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German Pages 210 [212] Year 2017
Leonhard Menges Moralische Vorwürfe
Ideen & Argumente
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Herausgegeben von Wilfried Hinsch und Thomas Schmidt
Unter Mitarbeit von Daniel Eggers
Leonhard Menges
Moralische Vorwürfe
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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
ISBN 978-3-11-052521-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-052728-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-052547-2 ISSN 1862-1147 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlaggestaltung: Martin Zech, Bremen Umschlagkonzept: +malsy, Willich Datenkonvertierung/Satz: jürgen ullrich typosatz, 86720 Nördlingen Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Danksagung | V
Danksagung Danksagung Danksagung Die vorliegende Studie beruht auf meiner Dissertation Moralische Vorwürfe, die ich im Juli 2015 eingereicht und auf deren Grundlage ich am 11. Januar 2016 an der von Dekan Michael Seadle geleiteten Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert wurde. Zahlreiche Personen haben mich während der Arbeit an der Dissertation unterstützt. Mein erster Dank gilt meinem Betreuer Thomas Schmidt. Für das frühe Vertrauen, die vielen wertvollen Vorschläge und die stetige Unterstützung in so vielen verschiedenen Hinsichten bedanke ich mich herzlich. Hannah Altehenger und Simon Gaus danke ich für unzählige Diskussionen und Kommentare zu fast jedem Kapitel dieser Studie. Genauso danke ich ihnen für die fruchtbare und schöne gemeinsame philosophische Arbeit. Auch Jan Gertken und Benjamin Kiesewetter danke ich für hilfreiche Kommentare zu vielen Kapitelentwürfen. Ich möchte mir nicht ausmalen, wie diese Studie ohne die konstruktive Kritik dieser vier aussehen würde. Vorgänger aller Kapitel konnte ich im Kolloquium des Lehrstuhls für Praktische Philosophie und Ethik der Humboldt-Universität zu Berlin präsentieren. Nicht nur die Studie selbst, sondern auch mein Verständnis von Philosophie hat in einer Weise von diesen Diskussionen profitiert, die ich mir zu Beginn der Promotion nicht habe vorstellen können und die sich wohl kaum ermessen lässt. Dafür bin ich sehr dankbar. Im Herbst 2014 habe ich ein Trimester an der University of Oxford an meiner Dissertation arbeiten können. Für die freundliche Aufnahme und zahlreiche produktive Diskussionen danke ich Roger Crisp. Für wichtige Diskussionen und Kommentare danke ich außerdem Maike Albertzart, Rüdiger Bittner, Claudia Blöser, Daniele Bruno, Anne Burkard, Sarah Buss, John Martin Fischer, Tobias Gesche, Roland Hesse, Wilfried Hinsch, Sukaina Hirji, Felix Koch, Eduardo Rivera López, Neil Levy, Martin Menges, Kirsten Meyer, Andreas Müller, Joschka Philipps, Neil Roughley, Christoph Sander, Peter Schulte, R. Jay Wallace und Daniel Wodak. Kirsten Meyer und Thomas Schmidt danke ich auch für wertvolle Hinweise in ihren Gutachten. Im Wintersemester 2013/14 habe ich gemeinsam mit Thomas Schmidt ein Hauptseminar zum Thema „Moralische Verantwortung“ an der Humboldt-Universität geleitet. Ich danke allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern für die spannenden und anregenden Diskussionen. Allen Mitgliedern des Instituts für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität zu Lübeck und insbesondere dem Institutsdirektor Cornelius Borck danke ich für die angenehme Arbeitsatmosphäre und schöne Zeit in Lübeck. Für Unterstützung bei der Fertigstellung des Manuskripts danke
VI | Danksagung
ich Brita Dufeu und Katharina Gupta. Für die gute Zusammenarbeit mit de Gruyter danke ich Gertrud Grünkorn, Johanna Wange und Karola Seitz. Vorläufer und Teile der hier vorliegenden Studie habe ich bei den folgenden Veranstaltungen vorgestellt und ich danke den Teilnehmerinnen und Teilnehmern für Kommentare und Kritik: 2nd Student’s Conference on Practical Analytical Philosophy: The Philosophy of T.M. Scanlon, Tübingen 2010; GAP Doktorandenworkshop, Zürich 2012; Princeton-Humboldt Graduate Conference in Philosophy, Berlin 2012 und 2013; Oberseminar für Philosophie von Neil Roughley, Essen 2013; Workshop Verantwortung, Vorwürfe, Verzeihen, Berlin 2014; 23. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Philosophie, Münster 2014; Workshop Moral Responsibility, Amsterdam 2014; Kolloquium für Philosophie von Kirsten Meyer, Berlin 2015; GAP 9, Osnabrück 2015. Eine gekürzte Fassung von Kapitel 1 erschien als „The Emotion Account of Blame“. In: Philosophical Studies 174. Nr. 1, S. 257–273, 2017. Abschnitt 2 von Kapitel 4 dieser Studie basiert auf dem Aufsatz „How Not to Defend Moral Blame“ (Discussion Note). In: Journal of Ethics and Social Philosophy, S. 1–7, 2014. Und Kapitel 5 basiert auf „Grounding Responsibility in Appropriate Blame“. In: American Philosophical Quarterly 54. Nr. 1, S. 15–24, 2017. Ich danke den Verlagen Springer und The University of Illinois Press sowie den Herausgeberinnen und Herausgebern von JESP dafür, das Material hier wieder abdrucken zu dürfen. Außerdem danke ich den anonymen Gutachterinnen und/ oder Gutachtern der Zeitschriften für sehr hilfreiche Kommentare. Die in Kapitel 4 vorgestellte Grundthese habe ich außerdem in stark kondensierter Form im Blog philosophie.ch: Swiss Portal for Philosophy (2015) zum Thema Philosophie im Alltag unter dem Titel „Sollten wir aufhören, einander Vorwürfe zu machen?“ vorgestellt (der Beitrag ist in leicht überarbeiteter Fassung auch im Themendossier zu Philosophie im Alltag von philosophie.ch erschienen). Der Studienstiftung des deutschen Volkes danke ich für die großzügige Förderung während meiner Arbeit an der Dissertation und davor. Schließlich gilt mein größter Dank Anne, Martin, Johanna, Jakob und Marla Menges für die unschätzbar wertvolle und trotz all der Umzüge und Notfallbesuche vorwurfsfreie Unterstützung in den vergangenen Jahren.
Inhaltsverzeichnis | VII
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Danksagung | V Einleitung | 1 1 Was Vorwürfe sind | 5 1.1 Vorwürfe und Vorwurfstheorien: Worum geht es? | 5 1.1.1 Überlegungen zu Ziel und Vorgehen | 5 1.1.2 Die Vorwurfstheorien im Überblick I: Die klassischen Ansätze | 10 1.1.3 Die Vorwurfstheorien im Überblick II: Nichtklassische Ansätze | 15 1.2 Vorwürfe als Ärger und Schuld | 17 1.2.1 Ein Minimalverständnis von Emotionen | 17 1.2.2 Vorwürfe als Ärger | 19 1.2.3 Moralische und nichtmoralische Vorwürfe, Fremdund Selbstvorwürfe | 23 1.2.4 Kurzzeitige und andauernde Vorwürfe | 25 1.2.5 Vorwürfe ohne Urteile | 27 1.3 Kraft, Emotionalität und Vielgestaltigkeit des Vorwerfens | 32 1.3.1 Die Kraft des Vorwerfens | 32 1.3.2 Die Emotionalität des Vorwerfens | 39 1.3.3 Die Vielgestaltigkeit des Vorwerfens | 44 1.3.4 Vorwürfe im Überblick | 49 2 Vorwerfbarkeit und Falschheit | 51 2.1 Vorbemerkungen | 53 2.1.1 Moralische Falschheit | 53 2.1.2 Die Angemessenheit von Vorwürfen: Fairness, Verdienst und Korrektheit | 54 2.1.3 Suberogatorische Handlungen | 57 2.2 Das Richtige aus niederen Motiven tun? | 58 2.2.1 Der Fall Beatrix: Notwehr und Hass | 58 2.2.2 Die Rolle von Motiven bei Pflichtverletzungen | 60 2.2.3 Rückverfolgung von Vorwerfbarkeit zu früheren Pflichtverletzungen | 64 2.3 Vorwürfe für Haltungen und Charaktereigenschaften | 67 2.3.1 Der Fall Dick: Sexistische Grundhaltung und richtige Entscheidung | 67 2.3.2 Zurückweisung des angeblichen Gegenbeispiels | 70
VIII | Inhaltsverzeichnis
2.4
Inkompatibilistische Konsequenzen | 73 Exkurs: Scanlon über moralische Vorwerfbarkeit | 79
3 Wer ist in der Position, Vorwürfe zu machen? | 87 3.1 Der Status untergrabener Vorwürfe | 88 3.1.1 Worum es geht: Untergrabene private Vorwürfe | 88 3.1.2 Untergrabene Vorwürfe und Gründe für Einstellungsmanagement | 93 3.2 „Das geht Dich nichts an“ und „Das kannst Du nicht wissen“ | 98 3.2.1 Die Irrelevanz von „Das geht Dich nichts an“ | 98 3.2.2 „Das kannst Du nicht wissen“ | 104 3.3 „Ausgerechnet Du“ | 107 3.3.1 Scheinheilige Vorwürfe und der Wert der Gleichheit | 107 3.3.2 Wie man scheinheilige Vorwürfe auf wertvolle Weise verhindern kann | 110 4 Der Wert des Vorwerfens | 115 4.1 Die Vorwurfsverteidigung: Vier Ansätze | 116 4.1.1 Die Vorwurfsverteidigung im Überblick | 116 4.1.2 Weshalb Vorwürfe weder an sich wertvoll noch unvermeidlich sind | 118 4.2 Sind Vorwürfe notwendig für etwas unersetzlich Wertvolles? | 121 4.2.1 Die Notwendigkeitsverteidigung | 121 4.2.2 Weshalb moralische Trauer und Enttäuschung genauso gut sind wie Vorwürfe | 124 4.2.3 Andere Varianten der Notwendigkeitsverteidigung | 131 4.2.4 Skizze einer Notwendigkeitsverteidigung von Selbstvorwürfen | 136 4.3 Gute und schlechte Effekte von Vorwürfen | 139 4.3.1 Die epistemische Situation von Vorwerfenden | 139 4.3.2 Die Handlungstendenzen von Vorwerfenden | 141 4.3.3 Eine zurückhaltende Vorwurfsverteidigung | 147 4.4 Moral ohne Vorwürfe | 149 5 Vorwürfe und Verantwortung | 153 5.1 Einige Vorstellungen von Verantwortung | 155 5.2 Der starke Strawsonismus | 159 5.2.1 Die Fundierung moralischer Verantwortung in angemessenen Vorwürfen | 159
Inhaltsverzeichnis | IX
5.2.2 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4
Warum starker Strawsonismus? | 163 Verteidigung des starken Strawsonismus | 166 Der Natürlich-falsch-Einwand | 166 Der Uninteressant-Einwand | 171 Der Reductio-Einwand | 173 Wie viel Strawsonismus steckt im starken Strawsonismus? | 176
Allgemeines Fazit | 181 Literatur | 185 Sachregister | 195 Namensregister | 199
X | Inhaltsverzeichnis
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Einleitung | 1
