziele der Arbeit mit dem Wertekompass – Wie binde/n ich/wir den Wertekompass in mein/unser Pflegehandeln ein? Der von uns entwickelte Wertekompass für das professionelle Pflegehandeln unterstützt mich/uns dabei, in Situaonen moralischer Verunsicherung und/oder Irritaon -
die moralische Dimension der Pflegesituaon aus pflegeprofessioneller Perspekve zu idenfizieren, in moralisch komplexen und herausfordernden Situaonen professionelle ethische Spannungs- und Konflikelder zu besmmen.
in moralisch komplexen und herausfordernden Situaonen -
die beteiligten professionellen Werte in der Pflegesituaon zu idenfizieren, den Einfluss persönlicher Wertehaltungen zu erkennen und einzuordnen, die beteiligten professionellen Werte in der Pflegesituaon von persönlichen Wertehaltungen und (Be-)Wertungen in Bezug auf diese Situaon zu unterscheiden, die Bezugnahme auf ausschließlich professionelle Werte in der Pflegesituaon herauszuarbeiten und diese im Argumeneren und Abwägen ins Zentrum zu stellen, Handlungsfähigkeit und Handlungssicherheit entsprechend meiner/unserer situaven moralischen Verantwortung zu erlangen.
in Bezug auf das subjekve moralische Belastungserleben -
den Auslöser für die eigene situave moralische Belastung zu erkennen, die eigene situave moralische Belastung gegenüber anderen zur Sprache zu bringen, die für die moralische Entlastung relevanten Handlungsbedarfe auszumachen und anzuregen.
Abb. 5.4 Verfahrensanweisung für den Wertekompass Seite 2. (Eigene Abbildung 2023)
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M. Goldbach et al. Moralisch entlastende Intervenonen in der professionellen Altenpflege Gemeinsam: Strukturen schaffen – Kompetenzen stärken – Entlastung sichern
Anwendung des Wertekompasses – Wie arbeite/n ich/wir mit dem Wertekompass? Sehen Sie sich mit einer Situaon konfronert, die Sie als dreijährig examinierte Pflegefachkra oder auch als Team verunsichert und/oder irriert, so handelt es sich möglicherweise um eine Situaon mit moralischem Gehalt. Dies gilt es unter Zuhilfenahme des Wertekompasses zu hinterfragen sowie die moralische Dimension der Situaon zu idenfizieren und zu analysieren. Um die einzelnen Analyseschrie nachvollziehbar und für das Gespräch mit anderen transparent festzuhalten sowie in die pflegeprofessionelle Argumentaon einbringen zu können, ist es hilfreich, die Ergebnisse der folgenden 10 Anwendungsschrie schwortarg auf einem gesonderten Papier zu noeren. 1. Innehalten • Was verunsichert und/oder irriert mich/uns in der Situaon?
Der erste Schri der Anwendung des Wertekompasses zielt darauf ab, in einer Situaon der Verunsicherung und/oder Irritaon innezuhalten und die auslösenden Faktoren der Verunsicherung und/oder Irritaon möglichst konkret zu erfassen und zu benennen. 2. Hinterfragen • Welche situaven Spannungs- und Konflikelder zeichnen sich ab, die die Verunsicherung/Irritaon verursachen?
Häufig sind Spannungs- und Konflikelder die Ursache für Verunsicherungen und/oder Irritaonen in der professionellen Pflegepraxis. Der zweite Analyseschri unterstützt Sie dabei, den Hintergrund der Verunsicherung und/oder Irritaon zu hinterfragen und die zugrunde liegenden Spannungs- und Konflikelder zu skizzieren, um die Komplexität der Situaon möglichst objekv abzubilden. In diesem Schri kann es möglicherweise auch notwendig sein, mögliche Aspekte der Spannungs- und Konfliktfelder aus einer pflegefachlichen Perspekve einzuschätzen und abzuklären. Abb. 5.5 Verfahrensanweisung für den Wertekompass Seite 3. (Eigene Abbildung 2023)
5 Eckpunkte im Prozess der partizipativen …
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3. Idenfizieren • Sind persönliche und/oder professionelle Werte in der Situaon betroffen?
Ein zentraler Schri der Idenfikaon moralisch gehaltvoller Situaonen ist die Idenfikaon beteiligter Werte, die den moralischen Gehalt der Situaon ausmachen. Sind weder persönliche noch professionelle Werte betroffen, so liegt der Verunsicherung und/oder Irritaon kein moralischer Gehalt zugrunde. Dennoch kann die Situaon als belastend erlebt werden. Die Auseinandersetzung mit der Verunsicherung und/oder Irritaon erfordert somit unbedingt das Ergreifen anderweiger angemessener Umgangs- und Bearbeitungsstrategien, um die situaonsbezogene Belastung zu reduzieren. 4. Reflekeren • Wenn persönliche Werte beteiligt sind: Welche sind das? Wie wirken sich diese auf die Wahrnehmung und Einordnung der Situaon aus?
Möglicherweise leiten Sie Ihre ganz persönlichen individuellen Werte. Reflekeren Sie, ob Ihre persönlichen Werte in der Situaon für Sie von Bedeutung sind, und wenn ja, um welche Werte es sich dabei handelt und wie sich diese auf die Wahrnehmung und Einordnung der Situaon auswirken. Abb. 5.5 (Fortsetzung)
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M. Goldbach et al. Moralisch entlastende Intervenonen in der professionellen Altenpflege Gemeinsam: Strukturen schaffen – Kompetenzen stärken – Entlastung sichern
5. Reflekeren • Wenn professionelle Werte beteiligt sind: Sind diese eindeug? Wenn ja, welche sind das?
Reflekeren Sie, ob in der Situaon professionelle Werte beteiligt sind und ob sich diese eindeug abbilden. Nehmen Sie dabei den von Ihnen entwickelten Wertekompass zur Hilfe, der die zentralen Werte für Ihr professionelles Pflegehandeln in Ihrer Einrichtung/in Ihrem Dienst umfasst. Dabei kann es ggf. notwendig sein, die Werte im Kompass weiter zu ergänzen, da nicht alle in der Situaon bedeutsamen Werte erfasst und verankert sind. Hierfür ist im Wertekompass ein Platzhalter integriert. Bilden sich die beteiligten professionellen Werte für Sie als eindeug ab, so halten Sie fest, um welche Werte es sich dabei handelt. Unter Umständen können Sie die beteiligten professionellen Werte auch durch die Anwendung des Wertekompasses nicht eindeug idenfizieren, etwa weil sich die Situaon sehr komplex gestaltet. In diesem Fall sind unumgänglich Maßnahmen zu ergreifen, um die situav geltenden Werte zu idenfizieren und so ein ethisch reflekertes und begründetes Handeln – entsprechend ihrer moralischen Verantwortung – zu ermöglichen und abzusichern. Fahren Sie in diesem Fall im Anschluss mit Schri 9 der Leiragen fort. 6. Unterscheiden • Smmen in der Situaon beteiligte persönliche und professionelle Werte überein?
Professionelles Pflegehandeln zeichnet sich neben einer qualitätsvollen fachlichen Pflege sowie der Orienerung an den Bedürfnissen und Wünschen des pflegebedürigen Menschen, auch durch die Realisierung professioneller Werte aus. Deshalb ist es unumgänglich, persönliche Werte, die in der Wahrnehmung und Einordnung der Situaon möglicherweise mitwirken, im Zusammenwirken mit den professionellen Werten in den Blick zu nehmen. Professionelle Werte sind für das Pflegehandeln stets übergeordnet leitend, auch wenn diese ggf. nicht mit den persönlichen Werten übereinsmmen. In diesen Fällen bedeutet dies auch, dass persönliche Werte zurückgestellt werden müssen. Gleichsam kann eine Bedrohung oder gar Verletzung Ihrer persönlichen Werte im professionellen Pflegehandeln moralisches Belastungserleben erzeugen. Fahren Sie in diesem Fall mit Schri 9 der Leiragen fort. 7. Analysieren • Können alle beteiligten professionellen Werte in der Situaon gleichwerg und gleichzeig realisiert werden?
In diesem Schri analysieren Sie, ob alle in der Situaon beteiligten professionellen Werte als gleichwerg einzuordnen sind und ob Sie allen Werten im professionellen Pflegehandeln gleichzeig Geltung verschaffen können. Stehen sich professionelle Werte in der Situaon unvereinbar gegenüber, benennen Sie, welche Werte hier das ethische Dilemma darstellen. Fahren Sie in diesem Fall mit Schri 9 der Leiragen fort. Abb. 5.6 Verfahrensanweisung für den Wertekompass Seite 4. (Eigene Abbildung 2023)
5 Eckpunkte im Prozess der partizipativen …
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Moralisch entlastende Intervenonen in der professionellen Altenpflege Gemeinsam: Strukturen schaffen – Kompetenzen stärken – Entlastung sichern
8. Analysieren • Können die professionellen Werte unter den situaven Rahmungen realisiert werden?
In diesem Schri analysieren Sie, ob Sie die professionellen Werte, die in der Situaon beteiligt sind, unter den situaven Rahmungen in Ihrem professionellen Pflegehandeln realisieren können. Wird Ihnen deutlich, dass Sie einen oder mehrere situav beteiligte/n Wert/e aufgrund der Rahmungen der Situaon in Ihrem Handeln nicht realisieren können, benennen Sie, welche Werte Sie als bedroht oder verletzt sehen. 9. Wahrnehmen • Erlebe/n ich mich/wir uns (weiterhin) als moralisch belastet?
In diesem Schri gilt es, achtsam und sensibel wahrzunehmen, inwieweit die Situaon bei Ihnen als dreijährig examinierte Pflegefachkra bzw. als Team (weiterhin) moralisches Belastungserleben auslöst bzw. ob die erlebte moralische Belastung auch nach der Idenfikaon und Analyse der situaven moralischen Dimension weiter anhält. 10. Ableiten • Was brauche/n ich/wir, um in der Situaon moralische Entlastung zu erfahren?
In Anbetracht des möglicherweise mit der Situaon verbundenen bzw. nachklingenden moralischen Belastungserlebens ist abzuleiten, was Sie situav bzw. im Nachgang der Situaon benögen, um moralische Entlastung zu erfahren. Nehmen Sie hierfür die Ursachen Ihres moralischen Belastungserlebens in den Blick, die Sie durch die vorangegangenen Schrie idenfiziert und analysiert haben. In der Folge sind entsprechende Maßnahmen zu iniieren und das moralische Belastungserleben mit anderen (im Team/mit Leitungspersonen) zu themasieren. Wichg ist es, auf dieser Grundlage angemessene Unterstützungsmöglichkeiten ausfindig zu machen und deren zeitnahe Umsetzung anzuregen. Wichg: Verändert sich eine Situaon im Nachgang der situaven Anwendung des Wertekompasses, beispielsweise aufgrund einer Veränderung des Gesundheitszustandes des pflegebedürigen Menschen oder der situaven Involvierung weiterer Personen, so kann dies auch eine Veränderung des situaven moralischen Gehalts bewirken und damit eine erneute Anwendung des Wertekompasses notwendig machen. Abb. 5.7 Verfahrensanweisung für den Wertekompass Seite 5. (Eigene Abbildung 2023)
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Moralisches Belastungserleben als Gegenstand von Mitarbeitendengesprächen Ein Instrument für Führungspersonen Karen Klotz, Annette Riedel, Magdalene Goldbach und Sonja Lehmeyer Zusammenfassung
Mitarbeitendengespräche stellen als Gesprächs- und Begegnungsrahmen eine Möglichkeit für Führungsverantwortliche dar, das seitens der Mitarbeitenden subjektiv erlebte oder seitens der Führungsperson vermutete moralische Belastungserleben in einem geschützten Rahmen zu thematisieren. Wie das Thema des moralischen Belastungserlebens im Rahmen eines Mitarbeitendengespräches systematisch integriert und aufgegriffen werden kann, wird praxisorientiert anhand eines Instruments und der zugehörigen Verfahrensanweisung aufgezeigt. Es wird ein handlungsleitendes Instrument vorgelegt, das von Führungsverantwortlichen genutzt werden kann, um den Gesprächsprozess (Vorbereitung, Durchführung, Nachbereitung) bewusst und reflektiert zu gestalten. Ziel des Beitrages ist
K. Klotz · A. Riedel (*) · M. Goldbach · S. Lehmeyer Hochschule Esslingen, Soziale Arbeit, Bildung und Pflege, Esslingen, Deutschland E-Mail: [email protected] K. Klotz E-Mail: [email protected] M. Goldbach E-Mail: [email protected] S. Lehmeyer E-Mail: [email protected]
es, die Bedeutsamkeit und Rolle von Mitarbeitendengesprächen darzulegen, einerseits als Rahmen zur Identifikation und Thematisierung moralischen Belastungserlebens und andererseits, um relevante Entlastungsoptionen aufzuzeigen.
6.1 Einführung Obgleich moralisches Belastungserleben ein individuelles Phänomen darstellt, das in seiner Ausprägung und der subjektiven Wahrnehmung des Erlebten variiert, kann der Umgang mit moralischen Herausforderungen – als relevante und mitunter gravierende Stressoren des Pflegealltags – keinesfalls auf die Verantwortungsebene des Individuums, der Pflegefachpersonen reduziert werden, sondern fordert parallel die Verantwortungsübernahme der Führungs- und Leitungspersonen1. Eine solche geteilte Verantwortung lässt sich aus ethischer Sicht unter anderem mit den Ausführungen im ICN-Ethikkodex begründen. Pflegefachpersonen und ganz besonders auch Führungsverantwortliche werden gemäß dem Kodex dazu angehalten, „ethische Verhaltensweisen“ und „Strategien“ zu entwickeln, um
1 Vgl.
hierzu zum Beispiel: Baumann-Hölzle und Gregorowius (2022); Klotz et al. (2022); Riedel und Lehmeyer 2022a, b (2021a, b); Riedel et al. (2022).
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 125 A. Riedel et al. (Hrsg.), Moralische Belastung von Pflegefachpersonen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67049-1_6
6
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„in aufkommenden Krisen wie Pandemien oder Konflikten mit moralischem Stress umzugehen“ (ICN 2021, S. 17) und um (nicht zuletzt im Rahmen der Mitarbeitendenfürsorge) für „die Sicherheit am Arbeitsplatz“ (ICN 2021, S. 12) zu sorgen. Dabei wird eine geteilte Verantwortung hinsichtlich „der Schaffung einer positiven und konstruktiven Arbeitsumgebung [vorgegeben], welche die klinische Pflege, die Ausbildung, die Forschung, das Management und die Führung umfasst“ (ICN 2021, S. 16). Diese geteilte Verantwortung kann im Rahmen von Mitarbeitendengesprächen aufgegriffen und aus beiden Perspektiven heraus reflektiert werden, indem zum Beispiel folgende Fragen das Gespräch begleiten: Welche Strategien stehen mir als Mitarbeiter*in zur Verfügung und welche ethischen Verhaltensweisen praktiziere ich im Umgang mit meinem moralischen Belastungserleben? Was muss ich als Führungsperson an der Arbeitsumgebung, an den Arbeitsbedingungen, im Kontext der Organisationsethik und der Ethikkultur verändern, um moralisches Belastungserleben meiner Mitarbeitenden zu reduzieren und zu präventieren? Nachfolgend werden Mitarbeitendengespräche als eine Interventionsmöglichkeit für Führungsverantwortliche vorgestellt, da sie den Gesprächs- und Begegnungsrahmen dahingehend eröffnen, seitens der Mitarbeitenden subjektiv erlebte oder seitens der Führungsperson vermutete moralische Belastungen in einem geschützten Rahmen zu thematisieren. Wie das Thema des moralischen Belastungserlebens im Rahmen eines Mitarbeitendengespräches integriert und aufgegriffen werden kann, soll praxisorientiert anhand eines Instruments und der zugehörigen Verfahrensanweisung aufgezeigt werden. Intendiert ist, hiermit ein handlungsleitendes Instrument vorzulegen, das von Führungsverantwortlichen genutzt werden kann, um den Gesprächsprozess (Vorbereitung, Durchführung, Nachbereitung) bewusst und reflektiert zu gestalten. Ziel des Beitrages ist es, die Bedeutsamkeit und Rolle von Mitarbeitendengesprächen – einerseits als Rahmen zur Identifikation und Thematisierung moralischen Belastungserlebens
K. Klotz et al.
und andererseits, um relevante Entlastungsoptionen aufzuzeigen – darzulegen.
6.2 Die Bedeutsamkeit von Mitarbeitendengesprächen im Sinne einer geteilten Verantwortung In Anbetracht des Fachkräftemangels2, der verschiedenen (und vielfach krankmachenden) Formen der Belastung (Rennert et al. 2022; Drupp et al. 2021; Stemmer 2021; Schmucker 2020), aber auch hinsichtlich der gravierenden Mängel der Arbeitsqualität (Stemmer 2021; Schmucker 2020), der reduzierten Arbeitszufriedenheit (Rennert et al. 2022) und der Gratifikationskrise (Schmucker 2020), die aktuell in den Pflegeberufen zu konstatieren sind und die Versorgungsqualität reduzieren, ist die Verantwortung der Führungspersonen für die Mitarbeitenden in den Einrichtungen und Diensten evident. Diese geteilte Verantwortung – seitens der Pflegefach- und der Führungspersonen – wird auch im ICN-Ethikkodex deutlich: „Pflegefachpersonen wertschätzen ihre eigene Würde, ihr Wohlbefinden und ihre Gesundheit. Dazu brauchen sie ein positives Arbeitsumfeld, das von professioneller Anerkennung, Ausbildung, Reflexion, Strukturen zur Unterstützung, einer angemessenen Ausstattung an Ressourcen, vernünftigen Managementpraktiken sowie Arbeitssicherheitsmaßnahmen geprägt ist“ (ICN 2021, S. 13). Wenige Seiten weiter wird im ICN EthikKodex formuliert: Pflegefachpersonen „wenden ethische Verhaltensweisen an und entwickeln Strategien, um in aufkommenden Krisen (…) oder Konflikten mit moralischen Belastungen umzugehen“ (ICN 2021, S. 13). Deutlich wird hier sowohl die Verantwortung der Führungspersonen, die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, wie auch die Verantwortung der Pflegefachpersonen Strategien im Umgang mit
2 Vgl.
hierzu zum Beispiel: Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung in der Pflege (2023); Drupp et al. (2021); Bonin (2020); Schwinger et al. (2020); Drupp und Meyer (2020).
6 Moralisches Belastungserleben als Gegenstand …
moralischen Belastungen zu entwickeln. Diese Entwicklung wiederum ist auf entsprechende Strukturen und auch Bildungsangebote angewiesen. Vor dem Hintergrund der prekären Lage in der Pflege muss das erforderliche Interesse und die Verantwortung von Führungsverantwortlichen – hinsichtlich des Erkennens und des Umgangs mit moralischen Belastungen ihrer Mitarbeitenden (Klotz et al. 2022; Riedel und Lehmeyer 2022 a 2021a; Wöhlke 2018) – einen angemessenen Stellewert erfahren. Wenngleich moralisches Belastungserleben im Kontext der Darlegungen pflegeberuflicher Belastungen nicht explizit benannt wird3, so zeigen vorliegende Studien, dass sich moralisches Belastungserleben ebenfalls auf die Gesundheit, die Berufszufriedenheit und die Versorgungsqualität auswirkt. Dazu gehören unter anderem die Beeinträchtigungen der physischen, emotionalen und psychischen Gesundheit4, die bis hin zum Burnout5, zur Berufsflucht (Hossain und Clatty 2021; Oh und Gastmans 2015; Rushton et al. 2021) und einer verminderten Pflegequalität6 führen können. In der Folge sind sowohl die pflegerische Versorgung als auch die Gesundheit der Pflegefachpersonen beeinträchtigt. Deutlich ist, dass moralisches Belastungserleben die eingangs beschriebenen negativen Faktoren und Effekte verstärken kann bzw. dass die gesundheitlichen und persönlichen Effekte und Konsequenzen für die Pflegefachpersonen, die aus den strukturellen Defiziten und Restriktionen
3 So zum Beispiel in: Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2023); Rennert et al. (2022); Drupp et al. (2021); Stemmer (2021); Schmucker (2020). 4 Vgl. hierzu: Hossain und Clatty (2021); KleinknechtDolf et al. (2017); Oh und Gastmans (2015); Pauly et al. (2012); Rushton et al. (2016); Smallwood et al. (2021); Sriharan et al. (2021); Vittone und Sotomayor (2021). 5 Vgl. hierzu: Epstein und Delgado (2010); Hamric (2012); Kleinknecht-Dolf et al. (2015, 2017); Lützén und Kvist (2012); Monteverde (2019, 2020). 6 Vgl.
hierzu: Cousins et al. (2020); Donkers et al. (2021); Mert (2021); Miljeteig et al. (2021); Monteverde (2020); Riedel und Lehmeyer 2022a (2021a); Rushton et al. (2015).
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resultieren, mit den Effekten und Konsequenzen des moralischen Belastungserlebens vergleichbar sind. Beide Gegebenheiten und Phänomene führen zudem zu einer Reduktion der Pflegeund Versorgungsqualität. Diese Wahrnehmung wiederum kann das moralische Belastungserleben der Pflegefachpersonen darüber hinaus verstärken. Und: Insbesondere dann, wenn Pflegefachpersonen durch einen unzureichenden Umgang mit moralischen Belastungen sich zum Schutz ihrer selbst dazu angehalten fühlen, den Beruf zu verlassen, werden sich die Personalkrise und die damit verbundenen gravierenden Folgen weiter zuspitzen. Es ist folglich grundlegend, dass es entsprechender Strukturen und Prozesse im Rahmen der Organisationsethik bedarf, die durch die Führungsverantwortlichen einer Organisation mitgetragen und gefördert werden, sodass Raum für moralische Entlastung entstehen kann und für Mitarbeitende erlebbar wird7. Organisationsethik bildet die Grundlage für Rahmungen und Strukturen, die eine geteilte Verantwortung eröffnen, in der ethische Herausforderungen, moralisches Belastungserleben und Bedarfe der ethischen Reflexion und Abwägung einen Raum finden. Angesichts der ausgeführten Zusammenhänge ist die – bereits oben begründete – geteilte Verantwortung für den Umgang mit den moralischen An- und Herausforderungen des Arbeitsalltags sowie den mitunter daraus resultierenden moralischen Belastungen evident. Die geteilte Verantwortung, die sowohl die Pflegefach- wie auch die Führungspersonen betrifft, bedarf einer Rahmung, eines Ortes der Darlegung der moralischen Belastungen sowie der Aushandlung und Zusicherung entlastender Interventionen. Einen solchen Rahmen stellen Mitarbeitendengespräche dar. Mitarbeitendengespräche können als Chance und als wichtiges Element zur moralischen Entlastung der Pflegefachpersonen eingeordnet werden, dann, wenn moralisches Belastungserleben,
7 Vgl. hierzu: Bobbert (2019); Klotz et al. (2022); Riedel et al. (2022); Riedel und Lehmeyer 2022b (2021b); Woellert (2022).
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ethische Herausforderungen und die damit für die Mitarbeitenden verbundenen Effekte in den Gesprächen explizit aufgegriffen oder direkt thematisiert werden. Hierfür sind sowohl anlassbezogene wie auch institutionalisierte/regelmäßige Mitarbeitendengespräche denkbar, denn in beiden Formaten kann moralisches Belastungserleben eine Rolle spielen und zum Gesprächsgegenstand erhoben werden. Übergreifend sind im hiesigen Kontext der Thematik drei Facetten bedeutsam: • Mitarbeitendengespräche als Aufgabe im Rahmen der Führungsverantwortung • Mitarbeitendengespräche als Beitrag zur Gesundheitsförderung • Mitarbeitendengespräche als Element einer gelebten Organisationsethik und Teil der Ethikkultur Das regelmäßige Führen von Mitarbeitendengesprächen sichert die Wahrnehmung der Mitarbeitendenperspektive ab und ermöglicht es den Führungsverantwortlichen, moralische Belast ungsfaktoren wie auch Gesundheitsgefährdungen im Dialog mit den Mitarbeitenden zu erfassen. Das heißt: Im Rahmen der Gesundheitsförderung, zum Erhalt wie auch der Verbesserung von Wohlbefinden und Arbeitsfähigkeit, aber auch in Bezug auf die Reduktion von Stress und weiteren Formen der Belastung, spielt das Mitarbeitendengespräch angesichts dessen eine zentrale Rolle, dass Themen im Zusammenhang mit gesundheitsförderlichen Arbeitsbedingungen direkt angesprochen, Ressourcen identifiziert und unterstützende wie auch entlastende Maßnahmen konsentiert werden können. Dies ist vor dem folgenden Hintergrund bedeutsam: „Führungskräfte müssen sich bewusst machen, dass sie neben formalen Verantwortlichkeiten auch durch ihr Handeln direkten Einfluss auf die Gesundheit der Beschäftigten haben. Hierbei geht es neben der Schaffung von guten, gesundheitsfördernden
K. Klotz et al.
ahmenbedingungen auch um das Thema KomR munikation und Führung“ (Prölß 2019, S. 247). Das Mitarbeitendengespräch kann somit ein Element zur Sicherung der Mitarbeitendengesundheit darstellen, indem es Optionen aufzeigt, wie das moralische Belastungserleben reduziert und/ oder präventiert werden kann. Mitarbeitendengespräche können auch als ein Teil der gelebten Organisationsethik und der Ethikkultur deklariert werden angesichts dessen, dass die Führungsperson neben der Leistungsfähigkeit, den persönlichen Entwicklungspotenzialen, der Mitarbeitendenzufriedenheit usw. explizit auch die ethischen Herausforderungen und moralischen Belastungserfahrungen thematisiert, Interventionen zur Entlastung anbietet und in der Folge fehlende Strukturen der Ethikberatung zeitnah etabliert und/oder nachhaltig stabilisiert. Angesichts der alltäglichen und vielfältigen komplexen ethischen Herausforderungen im pflegeberuflichen Entscheiden und Handeln (Riedel et al. 2022; Monteverde 2019) kann es im Gesprächsverlauf einerseits bereits deutliche Indikatoren für moralisches Belastungserleben geben, die seitens der Führungsverantwortlichen sensibel aufgegriffen werden müssen und als Anlass für die Thematisierung der Belastung dienen. Das heißt auch: Die Führungsperson muss über ethische Kompetenzen verfügen, um ethisch komplexe Situationen erkennen und analysieren zu können, aber auch um resilienzfördernde Maßnahmen ableiten zu können (American Nurses Association 2017). Andererseits ist es die Verantwortung der Führungsperson, potenzielles moralisches Belastungserleben innerhalb des Gesprächsverlaufes systematisiert zu identifizieren und zu erfassen, um die dargestellten negativen Effekte zu reduzieren und die Gesunderhaltung sowie Berufszufriedenheit der Pflegefachperson wie auch die Pflege- sowie Versorgungsqualität der zu Pflegenden abzusichern. Hilfreich sind hierfür gesprächsleitende Instrumente, die sowohl die Vorbereitung, die Durchführung wie auch die Nachbereitung unterstützen und strukturieren.
6 Moralisches Belastungserleben als Gegenstand …
Das entwickelte und im Folgenden dargestellte Instrument inklusive der dazugehörigen Verfahrensanweisung kann die führungsverantwortlichen Personen im umfassenden Prozess der Gesprächsgestaltung begleiten und zur Reflexion des Gesprächsverlaufes anregen.
6.3 Das unterstützende Instrument zur Thematisierung des moralischen Belastungserlebens und möglicher entlastender Interventionen im Mitarbeitendengespräch Angesichts der vorausgehend dargelegten Bedeutsamkeit, als Führungsperson das moralische Belastungserleben der Pflegefachpersonen als äußerst beachtliches Phänomen einzustufen, ist diesbezüglich die verantwortungsvolle und sensible Wahrnehmung, Identifikation und Konturierung gefordert. Einen möglichen Rahmen, um moralisches Belastungserleben anzusprechen bzw. zu erfassen, bilden die in den meisten Einrichtungen regelmäßig angebotenen institutionalisierten, aber auch die anlassbezogenen Mitarbeitendengespräche. Das folgende „Instrument zur Thematisierung moralischer Belastungen und der notwendigen entlastenden Maßnahmen im Rahmen eines Mitarbeitendengesprächs“ mit seinen Elementen und der dazugehörigen Verfahrensanweisung kann den Führungskräften dazu dienen, das Thema gezielt in den Gesprächsverlauf zu integrieren. Zunächst wird das gesamte Instrument mit seinen dazugehörigen Elementen für die Vorbereitung und Durchführung des Mitarbeitendengesprächs abgebildet. Im Anschluss daran wird direkt die Verfahrensanweisung für das Instrument ausgeführt. Die Darlegungen in der Verfahrensanweisung erläutern die Elemente und Items des Instrumentes und unterstützen die Führungsperson bei der Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung des.
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6.3.1 Das Instrument zur Thematisierung moralischer Belastungen und der notwendigen entlastenden Maßnahmen im Rahmen eines Mitarbeitendengesprächs Zielgruppe Das Instrument richtet sich an führungsverantwortliche Personen im Bereich der professionellen Pflege, die Mitarbeitendengespräche führen. Anlass der Anwendung Das Instrument kann zum Einsatz kommen, wenn Sie moralische Belastungen in einem Mitarbeitendengespräch thematisieren möchten, um gezielt und verantwortungsvoll zur moralischen Entlastung Ihrer Mitarbeitenden beizutragen. Das Instrument bzw. die jeweils als unterstützend eingestuften Teile des Instruments können in der Vorbereitung, der Durchführung und der Nachbereitung des Mitarbeitendengesprächs Anwendung finden bzw. einbezogen werden. Dabei bildet die Ethikkultur der Organisation die Grundlage für die nachhaltige Nutzung des Instruments bzw. der Mitarbeitendengespräche, als moralisch entlastende Intervention. Denn: Wird Ihnen im Vorfeld des Gespräches deutlich, dass Sie keine entlastenden Interventionen anbieten können, zum Beispiel weil Ihnen die organisationsethischen Strukturen und Rahmungen fehlen oder die Ethikkultur nicht umgesetzt wird/werden kann, dann müssen Sie zunächst die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Sie zeitnah die notwendigen moralischen Entlastungsangebote auch unterbreiten können. Das Instrument sensibilisiert Sie bewusst für potenzielles moralisches Belastungserleben bei Ihren Mitarbeitenden, sodass Ihnen möglicherweise angesichts der anstehenden Mitarbeitendengespräche der Handlungsdruck und die damit verbundene Führungsverantwortung in Bezug auf die Organisationsethik und Ethikkultur in der von Ihnen geleiteten Einrichtung bewusst werden.
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Gesprächsziele Durch die Mitarbeitendengespräche rücken die folgenden Gesprächsziele in den Mittelpunkt: • Anerkennung und Wertschätzung gegenüber den Mitarbeitenden zeigen (Janas und Mayerhofer 2014; Zenz und Becke 2021): moralische Belastungen als Herausforderungen des Pflegealltags anerkennen. • Über moralisch belastende Arbeitssituationen und Arbeitsinhalte in den Austausch kommen (Welk 2015; Zenz und Becke 2021): mit Mitarbeitenden Situationen/Konstellationen identifizieren, die sie als moralisch belastend wahrnehmen. • Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten besprechen (Janas und Mayerhofer 2014; Welk 2015): im Rahmen der Personalentwicklung Mitarbeitenden Fort- und Weiterbildungsangebote anbieten, die zur ethischen Kompetenzförderung und zur moralischen Entlastung beitragen. • Zur Konfliktlösung beitragen (Welk 2015): ethische Konflikte (im Team) erfassen, thematisieren und bearbeiten. • „Standortbestimmung“ (Janas und Mayerhofer 2014): für Mitarbeitende eine Verortung eröffnen, indem subjektive moralische Belastungen auf dem Kontinuum moralischen Belastungserlebens erfasst werden. • Strategische Organisations- und Unternehmensentwicklung anbahnen (Welk 2015): bessere Rahmenbedingungen schaffen und Maßnahmen zur Etablierung einer Organisationsethik ableiten. • Gesundheitsförderung und Prävention realisieren (Zenz und Becke 2021): das Gespräch als Teilaspekt einer Gefährdungsbeurteilung nutzen und individuelle Maßnahmen zur (moralischen) Entlastung und somit zur Gesundheitsförderung nutzen. Anwendungshinweise Der Prozess eines Mitarbeitendengesprächs kann in drei Phasen untergliedert werden: die Vorbereitung, die Durchführung und die Nachbereitung (Abb. 6.2). Das Instrument und die Verfahrensanweisung können und sollen genutzt werden, um Sie bestmöglich durch den
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g esamten Prozess zu begleiten und um Ihnen die relevanten Hintergründe zu erläutern. Entsprechend dieser drei Phasen gliedert sich das Instrument in: • Die Vorbereitungsphase (grün) (Element 1) • Flussdiagramm: Fragen, die ich mir als führungsverantwortliche Person vor dem Mitarbeitendengespräch stellen muss (Abb. 6.1) • Die Durchführungsphase (gelb) (Element 2) • Leitfaden: Moralische Belastungen und Entlastungsmöglichkeiten in Mitarbeitendengesprächen thematisieren (Tab. 6.1) • Die Nachbereitungsphase (blau) (Element 3) • Tabelle: Als Führungsverantwortliche die unterbreiteten, moralisch entlastenden Maßnahmen in die Wege leiten (Tab. 6.2)
6.3.2 Verfahrensanweisung für das Instrument zur Thematisierung moralischer Belastungen und der notwendigen entlastenden Maßnahmen im Rahmen eines Mitarbeitendengesprächs Der Prozess eines Mitarbeitendengesprächs beginnt mit der Vorbereitungsphase. Dabei spielen bereits Überlegungen eine Rolle, die sowohl die Durchführungs- als auch die Nachbereitungsphase betreffen. Vorbereitungsphase Das Flussdiagramm (Abb. 6.1: Element 1: Fragen in der Vorbereitung des Mitarbeitendengesprächs) soll Sie als führungsverantwortliche Person darin unterstützen zu ermessen, ob die Thematisierung moralischer Belastungen im Rahmen eines anstehenden Mitarbeitendengesprächs angemessen ist. Die folgenden Ausführungen sollen Sie durch die aufeinanderfolgenden Schritte begleiten. Nachfolgend werden die Fragen in der Abb. 6.1 differenzierter ausgeführt und somit die Relevanz dieser unterstrichen. Die Frage 1 soll Ihnen als Denkanstoß dienen: Erscheint es aus Ihrer Sicht wahrscheinlich, dass die Mitarbeiterin/der Mitarbeiter
6 Moralisches Belastungserleben als Gegenstand …
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Fragen, die ich mir als führungsverantwortliche Person vor dem Mitarbeitendengespräch stellen muss: 1. Habe ich konkreten Anlass zu vermuten, dass sich die Mitarbeiterin/der Mitarbeiter moralisch belastet fühlt?
Nein
Die Mitarbeiterin/der Mitarbeiter/kann sich trotzdem moralisch belastet fühlen, fahren Sie fort.
Nein
Thema sieren Sie moralische Belastungen im kommenden Mitarbeitendengespräch nicht. Setzen Sie sich dafür ein, dass in Ihrer Einrichtung organisa onsethische Prozesse und Strukturen eingerichtet werden, die zur moralischen Entlastung beitragen.
Nein
Thema sieren Sie moralische Belastungen im auommenden Gespräch nicht. Überlegen Sie stadessen, ob es die Möglichkeit für einen passenderen Gesprächsrahmen gibt, um moralische Belastungen zu thema sieren.
Ja 2. Stehen mir genügend Ressourcen (organisa onsethische Prozesse und Strukturen) zur Verfügung, um die Mitarbeiterin/den Mitarbeiter moralisch zu entlasten?
Ja 3. Ist der Gesprächskontext angemessen, um moralische Belastungen zu thema sieren?
Ja 4. Lassen die Rahmenbedingungen des Gesprächs eine vertrauliche und offene Gesprächsführung zu?
Ja
Nein
Überlegen Sie sich, wie Sie die Rahmenbedingungen des Gesprächs umgestalten können, sodass eine vertrauliche und offene Gesprächsführung möglich wird.
Nutzen Sie den Leiaden „Moralische Belastungen und Entlastungsmöglichkeiten in Mitarbeitendengesprächen thema sieren“, um mit Ihren Mitarbeitenden über moralisches Belastungserleben ins Gespräch zu kommen.
Abb. 6.1 Element 1: Fragen in der Vorbereitung des Mitarbeitendengesprächs
öglicherweise moralische Belastung(en) erm lebt? Dies könnte Ihnen als konkreter Hinweis dazu dienen, ein anlassbezogenes Mitarbeitendengespräch zu planen oder moralisches Belastungserleben im Rahmen eines anstehenden Mitarbeitendengesprächs zu thematisieren. Habe ich konkreten Anlass zu vermuten, dass
sich die Mitarbeiterin/der Mitarbeiter moralisch belastet fühlt? Die folgenden Tabellen (6.3 und 6.4) können Sie darin unterstützen, moralische Belastungen Ihrer Mitarbeitenden zu erkennen (durch nonverbale oder verbale Anzeichen und Hinweise). Dabei ist zu beachten, dass moralisches Belastungserleben ein höchst individuelles und subjektiv erlebtes Phänomen ist. Die Ausprägungen und Erlebensdimensionen können sehr unterschiedlich sein und von Person zu Person variieren. Auch wenn es aus Ihrer Perspektive keinen konkreten Anlass dazu gibt anzunehmen, dass Mitarbeitende sich moralisch belastet fühlen, kann dies trotzdem der Fall sein.
Die Frage 1 dient demnach vornehmlich dazu, Sie wachsam und sensibel für (potenzielle) moralische Belastungen zu stimmen. Auch Ihnen bekannte ethisch herausfordernde Situationen können Ihnen konkreten Anlass dazu geben, moralische Belastungen zu vermuten und zu thematisieren. Die Reflexion der Frage 1 kann Ihnen zu einem späteren Zeitpunkt als Unterstützung dienen, z. B. indem sie bei den Überlegungen in der Durchführungsphase als Argumentationsgrundlage hinzugezogen wird. Auch ohne einen konkreten Anlass sollten Sie verantwortungsvoll abwägen, moralische Belastungen im Mitarbeitendengespräch zu thematisieren. Das heißt, auch dann, wenn die Frage 1 mit „nein“ beantwortet wurde, fahren Sie immer mit der Frage 2 fort. Ein Gespräch über moralisches Belastungserleben ist angesichts der oben dargelegten Verantwortung als Führungsperson evident, indes allerdings nur dann (ethisch) vertretbar, wenn Ressourcen zur Verfügung stehen, um bei den Mitarbeitenden durch zielgerichtete
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K. Klotz et al.
Abb. 6.2 Phasen im Mitarbeitendengesprächsprozess
Interventionen und Angebote moralische Entlastung zu ermöglichen. Aufgrund der unter Punkt 2 des Beitrages ausgeführten Effekte und Konsequenzen moralischen Belastungserlebens und im Sinne der geteilten Verantwortung hinsichtlich einer ethisch gut begründeten, qualitätsvollen Pflege, aber auch der Gesundheitsförderung, liegt es in Ihrer Verantwortung nachhaltige organisationsethische Strukturen zu etablieren. Stehen mir genügend Ressourcen (organisat
ionsethische Prozesse und Strukturen) zur Verfügung, um die Mitarbeiterin/den Mitarbeiter moralisch zu entlasten? Stehen Ihnen ausreichend Ressourcen, Prozesse und Strukturen zur Verfügung, lohnt bereits an dieser Stelle ein Blick in die Tab. 6.2 („Als Führungsverantwortliche die unterbreiteten, moralisch entlastenden Maßnahmen in die Wege leiten“). Tab. 6.2 bildet mögliche Interventionen
zur moralischen Entlastung ab. Obwohl dieser Teil des Instruments vornehmlich der Gesprächsnachbereitung zugeordnet wird, kann er bereits vor dem Mitarbeitendengespräch genutzt werden, um zu überlegen, welche moralisch entlastenden Interventionen für die Mitarbeiterin/ den Mitarbeiter möglicherweise angemessen sind. Des Weiteren ist der Gesprächskontext zu berücksichtigen, um abzuwägen, ob der Gesprächsrahmen für die Thematisierung von moralischen Belastungen passend ist. Ist der Gesprächskontext angemessen, um
moralische Belastungen zu thematisieren? Eine Thematisierung moralischer Belastungen kann sich insbesondere in den folgenden Gesprächskontexten anbieten: • Institutionalisierte, regelmäßige Mitarbeit enden-Jahresgespräche
6 Moralisches Belastungserleben als Gegenstand …
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Tab. 6.1 Element 2: Durchführung – Leitfaden für das Gespräch
Leiaden: Moralische Belastungen und Entlastungsmöglichkeiten in Mitarbeitendengesprächen themasieren
Heute möchte ich mit dir/Ihnen über moralische Belastungen sprechen ... Moralische Belastungen können aureten, wenn Pflegefachpersonen nicht mehr auf der Grundlage ihres moralischen Kompasses entscheiden und handeln können. Wann und wie genau sich Pflegefachpersonen dadurch belastet fühlen, kann dabei von jedem von uns ganz unterschiedlich erlebt werden (vgl. Riedel und Lehmeyer 2021a, S. 21; Riedel et al. 2022). In deiner/Ihrer alltäglichen Arbeit gibt es wiederkehrend Situaonen mit moralischem Gehalt, wie zum Beispiel … Ethische Sensibilität und moralische Belastung ist eine Qualität und repräsenert ethische Kompetenz, aber ein Zuviel an Belastung kann gesundheitsschädlich für dich/Sie sein und wirkt sich auf dein/Ihr Handeln aus, wie zum Beispiel ... Wir Führungspersonen sind im Rahmen der Ethikkultur und vor dem Hintergrund der Strukturen der Organisaonsethik innerhalb der Instuon dafür verantwortlich, dass die Mitarbeitenden durch entsprechende Maßnahmen zur moralischen Entlastung unterstützt werden. Hierunter fallen ... Angesichts der Folgen und negaven Konsequenzen von moralischem Belastungserleben für dich/für Sie, sind wir als Führungspersonen auch dafür verantwortlich ...
dass es dir/Ihnen aus moralischer Perspekve gut geht,
dass deine/Ihre moralische Integrität im Arbeitskontext geschützt wird,
dass unsere Angebote zur moralischen Entlastung beitragen, dir/Ihnen helfen und ausreichen, um dich/Sie bestmöglich zu unterstützen.
Hast du/haben Sie seit unserem letzten Gespräch in deinem/Ihrem beruflichen Alltag eine Situaon erlebt, die dich/Sie aus moralischer/ethischer Perspekve verunsichert; die du/Sie nicht vergessen kannst/können; die nachklingt; die dir/Ihnen ein schlechtes Gewissen bereitet? Zum Beispiel ...
weil du/Sie das Gefühl hast/haben, dass zentrale professionelle Werte nicht umgesetzt wurden, nicht umgesetzt werden konnten (z. B. der Respekt der Autonomie, Gerechgkeit)?
• „Unterstützungsgespräche“, die dazu dienen sollen, diejenigen Mitarbeitenden besonders zu unterstützen, die in ihrer Leistungsfähigkeit gefährdet oder gesundheitlich beeinträchtigt sind (Gregersen et al. 2013)
• Anlassbezogene Gespräche, die sich auf eine ethisch herausforderungsvolle Situation beziehen
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Tab. 6.1 (Fortsetzung)
weil unklar blieb, was die ethisch angemessene Entscheidung und Handlung gewesen wäre oder was diese eingefordert häe?
weil es unauflösbare ethische Kontroversen über die menschenwürdige/gerechte/ autonomiewahrende usw. pflegerische Versorgung gegeben hat, die im Team nicht konsenert werden konnten–wir haben in der Folge nicht an einem Strang gezogen …
weil du/Sie den Eindruck haest/haen, dass die organisaonalen Rahmungen und Möglichkeiten einer ethisch guten Entscheidung entgegenstanden oder diese unmöglich gemacht haben?
weil du/Sie den Eindruck haest/haen, dass du/Sie mit deinen/Ihren Zweifeln oder deiner/Ihrer moralischen Unsicherheit kein Gehör gefunden hast/haben?
Alternav: auf eine konkrete (Pflege-)Situaon wird direkt Bezug genommen: Die Situaon XY war durchaus ethisch herausforderungsvoll, sodass … Klingt diesbezüglich noch etwas nach? Wie hat sich die Situaon auf dein/Ihr Gewissen, moralisches Unbehagen/Belastungserleben ausgewirkt?
Gibt es für dich/Sie eine konkrete moralisch belastende/herausfordernde (Pflege-)Situaon, über die du/Sie gerne genauer sprechen möchtest/möchten? Wenn du/Sie an die Situaon(en) denkst/denken, kannst du/können Sie auf dem Konnuum des moralischen Belastungserlebens „Moral Comfort“ (hohe moralische Integrität) – „Moral Distress“ (verletzte moralische Integrität) einordnen, wo du/Sie deinem/Ihrem Empfinden nach aktuell stehst/stehen?
Wir als Führungsverantwortliche möchten dazu beitragen, dass du/Sie moralisch entlastet wirst/werden. Hast du/haben Sie eine Idee ...
wie wir (Führungsverantwortlichen) dich/Sie unterstützen können, um mit diesen Anforderungen und Belastungen besser umzugehen?
was dich/Sie stärken/moralisch entlasten könnte?
was in Zukun helfen könnte?
was sich verändern muss?
6 Moralisches Belastungserleben als Gegenstand …
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Tab. 6.2 Element 3: Nachbereitung – Moralisch entlastende Maßnahmen realisieren
Als Führungsverantwortliche moralisch entlastende Maßnahmen in die Wege leiten Auf der Ebene der individuellen
Auf der Ebene der Organisaon
Mitarbeitenden Zum Beispiel:
Gesprächs- und Reflexionsangebote
Zeitnahe Angebote im Kontext der Ethikberatung – zum Beispiel eine ethische Fallbesprechung mit dem Team
Bedarfsgerechte Fortbildungsangebote zur Ethikkompetenzentwicklung
Regelmäßige Rotaon der Mitarbeitenden in ihrer Zuständigkeit für die Menschen mit Pflegebedarf
Im Rahmen der folgenden Gesprächskontexte erscheint eine Thematisierung moralischer Belastungen eher als nicht empfehlenswert: • Probezeitgespräche, die eine Entlassung ankündigen • Kündigungsgespräche • Gespräche, die der Personalentwicklung vorbehalten sind Da moralisches Belastungserleben eine höchst persönliche Erfahrung ist (Riedel et al. 2022), bedarf das Mitarbeitendengespräch einer entsprechenden Rahmung.
Die Bedürfnisse der Mitarbeitenden und die Bedarfe angesichts moralisch entlastender Intervenonen auf interprofessioneller und organisaonaler Ebene vertreten
Die Implikaonen des Gehörten für das eigene Führungshandeln und die organisationsethischen Strukturen reflekeren
Rahmungen/Strukturen für moralisch angemessenes, ethisch reflekertes und ethisch begründetes Handeln verbessern und Maßnahmen der Ethikberatung (Fort- und Weiterbildung, ethische Fallbesprechungen, Ethikleitlinienentwicklung) etablieren
In ethischen Sachverhalten als Vorbild vorangehen
Lassen die Rahmenbedingungen des Ge-
sprächs eine vertrauliche und offene Gesprächsführung zu? Ein vertraulicher Umgang muss im Rahmen des Gesprächs gewährleistet werden, denn eine Vertrauensgrundlage und ein respektvoller Rahmen sind wichtig für die offene Gesprächsführung (Zenz und Becke 2021; Möller 2016). Obwohl diese Regeln für jegliche Mitarbeitendengespräche gelten, erscheinen diese Aspekte angesichts der höchst sensiblen Thematik hervorhebenswert und besonders bedeutsam. Überlegen Sie sich deshalb umfassend, wie Sie die Rahmenbedingungen des Gesprächs
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K. Klotz et al.
Tab. 6.3 Implizite nonverbale Hinweise auf moralisches Belastungserleben
Implizite nonverbale Hinweise darauf, dass die Mitarbeiterin/der Mitarbeiter moralische Belastungen erlebt Exemplarische Anzeichen Hintergrund Ausfälle der Mitarbeiterin/des Mitarbeiters durch Krankheit
– Moralisches Belastungserleben kann u. a. die Gesundheit der Mitarbeitenden beeinträchtigen, sodass es zu Ausfällen durch Krankheit kommen kann (Kleinknecht-Dolf et al. 2015, 2017) Mitarbeitende zeigen sich intolerant gegenüber Pa- – Mitarbeitende können sich in dem Versuch, sich emotional zu schützen, physisch und emotional zurückziehen (Kleinknechttient*innen oder Bewohner*innen Mitarbeitende nehmen eine vermeidende Haltung Dolf et al. 2015, 2017; Wilson et al. 2013) gegenüber Menschen mit Pflegebedarf, deren Fa- – Moralische Belastungen können zu emotionaler Erschöpfung führen, die sich durch eine zunehmende Distanz, eine vermilie und manchen Interventionen ein meidende Haltung und Empathielosigkeit zeigen kann (KleinMitarbeitende zeigen mangelnde Empathie Es liegen Beschwerden hinsichtlich des Verhaltens knecht-Dolf et al. 2015; Rushton et al. 2015) der Mitarbeiterin/des Mitarbeiters vor
so gestalten, dass eine vertrauliche Gesprächsatmosphäre für das Gegenüber spürbar ist, zum Beispiel, indem Sie dafür sorgen, dass … • Sie während des Gesprächs ungestört bleiben (angemessenes Setting) (Zenz und Becke 2021; Janas und Mayerhofer 2014; Welk 2015). • Sie genügend Zeit einplanen (angemessener zeitlicher Rahmen) (Janas und Mayerhofer 2014). Durchführungsphase Wenn Sie die Fragen 1–4 umfassend reflektiert haben und zu dem Ergebnis gekommen sind, dass es (ethisch) mach- und vertretbar ist, moralische Belastungen im Rahmen des Mitarbeitendengesprächs zu thematisieren, können Sie mit Phase 2 des Instruments (Durchführungsphase) (Tab. 6.1 Element, 2: Durchführung – Leitfaden für das Gespräch) weitermachen.
Wichtig Heute möchte ich mit dir/Ihnen
über moralische Belastungen sprechen … Moralische Belastungen können auftreten, wenn Pflegefachpersonen nicht mehr auf der Grundlage ihres moralischen Kompasses entscheiden und handeln können. Wann und wie genau sich Pflegefachpersonen dadurch belastet fühlen, kann dabei von jedem von uns ganz unterschiedlich erlebt werden (vgl. Riedel und Lehmeyer 2022a 2021a; Riedel et al. 2022) Die kurze Definition moralischer Belastungen kann dabei helfen, das Phänomen einzuordnen. Obwohl viele Pflegefachpersonen moralische Belastungen erleben, wissen sie häufig nicht, dass es als Phänomen in der Wissenschaft gerahmt und anerkannt ist.
Nutzen Sie den Leitfaden „Moralische Be-
lastungen und Entlastungsmöglichkeiten in Mitarbeitendengesprächen thematisieren“, um mit Ihren Mitarbeitenden über moralisches Belastungserleben ins Gespräch zu kommen. Der Gesprächsleitfaden bildet das zentrale Element des Instruments für die Durchführungsphase ab. Es unterstützt Sie dabei, das Thema anzusprechen bzw. aufzugreifen.
Übersicht In deiner/Ihrer alltäglichen Arbeit gibt es wiederkehrend Situationen mit moralischem Gehalt, wie zum Beispiel … Ethische Sensibilität und moralische Belastung ist eine Qualität und repräsentiert ethische Kompetenz, aber ein Zuviel an Belastung kann gesundheitsschädlich für dich/Sie sein und wirkt sich auf dein/ Ihr Handeln aus, wie zum Beispiel …
6 Moralisches Belastungserleben als Gegenstand …
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Tab. 6.4 Implizite verbale Hinweise auf moralisches Belastungserleben
Implizite verbale Hinweise darauf, dass die Mitarbeiterin/der Mitarbeiter moralische Belastungen erlebt Exemplarische Aussage Hintergrund „Ich habe keine Zeit, um meinen Beruf und die damit verbundenen Erwartungen richtig auszuüben.“ „Ich muss so viel dokumentieren und Büroarbeiten tätigen, dass ich meinen Auftrag nicht mehr richtig ausführen kann.“ „Ich habe das Gefühl, dass es hier nur noch um Wirtschaftlichkeit geht und niemand mehr an das Wohl der Patient*innen/der Bewohner*innen denkt.“ „Unsere Personalnot ist eine Gefährdung für uns und die Patent*innen/Bewohner*innen.“ „Ich bin nicht qualifiziert, die Patient*innen/Bewohner*innen adäquat zu versorgen.“ „Ich habe ja selbst keine Entscheidungsgewalt und die Anordnungen der Ärzte reichen manchmal nicht aus, um die Patient*innen/Bewohner*innen gut zu versorgen.“ „Niemand sagt den Patient*innen/Bewohner*innen die Wahrheit.“ „Ich sehe, dass mein/e Patient*in/Bewohner*in Schmerzen hat, dass sie/er leidet, und kann nichts dagegen tun.“ „Ich habe das Gefühl, die Therapie bei der/dem Patient*in/Bewohner*in ist zwecklos.“ „Für die/den Patient*in/Bewohner*in besteht keine Hoffnung auf Heilung, ich verstehe nicht, warum man immer weiter macht.“ „Ich möchte meinen Job so nicht länger machen.“ „Ich denke darüber nach, die Stelle zu wechseln.“ „Ich kann nicht mehr.“
„Mir geht es nicht gut. Ständig habe ich Kopfschmerzen und ich schlafe schlecht.“ „In letzter Zeit geht es mir körperlich einfach nicht gut. Ich merke, dass ich am Anschlag bin.“
– Zeitmangel und eine hohes Arbeitspensum werden als beachtliche Faktoren beschrieben, die zu moralischen Belastungen führen können (Kleinknecht-Dolf et al. 2015; Wilson et al. 2013)
– Die zunehmende Ökonomisierung zeigt sich häufig durch Personalknappheit, finanzielle Vorgaben oder die Gewährleistung einer bestimmten Bettenbelegung. Dadurch können sich Pflegefachpersonen in ihrem Handlungsspielraum limitiert sehen. Die tatsächlichen oder empfundenen Limitationen führen zu moralischen Belastungen, wenn Pflegefachpersonen nicht ihren professionellen Ansprüchen gemäß handeln können (Kleinknecht-Dolf et al. 2015) – Die interprofessionelle Zusammenarbeit führt teilweise dazu, dass sich Pflegefachpersonen durch tatsächliche oder empfundene Hierarchiegefälle macht- und hilflos gegenüber den Entscheidungen anderer Berufsgruppen (z. B. Ärzt*innen) fühlen. Dies kann zu moralischen Belastungen führen, wenn Pflegefachpersonen solche Entscheidungen als falsch wahrnehmen, aber sich nicht in der Lage sehen und verstehen, dagegen vorzugehen (Kleinknecht-Dolf et al. 2017; Wilson et al. 2013) – Wenn Pflegefachpersonen die Situation von Menschen mit Pflegebedarf als „aussichtlos“ empfinden oder das Gefühl haben, dass spezielle Therapiemaßnahmen das Leid(en) verlängern, kann dies moralisches Belastungserleben auslösen (Rushton 2016; Wilson et al. 2013) – Moralische Belastungen können u. a. dazu führen, dass Mitarbeitende sich aufgrund der Belastungen verpflichtet sehen, den Job zu wechseln oder den Beruf zu verlassen, um sich selbst zu schützen (Kleinknecht-Dolf et al. 2017; Rushton 2016; Rushton et al. 2015) – Moralische Belastungen können sich bei den Betroffenen durch emotionale und psychosomatische Belastungssymptome manifestieren, z. B. durch Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Krankheit, Wut, Traurigkeit, Frustration, Angst und Schuldgefühle (Kleinknecht-Dolf et al. 2015)
Wir Führungspersonen sind im Rahmen der Ethikkultur und vor dem Hintergrund der Strukturen der Organisationsethik innerhalb der Institution dafür verantwortlich, dass die Mitarbeitenden durch entsprechende Maßnahmen zur moralischen Entlastung unterstützt werden. Hierunter fallen … Angesichts der Folgen und negativen Konsequenzen von moralischem Belastungserleben für dich/für Sie, sind wir
als Führungspersonen auch dafür verantwortlich, … • dass es dir/Ihnen aus moralischer Perspektive gut geht • dass deine/Ihre moralische Integrität im Arbeitskontext geschützt wird • dass unsere Angebote zur moralischen Entlastung beitragen, dir/Ihnen helfen und ausreichen, um dich/Sie bestmöglich zu unterstützen
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Zu Beginn des Gesprächs ist es wichtig, dass Sie den Mitarbeitenden klar signalisieren, dass … • Sie es als Vertrauensbeweis einordnen, dass ein Gespräch über ein höchst persönliches Erleben möglich ist, • Sie die moralische Sensibilität ihrer Mitarbeitenden als zentrale Ethikkompetenz schätzen, die Organisation und Führung ihre Mitarbeitenden gleichzeitig vor moralischen Belastungen und den damit verbundenen gesundheitsbezogenen Konsequenzen schützen will und muss, • die moralische Entlastung der Mitarbeitenden auf die Unterstützung der Führungsverantwortlichen angewiesen ist, • Möglichkeiten zur persönlichen moralischen Entlastung bestehen. Sie können Ihre Mitarbeitenden zum Sprechen und Erzählen ermutigen, indem Sie ein oder zwei der gelisteten Beispiele als „Gesprächsaufhänger“ nutzen.
Übersicht Hast du/haben Sie seit unserem letzten Gespräch in deinem/Ihrem beruflichen Alltag eine Situation erlebt, die dich/Sie aus moralischer/ethischer Perspektive verunsichert; die du/Sie nicht vergessen kannst/können; die nachklingt; die dir/ Ihnen ein schlechtes Gewissen bereitet? Zum Beispiel … • weil Du/Sie das Gefühl hast/haben, dass zentrale professionelle Werte nicht umgesetzt wurden, nicht umgesetzt werden konnten (z. B. der Respekt der Autonomie, Gerechtigkeit)? • weil unklar blieb, was die ethisch angemessene Entscheidung und Handlung gewesen wäre oder was diese eingefordert hätte? • weil es unauflösbare ethische Kontroversen über die menschenwürdige/gerechte/ autonomiewahrende usw. pflegerische Versorgung gegeben hat, die im Team nicht konsentiert werden konnten –
K. Klotz et al.
wir haben in der Folge nicht an einem Strang gezogen • weil du/Sie den Eindruck hattest/hatten, dass die organisationalen Rahmungen und Möglichkeiten einer ethisch guten Entscheidung entgegenstanden oder diese unmöglich gemacht haben? • weil du/Sie den Eindruck hattest/hatten, dass du/Sie mit deinen/Ihren Zweifeln oder deiner/Ihrer moralischen Unsicherheit kein Gehör gefunden hast/haben? • Alternativ: auf eine konkrete (Pflege-) Situation wird direkt Bezug genommen: Die Situation XY war durchaus ethisch herausforderungsvoll, sodass … Klingt diesbezüglich noch etwas nach? Wie hat sich die Situation auf dein/Ihr Gewissen, moralisches Unbehagen/Belastungserleben ausgewirkt? Gibt es für dich/Sie eine konkrete moralisch belastende/herausfordernde (Pflege-) Situation, über die du/Sie gerne genauer sprechen möchtest/möchten?
In einem nächsten Schritt können Sie die Mitarbeitenden bitten, Ihre subjektiv empfundene moralische Belastung auf dem Kontinuum moralischer Belastungen, auf dem sich verschiedene Erlebensqualitäten moralischer Belastung abbilden lassen, im Rahmen einer „Standortbestimmung“ einzuordnen (durch eine Markierung auf dem Kontinuum in Abb. 6.3). Das Kontinuum ist Teil des „Modells der Entstehung und Wirkung moralischen Belastungserlebens von Pflegefachpersonen“ und kann zur weiteren Vertiefung in Kap. 2 dieses Werkes eingesehen werden. Dabei wird davon ausgegangen, dass sich verschiedene Erlebensqualitäten moralischer Belastung auf einem Kontinuum abbilden lassen, dessen Endpunkte auf der einen Seite der „Moral Comfort“ und auf der anderen Seite der „Moral Distress“ darstellen. Demzufolge nimmt die individuelle und situative Ausprägung der subjektiv empfundenen moralischen Integrität oder des eigenen morali-
6 Moralisches Belastungserleben als Gegenstand …
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Wenn du/Sie an die Situaon(en) denkst/denken, kannst du/können Sie auf dem Konnuum des moralischen Belastungserlebens „Moral Comfort“ (hohe moralische Integrität) – „Moral Distress“ (verletzte moralische Integrität) einordnen, wo du/Sie deinem/Ihrem Empfinden nach aktuell stehst/stehen?
Abb. 6.3 Standortbestimmung des moralischen Belastungserlebens
schen Unbehagens Einfluss auf das individuelle Belastungserleben. Es kann beim ersten Mal hilfreich sein, die Begrifflichkeiten gegenüber den Mitarbeitenden zunächst definitorisch zu rahmen: • Moralische Integrität: Eine intakte moralische Integrität zeichnet sich durch das Empfinden einer moralischen Ganzheit bzw. Unversehrtheit aus. Dabei wird die moralische Integrität erlebbar, wenn das (pflege)professionelle Handeln entsprechend dem individuellen Werteverständnis (umfasst persönliche und professionelle Werte) stattfinden kann. Das moralische Integritätsempfinden ist kein statischer Zustand, vielmehr kann die ethische Reflexion moralischer Konfliktsituationen, ethischer Herausforderungen, ethischer Dilemmata und moralisch belastender Entscheidungen das moralische Integritätserleben fördern oder beeinträchtigen (Riedel und Lehmeyer 2022a 2021a). • Moral Comfort: Die individuelle Person erlebt ihre moralische Integrität als hoch (subjektive Erfahrung) (Riedel et al. 2022). • Moral Distress: Die individuelle Person erlebt ihre moralische Integrität als verletzt, das moralische Unbehagen nimmt überhand (subjektive Erfahrung) (Riedel et al. 2022).
Durch den letzten Abschnitt des Leitfadens zeigen Sie den Mitarbeitenden, dass Sie deren individuellen Bedürfnissen gerecht werden möchten, und lassen sich auf den Dialog ein, um aus der Perspektive der Mitarbeitenden zu erfahren, was für Entlastungsbedarfe (oder Ideen) sie haben.
Wir als Führungsverantwortliche möchten dazu beitragen, dass du/Sie moralisch entlastet wirst/werden. Hast du/Haben Sie eine Idee … • wie wir (Führungsverantwortlichen) dich/Sie unterstützen können, um mit diesen Anforderungen und Belastungen besser umzugehen? • was dich/Sie stärken/moralisch entlasten könnte? • was in Zukunft helfen könnte? • was sich verändern muss?
Nachbereitungsphase Moralisch entlastende Maßnahmen müssen als Teilaspekt des organisationsethischen Prozesses zwingend angebahnt werden (Tab. 6.2 Element 3: Nachbereitung – Moralisch entlastende Maßnahmen realisieren). Die in die Wege geleiteten Maßnahmen müssen sich dabei an den
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individuellen Belastungen und Bedürfnissen der Mitarbeitenden orientieren und sollen situativ und zeitnah umgesetzt werden. Aus Ihrer Perspektive entstehen dabei Konsequenzen auf zwei sich gegenüber gestellten Ebenen: (a) Auf der Ebene der individuellen Mitarbeitenden Auf dieser Ebene geht es darum, Maßnahmen zur moralischen Entlastung entsprechend den individuellen Bedürfnissen der Mitarbeitenden in die Wege zu leiten (Rushton und Kurtz 2015). Solche Maßnahmen können als Teil einer etablierten Ethikkultur in Ihrer Organisation betrachtet werden. Hierzu gehören: • ethische Fallbesprechungen (Riedel 2022; Riedel und Lehmeyer 2022b 2021b; Rushton 2016; Woellert 2022; Wilson et al. 2013) • Ethik-Visiten (Riedel und Lehmeyer 2022b 2021b; Wilson et al. 2013) • Ethik-Cafés (Riedel und Lehmeyer 2021b, 2022c) • Ethikleitlinien und Ethikleitlinienentwick lung (Riedel 2022; Riedel und Lehmeyer 2022b 2021b) Bedarfsgerechte ethische Fortbildungsangebote wie: • „die wertschätze Ansprache ethischer Kon fliktthemen“ (Woellert 2022) • Achtsamkeitsfortbildungen (Heidenreich und Michalak 2022 2020; Rushton 2016, 2017; Rushton et al. 2015; Rushton und Kurtz 2015) • die Vertiefung und Verdichtung der Ethikkompetenzen (vgl. Kap. 3 10 in diesem Buch) Eine regelmäßige Rotation der Mitarbeitenden in ihrer Zuständigkeit für die Menschen mit Pflegebedarf kann ebenfalls eine Option sein und für Entlastung sorgen, indem nicht immer dieselben Mitarbeitenden für besonders moralisch herausfordernde Situationen verantwortlich sind. (b) Auf der Ebene der Organisation Diese Ebene zielt auf die Verantwortlichkeit und den Auftrag führungsverantwortlicher Personen
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ab, die über das Individuum hinausgehen und die Organisation bzw. das Team betreffen. Sie als führungsverantwortliche Person können dabei als Bindeglied agieren und die Bedürfnisse ihrer Mitarbeitenden auf organisationaler Ebene zum Ausdruck bringen. Der Hintergrund hierfür ist, dass nicht die einzelne Pflegefachperson die alleinige und auch nicht die primäre Verantwortung für den Umgang mit moralischen Belastungen trägt (Klotz et al. 2022; Riedel et al. 2022). Vielmehr ist es insbesondere die Verantwortung der Organisation und Führung, für gesundheitsförderliche Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz einzustehen und durch organisationsethische Prozesse und Strukturen moralische Belastungen zu präventieren oder für Entlastung zu sorgen (Klotz et al. 2022).
6.4 Fazit Moralische Belastungen sind für Pflegefachpersonen individuell erleb- und spürbar und können schwerwiegende negative Effekte für die Pflegefachpersonen und weitreichende negative Konsequenzen für die Organisationen mit sich bringen. Angesichts dessen ist eine geteilte Verantwortung für den Umgang mit den moralischen An- und Herausforderungen des Arbeitsalltags sowie den mitunter daraus resultierenden moralischen Belastungen evident. Die geteilte Verantwortung für die Prävention und den professionellen Umgang mit den subjektiv erfahrenen moralischen Belastungen fordert die Führungspersonen und die Organisation heraus, da die organisationsethischen Strukturen und Facetten der Ethikkultur vielfach grundlegend dafür sind, die notwendigen Interventionen und Entlastungsangebote zu rahmen und zu eröffnen. Die geteilte Verantwortung im Kontext der Thematisierung und Bearbeitung des moralischen Belastungserlebens fordert eine Rahmung und einen Ort der Darlegung und Reflexion wie auch der Aushandlung und Zusicherung entlastender Interventionen. Einen möglichen Rahmen stellen hierfür Mitarbeitendengespräche dar, die als Chance begriffen werden sollten, dieser wichtigen Thematik eine regelmäßige und durch das dargelegte Instrument zugleich
6 Moralisches Belastungserleben als Gegenstand …
eine strukturierte Verortung zuzusichern; dies im Sinne der Gesundheit und Arbeitsqualität der Mitarbeitenden, aber auch im Sinne der Pflege- und Versorgungsqualität der zu Pflegenden – beides zentrale Verantwortlichkeiten der Führungspersonen in den Einrichtungen des Gesundheitswesens.
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Implementierung von Interventionen zur Prävention und Bearbeitung moralischen Belastungserlebens von Pflegefachpersonen Anregungen und Rahmungen für ein strukturiertes und organisationsspezifisch abgestimmtes Vorgehen Sonja Lehmeyer, Annette Riedel und Magdalene Goldbach
Zusammenfassung
Zielgerichtete und auf die spezifischen Bedarfe und Rahmungen abgestimmte Imple mentierungsprozesse sind zentral für die nachhaltige Überführung und Verankerung von Neuerungen in gelebte Handlungsroutinen von Pflegefachpersonen und Organisationen des Pflege- und Gesundheitswesens. Dies gilt auch für die Einführung von Interventionen, welche sich im Kontext der Prävention und Bearbeitung moralischen Belastungserlebens sowie der Förderung der moralischen
S. Lehmeyer (*) · A. Riedel · M. Goldbach Hochschule Esslingen, Soziale Arbeit, Bildung und Pflege, Esslingen, Deutschland E-Mail: [email protected] A. Riedel E-Mail: [email protected] M. Goldbach E-Mail: [email protected]
Integrität von Pflegefachpersonen bewegen. Implementierungsvorhaben in diesem Themenbereich sind, wie in den vorausgehenden Beiträgen dieses Bandes deutlich wurde, als integrale Bestandteile einer qualitätsvollen Weiterentwicklung organisationsethischer Strukturen und Prozesse zu verstehen, für welche insbesondere Leitungspersonen und die Führungsebene von Einrichtungen und Diensten des Pflege- und Gesundheitswesens eine herausgehobene Verantwortung tragen. Der Beitrag konturiert unter dieser Perspektive Eckpunkte, determinierende Faktoren sowie wesentliche implementierungswissenschaftlich fundierte Prozessschritte der Implementierung von Interventionen im Phänomenbereich des moralischen Belastungserlebens mit der Intention, einige grundlegende Implementierungsanregungen für einen im deutschen Pflege- und Gesundheitswesen noch unvertrauten aber zugleich höchstrelevanten Innovationskontext der Organisationsethik zu geben.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 A. Riedel et al. (Hrsg.), Moralische Belastung von Pflegefachpersonen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67049-1_7
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7.1 Einleitung Die nachhaltige Verankerung jedweder neuartigen Intervention in der Pflegepraxis erfordert unabhängig vom konkreten Gegenstand der Implementierung, unterschiedliche, sorgsam aufeinander abgestimmte Veränderungs- und Weiterentwicklungsprozesse (Boggatz 2022; Grol und Wensing 2020a, b; Hoben 2016a). Darauf abzielende Implementierungsvorhaben sind als komplexe Prozesse zu verstehen, gilt es doch, bestehende mitarbeitendenindividuelle sowie organisationsbezogene Routinen in einer abgestimmten, zielorientierten Weise – bestenfalls auf Basis einer etablierten und gelebten organisationsspezifischen (ethischen) Kultur sowie mittels eines professionell ausgeprägten Führungsverständnisses – mit der jeweiligen Neuerung so zu verbinden, dass sie selbstverständlicher Teil der gelebten Alltagspraxis im Rahmen der organisational verankerten, pflegeprofessionellen Berufsausübung werden. Unterschiedliche implementierungswissenschaftliche Theorien leisten bei der Entscheidung für und der Planung, Realisierung und Evaluation solcher Vorhaben wertvolle Dienste (Wensing et al. 2020a, b; Riedel und Lehmeyer 2022a 2021a; Lehmeyer et al. 2020). Dieser Beitrag arbeitet auf Basis eines für das Pflege- und Gesundheitswesen relevanten Implementierungsmodells, dem Implementation of Change Model nach Grol und Wensing (2020c), übergeordnete Prozess- und Entscheidungsschritte sowie zentrale Rahmenfaktoren heraus, welche für die systematische Implementierung möglicher Interventionen zur Prävention bzw. Bearbeitung von moralischen Belastungserlebens von Pflegefachpersonen beachtlich sind. Der Beitrag ist so ausgerichtet, dass er in allen Settings der pflegeprofessionellen Handlungspraxis, in welchen Pflegefachpersonen von moralischem Belastungserleben betroffen sein können sowie hinsichtlich unterschiedlichst denkbarer Interventionen (Hinweise hierzu siehe in den vorausgegangenen Beiträgen dieses Sammelbandes), als Orientierungshilfe für implementierungsverantwortliche Leitungspersonen und -gremien
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fungieren kann. Dies insbesondere deshalb, da bei der Abwägung und Umsetzung der Implementierung von Interventionen, welche auf das moralische Belastungserleben von Pflegefachpersonen abzielen, eine Vielzahl interner Faktoren – hierzu zählen etwa das professionsethische Selbstverständnis und die ethisch-moralische Kompetenz der Pflegefachpersonen, das ethische Klima der Einrichtung sowie die etablierten organisationsethischen Programme, Strukturen und Prozesse als auch die konkret intendierten und situativ notwendigen Zielsetzungen (Riedel und Lehmeyer 2022a 2021a; Albisser Schleger 2022 2021; Wallner 2022) – wesentlich für die konkrete einrichtungs- bzw. trägerspezifische Implementierungsstrategie sind. Der Beitrag fokussiert deshalb – nach einer Klärung der für den Beitrag wesentlichen Begriffe und Konzepte – zentral determinierende Faktoren, welche im Vorfeld einer Implementierung von Interventionen im Umfeld des Phänomens des moralischen Belastungserlebens von Pflegefach- und Führungspersonen reflektiert werden sollten. Dies insbesondere deshalb, weil die Implementierung derartiger Interventionen im Sinne einer nachhaltigen organisationsethischen Entwicklung zu verstehen und zu realisieren sind, welche wiederum unterschiedliche Ebenen, Personen(-gruppen) und Verantwortungsbereiche innerhalb der Organisation adressieren (Goldbach et al. 2022). Anknüpfend daran werden in einem zweiten Schritt wesentliche Eckpunkte der Implementierung besagter Interventionen benannt und rekurrierend auf das Implementation of Change Model in handlungsleitender Weise fokussiert. So wird transparent, welche Aspekte für eine qualitätvolle, verantwortungsbewusste und nachhaltig wirksame Integration von Interventionen zur Prävention bzw. Bearbeitung moralischen Belastungserlebens von Pflegefachpersonen beachtlich sind. Dies insbesondere in der Intention, prozessorientierte Implementierungsanregungen zu bieten und umsetzungspraktische Prozessschritte im Kontext eines für das deutsche Pflege- und Gesundheitswesen noch neuen, höchstrelevanten Innovationskontextes im Bereich der Organisationsethik zu konturieren.