Einleitung ohne Überschriftenzählung! Einleitung DOI 10.1515/9783110527285-001 Einleitung Wir werfen unseren Nachbarn vor, am Sonntagmorgen in voller Lautstärke Musik zu hören. Wir werfen der Busfahrerin vor, uns durch den Regen laufen zu lassen und, kurz bevor wir einsteigen können, loszufahren. Wir werfen Despoten fremder Länder vor, ihre Bürgerinnen und Bürger zu drangsalieren oder gar ermorden zu lassen. Kurz: Mit Vorwürfen reagieren wir im Alltag auf Dinge, die wir als problematisch, schlecht oder falsch ansehen, auf die kleinen Verfehlungen unserer Bekannten genauso wie auf die Kapitalverbrechen von Personen, die wir niemals persönlich kennenlernen werden. Aber was genau sind Vorwürfe und welche Rolle spielen sie in unserem Leben? Die Fragen, was Vorwürfe sind und welche Rolle sie spielen, sind sowohl mit Blick auf unser alltägliches Miteinander als auch mit Blick auf grundsätzliche philosophische Themen von erheblicher Bedeutung. Um zu erkennen, dass Vorwürfe ein wichtiger und oft heikler Teil unseres Alltags sind, müssen wir uns nur vorstellen, dass uns jemand etwas vorwirft, das wir für einwandfrei halten – vielleicht zu Fuß bei freier Straße über die rote Ampel zu gehen oder Schnitzel zu essen, weil es uns gut schmeckt oder Ähnliches. Dann halten wir es für unangebracht, dass man uns ausgerechnet dafür Vorwürfe macht: „Wirfst Du mir das etwa vor?“, würden wir vielleicht verwundert, genervt oder gar empört zurückfragen. Oder stellen wir uns vor, jemand wirft uns etwas vor, obwohl diese Person sich selbst auf genau die gleiche Weise schuldig gemacht hat. Dann reagieren wir oft mit Äußerungen wie „Du bist genau die Richtige, die mir dafür Vorwürfe macht!“. Und schließlich sehen viele die Praxis des Vorwerfens derart kritisch, dass sie dafür plädieren, dass wir insgesamt versuchen sollten, einander keine Vorwürfe zu machen. Ein gelassenes Hinnehmen oder ein sachliches Gespräch halten viele für die besseren Reaktionen. Vorwürfe sind, so der mit diesen Überlegungen gestützte Gedanke, nicht nur alltäglich, sondern oft auch problematisch. Wenn wir besser verstehen, was Vorwürfe sind und welche Rollen sie genau spielen, dann haben wir damit also einen wichtigen und heiklen Teil unseres Alltags besser verstanden. Und dann können wir auch, so zumindest eine diese Studie treibende Hoffnung, ganz konkrete Fragen besser beantworten, wie zum Beispiel die, ob wir in der richtigen Position sind, unseren Nachbarn die sonntagmorgendliche Musikbedröhnung vorzuwerfen. Doch sind Vorwürfe nicht nur in unserem tagtäglichen Miteinander von Bedeutung, sie spielen auch eine zentrale Rolle in Diskussionen über grundsätzliche philosophische Fragen. Ein erstes Thema, für das Vorwürfe relevant sind, ist der Versuch, die Moral insgesamt zu charakterisieren. Denn einige Autorinnen und Autoren meinen, dass sich die Moral von anderen Bereichen der NorDOI 10.1515/9783110527285-001
2 | Einleitung
mativität, wie etwa dem Bereich der Klugheit, dadurch unterscheidet, dass Verstöße gegen moralische Normen dafür sorgen, dass es angemessen ist, auf ganz bestimmte Weise auf sie zu reagieren.1 Wer sich etwa nicht regelmäßig die Zähne putzt, der verstößt wohl gegen eine Norm der Klugheit und es scheint auch angemessen zu sein, diese Person auf bestimmte Weise zu kritisieren. Doch scheint es nicht angebracht zu sein, ihr Vorwürfe zu machen. Nur Verletzungen moralischer Normen, so meinen manche, können dafür sorgen, dass es angemessen ist, Vorwürfe zu machen. Und so glauben einige Autorinnen und Autoren, dass sich moralische Normen unter anderem dadurch auszeichnen, dass Verletzungen dieser Normen dafür sorgen können, dass Vorwürfe angemessen sind. Wenn wir nun besser verstehen, was Vorwürfe sind, so dieser Ansatz, dann verstehen wir auch besser, was die Moral insgesamt auszeichnet und von anderen Bereichen der Normativität unterscheidet. Eine zweite weitreichende philosophische Frage, für deren Diskussion ein besseres Verständnis moralischer Vorwürfe hilfreich sein kann, ist die nach den möglichen Folgen des Determinismus.2 Der Determinismus besagt, grob gesprochen, dass alles, was wir tun, schon im Voraus eindeutig festgelegt ist. Ein im Alltag und in der Wissenschaft weitverbreiteter Gedankengang ist der folgende: Es sei in bestimmter Weise unangemessen, einer Person einen Vorwurf für ein Vergehen zu machen, wenn sie nicht anders konnte, als das Vergehen zu begehen. Wenn aber der Determinismus stimmt, so die Überlegung weiter, dann könne niemand, der ein Vergehen begeht, verhindern, es zu begehen. Und dann, so die Schlussfolgerung, sei es unangemessen, überhaupt irgendjemandem seine Vergehen vorzuwerfen. Um diesen Gedankengang im Detail auszubuchstabieren, zu rechtfertigen oder zu widerlegen, bedarf es unter anderem eines genaueren Verständnisses davon, was Vorwürfe eigentlich sind und davon, unter welchen Umständen es angemessen ist, einer Person Vorwürfe zu machen. Überlegungen dieser Art sind für die aktuelle philosophische Debatte über Vorwürfe (im Englischen wird von blame gesprochen) sehr wichtig. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass der Ausgangspunkt der meisten Studien zu Vorwürfen ein Aufsatz ist, in dem es explizit um die Frage geht, welche möglichen
_____ 1 Besonders deutlich ist hier Williams: „Blame is the characteristic reaction of the morality system“ (Williams 1985, S. 177). Ähnliche Überlegungen finden sich u.a. bei Mill (1871, Kap. 5), Nietzsche (1999), Gibbard (1990, Kap. 3), Tugendhat (1993, Kap. 3; 2006) und Darwall (2006). 2 Vgl. z.B. Wallace (1994, Kap. 4–7), Fischer und Ravizza (1998), Sie (2005), Arpaly (2006) und Pereboom (2014).
Einleitung | 3
Konsequenzen der Determinismus (nicht) hat, nämlich Peter Strawsons „Freedom and Resentment“ (1962). Zugleich ist es bemerkenswert, dass sich ausgehend von dem gerade vorgestellten Gedankengang eine Diskussion über das Wesen moralischer Verantwortung entwickelt hat, in der die möglichen Folgen des Determinismus nur eine untergeordnete Rolle spielen.3 Dies ist das dritte Thema, für das Vorwürfe relevant sind, und der Grundgedanke ist der folgende: Es sei genau dann angemessen, einer Person ein Vergehen vorzuwerfen, wenn sie für dieses Vergehen moralisch verantwortlich ist. Wenn das stimmt, dann besteht eine Möglichkeit, genauer herauszufinden, was Verantwortung ist, darin, zunächst das Wesen von Vorwürfen zu untersuchen. Davon ausgehend lässt sich dann diskutieren, wann es angemessen ist, einer Person Vorwürfe zu machen. Wenn wir das verstanden haben, haben wir, so dieser Ansatz, zugleich verstanden, dass die Person auch verantwortlich für ihr Vergehen ist. Eine Theorie des Vorwurfs ist dann eine Art Schlüssel zum Wesen moralischer Verantwortung. Von den drei genannten Themenbereichen werde ich mich am ausführlichsten mit dem dritten, also mit der Natur moralischer Verantwortung, befassen. Die anderen beiden werden an mehreren Stellen der Studie angesprochen und die wichtigsten Ergebnisse werde ich im allgemeinen Fazit zusammenfassend vorstellen. Dass das Phänomen des Vorwurfs aus ganz unterschiedlichen Perspektiven interessant erscheint, spiegelt sich in zwei allgemeinen Merkmalen der hier vorliegenden Studie wider. Erstens können einzelne Kapitel der Studie drei verschiedenen Subdisziplinen der praktischen Philosophie zugeordnet werden, nämlich der philosophischen Moralpsychologie (Kapitel 1), der normativen Ethik in einem weiteren Sinn (Kapitel 2–4) und der Metaethik (Kapitel 5). Zweitens gibt es zwar ein größeres Narrativ, das die gesamte Studie verbindet – von der Natur von Vorwürfen über die Ethik des Vorwerfens hin zu abstrakten metaphysischen Fragen – und alle Kapitel bauen auf der zunächst entwickelten Theorie moralischer Vorwürfe auf. Aber die einzelnen Kapitel können auch als beinahe eigenständige Untersuchungen zu spezifischen Fragen nach der Rolle und Bedeutung von Vorwürfen gelesen werden. Ich werde nun den Gang der Untersuchung genauer vorstellen. Im ersten Kapitel werde ich die moralpsychologische Frage diskutieren, was Vorwürfe sind. Ich werde die oft mit Peter Strawson assoziierte These entwickeln und verteidigen, dass Vorwurfseinstellungen bestimmte Emotionen sind, nämlich
_____ 3 Vgl. z.B. Wallace (1994, Kap. 1–3), Watson (1996) und McKenna (2012).
4 | Einleitung
Varianten von Ärger bei Fremdvorwürfen und von Schuld bei Selbstvorwürfen. Und ich werde zeigen, dass ausgehend von dieser Theorie der Vorwurfseinstellungen die gesamte Praxis des Vorwerfens erhellt werden kann. In den Kapiteln 2 bis 4 werde ich die Vorwurfseinstellungen aus normativer Perspektive untersuchen. In Kapitel 2 wird diskutiert, unter welchen Bedingungen es angemessen ist, einer Person Vorwürfe zu machen. Ich werde insbesondere die These verteidigen, dass es nur dann angemessen ist, einer Person Vorwürfe zu machen, wenn sie eine Pflicht verletzt hat. Diese Position ist in den vergangenen Jahren von verschiedenen Seiten kritisiert worden. Ich werde die wichtigsten Einwände genauer vorstellen und zurückweisen. Im anschließenden Kapitel 3 steht die Frage im Zentrum, wer in der richtigen Position ist, anderen Vorwürfe zu machen. Wie oben schon gesagt, reagieren wir auf Vorwürfe bestimmter Personen zum Beispiel damit, dass wir so etwas denken oder sagen wie „Du bist genau die Richtige!“ Ich werde diskutieren, unter welchen Bedingungen es angemessen ist, auf diese oder ähnliche Weise Vorwürfe zurückzuweisen. Im vierten Kapitel geht es um den Wert moralischer Vorwürfe im Allgemeinen. Ausgangspunkt ist der Gedanke, dass viele Vorwürfe auf eine noch zu bestimmende Weise destruktiv und problematisch sind, was den Gedanken nahelegt, dass wir unsere Tendenz, Vorwürfe zu machen, insgesamt reformieren oder gar aufgeben sollten. Ich werde verschiedene Versuche, Vorwürfe zu verteidigen, diskutieren und zurückweisen. Schließlich werde ich meine eigene, minimale Verteidigung des Vorwerfens vorstellen. Ihr zufolge dürfen wir an unserer Tendenz festhalten, weil nicht zu sehen ist, weshalb eine Welt ohne Vorwürfe so viel besser sein sollte als eine Welt mit Vorwürfen. Im fünften Kapitel untersuche ich die Metaphysik moralischer Verantwortung. Im Zentrum steht die von Strawson inspirierte und von R. Jay Wallace ausgebaute Position, dass die Angemessenheit moralischer Vorwürfe in einem noch genauer zu charakterisierenden Sinn fundamentaler sei als moralische Verantwortung.4 Dass es angemessen ist, einer Person Vorwürfe zu machen, erkläre dieser These zufolge, dass die Person verantwortlich ist – und nicht, wie viele meinen, umgekehrt. Ich werde die plausibelste Variante dieses Gedankens entwickeln und gegen wichtige Einwände verteidigen.
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_____ 4 Vgl. Wallace (1994, Kap. 4).
1.1 Vorwürfe und Vorwurfstheorien: Worum geht es? | 5
1 Was Vorwürfe sind 1 Was Vorwürfe sind 1.1 Vorwürfe und Vorwurfstheorien: Worum geht es? DOI 10.1515/9783110527285-002
Barbara und Alice teilen sich alle Haushaltspflichten, die im Alltag anfallen. Um 19 Uhr kommen Gäste und Alice verspricht Barbara, sich vorher um den Müll zu kümmern. Um 18.30 Uhr hat sie noch immer nicht den Müll herausgebracht. Sie weiß, was sie Barbara versprochen hat, doch beginnt gerade ihre Lieblingsfernsehserie und sie beschließt, den Müll erst nachher herauszubringen. Dann ist es 19 Uhr, die Gäste klingeln und der Müll steht noch immer in der Küche. In dieser kurzen Geschichte, die den meisten von uns bekannt vorkommen dürfte, bricht Alice ohne guten Grund ein Versprechen, das sie Barbara gegeben hat – ein klassisches Beispiel für eine moralische Verfehlung. Und wenn Barbara nun Alice ihre Verfehlung vorwirft, dürfte das kaum überraschen. Aber was ist das, ein Vorwurf? Das ist die Frage, die in diesem Kapitel beantwortet werden soll. Ich werde zunächst die Frage präzisieren und einige in der Literatur diskutierte Antworten vorstellen (Abschnitt 1.1). Dann werde ich ausführlich die klassische, aber in jüngster Zeit oft kritisierte Position vorstellen, dass moralische Vorwürfe bestimmte Emotionen sind und zwar Formen von Ärger oder, im Fall des Selbstvorwurfs, Schuld (Abschnitt 1.2). Schließlich werde ich diese Position ausbauen und gegen die wichtigsten Einwände verteidigen (Abschnitt 1.3).