7 Implementierung von Interventionen zur Prävention …
7.2 Die Implementierung von Interventionen im Kontext des moralischen Belastungserlebens von Pflegefachpersonen Zunächst ist festzustellen, dass im deutschen Pflege- und Gesundheitswesen strukturierte Maßnahmen zur Prävention und Bearbeitung moralischer Belastung in ihren unterschiedlichen Ausprägungsgraden sowie Initiativen, die primär auf die Stärkung der moralischen Integrität und Resilienz von Pflegefachpersonen abzielen – auch im Vergleich zum Entwicklungsstand beispielsweise in den USA (ANA 2014; NACNS 2020) – bislang noch eine untergeordnete Rolle einnehmen. Die zweifelsohne vorhandene moralische Belastung von Pflegefachpersonen bedarf einer spezifischen organisationsethischen Betrachtung und ist nicht verbindlich durch gegebenenfalls bereits vorhandene Strukturen der patient*innenzentrierten klinischen Ethikberatung abgesichert. Gilt es doch, ein spezifisches und zuvorderst auf Ebene der Pflegefachpersonen angesiedeltes moralisches bzw. ethisches Phänomen in das Zentrum der Reflexions- und Bearbeitungsprozesse zu stellen (Albisser Schleger 2023; Riedel et al. 2022; Goldbach et al. 2023a). Für viele Einrichtungen und Dienste des Pflege- und Gesundheitswesens stellen Interventionen zur Prävention bzw. Bearbeitung des moralischen Belastungserlebens von Pflegefachpersonen somit eine Neuerung dar. Dabei können wirksame Interventionen unter bestimmten Voraussetzungen in den bereits bekannten Methoden und Verfahren der Ethikberatung liegen. Zu denken ist hier beispielsweise an ethische Fallbesprechungen, EthikCafés oder Angebote der etischen Bildung und des praktischen Ethikkompetenzerwerbes (Goldbach et al. 2022; Riedel und Lehmeyer 2022c 2022; Albisser Schleger 2019). Allerdings gilt es in diesem Kontext zu analysieren, inwiefern die primären Zielintentionen und somit auch die konkrete Realisierung der Angebote unter der konsequenten Ausrichtung auf die Bearbeitung
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moralischen Belastungserlebens und der Förderung moralischer Integrität eine andere Akzentuierung und Begleitung erfahren müssen. Darüber hinaus bedarf es sicherlich auch neuer Interventionsformate und damit verbundene modifizierte oder neue Instrumente z. B. im Bereich der Selbstreflexion, der Reflexion und des Austausches im Team (Goldbach et al. 2023b) und mit Leitungspersonen, wie im vorausgehenden Beitrag zur Thematisierung moralischen Belastungserlebens im Rahmen des Mitarbeitendengespräches deutlich wird (Klotz et al. 2023). Hinsichtlich ihrer Intention und Zielperspektive modifizierte oder gänzlich neuartige Interventionen in diesem Phänomenbereich können aufgrund unterschiedlichster Aspekte – sei es wegen der neuen Wissensbestände oder deren noch fremden inhärenten Logik wie Perspektive auf einen Sachverhalt – häufig nicht unmittelbar und direkt in die bestehende pflegeberufliche Handlungspraxis von Pflegefachpersonen und ihres organisationalen Handlungsumfeldes transferiert werden. Vielmehr bedarf es der Modifikation, Adaption und Integration in den je individuellen strukturellen und praktischen Handlungsvollzug der Organisation und ihrer Mitarbeitenden, also einer gezielten Implementierung (Wensing und Grol 2020a; Hoben et al. 2016; Boggatz 2022; Riedel und Lehmeyer 2022a 2021a; Meyer-Zehender 2019). Bei der Implementierung handelt es
sich um eine sehr spezifische Form des Transfers neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse in eine je einrichtungsspezifische Handlungspraxis. Implementierung ist zu verstehen als ein „aktiver und systematischer Prozess, Interventionen in ein bestimmtes pflegerisches […] Setting zu integrieren. […] Er umfasst die Identifikation von förderlichen und hinderlichen Faktoren sowie die Auswahl und Anwendung effektiver Strategien [beispielsweise edukative und administrative Techniken] zur Überwindung von Barrieren
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und zur erfolgreichen Steuerung des Implementierungsprozesses.“ (Hoben et al. 2016, S. 34–35; Grol und Wensing 2020a, S. 12). Implementierungsprozesse wiederum erhalten durch ihre Ausrichtung an implementierungswissenschaftlichen Modellen, wie dem Implementation of Change Modell nach Grol und Wensing (2020c), eine klare und transparente Gliederung sowie eine logisch-systematische Abfolge von einzelnen Implementierungsschritten, was die Prozesssteuerung sowie ein zielgerichtetes, nachhaltiges Vorgehen maßgeblich unterstützt. Eine wesentliche Chance des hier exemplarisch herangezogenen Modells liegt zudem in einer konsequenten Verschränkung von Top-down- mit Bottom-up-Perspektiven und -Prozessen innerhalb des Implementierungsvorhabens. Dies sichert ab, dass Implementierungsprozesse einerseits einer definierten Steuerung und Verantwortung unterliegen und zugleich eine transparente und zielgerichtete Einbindung und Partizipation aller von der Implementierung betroffenen Personen(-gruppen) und Organisationseinheiten erfolgt. Beides sind wichtige Komponenten im Bereich organisationsethischer Innovationen und Weiterentwicklung sowie bei der Etablierung einer gelebten Ethikkultur in Einrichtungen und Diensten des Pflege- und Gesundheitswesens (Goldbach et al. 2023a; Riedel und Lehmeyer 2022a 2021a; Großklaus-Seidel 2020; Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg 2020; Lehmeyer et al. 2019). Die Gründe, die Implementierung von Interventionen zur moralischen Entlastung und Integritätsförderung von Pflegefachpersonen voranzutreiben, können vielfältig sein. Als wesentlicher übergeordneter Initiierungsanlass sind sicherlich die neuen und immer differenzierter werdenden Erkenntnisse hinsichtlich der Bedeutung und Wirkung moralischen Belastungserlebens auf Pflegefachpersonen sowie ihre komplexen Auswirkungen auf die Qualität der pflegefachlichen Versorgung als auch den Berufsverbleib in der Pflege anzusehen (Riedel und Lehmeyer 2022b 2021b; Baumann-Hölzle
und Gregorowius 2022; Goldbach et al. 2023a). Auf einrichtungsspezifischer Ebene können die Motive für eine Implementierung darüber hinaus auch in aktuellen Gegebenheiten liegen, etwa dem gehäuften Auftreten moralisch herausfordernder Pflegesituationen, welche Pflegefachpersonen oder Pflegeteams an die Grenzen dessen bringen, was sie aus professionsethischer Perspektive verantworten können (Albisser Schleger 2023). Ausgehend von dem jeweils grundgelegtem Initiierungsanlass lässt sich das Implementierungsmodell nach Grol und Wensing (2020c) auf unterschiedlichste pflegerische Settings und organisationale Rahmungen adaptieren. Es eignet sich • sowohl für komplexe und längerfristige Implementierungsvorhaben auf Ebene der Gesamtorganisation (etwa die Implementierung umfänglicher organisationsethischer Strukturen zur Förderung der moralischen Integrität von Pflegefachpersonen), • als auch für konkrete Teil-/Einzelinterventionen zur gezielten moralischen Entlastung im Kontext komplexer organisationsethischer Weiterentwicklungsprozesse. Dies wiederum sowohl auf einer teambezogenen Ebene (beispielsweise durch Interventionen, welche mittels Strukturen des kollegialen Austausches emotionale Unterstützung und Entlastung ermöglichen) als auch auf Ebene der individuellen Pflegefachperson (etwa im Sinne von Interventionen, welche die Selbstreflexion in Bezug auf erlebte moralische Belastung unterstützen oder aber die ethischen Kompetenzen für einen integritätsförderlichen Umgang mit moralischem Belastungserleben fördern). Die Struktur der modellspezifischen Prozessschritte bleibt von der gewählten Zielausrichtung unberührt, jedoch verändern sich die qualitative Intensität sowie der quantitative Ressourcenbedarf des Implementierungsvorhabens (Wensing und Grol 2020b; Grol und Wensing 2020c; Hoben 2016a). Für alle angestrebten Implementierungsvorhaben hingegen sind die
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f olgend benannten Voraussetzungen im Vorfeld der Implementierung zu reflektieren, stellen sie doch wesentliche Determinanten für das Gelingen eines nachhaltigen Implementierungsprozesses dar.
7.3 Voraussetzungen und Aspekte im Rahmen der Planung und Organisation der Implementierung Die Gestaltung nachhaltiger Implementierungsprozesse ist eine der zentralen Aufgaben und Verantwortlichkeiten von Leitungspersonen und -gremien der obersten Führungsebene einer Organisation. Sie entscheiden, ob und wenn ja, welche Neuerungen mit welcher Zielintention in die Strukturen und Prozesse der Organisation implementiert werden, wie und mit welchem Ressourceneinsatz erforderliche Implementierungsprozesse gestaltet werden und welche Entscheidungs- und Gestaltungsautonomie die mit der Implementierung betrauten Personen und Gremien in der konkreten Realisierung der Einführungsprozesse erhalten. Die gelebte ethische Kultur in der Einrichtung, der damit verbundene gemeinsame Wertehorizont, der daraufhin ausgerichtete Führungsstil und in der Folge auch die Teamkultur sowie die aktiv gelebte Form von Kollegialität stellen somit zentrale Grundlagen sowie Determinanten jedweder Implementierungsvorhaben dar (Grol und Wensing 2020c; Boggatz 2022; Hoben 2016b). Aus diesem Grund ist Wissen um und Sensibilität für die moralische Belastung von Pflegefachpersonen aufseiten der Führungsebene sowie die gelebte Verantwortung für einen organisationalen Rahmen, der es Pflegefachpersonen erlaubt, sich aktiv und konstruktiv mit moralisch herausfordernden Situationen und bestehendem Belastungserleben auseinanderzusetzen, die entscheidende Vorbedingung für die Planung und Realisierung von nachhaltigen Implementierungsvorhaben in diesem Themenkreis. Nur wenn Leitungsverantwortliche anerkennen, dass Pflegefachpersonen von diesem Erlebensphänomen betroffen sein können, nur wenn dies maßgeblich als ein strukturelles und
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der professionellen Pflege immanentes Phänomen verstanden wird, dessen Auftreten in der Folge nicht zur Marginalisierung betroffener Mitarbeitender führt und nur wenn offen akzeptiert wird, dass es expliziter und spezifischer Maßnahmen bedarf, um einerseits die moralische Integrität jeder einzelnen Pflegefachperson zu unterstützen und zugleich für organisationsethische Rahmungen und Strukturen zu sorgen, welche einen offenen Umgang mit moralischem Belastungserleben überhaupt ermöglichen, nur dann können Maßnahmen zur moralischen Entlastung und Integritätsförderung effektvoll und nachhaltig in Einrichtungen und Diensten des Pflege- und Gesundheitswesen implementiert werden (Goldach et al. 2022; Riedel et al. 2022; Albisser Schleger 2023, 2019). Nicht zuletzt deshalb fordert der ICN-Ethikkodex Führungspersonen in der Pflege ausdrücklich dazu auf, ethische Verhaltensweisen anzuwenden und Strategien zu entwickeln, „um in aufkommenden Krisen wie Pandemien oder Konflikten mit moralischen Belastungen umzugehen“ (ICN 2021, S. 17). Moralisches Belastungserleben ist ein höchst individuelles Erlebensphänomen, das sich auf die je betroffene Person in ihren (professionellen) Beziehungsstrukturen auswirkt (Goldbach et al. 2023a, b). Wenn also Maßnahmen zur Prävention und Bearbeitung moralischen Belastungserlebens implementiert werden sollen, so ist neben dem Willen und der Verantwortungsübernahme der Leitungsund Führungspersonen immer auch die Bereitschaft und das Engagement aller von der Implementierung tangierten Mitarbeitenden erforderlich. Implementierungsprozesse in diesem Kontext stellen eine Form organisationsethischer Weiterentwicklung dar, die ein vertrauensvolles, sorgsames und verlässliches Miteinander aller adressierten Personen(-gruppen) erforderlich machen, die der partizipativen Einbindung von Mitarbeitenden entsprechend ihres Verantwortungsbereiches, ihrer Qualifikation und professionellen Kompetenz bedarf und die auf transparente Information, Kommunikation und Mitbestimmungsmöglichkeiten verwiesen sind. Gerade weil das Implementation of
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Chance Model eine konsequente Verschränkung von Top-down- und Bottom-up-Ansatz im Rahmen von gesteuerten und transparenten Implementierungsprozessen gewährleistet (Woellert 2022; Grol und Wensing 2020b, c; Hoben 2016a), ist es somit für Vorhaben im Bereich organisationsethischen Innovationstransfers als geeignet einzustufen. Wichtig Zusammenfassend können somit
folgende Elemente als maßgebliche Voraussetzungen bzw. als wesentliche Determinanten für Implementierungsvorhaben zur moralischen Entlastung von Pflegefachpersonen angesehen werden: • Ein ethisches Klima, das einen gelebten gemeinsamen Wertehorizont widerspiegelt und für moralische Herausforderungen und ethische Fragestellungen sowohl Orientierung, Reflexion und Entwicklungsräume eröffnet. • Leitungspersonen und -gremien, welche Wissen um und Sensibilität für moralische Herausforderungen der Pflegepraxis besitzen und die Prävention und Bearbeitung moralischer Belastungen von Pflegefachpersonen als ein Phänomen begreifen, das Gegenstand einer wertebasierten, verantwortungsvollen Organisations- und Personalführung wie -entwicklung ist. • Ein Führungsstil, der Transparenz, Partizipation, geteilte Verantwortung sowie Vertrauen in gemeinsame Entwicklungspotenziale und erfolgreiche Veränderungsprozesse ermöglicht und dabei Top-down- mit Bottom-up-Initiativen fruchtbar und unter Berücksichtigung unterschiedlicher Kompetenz- und Verantwortungsbereiche aktiv unterstützt und partizipativ zu realisieren hilft. • Die verbindliche Bereitschaft der Organisation und ihrer Führungspersonen, notwendige Ressourcen in die nachhaltige Implementierung von Interventionen zur moralischen Entlastung
und Integritätsförderung von Pflegefachpersonen zu investieren und diesen Prozess verlässlich und zielgerichtet zu steuern sowie zu evaluieren. • Mitarbeitende, die sich im Rahmen individueller, teambezogener wie organisationaler Reflexions- und Weiterentwicklungsprozesse konstruktiv und offen mit der nachhaltigen Implementierung von Interventionen im Phänomenbereich des moralischen Belastungserlebens von Pflegefachpersonen beschäftigen und einbringen wollen. Nachfolgend wird das insgesamt sieben Schritte umfassende Implementierungsmodell von Grol und Wensing (2020c) eingeführt, indem wesentliche Inhalte sowie Ergebnisse der einzelnen Prozessschritte im Kontext der Implementierung von Interventionen zur moralischen Entlastung und Förderungen der moralischen Integrität von Pflegefachpersonen benannt werden. Wichtig für die Realisierung einrichtungsspezifischer Implementierungsvorhaben ist, die folgend aufgezeigten Prozesselemente einer einrichtungsindividuellen Reflexion und Modifikation zu unterziehen. Die Ausführungen bieten somit einen leitenden Orientierungs- und Reflexionsrahmen für angestrebte Implementierungsprozesse, die zugleich aber auf die real in der Einrichtung wirkenden determinierenden Rahmenfaktoren hin abzustimmen sind.
7.4 Zentrale Schritte der Implementierung nach dem Implementation of Change Model Erster Schritt der Implementierung: Einen konkreten Veränderungsvorschlag ausarbeiten Ausgehend vom jeweiligen Implementierungsanlass arbeitet die für die Implementierungssteuerung verantwortliche(n) Person(en) bzw. das Gremium (z. B. eine projektbezogene Steuerungsgruppe) tragende, möglichst evidenzbasierte Vorschläge aus, welche inhaltlich die
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mit der Implementierung angestrebte(n) Veränderung(en) repräsentieren. Es gilt in diesem Schritt also darum, nachvollziehbar und konkret zu formulieren, wie der künftig angestrebte Zustand/die künftig angestrebte Handlungspraxis in Bezug auf das moralische Belastungserleben von Pflegefachpersonen nach der erfolgreichen Interventionsimplementierung idealerweise aussehen wird. Dabei kann es hilfreich sein, zunächst umfassend alle erstrebenswerten Veränderungsszenarien zu sammeln und sie dann in einem zweiten Schritt gemäß der einrichtungsbezogenen (organisationsethischen) Voraussetzungen, Prioritäten, Ressourcen aber auch hinsichtlich der je unterschiedlichen inhaltlichen wie strukturellen Bezogen- und Wechselseitigkeit adressierter Einzelinterventionen zu systematisieren und zu kategorisieren. Dieser Prozessschritt hat die maßgebliche Funktion, möglichst alle bedeutsamen und anzustrebenden Veränderungsoptionen zu sammeln und davon ausgehend zugleich eine transparent nachvollziehbare und begründete, bestenfalls konsensuell getroffene Entscheidung für die Wahl einer Interventionsimplementierung bzw. eines gestuften, aufeinander abgestimmten komplexen Implementierungsprozesses herbeizuführen. Dies trägt entscheidend dazu bei, den Gegenstand des Implementierungsprozess im Sinne einer konsentierten, partizipativ getroffenen Entscheidung einer breiten Unterstützung zuzuführen und Klarheit über das angestrebte Veränderungsziel zu erlangen. Zweiter Schritt der Implementierung: Den Ist-Stand analysieren und Veränderungsziele formulieren In diesem Schritt der Implementierung gilt es, die aktuell gelebte Handlungspraxis bezüglich des Veränderungsgegenstandes/der zu implementierenden Intervention zu analysieren. Das bedeutet auch, herauszuarbeiten, welche der aktuell bestehenden Strukturen und Prozesse einschließlich der daran gebundenen Instrumente, Standards und Verfahrensbeschreibungen in Bezug auf die zu implementierende Intervention tangiert sein werden und inwiefern unterschiedliche Personen(-gruppen) somit in die Implementierung einzubeziehen sind.
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Bei der Ist-Stand-Analyse im Phänomenbereich des moralischen Belastungserlebens von Pflegefachpersonen bedeutet das zwingend, alle verankerten Strukturen, Verfahren und Prozesse der Organisationsethik einschließlich der Strukturen und Modelle der Ethikberatung, alle Formen supervidierender Begleitung von Pflegeteams und Einzelpersonen sowie alle darüberhinausgehenden Angebote und etablierten Formate in Bezug auf ethische Bildung und Kompetenzentwicklung, des kollegialen Supports und der individuellen Kompetenz in Bezug auf den Umgang mit herausfordernden beruflichen Beziehungs- und Kommunikationssituationen und Teamprozesse einzubeziehen. Nur so können einerseits wichtige einrichtungsspezifische Interventionen und Implementierungsansätze zur moralischen Entlastung und Förderung der moralischen Integrität der Pflegefachpersonen identifiziert sowie deren systematische und organische Ein- und Anbindung in bereits bestehende organisationsethische Strukturen sowie in Bildungs- und Personalentwicklungsmaßnahmen realisiert werden. Im Anschluss an diese Analyse ist es möglich, unter Anerkennung der je einrichtungsspezifischen Voraussetzungen, die konkreten Ziele des mit der Implementierung adressierten Veränderungsprozesses unter Nutzung der SMART-Kriterien zu definieren. Übergeordnet hat dieser Implementierungsschritt die Funktion, möglichst umfassend und zugleich detailliert zu beschreiben, wo die jeweilige Einrichtung im Kontext des Implementierungsvorhabens aktuell steht und festzulegen, was mit der Implementierung konkret erreicht werden soll. Dritter Schritt der Implementierung: Bestehende Herausforderungen und Probleme der adressierten Zielgruppe(n) und Rahmenbedingung analysieren Erfolg und Akzeptanz eines Implementierungsprozesses und somit der durch ihn initiierten Veränderungsprozesse stehen unmittelbar mit den jeweiligen Erwartungen an die Interventionswirkung, mit den bestehenden Erfahrungen und den zur Verfügung stehenden Kompetenzen der von der einzu-
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führenden Neuerung adressierten Zielgruppe(n) in Verbindung und beeinflussen deren Veränderungs- und Mitwirkungsbereitschaft. Auch die Qualität von Vorerfahrungen mit Implementierungsprozessen im Allgemeinen entfalten unterstützende oder eher limitierende Wirkung. Je konkreter im Vorfeld einer Implementierung versucht wird, diese Einflussfaktoren zu antizipieren und bei der Gestaltung des konkreten Implementierungsplanes zu berücksichtigen, umso anschlussfähiger kann der Implementierungsplan gestaltet werden und so eher gelingt es, Implementierungsbarrieren zu überwinden. Gerade bei Implementierungsvorhaben im Kontext des moralischen Belastungserlebens ist die Analyse der aktuell bestehenden moralischen Verfasstheit, Kenntnis zu bestehenden moralischen Herausforderungen und zum Ausmaß des empfundenen Belastungserlebens bei den adressierten und einbezogenen Pflegefachpersonen sowie die vorhandene ethisch-moralischen Kompetenz von herausgehobener Bedeutung, deren Einbezug und Berücksichtigung als Schlüssel für die verantwortungsvolle und strukturierte Implementierungsplanung einzuschätzen ist. Unter Umständen sind im Kontext einer längerfristigen Implementierung von perspektivisch entlastend wirkenden Maßnahmen flankierende „Ad-hoc“- bzw. Begleitmaßnahmen notwendig, die eine rasche situative moralische Entlastung ermöglichen, insbesondere dann, wenn der Grad moralischen Belastungserlebens bereits hoch ist oder aber antizipiert werden kann, dass durch die Implementierungsmaßnahmen kurzund mittelfristig eine Zunahme der moralischen Belastung von den einbezogenen Pflegefachpersonen nicht auszuschließen ist. Dieser Implementierungsschritt schafft letztlich größtmögliche Klarheit über erwartbare Hemmnisse und Schwierigkeiten in der Realisierung der angestrebten Implementierung und erlaubt es, diese proaktiv bei der Planung von konkreten Implementierungsmaßnahmen zu berücksichtigen. Im Zusammenhang mit Implementierungsvorhaben des Themenkreises moralischen Belastungserlebens stellt er zudem eine Grundvoraussetzung dar, um das
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Implementierungsvorhaben, welches möglicherweise per se moralisches Belastungspotenzial birgt, verantwortungsvoll auszusteuern. Vierter Schritt der Implementierung: Strategien und Maßnahmen der für den Veränderungsprozess entwickeln und auswählen Aufbauend auf den Ergebnissen der vorausgegangenen Teilschritte können nun diejenigen Strategien und Maßnahmen begründet ausgewählt und aufeinander abgestimmt werden, welche für die Einführung der neuen Interventionen einschließlich ihrer begleitenden Instrumente und Verfahren erforderlich sind. Oftmals bedeutet das, bestehenden Strukturen, Prozesse und Verfahren auf die geplanten Veränderungen hin zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Gleiches gilt für bestehende Instrumente, Konzepte und Verfahrensdokumente, die unter Umständen modifiziert oder aber neu entwickelt und im organisationalen Kontext verortet werden müssen. Hierfür sind zumeist flankierende Weiterbildungs- und Schulungsangebote sowie die thematische Aufbereitung im Rahmen von gezielt konstituierten und moderierten Arbeitsgruppen auf der operativen Ebene erforderlich. Wichtig ist, eine umfassende und zugleich zielgenaue sowie ressourcensensible Einbindung aller von den Veränderungen tangierten Organisationsebenen und Personen(-gruppen) anzustreben und konkrete Verantwortungsund Zuständigkeitsbereiche zu definieren. Dabei ist es im Sinne transparenter und geteilter Entscheidungsprozesse anzuraten, die Beweggründe für getroffene Entscheidungen festzuhalten und im Rahmen eines abgestimmten Berichtswesens transparent zu machen. Teil einer erfolgreichen Implementierungsstrategie ist nicht zuletzt ein planvolles Informationsmanagement, das allen betroffenen Personen(gruppen) gemäß ihrer Involviertheit und ihres Verantwortungsbereiches geeignete Beteiligungs- und Rückmeldeoptionen eröffnet. Im Kontext des moralischen Belastungserlebens sind die zu implementierenden Interventionen auf ihre Integration in bestehende organisationsethische Strukturen zu überprüfen
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bzw. herauszuarbeiten, inwiefern sich bestehende organisationsethische Strukturen ggf. durch die Implementierung qualitativ verändern bzw. erweitern. Zudem ist abzusichern, dass einzelne Implementierungsmaßnahmen in ihrer wechselseitigen Bedingtheit geprüft werden. Unterbleiben diese systemischen Analysen des organisationsethischen Wirkgefüges, können beispielsweise isolierte Einzelinterventionen auf der Ebene der individuell belasteten Pflegefachperson ihr präventives bzw. entlastendes Potenzial nicht oder nicht umfänglich entfalten. Im ungünstigsten Fall kann es sogar zu einer (situativen bzw. temporären) Erhöhung der moralischen Belastung der individuell betroffenen Pflegefachperson kommen, weil wichtige Begleitprozesse und Strukturen auf anderen Ebenen – etwa dem Team, der Gesamtorganisation bzw. dem Leitungshandeln – fehlen (Riedel et al. 2022; Goldbach et al. 2022; Klotz et al. 2022; Riedel und Lehmeyer 2022b 2021b). Im Ergebnis führt dieser Implementierungsschritt dazu, dass eine umfassende Übersicht aller notwendigen Strategien und Maßnahmen des Implementierungsvorhabens vorliegt, die komplexe organisationsethische Wirkmechanismen reflektiert und im Sinne geteilter Aufgabenund Verantwortungshorizonte eine sinnvolle Implementierungsrealisierung ermöglicht. Fünfter Schritt der Implementierung: Einen Implementierungsplan entwickeln, testen und umsetzen Die notwendigen Implementierungsstrategien und -maßnahmen gilt es in diesem Schritt in eine zeitlich aufeinander abgestimmte Phasierung und Struktur zu überführen, welche eine praktikable und sinnhafte Umsetzung der Interventionsimplementierung bestmöglich sichert. Das Realisieren und formative Evaluieren dieser Planung im Rahmen einer Modellimplementierung in einer ausgewählten Organisationseinheit kann für die regelhafte Implementierung in der Gesamtorganisation wichtige Erkenntnisse generieren und die Möglichkeit einer prozessbegleitend fortlaufenden Anpassung der Implementierungsplanung eröffnen. Auch jenseits der modellhaften Implementie-
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rung ist eine Begleitevaluation sowie die Dokumentation des Implementierungsprozesses für die abschließende Gesamtauswertung sowie für die Planung nachfolgender Implementierungsvorhaben von Interesse. Beachtlich ist auch in dieser Phase der Implementierung die angemessene, am Bottom-up- wie am Top-down-Prinzip ausgerichtete Information über den aktuellen Implementierungsfortschritt, über derzeitige Implementierungsaktivitäten sowie über den Stand der bereits realisierten Veränderungserfolge und Ziele. Dies erfordert eine verlässliche Prozesssteuerung und befördert einerseits das Interesse am Implementierungsprozess, würdigt die erreichten Teilziele und das hierfür eingebrachte Engagement der beteiligten Personen(-gruppen) und erlaubt andererseits auch in diesem Stadium der Implementierung eine Partizipation von Personen(-gruppen), welche aktuell oder dauerhaft nicht im unmittelbaren Zentrum des Implementierungsgeschehens stehen. Zudem befördert ein kontinuierliches Monitoring des Implementierungsplanes das Einhalten zeitlicher und finanzieller Implementierungsrahmungen sowie die Realisierung übernommener Aufgaben und Zuständigkeiten im Sinne geteilter Verantwortung. Sechster Schritt der Implementierung: Implementierte Interventionen in den Handlungsroutinen verstetigen Der Implementierungsprozess ist nicht mit der Realisierung des Implementierungsplanes abgeschlossen. Gilt es doch, die neu eingeführten Veränderungen und Neuerungen zum gelebten, selbstverständlichen Teil der alltäglichen Handlungsabläufe und -routinen der adressierten Personen(-gruppen) sowie der Organisation als solches zu machen. Ein Mangel an Begleitung, Beratung und ggf. erforderlicher zusätzlicher Umsetzungshilfen im Rahmen dieser notwendigen Verstetigungsprozesse kann einen deutlich negativen Effekt auf die Nachhaltigkeit des gesamten Implementierungsprozesses zeitigen. Beispielsweise dann, wenn zwar das Wissen um die Sinnhaftigkeit emotional entlastender Gesprächsangebote im Pflege-
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team vorhanden ist, deren Realisierung nach Abschluss der Implementierung aber aufgrund anderer Implementierungsthemen nicht konsequent geplant und vollzogen wird, Instrumente zur Absicherung nicht verfahrenskonform genutzt oder aber Leitungsverantwortliche oder Pflegefachpersonen nicht kontinuierlich und verfahrenskonform auf die neuen Strukturen im Rahmen organisationsethischer Beratungs- und Entlastungsangebote zurückgreifen. Ein Abbruch von Implementierungsvorhaben in diesem Schritt des Gesamtprozesses kann die grundsätzliche Bereitschaft, sich aktiv in (zukünftige) Implementierungsprozesse einzubringen und sinnhaften Neuerungen aufgeschlossen gegenüberzustehen, negativ tangieren, weil Implementierung wiederholt als ineffizient oder wenig nachhaltig erlebt wird (Boggatz 2022; Meyer et al. 2016). Im Rahmen der Steuerung des Implemen tierungsprozesses gilt es somit, auch diesen Teilschritt zu planen, mit erforderlichen Ressourcen auszustatten und in den organisationalen Prozessen (beispielsweise in Form von Jahreszielen) zu verankern. Oftmals unterstützen niederschwellig aufsuchende Begleitangebote sowie eine Kultur des proaktiven Nachfragens seitens der Leitungs- und Führungsebene die Phase der Verstetigung. Auch in diesem Prozessschritt sind Leitungspersonen mit ihrem Wissen, ihrer Sensibilität und Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme als Schlüsselfiguren für die Verstetigung moralisch entlastender und integritätsförderlicher Interventionen anzusehen. Nicht zuletzt nimmt, wie einführend beschrieben, der gepflegte Führungsstil und die gelebte Wertehaltung bei der Gestaltung derartiger Prozesse erheblichen Einfluss auf das erfahrbare ethische Klima eines beruflichen Handlungsfeldes und kollegialen Umfeldes und wird somit selbst zu einem entscheidenden Faktor bei der Ausbildung moralischer Integrität und Resilienz von Pflegefachpersonen. Die Verstetigungsphase kann als abgeschlossen betrachtet werden, wenn die implementierten Neuerungen tatsächlich im alltäglichen Handlungsvollzug gemäß ihrer intendierten Zielausrichtung gelebt werden.
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Standardisiert erhobene Kennzahlen können ggf. dabei helfen, eine verbindliche Aussage zum Verstetigungsgrad zu treffen. Siebter Schritt der Implementierung: Die Zielerreichung evaluieren und ggf. den Implementierungsplan anpassen Die Wirksamkeitsüberprüfung realisierter Implementierungsmaßnahmen stellt einen abschließenden, obligaten Schritt eines jeden Implementierungsprozesses dar. In diesem Zuge wird kontrolliert, inwiefern • die umgesetzten Maßnahmen des vierten Prozessschrittes unter • Berücksichtigung der im dritten Prozessschritt analysierten Herausforderungen zur • Erreichung der im zweiten Prozessschritt definierten Veränderungsziele geeignet waren. Sollten Abweichungen in Bezug auf die intendierten Ziele oder hinsichtlich der erreichten Umsetzungsqualität feststellbar sein, gilt es die Ursachen hierfür möglichst konkret zu analysieren und ggf. eine entsprechende Nachsteuerung vorzunehmen. Ein besonderer Benefit im Rahmen der Evaluation ist zu erwarten, wenn parallel zu den Implementierungserschwernissen auch explizit implementierungsunterstützende Elemente identifiziert werden. Beides hilft dabei, eine sich stetig fortentwickelnden Implementierungspraxis in der jeweiligen Organisation zu etablieren sowie die Kompetenz und den souveränen Umgang mit den strukturellen Herausforderungen von Implementierungsprozessen aufseiten der leitungsverantwortlichen Personen(-gruppen) und Gremien zu vertiefen und zu erweitern. Die Evaluation von Implementierungsprozessen im Kontext des moralischen Belastungserlebens kann zudem wertvolle Hinweise für weiterführend und ergänzend notwendige Veränderungs- und Anpassungsbedarfe innerhalb der organisationsethischen Strukturen zur Realisierung einer ethischen Kultur geben, welche ihrerseits moralische Belastungen möglichst zielgerichtet präventiert, sowie die Entwicklung und Sicherung der moralischen
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Integrität der Pflegefachpersonen strukturell unterstützt.
7.5 Zusammenfassung Insgesamt wird deutlich: Die Ausrichtung an einem implementierungswissenschaftlichen Modell trägt dazu bei, die integralen Elemente einer auf Nachhaltigkeit ausgelegten Weiterentwicklung – auch der Organisationsethik – systematisch transparent zu machen, strukturiert und aufeinander abgewogen in die unterschiedlichen Strategien und Maßnahmen konkreter Implementierungsvorhaben einzubeziehen und somit ein handhabbares, transparentes und verantwortbares Vorgehen zu ermöglichen. Ein von allen Mitarbeitenden in allen Organisationsbereichen und auf allen Führungsebenen geteilter und gelebter Wertehorizont schafft dabei die Voraussetzung, ein ethisches Klima zu etablieren, in welchem Fragen der Entwicklung und des Schutzes der moralischen Integrität von Pflegefachpersonen zum originären Bestandteil organisationsethischer Strukturen, Prozesse und Verfahren und somit selbst zum Gegenstand gelebter ethischer Kultur und Professionalität der Pflege werden.
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Teil III
Notwendige Strategien der Praxis, Organisationen und (Berufs-)Politik zur nachhaltigen Prävention und Reduktion moralischen Belastungserlebens
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Pflegefachpersonen moralisch entlasten Bedeutung der Organisationsethik am Beispiel impliziter Priorisierung mangelnder pflegerischer Ressourcen, theoretische Aspekte und praktische Umsetzung Heidi Albisser Schleger Zusammenfassung
Mangelnde personelle oder materielle Ressourcen zwingen Pflegefachpersonen zur impliziten Priorisierung, also der Zuteilung in Einzelfallsituationen nach individuellem Ermessen. Die internationale wissenschaftliche Literatur weist jedoch darauf hin, dass implizite Priorisierung die Pflege- und Behandlungsqualität beeinträchtigen kann, weil beispielsweise professionelle Standards nicht eingehalten werden. Daraus folgender Schaden im Einzelfall und damit einhergehende Verletzungen ethischer Mindestanforderungen können in einer Weise belasten, die zu Krankheitsausfällen oder Kündigungen führt. Mit Blick auf den Pflegenotstand und den Teufelskreis von Überlastung und Kündigungen gehören Maßnahmen zum Personalerhalt zu den zentralen Anliegen von Führungskräften. Die Ethik, insbesondere die Organisationsethik, kann dazu einen Beitrag leisten. Die implizite Priorisierung als Beispiel für eine Folge mangelnder pflegerischer Ressourcen bildet den Ausgangspunkt für den Vorschlag einer die Hierarchie übergreifenden ethischen Organisationsstruktur: einer Struktur, die die
Individualethik eng mit der Organisationsethik vernetzt, Führungskräfte als aktive Stakeholder involviert und die ethische Selbstkompetenz und Selbstwirksamkeit aller Mitarbeitenden der Gesundheitsorganisation unterstützt. Davon sollen in einer Mangellage auch die Mitarbeitenden der Basis profitieren, indem sie aufgrund der erwarteten besseren (pflegerischen) Versorgungsqualität moralisch weniger belastet sind. Denn gängige ethische Unterstützungsstrukturen der klinischen Ethik wie auch der Ethik der ambulanten und stationären Langzeitpflege sind primär auf Problemstellungen ausgerichtet, die sich aus physischen oder psychischen Bedingungen der Patient*innen-/Bewohner*innensituation entwickeln und eine individualethische Reflexion erfordern. Für die Betrachtung mangelnder pflegerischer Ressourcen, die im Einzelfall Mindestanforderungen verletzen, fehlen i. d. R. die erforderlichen (organisations)ethischen Reflexionsstrukturen. Die Darlegung der theoretischen Aspekte moralischer Belastungsreaktionen am Beispiel der impliziten Priorisierung mangelnder pflegerischer Ressourcen bildet den Ausgangspunkt der Ausführungen.