1.1 Vorwürfe und Vorwurfstheorien: Worum geht es? 1.1 Vorwürfe und Vorwurfstheorien: Worum geht es? 1.1.1 Überlegungen zu Ziel und Vorgehen Bevor ich die Frage, was Vorwürfe sind, direkt angehe, soll zunächst gezeigt werden, auf welche Weise ich sie diskutieren werde. Ich verlasse mich im Folgenden sowohl auf nichtsprachliche als auch auf sprachliche Intuitionen.1 Zum einen beschreibe ich ein bestimmtes Phänomen und lade die Leserin oder den Leser ein zuzustimmen, dass auch sie dieses
_____ 1 Der Ausdruck „Intuition“ kann im Alltag und in der philosophischen Diskussion auf unterschiedliche Weise verwendet werden. Ich verstehe ihn hier möglichst weit: Wenn eine Person die Intuition hat, dass p, dann scheint es ihr so, als würde es einfach stimmen, dass p. Wichtig ist vor allem, dass ich Intuitionen nicht faktisch verstehe, d.h. man kann diesem Verständnis zufolge die Intuition haben, dass p, obwohl es nicht der Fall ist, dass p. Vgl. für einen allgemeinen Überblick Pust (2016); vgl. für Intuitionen in der Ethik Burkard (2012). DOI 10.1515/9783110527285-002
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Phänomen aus ihrem Alltag kennen. Zum anderen lade ich die Leserin oder den Leser ein, zuzustimmen dass wir das von mir so beschriebene Phänomen im Alltag als Vorwurf bezeichnen können. Hier sind einige Beispiele: Das, worum es in dieser Studie geht, ist erstens eng an bestimmte Verhaltensweisen geknüpft. So würde es uns wohl kaum überraschen, wenn Barbara in der skizzierten Situation Alice anzischt: „Du glaubst wohl, Du lebst in einem Hotel!“ Zweitens ist das Phänomen, um das es geht, in der Regel unangenehm für diejenigen, die bemerken, dass das Phänomen auf sie gerichtet ist. Wenn wir etwas getan haben, das andere für problematisch halten, reagieren diese oft mit einer ablehnenden Haltung oder Einstellung uns gegenüber. Und diese Haltung oder Einstellung ist uns oft unangenehm. Das erkennen wir zum Beispiel daran, dass wir versuchen, die anderen dazu zu bringen, ihre Haltung oder Einstellung aufzugeben, indem wir unser Tun erklären, rechtfertigen, die Schuld von uns schieben oder um Verzeihung bitten. Wenn andere Personen auf diese oft unangenehme Weise auf uns reagieren, dann sind sie drittens nicht bloß neutrale Beobachterinnen und Beobachter unseres Tuns. Sie stehen, sozusagen, nicht bloß am Spielfeldrand und schreiben unserem Verhalten von außen irgendeine negative Eigenschaft zu. Sie stehen vielmehr auf dem Platz, sind involviert, ergreifen Partei und beziehen auf oft emphatische Weise Stellung zu unserem Handeln. Viertens scheint es ein bestimmtes Verhältnis zwischen diesem Phänomen und dem des Verzeihens zu geben. Stellen wir uns vor, Alice entschuldigt sich am kommenden Tag bei Barbara für ihren Versprechensbruch und Barbara vergibt Alice mit den Worten: „Ist schon in Ordnung.“ Es wäre merkwürdig, wenn Barbara Alice im gleichen Moment deutlich macht, dass sie Alice’ Versprechensbruch noch immer auf eine für Alice unangenehme, emphatische Weise ablehnt. Wenn eine Person einer anderen verzeiht, dann erwarten wir, dass sie die Haltung oder Einstellung, um die es in dieser Studie geht, auf gewisse Weise modifiziert oder gar aufgibt. Außerdem scheint es, fünftens, als könnten diese oft unangenehmen, ablehnenden Haltungen oder Einstellungen mit bestimmten Urteilen in Konflikt geraten: Manchmal, etwa wenn wir müde, hungrig und gereizt sind, reagieren wir auf die hier skizzierte Weise auf eine Person, obwohl wir urteilen, dass sie keine Schuld hat. Im Verlauf der Untersuchung werde ich diese und weitere Überlegungen wieder aufgreifen. An dieser Stelle geht es mir nur darum, ein vor-theoretisches Verständnis von dem Phänomen zu entwickeln, um das es hier geht. Ich behaupte nicht, dass jeder einzelne Mensch die hier umrissene Reaktion, Haltung oder Einstellung kennt oder schon einmal hatte. Aber sie scheint doch ein fester
1.1 Vorwürfe und Vorwurfstheorien: Worum geht es? | 7
und wichtiger Bestandteil unseres moralischen Alltags zu sein und die allermeisten dürften sie aus ihrem eigenen Leben kennen. Diejenigen, die dieses Phänomen kennen, lade ich nun ein, mir zuzustimmen – und das ist die sprachliche Intuition –, dass wir es im Alltag sinnvollerweise als Vorwurf bezeichnen können. Wenn Barbara Alice anzischt, würden wir wohl sagen, dass sie ihr einen Vorwurf macht; das, was wir Vorwurf nennen, ist oft unangenehm; Vorwerfende sind auf bestimmte ablehnende Weise in das Geschehen involviert; wenn uns jemand ein Vergehen vergeben hat, dann erwarten wir, dass diese Person es uns nicht mehr vorwirft; und manchmal machen wir uns und anderen Vorwürfe, obwohl wir urteilen, dass wir oder sie keinerlei Schuld haben. Bei einer Betrachtung unseres Sprachgebrauchs gewinnt man nicht nur den Eindruck, dass man das gerade skizzierte Phänomen als Vorwurf bezeichnen kann, sondern auch, dass wir mit den Ausdrücken „Vorwurf“, „vorwerfen“ und so weiter viele, scheinbar ganz verschiedene Dinge bezeichnen. In der Literatur wird in diesem Zusammenhang davon gesprochen, dass die Praxis des Vorwerfens vielgestaltig sei.2 So können wir mit „Vorwurf“ zum Beispiel Barbaras Verhalten und ihren Sprechakt meinen, wenn sie Alice anzischt, dass sie wohl glaube, in einem Hotel zu wohnen. Barbara kann aber auch bestimmte Einstellungen Alice gegenüber ausbilden, ohne sie in ihrem Verhalten oder in einem Sprechakt auszudrücken, etwa weil sie fürchtet, dass ein sichtbarer Vorwurf katastrophale Konsequenzen haben könnte. Vielleicht bildet sie das Urteil aus, dass Alice ohne Entschuldigung moralisch falsch gehandelt hat, die Emotion der Empörung oder die Absicht, Alice’ Geschirr nicht mehr zu spülen, weil sie ihr Versprechen gebrochen hat. Im Alltag könnten wir sagen, dass Barbara ihren Vorwurf heruntergeschluckt hat, wenn sie solche Einstellungen erfolgreich für sich behält. Wichtig ist, dass wir im Alltag beide Phänomene, die offenen Verhaltensweisen und die versteckten Einstellungen, sinnvollerweise als Vorwürfe bezeichnen können (ich gehe im folgenden Unterabschnitt auf diesen Punkt genauer ein). Um sie im Folgenden auseinander zu halten, werde ich von offenen und privaten Vorwürfen sprechen. Die Vielgestaltigkeit des Vorwerfens zeichnet sich des Weiteren dadurch aus, dass es verschiedene Vorwerfende geben kann, etwa das Opfer eines Vergehens oder unbeteiligte Dritte. Unsere Vorwürfe können ganz verschiedene Ziele haben, zum Beispiel uns nahestehende Personen, Personen, die wir nie
_____ 2 Vgl. v.a. Fricker (2016), die die Praxis des Vorwerfens in sich vielgestaltig (internally diverse 2016, S. 166) nennt. Vgl. dazu auch Abschnitt 1.3.3.
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kennenlernen werden, Gruppen, Institutionen oder im Fall des Selbstvorwurfs auch uns selbst. Schließlich können unsere Vorwürfe verschiedene Objekte haben, also die Dinge, die wir einander vorwerfen: Wir werfen Personen zum Beispiel Handlungen, Einstellungen oder Charaktereigenschaften vor. Diese und andere Intuitionen über, einerseits, ein bestimmtes Alltagsphänomen und, andererseits, unseren Sprachgebrauch sind die Ausgangspunkte für meine Diskussion der Frage „Was sind Vorwürfe?“. Mein Ziel ist es, diese verschiedenen Intuitionen zu systematisieren, indem ich herauszufinden versuche, ob es etwas gibt, das die hier skizzierten und andere Eigenschaften hat und, wenn ja, was es ist es. Eine mögliche Frage zur Herangehensweise und ein mögliches Missverständnis sollen an dieser Stelle diskutiert beziehungsweise ausgeräumt werden. Man könnte nämlich fragen, weshalb es überhaupt wichtig ist, den Sprachgebrauch zu berücksichtigen und ob es nicht ausreicht, das Phänomen zu untersuchen, das wir aus unserem Alltag kennen. Das ist selbstverständlich möglich und kann durchaus erhellend sein. Doch hat die Berücksichtigung des Sprachgebrauchs einen Mehrwert. Denn unsere Verwendung des Ausdrucks „Vorwurf“ scheint, anders als etwa beim Ausdruck „Bank“, eine gewisse Einheitlichkeit zu haben: Mit Vorwürfen reagieren wir auf eine bestimmte ablehnende Weise auf Dinge, die wir als problematisch wahrnehmen – und Vorwürfe sind nicht außerdem noch etwas ganz anderes. Und so liegt es einfach nahe zu fragen, ob es nicht ein Kernphänomen des Vorwurfs gibt, das unserem Sprachgebrauch zugrunde liegt. Wenn man diese Frage bejahen kann, ist nicht nur ein bestimmtes Phänomen erhellt, sondern außerdem unser alltäglicher Sprachgebrauch zu einem Teil systematisiert worden. Außerdem erleichtert die Berücksichtigung des Sprachgebrauchs das Führen einer einheitlichen philosophischen Debatte. Wenn man den alltäglichen Sprachgebrauch außer Acht lässt, könnte man sich stattdessen auf irgendein Phänomen, das wir aus unserem Alltag kennen, konzentrieren, dieses untersuchen und dann festlegen, dass man den Ausdruck „Vorwurf“ als eine Art Terminus technicus für dieses Phänomen verwendet. Wenn dann eine andere Person mit dem Ausdruck „Vorwurf“ auf etwas anderes verweist, dann steht diese Person gar nicht mit der ersten Sprecherin in Konflikt. Beiden geht es um verschiedene Phänomene. Tatsächlich gibt es jedoch eine philosophische Debatte um die Frage „Was sind Vorwürfe?“ und diese erschöpft sich nicht darin, verschiedene Phänomene zu beschreiben und dann technisch festzulegen, dass man sie als „Vorwürfe“ bezeichnen werde. In dieser Debatte wird vielmehr darum gestritten, was Vorwürfe wirklich sind. Und dafür muss man voraussetzen, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Debatte mit dem Ausdruck „Vorwurf“ ungefähr das gleiche Phänomen meinen.
1.1 Vorwürfe und Vorwurfstheorien: Worum geht es? | 9
Das mögliche Missverständnis, das hier ausgeräumt werden soll, besteht im folgenden Gedankengang: Die Überlegungen in diesem Kapitel beruhen zum Teil auf einer Betrachtung unseres Alltagssprachgebrauch; daher kann man wohl erwarten, dass meine Antwort auf die Frage, was Vorwürfe sind, mit jeder alltäglichen Verwendungsweise des Ausdrucks „Vorwurf“ vereinbar sein müsse. Anders formuliert: Man könnte erwarten, dass eine auf die hier skizzierte Weise entwickelte Theorie des Vorwurfs vollkommen unkontrovers sein müsse. Schließlich gehe es ja darum, unseren Alltagssprachgebrauch zu systematisieren, und den kennen wir alle hinreichend gut. Tatsächlich wird meine Theorie des Vorwurfs aber sehr wohl wenigstens in dem Sinn kontrovers sein, dass sie impliziert, dass bestimmte Phänomene, die wir im Alltag mit dem Ausdruck „Vorwurf“ bezeichnen, keine Vorwürfe sind. Und sie impliziert auch, dass bestimmte Dinge Vorwürfe sind, die im Alltag nicht immer und ohne Zögern so bezeichnet werden. Denn unser alltäglicher Sprachgebrauch ist nicht kohärent, sodass bestimmte sprachliche Intuitionen über Vorwürfe in Konflikt geraten. Wenn bestimmte Intuitionen in Konflikt geraten, werde ich im Folgenden genau zeigen, um welche Intuitionen es sich handelt und ich werde erklären, weshalb ich den Konflikt zugunsten der einen Intuition und nicht zugunsten der anderen auflöse. Ich werde außerdem zeigen, dass wir uns manchmal mit dem Ausdruck „Vorwurf“ auf etwas beziehen, das dem, was ich als eigentlichen Vorwurf identifizieren werde, zwar ähnelt, aber doch verschieden von ihm ist. Und ich werde erklären, weshalb das Phänomen, auf das ich mich konzentriere, wichtig genug ist, um im Zentrum einer philosophischen Untersuchung zu stehen.3
_____ 3 Um ein Gespür für die Art von Konflikt zu bekommen, um die es hier geht, bietet es sich an, einen Blick in ganz andere philosophische Disziplinen zu werfen, etwa die Analyse propositionalen Wissens. Die meisten Erkenntnistheoretikerinnen und -theoretiker gehen davon aus, dass Wissen Wahrheit impliziert: Wenn eine Person weiß, dass p, dann ist es der Fall, dass p. Nun wird der Ausdruck „wissen“ im Alltag und in bestimmten wissenschaftlichen Disziplinen aber manchmal auf ganz andere Weise verwendet. In der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte ist z.B. davon die Rede, dass manche Naturforscher im 16. Jahrhundert wussten, dass ein Magnet aufgrund der Tatsache, dass t Anziehungskraft ausübe. In Wirklichkeit stimmt es aber gar nicht, dass t irgendetwas mit der Anziehungskraft von Magneten zu tun hat. Wer nun trotzdem daran festhalten will, dass Wissen Wahrheit voraussetzt, der kann dafür argumentieren, dass mit dem Ausdruck „wissen“ in solchen Kontexten etwas Ähnliches gemeint ist wie das, was man selbst unter „wissen“ versteht. In diesen Kontexten verweist der Ausdruck vielleicht auf fest geglaubte (und vielleicht sogar gerechtfertigte) Meinung. Dann sollte man verständlich machen, weshalb das, worum es einem selbst geht, im Zentrum der philosophischen Untersuchung steht und nicht das, was manche Wissens- und Wissenschaftshistorikerinnen und -historiker mit „wissen“ meinen.
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Insgesamt geht es also darum, ein Phänomen zu erhellen, das wir aus unserem Alltag kennen, das wichtige Rollen in philosophischen Diskussionen spielt und das wir im Alltag sinnvollerweise als Vorwurf bezeichnen können. Um dieses Ziel zu erreichen, werden sprachliche und nichtsprachliche Intuitionen systematisiert, ohne den Anspruch zu erheben, an jeder Stelle mit unserem Alltagssprachgebrauch vollkommen übereinzustimmen. Damit habe ich meine Herangehensweise an die Frage „Was sind Vorwürfe?“ skizziert. Ganz ähnlich werde ich auch in den folgenden Kapiteln vorgehen, ohne dort jedoch explizit methodologische Überlegungen anzustellen.
1.1.2 Die Vorwurfstheorien im Überblick I: Die klassischen Ansätze Um die aktuellen Vorwurfstheorien übersichtlich zu präsentieren, werde ich mehrere Ansätze in Theoriefamilien bündeln. Zunächst unterscheide ich zwei Großfamilien, die klassischen und die nichtklassischen Ansätze. Klassische Ansätze verfolgen das Ziel, einzelne Einstellungen zu identifizieren, von denen wir eine genau dann haben, wenn wir einen Vorwurf machen. Vertreterinnen und Vertreter nichtklassischer Ansätze meinen dagegen, dass eine Vorwurfstheorie nicht versuchen sollte anzugeben, welche einzelnen Einstellungen notwendig für Vorwürfe sind. Ich werde in diesem Unterabschnitt die klassischen Ansätze, im Folgenden die nichtklassischen Ansätze vorstellen. Klassische (und einige nichtklassische) Vorwurfstheorien untersuchen, wie gesagt, bestimmte Einstellungen. Sie konzentrieren sich also auf private Vorwürfe und nicht auf die Sprechakte und Verhaltensweisen, die ich als offene Vorwürfe bezeichne. Das mag zunächst überraschen, da wir im Alltag meist offene Vorwürfe im Sinn haben, wenn wir von Vorwürfen sprechen. Der Grund für diese Konzentration auf private Vorwürfe ist, dass Verhaltensweisen nicht notwendig dafür zu sein scheinen, Vorwürfe zu machen. Es scheint möglich zu sein, jemandem einen stillen Vorwurf zu machen, seine Wut herunterzuschlucken, seine Absicht oder sein Urteil für sich zu behalten und so weiter. Manche sind besser darin als andere, doch ist es durchaus denkbar, dass zum Beispiel Barbara sich nichts anmerken lässt, während die Gäste da sind und erst mit ihren Vorwürfen herausplatzt, wenn sie wieder mit Alice allein ist oder sogar Tage später. Und zugleich ist es plausibel, die Einstellungen, die sie zuvor schon hatte und die sie dann erst ausdrückt, als Vorwurf zu bezeichnen.4
_____ 4 Ob bestimmte Verhaltensweisen hinreichend für Vorwürfe sind, diskutiere ich in Abschnitt 1.3.3.
1.1 Vorwürfe und Vorwurfstheorien: Worum geht es? | 11
Ausgehend von dieser Beobachtung konzentrieren sich klassische Vorwurfstheorien auf Vorwurfseinstellungen, von denen sie behaupten, dass sie notwendig und hinreichend dafür sind, einer Person Vorwürfe zu machen. Das hat die sprachlich auf den ersten Blick auffällige Konsequenz, dass Vorwürfe vielen philosophischen Theorien zufolge nichts sind, was man tut, sondern etwas, das man hat. Das ist aber nur auf den ersten Blick auffällig. Es ist nämlich vollkommen alltäglich, auf diese Weise über Selbstvorwürfe zu sprechen. Stellen wir uns vor, dass wir jemanden fragen, ob er sich für ein Vergehen, das er begangen hat, Vorwürfe macht und dass er dies bejaht. Angenommen, wir wissen, dass er bis dahin keine Vorwurfsverhaltensweisen an den Tag gelegt hat – wir wissen, dass er sich nicht die Haare gerauft, Reue gezeigt, um Verzeihung gebeten hat und so weiter. Und nehmen wir außerdem an, dass wir keinen Grund haben zu glauben, dass er uns etwas vormacht. Wenn Vorwürfe vor allem Handlungen oder Verhaltenweisen wären, würden wir dann wohl glauben, dass er unsere Frage nicht richtig verstanden hat. Tatsächlich würden wir das aber nicht glauben. Wir wüssten genau, was er meint, wenn er bejaht, dass er sich Vorwürfe macht, nämlich dass er ein schlechtes Gewissen hat, sich schuldig fühlt oder Ähnliches. Dass man sich selbst Vorwürfe macht, scheint in unserem alltäglichen Sprechen und Denken also vor allem eine Frage der Einstellung und nicht des Verhaltens zu sein. Vertreterinnen und Vertreter klassischer (und einiger nichtklassischer) Theorien verstehen Fremdvorwürfe genauso. Wenn im Folgenden also davon die Rede ist, dass eine Person sich selbst oder einer anderen einen Vorwurf macht, sich selbst oder anderen etwas vorwirft, dann meinen Vertreterinnen und Vertreter der klassischen Vorwurfstheorien damit, dass die Person bestimmte Einstellungen hat, aber nicht unbedingt, dass sie irgendeine Handlung ausführt oder irgendwelche Verhaltensweisen an den Tag legt. Um welche Einstellungen handelt es sich nun? Die Großfamilie der klassischen Vorwurfstheorien lässt sich anhand der Frage, welche Rolle Urteile in den einzelnen Ansätzen spielen, in drei Theoriefamilien gliedern:5 Die reine Urteilstheorie besagt, dass Vorwürfe nichts anderes
_____ 5 Coates und Tognazzini haben in einer Reihe von Überblicksaufsätzen (vgl. 2012; 2013b; Tognazzini and Coates 2014) maßgeblich dazu beigetragen, die Debatte über Vorwürfe zu strukturieren. Meine Einteilung ähnelt ihrem Vorschlag, Vorwurfstheorien in kognitive, konative und Strawson’sche zu gliedern. Indem ich an manchen Stellen von ihnen abweiche, verfolge ich nicht das Ziel, ihre Darstellungsweise zu kritisieren. Vielmehr geht es mir darum, die Debattenlandschaft auf eine Weise darzustellen, die es mir im weiteren Verlauf der Arbeit erlauben wird aufzuzeigen, dass bestimmte Einwände eine ganze Reihe von Ansätzen vor Prob-
12 | 1 Was Vorwürfe sind
als bestimmte Urteile sind; Vertreterinnen und Vertreter der unreinen Urteilstheorie meinen, dass Vorwürfe Urteile in Kombination mit anderen Einstellungen sind; und Antiurteilstheoretikerinnen und -theoretiker lehnen beide Thesen ab und meinen, dass Vorwürfe ganz andere Einstellungen sind. Ich beginne mit der reinen Urteilstheorie. Zwar mögen Vorwürfe in der Regel mit anderen Einstellungen wie etwa Emotionen, Absichten und Wünschen einhergehen, ihrem Wesen nach seien Vorwürfe aber nichts anderes als Urteile mit einem bestimmten Gehalt. Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Varianten der reinen Urteilstheorie unterscheiden sich darin, welchen Gehalt Vorwurfsurteile ihrer Meinung nach haben. Drei bekannte Vorschläge sind die folgenden: Erstens werden Vorwürfe metaphorisch so beschrieben, dass die Vorwerfenden urteilen, dass das Ziel des Vorwurfs aufgrund einer Handlung oder Eigenschaft ein „Soll“ auf seinem „moralischen Konto“ habe.6 Zweitens Vorwürfe seien Urteile darüber, dass Personen einen mangelnden guten oder gar bösen Willen haben.7 Drittens werden Vorwürfe mit Urteilen darüber identifiziert, dass eine Person sich nicht hinreichend darum gesorgt habe, dass ihre Entscheidungen auf bestimmte Weise gerechtfertigt werden können.8 Die zweite Theoriefamilie, die unreine Urteilstheorie, besagt, dass bestimmte Urteile notwendige Bestandteile von Vorwürfen sind. Vertreterinnen und Vertreter dieser Theoriefamilie lehnen jedoch ab, dass solche Urteile bereits hinreichend für Vorwürfe sind. Zum Urteil müsse wenigstens ein weiteres Element hinzukommen. Einige Autorinnen und Autoren meinen, dass zu einem negati-
_____ leme stellt. Ich hebe also die Gemeinsamkeiten besonders hervor, die für mein Anliegen von Bedeutung sind. Und das sind nicht unbedingt die Theorieeigenschaften, die für die jeweiligen Autorinnen und Autoren von besonderem Interesse sind. 6 Vgl. z.B. Zimmerman, der meint, dass ein Vorwurf in dem Urteil über eine Person bestehen könne, „that there is a ‚discredit‛ or ‚debit‛ in his ledger […] that his ‚moral standing‛ has been ‚diminished‛“ (Zimmerman 1988, 38); vgl. auch Watson (1996) und Haji (1998, Kap. 1). 7 So meint etwa Hieronymi, dass Vorwürfe alleine in dem Urteil bestehen können, dass eine Person üblen Willen (ill will) hat. Doch schreibt sie auch: Vorwurfseinstellungen „involve (to be sensitive to, or to entail, or to be the affective face of, or simply a label for) a complex set of judgments or evaluations – a set which necessarily includes, as a unifying feature, the judgment that disregard was shown, but which also includes judgments along a number of other dimensions“ (Hieronymi 2004, S. 133). 8 Vgl. z.B. Scanlon: „What is essential, on this account, is that a judgment of moral blame asserts that the way in which an agent decided what to do was not in accord with standards which that agent either accepts or should accept insofar as he or she is concerned to justify his or her actions to others on grounds that they could not reasonably reject“ (Scanlon 1988, S. 170); vgl. auch A. Smith (2008).