H. A. Schleger (*) Pflegewissenschaft – Nursing Science (INS), Basel, Schweiz E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 A. Riedel et al. (Hrsg.), Moralische Belastung von Pflegefachpersonen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67049-1_8
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8.1 Hintergrund und Erkenntnisinteresse 8.1.1 Hintergrund Die Pflege ist systemrelevant (Dichter et al. 2020). Sie gehört zur kritischen Infrastruktur und trägt zum Funktionieren der Gesellschaft bei. Als entscheidender Wirkfaktor auf die Versorgungsqualität ist eine leistungsfähige Pflege eine wesentliche Gesundheitsressource und damit ein Hauptpfeiler des Gesundheitssystems (vgl. Suhonen et al. 2021, S. 98; Glock et al. 2018, S. 5; Cassier-Woidasky 2012). Zu diesen Aussagen steht die gegenwärtige Situation im direkten Widerspruch. Die internationale Forschung, wie auch die Tagespresse, dokumentiert eine geschwächte Pflege, die bei steigenden Anforderungen aufgrund mangelnder personeller, zeitlicher, professioneller oder materieller Ressourcen physisch, psychisch und moralisch stark belastet ist. Die Pflegefachpersonen versuchen mangels Alternativen, unzureichende Ressourcen in ihrer Alltagspraxis zu kompensieren und das „Gut“ notwendiger Pflegetätigkeiten (vgl. Käppeli 1999), meist durch sogenannte implizite Priorisierungsstrategien, im Einzelfall nach eigenem Ermessen zuteilwerden zu lassen (Zúñiga et al. 2015a, 2015b; Zander et al. 2014; Schubert et al. 2013, 2008; Käppeli 1999). Implizite Priorisierung, d. h. die verdeckte Zuteilung unzureichender Ressourcen, ist eine Strategie, die Differenz zwischen dem Ist- und dem Sollzustand zu überwinden. Weggelassen werden v. a. Zuwendungsgespräche, Beratung und Anleitung auch von Angehörigen oder z. B. die Überwachung, also typische pflegerische Tätigkeiten (Favez et al. 2022; Zúñiga et al. 2015a, 2015b; Zander et al. 2014; RN4Cast 2011). Weitere Studien weisen darauf hin, dass implizite Priorisierung mangelnder pflegerischer Ressourcen mit einem höheren Risiko für Stürze, kritische Ereignisse oder etwa Medikationsfehler einhergeht (vgl. Saar et al. 2021; Ball et al. 2018; Kersting 2016; Papastavrou et al. 2014), Folgen, die nicht nur die Pflege- und Behandlungsqualität be-
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einträchtigen, sondern sich auch negativ auf die Arbeitszufriedenheit auswirken oder zu Gesundheitsproblemen und Kündigungen führen (vgl. Zúñiga et al. 2021; Haahr et al. 2020; Karakachian und Colbert 2019). Letztere sind als direkte Auswirkungen der moralischen Belastung zu betrachten: In der Literatur gehört die Zuteilung mangelnder pflegerischer Ressourcen zu den viel diskutierten Bedingungen, unter denen moralisches Handeln erschwert ist (vgl. Riedel und Lehmeyer 2021b; Primc 2021; Hossain und Clatty 2021; Haahr et al. 2020; Monteverde 2019a; Suhonen et al. 2018; Holsten 2015; Jameton 2013; Piers et al. 2012). Aus impliziter Priorisierung folgender unmittelbarer oder potenzieller Schaden untergräbt das Berufsethos und das professionelle Wissen der Pflegefachpersonen und geht häufig mit starken Schuld- und Schamgefühlen einher (Suhonen et al. 2021, 2018). Die Pflegefachpersonen stehen mit den negativen Folgen unzureichender struktureller Rahmenbedingungen, wie z. B. bei Personalmangel, für die zu Pflegenden häufig allein da, was ihre Ohnmacht gegenüber dem wahrgenommenen Leiden verstärkt. Die Verhinderung einer angemessenen Reaktion auf die individuelle Pflegesituation verstärkt den psychischen Druck, der sich von ungelöster zu ungelöster Situation weiter aufstaut und über einen sogenannten Crescendo-Effekt zu anhaltenden schmerzlichen Belastungen, zu sogenanntem Moral Residue oder einer eigentlichen moralischen Verletzung bzw. „Moral Injury“ führen kann (Riedel und Lehmeyer 2021b, S. 10, gestützt auf Epstein und Hamric 2009). In der beruflichen Praxis lassen sich Ursachen und Folgen moralischer Belastung häufig nicht oder zu spät adressieren. Die zugrunde liegenden Problemlagen haben deshalb die Tendenz zu perseverieren. Die hohe Veränderungsresistenz mag u. a. ebenfalls darin begründet sein, dass solche Problemlagen häufig „durch das Raster“ fallen. Gängige Unterstützungsstrukturen der klinischen Ethik wie auch der Ethik der ambulanten und stationären Langzeitpflege sind häufig primär auf Problemstellungen ausgerichtet, die sich
8 Pflegefachpersonen moralisch entlasten
aus physischen oder psychischen Bedingungen der Pflegesituation entwickeln. Als gängige ethische Unterstützungsstruktur ist etwa das Ethik-Komitee-Modell zu betrachten, ein Gremium, das aus multiprofessionell ausgewählten Führungskräften der Institution besteht oder als Joint-Komitee (Beteiligung mehrerer Institutionen) implementiert ist. Es garantiert die Strukturen und Prozesse, anhand derer Ethik in den Gesundheitsinstitutionen umgesetzt wird. Darüber hinaus stellt es Ethikberater*innen, qualifizierte Fachkräfte u. a. für die Moderation ethischer Fallbesprechungen. Dem Ethik-Komitee steht üblicherweise eine qualifizierte Ethikfachperson vor (Übersicht siehe Simon 2020). Für die Betrachtung unzureichender struktureller Rahmenbedingungen, die im Einzelfall ethische Mindestanforderungen verletzen, beispielsweise mangelnde personelle und materielle Ressourcen, fehlen i. d. R. die erforderlichen organisationsethischen Reflexionsstrukturen.1 Zugleich ist die Ethik bei den Mitarbeitenden wenig verankert (vgl. Ranisch et al. 2021; Albisser Schleger et al. 2019/2012), was die Sprachfähigkeit beeinträchtigt, die daraus folgenden negativen Konsequenzen zu identifizieren und zu adressieren. Die ethische Reflexion hat außerdem meist einen optionalen Charakter. Gleichzeitig sehen sich viele Mitarbeitende der Versorgungsebene (Mikroebene) für die negativen Folgen mangelnder Ressourcen verantwortlich.2 Solche Problemlagen obliegen jedoch primär der Verantwortung von Führungspersonen der Mesoebene und müssen dort als solche anerkannt und bearbeitet werden. Die klinische Ethik bzw. die Ethik für die ambulante und stationäre Langzeitpflege involviert in ihren gängigen Organisationsstrukturen die Führungspersonen der Mesoebene bislang noch zu wenig und vielfach nicht systematisch.
1 Bzgl. weiterer Aspekte des epistemischen Bias ethischer Unterstützungsstrukturen siehe auch Weidmann-Hügle und Monteverde (2022). 2 Vgl. auch Manzeschke (2013) Supererogation – mehr tun, als gefordert werden kann.
159
Es fehlt in Gesundheitsinstitutionen an einer klaren Zuschreibung von Zuständigkeiten: Idealerweise verantworten Pflegende und weitere Gesundheitsfachpersonen der Mikroebene primär diejenigen Problemstellungen aus ethischer Perspektive, die sich aus fraglichen physischen, psychischen oder sozialen Bedingungen der Pflege- und Behandlungssituation entwickeln. Die Führungskräfte der Mesoebene hingegen tragen primär die Verantwortung für die Folgen einer unzureichenden Arbeitsumgebung (u. a. Personalmangel), die im Einzelfall ethische Mindestanforderungen verletzen oder die Mitarbeitenden ungebührlich belasten. Beispielsweise dann, wenn trotz des festgelegten Stellenschlüssels für Pflegende im Intensiv- und Palliativbereich, dieser nicht umgesetzt wird/werden kann. In der Praxis weisen beide Problemlagen i. d. R. starke Überlappungen auf.
8.1.2 Erkenntnisinteresse Dieser Beitrag hat zum Ziel, ausgewählte theoretische und praktische Aspekte moralischer Belastung am Beispiel mangelnder pflegerischer Ressourcen und die negativen Folgen der impliziten Priorisierung mit Blick auf die Mikroebene (Pflege, Behandlung und Betreuung), Mesoebene (Führung, Management) und Makroebene (gesellschaftliche, soziale, rechtliche, behördliche Ebene) herauszuarbeiten. In einem weiteren Schritt wird theoretisch erörtert, inwiefern die Organisationsethik einen Beitrag leisten kann, moralische Belastungsreaktionen von Pflegefachpersonen zu reduzieren oder vorzubeugen, bzw. weshalb Organisationsethik zur Sicherung der Pflegeund Versorgungsqualität bei mangelnden Ressourcen beitragen kann. Mit Blick auf die praktische Umsetzung sollen – gestützt auf das Ethik-Komitee-Modell3 – zusätzliche Maßnahmen vorgeschlagen wer-
3 Siehe
Simon 2020.
160
H. A. Schleger
den, die eine zwischen der Mikro- und Mesoebene vernetzte, die Hierarchie übergreifende ethische Organisationsstruktur realisieren lassen. Zugleich sollen mit zusätzlich vorgeschlagenen Maßnahmen zur Unterstützung der ethischen Selbstkompetenz alle Akteure eine aktive Rolle einnehmen können, ungeachtet dessen, ob sie für die direkte Versorgung von Patient*innen resp. Bewohner*innen (Mikroebene) oder für die indirekte Versorgung (Führung, Management: Mesoebene) tätig sind. Die Verankerung der Ethik bei den Mitarbeitenden der Mikro- und Mesoebene soll ihnen erlauben, kritische Situationen, die von ethischer Relevanz sind, frühzeitig zu erkennen und ihrer Eskalation vorzubeugen. Die Erfahrung von Gerechtigkeit4 wie auch von ethischer Selbstkompetenz und Selbstwirksamkeit soll der Eskalation von moralischer Belastung zur Belastungsstörung auch in einer Mangellage vorbeugen.
8.1.3 „Pflege“ – Ein Wirkfaktor? Makroebene und Mesoebene Die Kosten im Gesundheitswesen sind hoch und steigen – analog den Jahrzehnten zuvor – weiter kontinuierlich an.5 Damit steigt auch der finanzielle Druck auf die Gesundheitsinstitutionen. Im Kontext von Kosteneinsparungen erwecken gesundheitspolitische oder institutionelle Entscheide zuweilen den Eindruck, dass der Nutzen der Pflege eine verhandelbare Größe ist. Hinweise darauf finden sich im Bereich der Ökonomisierung im Gesundheitswesen, im Gewicht der Repräsentanz der Pflege in institutionellen Leitungsgremien oder etwa in der Genderforschung. Die Genderforschung unterscheidet zwischen Erwerbsarbeit und Care-Tätigkeit. Erstere subsumiert klassische, an den Naturwissenschaften bzw. der Technik orientierte Männerberufe und Letztere Pflegetätigkeiten, die ein hohes emotiona-
4 Vgl.
Monteverde 2019b.
5 Beispiel
vgl. auch Staffelbach et al. 2014.
les Engagement erfordern und v. a. von Frauen ausgeübt werden (Lutz und Schmidbauer 20206). Lutz und Schmidbauer weisen in derselben Publikation – mit Fokus auf soziale Anerkennung und Finanzierung – auf den unhinterfragten Vorrang der Erwerbsarbeit gegenüber der Care-Tätigkeit hin, und dies trotz eines gesellschaftlichen Anspruchs auf Gleichheit. Man kann davon ausgehen, dass diese Gewichtung die Gesundheitspolitik wie auch das institutionelle Management auch heute noch stark beeinflusst mit dem Risiko, die bestehenden, für die Care-Tätigkeit ungünstigen Machtverhältnisse zu zementieren. Im Zuge von Reorganisationen der klinikinternen und -externen Versorgung ist die Pflege seit den 1990er Jahren reguliert, formalisiert, aber auch prekarisiert worden (vgl. Primc 2021; Schniering 2021; Motakef und Wimbauer 2019; Auth 2013). Der Versuch, den hohen Kosten im Gesundheitssystem mit Reformen beizukommen, betrifft in besonderem Ausmaß die Pflege, die die größte Berufsgruppe im Gesundheitswesen stellt. Des Weiteren haben Pflegetätigkeiten durch Standardisierung und QuasiTaylorisierung, gepaart mit einer mangelhaften Kostenübernahme gewisser Pflegetätigkeiten durch die Kranken- und Pflegekassen (Pfau-Effinger et al. 2008; KVG 1996), vermeintlich an Relevanz und Wert für die Versorgungsqualität verloren. Ein weiterer Faktor, der die Wirkfähigkeit der Pflege innerhalb der jeweiligen Institutionen reduziert, ist ihre vielfach fehlende bzw. unzureichende Vertretung in den Leitungsgremien. Der International Council of Nurses (ICN 2021) postuliert, dass sich Pflegefachpersonen an der Entwicklung einer positiven und konstruktiven Arbeitsumgebung beteiligen sollen. Die Realisierung setzt jedoch organisationale Strukturen voraus, die es den Führungskräften der Pflege erlauben, auf für die Pflege relevante strategische Ziele und deren organisatorische Verankerung einzuwirken (vgl. Trisan-org 2019,
6 Riedel et al. (in progress) Ethische Selbstwirksamkeit. Beitrag der AG Pflege und Ethik II.
8 Pflegefachpersonen moralisch entlasten
S. 17; Haidt 2014; Cassier-Woidasky 2012, Haidt und Kesebir 2010). Diese Beispiele sollen zeigen, dass implizite Priorisierung und moralische Belastung nicht ausschließlich als Probleme einzelner Pflegefachpersonen zu verstehen sind. Vielmehr entwickeln sich beide in einem Zusammenspiel, das jeweils unterschiedliche Faktoren der institutionellen Ebene (Führung und Management: Mesoebene) und der Makroebene (Gesundheitspolitik, Behörden) miteinschließt: Faktoren, die dazu führen können, dass Pflegefachpersonen der Mikroebene implizit gezwungen werden, in einer Weise zu handeln, die ihrem Berufsethos widerspricht, und dass sie deshalb den an sich sehr geschätzten Beruf verlassen (vgl. etwa Schniering 2021).
8.2 Theoretische Aspekte moralischer Belastungsreaktionen am Beispiel der impliziten Priorisierung und der Relevanz der Organisationsethik 8.2.1 Um was handelt es sich bei der impliziten Priorisierung? Die implizite (verdeckte) Priorisierung mangelnder pflegerischer Ressourcen (personelle, professionelle, zeitliche, materielle) steht seit Mitte der 1990er Jahren im Fokus der wissenschaftlichen Forschung (Renner et al. 2022; Mantovan et al. 2020; Jones et al. 2015; Zúñiga et al. 2015a; Zander et al. 2014; Schubert et al. 2013, 2008, 2009; Aiken et al. 2012). Mittlerweile existieren mehrere systematische Reviews (vgl. Zhao et al. 2021; Griffith et al. 2019; Recio-Saucedo et al. 2018; Ball et al. 2018; Jones et al. 2015). Aufgrund von demografischen, ausbildungsstrategischen oder gesundheitspolitischen Entwicklungen werden Leistungsbegrenzungen und das Risiko der impliziten Priorisierung die Führungskräfte auch in Zukunft unvermindert fordern (vgl. Schmidt 2021, S. 20; Ehegartner-Throner et al. 2019).
161
Implizite Priorisierung ist ein heterogen verwendetes Konzept. In der Literatur gibt es eine Vielzahl äquivalenter Begriffe für die Zuteilung mangelnder pflegerischer Ressourcen nach persönlichem Ermessen, wie „missed care“, „covert rationing of nursing care“, „unmet nursing care“, „omissions in nursing care“, „rationed nursing“, „implicit rationing of care“, „care left undone“, „quality of health care“, „delivery of health care“, „unfinished care“ oder etwa „bedside rationing“ (vgl. Suhonen et al. 2021; Saar et al. 2021; Primc 2020). Implizite Priorisierung mangelnder pflegerischer Ressourcen bedeutet, dass notwendige Pflegetätigkeiten vorrangig ausgeführt werden, während andere aufgrund des personellen, professionellen oder materiellen Mangels posteriorisiert, nur teilweise ausgeführt oder ganz weggelassen werden (Primc 2020, S. 1, gestützt auf Recio-Saucedo et al. 2018; Jones et al. 2015; Papastavrou et al. 2014, vgl. Schubert et al. 2008). Damit lassen sich Pflegetätigkeiten, die gemäß Standards als notwendig beurteilt werden, aufgrund des Ressourcenmangels entweder überhaupt nicht oder nicht wie vorgesehen gewährleisten und ausführen. Als „implizit“ wird das Vorgehen deshalb bezeichnet, weil Priorisierungs- bzw. Zuteilungsstrategien nach individuellem Ermessen der jeweiligen Pflegefachperson, also verdeckt, erfolgen, d. h. ohne Beizug expliziter Prinzipien, Policies, Richtlinien oder institutioneller Vorgaben, wie dies bei der expliziten (ethisch reflektierten) Priorisierung der Fall wäre (Suhonen et al. 2021, S. 100). Mit Blick auf die obige Begriffsvielfalt verwende ich in den weiteren Abschnitten den Begriff der impliziten Priorisierung für die verdeckte Zuteilung mangelnder pflegerischer Ressourcen.
8.2.2 Konzeptionelle und empirische Grundlagen impliziter Priorisierung und moralischer Belastung Das Berufsethos der Pflegefachpersonen ist ausgeprägt. Werden Ethos und berufliche Wirklich-
162
keit als inkohärent erfahren, sind moralische Belastungsreaktionen wahrscheinlich. Moralische Belastungen sind häufig eine Folge, wenn notwendige pflegerische Maßnahmen mangels Ressourcen wiederkehrend nur teilweise oder gar nicht durchgeführt werden können und so das Berufsethos verletzt ist (vgl. Jameton 2013, 1984). Sogenannte «notwendige» Pflege ist eine am individuellen Einzelfall ausgerichtete Menge an bedarfsgerechter, gerechter, nachhaltiger Unterstützung. Eine auf die WZWKriterien der Wirtschaftlichkeit, Zweckmäßigkeit und Wissenschaftlichkeit gestützte «notwendige» Pflege ist also evidenzbasiert, nützlich und wirtschaftlich. Die ethisch reflektierte, notwendige Pflege wäre demnach das Resultat einer ethischen Reflexion der pflegerischen Situation des/der Betroffenen, die die WZW-Kriterien einschließt (Albisser Schleger 2019b, S. 24–30). Moralische Belastungen treten auf, wenn z. B. institutionelle Vorgaben im Umgang mit der mangelnden Ressource fehlen und die Mitarbeitenden (implizit) gezwungen sind, professionelle Standards zu verletzen, wie auch durch den Druck, in komplexen Situationen zu handeln, in denen die Werteorientierung ungeklärt bleibt (Riedel und Lehmeyer 2021b). Dabei erkennen die betroffenen Pflegefachpersonen, dass sie ihrer Ausbildung, ihrer Erfahrung und ihrer ethischen Verantwortung zuwiderhandeln, weil sie damit (möglicherweise) den zu pflegenden Menschen schaden (vgl. Hossain und Clatty 2021). Moralische Belastungsreaktionen entwickeln sich stets innerhalb einer subjektiven Denkweise und des jeweiligen Beziehungsgeflechtes (vgl. Sanderson et al. 2019). Eine im Rahmen von RN4Cast durchgeführte Befragung von 1511 deutschen Pflegenden hat 2014 u. a. eine signifikante Korrelation zwischen Personalbesetzung, Bereichen der Arbeitsumgebung, dem Priorisierungsindex und der moralischen Belastung der Pflegefachpersonen ergeben (Zander et al. 2014). Den Befund, dass Pflegende, die zu knappe Ressourcen zuteilen müssen, dies als ethisch unangemessen betrachten und mit moralischen Belastungen reagieren, zeigen auch Lamiani et al. (2017). Zu
H. A. Schleger
beachten ist, dass aufgrund methodischer Einschränkungen die meisten Studien darauf hinweisen, dass die Daten keine kausalen Rückschlüsse erlauben. Akzeptiert man implizite Priorisierung als Courant normal, wird in gewisser Weise auch das Risiko einer Überbeanspruchung der individuellen moralischen Belastungsgrenzen von Pflegefachpersonen akzeptiert. Ein kompromittiertes Handlungsvermögen ist nicht nur hinsichtlich ungünstiger Auswirkungen auf die Pflege- und Behandlungsqualität von Relevanz (vgl. Haahr et al. 2020; Kalánková et al. 2020; Griffith et al. 2019; Recio-Saucedo et al. 2018; Schubert et al. 2013). Es schließt auch moralische Desensibilisierung – auch Coolout, Abstumpfung oder Immunisierung genannt – und Vermeidung von Interaktionen mit den zu Pflegenden ein (Storaker et al. 2017; Kersting 2016). Dies wiederum kann bei den Pflegefachpersonen selbst mit einer verletzten moralischen Integrität, mit Stress, Frustration sowie mit physischen und psychischen Belastungsreaktionen einhergehen (vgl. Morley et al. 2019; Delfrate et al. 2018). Wird mangels dazu implementierter Strukturen und Prozesse die Problemlösung als aussichtslos wahrgenommen, sodass die Problemlagen über die Zeit aggravieren, können sich schwere Formen moralischer Belastungsreaktionen bis hin zu schweren Belastungsstörungen entwickeln (vgl. Rushton et al. 2021, S. 121; Talbot und Dean 2021), die Erkrankungen oder Kündigung nach sich ziehen (Sanderson et al. 2019; Karakachian und Colbert 2019; Lamiani et al. 2017). Nicht selten fühlen sich betroffene Fachkräfte, die gegen ihr Berufsethos handeln, verantwortlich für vermeidbaren Schäden an den ihnen anvertrauten Personen (Sanderson et al. 2019; vgl. Manzeschke 2013; Manzeschke und Brink 2010). Untersuchungen liefern außerdem Hinweise, dass manche Geschäftsleitungen den negativen Folgen ungünstiger struktureller Rahmenbedingungen für Mitarbeitende und Patient*innen bzw. Bewohner*innen zu wenig Relevanz einräumen (Wehkamp 2021; Wehkamp und Nägler 2017). Eine mögliche Begründung ist die duale Organisation von Gesundheitsinstitutionen: Die
8 Pflegefachpersonen moralisch entlasten
Mikroebene (Pflege, Behandlung, Therapie) und die Mesoebene (Management, Führung) haben wenige Berührungspunkte. Die Mitarbeitenden der Mikroebene und der Mesoebene haben somit wenig Kenntnisse über die gegenseitigen Rahmenbedingungen und Ziele (Dean et al. 2019). Verglichen mit Fachkräften des übri-
gen Dienstleistungssektors entwickelt sich die moralische Belastung der Pflegefachpersonen im Kontext außergewöhnlicher arbeitszeitlicher, emotionaler und physischer Anforderungen und dies bei einer hohen „Arbeitsintensität“ mit wenig „Gestaltungsspielraum“ (Glock et al. 2018, S. 34– 35, gestützt auf DGB 2016; BIBB 2012). In diesem Licht wiegt individuell erlebte moralische Belastung entsprechend schwer und ist daher mit Blick auf den Fachpersonalnotstand aus führungs- bzw. organisationsethischer Perspektive von hoher Relevanz und Dringlichkeit. Erschöpfung und große Müdigkeit sind aber auch unter den Führungskräften weit verbreitet. Gemäß der von Swiss Nurse Leaders durchgeführten Befragung (2022) von 150 Führungskräften in der Pflege nehmen 72 % der Pflegedirektoren infolge des mit den Problemstellungen einhergehenden enormen Mehraufwandes einen zunehmenden Druck wahr.
8.2.3 Potenzial einer niederschwellig zugänglichen Organisationsethik „Klinische Ethik“ oder „Pflegeethik“ hat überwiegend Fragen im Fokus, die sich aus der professionellen Bezugnahme auf physische, psychische oder soziale Bedingungen eines Patienten, einer Bewohnerin entwickeln und via Fallbesprechung aus individualethischer Perspektive reflektieren lassen. Demgegenüber entziehen sich unzureichende organisationale und struk-
163
turelle Rahmenbedingungen (personeller, professioneller, materieller Mangel), die im Einzelfall ebenso ethische Mindestanforderungen unterminieren, häufig der ethischen Reflexion. Am Beispiel der negativen Folgen der impliziten Priorisierung und der moralischen Belastungsreaktionen stellt sich hierbei die Frage, welchen Beitrag eine niederschwellig zugängliche Organisationsethik leisten kann, um unzureichende strukturelle Rahmenbedingungen, die im Einzelfall ethische Mindestanforderungen verletzen, ebenfalls zu erschließen. Negative Folgen von impliziter Prio-
risierung auf die Pflege im Einzelfall sowie von moralischen Belastungsreaktionen sind demnach typische organisationsethische Problemstellungen (vgl. Suhonen et al. 2018). Die Organisationsethik ist ein in den 1990er Jahren in den USA entwickelter Denkansatz (z. B. Bishop et al. 1999). Sie hat die Reflexion von unzureichenden organisationalen oder strukturellen Rahmenbedingungen zum Gegenstand, die ethische Mindestanforderungen zur Diskussion stellen (vgl. Woellert 2022; Riedel und Lehmeyer 2021a; Großklaus-Seidel 2020/2012, S. 116; Dinges 2019, 2018; Winkler 2018; Haid 2014; Suhonen et al. 2011). Am Beispiel der impliziten Priorisierung und moralischen Belastung wird deutlich, dass ihre Entstehungsbedingungen nicht allein auf der Mikroebene liegen. Sie gründen auch in gesellschaftlichen und gesundheitspolitischen sowie in institutionellen Werten/Bewertungen und VorEntscheiden der Makro- und Mesoebene, wie im Abschn. 8.1.3 beispielhaft dargelegt worden ist (vgl. Suhonen et al. 2021, S. 100; Suhonen et al. 2018; Albisser Schleger 2019b, S. 117–136; Humphries und Woods 2016). Berufliches Handeln lässt sich demnach in einem Zusammenspiel der drei ethischen Dimensionen Individualethik (Mikroebene), Organisationsethik (Mesoebene) und Sozialethik (Makroebene) reflektieren. Daher sind im vorliegenden Kapitel die Individual-, Organisations- und Sozialethik, gestützt auf Gut-
164
H. A. Schleger
mann und Quante (2015), ebenfalls im systemischen Sinne,7 also als unterschiedliche Perspektiven der ethischen Reflexion einer Problemlage, konzeptualisiert.8 „Die Bedeutsamkeit der Organisationsethik ist angesichts immer komplexer, komplizierter und diffiziler werdender ethischer Fragestellungen und moralischer Konflikte – und in der Folge der damit wiederum einhergehenden anspruchsvoller werdenden Entscheidungssituationen im pflegeberuflichen Handeln – zu akzentuieren“ (Riedel und Lehmeyer 2021a, S. 1). Die Autorinnen postulieren weiter: „Im Rahmen organisationsethischer Überlegungen, Innovationen und Konzeptualisierungsprozesse sind die Pflegenden somit dringend mitzudenken und einzubeziehen, um Organisationsethik als akzeptierte und unterstützende Komponente implementieren und realisieren zu können.“ Niederschwellig zugänglich ist die Organisationsethik folglich dann, wenn alle Mitarbeitenden, auch Pflegefachpersonen, unabhängig davon, ob sie für die direkte oder die indirekte Versorgung tätig sind (vgl. Wehkamp 2015, S. 260), bei entsprechenden Unbehagen bzw. Unsicherheit den organisationsethischen Reflexionsprozvess initiieren können. Allerdings weisen seit ungefähr einer Dekade Autoren darauf hin, dass die Umsetzung ethischer Maßstäbe hinter den Erwartungen zurückbleibt (vgl. Ranisch et al. 2021; Jox 2014; Sträting und Sedemund-Adib 2013).
stützen. Eine erfolgreiche Umsetzung der Ethik in der Gesundheitsorganisation ist mit Blick auf die zuvor erläuterten Hintergründe von einer Vernetzung von Meso- und Mikroebene sowie von der Verankerung der Unterstützungsstruktur bei den Mitarbeitenden abhängig (Ranisch et al. 2021, gestützt auf Vollmann 2010; AEM 2010, S. 150). Eine in der beruflichen Praxis der Mikro- und Mesoebene umgesetzte Alltagsethik9 manifestiert sich allerdings nicht nur in der Reflexion der Pflege- und Behandlungsroutinen der Mikroebene. Sie zeigt sich auch im strategisch-operativen Tagesgeschäft der Mitarbeitenden der Mesoebene, indem sie auf die Qualität der Arbeitsumgebung einwirken. Vor Überlegungen wie diesen ist eine die Hierarchie übergreifende, mit der Individualethik vernetzte Organisationsethik empfohlen (Abb. 8.1). Das heißt, eine ethische Organisationsstruktur, anhand derer sich auch unzureichende strukturelle Rahmenbedingungen und deren negativen Folgen für die zu Pflegenden und die Pflegefachpersonen ebenso selbstverständlich aus ethischer Perspektive reflektieren lassen wie Fragen der klinischen Ethik oder der Pflegeethik.
8.2.4 Zwischenfazit aus theoretischer Perspektive
In den folgenden Abschnitten wird dargelegt, wie sich eine mit der Individualethik vernetzte Organisationsethik praktisch umsetzen bzw. in bestehende ethische Organisationsstrukturen wie z. B. das Ethik-Komitee-Modell integrieren lässt, vor allem mit dem Ziel, dass Pflegefachpersonen wie auch weitere Gesundheitsfachkräfte bei mangelnden Ressourcen eine effektive moralische Entlastung erfahren. Mit Blick auf die im theoretischen Teil skizzierten Ausführungen sind bei diesem Vorschlag
Innerhalb dieses Beitrages ist der Fokus primär auf die Mikro- und Mesoebene und damit einhergehend auf die Organisationsethik in ihrer Vernetzung mit der Individualethik gerichtet. Ethikorientierte Organisationen schaffen die Voraussetzungen, die das Handeln in der täglichen Praxis aller Mitarbeitenden unter-
7 Näher
8.3 Implementierung einer niederschwellig zugänglichen Organisationsethik: Vorschläge zur praktischen Umsetzung
ausgeführt in Albisser Schleger (2022).
8 Weitere
Konzeptualisierung, siehe z. B. Woellert (2022).
9 Näher
ausgeführt in Albisser Schleger (2021).
8 Pflegefachpersonen moralisch entlasten
165
Indirekte Versorgung Direkte Versorgung
MESOEBENE: Führung, Management
MIKROEBENE: Gesundheitspersonal
VERANTWORTUNG v. a. Arbeitsumgebung Organisationsethik
VERANTWORTUNG v. a. Pflege, Behandlung, Betreuung Individualethik
Abb. 8.1 Mit der Individualethik vernetzte Organisationsethik
folgende drei zusätzliche Maßnahmen in Ergänzung zu den organisatorischen Strukturen des Ethik-Komitee-Modells vorgesehen: 1. Mesoebene: Die aktive Involvierung der Führungskräfte in die ethische Organisationsstruktur mit zugeordneter Verantwortung, Befugnissen und Unterstützung 2. Mikroebene: Die aktive Involvierung der Gesundheitsfachkräfte in die ethische Organisationsstruktur ebenfalls mit zugeordneter Verantwortung, Befugnissen und Unterstützung 3. Ethik-Koordination Mikro-Meso-Ebene: Ethik-Fachperson als Koordinator*in zwischen der Mikro- und Mesoebene und dem Ethik-Komitee
8.3.1 Mesoebene: Führungskräfte – Stakeholder ethischer Organisationsstrukturen und Förderung der Selbstkompetenz Management und Führung sind beim hier skizzierten Vorschlag als zu integrierende Stakeholder einer ethischen Organisationsstruktur vorgeschlagen. Sie verantworten die strukturellen Rahmenbedingungen, die es den Mitarbeitenden der Mikroebene im Idealfall ermöglichen, auch unter mangelnden Ressourcen ihr ethisch-professionelles
Kompetenzspektrum einzubringen, weiterzuentwickeln und damit die Selbstkompetenz zu festigen. Ohne die Involvierung der Führungskräfte in die ethischen Organisationsstrukturen müssen unzureichende strukturelle Rahmenbedingungen wie sie am Beispiel der impliziten Priorisierung mangelnder pflegerischer Ressourcen illustriert worden sind, als gegebene, unveränderbare Zustände akzeptiert werden (vgl. Wallner 2022/2015). Führungskräfte nehmen folglich eine zentrale Rolle ein, wenn unzureichende strukturelle Rahmenbedingungen in der Institution dazu führen, dass Mindestanforderungen bei zu Pflegenden oder Pflegefachpersonen infrage stehen und schädigende Folgen für diese beiden Gruppen zu befürchten sind. Bei dem vorgeschlagenen Ansatz sind Führungskräfte für organisationsethische Fragen ihres beruflichen Handelns zu sensibilisieren. Zugleich wäre ihnen die Verantwortung zuzuordnen, die Reflektion einer Mangellage auch aus organisationsethischer Perspektive zu initiieren. Zur Unterstützung einer selbstkompetenten, organisationsethischen Reflexion ist dazu ein einfach zugängliches ethisches Unterstützungsinstrumentarium als Leitfaden für Einzelreflexion oder für Konferenzgespräche empfohlen.10 10 Beispiele für organisationsethische Einzelreflexionen oder Konferenzen: siehe Beule et al. (2016); Albisser Schleger (2021), S. 6–10.
166
Analog der Mikroebene (siehe Abschn. 8.3.2) wird auch für die Führungskräfte bei Fragen eine leicht zugängliche Beratung vorgeschlagen. Dafür empfehlen sich z. B. die Ethik-Koordinator*in (siehe unten) oder die/der Vorsitzende des Ethik-Komitees, die über ein entsprechendes organisationsethisches, gerechtigkeitsethisches, unternehmensethisches oder führungsethisches Kompetenzprofil verfügen. Für Problemlagen mit primär organisationsethischem Schwerpunkt sind, analog der ethischen Fallbesprechung, z. B. vom Ethik-Komitee organisierte interprofessionelle Ethik-Konferenzen zu nennen, weil die Lösung interprofessionelle Kompetenzen erfordert und die Problemstellung für die Gesamtorganisation von Relevanz ist und nicht lediglich einzelne Abteilungen betrifft. Für Letztere wäre z. B. eine von der Ethik-Koordination moderierte Besprechung mit dem Team effektiver (siehe Abschn. 8.3.3). Das zielrelevante Wissen der Mitarbeitenden der Mikroebene kann damit besser in den Lösungsprozess integriert werden, was eine Voraussetzung zur Sicherung der Versorgungsqualität und zur Erarbeitung personalisierter Lösungen darstellt. Auch der Umgang mit der moralischen Belastung kann gewinnen, weil sie „gesehen“ und anerkannt und das Bemühen um eine konstruktive Situationsveränderung erlebbar wird.
8.3.2 Mikroebene: Pflegekräfte – Stakeholder ethischer Organisationsstrukturen und die Förderung der Selbstkompetenz Auf der Mikroebene ist die ethische Selbstkompetenz der Gesundheitsfachkräfte zu fördern, mit dem Ziel der Vermittlung klarer Vorgaben, für welche fraglichen Situationen sie Kraft ihres Kompetenzbereiches verantwortlich sind, die ethische Reflexion (z. B. Fallbesprechung) zu initiieren. Dies wären primär professionsethische Fragen, die sich aus der physischen und psychischen Situation entwickeln und sich z. B. über die ethische Fallbesprechung reflektieren lassen.