1.1 Vorwürfe und Vorwurfstheorien: Worum geht es? | 13
ven moralischen Urteil der Wunsch hinzukommen müsse, dass die Person besser gehandelt hätte oder besser wäre.9 Eine andere einflussreiche Form der unreinen Urteilstheorie besagt, dass Vorwerfende nicht nur ein negatives Urteil fällen müssen, sondern außerdem ihr Verständnis der Beziehung, die sie zum Ziel des Vorwurfs haben, revidieren.10 Und eine solche Revision beinhalte vor allem das Aufgeben alter oder Entwickeln neuer Absichten oder Erwartungen. Schließlich besagt eine Variante der unreinen Urteilstheorie, dass Vorwürfe eine Kombination aus Urteilen und Emotionen wie zum Beispiel Wut seien.11 Vertreterinnen und Vertreter der dritten Theoriefamilie, der Antiurteilstheorie, verneinen, dass Urteile notwendige Bestandteile von oder gar selbst Vorwürfe sind. Die meisten Antiurteilstheorien besagen, dass das Haben bestimmter Emotionen notwendig und hinreichend für Vorwürfe sei und dass diese Emotionen nicht selbst notwendigerweise mit Urteilen einhergehen.12 Diese Variante nenne ich antiurteilstheoretischen Emotionalismus oder kürzer: Emotiona-
_____ 9 Sher (2006, Kap. 6) argumentiert, dass Vorwürfe darin bestehen, disponiert dazu zu sein, verschiedene Emotionen und andere Einstellungen zu haben, sowie dazu, bestimmte Handlungen auszuführen. Entscheidend ist für ihn, „that each such disposition is explicable in light of a single type of desire-belief pair – a pair whose components are, first, the familiar belief that the person in question has acted badly or has a bad character, but also, second, a corresponding desire that that person not have acted badly or not have a bad character“ (2006, S. 14). Vgl. für ähnliche Ansätze Arpaly (2006, Kap. 1) und Kekes (2009). 10 Vgl. insbesondere Scanlon: „[T]o claim that a person is blameworthy for an action is to claim that the action shows something about the agent’s attitudes toward others that impairs the relations that others can have with him or her. To blame a person is to judge him or her to be blameworthy and to take your relationship with him or her to be modified in a way that this judgment of impaired relations holds to be appropriate“ (2008, S. 128 f., Hervorhebung im Original). In einem jüngeren Aufsatz präzisiert Scanlon: „To blame a person is to judge that person to be blameworthy and, as a consequence, to modify one’s understanding of one’s relationship with that person (that is, to alter or withhold intentions and expectations that that relationship would normally involve) in the particular ways that that judgment of blameworthiness makes appropriate, given one’s relation with the person and the significance for one of what that person has done“ (2013b, S. 89). Vgl. auch A. Smith (2013). 11 So etwa Pereboom: „On the view that seems most plausible to me, the attitudes of moral resentment and indignation include the following two components: anger targeted at an agent because of what he’s done or failed to do, and a belief that the agent deserves to be the target of that very anger just because of what he has done or failed to do. An attitude does not count as resentment or indignation if it lacks these features“ (Pereboom 2014, S. 128). Vgl. auch Fritz (2014). 12 Tognazzini scheint an einem antiurteilstheoretischen, nichtemotionalistischen Ansatz zu arbeiten, der die Rolle von Wünschen betont. Darauf verweisen Coates und Tognazzini (2013b, N. 34).
14 | 1 Was Vorwürfe sind
lismus. Ausgangspunkt des Emotionalismus ist in den meisten Fällen Peter Strawsons Aufsatz „Freedom and Resentment“ (1962), in dem zwar keine Theorie des Vorwurfs entworfen, aber doch nahegelegt wird. In Anlehnung an Strawson meinen die meisten Emotionalistinnen und Emotionalisten, dass Vorwürfe bestimmte reaktive Einstellungen seien.13 Auch wenn es verschiedene Vorstellungen davon gibt, was reaktive Einstellungen im Detail ausmachen, so werden sie typischerweise als Einstellungen charakterisiert, die wir als Reaktion darauf ausbilden, dass wir bei einer Person bestimmte positive oder negative Einstellungen wahrnehmen.14 Die Person muss diese Einstellungen nicht tatsächlich haben, es scheint uns aber so, als habe sie sie. Die meisten Emotionalistinnen und Emotionalisten meinen nun, dass Vorwürfe reaktive Emotionen seien.15 Das sind Emotionen, die wir als Reaktion darauf ausbilden, dass wir beim Ziel des Vorwurfs positive oder negative Einstellungen ausmachen – im Fall des Vorwurfs selbstverständlich negative Einstellungen. Ein Beispiel für eine solche reaktive Emotion ist Barbaras Empörung, die sie als Reaktion darauf ausbildet, dass es ihr so scheint, als würde Alice sie und ihre Wünsche nicht ernst nehmen. Ein alternativer emotionalistischer Ansatz besagt, dass Vorwürfe feindselige Emotionen seien, die von dem Gefühl höherer Ordnung begleitet werden, dass das Ziel des Vorwurfs diese Emotionen verdiene.16 Emotionen spielen eine wesentliche Rolle in manchen Varianten der unreinen Urteilstheorie und in den typischen Urteilstheorien. Nicht alle Autorinnen und Autoren, die der Meinung sind, dass Vorwürfe notwendigerweise Emotionen sind, lassen sich klarerweise einer dieser beiden Theoriefamilien zuordnen, weil nicht alle hinreichend deutlich machen, welche Rolle Urteile in ihren An-
_____ 13 Innerhalb dieser Familie gibt es deutliche Differenzen darüber, welche Rolle Urteile spielen. So meint zum Beispiel Wallace (vgl. z.B. 1994, S. 19–20, 34), der sich stark an Strawson (1962) orientiert, dass Vorwurfsemotionen zwar selbst keine Urteile beinhalten, dass man aber, wenn man jemandem einen moralischen Vorwurf macht, zugleich auch ein bestimmtes moralisches Urteil über diese Person fällen muss. Deigh (2011) dagegen argumentiert, dass Strawsons Ansatz stärker antiurteilstheoretisch sei: Für Strawson implizieren Vorwurfsemotionen wie Empörung, so Deigh, keine Urteile und haben keinen propositionalen Gehalt. 14 In diesem weiten Sinn versteht auch Scanlon seine Vorwurfstheorie als eine, die besagt, dass Vorwürfe reaktive Einstellungen seien (vgl. Wallace 2011, S. 352; Scanlon 2013b, S. 89). Manche Autorinnen und Autoren, wie etwa Darwall (2006, Kap. 4) meinen außerdem, dass reaktive Einstellungen notwendigerweise Forderung beinhalten. 15 Vgl. z.B. Watson (1987), Wallace (1994, Kap. 2 und 3; 2011), Shoemaker (2007), Hurley und Macnamara (2010), Deigh (2011), Wolf (2011), Tognazzini (2013) und Cogley (2013). 16 Vgl. Pickard (2013).
1.1 Vorwürfe und Vorwurfstheorien: Worum geht es? | 15
sätzen spielen. Für die Zwecke dieser Arbeit sind exegetische Detailfragen aber zumeist nebensächlich. Ich werde in diesem Kapitel eine Variante des antiurteilstheoretischen Emotionalismus entwerfen und verteidigen und ich werde zeigen, dass diese Variante des Emotionalismus den urteilstheoretischen Alternativen überlegen ist. Zunächst sollen aber die nichtklassischen Ansätze kurz vorgestellt werden.
1.1.3 Die Vorwurfstheorien im Überblick II: Nichtklassische Ansätze Nichtklassische Ansätze zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht das Ziel verfolgen, einzelne Einstellungen zu identifizieren, von denen wir eine immer dann haben, wenn wir einen Vorwurf machen. Ich werde in diesem Unterabschnitt den Haupteinwand gegen klassische Ansätze und nichtklassische Alternativen skizzieren. Der Haupteinwand gegen die klassischen Ansätze besagt, dass eine Theorie moralischer Vorwürfe nicht versuchen sollte, einzelne Einstellungen zu identifizieren, von denen wir eine immer dann haben, wenn wir einen Vorwurf machen, weil Vorwürfe wichtige Eigenschaften haben, die man aus dem Blick verliert, wenn man dieses Ziel verfolgt. Weshalb sollte das so sein? Miranda Fricker meint, dass die Praxis des Vorwerfens in sich vielgestaltig (internally diverse 2016, S. 166) sei. Es gebe unzählige Weisen, Vorwürfe zu machen, sodass diejenigen, die nach dem größten gemeinsamen Nenner suchen, also nach der Einstellung, die all diese Phänomene teilen, nur etwas sehr Kleines finden werden. Das Ergebnis werde kaum ausreichen, unsere Praxis insgesamt verständlich zu machen. Ich werde auf Frickers Einwand später (Abschnitt 1.3.3) im Detail zu sprechen kommen. An dieser Stelle ist vor allem wichtig, dass aufgrund der hier vorgestellten und ähnlicher Überlegungen Kritikerinnen und Kritiker des klassischen Ansatzes das Ziel aufgeben, einzelne Einstellungen zu suchen, von denen eine notwendigerweise Teil jedes Vorwurfs ist. Eine erste, funktionalistische Alternative besagt, dass Vorwürfe Zustände seien, die eine bestimmte kausale Funktion haben: Sie werden typischerweise von der Wahrnehmung bestimmter Verfehlungen verursacht und verursachen ihrerseits typischerweise bestimmte Reaktionen auf Seiten der Vorwerfenden. Eine Theorie des Vorwurfs müsse diese kausale Funktion genau charakterisieren, könne dann aber offenlassen, welche Zustände sie im Einzelfall ausführen.17
_____ 17 Vgl. McGeer: „According to functionalism, folk-psychological concepts like ‚blame‛ are best understood as designating states or attitudes that typically play a certain causal role in the
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Eine zweite Alternative zu den klassischen Ansätzen ist, Vorwürfe mithilfe von nichtkausal beschriebenen Rollen, die Vorwürfe in unserem Zusammenleben spielen, zu charakterisieren. Manche meinen, die für Vorwürfe entscheidende Rolle bestehe darin, Protest auszudrücken.18 Andere argumentieren dafür, dass die für Vorwürfe charakteristische Rolle darin bestehe, eine Form des Dialogs über die scheinbare Verfehlung anzustoßen oder aufrechtzuerhalten.19 Für beide Ansätze ist es nicht nötig, einzelne Einstellungen zu identifizieren, die notwendig für Vorwürfe sind. Denn die genannten Rollen können, so der Gedanke, von ganz verschiedenen Einstellungen gespielt werden. Eine dritte Alternative zu den klassischen Ansätzen beginnt mit der Beschreibung paradigmatischer Fälle von Vorwürfen. Manche Autorinnen und Autoren schlagen vor, offene, an die Übeltäterin oder den Übeltäter gerichtete Vorwürfe als paradigmatische Fälle anzusehen – und lehnen damit ab, dass Vorwurfstheorien sich zunächst und vor allem auf Vorwurfseinstellungen konzentrieren sollten.20 Sie meinen, dass eine genaue Charakterisierung des paradigmatischen Vorwurfs dabei helfen werde festzustellen, ob andere Phänomene ebenfalls Vorwürfe sind oder nicht.
_____ cognitive economy of (typical) human beings […]. In the case of blame, it is a state that is apt for being caused by perceived wrongdoing and apt for producing certain behavioral effects“ (McGeer 2013, S. 169). 18 Vgl. z.B. Talbert (2012) und A. Smith (2013), deren Ansatz aber auch als Ausarbeitung von Scanlons unreiner Urteilstheorie verstanden werden kann. 19 Vgl. McKenna, der die Natur moralischer Vorwürfe innerhalb seiner Theorie moralischer Verantwortung beschreibt: „Understood in this light, moral responsibility is shown to be a dynamic process that is essentially interpersonal. It relates those who are and those who hold morally responsible in a fashion structurally analogous to the sort that unfolds between competent speakers of a natural language when involved in a conversational transaction. The nature of blaming, and specifically directed blaming, is a distinctive move in that kind of social practice“ (McKenna 2013, S. 128; vgl. auch 2012, Kap. 3 und 5). Es ist bemerkenswert, dass Darwall (2006, Kap. 4 insb. S. 83 f.) in seiner Analyse von Verantwortung (accountability) ebenfalls eine nichtklassische Interpretation von Vorwürfen – oder wie er hier schreibt: von reaktiven Einstellungen – zu akzeptieren scheint. Das ist überraschend, da er sich explizit in die emotionalistische Tradition von Strawson (1962) stellt. Darwall meint, dass reaktive Einstellungen wesentlich Respekt einfordern, und das müsse nicht mithilfe von Emotionen geschehen: „Persons are accountable to each other for respecting their equal dignity, and reactive attitudes demand, and mediate accountability for, this form of respect“ (Darwall 2006, S. 84). 20 Fricker beschreibt den paradigmatischen Vorwurf auf folgende Weise: „[I]n Communicative Blame you are finding fault with the other party, communicating this judgement of fault to them with the added force of some negative emotional charge“ (Fricker 2016, S. 172, Hervorhebung im Original; vgl. auch McKenna 2013).
1.2 Vorwürfe als Ärger und Schuld | 17
All diese Ansätze werden wesentlich – wenn auch nicht ausschließlich – mit einer kritischen Haltung gegenüber dem Ziel der klassischen Ansätze begründet, einzelne Einstellungen zu identifizieren, von denen wir notwendigerweise eine haben, wenn wir einen Vorwurf machen. Diese Kritik werde ich ausführlich in Abschnitt 1.3.3 diskutieren und zurückweisen.