H. A. Schleger
Ein in die Praxisroutinen integriertes ethisches Unterstützungsinstrumentarium mit einem vornehmlich individualethischen Fokus hilft, die Mitarbeitenden zu befähigen, Kraft ihrer in der professionellen Ausbildung bzw. Weiterbildung erworbenen Ethikkenntnisse, fragwürdige Pflegeund Behandlungssituationen nicht nur aus professioneller Perspektive, sondern zugleich aus (individual)ethischer Perspektive selbstkompetent zu identifizieren und zu reflektieren. Außerdem sind die Mitarbeitenden beim hier vorgeschlagenen Ansatz befähigt, Problemstellungen mit einem organisationsethischen Schwerpunkt zu erkennen und sie nach einer Vorbesprechung mit einem Ethik-Mentor bzw. einer Ethik-Mentorin im Team oder via Abteilungsleitung zur Bearbeitung an den/die Ethik-Koordinator*in weiterzuleiten (siehe Absatz 8.3.3). Die Ethik-Mentor*innen sind speziell geschulte Fachkräfte in den Teams, die als Ansprechpartner für ethische Fragen in der beruflichen Praxis eingesetzt sind. Die Bezeichnung in der Literatur ist heterogen, z. B. Ethikbeauftragte, Ethik-Multiplikator*innen (Ranisch et al. 2021), Steuergruppe, Ethik-Basisgruppe (Albisser Schleger 2019a, b). Ethik-Mentor*innen stellen „eine Erweiterung zu etablierten Strukturen der Ethikberatung dar und ergänzen vorhandene Top-Down-Strategien“ (Ranisch et al. 2021, S. 2; Albisser Schleger 2021, S. 8). Ein einfacher Zugang zu Ethik-Mentor*innen in den Teams, die sich bei Fragen oder Unsicherheiten konsultieren lassen, trägt maßgeblich zur Sicherung der ethischen Reflexionsqualität im Einzelfall bei. Auch Praxisanleiter*innen mit einer Ethik-Weiterbildung sind dazu empfohlen. Mit einer solchen Personalunion kann die Ethik auch bei knappen Personalressourcen gefördert werden. Im deutschsprachigen Raum sind verschiedene Beispiele für Unterstützungsinstrumentarien unterschiedlicher Ausgestaltung zu nennen, die bei den Mitarbeitenden verankert sind: „Frankfurter Netzwerk Ethik in der Altenpflege“ (Sauer 2015, S. 114–126), „Malteser Ethikkonzept für Altenhilfe und Pflegeeinrichtungen“ (Gollan 2017) oder etwa das Tübinger Modell der „Ethikbeauftragten“ (Ranisch et al. 2021). Das METAP-Modell für die kli-
8 Pflegefachpersonen moralisch entlasten
nische Ethik (Albisser Schleger et al. 2019/2012) fokussiert auf die Unterstützung und Förderung der ethischen Selbstkompetenz der Mitarbeitenden der Mikroebene.11 Mit einem solchen Vorgehen können auch Pflegefachpersonen der häuslichen oder stationären Langzeitpflege viele alltagsethische Fragen niederschwellig, selbständig und kompetent aus ethischer Perspektive reflektieren – lange bevor sie zu schwerwiegenden, belastenden Fragestellungen eskalieren. Auch in der klinischen Versorgung lässt sich das Potenzial von ethischen Organisationsstrukturen insofern besser ausschöpfen, dass Führungskräfte für die ethische Reflexion der beruflichen Praxis als selbstverständliches Tagesgeschäft einstehen und dies – auch mit Blick auf das Modelllernen – mit dem eigenen Rollenmodell verkörpern (Bandura 1991).
8.3.3 Vernetzte Mikro- und Mesoebene – „EthikKoordination“, eine Schlüsselfunktion Bei einer Ethik-Organisationsstruktur mit Ziel einer vernetzten Mikro- und Mesoebene ist die Implementierung einer „Ethik-Koordination“ als Stelle oder Ressort vorgeschlagen (vgl. AEM 2019, S. 12). Die entsprechende Fachperson ist dabei als Kommunikations- und vermittelnde Ethik-Wissensträger*in zwischen der Mikroebene, der Mesoebene und dem Ethik-Komitee vorgesehen. Sie sorgt im Auftrag des Ethik-Komitees für entsprechende Organisationsstrukturen und koordiniert die Geschäfte bzw. den Informationsfluss zwischen den Akteuren der Mikro- und Mesoebene. Der Austausch mit der/dem Vorsitzenden des Ethik-Komitees einerseits und der „Gruppe der Ethik-Mentor*innen in den Teams“ andererseits ist als weitere Zielsetzung zu nennen. Die Koordinationsperson ist sowohl Ansprechperson für die Mentor*innen in den Teams bei ethischen Fragestellungen, die spezialisiertes
11 Bezüglich
Ethikkompetenzen siehe Riedel und Lehmeyer (2022); Riedel und Giese (2019 und 2018).
167
ethisches Wissen erfordern, als auch Ansprechperson für Führungskräfte, die bei organisationsethischen Fragen eine einfach zugängliche Unterstützung benötigen. Dadurch gewinnen nicht zuletzt auch auf der Mesoebene die Sichtbarkeit der Ethik und die Validität ethischer Entscheide. Durch die vertikale und horizontale Kooperation zwischen und innerhalb der Instanzen sowie zwischen den Mitarbeitenden der Mikro- und der Mesoebene und dem Ethik-Komitee leistet die Koordinationsperson einen aktiven Beitrag, das die Mikro- und Mesoebene übergreifende Verständnis der Mitarbeitenden zu unterstützen. Zugleich sind damit die Bedingungen gegeben, die die Etablierung einer gemeinsamen, die Ebenen übergreifenden ethischen Sprache fördern. Dies ist eine der entscheidenden Voraussetzungen dafür, die Kultur der ethischen Reflexion des beruflichen Handelns in der Gesamtinstitution wirksam werden zu lassen (Albisser Schleger 2021, S. 8 und 9). Die/der Ethik-Koordinator*in nimmt
bei einer die Hierarchie übergreifenden Organisationsstruktur eine Schlüsselfunktion ein. Sie trägt damit maßgeblich zur Sicherung der ethischen Reflexionsqualität in der Gesamtinstitution bei. Diese Aufgabe erfordert ein breites Kompetenzprofil mit sowohl höherer professioneller als auch ethischer Qualifizierung.12
8.3.4 Zwischenfazit aus der Perspektive der praktischen Umsetzung Für die erfolgreiche und krisensichere Umsetzung der (Organisations)Ethik im Berufsalltag der Mitarbeitenden der Mikro- und der Mesoebene – auch unter defizitären Ressour-
12 Dazu erforderliche Ethikkompetenzen siehe etwa die Empfehlungen der Akademie für Ethik in der Medizin, AEM (2019, S. 12).
168
H. A. Schleger
ETHIK-KOMITEE MIKROEBENE: Gesundheitspersonal
MESOEBENE: Management / Führung - Niederschwelliger Zugang zu Ethikindividualethischer Kompetenz chen Reflexion mit kombiniertem individualethischemSchwerpunkt
Die Mikro- und Mesoebene koordinierende Ethik-Fachperson (Ressort, Stelle) mit individualKompetenz
Indirekte Versorgung VERANTWORTUNG v. a. Arbeitsumgebung Organisationsethik
- Niederschwelliger Zugang zu weitergebildetem/r Ethik-Mentor*in im Team mit primär individualethischer Kompetenz mit individualethischem Schwerpunkt
Direkte Versorgung VERANTWORTUNG v. a. Pflege, Behandlung, Betreuung Individualethik
Abb. 8.2 Hierarchieübergreifende ethische Organisationsstruktur mit Unterstützung der ethischen Selbstkompetenz der Mitarbeitenden der Mikro- und Mesoebene
cen – ist, gestützt auf die Terminologie der Informatik, nicht nur 1. eine gut funktionierende Software (in unserem Fall ein ethisches Unterstützungsangebot zur systematisierten ethischen Reflexion von Einzelfallsituationen) geboten, sondern 2. ebenso eine solide Hardware, wie sie mit der die Mikro- und Mesoebene vernetzenden ethischen Organisationsstruktur vorgeschlagen worden ist (vgl. ethisches Systemdesign: Haidt 2014; Haidt und Kesebir 2010). Ad 1. Ein auf die Mitarbeitenden der Mikround Mesoebene jeweils zugeschnittenes ethisches Unterstützungsangebot mit einem primär individualethischen resp. organisationsethischen Schwerpunkt, das Gerechtigkeitsfragen integriert, soll die Reflexion der beruflichen Praxis bei sämtlichen Mitarbeitenden der direkten und der indirekten Versorgung von Patient*innen bzw. Bewohner*innen ermöglichen. Ad 2. Durch eine die Mikro- und Mesoebene vernetzende Organisationstruktur sollen sich organisationsethische Fragen – wie am Beispiel der impliziten Priorisierung und des damit einhergehenden Risikos für moralische Belastungsreaktionen dargelegt – ebenso selbstverständ-
lich und niederschwellig reflektieren lassen wie Fragen des professionellen Handelns, die sich aus der physischen, psychischen oder sozialen Einzelfallsituation entwickeln und sich individualethisch reflektieren lassen. Die Unterstützung der ethischen Selbstkompetenz im beruflichen Alltag und, damit einhergehend, die Stabilisierung der ethischen Selbstwirksamkeit (Bandura 1997) sollen zur Regulierung moralischer Belastungsreaktionen der Pflegefachpersonen und weiterer Gesundheitsfachkräfte der Mikroebene beitragen, wenn defizitäre Ressourcen ethische Mindestanforderungen der Pflege, Behandlung und Betreuung infrage stellen. Gestützt auf das Ethik-Komitee-Modell ergänzt Abb. 8.2 zusammenfassend die Erfordernisse für eine die Hierarchie übergreifende ethische Organisationsstruktur mit Maßnahmen für die Mitarbeitenden der Mikro- und Mesoebene zur Förderung der ethischen Selbstkompetenz, wie sie in den Abschn. 8.3.1 bis 8.3.3 vorgeschlagen worden sind. Wie bei gängigen Ethikstrukturen ist es auch mit dem vorgeschlagenen Ansatz möglich, dass sich einzelne
8 Pflegefachpersonen moralisch entlasten
Mitarbeitende der Mikro- oder Mesoebene unter Umgehung der Organisationsstruktur direkt ans Ethik-Komitee wenden können.
8.4 Reflexion und Ausblick Mangelnde personelle oder materielle Ressourcen zwingen Pflegefachpersonen zur impliziten Priorisierung. Die internationale wissenschaftliche Literatur weist darauf hin, dass implizite Priorisierung die Pflege- und Behandlungsqualität beeinträchtigen kann (Renner et al. 2022; Favez et al. 2022; Kalánková et al. 2020; Griffiths et al. 2019; Ball et al. 2018; Kersting 2016; Jones et al. 2015; Zúñiga et al. 2015a, 2015b, 2018; Papastavrou et al. 2014; Zander et al. 2014; Aiken et al. 2012; Schubert et al. 2008, 2009). Zugleich können Komplikationen durch implizite Priorisierung in Einzelfallsituationen massive Belastungen der Pflegefachpersonen nach sich ziehen, die nicht selten zu Krankheitsausfällen oder Kündigungen führen (vgl. Saar et al. 2021; Sasso et al. 2019; Karakachian und Colbert 2019; Zúñiga et al. 2015a, 2015b). Mangelnde Ressourcen bergen daher das Risiko, ethische Mindestanforderungen nicht nur im Einzelfall, sondern auch bei den Pflegefachpersonen und weiteren Gesundheitsfachkräften der Mikroebene zu verletzen. Solche Problemlagen lassen sich mit gängigen Modellen der Professionsethik, die einen vornehmlich individualethischen Fokus haben, unzureichend adressieren und ethisch reflektiert verändern (vgl. Wallner 2022/2015) mit der Folge, dass sie häufig perseverieren, aggravieren und den Teufelskreis aus Überlastung und Kündigung weiter antreiben. Mit Blick auf den Fachkräftenotstand und die materiellen Engpässe versuchen Führungskräfte der Pflege, mit mehrdimensional ausgerichteten Maßnahmen Krankheitsausfällen oder Kündigungen vorzubeugen. Solche Interventionen bestehen etwa in der Anstellung von Temporär-Arbeitenden, optimaler Bettenbelegung, Schließung von Abteilungen, zusätzlichen Urlaubstagen, Pensumreduktion bei gleichem Lohn, Erhöhung der Schichtzulagen
169
oder besseren Weiterbildungsmöglichkeiten. Diese haben in Kombination mit führungsstilbezogenen Interventionen eine günstige Wirkung (Backman et al. 2021). Trotzdem bleiben die Schichten für viele der verbleibenden Pflegefachpersonen anstrengend, gedrängt und moralisch belastend.13 Die Ethik, insbesondere die Organisationsethik, kann hier einen zusätzlichen Beitrag leisten: Eine niederschwellig zugängliche Organisationsethik hat das Potenzial, unzureichende strukturelle Rahmenbedingungen und ihre negativen Folgen für zu Pflegende, Pflegefachpersonen und weitere Gesundheitsfachkräfte ethisch reflektiert zu verändern (Viens et al. 2020; Macpherson et al. 2020). Insbesondere, so die Prämisse, wenn sie zusammen mit Interventionen implementiert wird, die zugleich die ethische Selbstkompetenz der Mitarbeitenden der Mikro- und Mesoebene unterstützen (vgl. Bandura 1997, 1991).14 Lösungsvorschlag: Mit dem vorliegenden Beitrag wird deshalb ein in der Gesamtorganisation implementierter Ansatz verfolgt, der die Förderung der ethischen Selbstkompetenz aller Mitarbeitenden zum Ziel hat, eine die Mikro- und Mesoebene übergreifende ethische Organisationsstruktur zur Verfügung stellt und eine einfach zugängliche, mit der Individualethik vernetzte organisationsethische Reflexion von Problemlagen – wie den oben beispielhaft dargelegten – ermöglichen soll. Für die Implementierung sind zusätzlich zum Ethik-Komitee-Modell folgende Maßnahmen empfohlen: 1. die aktive Involvierung von Management und Führungskräften der Mesoebene in die ethische Organisationsstruktur, 2. die aktive Involvierung der Mitarbeitenden der Mikroebene sowie 3. die Einbeziehung einer die Mikround Mesoebene koordinierenden, professionell und ethisch qualifizierten Ethik-Fachperson. Zur Förderung der ethischen Selbstkompetenz und Selbstwirksamkeit beinhaltet der Ansatz für die Stakeholder der Mikro- und Mesoebene ein je in-
13 Siehe
auch Steiner (2022).
14 Publikationen
zur Thematik siehe Albisser Schleger (2022, 2021, 2019a, 2019b).
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dikationsbasiertes ethisches Unterstützungsangebot inklusive eines einfach zugänglichen EthikMentorings bei Fragen und Unsicherheiten (vgl. z. B. Ranisch et al. 2021). Potenzial: Ad 1: Die Führungskräfte der Mesoebene spielen eine tragende Rolle, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das es den Teams der Mikroebene ermöglicht, ethisch zu agieren. Die Involvierung von Führungskräften in ethischen Organisationsstrukturen ist daher naheliegend. Es ermöglicht ihnen, Problemstellungen als Folge mangelnder Ressourcen, die die Gesamtorganisation betreffen, mithilfe eines auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen ethischen Unterstützungsangebotes, selbstkompetent zu reflektieren, zu lösen bzw. zu begründen. Davon profitieren sowohl Patient*innen und Bewohner*innen als auch Mitarbeitende, die aufgrund der erwarteten besseren (pflegerischen) Versorgungsqualität moralisch weniger belastet sind. Verbindlich institutionalisiert verspricht der Vorschlag auch einen gewissen Schutz vor einseitigen Interessen, z. B. ökonomischen. Das Potenzial einer in der gesamten Institution verwirklichten Organisationsethik stellt Führungskräften damit ein Instrumentarium zur Verfügung, das sie nicht zuletzt in ihrem Bestreben, die Mitarbeitenden auch in Krisenzeiten in der Institution zu behalten, unterstützt. Ad 2: Die aktive Involvierung der Gesundheitskräfte der Mikroebene in die ethische Organisationsstruktur, die professionelle Gestaltungsräume fördert und eine Stärkung der ethischen Selbstkompetenz und der Erfahrung von Selbstwirksamkeit miteinbezieht, hat gestützt auf Bandura (1991) das Potenzial, vor Ohnmacht und damit vor eskalierenden moralischen Belastungsreaktionen bis hin zu Belastungsstörungen mit Krankheitsausfällen oder Kündigungen zu schützen. Statt die Problemlage und die damit verknüpften Belastungen individuell zu verantworten und zu tragen, wird sie zur Teamaufgabe, die sich mithilfe des Unterstützungsangebotes adressieren und in die Verantwortung der zuständigen Akteure der Mikro- und Mesoebene stellen lässt. Das jeweilige Spezialwissen von Pflegefachpersonen und weiteren Gesundheitsfachkräften kann in den
H. A. Schleger
Lösungsprozess einfließen. Mitarbeitende, die sich in schwierigen, belastenden Situationen als inkludierte Stakeholder des Lösungsprozesses erfahren, erleben sich selbstbestimmter, selbstkompetenter und damit auch in kritischen Situationen resilienter (gestützt auf Bandura 1991). Ad 3: Eine höher qualifizierte Ethik-Fachperson (Ressort, Stelle)15 koordiniert dabei die Mikro- und Mesoebene. Sie verfügt über individual- und organisationsethische Expertise und Kompetenzen für Coaching, Befähigung/Empowerpent und Edukation (siehe Abschn. 8.3.3). Sie verankert die Organisationsethik bei den Führungskräften bzw. unterstützt die Sensibilisierung für organisationsethische Fragen. Gleichzeitig kann sie die Anliegen der Mitarbeitenden der Mikro- und Mesoebene aus erster Hand im Ethik-Komitee vorlegen und umgekehrt die Mitarbeitenden auf beiden Ebenen bei der Umsetzung der im Komitee ausgearbeiteten Hilfestellungen unterstützen. Damit fördert und sichert sie die Umsetzung des Bottom-up/Top-down-Ansatzes und ein die Ebenen übergreifendes gegenseitiges Verständnis (vgl. Dean 2019). Grenzen: Die Implementierung des hier skizzierten Lösungsansatzes ist mit verschiedenen Grenzen und Hindernissen konfrontiert: 1. Die Ethik-Weiterbildung der Gesundheitskräfte ist in den meisten Einrichtungen optional. Auch für Führungskräfte der Mesoebene nimmt die eigene ethische Weiterbildung häufig eine marginale Rolle ein. Die Weiterbildung wäre jedoch eine Voraussetzung für das selbstverständliche «on-the-job training» aller Mitarbeitenden.16 2. In vielen kleineren und mittleren Gesundheitsinstitutionen fehlt ein Ethik-Komitee, oder die Mitglieder des Komitees sind für die Sitzungen und daraus folgenden Aufgaben nicht freigestellt mit der Konsequenz, dass sich laufende Geschäfte zeitlich und inhaltlich häufig nur mit Abstrichen realisieren lassen. Die organisationsethische Reflexion mangelnder pflegerischer
15 Siehe dazu Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) (2019, S. 11). 16 Hintergrund
dazu siehe Riedel und Lehmeyer (2022).
8 Pflegefachpersonen moralisch entlasten
Ressourcen ist angesichts potenziell negativer Folgen für den Einzelfall und für das Personal jedoch eine Aufgabe mit einer hohen Dringlichkeit. 3. Viele Mitglieder des Komitees haben ihre Ethikkenntnisse noch nicht in einer Weise vertieft, dass ihnen die organisationsethische Reflexion von unzureichenden strukturellen Rahmenbedingungen vertraut wäre. 4. Erste verbindliche Abrechnungscodes für Ethikberatung existieren in Deutschland erst für Weaning-Patienten.17 In der Alltagspraxis ist die Abrechnung ethischer Reflexionszeit meiner Recherche nach nicht geregelt. Unter der Prämisse, dass die ethische Reflexion der Mitarbeitenden der Mikro- und Mesoebene keine zusätzliche Aufgabe ist, sondern als inhärenter, selbstverständlicher Teil der jeweiligen beruflichen Tätigkeiten betrachtet wird, stellt sich die Frage, für welche Beratungen zusätzliche(s) Personal bzw. Codes tatsächlich erforderlich sind bzw. in welchen Fällen sie sich erübrigen. Fazit: Potenzial und Grenzen sind bei der Implementierung des hier skizzierten Lösungsansatzes gegeneinander abzuwägen. Bei der Frage, inwiefern sich bei den offensichtlichen Grenzen eine aufwendige, die Ebenen übergreifende ethische Organisationsstruktur bezahlbar macht, ist zu bedenken, dass aus mangelnden Ressourcen entstehende Interessenskonflikte, Krankheitsausfälle, Kündigungen oder Personalfluktuationen einen immensen Koordinationsaufwand bedeuten und beträchtliche finanzielle Ressourcen binden (vgl. Swiss Nurse Leaders 2022). Ausblick: Eine die Hierarchie übergreifende ethische Organisationsstruktur, die nicht nur die ethische Selbstkompetenz bzw. Selbstwirksamkeit der Mitarbeitenden der Mikroebene in ihrem beruflichen Handeln fördert, sondern auch diejenige der Führungskräfte der Mesoebene, soll zu der Vision ermutigen, dass sich gemeinsam selbst große Veränderungen in konstruktiver Weise angehen lassen. Danksagung Folgende Personen haben den Beitrag kritisch kommentiert: P. Arnold, E. Bigler, A. Riedel, B.
17 Siehe ICD-Code, OPS Suche: https://www.icd-code. de/ops/code/8-718.html (Zugegriffen am 14.10.2022).
171 Rubin, W. Schleger, R. Steiner, T. Weidmann-Hügle. Ihre weiterführenden Anmerkungen waren überaus hilfreich. Dafür bedanke ich mich bei allen Beteiligten.
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Moralische Belastungen im Krankenhaus bei Pflege und Betreuung von Menschen mit geistiger und körperlicher Behinderung sowie kommunikativer Einschränkung Ergebnisse eines Forschungsprojektes mit ethischen Reflexionen und Entlastungsvorschlägen Daniel Gregorowius und Ruth Baumann-Hölzle Zusammenfassung
Für Menschen mit schwerwiegenden Behinderungen, ihre Angehörigen und Gesundheitsfachpersonen sind die medizinische Behandlung und Pflege im Krankenhaus und eine große Herausforderung. Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen brauchen aufgrund ihres erhöhten Betreuungsbedarfs mehr Zeit und eine intensive Begleitung. Überlastungen, Zeitmangel und moralische Konflikte in der Versorgung von Patientinnen und Patienten mit erhöhtem Betreuungsbedarf können bei Pflegefachpersonen zu Moral Distress führen. Im Rahmen eines zweieinhalbjährigen
Unter Mitarbeit von Patrizia Kalbermatten-Casarotti, Thomas Erne, Beat Knecht, Diana Meier-Allmending er und Pia Pfenniger. D. Gregorowius (*) · R. Baumann-Hölzle Stiftung Dialog Ethik, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected] R. Baumann-Hölzle E-Mail: [email protected]
orschungsprojektes der Stiftung Dialog F Ethik in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Stiftung für das cerebral gelähmte Kind, der Stiftung Wagerenhof und der Stiftung Wohnraum für jüngere Behinderte sowie dem Luzerner Kantonsspital wurde untersucht, welche Herausforderungen sich in der ambulanten und stationären medizinischen Behandlung, Pflege und Betreuung von Menschen mit Behinderungen ergeben und wo Handlungsbedarf besteht, um Behandlung und Pflege von Menschen mit einer Behinderung zu verbessern. Urteilsfähige Menschen mit Behinderungen, Angehörige und Mitarbeitende in zwei kantonalen Krankenhäusern in der Deutschschweiz wurden im Rahmen dieses Projektes interviewt und befragt. Die Ergebnisse haben gezeigt, dass sich einerseits durch strukturelle und organisatorische Rahmenbedingungen, anderseits durch die Pflegesituation von Menschen mit einer Behinderung Herausforderungen für Pflegefachpersonen ergeben, die zu moralischen Dilemmata, zu einem Belastungserleben und schließlich zu Moral Distress führen können. Dies erklärt, warum von Pflegefachpersonen ein größerer Zeitbedarf und zusätzliche
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 A. Riedel et al. (Hrsg.), Moralische Belastung von Pflegefachpersonen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67049-1_9
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Unterstützung für die Betreuung von Menschen mit einer Behinderung gewünscht werden. Es zeigt sich der Handlungsbedarf, der sowohl aufseiten der Pflegefachpersonen im Krankenhaus als auch aufseiten der Patientinnen und Patienten mit einer Behinderung besteht. Als mögliche Lösungsansätze zur Verbesserung von Behandlung und Pflege von Menschen mit einer Behinderung wie auch zur Intervention und Prävention von Moral Distress werden Fort- und Weiterbildungen des Personals, eine Ansprechperson im Krankenhaus, ein spezifisches Case Management, Rundtischgespräche und ethische Fallbesprechungen sowie eine Informationsplattform zum Austausch diskutiert.
9.1 Einleitung: Belastung serscheinungen in der Pflege Menschen mit schwerwiegenden Behinderungen, ihre Angehörige und Gesundheitsfachpersonen sind bei der medizinischen Behandlung und Pflege im Krankenhaus vor große Herausforderung gestellt. Diese sind abhängig davon, ob es sich um Patientinnen und Patienten handelt, die entweder von Geburt an geistig behindert sind, später im Leben eine kognitive Beeinträchtigung erworben haben, in ihrer Kommunikationsfähigkeit eingeschränkt oder schwer körperlich behindert sind. Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen brauchen aufgrund ihres erhöhten Betreuungsbedarfs im Krankenhaus mehr Zeit, Geduld und Unterstützung. Überlastungen, Zeitmangel und moralische Konflikte in der Versorgung von Patientinnen und Patienten mit erhöhtem Betreuungsbedarf können bei Pflegefachpersonen zu Moral Distress führen.
9.1.1 Konzept und Phänomen Moral Distress Moral Distress wurde als Konzept Mitte der 1980er Jahre entwickelt und etablierte sich
D. Gregorowius und R. Baumann-Hölzle
rasch innerhalb der Pflegewissenschaft. Es wird heute als moralisches Belastungsphänomen nicht nur für die Pflege, sondern insgesamt für alle Gesundheitsberufe verstanden. Es ist gekennzeichnet durch eine Belastung in psychischer und physischer Hinsicht sowie durch eine moralische Integritätsverletzung. Nachfolgend wird das Konzept „Moral Distress“ genauer beschrieben, und seine Einflussfaktoren sowie Auswirkungen auf Individuen, organisationale Strukturen und Gesellschaft werden vorgestellt.
9.1.1.1 Begriffsbestimmung von Moral Distress Begriff und Phänomen „Moral Distress“ stammen aus dem Kontext der Pflege und wurden 1984 von Andrew Jameton in seinem Buch „Nursing Practice: The Medical Issue“ beschrieben (Jameton 1984). Moral Distress entsteht seinem Verständnis nach dadurch, dass Gesundheitsfachpersonen in vermeidbare ethische Dilemmasituationen geraten und nicht das tun können, von dem sie überzeugt sind, dass es moralisch richtig ist (Jameton 1984). Dadurch ergibt sich ein psychologischer Stress, der sich auch als moralischer Stress äußert. Moralischer Stress stellt eine Verletzung der moralischen Integrität eines Menschen dar. Er ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass er – anders als ein moralisches Dilemma, wo es sich um nicht lösbare Wertekonflikte handelt – eine Folge institutioneller Rahmenbedingungen oder struktureller Einschränkungen ist, in die eine handelnde oder zur Entscheidung gezwungene Person eingebunden ist (Jameton 1984). Hierzu ist zu bedenken, dass aufgrund von strukturellen Rahmenbedingungen, wie etwa Personalknappheit, rasch ethische Dilemmasituationen entstehen können. Diese können zu Moral Distress führen. Moral Distress beinhaltet Stressphänomene, lässt sich im Deutschen aber nicht direkt als „moralischer Stress“ übersetzen. Gemeint sind mit „Moral Distress“ Aspekte der Notlage, des Leidens und der Verzweiflung. Eine derartige moralische Belastung kann sich sowohl in psychischen als auch in physischen Symptomen zei-
9 Moralische Belastungen im Krankenhaus bei Pflege …
gen, etwa in als Kopfschmerz, Schlaflosigkeit, Wut, Traurigkeit, Frustration oder Angst (Wilkinson 1989; Gutierrez 2005; Elpern et al. 2005). Eine anhaltende Belastung kann zu emotionaler Erschöpfung, Resignation, Rückzug und sinkender Arbeitszufriedenheit führen (Corley et al. 2001; Epstein und Hamric 2009). In den Pflegeberufen wurde beobachtet, dass auch Krankheitsausfälle bis hin zum Burnout, Berufswechsel oder -ausstieg Folgeerscheinungen sein können (Burston und Tuckett 2013; Whittaker et al. 2018; Midtbust et al. 2022). Es ist möglich, dass eine solche Belastung zu einer moralischen Verletzung oder einem moralischen Zusammenbruch mit zunehmender Integritätsverletzung eskalieren kann (Baumann-Hölzle und Gregorowius 2021, Baumann-Hölzle & Gregorowius 2022a, Baumann-Hölzle & Gregorowius 2022b). Das Phänomen Moral Distress hat hierbei nicht nur Auswirkungen auf die Person selbst, die die Belastung erlebt, sondern auch auf das Umfeld, etwa andere Mitarbeitende und Patientinnen und Patienten sowie durch einen Berufswechsel oder -ausstieg auch auf das persönliche Lebensumfeld bis hin zum gesamten Gesundheitssystem. Dadurch kann Moral Distress gesellschaftspolitische Folgen haben (Burston und Tuckett 2013), was in westlichen Industrieländern mit einem demographischen Wandel, zunehmender Hochaltrigkeit und Multimorbidität sowie damit verbundenem erhöhtem Pflegebedarf zu einem Problem in der Versorgung werden kann.
9.1.1.2 Einflussfaktoren auf Moral Distress und Folgen Die Pflegewissenschaft hat unterschiedliche Einflussfaktoren auf moralischen Stress identifiziert. Unterschieden wird zwischen internen und externen Faktoren sowie der klinischen Situation (Hamric 2012) beziehungsweise zwischen individuellen, standortspezifischen und externen Faktoren (Burston und Tuckett 2013). Interne respektive individuelle Einflussfaktoren umfassen personenbezogene Eigenschaften wie Persönlichkeit und Charakter, Überzeugungen und Weltsicht, Erfahrungen und Beziehungen (Burston und Tuckett 2013). Auch die persön-
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liche Sensibilität, das Gefühl von Machtlosigkeit oder das Nichtwissen um mögliche Auswege und Handlungsalternativen gehören dazu (Hamric 2012). Klinische Einflussfaktoren beziehen sich auf situativ im Alltag erlebte Pflegesituationen durch unnötige oder vergebliche Behandlungen, eine fehlende oder unzureichende Einwilligung von Patientinnen und Patienten oder auch das Fördern falscher Hoffnungen (Hamric 2012). Es geht konkret um die Situation der Pflege in einer Institution, wobei auch Beziehungsfragen und die interprofessionelle Zusammenarbeit eine Rolle spielen. Die von Burston und Tuckett (2013) beschriebenen standortspezifischen Einflussfaktoren, nämlich Ressourcen, Personal und die Pflege als solche, sind hiermit verknüpft. Zu den externen Einflussfaktoren gehört gemäß Hamric (2012) die strukturelle Arbeitsumgebung von Pflegefachpersonen, die durch institutionelle, finanzielle oder sonstige äußere Aspekte bestimmt wird. Auch die Arbeitswelt des Gesundheitswesens gehört hierher, die von Burston und Tuckett (2013) aber als standortspezifischer Faktor beschrieben wird. Moral Distress kann sich in seiner Folgewirkung nicht nur als reines Stresserleben äußern, sondern konkret als Verlust der Fürsorgefähigkeit, das Vermeiden von Patientenkontakten, oder eine Abnahme der Pflegequalität (Redman und Fry 2000). Die vielfältigen Folgen lassen sich gemäß Burston und Tuckett (2013) danach ordnen, ob sie auf die handelnde Person, andere Personen oder auf das Gesundheitswesen insgesamt gerichtet sind. Neben der Möglichkeit einer moralischen Integritätsverletzung bis hin zum Verlust des eigenen „moralischen Kompasses“ kann Moral Distress langfristig zu psychosomatischen Stressreaktionen bis hin zu einem Burnout führen. Wie Studien zeigen, wirkt sich moralischer Stress auch in der Weise aus, dass sich Pflegekräfte von ihren Patientinnen und Patienten zunehmend distanzieren (Gutierrez 2005; Hamric et al. 2006). Dies hat Auswirkungen auf Pflegequalität (Epstein und Hamric 2009; Gutierrez 2005). In systemischer Hinsicht ergeben sich gesellschaftspolitische Folgen, wenn Pflegefachpersonen ihre Arbeitsstelle kündigen oder den Beruf verlassen (Corley et al. 2001; Ulrich et al. 2007).
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9.1.2 Pflege und Betreuung von Menschen mit Behinderungen Menschen mit einer Behinderung können je nach Art und Ausmaß der Beeinträchtigung zusätzlichen Betreuungs- und Pflegebedarf in einem Krankenhaus bedeuten. Die Aufgabe der Pflege im Krankenhaus ist es, Menschen in ihrem Heilungsprozess zu unterstützen, das Ausmaß ihrer Selbstständigkeit zu erhalten oder zu verbessern und sie zu befähigen, nach der Entlassung aus dem Krankenhaus wieder die bisher gewohnte Teilhabe an der Gesellschaft soweit möglich zu leben. Um zu verstehen, inwieweit Herausforderungen in der Pflege von Menschen mit Behinderungen zu Moral Distress führen können, soll zunächst die Begrifflichkeit der Behinderung genauer geklärt werden.
9.1.2.1 Begriffsbestimmung von Behinderung Der Begriff der Behinderung als Bezeichnung für eine bestimmte Personengruppe – bisweilen wird auch der Begriff der Beeinträchtigung verwendet – bezieht sich auf Menschen mit einer langfristigen beziehungsweise bleibenden körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigung, die von Geburt an besteht oder durch Erkrankung wie auch Unfall erworben wurde (Wagner und Kaiser 2004). Mit dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen von 2006 gilt das bisherige Verständnis von Behinderung als weitgehend überholt (vgl. Vereinte Nationen 2006). Die Besonderheit dieses Übereinkommens besteht darin, dass Behinderung nicht mehr als individuelles Merkmal eines Menschen gilt, sondern durch Barrieren in der Umwelt erklärt wird, die eine Behinderung ausmachen (Hirschberg 2011). Wer zur Gruppe von Menschen mit Behinderungen zu zählen ist, wird in Artikel 1 Satz 2 des Übereinkommens festgehalten (Vereinte Nationen 2006): Dazu gehören Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern.
D. Gregorowius und R. Baumann-Hölzle
In der Bundesrepublik Deutschland ist die Definition von Behinderung durch das Bundesteilhabegesetz geändert worden. Nach der seit dem 1. Januar 2018 geltenden Fassung versteht man gemäß § 2 Absatz 1 Satz 1 Neuntes Sozialgesetzbuch (SGB IX) unter Behinderung „Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können“. Diese Gesetzesdefinition des Behindertenbegriffs beruht auf der Behindertenrechtsdefinition der Vereinten Nationen.
9.1.2.2 Belastungserleben bei der Pflege von Menschen mit Behinderungen Menschen mit einer Behinderung gelten neben Neugeborenen, Kindern, betagten Menschen, Schwangeren, mulimorbiden Menschen, terminal oder psychisch erkrankten Menschen als vulnerable Patientengruppe. Vielfach dauern Spitalaufenthalte bei Menschen mit Behinderungen länger. Gerade Menschen mit einer geistigen Behinderung wehren sich aufgrund von Unsicherheiten und Ängsten in einer ihnen unbekannten Umgebung oft gegen Untersuchungen und Behandlungen. Es liegt daher nahe, dass der Krankenhausaufenthalt von Menschen mit einer Behinderung für Pflegefachpersonen mit einer höheren Arbeitsbelastung und einem verstärkten moralischen Stresserleben verbunden sein kann. Zum Umgang mit Menschen mit Behinderungen, insbesondere mit geistigen Behinderungen, und möglichen Belastungserscheinungen bei Pflegefachpersonen liegen für den Krankenhausbereich nur wenige Studien vor. Dafür gibt es zahlreiche Studien zur Betreuung in Pflegezentren und Tagesstätten. Diese Studien untersuchen nicht das Konzept vom Moral Distress als solches, aber Phänomene wie emotionale Belastungen, psychisches Stresserleben und Burnout, die nach obiger Definition als mögliche psychosomatische Folge von moralischem Stress aufgefasst werden können. Grundsätzlich zeigt sich, dass so genanntes „herausforderndes Verhalten“ – oder Englisch
9 Moralische Belastungen im Krankenhaus bei Pflege …
„challenging behaviour“ (vgl. Ryan et al. 2019) – von Menschen mit einer Behinderung sowie die Beziehungsgestaltung zu Arbeitskolleginnen und -kollegen und organisationale Rahmenbedingungen Einfluss auf das Stresserleben und die Entstehung von psychischen Problemen haben können (Hatton et al. 1999; Alexander und Hegarty 2000; White et al. 2006; Skirrow und Hatton 2007). Positiv auf die Belastung und die eigene Arbeitsmoral wirken sich die emotionale Unterstützung durch Mitarbeitende und die Zusammenarbeit untereinander, eine mögliche Supervision und die Abgrenzbarkeit (Distanzierung) der eigenen beruflichen Rolle aus (Mascha 2007; Mutkins et al. 2011). Internationale Studien zur Pflege von Menschen mit einer geistigen Behinderung weisen auf eine Besonderheit in der Beziehung der Pflegekraft zu dieser Patientengruppe hin: Nicht nur die herausfordernde Pflegesituation kann zu emotionalen Stressbelastungen führen. Umgekehrt führt auch die Haltung von Pflegefachpersonen ihrerseits bei Menschen mit einer Behinderung zu Stressreaktion. Negative Einstellungen und Emotionen von Pflegefachpersonen gegenüber Patientinnen und Patienten mit geistiger Behinderung könnten dadurch unter Umständen die Qualität der Pflege beeinträchtigen (Lewis und Stenfert-Kroese 2010). Auf diese Weise kann es zu Ungleichbehandlungen in der Pflegeversorgung kommen (vgl. White et al. 2006; Lewis und StenfertKroese 2010). In einer Studie von Langdon et al. (2007) zeigen sich auch negative Auswirkungen auf die Arbeitsqualität bei reservierten beziehungsweise distanzierten Haltungen und Beziehungen von Pflegefachpersonen zu Menschen mit einer geistigen Behinderung.