1.2 Vorwürfe als Ärger und Schuld 1.2 Vorwürfe als Ärger und Schuld 1.2.1 Ein Minimalverständnis von Emotionen Der antiurteilstheoretische Emotionalismus identifiziert Vorwürfe mit bestimmten Emotionen und besagt, dass Emotionen keine Urteile sind. Das Wesen von Emotionen ist Gegenstand von Debatten in der Philosophie des Geistes und der Psychologie.21 Und so müssen Emotionalistinnen und Emotionalisten über Vorwürfe damit leben, dass die Details ihrer Theorie über das Wesen von Vorwürfen davon abhängen, welche Emotionstheorie man voraussetzt. Das ist jedoch weniger problematisch, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn selbst wenn die Details einer emotionalistischen Vorwurfstheorie von den Details der angenommenen Emotionstheorie abhängen, so hat sich doch ein minimales Verständnis von Emotionen etabliert, dass eine emotionalistische Vorwurfstheorie verständlich macht und, wie ich zeigen werde, stützt. Man muss zwischen Emotionen als kurzzeitige Zustände, mit denen wir auf bestimmte wahrgenommene Veränderungen reagieren – oft wird von emotionalen Episoden gesprochen – einerseits und Emotionen als langfristige mentale Haltungen oder Prozesse andererseits unterscheiden.22 Besonders deutlich wird
_____ 21 Vgl. z.B. die Aufsätze in den Sammelbänden von Lewis, Haviland-Jones und Feldman Barret (2008), Döring (2009b) und Goldie (2010). 22 Es ist interessant zu bemerken, dass sich viele Emotionstheoretikerinnen und -theoretiker auf nur eines der beiden Phänomene beschränken. So schreibt etwa Solomon, dass er sich vor allem „für die längerfristigen Narrative Othellos, Iagos, Lily Barts und meiner weniger dramengeplagten, aber trotzdem sehr emotionalen Freunde“ interessiert (Solomon 2004, S. 152). BenZe’ev dagegen schreibt über typische Emotionen, dass sie „essentially states with relative brevity“ seien (Ben-Ze’ev 2010, S. 46). Abhängig davon, um welche Emotion es genau geht, so Ben-Ze’ev, kann man eine Emotion nur wenige Sekunden, bis hin zu ein paar Stunden haben – kaum aber länger. Vgl. auch Goldie (2000, Kap. 2) und Deonna und Teroni (2012, Kap. 1) für die Unterscheidung zwischen Emotionen als lang anhaltende Prozesse oder Haltungen und kurzzeitige emotionale Episoden.
18 | 1 Was Vorwürfe sind
das am Beispiel der Trauer. Wir können sowohl sagen, dass wir gerade jetzt traurig darüber sind, dass unsere Beziehung gestern zu Bruch gegangen ist – das Gefühl der Niedergeschlagenheit –, als auch, dass wir seit Jahren um den Tod einer Freundin trauern. Im Alltag können wir Worte für Emotionen wie „Angst“ oder „Ärger“ sowohl für kurzzeitige emotionale Episoden als auch für lang andauernde Prozesse oder Haltungen verwenden. Wenn wir sagen, dass wir Angst vor dem sozialen Absturz haben, können wir damit meinen, dass wir gerade jetzt diese Angst empfinden, aber auch, dass uns eine solche Angst seit Langem umtreibt. Und genauso, wenn wir behaupten, dass Barbara sich über Alice ärgert: Wir können meinen, dass sie sich schon seit Jahren über Alice ärgert oder dass sie es in diesem einen Moment tut. Wichtig ist, dass beide Aussagen unabhängig voneinander wahr oder falsch sein können. Barbara kann jetzt in diesem Moment Ärger empfinden, ohne sich seit Langem über Alice zu ärgern und sie kann sich seit Langem über Alice ärgern, ohne jetzt oder andauernd Ärger zu empfinden. Eine vollständige Theorie der Emotionen sollte verständlich machen, wie diese beiden Phänomene zusammenhängen. Doch ist für mein Anliegen zunächst nur wichtig, dass beide sinnvollerweise als Emotionen bezeichnet werden können und in der philosophischen Diskussion auch so bezeichnet werden. Ich werde mich im Folgenden erst auf das kurzzeitige Phänomen konzentrieren, das meistens auch im Zentrum der aktuellen philosophischen und psychologischen Diskussionen steht, und später (Abschnitt 1.2.4) auf die länger andauernden Prozesse und Haltungen zurückkommen. Es herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass emotionale Episoden charakteristischerweise die folgenden drei Eigenschaften haben:23 (a) Emotionen haben eine phänomenale Qualität; das heißt, dass es sich auf eine bestimmte Weise anfühlt, eine Emotion wie etwa Angst oder Freude zu haben; (b) Emotionen haben einen repräsentationalen Gehalt; wenn wir etwa vor einer Spinne Angst haben, dann erscheint uns diese Spinne als gefährlich und damit als etwas, das eine bestimmte Bedeutung für etwas hat, das uns wichtig und wertvoll ist;
_____ 23 Vgl. z.B. Ekman (1999), Ben-Ze’ev (2001, Kap. 3; 2010), Goldie (2000, Kap. 2 und 3), Döring (2009a) und D’Arms (der auf diese Weise „sentiments“ charakterisiert 2013). Pettigrove (2012), Shoemaker (2013; 2015b, Kap. 3) und Nussbaum (2015) charakterisieren mithilfe dieser Dreiteilung anger. Shoemaker und Nussbaum beziehen sich dabei explizit auf Aristoteles (1378a). Vgl. Pettigrove (vgl. 2012 N. 58, 59 ) für weiterführende Literatur.
1.2 Vorwürfe als Ärger und Schuld | 19
(c) Emotionen haben motivierende Kraft; typischerweise sind wir zum Beispiel motiviert davonzulaufen, uns zu verstecken oder anzugreifen, wenn wir vor etwas Angst haben. In der Literatur wird darüber diskutiert, ob diese (oder andere) Eigenschaften notwendig dafür sind, eine bestimmte Emotion zu haben und wie diese Eigenschaften miteinander verknüpft sind. Am wenigsten umstritten ist, dass Emotionen notwendigerweise einen repräsentationalen Gehalt haben, denn das unterscheidet sie von sonst ähnlichen Zuständen wie Hunger haben oder Stimmungen wie gut gelaunt oder gehetzt sein. Auch ich werde im Folgenden annehmen, dass Vorwurfsemotionen notwendigerweise einen repräsentationalen Gehalt haben. Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass aus der Annahme, dass Emotionen Gehalt haben, nicht folgt, dass Emotionen Urteile sind oder beinhalten. Auch andere Einstellungen, wie zum Beispiel sich etwas vorstellen oder etwas wahrnehmen, haben einen repräsentationalen Gehalt, ohne Urteile zu beinhalten oder zu sein. Kurzzeitige Vorwürfe sind, so die These, bestimmte emotionale Episoden und gehen deshalb charakteristischerweise (a) mit bestimmten Empfindungen (phänomenale Qualität) einher; (b) notwendigerweise repräsentieren sie die Person, der man den Vorwurf macht und das, was man ihr vorwirft, auf eine bestimmte Weise (repräsentationaler Gehalt); und (c) Vorwerfende sind typischerweise motiviert, sich auf bestimmte Weise zu verhalten (motivationale Kraft). Wie genau es sich anfühlt, einen Vorwurf zu machen, wie genau man Ziel und Gegenstand des Vorwurfs repräsentiert und zu welchen Verhaltensweisen man motiviert ist, hängt davon ab, welche Emotionen Vorwürfe sind.
1.2.2 Vorwürfe als Ärger Ein naheliegender Gedanke ist, moralische Vorwürfe mit Ärger und Wut zu identifizieren.24 Ich werde zeigen, warum dieser Vorschlag zumindest auf den ersten Blick plausibel ist, ihn kritisch diskutieren und schließlich modifizieren. Zunächst stellt sich die Frage, wodurch sich Wut und Ärger überhaupt auszeichnen. Oft erscheint uns die Person, auf die wir wütend sind oder über die
_____ 24 Owens (2012, Kap. 1) scheint zu meinen, dass man immer dann, wenn man sich ärgert (anger) auch einen Vorwurf macht. Shoemaker (2013; 2015b, Kap. 3) schlägt vor, agential anger als paradigmatische Vorwürfe zu verstehen; sein Verständnis von anger ähnelt jedoch dem im folgenden Unterabschnitt skizzierten Verständnis von Empörung oder Entrüstung.
20 | 1 Was Vorwürfe sind
wir uns ärgern, als jemand, der sich problematisch verhalten hat (repräsentationaler Gehalt). Mit Wut und Ärger ist üblicherweise die Motivation verbunden, sich aggressiv zu verhalten und das Ziel der Emotion zu sanktionieren (motivierende Kraft). Außerdem sind diese Emotionen mit bestimmten Hitzeempfindungen und dem Gefühl der Anspannung verbunden (phänomenale Qualität). Wenn wir wütend sind, steigt uns zum Beispiel – wie man im Alltag vielleicht sagen würde – das Blut zu Kopf, unser Herzschlag wird schneller, die Hauttemperatur steigt an und so weiter. Der Unterschied zwischen Ärger und Wut ist, dass Wut einen intensiveren phänomenalen Charakter hat als Ärger.25 Die gerade skizzierten Empfindungen sind schwächer, wenn wir uns ärgern und stärker, wenn wir wütend sind. Vorwürfe scheinen typischerweise die gleichen Eigenschaften zu haben. Der Gedanke liegt nahe, dass Barbara die für Ärger typischen Empfindungen hat, wenn sie bemerkt, dass Alice nicht den Müll herausgebracht hat. Es dürfte ihr auch so erscheinen, als habe Alice sie ungerecht oder rücksichtslos behandelt und wahrscheinlich ist Barbara motiviert, Alice in gewissem Sinn zu sanktionieren, zum Beispiel könnte sie dazu motiviert sein, sie zur Rede zu stellen oder dazu, bei nächster Gelegenheit ihr Geschirr nicht zu spülen. Der Vorschlag, Vorwürfe mit Wut und Ärger zu identifizieren, ist jedoch mit zwei Problemen konfrontiert. Erstens können auch kleine Kinder oder nichtmenschliche Säugetiere wütend sein. Es wäre aber merkwürdig zu behaupten, dass kleine Kinder oder nichtmenschliche Säugetiere anderen Vorwürfe machen. Zweitens scheint auch nicht jede Ärgerepisode eines Erwachsenen ein Vorwurf zu sein. Oft sind wir über bestimmte Dinge oder Ereignisse wütend oder ärgern uns über sie, wie zum Beispiel darüber, dass es an unserem Geburtstag regnet. Aber werfen wir in diesem Fall irgendjemandem etwas vor? Wenn uns im Alltag jemand sagen würde, dass wir etwa dem Regen einen Vorwurf machen, würden wir das wohl zurückweisen, selbst wenn wir zugestehen, dass wir uns darüber ärgern, dass es regnet. Einerseits liegt es also nahe, dass Vorwürfe mit Ärger einhergehen, andererseits gibt es Ärgerepisoden, die keine Vorwürfe sind. Diese Gedanken lassen sich vereinen, wenn man annimmt, dass nicht jede Ärgerepisode ein Vorwurf ist, sondern nur bestimmte. Doch wie unterscheiden sich Ärgerepisoden, die sich als Vorwürfe identifizieren lassen, von solchen, die keine Vorwürfe sind? Man könnte überlegen, ob sich Vorwurfsärger dadurch auszeichnet, dass er eine besonders intensive phänomenale Qualität hat oder dadurch, dass die
_____ 25 Diesen Vorschlag machen z.B. Demmerling und Landweer (2007, Abschn. 12.7).
1.2 Vorwürfe als Ärger und Schuld | 21
Tendenz zur Sanktion bei Vorwurfsärger besonders stark oder schwach ist. Doch sind beide Versuche wenig erfolgversprechend. Vorwurfsepisoden können sowohl mit starken als auch mit sehr schwachen Empfindungen einhergehen und auch die Verhaltenstendenzen können von Fall zu Fall ganz unterschiedlich ausgeprägt sein. Erfolgversprechender ist es dagegen, verschiedene Ärgerepisoden aufgrund ihres repräsentationalen Gehalts zu unterscheiden. Jede Ärgerepisode geht damit einher, ihr Ziel als etwas zu repräsentieren, das etwas Wertvolles bedroht oder bedroht hat oder als etwas, das es erschwert oder unmöglich macht oder gemacht hat, etwas Wertvolles zu erreichen oder zu erhalten.26 Verschiedene Arten von Ärger, so der Vorschlag, spezifizieren diesen Gehalt auf verschiedene Weise. Wenn wir einen Vorwurf machen, erscheint es uns nicht nur so, als sei etwas Wertvolles auf irgendeine Weise bedroht worden, als sei es auf irgendeine Weise erschwert oder unmöglich gemacht worden, das Wertvolle zu erreichen. Es erscheint uns vielmehr so, als habe eine Person, die ihr Denken und Verhalten auf gewisse Weise unter Kontrolle hat und die die relevanten Tatsachen kennt oder kennen kann, etwas Wertvolles bedroht, es erschwert oder unmöglich gemacht, dieses Wertvolle zu bekommen oder zu erhalten. Mein Vorschlag lautet nun, dass Fremdvorwürfe spezifische Arten von Ärger sind. Vorwürfe gehen mit den für diese Emotionen typischen Empfindungen und motivationalen Tendenzen einher, doch ist ihr repräsentationaler Gehalt spezifischer als der von bloßem Ärger. Dieser Vorschlag kann erklären, weshalb wir den Ärger über den Regen nicht als Vorwurf bezeichnen würden. Wenn wir uns über den Regen ärgern, erscheint es uns zwar so, als sei etwas Wertvolles –
_____ 26 Wie genau der repräsentationale Gehalt von Ärger zu verstehen ist, ist Gegenstand von Debatten in der philosophischen und nichtphilosophischen Psychologie (vgl. zur Übersicht z.B. Berkowitz 1999). Einige Autorinnen und Autoren meinen, dass man mit Ärger vor allem darauf reagiert, dass das Erreichen bestimmter Ziele erschwert oder verhindert wird oder wurde, was mit bestimmten Zusatzannahmen die These stützen würde, dass Ärger vor allem solche Zielverhinderungen repräsentiert (vgl. z.B. Demmerling and Landweer 2007, S. 287–289; Lemerise and Dodge 2008). Andere meinen, dass (menschlicher) Ärger vor allem dadurch ausgelöst werde, dass bestimmte Autonomienormen verletzt werden oder wurden, was mit den gleichen Zusatzannahmen die These stützen würde, dass Ärger vor allem solche Normverletzungen repräsentiert (vgl. Prinz und Nichols 2010). Eine weitere Position ist, dass Ärger unter anderem in der Repräsentation besteht, dass die ego identiy desjenigen beleidigt oder angegriffen wird, der sich ärgert (vgl. Lazarus 1991, Kap. 6). All diese Positionen besagen, dass derjenige, der sich ärgert, bestimmte Dinge für wertvoll hält (bestimmte Ziele, Normen oder die ego identity) und dass es dieser Person so scheint, als seien diese Dinge bedroht (worden) oder als sei es schwerer oder unmöglich (gemacht worden), diese zu erreichen oder zu erhalten. Ich arbeite im Folgenden mit diesem minimalen repräsentationalen Gehalt von Ärger.