9.2 Ergebnisse eines Forschungsprojektes: Herausforderungen in der Pflege von Menschen mit Behinderungen Im Rahmen eines zweieinhalbjährigen Forsch ungsprojektes der Stiftung Dialog Ethik aus Zürich in Zusammenarbeit mit der
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chweizerischen Stiftung für das cerebral geS lähmte Kind, der Stiftung Wagerenhof und der Stiftung Wohnraum für jüngere Behinderte (W.F.J.B.) und dem Luzerner Kantonsspital wurde untersucht, welche Herausforderungen sich in der ambulanten und stationären medizinischen Behandlung, Pflege und Betreuung von Menschen mit Behinderungen für die Betroffenen selbst, ihre Angehörigen sowie Ärztinnen und Ärzte, Pflegefachpersonen und Therapeutinnen und Therapeuten ergeben. Auf Grundlage der Ergebnisse wurden Lösungsansätze entwickelt, um Behandlung, Pflege und Betreuung für Menschen mit Behinderungen sowie die Arbeitsbedingungen für Gesundheitsfachpersonen zu verbessern. Bei der Ist-Erhebung wurde ein Mixed-Methods-Ansatz verfolgt, also die Kombination mehrerer Methoden aus qualitativer und quantitativer Forschung. Befragt wurden unter anderem Mitarbeitende in zwei kantonalen Krankenhäusern in der Deutschschweiz. Es zeigten sich insbesondere für Pflegefachpersonen sehr unterschiedliche Herausforderungen, die sich in beruflichen Belastungen und Überforderungen äußerten, was zu Moral Distress führen kann. Daher wurden Belastungsphänomene und Überforderungen, die sich aus der Pflege von Menschen mit Behinderungen ergeben, im Rahmen des Projektes spezifisch untersucht und ausgewertet.
9.2.1 Methodik des Forschungsprojektes In zwei kantonalen Krankenhäusern, nämlich dem Luzerner Kantonsspital (LUKS) und dem Kantonsspital Aarau (KSA), wurden eine leitfadengestützte Fokusgruppendiskussionen sowie eine Online-Befragung mit weitgehend geschlossenen Fragen durchgeführt. An der Fokusgruppendiskussion am LUKS, die am 30. März 2022 stattfand, nahmen acht Mitarbeitende teil, darunter ein Arzt, drei Pflegefachpersonen, drei Physiotherapeutinnen und -therapeuten sowie ein Seelsorger. An der Fokusgruppendiskussion am KSA vom 6. Juni 2022 nahmen ebenfalls acht Mitarbeitende teil, darunter eine Ärztin und ein Arzt, eine Pflegekraft, eine Ergotherapeutin,
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eine Seelsorgerin und ein Seelsorger sowie zwei Mitarbeitende aus dem Departement Human Resources. Somit nahmen insgesamt drei Pflegefachpersonen an den Fokusgruppendiskussionen teil. Von der zwölfminütigen Online-Befragung in beiden Krankenhäusern konnten die Antworten von insgesamt 680 Personen ausgewertet werden, darunter 134 Ärztinnen und Ärzte, 457 Pflegefachpersonen, 54 Therapeutinnen und Therapeuten sowie 35 Mitarbeitende aus der Verwaltung und dem Sozialdienst. Die OnlineBefragungen fanden im Juni und Juli 2022 statt. Unter den 457 Pflegefachpersonen im Alter von 20 bis 65 Jahren waren 431 Frauen, 25 Männer und eine Person mit diversem Geschlecht.
9.2.2 Zentrale Ergebnisse der OnlineBefragung In der Online-Befragung in beiden kantonalen Krankenhäusern mit 457 Pflegefachpersonen von 680 antwortenden Mitarbeitenden wurden die Herausforderungen innerhalb der medizinischen und pflegerischen Versorgung von Menschen mit Behinderungen deutlich. Gerade der Mehraufwand in der Pflege für Patientinnen und Patienten mit einer Behinderung kann als eine der größten Herausforderungen bei einem ohnehin knappen Zeitbudget angesehen werden. Hierdurch ergeben sich für Pflegefachpersonen auslösende Faktoren für Moral Distress.
9.2.2.1 Herausforderungen für das Personal in Krankenhäusern Als größte Herausforderung bei der Behandlung, Therapie und Pflege von Patientinnen und Patienten mit einer Behinderung gilt der Zeitmangel: Auf einer fünfstufigen Likert-Skala (1 = „sehr große Herausforderung“, 5 = „keine Herausforderung“) liegt die Bewertung aller Befragten bei M = 1,86 (SD = 0,93; vgl. Abb. 9.1 und Abb. 9.2). In der Beurteilung des Zeitmangels als Herausforderung zeigen die Berufsgruppen einen hochsignifikanten Unterschied (F[2,642] = 23,5, p = 0,0): Von Pflegefachpersonen wird der Zeitmangel (M = 1,70, SD = 0,85) eher als Herausforderung angesehen
D. Gregorowius und R. Baumann-Hölzle
als von Therapeutinnen und Therapeuten (M = 2,20, SD = 0,96) oder Ärztinnen und Ärzten (M = 2,25, SD = 1,01). Weitere Herausforderungen bei der Versorgung von Menschen mit Behinderungen sind ihr möglicher Widerstand gegen Behandlung, Therapie oder Pflege (M = 2,29, SD = 0,89) und Missverständnisse bei der Feststellung von Wünschen und Bedürfnissen (M = 2,55, SD = 0,87). Dies gilt ebenfalls für die mangelnde Fähigkeit zur Einschätzung der Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit (M = 2,76, SD = 0,96). Sie wird zwischen den Berufsgruppen unterschiedlich bewertet, und zwar mit statistischer Signifikanz (F[2,640] = 5,07, p = 0,007): Die Ärzteschaft (M = 2,53, SD = 0,9) sieht in der Einschätzung dieser Fähigkeit im Vergleich zur Pflege (M = 2,81, SD = 0,95) und Therapie (M = 2,87, SD = 1,12) eher eine Herausforderung.
9.2.2.2 Einschätzung der Bedürfnisse, Wünsche und Interessen Eine besondere Herausforderung bei der Versorgung von Patientinnen und Patienten mit einer Beeinträchtigung stellt in den untersuchten Krankenhäusern die Einschätzung der Wünsche und Bedürfnisse von kognitiv eingeschränkten Menschen dar (vgl. Abb. 9.3). Als größte Herausforderung gilt die Abklärung des tatsächlichen und mutmaßlichen Willens (M = 2,14, SD = 0,8). Ebenfalls als groß werden der Umgang mit möglichen Widersprüchen zwischen dem Wunsch von Patientinnen und Patienten auf der einen Seite und dem Wunsch von Beiständen oder Angehörigen auf der anderen Seite (M = 2,22, SD = 0,85), die Gewährleistung des Anspruchs auf Autonomie (M = 2,23, SD = 0,91) und der Einbezug von kognitiv eingeschränkten Patientinnen und Patienten in die Entscheidungsfindung (M = 2,26, SD = 0,84) angesehen (vgl. Abb. 9.3). 9.2.2.3 Erfolgsfaktoren für Therapieplanung und Entscheidungsfindung In der Online-Befragung wurden Faktoren untersucht, die zum Erfolg der Therapieplanung und Entscheidungsfindung bei Patientinnen
9 Moralische Belastungen im Krankenhaus bei Pflege …
183
Abb. 9.1 Herausforderungen für das Krankenhauspersonal (n = 645) bei der Behandlung, Therapie und Pflege von Menschen mit Behinderungen, Teil 1
und Patienten mit einer Behinderung beitragen. Die höchste Zustimmung mit im Durchschnitt M = 1,59 (SD = 0,82) auf einer fünfstufigen Likert-Skala (1 = „stimme voll zu“, 5 = „stimme gar nicht zu“) erfuhr eine einfache und verständliche Aufklärung über geplante Maßnahmen bei Patientinnen und Patienten mit geistiger Behinderung (vgl. Abb. 9.4 und Abb. 9.5). Die Befragten waren ferner der Meinung, dass das Wissen von Pflegefachpersonen über die Urteils- und Kommunikationsfähigkeit von kognitiv eingeschränkten Patientinnen und Patienten mit M = 1,64 (SD = 0,81) eher erfolgversprechend für die Therapieplanung ist als das entsprechende Wissen von Therapeutinnen und Therapeuten (M = 1,7, SD = 0,83) oder Ärztinnen und Ärzten (M = 1,72, SD = 0,9). Insgesamt zeigt sich, dass vom befragten Personal durchgehend die Pflege als die wichtigste Berufsgruppe für den Behandlungserfolg bei Menschen mit Behinderungen angesehen wird.
Eine immer hohe, im Vergleich aber die geringste Zustimmung als Erfolgsfaktor für Therapieplanung und Entscheidungsfindung erhält ein zumindest einfaches Krankheitsund Prognoseverständnis von kognitiv eingeschränkten Patientinnen und Patienten mit M = 2,02 (SD = 1,01). Bei diesem Erfolgsfaktor zeigt sich ein signifikanter Unterschied bei den Berufsgruppen (F[3,654] = 8,35, p = 0,0): Pflegefachpersonen (M = 2,14, SD = 1,03) sehen in einem zumindest einfachen Krankheitsverständnis bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen einen geringeren Beitrag zum Erfolg der Therapieplanung als Ärztinnen und Ärzte (M = 1,75, SD = 0,91) oder Therapeutinnen und Therapeuten (M = 1,63, SD = 0,88).
9.2.2.4 Unterstützung der Arbeit des Krankenhauspersonals In der Befragung wurde erhoben, was für das Krankenhauspersonal bei Behandlung, Pflege oder Therapie von Patientinnen und Patienten
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mit Behinderungen unterstützend und hilfreich sein kann. Rundtischgespräche zur Therapieplanung mit der Patientin oder dem Patienten zusammen mit der Stellvertretung beziehungsweise dem Beistand und einer Vertretung aus der Betreuungsinstitution wurden auf einer fünfstufigen Likert-Skala mit M = 1,54 (SD = 0,76) als sehr hilfreich angesehen (vgl. Abb. 9.6). Der Unterschied zu anderen Unterstützungsmöglichkeiten, die als eher hilfreich gelten, ist erkennbar. Eine Pflegefachperson, die für die Versorgung von Menschen mit Beeinträchtigungen besonders geschult ist, wird im Durchschnitt besser bewertet (M = 1,96, SD = 0,96) als eine Fachärztin oder ein Facharzt in einer solchen Position (M = 2,01, SD = 0,94). Hier zeigt sich die Bedeutung, die Pflegefachpersonen für die Versorgung von Menschen mit Beeinträchtigungen zugesprochen wird. Es wurde ebenfalls danach gefragt, was für eine Form der Begleitung und Unterstützung
D. Gregorowius und R. Baumann-Hölzle
aus organisatorischer Sicht bei der eigenen Arbeit hilfreich sein könnte (vgl. Abb. 9.7). Die Betreuung von Patientinnen und Patienten mit einer Behinderung durch eine entsprechend geschulte Pflegefachkraft wird von allen Berufsgruppen mit M = 2,08 (SD = 0,92) als eher hilfreich angesehen. Mit M = 1,85 (SD = 0,84) wird die Begleitung einer beeinträchtigten Patientin beziehungsweise eines Patienten durch eine Person außerhalb einer Betreuungsinstitution – etwa durch eine ehrenamtliche Person oder einen Angehörigen – aber als etwas bessere Unterstützungsmöglichkeit für die eigene Arbeit erachtet. Interessant ist die unterschiedliche Beurteilung durch die Berufsgruppen (F[3,667] = 6,69, p = 0,0): Von Pflegefachpersonen (M = 1,77, SD = 0,82) wird eine zusätzliche externe Begleitung als wesentlich hilfreicher angesehen als von Therapeutinnen und Therapeuten (M = 2,17, SD = 0,75) oder Ärztinnen und Ärzten (M = 2,05, SD = 0,88).
Abb. 9.2 Herausforderungen für das Krankenhauspersonal (n = 645) bei der Behandlung, Therapie und Pflege von Menschen mit Behinderungen, Teil 2
9 Moralische Belastungen im Krankenhaus bei Pflege …
185
Abb. 9.3 Herausforderungen bei der Einschätzung von Interessen, Wünschen und Bedürfnissen von Menschen mit insbesondere geistigen Behinderungen aus Sicht des
Krankenhauspersonals (n = 672; Bereich Verwaltung und Sozialdienst nicht extra aufgeführt)
Auch bei der Betreuung durch zwei Begleitpersonen aus einer Langzeitinstitution (M = 2,25, SD = 1,02) zeigt sich ein hochsignifikanter Unterschied zwischen den Berufsgruppen (F[3,651] = 14,12, p = 0,0): Eine solche Begleitung wird von Pflegefachpersonen (M = 2,09, SD = 0,99) als wesentlich hilfreicher angesehen als von Therapeutinnen und Therapeuten (M = 2,76 M = SD = 1,0) oder Ärztinnen und Ärzten (M = 2,61, SD = 1,01). Dies macht deutlich, wie wichtig eine personelle Entlastung insbesondere von Pflegefachpersonen ist.
Während in der Stiftung Wagerenhof vor allem Menschen mit geistigen Behinderungen betreut werden, leben in der Stiftung Wohnraum für jüngere Behinderte insbesondere Menschen mit einem schweren Schädel-Hirn-Trauma oder neurologischen Erkrankungen. Insgesamt kamen 86 Mitarbeitende aus der Pflege und Betreuung (38 Fachpersonen Betreuung, 12 Fachpersonen Gesundheit, 36 Pflegefachpersonen), 16 Mitarbeitenden aus der Sozial- und Heilpädagogik, 11 Mitarbeitende aus der Therapie (Physio- und Ergotherapie) und 6 Mitarbeitende aus anderen Bereichen (Leitung und Verwaltung). Von den Mitarbeitenden aus den beiden Betreuungsinstitutionen wird als grösste Herausforderung für das Personal in Krankenhäusern der allgemeine Zeitmangel in der Arbeit angesehen (M = 1,97, SD = 0,91). An zweiter Stelle folgt die mangelnde Einschätzung der Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit von Menschen mit einer Behinderung (M = 1,99,
9.2.2.5 Weitere Ergebnisse aus dem quantitativen Forschungsteil Neben der Befragung in zwei Kantonsspitälern wurde im Juni 2022 eine Online-Befragung unter 119 Mitarbeitenden in zwei Betreuungsinstitutionen im Kanton Zürich durchgeführt, und zwar bei der Stiftung Wagerenhof und der Stiftung Wohnraum für jüngere Behinderte.
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D. Gregorowius und R. Baumann-Hölzle
Abb. 9.4 Erfolgsfaktoren für Therapieplanung und Entscheidungsfindung bei Menschen mit insbesondere geistigen Behinderungen aus Sicht des Krankenhaus-
personals (n = 676; Bereich Verwaltung und Sozialdienst nicht extra aufgeführt), Teil 1
SD = 0,93) und an dritter Stelle der Widerstand gegen Behandlung, Therapie oder Pflege (M = 2,01, SD = 0,88). Danach gefragt, was Erfolgsfaktoren für die Therapieplanung und Entscheidungsfindung sein können, wird vor allem der Zeitfaktor genannt: mehr Zeit für die Behandlung, Therapie und Pflege für das Spitalpersonal (M = 1,63, SD = 1,08) sowie mehr Zeit für Begleitung und Unterstützung für das Heimpersonal (M = 1,67, SD = 1,11). Hier zeigt sich, dass sich die Binnenperspektive im Krankenhaus mit der Aussenperspektive von Mitarbeitenden aus Betreuungsinstitutionen deckt.
für eine erfolgreiche und adäquate Behandlung, Pflege und Therapie ist. Einen hohen Stellenwert haben Kommunikation und gute Informationsvermittlung einerseits für den Therapieerfolg, andererseits auch für effiziente Arbeitsabläufe, um Überlastungen zu vermeiden. Die Gespräche in den Fokusgruppen zeigen, dass vor allem Unsicherheiten und Ängste im Umgang mit Menschen mit Behinderungen zu Überlastungen führen. Dem könnte am besten durch die Förderung von Kontakten mit Menschen mit Behinderungen und Aus- und Weiterbildungen begegnet werden.
9.2.3 Zentrale Ergebnisse der Fokusgruppendiskussionen Die Fokusgruppendiskussionen an den beiden Krankenhäusern in der Deutschschweiz machen deutlich, wie wichtig der interdisziplinäre Austausch zwischen den Berufsgruppen
9.2.3.1 Unsicherheit bei der Versorgung von Menschen mit Beeinträchtigungen In den Fokusgruppendiskussionen zeigt sich, dass Pflegefachpersonen eine große Empathie für Patientinnen und Patienten mit Behinderungen mitbringen, was für die eigene Arbeit aber auch belastend sein kann. Sie weisen auf Unsicherheiten
9 Moralische Belastungen im Krankenhaus bei Pflege …
187
Abb. 9.5 Erfolgsfaktoren für Therapieplanung und Entscheidungsfindung bei Menschen mit insbesondere geistigen Behinderungen aus Sicht des Krankenhaus-
personals (n = 676; Bereich Verwaltung und Sozialdienst nicht extra aufgeführt), Teil 2
bei der Pflege von Menschen mit Behinderungen hin. Eine Pflegekraft aus dem Luzerner Kantonsspital berichtet über ihre eigene Unsicherheit bei einem Patienten mit einer Behinderung, der einen Herzstillstand hatte:
tienten mit kognitiven Einschränkungen feststellen, weniger bei Patientinnen und Patienten mit körperlichen Einschränkungen. Die Unsicherheit ergibt sich vor allem in der fehlenden Selbstständigkeit und eingeschränkten Urteilsfähigkeit von Patientinnen und Patienten mit einer geistigen Beeinträchtigung, wo von der Pflege die Gefahr gesehen wird, dass diese bevormundet werden. Diese Sorgen und auch Unsicherheiten in der Begegnung von Menschen mit Beeinträchtigungen könnten zu Moral Distress führen. Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung werden im Unterschied zu Menschen mit geistigen Behinderungen als «Expertinnen und Experten» der eigenen Einschränkung betrachtet, von denen das Fachpersonal profitieren und lernen kann. Eine Pflegefachperson vom Luzerner Kantonsspital zieht diesbezüglich folgenden Vergleich zwischen Menschen mit einer geistigen und einer körperlichen Behinderung, um aufzuzeigen, dass
«Wir haben jetzt gerade über Wochen hinweg jemanden auf der Abteilung gepflegt, der einen Herzstillstand hatte und reanimiert wurde […], und der von der Frau zu Hause betreut wurde. […] Also das, was er noch konnte, an was sich die Frau noch so erfreute, das ging auf einmal weg. […] Und ich so, als ich ihm das erste Mal begegnete, kam ich mir wie auf Glatteis vor. […] Und da […] hatte ich manchmal auch so den Gedanken, dass in diesem Abhängigkeitsverhältnis, in dem dieser Mann ist, dass man von der Pflege her schnell einmal irgendwie etwas macht, was er vielleicht gar nicht will. Ein bisschen so wie auch Machtausübung, das kann man sehr gut machen. Und das ist so ein bisschen eine Gefahr, die mich auch immer […] sehr beschäftigt.»
Eine große Unsicherheit lässt sich vor allem bei der Versorgung von Patientinnen und Pa-
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D. Gregorowius und R. Baumann-Hölzle
Abb. 9.6 Unterstützungs- und Hilfsmöglichkeiten des Krankenhauspersonal für eine adäquate Behandlung, Pflege und Therapie von Menschen mit Behinderungen
(n = 677; Bereich Verwaltung und Sozialdienst nicht extra aufgeführt)
die Herausforderung in der Pflege vor allem in einer Bevormundung bestehen kann:
9.2.3.2 Wert der Begegnung mit Menschen mit Beeinträchtigungen In der Fokusgruppendiskussion am Kantonsspital Aarau wurde auf die Notwendigkeit hingewiesen, den Kontakt mit Menschen mit Beeinträchtigungen zu fördern, um so Hemmungen und Unsicherheiten zu reduzieren. Dies wurde am Beispiel einer Begegnung mit seh- und hörbeeinträchtigten Menschen geschildert. Unter anderem wurde vorgeschlagen, dass in Studium und Ausbildung sowie in Fort- und Weiterbildungen das Thema Behinderung aufgegriffen wird. Die Begegnung mit Menschen mit einer Behinderung, die selbst Dozierende sind, sei wertvoll. Dies wäre für eine Sensibilisierung der Mitarbeitenden in Krankenhäusern wichtig. Eine Erwachsenenbildnerin aus dem Departement Human Resources des Kantonsspitals Aarau berichtet hierzu:
«Sie [Patienten mit körperlicher Behinderung] sind Profis in ihrer Behinderung. Gerade ich von der Pflege, die die Situation nicht kennt, kann dann sehr viel vom Klient profitieren und wo er dann mich anleiten kann. Was halt bei einer geistigen Behinderung dann eben nicht der Fall ist. Die sind dann halt auch nicht immer präsent, nicht immer abrufbar. Und dann macht man halt nach bestem Wissen und Gewissen. Ich finde dort auch wieder ein Teil der Schwierigkeit, also […] bei geistig [Behinderten] der Grad dieser geistigen Behinderung. Ich finde, das ist wie mit einem neugeborenen Kind: Da weißt Du zu Beginn nicht, da musst du einfach alles übernehmen. Aber das Kind hat so ein Ding, wo man plötzlich eben abschätzen muss, was kann es jetzt wirklich selber und wo muss ich noch fest darauf achten. Und das ist bei geistig Behinderten […] die Herausforderung manchmal. Wo kann ich ihm seinen Willen und seinen Wunsch lassen, […] und wo bin ich so vielleicht die Bevormundende?»
«Ich kann mich erinnern, als ich im KSA gestartet habe, ist bei mir eine Anfrage eingetroffen. Damals hatten sich zwei sehbehinderte Personen bei unserer Beschwerdestelle beschwert, dass sie sich
9 Moralische Belastungen im Krankenhaus bei Pflege …
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Abb. 9.7 Organisatorische Unterstützung des Krankenhauspersonals bei der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen (n = 673; Bereich Verwaltung und Sozialdienst nicht extra aufgeführt)
als Patienten mit ihrer Sehbeeinträchtigung nicht richtig behandelt gefühlt haben. […] Und ich habe gedacht, man könnte es jetzt nicht nur bei der Sehbeeinträchtigung belassen, und habe da mal ein Seminar entwickelt – eben mit dem Fokus, mit dem Aspekt, unsere Pflegenden zu unterstützen. […] Ich war beim SehbeeinträchtigtenVerein, beim Hörbeeinträchtigten-Verein, ich hatte eine ganz coole Referentin von der höheren Fachschule für Gesundheit, die hat mich unterstützt. […] Und wir haben jetzt ein Seminarkonzept auf die Beine gestellt […]. Es war eine sehbeeinträchtige Person dabei, die kam sogar mit ihrem Blindenführerhund. Es war die Leitung vom Hörgeschädigten-Verband dabei, und die Schwester der Referentin mit einer kognitiven Beeinträchtigung.»
Der Kontakt zu Menschen insbesondere mit kognitiven Beeinträchtigungen wird von Pflegefachpersonen zwar als Herausforderung angesehen, aber der Austausch mit ihnen sei sehr wichtig. Dies könne für die Aus- und Fortbildung genutzt werden. Interessant ist, dass von Pflegefachpersonen das Kennenlernen der Arbeit in Langzeitinstitutionen gewünscht wird, sodass auch Übergänge erleichtert werden. Eine Pflegefachperson vom Luzerner Kantonsspital be-
richtete von ihren ersten Erfahrungen mit Menschen mit Beeinträchtigungen: «Und ich weiß noch bei unserer Ausbildung, die wir machten, waren wir drei Wochen in so einer Institution. Ich war geschockt […]. Und das Ganze prallte so auf mich hinein und ich fühlte mich überhaupt nicht wohl um diese Leute herum. Ich hatte eine Hemmschwelle. Aber im Nachhinein musste ich sagen, genau das brachte mich weiter. Und da dachte ich mir so, wie könnten Pflegende mit dieser Ausbildung, wie sie jetzt halt angeboten wird, wie können sie diese Kompetenzen entwickeln?»
9.2.3.3 Umgang mit stellvertretenden Entscheidungen von Beiständen und Angehörigen In den Fokusgruppen in beiden Krankenhäusern wurde deutlich betont, wie wichtig eine Patientenverfügung oder sonstige schriftliche Vorsorgedokumente für die Entscheidungsfindung von urteilsunfähigen Patientinnen und Patienten sind. Dies wurde nicht nur als wichtiger Beitrag angesehen, um Angehörige und Beistände in schwierigen Situationen zu entlasten,
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damit diese im Sinne des betroffenen Patienten oder der Patientin entscheiden können, sondern auch als Entlastung für Ärzte und Pflegefachpersonen. Eine Pflegefachperson vom Kantonsspital Aarau berichtete von einem Fall, als für einen schwer eingeschränkten Patienten weder eine entscheidungsbefugte Ansprechperson bekannt war noch eine Patientenverfügung vorlag. Mit Blick auf den Notfall betonte sie, wie wichtig eine gute Information des Personals sei, da dies sonst Belastungen und Stress für alle Beteiligten bedeuten würde.
9.2.3.4 Weitere Ergebnisse aus dem qualitativen Forschungsteil Das Projekt bestand im qualitativen Forschungsteil aus zahlreichen Fokusgruppendiskussionen und Einzelinterviews. Zwischen Sommer 2021 und Frühjahr 2022 wurden unter anderem 26 Interviews mit Betroffenen und Angehörigen durchgeführt: Es fanden 14 Interviews mit 15 Betroffenen und 12 Interviews mit 14 Angehörigen (elf Elternteile, zwei Schwestern, eine Lebenspartnerin) statt. Unter den Betroffenen befanden sich elf Personen mit Cerebralparese, eine Person mit schwerem Morbus Parkinson, eine weitere Person mit einem multiplen Behinderungsbild sowie zwei Personen mit einer Querschnittslähmung. In den Interviews mit Angehörigen hatten die von diesen betreuten zwölf Personen alle eine geistige Behinderung und lebten im Heim. Interviewpartner und -partnerinnen mit einer körperlichen Behinderung brachten deutlich zum Ausdruck, dass sie nicht ungefragt im Krankenhaus unterstützt werden wollen, da sie Wert auf ihre Eigenständigkeit und Unabhängigkeit legen. Als ein Problem erachten Betroffene wie auch Angehörige die raschen Zeitabläufe in der Pflege im Krankenhaus: Es wurde von allen Interviewpartner gewünscht, dass Menschen mit einer Behinderung mehr Zeit bei Untersuchungen und Behandlungen erhalten und ihre Eigenständigkeit respektiert wird. Angehörige wünschten sich nicht nur mehr Zeit für die Pflege und Behandlung für ihre Kinder, Geschwister oder Partner, sondern auch mehr Verständnis und Geduld vonseiten der Pflege. Inte-
D. Gregorowius und R. Baumann-Hölzle
ressant ist, dass Betroffene wie Angehörige von Krankenhausaufenthalten berichten, in denen Pflegefachpersonen als unsicher, nervös oder gestresst beschrieben wurden. Die Interviewpartner beobachteten Druck auf Seite der Pflege und hatte durchaus Verständnis, wenn sie mit Unsicherheit reagieren. Eine junge Frau mit Cerebralparese und Multipler Sklerose berichtete, dass sie „in solchen Situationen, wo es eben auch zu Ungeduld führt“, lieber auf technische Hilfsmittel – etwa in Form eines Rollsuhls – als auf die Unterstützung durch die Pflege zurückgreife, da dies für Pflegefachpersonen zusätzliche Belastungen bedeutet. Sie berichtet von einem fast „traumatischen Erlebnis“ nach der Geburt ihrer Tochter, wo sie sich durch Pflegefachpersonen unter Druck gesetzt und fast diskriminiert gefühlt habe, als sie stillen sollte, dies aber unter Zeitdruck nicht konnte. Diese Situation habe auch bei ihr Stress ausgelöst.
9.3 Diskussion der Ergebnisse des Forschungsprojektes: Handlungsbedarf in der Pflege Die Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt haben gezeigt, dass sich einerseits durch strukturelle und organisatorische Rahmenbedingungen, anderseits durch die Pflegesituation von Menschen mit einer Behinderung Herausforderungen für Pflegefachpersonen ergeben, die zu einem Belastungserleben und schließlich zu Moral Distress führen. Dies erklärt, warum gerade von Pflegefachpersonen ein größerer Zeitbedarf und zusätzliche Unterstützung für die Betreuung und Pflege von Menschen mit einer Behinderung gewünscht werden. Der geäußerte Bedarf an Fortund Weiterbildungen zeigt, wie Überlastungen und Moral Distress in der Pflege von Menschen mit Behinderungen entgegengewirkt werden könnte.
9 Moralische Belastungen im Krankenhaus bei Pflege …
9.3.1 Moral Distress durch Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen Die Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen als standortspezifische oder externe Einflussfaktoren haben Anteil an der Ausprägung von Moral Distress bei Pflegepersonen. Gerade bei Pflege und Betreuung von Menschen mit Behinderungen können begrenzte institutionelle, organisatorische und finanzielle Rahmenbedingungen zu einer strukturellen Ungleichbehandlung in der medizinischen Versorgung im Vergleich zu Menschen ohne Behinderungen führen. Das Erleben dieser Ungleichbehandlung löst bei Pflegefachpersonen möglicherweise moralischen Stress aus, da sie für ihre Patientinnen und Patienten aufgrund der strukturellen Vorgaben nicht das leisten können, was sie gerne möchten und gemäß ihrem Berufsethos sollten.
9.3.1.1 Rationalisierung und Rationierung im Gesundheitswesen Ein bedeutender Einflussfaktor auf Moral Distress sind die strukturellen Rahmenbedingungen des Gesundheitswesens. Das Gesundheitswesen ist in mitteleuropäischen Ländern von einem Anreizsystem geprägt, welches einerseits zu Mengenausweitungen bei finanziell lukrativen Leistungen und damit zu Übertherapien und andererseits zu Unterversorgung bei Leistungen führt, die keinen oder kaum Gewinn generieren können. Generell sind Behandlung, Pflege und Betreuung von kranken Menschen wegen ihrer Leiblichkeit zeitund ressourcenintensiv. Ressourcen sind stets begrenzte Güter. Um eine gerechte Verteilung der Güter zu ermöglichen, müssen ineffiziente oder unwirksame Handlungen und die Verschwendung von wertvollen Ressourcen vermieden, also Behandlungs-, Pflege- und Betreuungsprozesse rationalisiert werden (Noll und Wolf 2017; Wils und Baumann-Hölzle 2019). Rationalisierung im Gesundheitswesen bedeutet, dass Behandlung und Pflege möglichst effizient und effektiv gestaltet werden, damit sich ein sinnvoller Einsatz wertvoller Ressourcen im
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Gesundheitswesen ergibt. Die angemessene Behandlung und Pflege eines kranken Menschen brauchen aber Zeit und Raum. So kann ein Mensch beispielsweise nicht immer schneller gewaschen werden. Eine Folge ist die Priorisierung in der Arbeit (Winters 2012). Werden beispielsweise Waschprozesse weiter rationalisiert, kippt die Rationalisierung und wird zur Rationierung. Während Rationalisierung die Behandlungs- und Betreuungsqualität verbessert, verschlechtert sie sich bei einer Rationierung (Wils und Baumann-Hölzle 2019). Rationierungsmaßnahmen beeinflussen die Arbeit im Krankenhaus: Wie internationale Studien zeigen, können finanzielle Einsparungen dazu führen, dass Pflegefachpersonen moralischen Stress erleben (Zuzelo 2007; Rice et al. 2008, Bentzen et al. 2013). Moralische Belastung entsteht dadurch, dass Zeitvorgaben angepasst oder zusätzliche Aufgaben übernommen werden, wenn es zum Stellenabbau kommt. Moralischer Stress ist hier Folge eines Konflikts zwischen den eigenen moralischen Überzeugungen und Rollenerwartungen der Pflegekraft und ihres Berufsverbandes einerseits und den beruflichen Anforderungen mit den Rahmenbedingungen eines effizienten Gesamtsystems andererseits (vgl. Dean et al. 2020). Führen diese Belastungserscheinungen zu einer verminderten Pflegequalität, hat dies unmittelbare Folgen für vulnerable Patientengruppen wie Menschen mit Behinderungen. Eine Qualitätsminderung kann hierbei nicht nur in der Pflegesituation im Krankenhaus beobachtet werden, sondern gilt unter Umständen auch für Schnittstellen innerhalb und zwischen Organisationen, etwa zwischen Krankenhaus und Betreuungsinstitution. Es sind Einbußen in der Pflegequalität oder Mehrbelastungen bei Mitarbeitenden in Betreuungsinstitutionen möglich, wenn sie an Schnittstellen zusätzliche Aufgaben übernehmen. Im Forschungsprojekt berichteten Mitarbeitende aus Betreuungsinstitutionen, dass sie bei der Begleitung ihrer Bewohnerinnen und Bewohner im Krankenhaus Aufgaben der Pflege des Krankenhauspersonals übernehmen würden. Auf diese Weise können auch bei ihnen Belastungsescheinun-
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gen entstehen. Aber nicht nur Betreuerinnen und Betreuer aus Institutionen übernehmen Aufgaben der Pflege: Wie Pflegefachpersonen aus beiden Kantonsspitälern berichteten, sind Angehörige eine wichtige Quelle der Unterstützung und Entlastung. Erfolgen bestimmte Aufgaben durch externe Personen aber nicht mit der entsprechenden Expertise, kann dies die Pflegequalität reduzieren und sich negativ die Patientenversorgung auswirken. Eine Begrenzung von Ressourcen im Krankenhaus kann zur strukturellen Ungleichbehandlung in der medizinischen Versorgung von betreuungsintensiven Patientengruppen wie Menschen mit Behinderungen führen (vgl. White et al. 2006; Kirschner et al. 2007; Lagu et al. 2013), wenn die Pflege vor allem bei ihnen rationiert wird. Dies kann Moral Distress befördern.
9.3.1.2 Erleben des Zeit- und Fachkräftemangels in der Pflege Moralische Belastungen sind auch Ergebnis des individuellen Erlebens vom Zeit- und Personalmangel in der Pflege. Zeit- und Personalmangel sind zwar eine Folge der strukturellen Rahmenbedingungen, können sich aber auch standort- und situationsabhängig ergeben, wie die Pandemie gezeigt hat. Bei Patientinnen und Patienten mit einer Behinderung dauert der Krankenhausaufenthalt aufgrund der Komplexität von Gesundheitsproblemen und den damit verbundenen ärztlichen, pflegerischen und therapeutischen Abläufen in der Regel länger als bei Menschen ohne Behinderung (Wieland 2016). Zudem führen einzelne Behandlungsund Pflegesituationen von Patientinnen und Patienten mit einer Behinderung beim Personal zu erhöhtem Zeitbedarf (Backer et al. 2009; Heinen 2011; Iacono et al. 2014). Wenn Pflegefachpersonen unter diesen Rahmenbedingungen das Gefühl haben, nicht genügend Zeit für ihre Patientinnen und Patienten zur Verfügung zu haben, sodass sie sich Sorge um die Qualität der Pflege machen, entsteht Moral Distress (De Veer et al. 2013). Sie können die mit dem Zeitmangel einhergehenden Qualitätseinbußen möglicherweise als eigenes moralisches Versagen verstehen und sich dafür verantwortlich füh-
D. Gregorowius und R. Baumann-Hölzle
len. Dies trifft Pflegefachpersonen umso stärker, je mehr der Pflege- und Betreuungsaufwand vom durchschnittlich vorgesehenen Rahmen abweicht. Dieser zusätzliche Belastungsfaktor aufgrund des Gerechtigkeitsempfindens und der Empathie für diese unterstützungsbedürftige Patientengruppe wurde in den Fokusgruppeninterviews in den beiden Kantonsspitälern deutlich. Die Online-Befragung hat gezeigt, dass Zeitmangel vor allem von Pflegefachpersonen als größte Herausforderung bei der Versorgung von Menschen mit Behinderungen erachtet wird. Auch wenn es in der Forschungsstudie nicht explizit untersucht wurde, ist anzunehmen, dass das individuelle Erleben des Zeit- und Personalmangels bei einer vulnerablen Patientengruppe den Moral Distress zusätzlich beeinflussen kann. Vor allem Pflegefachpersonen wünschen sich, wie die Online-Befragung gezeigt hat, eine Entlastung ihrer Arbeit, und zwar durch zusätzliches Personal oder durch Angehörige. In einer personellen Entlastung könnte ein wichtiges Präventionsinstrument gegen Überlastung und spezifisch von Moral Distress liegen. Dies sollte jedoch professionell und nicht durch Angehörige geleistet werden.
9.3.2 Moral Distress durch Pflegesituationen im Berufsalltag Auch die klinische Situation und das individuelle Erleben der Pflegesituation oder der zu pflegenden Person kann zu Moral Distress führen. Hier kann moralische Belastung direkt durch das Erleben einer bestimmten Situation oder die Begegnung mit der Patientin oder dem Patienten mit erhöhtem Betreuungsbedarf ausgelöst werden. Moral Distress hängt hier sehr stark von eigenen Wertmaßstäben und dem Umgang mit einer Behinderung ab, ist insofern unabhängig vom Erleben des Zeit- und Personalmangels. Hierbei spielen interne Faktoren wie Moral- und Wertvorstellungen, aber auch der Umgang und das individuelle Coping mit herausfordernden Pflegesituationen eine Rolle.
9 Moralische Belastungen im Krankenhaus bei Pflege …
9.3.2.1 Belastungen im Umgang mit Menschen mit Behinderungen Besonders herausfordernd im Pflegealltag sind innerhalb der Patientengruppe von Menschen mit einer Behinderung jene mit einer geistigen Behinderung. Durch die unbekannte und fremde Umgebung im Krankenhaus oder durch ungewohnte Untersuchungen und Behandlungen können sie Ängste entwickeln und sich gegen Untersuchungen wehren (Iacono et al. 2014). Patientinnen und Patienten widersetzen sich Untersuchungen und Behandlungen oftmals auch aus dem Unvermögen, ihren Schmerz zu äußern. Für Pflegefachpersonen können einerseits durch das Mitgefühl mit diesen Patientinnen und Patienten, anderseits durch mögliche aggressive Reaktionen Situationen entstehen, die zu Moral Distress führen. Verschiedene Studien deuten auf einen Zusammenhang zwischen der Exposition gegenüber herausforderndem Verhalten und einem erhöhten Stresserleben bei Mitarbeitenden hin (Chung und Harding 2009; Vassos und Nankervis 2012; Judd et al.2017; De Looff et al. 2018). Eine Exposition gegenüber herausforderndem Verhalten ist mit erhöhter Angst und geringerer Arbeitszufriedenheit (Jenkins et al. 1997; Wilkinson et al. 2012) sowie Burnout und emotionaler Erschöpfung verbunden (Lundström et al. 2007; Ko et al. 2012; Kozak et al. 2013; Smyth et al. 2015). Gesundheitsfachpersonen berichten von Unsicherheit und Stress bei der Arbeit mit Menschen mit einer Behinderung (McConkey und Truesdale 2000; Lewis und Stenfert-Kroese 2010; Flynn et al. 2015). Diese Unsicherheit wurde deutlich in den Fokusgruppendiskussionen geäussert. Der Widerstand gegen Behandlung, Therapie oder Pflege – und somit auch aggressives Verhalten – wurde von allen Berufsgruppen als zweitwichtigste Herausforderung genannt. Die Ergebnisse des Forschungsprojektes machen einen weiteren möglichen Zusammenhang zum Belastungserleben bei Pflegefachpersonen deutlich, und zwar Herausforderungen in Pflegesituationen durch die Schwierigkeit der Einschätzung von Wünschen und Interessen. Das Unwissen um den mutmaßlichen Willen von Patientinnen und Patienten kann bei Pflegefach-
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personen moralische Konflikte verursachen, wenn sie stellvertretend für sie Entscheidungen im Rahmen der Pflege fällen. Dies könnte eine zusätzliche Ursache für Moral Distress sein. Ein direkter Zusammenhang wurde im Rahmen des Forschungsprojektes jedoch nicht untersucht. Das individuelle Stresserleben der Pflegesituation eines Menschen mit einer Behinderung wird nicht nur durch herausforderndes Verhalten beeinflusst, sondern auch durch die Persönlichkeitsstruktur der pflegenden Person, die Möglichkeiten des Copings und den Umgang mit Stress sowie das eigene Rollenverständnis (Ryan et al. 2019). Eine britische Studie fand Zusammenhänge zwischen dem Burnout von Pflegefachpersonen bei der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung und den eigenen Persönlichkeitsmerkmalen wie höherer Emotionskontrolle, niedrigerer Extrovertiertheit und höherer Gewissenhaftigkeit (Chung und Harding 2009). Auch zur sogenannten emotionalen Intelligenz besteht ein Zusammenhang: Hohe emotionale Intelligenz bei Pflegefachpersonen, die mit Menschen mit geistiger Behinderung arbeiten, ist ein präventiver Faktor für einen Burnout (Gerits et al. 2005).
9.3.2.2 Haltung gegenüber Menschen mit Behinderungen Neben dem Erleben von herausforderndem Verhalten und der eigenen Befähigung im Umgang damit spielt die individuelle Werthaltung gegenüber Menschen mit einer Behinderung als Personengruppe für das Entstehen einer emotionalen und moralischen Belastung eine Rolle. Werden Menschen mit einer Behinderung aufgrund ihrer Beeinträchtigung nicht mehr individuell betrachtet, sondern durch die Zuschreibung von bestimmten Eigenschaften und Merkmalen kategorisiert, kann dies zu einer Stigmatisierung führen. Das bedeutet, dass Patientinnen und Patientinnen nicht mehr individuell danach beurteilt werden, was sie sagen und tun, sondern allein aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit. Eine solche Stigmatisierung kann bewusst oder unbewusst zu Diskriminierungen führen. Diskriminierungen insbesondere von Menschen mit
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geistiger Behinderung durch das Krankenhauspersonal sind belegt (Gibbs et al. 2008). Eine Form der Diskriminierung kann sich dadurch ergeben, dass Menschen mit Behinderungen als per se unterstützungswürdig angesehen werden. Sie werden oft auch bei gegebener Urteilsunfähigkeit nicht in Entscheidungsprozesse eingebunden; Entscheidungen werden im wahrsten Sinne des Wortes über ihren Kopf hinweg getroffen. Auch bei gegebener Urteilsfähigkeit kann es vorkommen, dass sie in ihren Anliegen nicht ernst genommen oder ihnen aufgrund des Zeitdrucks Handlungen ohne Rücksprache abgenommen werden. Auch dies sind Formen von Diskriminierung, selbst wenn sie von der agierenden Person nicht beabsichtigt wurden oder die Handlung wohlwollend gemeint war. In fast allen der durchgeführten Einzelinterviews mit Menschen mit körperlichen Behinderungen wurde deutlich, dass ihnen Selbstbestimmung wichtig ist: Sie möchten erst gefragt werden, bevor ihnen Aufgaben abgenommen werden. Eine andere Form der Diskriminierung erfolgt dann, wenn Menschen mit einer Behinderung in einem normativen Sinne als weniger wertvoll erachtet werden, wenn sie aufgrund ihrer Beeinträchtigung gemieden oder schlechter behandelt werden. Dies kann sich dadurch ausdrücken, dass bewusst Pflegeleistungen vorenthalten werden oder Pflegefachpersonen sich Situationen entziehen. Eine bewusst geäußerte Diskriminierung ist aus einem Interview mit einer jungen Frau mit Cerebralparese bekannt. Die negative Einstellung einer Pflegefachperson gegenüber Menschen mit einer Behinderung, wie sie in dem Fall zum Ausdruck kam, wirkt sich negativ auf die Beziehungsgestaltung zur Patientin oder zum Patienten und folglich auch auf die Pflegequalität aus (Seccombe 2007). Die beschriebenen Haltungen gegenüber Menschen mit Behinderungen, die Formen von Diskriminierung darstellen, können in unterschiedlicher Weise Belastungen und Stress bei Pflegefachpersonen auslösen. Es ist denkbar, dass der Stress dadurch entsteht, wenn Pflegefachpersonen Ablehnung durch Patientinnen und
D. Gregorowius und R. Baumann-Hölzle
Patienten erfahren, wenn sie ihnen Aufgaben abnehmen, obwohl dies in bester Absicht geschah. Anderseits können Stresssituationen sich auch dann ergeben, wenn eine vorurteilsbeladene Pflegefachperson sich in einer Weise Menschen mit einer Behinderung gegenüber verhalten muss, die nicht ihren eigenen, vorurteilsbeladenen Überzeugungen entspricht. Möglich ist auch, dass diskriminierendes Verhalten von anderen Pflegefachpersonen erlebt wird und dadurch zu Moral Distress führt. Denn auch das Beobachten von Diskriminierung kann als belastend empfunden werden (Gibbs et al. 2008).
9.4 Ethische und rechtliche Vorgaben Das Forschungsprojekt zum Umgang mit Patientinnen und Patienten mit einer Behinderung hat deutlich gemacht, dass sich in der Pflege einer vulnerablen Patientengruppe für Fachpersonen unterschiedliche Herausforderungen ergeben, die zu Moral Distress führen. Diese Hausforderungen zeigen den Handlungsbedarf auf, der sowohl aufseiten der Pflegefachpersonen im Krankenhaus als auch aufseiten der Patientinnen und Patienten mit einer Behinderung besteht. Die Notwendigkeit, diesem Handlungsbedarf entgegenzuwirken, erklärt sich aus den rechtlichen und ethischen Vorgaben, die für Menschen mit einer Behinderung und Gesundheitsfachpersonen bestehen. Diese bilden zugleich die normativen Vorgaben für mögliche Lösungsansätze und Bewältigungsstrategien.
9.4.1 Ethische und rechtliche Vorgaben gegenüber Menschen mit einer Behinderung Gesundheit wird in Industrieländern als ein öffentliches und nicht nur privates Gut betrachtet. Davon abgeleitet wird der Anspruch auf angemessene Behandlung, Pflege und Betreuung von kranken und hilfsbedürftigen Menschen. Dieser Anspruch gilt für alle Menschen unabhängig
9 Moralische Belastungen im Krankenhaus bei Pflege …
von ihren Eigenschaften und Fähigkeiten (Wils & Baumann-Hölzle, Ruth 2019). Begründet wird dieser Anspruch mit dem ethischen und rechtlich verbrieften Anspruch auf Menschenwürde und Menschenrechten. Die Menschenwürde ist hier die Leitkategorie für professionelles Entscheiden und Handeln im Gesundheitswesen (Unger 2007, Röttger & Stoecker 2022). Eine mögliche Ungleichbehandlung oder Qualitätseinschränkungen bei Behandlung, Pflege und Betreuung von Menschen mit einer Behinderung hat eine sehr hohe Eingriffstiefe und würde eine Menschenrechtsverletzung darstellen (vgl. Unger 2007). Der Handlungsbedarf ist daher ethisch und rechtlich hoch relevant und ergibt sich aus der Menschenwürde und dem daraus angeleiteten Anrecht auf Schutz vor Diskriminierung, dem Anrecht auf Gleichbehandlung und dem Anspruch auf Autonomie. Einen rechtlichen Anknüpfungspunkt in der Versorgung von Menschen mit einer Behinderung im Sinne der Menschenwürde bildet auf internationaler Ebene die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ von 1948 (Vereinte Nationen 1948). Artikel 2 nennt das Verbot jeglicher Diskriminierungen, das aus der Menschenwürde abgeleitet ist. Eine weitere Grundlage bildet das „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ von 2006 (Vereinte Nationen 2006). Dieses Übereinkommen beinhaltet – neben der Bekräftigung allgemeiner Menschenrechte auch für behinderte Menschen – eine Vielzahl spezieller, auf die Lebenssituation behinderter Menschen abgestimmte Regelungen. In Artikel 25 wird das Recht behinderter Menschen auf den Genuss des erreichbaren Höchstmaßes an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund der Beeinträchtigung beschrieben (Vereinte Nationen 2006).
9.4.2 Ethische und rechtliche Vorgaben gegenüber dem Gesundheitsfachpersonal Handlungsbedarf besteht auch gegenüber dem Gesundheitsfachpersonal, besonders gegenüber Pflegefachpersonen, die die meiste Zeit mit Patientinnen und Patienten verbringen. Diese haben
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Anspruch auf eine gute Arbeitsqualität und angemessene Entlöhnung. Der diskutierte Moral Distress bei Pflegefachpersonen als Folge der strukturellen Rahmenbedingungen, von Zeitund Personalmangel wie auch aufgrund herausfordernder Pflegesituationen widerspricht dem beruflichen Ethos der Fürsorge. Die Möglichkeit negativer Einflüsse von Moral Distress auf die Pflegequalität würde die fürsorgliche Beziehung stören, die sich durch den Bedarf aller Menschen nach Schutz der Würde, Autonomie, Verletzlichkeit und Sterblichkeit ergibt (vgl. Heinemann 2010; Remmers 2010; Riedel und Lehmeyer 2016). Pflegefachpersonen können ansonsten durch Moral Distress und Einbußen in der Arbeitsqualität ihrer Aufgabe nicht mehr adäquat nachkommen, um stellvertretend diese Werte von vulnerablen Menschen zu schützen und zu realisieren (Heinemann 2010; Remmers 2010). Angesicht der Integritätsverletzungen durch Moral Distress bei Pflegefachpersonen wie auch bei Patientinnen und Patienten als Folgeerscheinung sind die Arbeitsbedingungen, die zu dauerhaften moralischen Belastungen in der Pflege führen, mit ethischen Grundlagen wie auch mit internationalen und nationalen Übereinkünften nicht vereinbar. So regeln die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ (Vereinte Nationen 1948) und die „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ von 2000 (Europäische Menschenrechtskonvention 2000) die Rechte von Arbeitnehmenden und die Gestaltung gerechter und angemessener Arbeitsbedingungen. Das Recht auf Arbeit und gerechneter Entlöhnung definiert Artikel 23 der Menschenrechtserklärung beziehungsweise Artikel 31 der Grundrechtscharta. In der Grundrechtscharta wird explizit von gesunden, sicheren und würdigen Arbeitsbedingungen gesprochen (Europäische Menschenrechtskonvention 2000). Der menschenrechtlich garantierte Schutz der Arbeitsbedingungen wird aber in Situationen mit Moral Distress und aufgrund der Ressourcenknappheit in der Pflege nicht erfüllt und damit Pflegefachpersonen in ihren Grundrechten verletzt.
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9.5 Lösungsansätze: Integration und Inklusion im Gesundheitswesen Im Rahmen des Forschungsprojektes wurden Anforderungen an die Entwicklung von Praxisinstrumenten und -konzepten formuliert, um den Umgang mit Menschen mit einer Behinderung im Krankenhaus zu verbessern. Viele dieser Instrumente und Konzepte können nicht nur Menschen mit einer Behinderung oder ihren Angehörigen helfen, sondern auch Mitarbeitenden im Krankenhaus und insbesondere Pflegefachpersonen. Sie können indirekt einen Beitrag zur Intervention oder Prävention von Moral Distress leisten, indem Prozesse besser koordiniert und organisiert und auf diese Weise auslösende Faktoren von Moral Distress beseitigt werden. Die folgenden Lösungsansätze für eine bessere Integration und Inklusion von Menschen mit einer Behinderung und ihrer Bedürfnisse im Gesundheitswesen können zugleich zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Pflegefachpersonen beitragen.
9.5.1 Fort- und Weiterbildungen des Personals Fort- und Weiterbildungen können als eines der wichtigsten Mittel der Intervention und Prävention von Moral Distress angesehen werden (Burston & Tuckett 2012). Sie helfen, das Wissen um Behinderungen und den Umgang damit zu erweitern und zu vertiefen. Wiederholt wurde in Fokusgruppendiskussionen und in Einzelinterviews die Bedeutung von Fort- und Weiterbildungen für die Pflege gerade von Menschen mit einer geistigen Behinderung betont. Gegenstand solcher Fort- und Weiterbildungen sollen der Umgang und die Kommunikation mit Menschen mit einer geistigen Behinderung sein, um Unsicherheiten und Ängste bei Pflegefachpersonen zu reduzieren. Je sicher und vertrauter der Umgang mit Menschen mit einer Behinderung wird, umso eher kann dem Ent-
D. Gregorowius und R. Baumann-Hölzle
stehen von Moral Distress in herausfordernden Patientensituationen begegnet werden. Von Betroffenen wurde darauf hingewiesen, dass Fortund Weiterbildungen durch Menschen mit einer Behinderung durchgeführt oder sie zumindest involviert werden sollten. Derartige Fort- und Weiterbildungen sollten den Kontakt mit Menschen mit einer Behinderung fördern. Die Inklusion von Menschen mit einer Behinderung kann zu einer nachhaltigen Änderung in Einstellungen und weniger Stigmatisierungen führen (Ten Klooster et al. 2009; Sahin und Akyol 2010; Flynn et al. 2015; Pelleboer-Gunnink et al. 2017).
9.5.2 Ansprechperson für Anliegen Ein weiterer Lösungsansatz, der sich aus den Aussagen von Pflegefachpersonen im Rahmen des Forschungsprojektes zur Notwendigkeit der besseren Koordination ableiten lässt, wäre eine spezifische Ansprechperson in Krankenhäusern für Menschen mit einer Behinderung und ihren Angehörigen oder Stellvertretenden sowie für Mitarbeitende. Ein solcher Ansatz wird beispielsweise am Universitätsspital Basel verfolgt, wo die Stelle einer Behindertenbeauftragten geschaffen wurde, auf deren Initiative hin ein spezialisiertes Eintrittsformular für Menschen mit Behinderungen erstellt wurde (Curaviva 2020, Jacobi 2021). Aufgrund der im Projekt festgestellten Bedeutung der Pflege für die Versorgung von Menschen mit einer Behinderung könnte eine solche Aufgabe auch von einer ausgebildeten Pflegefachperson übernommen werden. Im Sinne der Integration und Inklusion von Menschen mit einer Behinderung könnte eine solche Fachkraft für die interne und externe Koordination bei der Versorgung von Menschen mit einer Behinderung verantwortlich sein (Curaviva 2020) und dadurch zur Entlastung des Gesundheitspersonals und von Angehörigen beitragen. In dieser Funktion könnte diese Fachkraft als Behindertenbeauftragte oder Behindertenbeauftragter durch den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen frühzeitig bei Moral Distress intervenieren.
9 Moralische Belastungen im Krankenhaus bei Pflege …
9.5.3 Case Management im Krankenhaus Bei Menschen mit einer Behinderung kann der Koordinationsbedarf grösser sein als bei einer Durchschnittspatientin oder beim Durchschnittspatienten. Dies unter anderem auch deshalb, weil oftmals mehrere Therapien und Behandlungen zusammengefasst werden, um Narkosen und Stress für die Patientin oder den Patienten zu reduzieren. Zudem sind bei Menschen mit schweren Behinderungen aufgrund der Komplexität unter Umständen viele verschiedene Fachpersonen in die Behandlung, Pflege und Betreuung involviert. Speziell ausgebildete Pflegefachpersonen könnten die Rolle des Case Managements und der Koordination übernehmen. Ein strukturiertes Vorgehen insbesondere bei der Übergabe von einer Institution oder der Familie ins Akutspital und vice versa könnte durch ein solches Case Management gewährleistet werden. Auch wenn das Case Management primär Menschen mit Behinderungen adressieren würde, könnten eine bessere Koordination und der interprofessionelle Austausch unter Fachpersonen auslösende Einflussfaktoren auf Moral Distress beseitigen oder reduzieren helfen.
9.5.4 Rundtischgespräche und ethische Fallbesprechungen Wie die Forschungsergebnisse gezeigt haben, können Rundtischgespräche mit unterschiedlichen Fachpersonen und ethische Fallbesprechungen bei Menschen mit einer Behinderung zur Planung des stationären Aufenthalts und zur Therapieplanung moralisch entlastend wirken. Beide sind mit hohem administrativem Aufwand verbunden; insgesamt aber kann mit ihnen aber Zeit gespart werden. Rundtischgespräche sind vor allem für die Koordination und einfache Therapiezielklärungen hilfreich. Ethische Fallbesprechungen kommen hingegen nur bei besonders komplexen Patientensituationen zur
197
Anwendung. Wenn moralische Dilemmata offen angesprochen und auf diese Weise Unklarheiten sowie Verantwortlichkeiten in Abläufen und Prozessen geklärt werden, kann sich Moral Distress bei Pflegefachpersonen reduzieren lassen.
9.5.5 Informationsplattform zum Austausch Das Forschungsprojekt hat auf den Bedarf für einen Austausch nicht nur innerhalb der Organisation des Krankenhauses deutlich gemacht, sondern auch zwischen verschiedenen Organisationen des Gesundheitssystems wie etwa Betreuungsinstitutionen. Oftmals fehlt das Wissen über Abläufe in anderen Institutionen und die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen. Jenseits des reinen Wissens um eine Behinderung braucht es hierfür den Austausch zwischen Fachpersonen und Laien. Eine webbasierte Informationsplattform zur medizinischen Versorgung von Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen, die administrativ durch eine Koordinationsstelle verwaltet wird, könnte Menschen mit einer Behinderung, ihre Angehörigen und das Gesundheitspersonal im ambulanten und stationären Bereich bei Bedarf vernetzen. Eine solche Informationsplattform könnte auch Anlaufstelle für Pflegefachpersonen und ihre moralischen Anliegen bei der Versorgung von Menschen mit Behinderungen sein. Hier könnten sie unter Umständen Hilfe bei moralischen Belastungen erhalten. Danksagung Die Autorinnen und Autoren danken für die gute Mitarbeit im Rahmen des Forschungsprojektes von der Stiftung Dialog Ethik mit der Schweizerischen Stiftung für das cerebral gelähmte Kind, mit der Stiftung Wagerenhof (namentlich Karin Hagmann und Florian Menzinger) sowie der Stiftung Wohnraum für jüngere Behinderte (namentlich Esther Hilbrands). Der Dank geht ebenso an die Begleitgruppe des Projektes bestehend aus Dr. med. Andreas Fischer, Dr. med. Stefanie Wilmes, Dr. med. Giovanni Fantacci, Pia Pfenniger, Judith Seitz, Christian Lohr, Susanne Weber, Dr. iur. Maya Greuter-Völkle, Rahel Widmer und Maria Schwatlo. Für die hilfreichen Kommentare zu einer früheren Version dieses Artikels sei Dr. med. Andreas Fischer vom Luzerner Kantonsspital und Dr. phil. Rita Bossart Kouegbe vom Kantonsspital Aarau gedankt. Wir danken der Schweizerischen
198 Stiftung für das cerebral gelähmte Kind, der Schweizer Bundesagentur Innosuisse, dem Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB) sowie der U.W. Linsi-Stiftung und dem Swisslos-Lotteriefonds für gemeinnützige Zwecke im Kanton Luzern für die großzügige finanzielle Unterstützung des Forschungsprojektes. Die Autorin Pia Pfenniger widmet diesen Artikel ihrer Schwester.
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Berufspolitische Verantwortung der Pflegefachpersonen
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Die Rolle der Pflegekammern im Kontext der Prävention und Reduktion moralischen Belastungserlebens Karen Klotz, Annette Riedel, Magdalene Goldbach und Sonja Lehmeyer
Zusammenfassung
Die professionelle Pflege zeichnet sich durch eine Zunahme ethischer Fragestellungen und ethischer Komplexität aus: jüngst akzentuiert durch die multiplen ethischen Herausforderungen im Rahmen der COVID-19Pandemie. Dabei wirken Berufskodizes, Moraltheorien, Menschenrechte und der Respekt vor der Menschenwürde als ethische Orientierungspunkte für Pflegefachpersonen in ihrer alltäglichen Berufspraxis. Allerdings zeigen sich die prekären Rahmenbedingungen, die aktuell in der professionellen Pflege vorherrschen, und die immensen Arbeitsanforderungen und -belastungen
K. Klotz (*) · A. Riedel · M. Goldbach · S. Lehmeyer Hochschule Esslingen, Soziale Arbeit, Bildung und Pflege, Esslingen, Deutschland E-Mail: [email protected] A. Riedel E-Mail: [email protected] M. Goldbach E-Mail: [email protected] S. Lehmeyer E-Mail: [email protected]
als hinderlich, um solche professionellen moralischen Ansprüche realisieren zu können. In der Konsequenz kann moralisches Belastungserleben entstehen, was unter anderem zu Krankheit, Burnout, Berufsflucht und einer verminderten Pflegequalität führen kann. Um einen angemessenen Umgang mit moralischen Belastungen von Pflegefachpersonen zu ermöglichen und um moralisches Belastungserleben zu präventieren, bedarf es grundlegender Veränderungen, für die es sich in der Politik zu engagieren gilt. Insbesondere die Etablierung von Pflegekammern und die damit einhergehende Selbstverwaltung der Pflege können dazu beitragen, Pflegefachpersonen und deren moralische Integrität zu stärken. Dies geschieht, indem Pflegekammern (gesundheitsförderliche) Rahmenbedingungen schaffen, in denen eine qualitätsvolle Pflege (wieder) möglich ist, die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Pflegefachpersonen professionsintern gesteuert und entsprechend der Kompetenzbedarfe angeboten werden und Pflegefachpersonen durch die Kammer über mehr politische Mitsprache und Einflussnahme auf Gesetzgebungen verfügen. Profiteure einer entsprechenden berufs- und beruflichen Bildungspolitik sind dabei nicht nur die
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 A. Riedel et al. (Hrsg.), Moralische Belastung von Pflegefachpersonen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67049-1_10
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i ndividuellen Pflegefachpersonen, sondern auch die Gesellschaft, die auf eine qualitative Pflege (zunehmend) angewiesen ist und dafür zwingend gesunde und zufriedene Pflegefachpersonen braucht.
10.1 Hinführung Das Berufsbild und Berufsverständnis von Pflegefachpersonen im Speziellen sowie das Gesundheitswesen in Deutschland im Allgemeinen unterliegen einem Wandel (Büker 2018a; Johnstone 2020; Lademann 2018). Im Kontext der COVID-19-Pandemie erfuhr die Berufsgruppe der Pflegefachpersonen jüngst ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit durch die Öffentlichkeit, da sich die bereits seit Jahren vorherrschende Krisensituation weiter zuspitze. Nichtsdestotrotz, nach zweieinhalb Jahren der Pandemie, ist auch der Applaus sinnbildlich wieder am Erlöschen, während sich die Berufsgruppe mehr denn je an ihrer Belastungsgrenze sieht (International Council of Nurses (ICN) 2021a, 2022; Riedel und Lehmeyer 2022a 2021a; Ver.di 2022). Zugleich zeichnet sich die Pflege durch die Zunahme ethischer Fragestellungen und ethischer Komplexität aus (Monteverde 2020; Riedel 2022), so auch im Rahmen der Pandemie, weshalb eine konstruktive Auseinandersetzung mit den Belangen der Pflege dringend notwendig ist (Kohlen 2019; Kohlen et al. 2019 ; Riedel et al. 2020). Dass Pflegefachpersonen in Deutschland dabei aus berufspolitischer Perspektive nur zu einem geringen Grad organisiert sind und somit keine gemeinsame Stimme haben, um für ihre beruflichen Interessen einzustehen, ist dabei als problematisch zu betrachten (Giese et al. 2021; Hoffmann 2012; Lademann 2018). Auch in Bezug auf den Schutz der moralischen Integrität und die Prävention moralischen Belastungserlebens zeigt sich die schwache Lobby der Pflege als hinderlich. Hierbei ist es wichtig zu unterstreichen: Es
ist nicht die Aufgabe oder die Verantwortung der einzelnen Pflegefachperson, alleinig
K. Klotz et al.
einen angemessenen Umgang mit moralischen Belastungen zu finden, vielmehr ist es nötig, die Rahmenbedingungen, Strukturen und Prozesse so zu gestalten, dass Raum für moralische Entlastung entsteht und spürbar ist (Bobbert 2019; Riedel et al. 2020, 2022a). Daher ist es zwingend nötig, die Prävention und den Umgang mit moralischem Belastungserleben auch zum Ziel und Inhalt berufspolitischer Bestrebungen zu machen. Die Pflegenden indes stehen in der Verantwortung, sich berufspolitisch einzubringen und zu engagieren (Mai 2022). Zunächst wird das berufliche Verständnis von Pflegefachpersonen in Bezug auf ihre professionellen und moralischen Ansprüche und Anforderungen dargestellt. In einem nächsten Schritt wird die aktuelle Situation der Pflege skizziert und hinsichtlich der Entstehung moralischer Belastungen kontextualisiert. Es wird sich zeigen, dass es einer spürbaren Veränderung struktureller Rahmungen bedarf, um Pflegefachpersonen zu befähigen, entsprechend ihrer professionellen und moralischen Ansprüche zu handeln, ihre moralische Integrität zu wahren und moralische Belastungen zu präventieren. In den nachfolgenden Ausführungen wird hierbei ein besonderes Augenmerk auf die Rolle von Pflegekammern hinsichtlich des Schutzes der (moralischen) Gesundheit von Pflegefachpersonen gelegt.
10.2 Was macht professionelle Pflege aus? Pflegefachpersonen versorgen kranke und pflegebedürftige Menschen aller Altersstufen rund um die Uhr und stehen dabei als direkte Ansprechpartner*innen in engem Kontakt zu Menschen mit Pflegebedarf und deren Angehörigen. Kennzeichnend für die professionelle Pflege ist ein wachsender Fokus auf die Erbringung evidenzbasierter und pflegewissenschaftlich fundierter Pflegeleistungen, um dem wachsenden Anspruch auf Pflegequalität gerecht zu werden (Hensen 2018). Auch aus ethischer Sicht ist eine
10 Berufspolitische Verantwortung der Pflegefachpersonen
solche qualitätsvolle Pflege, die einerseits „evidence-informed“ (ICN 2021b, S. 10), also auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhend, und andererseits zugleich holistisch und an den individuellen Bedürfnissen der Person mit Pflegebedarf ausgerichtet ist, unverzichtbar (ICN 2021b; Luderer und Meyer 2018). Die besondere Verantwortung, die Pflegefachpersonen gegenüber Menschen mit Pflegebedarf in ihrer jeweils individuellen und aktuellen Verfasstheit tragen, entsteht durch das asymmetrische Beziehungsverhältnis und die situative Abhängigkeit der pflegebedürftigen Menschen von ihrem professionellen Gegenüber (Bergmann 2022 2020; ICN 2021b1). Diese Verantwortung ist insbesondere auch im Sinne einer moralischen Pflegepraxis zu verstehen, die sich an professionellen moralischen Werten (z. B. Respekt, Gerechtigkeit, Empathie, Verlässlichkeit, Fürsorge, Mitgefühl, Vertrauenswürdigkeit, Integrität) orientiert und durch ethische Leitlinien wie dem ICN-Ethikkodex in einem Berufsethos gerahmt wird (Giese et al. 2021; ICN 2021b). Die handlungsleitenden moralischen Werte für die Pflege dienen dabei der ethischen Reflexion, verstanden als die begründete Abwägung zugrunde liegender moralischer Werte, um eine menschenrechtsorientierte Pflege zu gewährleisten und die Würde der Person mit Pflegebedarf oder deren „sense of dignity“ (Bergmann 2022 2020, S. 200) zu wahren (ICN 2021; Bergmann 2022 2020). Röttger und Stoecker (2021) (2022) heben dabei hervor, dass Pflegefachpersonen insbesondere dazu aufgerufen sind, die Würde derer zu wahren, die selbst keine Stimme haben (z. B. ältere oder sehr junge Menschen, Menschen mit kognitiven oder körperlichen Einschränkungen, Menschen mit psychischen oder chronischen Erkrankungen, Menschen am Lebensende), oder derer, die sich durch die Umstände in der Akutversorgung (bspw. durch Stress, Hierarchien, Zeitdruck,
1 Vgl. hierzu auch: Lehmeyer und Riedel (2022a); Linde (2018); Riedel und Lehmeyer 2022b (2021b); Röttger und Stoecker 2022 (2021).
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Ressourcenmangel) in ihrem individuellen Würdeempfinden angegriffen fühlen (Rolle der Pflegefachpersonen als Patientenadvokat*innen). Bergmann 2022 (2020) was es für Pflegefachpersonen bedeutet, für den Schutz der Menschenrechte in einem beruflichen Kontext einzustehen: „Dem Menschenrechtsansatz [in der Pflege] geht es also darum, die grundlegenden Werte der Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde, seiner individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie seiner Unabhängigkeit und der Nichtdiskriminierung konkret in die Praxis umzusetzen. Das heißt eben auch, sie für die Betroffenen erfahrbar und erlebbar zu machen“ (Bergmann 2022 2020, S. 201 ). Dabei ist ein hohes Maß an Reflexionsfähigkeit seitens der Pflegefachpersonen gefragt, die die häufig konkurrierenden Bedürfnisse der Personen mit Pflegebedarf abwägen müssen und die sich selbst in ihrer Würde angegriffen fühlen, wenn sie die pflegerische Versorgung nicht entsprechend ihren moralischen Ansprüchen durchführen können (Röttger und Stoecker 2022 2021). Für die ethische Reflexion alltäglicher pflegerischer Dilemma-Situationen dienen neben ethischen Leitlinien auch Moraltheorien (z. B. die Care-Ethik, der Utilitarismus, die Pflichtethik, die Prinzipenethik) als reflexionsbegleitende ethische Grundlagen und Abwägungspunkte für Entscheidungen im Gesundheitswesen. Aus der pflegeprofessionellen Perspektive heraus gilt es dabei insbesondere, die ethische Theorie der Care-Ethik namentlich zu nennen und als leitenden Bezugspunkt ethischer Reflexion darzustellen bzw. ethische Dilemmata durch die „Brille“ (Porz 2018, S. 15) dieser Moraltheorie zu betrachten (Porz 2018; Porz und Kerwien 2022 2021). Treffend für die Pflege werden das Beziehungsverhältnis und die gemeinsame Fürsorge im Hinblick auf den individuellen Kontext, die gegenseitige Verantwortung und Abhängigkeit von- und zueinander dabei hervorgehoben, im Sinne von „sich umeinenader kümmern zu ‚wollen‘ – und nicht nur, sich kümmern zu ‚müssen‘“ (Porz und Kerwien 2022 2021, S. 57 ). Denn auch das Berufsverständnis von Pflegefachpersonen ist geprägt durch die
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aufmerksame und zuwendungsvolle zwischenmenschliche Beziehungsarbeit mit dem hilfsbedürftigen und abhängigen Gegenüber (Bobbert 2019; Monteverde 2020; Linde und Riedel 2022 ). Allerdings ist es Pflegefachpersonen durch restriktive Rahmenbedingungen, Prozesse und Strukturen nicht immer möglich, entsprechend diesen professionellen (moralischen) Ansprüchen zu entscheiden oder zu handeln, insbesondere auch dann, wenn Menschen aus ökonomischen Gründen nicht mehr zum Zweck an sich, sondern als Mittel zum Zweck verstanden und versorgt werden (Porz und Kerwien 2021 2022). Dies kann in der Konsequenz zu einer Würdeverletzung von Pflegefachpersonen und dadurch unter anderem zu verschiedenen Erlebensqualitäten der moralischen Belastung führen (Baumann-Hölzle und Gregeorowius 2022; Riedel et al. 2022a).
10.3 Moralisches Belastungserleben angesichts der aktuellen Gegebenheiten der Pflege In diesem Abschnitt werden die aktuellen Rahmenbedingungen von Pflegefachpersonen in Deutschland skizziert, um den dezidierten berufspolitischen Handlungs- und Unterstützungsbedarf in Bezug auf den Schutz der moralischen Integrität und die Prävention moralischer Belastungen von Pflegefachpersonen aufzuzeigen. Neben den physischen, psychischen, emotionalen und sozialen Belastungen – zugespitzt durch die COVID-19-Pandemie (BaumannHölzle und Gregorowius 2022; Riedel und Lehmeyer 2022a 2021a) – und einer allgemeinen Zunahme an Arbeitsverdichtungsprozessen und Arbeitsbelastungen (Bobbert 2019; Küpper 2020) kennzeichnet die professionelle Pflege eine ethische Komplexität und eine Vielzahl facettenreicher ethischer Fragestellungen (Monteverde 2019, 2020; Riedel 2022). Gleichzeitig fühlen sich Pflegefachpersonen in Deutschland durch strukturelle und personelle Rahmenbedingungen eingeschränkt, die
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eine verantwortungsvolle und ethisch reflektierte Pflegepraxis erschweren (Bobbert 2019). Grund dafür ist unter anderem der zunehmende Ökonomisierungsdruck, der aus der Perspektive von Pflegefachpersonen häufig durch einen wachsenden Zeitdruck, Hektik, Stress oder mangelnde Wertschätzung erlebt wird (Bobbert 2019; Kohlen 2019; Stemmer 2021). Teilweise erleben Pflegefachpersonen, wie Entscheidungen auf der Grundlage von Wirtschaftlichkeit und Profit gefällt werden und Maßnahmen somit nicht immer zum Besten der pflegebedürftigen Menschen getroffen werden (können) (Bergmann 2022 2020; Kohlen et al. 2019 ; Porz und Kerwien 2022 2021). Gleichzeitig fühlen sich Pflegefachpersonen in Bezug auf ihre Teilhabe an Entscheidungsprozessen, durch subjektiv wahrgenommene oder tatsächliche hierarchische Strukturen, eingeschränkt (Bobbert 2019; Kohlen et al. 2019 ; Porz und Kerwien 2022 2021). Zusätzlich ist die Situation der professionellen Pflege geprägt durch den Personalmangel, der sich weiter verschärfen wird, sofern keine konstruktiven Lösungen gefunden werden (Bonin 2020; Küpper 2020; Schwinger et al. 2020). In Bezug auf die Entstehung moralischen Belastungserlebens zeigt sich dies in zweierlei Hinsicht als relevant: Zum einen birgt die personelle Ressourcenknappheit ein erhöhtes Risiko für die Entstehung moralischer Belastungen, insbesondere dann, wenn Pflegefachpersonen aufgrund des daraus entstehenden Zeit- und Leistungsdrucks nicht gemäß ihren professionellen (moralischen) Ansprüchen handeln können und sich dadurch u. a. in ihrer Würde verletzt fühlen (Röttger und Stoecker 2022 2021). Zum anderen kann unbearbeitetes moralisches Belastungserleben auch zu Burnout und Berufsflucht führen, was die Personalkrise weiter verschärft.2 Weiterhin bringt das 2020 in Kraft getretene Pflegeberufegesetz (PflBG) Herausforderungen, aber auch Potenziale mit sich, die es zugunsten der Berufsgruppe umzusetzen gilt. Insbesondere
2 Vgl. hierzu: Epstein und Delgado (2010); Hamric (2012); Monteverde (2019); Riedel et al. (2022a); Smallwood et al. (2021); Sriharan et al. (2021).