22 | 1 Was Vorwürfe sind
etwa das Geburtstagsfest – durch den Regen bedroht. Wir repräsentieren den Regen aber nicht als Akteur, der irgendetwas kontrollieren kann. Da eine solche Repräsentation aber, so mein Vorschlag, Teil des Vorwurfs ist, ist der Ärger über den Regen kein Vorwurf. Die These, dass ein Vorwurf eine Ärgerepisode mit diesem spezifischen Gehalt ist, kann auch erklären, weshalb kleine Kinder und nichtmenschliche Säugetiere wohl keine Vorwürfe machen können, obwohl es plausibel ist, dass sie sich ärgern. Vorwürfe gehen damit einher, bestimmte Dinge als Akteurinnen oder Akteure mit einer bestimmten Art der Kontrolle und Wissen oder Wissenkönnen zu repräsentieren. Es scheint aber plausibel, dass kleine Kinder und nichtmenschliche Säugetiere kein Verständnis davon haben, was eine Akteurin oder ein Akteur im hier relevanten Sinn ist. In dem gerade skizzierten Verhältnis von Ärger und Vorwurf stehen viele emotionale Episoden zueinander. Man denke etwa an Freude und Schadenfreude. Beide haben die gleichen phänomenalen und motivationalen Eigenschaften, unterscheiden sich aber in ihrem repräsentationalen Gehalt. Wir können uns über sehr viele verschiedene Dinge freuen, zum Beispiel darüber, dass die Sonne scheint. Das Ziel unserer Freude – das, worüber wir uns freuen – erscheint uns dann als Erfüllung eines Wunsches. Wenn wir schadenfroh sind, repräsentieren wir das Ziel dieser Emotion aber nicht nur als Erfüllung irgendeines Wunsches, sondern als Erfüllung des – vielleicht unbewussten – spezifischen Wunsches, dass eine Person einen Schaden erleidet.27 Deshalb können wir nicht schadenfroh darüber sein, dass die Sonne scheint, sondern nur darüber, dass sich unsere Nachbarin einen Sonnenbrand holt. Ähnlich ist das Verhältnis zwischen Angst und Höhenangst. Wenn wir Angst haben, erscheint uns das Ziel der Emotion, was immer es auch sei, als Gefahr. Wenn wir Höhenangst haben, erscheint uns die Höhe, auf der wir uns scheinbar befinden, als Gefahr. Wir können zum Beispiel nicht vor einer Schlange Höhenangst haben. Schadenfreude und Höhenangst sind spezifische Arten von Freude beziehungsweise Angst, da sie einen spezifischeren repräsentationalen Gehalt haben, aber die gleichen phänomenalen und motivationalen Eigenschaften. In der Literatur werden Emotionen dieser Art manchmal als kognitiv geformt (cognitively shaped) oder kognitiv elaboriert (cognitively elaborated) bezeichnet.28 Auf andere Personen gerichtete Vorwürfe sind, so schlage ich vor, kognitiv geformte Varianten von Ärger.
_____ 27 Vgl. Prinz (2004, Kap. 4). 28 Vgl. z.B. D’Arms und Jacobson (2003) und Prinz (2004, Kap. 4).
1.2 Vorwürfe als Ärger und Schuld | 23
1.2.3 Moralische und nichtmoralische Vorwürfe, Fremd- und Selbstvorwürfe Mein Vorschlag lautet also, dass auf andere Personen gerichtete Vorwürfe nicht einfach nur darin bestehen, sich zu ärgern, sondern darin, sich auf eine bestimmte Weise zu ärgern. Während Ärger den einfachen repräsentationalen Gehalt hat, dass irgendetwas etwas Wertvolles bedroht (hat), das Erreichen oder Erhalten des Wertvollen erschwert oder unmöglich macht (oder gemacht hat), haben Vorwürfe einen deutlich komplexeren Gehalt. Wenn wir einer Person einen Vorwurf machen, dann repräsentieren wir sie als eine Akteurin, die auf eine Weise etwas Wertvolles bedroht hat (oder Ähnliches), die sie in gewisser Weise unter Kontrolle hatte und die wusste, was sie tat oder die hätte wissen können, was sie tat. Wenn Barbara Alice vorwirft, dass sie ihr Versprechen gebrochen hat, den Müll herauszubringen, dann erscheint ihr Alice als Akteurin, deren Handeln etwas Wertvolles bedroht oder erschwert hat – etwa das vertrauensvolle Zusammenleben oder auch den schönen Abend mit den Gästen. Verschiedene Arten von Vorwürfen lassen sich durch ihren noch spezifischeren repräsentationalen Gehalt unterscheiden. Moralische Vorwürfe repräsentieren das Ziel der emotionalen Episode als Akteurin, die durch moralisch problematische Eigenschaften oder Handlungen, die sie in gewisser Weise kontrollieren kann und von der sie wusste oder hätte wissen können, etwas Wertvolles bedroht oder erschwert (hat). Der Grundgedanke ist, dass eine Person nur dann einen moralischen Vorwurf machen kann, wenn es ihr so scheint, als habe jemand moralisch problematische Eigenschaften oder Handlungen ausgeführt. Genauso kann eine Person nur dann Schadenfreude haben, wenn es ihr so scheint, als habe jemand einen Schaden erlitten. Dieses Verständnis von Vorwürfen ist offen dafür, dass es nichtmoralische Vorwürfe gibt. So können wir einer Künstlerin vorwerfen, mit ihren neuen Arbeiten ihren alten Idealen untreu zu werden. Dann ärgern wir uns über sie und repräsentieren sie als eine Akteurin, die durch ihr Handeln etwas Wertvolles bedroht. Die Handlungen der Künstlerin müssen uns aber nicht moralisch problematisch vorkommen. Stattdessen können sie uns als Bedrohung des hohen ästhetischen Werts der älteren Arbeiten erscheinen. In einem solchen Fall könnte man von einem ästhetischen Vorwurf sprechen. Die meisten alltäglichen Vorwürfe sind aber wohl moralischer Natur. Und vielleicht ist es sogar so, dass es zwar theoretisch möglich ist, nichtmoralische Vorwürfe zu machen, dass aber (fast) jeder Vorwurf, den wir im Alltag machen, in dem Sinn moralisch oder moralisierend ist, dass es den Vorwerfenden doch so scheint, als habe das Ziel ihrer Vorwürfe moralisch problematisch gehandelt oder eine moralisch problematische Eigenschaft. In dieser Arbeit geht es mir vor allem um moralische Vorwürfe, unabhängig davon, ob es nichtmoralische Vorwürfe tatsächlich gibt.
24 | 1 Was Vorwürfe sind
In unserer Alltagssprache stehen uns verschiedene Worte für eine Art des moralischen Ärgers, wie sie hier beschrieben wurde, zur Verfügung. Wir sprechen oft von Empörung, manchmal von Entrüstung, seltener ist von Zorn oder Groll die Rede. Die Emotionen, auf die wir mit diesen Worten verweisen, sind kognitiv geformte Varianten von Wut und Ärger, denn sie gehen mit den für Wut und Ärger charakteristischen Empfindungen und Motivationen einher, ihr repräsentationaler Gehalt ist aber spezifischer:29 Wenn wir eine dieser Emotionen haben, dann erscheint uns das Ziel unserer Emotion als eine Akteurin, die auf eine in der Regel moralisch problematische Weise etwas Wertvolles bedroht oder erschwert (hat). Wenn wir eine dieser Emotionen haben, so sagt die hier entworfene emotionalistische Theorie des Vorwurfs, machen wir denjenigen, auf die unsere Emotion gerichtet ist, einen Vorwurf. Bislang wurden Fälle in den Blick genommen, in denen eine Person einer anderen etwas vorwirft. Es gibt aber auch Fälle, in denen wir uns selbst unsere moralischen Verfehlungen vorwerfen. Wendet man die gerade angestellten Überlegungen auf diese Fälle an, dann müssten Selbstvorwürfe ebenfalls Arten von Ärger sein. Wir würden uns genau dann moralische Vorwürfe machen, wenn wir wütend auf uns selbst sind und diese Wut uns als Akteurinnen oder Akteure repräsentiert, die auf moralisch problematische Weise etwas Wertvolles bedrohen oder bedroht haben. Solche Fälle mag es durchaus geben. Charakteristischerweise geht jedoch die Wahrnehmung von eigenen moralischen Verfehlungen dieser Art mit Schuldgefühlen einher und nicht mit Ärger. Der repräsentationale Gehalt von Schuld scheint identisch mit dem Gehalt des moralischen Ärgers über sich selbst zu sein. Doch zeigen sich die offensichtlichsten Unterschiede zwischen Schuld und moralischem Ärger, wenn man die Verhaltensweisen in den Blick nimmt, zu denen man motiviert ist, wenn man diese emotionalen Episoden hat. Wer sich schuldig fühlt, ist in der Regel motiviert, seine Verfehlung wieder gutzumachen und um Verzeihung zu bitten. Wer sich über sich selbst ärgert, ist dagegen eher motiviert, sich selbst zu sanktionieren – etwa dazu, sich vor die Stirn zu schlagen. Es mag möglich sein, dass beide Emotionen gemeinsam auftreten und die gleiche Handlung motivieren – so könnte man auch seine Verfehlung wieder gutmachen, um sich selbst zu sanktionieren. Aber beide Emotionen können auch unabhängig voneinander auftreten und der alltägliche Selbstvorwurf scheint eher im Schuldgefühl zu bestehen.
_____ 29 Vgl. z.B. Cogley (2013).
1.2 Vorwürfe als Ärger und Schuld | 25
Der hier präsentierte Vorschlag lautet also, dass eine Person einer anderen genau dann einen moralischen Vorwurf macht, wenn sie sich auf eine spezifisch kognitiv geformte Art ärgert, sich etwa über sie empört, über ihr Verhalten entrüstet ist, ihr grollt oder Ähnliches. Und eine Person macht sich selbst genau dann einen Vorwurf, wenn sie eine solche auf sich selbst gerichtete Ärgeremotion hat oder wenn sie sich schuldig fühlt. Weiter zugespitzt besagt die hier vorgestellte These, dass moralische Vorwürfe mit den hier charakterisierten Emotionen identisch sind.