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zweierlei Dinge erscheinen in Bezug auf die Gesetzgebung nennenswert. 1. Der Ethikbildung wird im PflBG und in der zugehörigen Pflegeberufe-Ausbildungs- und Prüfungsverordnung (PflAPrV) eine zentrale Rolle zugeschrieben (Lehmeyer und Riedel 2022a; Riedel et al. 2022b). Dieser Fokus eröffnet einen Rahmen für ethische Kompetenzentwicklung in Bezug auf die Prävention und den professionellen Umgang mit moralischem Belastungserleben von zukünftigen Pflegefachpersonen, den es entsprechend umzusetzen gilt.3 2. Die Macht über das Zusammenstellen der Kompetenzziele und Bildungsinhalte, wie sie im PflBG und der PflAPrV festgelegt werden, obliegt nach wie vor professionsfremden Politikern. Dies erscheint überholt und problematisch, denn nicht berufsfremde Politiker sollten die Kompetenz- und Lehrschwerpunkte für die Pflegeberufe setzen, sondern Mitglieder der Profession selbst, um ihre professionsinterne Expertise in Bildungsinhalte einfließen lassen zu können (Klotz et al. 2022). Als unterstützend und begleitend sind hier die Formulierungen im ICN-Ethikkodex (2021b) zu betrachten, die in Bezug auf professionelle pflegerische Versorgung klar definierte Moralansprüche stellen. Um jedoch eine solche moralische Pflegepraxis zu gewährleisten und angehende Pflegefachpersonen dementsprechend zu schulen, wird im ICN-Ethikkodex ebenfalls deutlich hervorgehoben, dass Maßnahmen zur Sicherheit am Arbeitsplatz ganz klar zum ethischen Leitbild der Profession gehören: • „[Pflegefachpersonen] entwickeln und überwachen die Sicherheit am Arbeitsplatz“ (ICN 2021b, S. 12). • „[Lehrpersonen] lehren und fördern das Erkennen von Kennzeichen und Risikofaktoren, und unterrichten Fähigkeiten, um ein 3 Vgl. hierzu: Klotz et al. (2022); Lehmeyer und Riedel 2022a, b (2022a, b); Riedel et al. (2022a, b); Riedel und Giese (2019).
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gesundes, sicheres und nachhaltiges Praxisumfeld für alle im Gesundheitswesen zu gewährleisten“ (ICN 2021b, S. 12). Das bedeutet, dass auch der Schutz der moralischen Integrität und die Prävention moralischer Belastungen ganz deutlich in den Verantwortungsrahmen der Pflegefachpersonen und der Lehrenden gehören, die hierfür allerdings zwingend Unterstützung und Stärkung durch berufspolitische Rahmungen benötigen. Diese erste Hinführung skizziert aktuelle Themenschwerpunkte der professionellen Pflege in Deutschland. Bereits an dieser Stelle wird der Bedarf erkennbar, eine Berufspolitik und eine berufliche Bildungspolitik zu verfolgen, die einen angemessenen Rahmen für die Ethikkompetenzentwicklung bzw. -weiterentwicklung und folglich auch für die Prävention subjektiv empfundener moralischer Belastungen bietet. Die im nächsten Schritt abgeleiteten Handlungsbedarfe erscheinen hierbei in Bezug auf die Prävention moralischer Belastungen besonders beachtlich, da moralisches Belastungserleben sowohl die Pflegefachpersonen, die zu pflegenden Menschen wie auch die Versorgungsqualität und -sicherheit beeinflusst.
10.4 Berufspolitische Mitsprache durch Pflegekammern sichern In diesem Abschnitt werden berufspolitische Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf die Prävention moralischer Belastungen aufgezeigt. Denn eine qualitätsvolle, moralische und ethisch reflektierte pflegerische Versorgung kann nur unter angemessenen Rahmenbedingungen erfolgen (Kohlen 2019; Kohlen et al. 2019; Bobbert 2019). Die vorausgehend skizzierten Themen und deren Einfluss auf die Entstehung moralischer Belastungen bilden die Grundlage für die im Folgenden formulierten berufspolitischen Handlungsaufträge. Dabei soll das Hauptaugenmerk dieses Beitrags auf der lang überfälligen Etablierung einer Bundespflegekammer liegen, die Pflegefachpersonen in ganz Deutschland in
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einem Register erfasst, politisch vertritt und vereint (Giese et al. 2021; Mai 2022). Pflegekammern sind „Körperschaften des öffentlichen Rechts“, denen sogenannte „hoheitliche Aufgaben“ übertragen werden, verstanden als solche Tätigkeiten, die normalerweise vom Staat ausgeführt werden. Die Zielsetzung von Pflegekammern ist die sachgerechte pflegerische Versorgung der Bevölkerung, beruhend auf Erkenntnissen aus Pflegewissenschaft und Pflegeforschung. Pflegekammern sind europaweit und international verbreitet, denn sie tragen durch die Selbstverwaltung der Pflegeberufe und die Sicherung eines hohen pflegerischen Qualitätsniveaus zum Fortschritt der Professionalisierung und zum Schutz der Bevölkerung bei. Die Mitgliedschaft in einer solchen Berufskammer ist in der Regel verpflichtend (Büker 2018b; DBfK 2014; Hanika 2015; Schwinger 2016). Aktuell existieren mit der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz und der Pflegekammer NordrheinWestfalen nur zwei Landespflegekammern in Deutschland (AOK 2021; Mai 2022). Damit unterscheiden sich Pflegekammern von Berufsverbänden, deren Rolle im Rahmen dieses Beitrags vornehmlich in Bezug auf die Förderung der Etablierung von weiteren Landespflegekammern betrachtet werden soll. Denn durch eine solche Unterstützung können Berufsverbände ihren Auftrag als Interessenvertretung der Pflege dahingehend wahrnehmen, dass eine Pflegekammer die politische Mitsprache der Pflege stärkt. Im Gegensatz zu Pflegekammern sind Berufsverbände privatrechtliche Organisationen, die in der Regel als Verein eingetragen sind und deren Mitgliedschaft auf Freiwilligkeit beruht. Zielsetzung ist die (politische) Interessenvertretung von Pflegefachpersonen. Dabei gibt es in Deutschland zahlreiche Berufsverbände für die Pflegeberufe (z. B. Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe DBfK e. V., Deutscher Berufsverband für Altenpflege DBVA e. V., Berufsverband K inderkrankenpflege
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Deutschland BeKD e. V.), die vom Deutschen Pflegerat (DPR) als Dachorganisation für die meisten Berufsverbände des Pflege- und Hebammenwesens zusammengehalten werden (Büker 2018b; Kuhn 2018). Der DPR möchte sich unter anderem für Rahmenbedingungen in der Pflege einsetzen, die es zulassen, entsprechend den professionellen Ansprüchen zu handeln. Der DPR ist zugleich Mitglied in der Bundespflegekammer, nebst den beiden Landespflegekammern: Rheinland-Pfalz und NRW (Stand Oktober 2022) (Bundespflegekammer 2022). Die Rolle einer Pflegekammer in Bezug auf den Schutz der moralischen Integrität von Pflegefachpersonen ist beachtlich. Dies lässt sich zunächst dahingehend begründen, dass Pflegekammern die Interessen der Bevölkerung im Sinne einer qualitätsvollen Pflege als zentralen Punkt auf ihre Agenda stellen. Durch Leitlinien und Standards sowie eine Berufsordnung, die die Aufgabenbereiche und das Berufsverständnis von Pflegefachpersonen festsetzt, geben Pflegekammern verbindliche und ethisch fundierte Verhaltensregeln vor (Büker 2018b; Giese et al. 2021; Mai 2022). Dass eine solche pflegerische Leistung, insbesondere auch hinsichtlich einer ethisch reflektierten Versorgungs- und Beziehungsgestaltung, nur erfolgen kann, wenn die Arbeits- und Rahmenbedingungen dies zulassen und Pflegefachpersonen Anerkennung auf politischer, interprofessioneller, gesellschaftlicher, finanzieller und sozialer Ebene erfahren, wird somit automatisch auch zum Thema von Pflegekammern (Mai 2022). Denn wer berufliche Standards und eine Berufsordnung vorgibt, muss auch dafür einstehen, dass diese Qualitätsmerkmale von den Berufsausübenden in der Praxis erreicht werden können. Zudem sind Pflegekammern ein unumgänglicher Schritt im fortschreitenden Prozess der Professionalisierung, denn sie stärken die politische Mitsprache von Pflegefachpersonen und tragen dazu bei, dass die professionelle Pflege in Deutschland qualitätsvoll erfolgt und international anschlussfähig gemacht wird (Giese
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et al. 2021; Mai 2022; Schwinger 2016). Lademann (2018, S. 106 f.) beschreibt fünf Merkmale, die eine Profession ausmachen, und führt die „Kontrolle über Standards der Berufsausübung durch Selbstverwaltung/Autonomie (starke Berufsverbände, Lobbyarbeit)“ (S. 107) als eines dieser Merkmale auf. Eine Pflegekammer würde eine solche berufspolitische Autonomie der Pflege gewährleisten und muss daher von den Berufsverbänden im Interesse der Pflegefachpersonen unterstützt werden, auch um die berufs- und bildungspolitische Weiterentwicklung der Pflege voranzutreiben sowie das pflegeberufliche Ethos trotz vielfältiger Restriktionen zu stärken. Ein Fortschreiten der Professionalisierung durch die Selbstverwaltung kann sich sodann positiv auf die Rahmenbedingungen in der Pflege auswirken, was wiederum auf die (moralische) Integrität und die Gesundheit von Pflegefachpersonen förderlich wirkt. Durch ihre Funktion als Organ der Selbstverwaltung sind Pflegekammern auch an Gesetzgebungsprozessen beteiligt (Mai 2022; Schwinger 2016). Durch eine solche politische Autonomie der Pflege sollten ihr sodann auch endlich Sitze und Stimmen im Gemeinsamen Bundesauschuss zustehen. Indem sich Pflegende für die Etablierung weiterer Pflegekammern starkmachen, fördern sie folglich auch das direkte Mitwirken der Profession Pflege an Gesetzgebungsprozessen. Damit wäre z. B. auch das professionsinterne Festlegen von Kompetenzzielen für die Primärqualifikation gesichert, sodass nicht professionsfremde Politiker die Hoheit über solch schwerwiegende Entscheidungen innehätten, sondern Mitglieder der Profession Pflege, die über die notwendige Expertise verfügen (Klotz et al. 2022). Durch die angemessene Förderung von Aus-, Fort- und Weiterbildungsangeboten, die eng mit den aktuellen Wissensbeständen aus Pflegewissenschaft und Pflegeforschung verknüpft sind, adressieren Pflegekammern den Wissens- und Kompetenzbedarf von (angehenden) Pflegefachpersonen, unabhängig von wirtschaftlichen Interessen (Giese et al. 2021; Hanika 2015; Schwinger 2016).
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Fest steht: Die Ethik als Querschnittsthema in der Aus-, Fort- und Weiterbildung verbessert ethische Reflexions- und Argumentationskompetenzen und kann in der Folge zur Prävention moralischer Belastungen beitragen (Bobbert 2019; Lehmeyer und Riedel 2019, 2022a, b; Riedel und Giese 2019). Nichtsdestotrotz, während die Ethik einen wichtigen Stellenwert in der (Aus-)Bildung (angehender) Pflegefachpersonen einnehmen soll, ist die konkrete Umsetzung solcher Lerninhalte aktuell noch abhängig von der (Rahmen-)Lehrplangestaltung, den individuellen Pflegebildungseinrichtungen und den Kompetenzen der Lehrperson (Klotz et al. 2022). Hervorhebenswert erscheint an dieser Stelle, dass nicht nur während der Primärqualifikation ein Augenmerk auf die Ethikbildung zur Prävention moralischer Belastungen gelegt werden muss, vielmehr bedarf es lebenslanger ethischer Bildung (SAMW 2019). Durch entsprechende Fortund Weiterbildungsangebote können Pflegekammern als Stütze der im ICN-Ethikkodex gesetzten ethischen Anforderungen dienen, um durch entsprechende Lerninhalte „ein gesundes, sicheres und nachhaltiges Praxisumfeld für alle im Gesundheitswesen zu gewährleisten“ (ICN 2021b, S. 12) und um Pflegefachpersonen zu befähigen, die „Sicherheit am Arbeitsplatz“ (ICN 2021b, S. 12) zu überwachen. Denn: Bildung in Bezug auf die Entwicklung angemessener Ethikkompetenzen trägt auch zur Gesundheitsförderung und Prävention moralischer Belastungen bei. Da gesundheitsförderliche Strukturen und die Sicherheit der Berufsausübenden ein unumgängliches Fundament für Pflegequalität darstellen, profitieren sowohl die Gesellschaft als auch die Pflegefachpersonen von der Wahrung der professionellen (moralischen) Integrität, die von der Pflegekammer gefördert wird (Giese et al. 2021; Hanika 2015; Mai 2022). Aktuell tragen die hohen (moralischen) Arbeitsbelastungen im beruflichen Umfeld von Pflegefachpersonen jedoch unter anderem zu hohen Krankheitsraten und Burnout durch psychischen, moralischen, emotionalen und physischen Stress bei, was sogar die Bereitschaft für einen Berufs-
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austritt erhöhen kann4. Angesichts dessen müssen Ressourcen für die (moralische) Gesundheitsförderung von Pflegefachpersonen bereitgestellt werden. Formate und Strukturen der Ethikberatung und Reflexion (z. B. Ethik-Cafés, ethische Fallbesprechungen, Prozesse der EthikLeitlinien-Entwicklung, Ethik-Visiten) können zur moralischen Entlastung beitragen (Bobbert 2019; Riedel und Lehmeyer 2022b 2021b; Riedel et al. 2022a). Organisationsethische Strukturen und Maßnahmen der Ethikbildung werden folglich in den Einrichtungen benötigt, um moralische Resilienz zu entwickeln und zu stabilisieren, das berufliche Wohlbefinden zu stärken und Situationen mit moralischem Gehalt verantwortungsvoll bewältigen zu können. Zugleich ist ein stetiges und verantwortungsvolles Hinterfragen der Bedingungsstrukturen, die moralisches Belastungserleben evozieren, gefragt, um zu konstruktiven Lösungen zu kommen, aber auch um organisationsethische Veränderungsprozesse einzuleiten, die sowohl die Gesunderhaltung wie auch die moralische Entlastung intendieren (Albisser Schleger 2022; Bobbert 2019). Pflegekammern können politisch für solche Rahmenbedingungen einstehen, die eine moralische Pflegepraxis zulassen, indem Zeit und Raum für ethische Reflexion und moralische Entlastung geschaffen werden.
K. Klotz et al.
grundlegende Rahmenbedingungen berufspolitisch einzufordern, die zum Schutz der moralischen Integrität und Prävention moralischer Belastungen beitragen. Berufspolitisches Engagement ist seitens aller Pflegefachpersonen gefragt, denn wenn die Mitglieder der Berufsgruppe gemeinsam für bessere Arbeitsbedingungen einstehen, werden die Anliegen der Pflege politisch wahrgenommen. Zuträglich wären insbesondere Maßnahmen, um die berufliche Selbstverwaltung im Sinne weiterer Pflegekammern zu etablieren, um die Professionalisierung voranzutreiben, angemessene Rahmungen und Strukturen für Ethikbildung zu schaffen, für mehr Anerkennung der Pflegeberufe auf finanzieller, sozialer, gesellschaftlicher und interprofessioneller Ebene zu sorgen sowie die Gesundheitsförderung von Pflegefachpersonen zu priorisieren, um dadurch moralischen Belastungen vorzubeugen. Profiteure einer entsprechenden berufs- und beruflichen Bildungspolitik sind dabei nicht nur die individuellen Pflegefachpersonen (durch besseren Schutz der moralischen Integrität), sondern auch die Gesellschaft, die auf eine qualitative Pflege (zunehmend) angewiesen ist und dafür zwingend gesunder und zufriedener Pflegefachpersonen bedarf.
Literatur 10.5 Fazit Die Rahmenbedingungen und -strukturen, die aktuell in der professionellen Pflege vorherrschen, konfligieren vielfach mit den professionellen und moralischen Qualitätsansprüchen von Pflegefachpersonen und der Gesellschaft. Die daraus resultierenden Spannungsfelder können zur Entstehung moralischer Belastungen führen, was schwerwiegende Konsequenzen wie Krankheit, Burnout, Berufsaustritt und verminderte Pflegequalität mit sich bringen kann. Daher ist es unumgänglich, notwendige und 4 Vgl. hierzu zum Beispiel: Epstein und Delgado (2010); Hamric (2012); Monteverde (2019); Riedel et al. (2022a); Smallwood et al. (2021); Sriharan et al. (2021).
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210 Ethische Reflexion in der Pflege. Springer, Berlin, S 55–62 Linde, AC., Riedel, A. (2022). Verstehen als Element der professionellen Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz aus ethischer Perspektive – Professionelle Handlungsoptionen zwischen Anerkennung und Fürsorge. In: Riedel, A., Lehmeyer, S. (Hrsg) Ethik im Gesundheitswesen. Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit . Springer, Berlin, Heidelberg, S. 527–542 Luderer C, Meyer G (2018) Qualität und Qualitätsmessung in der Pflege aus ethischer Perspektive. In: Jacobs K, Kuhlmey A, Greß S, Klauber J, Schwinger A (Hrsg) Pflege-Report 2018. Springer, Berlin, S 15–21 Mai M (2022) Bundespflegekammer: mit einer Stimme sprechen. Pflegez 75:10–12 Monteverde S (2019) Komplexität, Komplizität und moralischer Stress in der Pflege. Ethik in der Medizin 31(4):345–360 Monteverde S (2020) Grundlagen der Pflegeethik. In: Monteverde S (Hrsg) Handbuch Pflegeethik. Ethisch denken und handeln in den Praxisfeldern der Pflege. Stuttgart, Kohlhammer, S 21–44 Porz R (2018) Care Ethics ist nicht gleich Pflegeethik. In: Riedel A, Linde AC (Hrsg) Ethische Reflexion in der Pflege. Springer, Berlin, S 13–19 Porz R, Kerwien C (2022) Professionelles Beziehungsgeschehen und ethische Theorien – zu den oft verborgenen anthropologischen Dimensionen des moralischen Handelns in der Klinik. In: Riedel A, Lehmeyer S (Hrsg) Ethik im Gesundheitswesen. Springer, Berlin, S 49–64 Riedel A (2022) Ethische Herausforderungen in der Pflege. In: Marckmann G (Hrsg) Praxisbuch Ethik in der Medizin. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin, S 89–102 Riedel A, Giese C (2019) Ethikkompetenzentwicklung in der (zukünftigen) pflegeberuflichen Qualifizierung – Konkretion und Stufung als Grundlegung für curriculare Entwicklungen. Ethik in der Medizin 31:61–79 Riedel A, Giese C, Rabe M, Albisser Schleger H, Dinges S, Marckmann G, Nordmann I, Pasch W, Streeck N, Wöhlke S (2020) Diskussionspapier der Akademie für Ethik in der Medizin. Pflegeethische Reflexion der Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19-Pandemie. Akademie der Ethik in der Medizin https://www.aem-online.de/fileadmin/user_ upload/2020_05_12_Pflegeethische_Reflexion_ Papier.pdf. Zugegriffen: 28. Dez. 2022 Riedel A, Lehmeyer S (2022a) Erlebensqualitäten moralischer Belastung professionell Pflegender und die Notwendigkeit des Schutzes der moralischen Integrität- am Beispiel der Covid-19-Pandemie. In: Riedel A, Lehmeyer S (Hrsg) Ethik im Gesundheitswesen. Springer, Berlin, S 447–475 Riedel A, Lehmeyer S (2022b) Organisationsethik in der stationären Langzeitpflege aus der Pflege heraus und mit der Pflege entwickeln – professionelle Besonder-
K. Klotz et al. heiten als Motiv und als intrinsische M otivation in den strukturierten Entwicklungs- und Implementierungsprozess einbinden. In: Riedel A, Lehmeyer S (Hrsg) Ethik im Gesundheitswesen. Springer, Berlin, S 995– 1010 Riedel A, Goldbach M, Lehmeyer S (2022a) Moralisches Belastungserleben von Pflegefachpersonen – ein deskriptives Modell der Entstehung und Wirkung eines ethisch bedeutsamen Phänomens der Pflege. In: Riedel A, Lehmeyer S (Hrsg) Ethik im Gesundheitswesen. Springer, Berlin, S 427–446 Riedel A, Lehmeyer S, Monteverde S (2022b) Ethikbildung in der Pflege – strukturelle Besonderheiten und didaktische Implikationen der Pflegeausbildung. Ethik in der Medizin 34:387–406 Roßius S, Bechtel P (2022) Mitwirkung der Profession institutionalisieren. Pflegez 75:13–17 Röttger N, Stoecker R (2022) Menschenwürde als Leitkategorie für professionelles Entscheiden und Handeln im Pflege- und Gesundheitswesen. In: Riedel A, Lehmeyer S (Hrsg) Ethik im Gesundheitswesen. Springer, Berlin/Heidelberg, S 177–198 Rushton CH, Sharma M (2018) Designing sustainable systems for ethical practice. In: Rushton CH (Hrsg) Moral resilience. Transforming moral suffering in health care. Oxford University Press, New York, S 206–242 Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW (2019) Ethikausbildung für Gesundheitsfachpersonen https://www.samw.ch/de/ Publikationen/Richtlinien.html. Zugegriffen: 26. Dez. 2022 Schwinger A (2016) Die Pflegekammer: eine Interessenvertretung für die Pflege? In: Jacobs K, Kuhlmey A, Greß S, Klauber J, Schwinger A (Hrsg) Pflege-Report 2016. Schwerpunkt: Die Pflegenden im Fokus. Stuttgart, Schattauer, S 109–125 Schwinger A, Klauber J, Tsiasioti C (2020) Pflegepersonal heute und morgen. In: Jacobs K, Kuhlmey A, Greß S, Klauber J, Schwinger A (Hrsg) Pflege-Report 2019. Springer, Berlin, S 3–21 Smallwood N, Pascoe A, Karimi L, Willis K (2021) Moral distress and perceived community views are associated with mental health symptoms in frontline health workers during the COVID-19 pandemic. Int J Environ Res Public Health 18:8723 Sriharan A, West KJ, Almost J, Hamza A (2021) COVID19-related occupational burnout and moral distress among nurses: a rapid scoping review. Nurs Leadersh (Tor Ont) 34:7–19 Stemmer R (2021) Beruflich Pflegende – engpass oder Treiber von Veränderungen? In: Jacobs K, Kuhlmey A, Greß S, Klauber J, Schwinger A (Hrsg) Pflege-Report 2021. Springer, Berlin, S 173–184 Ver.di (2022) An der Belastungsgrenze. https://gesundheit-soziales-bildung.verdi.de/themen/mehr-personal/++co++8e2af7aa-8afa-11eb-8f8b-001a4a160100. Zugegriffen: 26. Dez. 2022
Übergreifende und Vertiefende Literatur zu den Inhalten des Buches
Albisser Schleger H (2022) Alltagsethische Fragen durch unzureichende strukturelle Rahmenbedingungen. In: Riedel A, Lehmeyer S (Hrsg) Ethik im Gesundheitswesen. Berlin, S 977–993 Amos VK, Epstein E (2022) Moral distress interventions: An integrative literature review. Nurs Ethics 29(3):582–607 Baumann-Hölzle R, Gregorowius D (2022) Moralische Eskalationen in der Corona-Krise: Ein Eskalationsmodell mit Beispielen aus dem Gesundheitswesen. In: Riedel A, Lehmeyer S (Hrsg) Ethik im Gesundheitswesen. Springer, Berlin, S 477–489 Bergemann L (2020) Menschenrechte als Ausgangspunkt normativer Ethikperspektiven im Pflege- und Gesundheitswesen. In: Riedel A, Lehmeyer S (Hrsg) Ethik im Gesundheitswesen. Springer, Berlin, S 83–98 Bobbert M (2019) Berufliche Pflege und soziale Gerechtigkeit: sechs sozialethische Problemanzeigen. Ethik in der Medizin 31:289–303 Gallagher A (2020) Slow Ethics and the Art of Care. Emerald Publishing, Bingley Großklaus-Seidel, M (2020) Pflegeethik als kritische Organisationsethik. In: Monteverde S (Hrsg) Handbuch Pflegeethik. Kohlhammer, Stuttgart, S 113–123 Herrmann B (2022) Ethische Fallbesprechungen in der interprofessionellen Entscheidungsfindung. In: Riedel A, Lehmeyer S (Hrsg) Ethik im Gesundheitswesen. Springer, Berlin, S 887–898 Klotz K, Haug P, Riedel A, Lehmeyer S, Goldbach M (2022) Wenn Berufsethik zu moralischer Belastung führt. Individuelle Betroffenheit und organisationale Verantwortung. Pflege Z 75:54–57 Lehmeyer S, Riedel A (2022) Ethikkompetenzentwicklung zukünftiger Pflegefachpersonen. In: Riedel A, Lehmeyer S (Hrsg) Ethik im Gesundheitswesen. Springer, Berlin, S 11–26 Monteverde S (2020) Grundlagen der Pflegeethik. In: Monteverde S (Hrsg) Handbuch Pflegeethik. Ethisch denken und handeln in den Praxisfeldern der Pflege. Stuttgart, Kohlhammer, S 21–44 Monteverde S (2019) Komplexität, Komplizität und moralischer Stress in der Pflege. Ethik in der Medizin 31(4):345–360
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© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 A. Riedel et al. (Hrsg.), Moralische Belastung von Pflegefachpersonen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67049-1
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Übergreifende und Vertiefende Literatur zu den Inhalten des Buches
Röttger N, Stoecker R (2022) Menschenwürde als Leitkategorie für professionelles Entscheiden und Handeln im Pflege- und Gesundheitswesen. In: Riedel A, Lehmeyer S (Hrsg) Ethik im Gesundheitswesen. Springer, Berlin, S 177–198
Simon A (2022) Ethikberatung im Gesundheitswesen. In: Riedel A, Lehmeyer S (Hrsg) Ethik im Gesundheitswesen. Springer, Berlin, S 877–886 Woellert K (2022) Versorgungsqualität braucht Organisations- und Führungsethik. In: Riedel A, Lehmeyer S (Hrsg) Ethik im Gesundheitswesen. Springer, Berlin, S 995–976
Stichwortverzeichnis
A advokatorisch, 22 Affizierbarkeit, moralische, 13 Alltagsethik, 168, 171 Arbeitsbedingung, gesundheitsförderliche, 128 Arbeitsgruppe, Team-bezogene, 90, 95 Arbeitsqualität, 126, 199 Arbeits- und Pflegequalität, IX Auftrag, pflegeprofessioneller, 74 Aus-, Fort- und Weiterbildung, 211 Aus-, Fort- und Weiterbildungsangebot, 211 B Barriere, 148 Behinderung, 184 Belastung moralische, 165–167 Belastungserleben, moralisches, 3, 6, 14, 48, 65, 72, 78, 83, 102, 125–127, 208, 212 Berufsausstieg, 11 Berufsflucht, 127 Berufsordnung, 210 Berufsunzufriedenheit, VII Berufsverband, 210 Berufsverständnis, 210 Berufszufriedenheit, 13, 21, 24, 81, 85, 128 Bewältigungsfähigkeit, 18 Bezugnahme, aktive, ethisch-reflexive, 18 Bezugnahme reflexive, 13 Bottom-up, 148 Burnout, VIII, 127 Burnout-Syndrom, 10 C Care-Ethik, 207 COVID-19-Pandemie, 4, 7, 80 D Determinante, 149, 150 Dilemma, moralisches, 13
Diskriminierung, 197, 198 Diskurskultur, 81 E Emotion, moralische, 59 Entscheidungsprozess, 153 Entwicklung organisationsethische, 146 Entwicklung von Ethikkompetenz, 75 Erlebensqualität, 4, 6, 9, 48, 65 der moralischen Belastung, 208 moralischen Belastungserlebens, 9 unterschiedliche, 3 Ethik, professionelle, 73, 74 in der Pflege, 85 Ethik(teil)kompetenz, 77 Ethikberatung, 78, 147 Ethikbildung, 18, 22, 72, 84, 211 berufsbegleitende, 83 lebenslange, 72, 84, 85 lebenslange berufsbegleitende, 83 Ethik-Cafés, 24, 78 Ethikkodex, 73, 106 Ethikkompetenz, 23, 42, 72, 73, 75, 77, 89, 104, 211 Ethikkompetenzentwicklung, 11, 23, 84, 209 Ethikkoordination, 169, 171 Ethikkultur, 12, 81, 90, 97, 126, 148 Evaluation, 154 F Fachkräftemangels, 126 Fallbesprechung, ethische, 24, 201 Förderung der Sensibilität, 12 Fort- und Weiterbildung, 200 Fort- und Weiterbildungsangebot, 12 Fragestellung, ethische, 103 Führungsaufgabe, 81 Führungsebene, 149 Führungsstil, 150 Führungsverantwortung, 128 Fürsorge, 207
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 A. Riedel et al. (Hrsg.), Moralische Belastung von Pflegefachpersonen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67049-1
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214 G Gestaltungsautonomie, 149 Gesundheit, 127 Gesundheitsförderung, 128 Gewissen, 41, 57 Gratifikationskrise, 73 H Handlungsauftrag, berufspolitischer, 209 Handlungsbedarf, moralisch entlastender, 104, 111 Handlungsmöglichkeit, berufspolitische, 209 Handlungsvermögen, moralisches, 5, 20, 46, 51, 53, 55, 59, 63, 79 Herausforderung in der Pflege, VII Hierarchie übergreifende ethische Organisationsstruktur, 161, 164, 171, 172, 175 I ICN-Ethikkodex, VIII, 74, 75, 83, 125, 209, 211 Implementation of Change Model, 146 Implementierung, 146, 147 Implementierungsmodell, 146, 148, 150 Implementierungsplan, 152, 153 Implementierungsvorhaben, 148 Individualethik, 167, 168 Initiierungsanlass, 148 Innovationstransfer, 150 Instrument, 152 Integrität, 211 intrapersonale, 15 moralische, 4, 6, 7, 14, 15, 19, 43, 48, 208–210 professionelle, 75 verletzte, 15, 19 verletzte moralische, 16 Integritätserleben, 4, 6, 73 moralische, 8 moralisches, 14 Integritätsverletzung, 5, 199 moralische, 18 Intervention, 147 Interventions- und Präventionsangebot, 12 Intuition, moralische, 57 Irritation, moralische, 57 Ist-Stand-Analyse, 151 K Klima, ethisches, 21, 22, 81, 150 Kompass, moralischer, 5, 13, 15, 20, 24, 40, 45, 74, 77, 102 Kompetenz der Führungsperson, 83 ethische, 12, 71, 74 Kompetenzentwicklung, XI Komplexität, moralische, 24 Konfliktsituation, ethische, 83
Stichwortverzeichnis L Leitungsperson, 149, 150 Lernen, organisationales, 92 M Makroebene, 163–165 Maßnahme zur moralischen Entlastung, 10 Menschenrechte, 199 menschenrechtssensibel, 73 Menschenwürde, 199 Mensch mit einer Behinderung, 184, 196, 197 mit einer geistigen Behinderung, 185 mit schwerwiegenden Behinderungen, 182 Mesoebene, 163, 164, 167, 169 Mikroebene, 163, 166, 170 Mitarbeitendengespräche, 127, 129 Mitarbeitendengesprächen, 126 Mitarbeitendengesundheit, 128 Mitarbeitendenzufriedenheit, 128 Modell, implementierungswissenschaftliches, 148 Monitoring, 153 Moral Comfort, 49 Moral Distress, 4, 6, 36, 49, 182, 196 Moral Injury, 4, 9 Moral Residue, 8, 44, 50 Moral Sensitivity, 75, 76 Mut, moralischer, 11, 22, 23 O Organisationsentwicklung, 93 Organisationsethik, 80, 90, 91, 97, 126–128, 146, 155, 161, 167, 168, 173, 174 Implementierung der, 168, 171 Organisationskultur, 81 Orientierungshilfen ethische, 12 P Partizipation, 148 von Pflegefachpersonen, 93, 95, 104 Personalkrise, 127 Personalmangel, 208 Personalnot, 73 und -fluktuation, VII Perspektivenübernahme, 77 Perspektivenwechsel, 79 Pflege menschenrechtsorientierte, XI qualitätsvolle und würdewahrende, XI Pflegeberufegesetz, 208 Pflegeethik, VIII professionelle, 83 Pflegekammer, 206, 210, 211 Pflegepraxis, menschenrechtsorientierte, IX
Stichwortverzeichnis Pflegequalität, 73, 127 Pflege- sowie Versorgungsqualität, 128 Pflege- und Versorgungsqualität, 24, 127 Phänomen, individuelles, 4 Prävention moralischer Belastung, 10, 81, 211 moralischer Belastungen, 209 Priorisierung, implizite, 165, 166, 173 Programm, Struktur und Prozess, organisationsethische, 146 Q Qualität des moralischen Belastungserlebens, 4 Qualitätseinbuße, 11 R Rahmenbedingung im Gesundheitswesen, 194 strukturelle, 167, 173 strukturelle und personelle, 208 Rahmenfaktor, kontextueller, 39, 64, 91, 104 Rahmung, organisationsethische, 22, 149 Reduktion und Prävention moralischen Belastungserlebens, 11 Reflexion ethische, 12, 79, 80 Reflexionsfähigkeit, 78–80 Resilienz, 13, 17 moralische, 5, 11, 12, 14, 18–20, 43, 50, 71, 72, 212 Resilienz von Pflegefachpersonen, 17 Ressource, 150 mangelnde pflegerische, 161–163, 165, 168, 169, 173 S Schutz der Menschenrechte, 207 der moralischen Integrität, 9 Selbstkompetenz ethische, 161, 164, 169–173, 175 Selbstreflexion, 74, 78, 79 Selbstwirksamkeit, moralische, 20 Selbstwirksamkeit, 18, 20 Sensibilität ethische, 10, 24 moralische, 62, 72, 75–77 Sensitivität ethische, 75 moralische, 76 Sorge, pflegerische, 74 Sozialethik, 167 Stabilität, moralische, 19 Stärkung der moralischen Integrität, 11 Stress, moralischer, 183 Strukturen der Ethikberatung, 128
215 Struktur organisationsethische, 212 Struktur und Prozess, organisationsethische, 93, 104 T Theorie, implementierungswissenschaftliche, 146 Top-down, 148 U Unbehagen, moralisches, 49 Unsicherheit, moralische, 104 Unterstützungsfaktor organisationsethische, 81 Unversehrtheit, moralische, 15 V Veränderungsvorschlag, 151 Veränderungsziel, 151 Verantwortung, 126, 207 geteilte, VIII, 10, 126 moralische, 5, 7, 8, 13, 14, 35, 89, 106 Verantwortungsübernahme, 125 Verfasstheit der Person, 8 moralische, 4, 14, 40 professionelle, 20 Verletzbarkeit, 15 Verletzlichkeit, 15, 16 Verletzung der moralischen Integrität, 6 Versorgung, pflegerische, 127 Versorgungsqualität, 126, 127 und -sicherheit, 209 Verstetigungsphase, 154 Verstetigungsprozess, 154 Vulnerabilität, moralische, 16 Vulnerabilität, 13, 15, 17 vulnerablen Patientengruppe, 198 W Weiterbildung, 83 Wert, 107, 108 Wertekompass, 103, 108, 110, 114 Werteverständnis, 109 Widerstandsfähigkeit, 18, 19 situative, 20 Widrigkeit, moralische, 19 Z Zielerreichung, 154