1.2.4 Kurzzeitige und andauernde Vorwürfe Damit der bislang skizzierte Ansatz dem Phänomen des moralischen Vorwurfs gerecht werden kann, muss an dieser Stelle auf die Unterscheidung zwischen Emotionen als kurzzeitige emotionale Episoden und lang andauernde Prozesse oder Haltungen eingegangen werden – auf den Unterschied also zwischen dem uns kurzzeitig beherrschenden Gefühl der Trauer und der Jahre anhaltenden Trauer etwa über den Tod einer guten Freundin. Bislang wurden Vorwürfe als emotionale Episoden untersucht. Es scheint aber auch das zeitlich überdauernde Pendant zu geben. So kann es durchaus sein, dass Barbara Alice schon seit Monaten vorwirft, dass sie sich nicht genug um den Haushalt kümmert. Manche Worte für Emotionen, wie etwa „Ärger“ und „Groll“, können den zeitlich andauernden Aspekt solcher Vorwürfe deutlicher machen als andere, wie etwa „Zorn“. Zorn scheint man kurz und – wenn man so will – heiß zu fühlen, während Groll und Ärger auch lang anhaltend und kalt sein können. Wir ärgern uns seit Jahren über eine Kollegin und grollen den Nachbarn vielleicht schon seit Jahrzehnten. Wenn wir behaupten, dass jemand sich schon seit Monaten über eine Person ärgert, meinen wir nicht, dass jene Person ununterbrochen bestimmte Empfindungen hat. Auch jahrelange Trauer hat nicht diese Eigenschaft. Für den lang andauernden, kalten Ärger ist es aber notwendig, die Disposition zu haben, in bestimmten Situationen auch im heißen Sinn wütend auf die Person zu sein mit all den oben beschriebenen Eigenschaften.30 Wenn Barbara nicht ein-
_____ 30 Vgl. z.B. Goldie (der einen lang andauernden emotionalen Prozess oder eine solche Haltung meint, wenn er von „an emotion“ spricht): „[O]nce the distinction between an emotion and an emotional episode is clear, I do not need to insist, for example, that my enduring love for her (the emotion) need involve feelings at all times, even when I am playing football, although it will be true that my emotion at that time involves various dispositions to have loving
26 | 1 Was Vorwürfe sind
mal die Tendenz hätte, sich über Alice aufzuregen, wenn sie schon wieder nicht abgewaschen, nicht geputzt und nicht die Katze gefüttert hat, dann wäre es falsch zu behaupten, dass sich Barbara in irgendeinem Sinn über Alice’ Nachlässigkeit im Haushalt ärgert. Es ist aber möglich, dass sich Barbara über Alice ärgert, auch wenn sie nicht jedes Mal im heißen Sinn wütend wird, wenn Alice wieder den Haushalt vernachlässigt. An manchen Tagen ist Barbara so gut gelaunt, dass ihr nicht einmal das etwas anhaben kann. Für den kalten Sinn von Ärger ist es zudem charakteristisch, das Ziel des Ärgers in einem bestimmten Licht zu sehen: Wenn wir über die Person nachdenken, über die wir uns ärgern, haben wir die Tendenz, negative Eigenschaften für besonders typisch für sie zu halten und zwar insbesondere solche Dinge, die mit dem zu tun haben, worüber wir uns ärgern. Barbara werden wohl viele kleine Hinweise darauf auffallen, dass Alice nachlässig ist. Dass der Person, die sich im kalten Sinn ärgert, bestimmte negative Dinge auffallen, ist eng damit verbunden, dass sie motiviert ist, bestimmte Verhaltensweisen an den Tag zu legen. Barbara könnte vielleicht motiviert sein, immer wieder mit Freundinnen darüber zu sprechen, wie viel Pech sie mit ihrer Mitbewohnerin hat. In solchen Situationen muss sie nicht heiße Wut empfinden. Dennoch lässt sich ihr Verhalten und Denken als charakteristisch für eine Person verstehen, die sich über ihre Mitbewohnerin ärgert. Dieses Verhalten ist Teil eines Netzes aus verschiedenen Verhaltensmustern, Einstellungen, Empfindungen und Dispositionen zu bestimmten Verhaltensweisen, Einstellungen und Empfindungen. Und genau in einem solchen Netz besteht ein lang andauernder emotionaler Prozess oder eine emotionale Haltung, wie trauern, sich über eine Person (im kalten Sinn) ärgern oder ihr grollen.31 Vorwürfe sind dem hier entwickelten Emotionalismus zufolge nicht nur kurzzeitige Formen von Ärger, sondern auch die lang anhaltenden emotionalen Prozesse oder Haltungen, die wir – etwas altmodisch – als Groll bezeichnen können. Nun lässt sich der hier entwickelte Ansatz allgemein zusammenfassen. Vorwürfe sind bestimmte Arten von Ärger oder Schuld. Man kann viele Emotionen als lang andauernde Prozesse oder zeitlich überdauernde Haltungen und als kurzzeitige Episoden verstehen. Und genau das Gleiche gilt auch für die Vorwurfsemotionen.
_____ thoughts and feelings towards her. So, looking back, I can truly say ‚I have loved her for twenty years, without ceasing to do so for a second‘“ (Goldie 2000, S. 69). 31 Vgl. Goldie (2000, Kap. 2).
1.2 Vorwürfe als Ärger und Schuld | 27
Heiße moralische Vorwürfe nenne ich die kurzzeitigen Episoden. Einer Person einen heißen moralischen Vorwurf zu machen, ist nichts anderes, als sich auf eine bestimmte Weise über sie zu ärgern, was charakteristischerweise mit bestimmten Empfindungen und der Motivation zu sanktionierendem Verhalten einhergeht. Notwendigerweise besteht die Vorwurfsemotion aus der Repräsentation, dass ihr Ziel eine Person ist, die eine gewisse Kontroll- und eine epistemische Bedingung erfüllt (hat) und die auf eine moralisch problematische Weise etwas Wertvolles bedroht (hat) oder das Erreichen oder Erhalten von etwas Wertvollem auf moralisch problematische Weise erschwert oder unmöglich macht (oder gemacht hat). Die zeitlich andauernden Pendants dazu nenne ich kalte moralische Vorwürfe. Wenn wir die Disposition haben, in bestimmten Situationen im heißen Sinn moralische Vorwürfe zu machen, wenn uns bestimmte moralisch problematische Eigenschaften von einer Person als besonders auffällig und charakteristisch für sie erscheinen und wenn uns dies dazu motiviert, bestimmte ausgrenzende oder sanktionierende Verhaltensweisen ihr gegenüber an den Tag zu legen, dann machen wir ihr kalte moralische Vorwürfe.32 Der hier vorgestellte Ansatz ist in dem Sinn emotionalistisch, dass er Vorwürfe mit bestimmten Emotionen identifiziert und Emotionstheorien nutzt, um moralische Vorwürfe zu charakterisieren.
1.2.5 Vorwürfe ohne Urteile Bislang wurden verschiedene Vorwurfstheorien vorgestellt und ich habe im Detail die These vorgestellt, dass Vorwürfe bestimmte Emotionen sind. Doch weshalb sollte man diese These glauben? Zunächst scheint sie eine gewisse Plausibilität zu haben: Das, was wir im Alltag als Vorwürfe bezeichnen, hat oft eine gewisse emotionale Färbung, sodass der Gedanke naheliegt, dass Vorwürfe selbst bestimmte Emotionen sind. Neben dieser Anfangsplausibilität hat der Emotionalismus den Vorteil, dass er ein bestimmtes alltägliches Phänomen deutlich besser erklären kann als die allermeisten Alternativansätze, nämlich dass wir manchmal Personen Vorwürfe machen, obwohl wir urteilen, dass sie
_____ 32 Ich nenne an dieser Stelle bewusst nur hinreichende Bedingungen für kalte Vorwürfe. Zwar glaube ich, dass kalte Vorwürfe notwendigerweise mit Dispositionen einhergehen, dem Ziel der Vorwürfe gegenüber im heißen Sinn Vorwürfe zu machen, doch möchte ich mich nicht darauf festlegen, dass auch die anderen beiden Bedingungen notwendig dafür sind. Mir scheint es zwar plausibel, dass dem so ist, doch glaube ich nicht, dass viel davon abhängt.
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keinerlei Schuld auf sich geladen haben und dass sie es auch nicht verdienen, dass man ihnen Vorwürfe macht. Hanna Pickard (2013) hat diesen Vorteil des Emotionalismus herausgestellt und ich werde den Gedankengang ausführlich darlegen, da er auch für die kommenden Abschnitte relevant sein wird. Urteilstheorien besagen, dass Vorwürfe notwendigerweise Urteile sind. Was ist aber ein Urteil? Vertreterinnen und Vertreter der Urteilstheorie überlassen es unserem alltäglichen Sprachgefühl, den Gehalt ihrer These zu füllen. Nun scheint es ein Element zu geben, dass Urteile besonders auszeichnet, nämlich dass die Urteilenden einen bestimmten Gedanken, also den Gehalt ihres Urteils, bejahen, ihm zustimmen oder ihm beipflichten.33 Dieses bejahende Element wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass man einen Gedanken haben kann, ohne ihn zu bejahen. Man kann sich etwas vorstellen, zum Beispiel, dass die Aussichtsplattform, auf der man sich befindet, bald abstürzen wird, ohne zu bejahen, dass es tatsächlich oder auch nur wahrscheinlich passieren wird. Oft passiert es uns auch, dass es uns so scheint, als sei etwas der Fall, ohne dass wir urteilen oder uns vorstellen, dass es so ist. Uns erscheinen Dinge auf bestimmte Weise etwa dann, wenn wir Sinneswahrnehmungen haben. Wenn wir ein Bild sehen, das uns rot gepunktet erscheint, uns aber zugleich bewusst ist, dass wir eine Rot-Grün-Sehschwäche haben, dann bejahen wir nicht, dass das Bild keinerlei grüne Punkte hat. Uns scheint es so, als sei dies der Fall, aber wir würden wohl kaum auf die Frage, welche Farbe die Punkte haben, antworten, dass alle Punkte rot sind. Genauso verhält es sich mit der berühmten Müller-Lyer-Illusion: Den meisten von uns scheint es so, als sei die Linie zwischen den spitzen Winkeln kürzer als die andere. Die wenigsten von uns würden aber die Frage bejahen, ob dem so ist. Wir urteilen, dass die Linien gleich lang sind. In Situationen wie diesen erscheint es uns so, als sei etwas der Fall, wir urteilen aber nicht, dass es der Fall ist oder urteilen sogar, dass es nicht der Fall ist.
_____ 33 Vgl. z.B. Frege (1879, §2). D’Arms und Jacobson (2000, S. 67) charakterisieren Urteile als „critically endorsed thoughts“ und Deigh schreibt über Urteile: „They are […] states that one can regard as having propositional content, which their subjects accept or affirm“ (Deigh 2010, S. 26). Urteile in diesem Sinn unterscheiden sich von unbewussten Überzeugungen, die wir uns oder anderen zuschreiben, um unser und ihr Verhalten verständlich zu machen. So müssen sich viele von uns z.B. sexistische oder rassistische Überzeugungen zuschreiben, obwohl wir explizit urteilen, dass diese falsch sind, um erklären zu können, warum wir manchmal im Dunkeln die Straßenseite wechseln, eher das Mädchen als den Jungen zum Babysitten engagieren und so weiter. Solche unbewussten Überzeugungen sind keine Urteile im hier relevanten Sinn. Vgl. dazu auch Pickard (2013, N. 5).
1.2 Vorwürfe als Ärger und Schuld | 29
Ich verstehe unter einer Urteilstheorie moralischer Vorwürfe im Folgenden eine Theorie, die besagt, dass Vorwürfe identisch mit Urteilen im gerade skizzierten, bejahenden Sinn sind oder dass solche Urteile notwendige Teile von Vorwürfen sind. Pickard (2013) argumentiert überzeugend, dass Urteilstheorien über Vorwürfe von einem Einwand getroffen werden, der typischerweise gegen kognitivistische Emotionstheorien vorgebracht wird, also gegen Theorien, die besagen, dass Emotionen Urteile sind:34 Solche Theorien können nicht erklären, dass wir manchmal über einen längeren Zeitraum hinweg vor Dingen Angst haben, von denen wir urteilen, dass sie nicht gefährlich sind. Wir haben manchmal auf einer Aussichtsplattform Angst, sind uns der Angst bewusst und zugleich urteilen wir bewusst, dass die Situation vollkommen ungefährlich ist. Sollte die Emotion der Angst das Urteil beinhalten, dass etwas gefährlich ist, würden wir in einer solchen Situation über einen längeren Zeitraum zwei sich offensichtlich widersprechende Urteile fällen, deren Inhalte uns jeweils bewusst sind. Das ist aber unplausibel. Zwar hat jeder von uns implizite Überzeugungen, die nicht gemeinsam wahr sein können. Sobald wir aber bemerken, dass wir in einer Situation geneigt sind, zwei Urteile zu fällen, deren Inhalte sich widersprechen, reagieren wir in der Regel damit, dass wir entweder eins der Urteile aufgeben oder uns enthalten. Das ist in Situationen wie der auf der Aussichtsplattform anders. Wir hören oft nicht einfach auf, uns zu fürchten und wir geben in der Regel auch nicht das Urteil auf, dass die Situation ungefährlich ist, obwohl wir bemerken, dass wir Angst haben und dass wir dieses Urteil fällen. Und diese Beobachtung stützt die These, dass bestimmte Urteile weder identisch mit bestimmten Emotionen noch notwendige Teile von Emotionen sind. Es gibt verschiedene Versuche, den repräsentationalen Gehalt von Emotionen zu erklären – der prominenteste charakterisiert ihn in Analogie zum Gehalt von Sinneswahrnehmungen.35 Doch muss ich mich an dieser Stelle auf keine Position festlegen. Wichtig ist nur, dass ich weiterhin voraussetze, dass Emotionen keine Urteile sind. Das Problem von kognitivistischen Emotionstheorien haben auch Urteilstheorien über Vorwürfe: Sie geraten damit in Konflikt, dass wir manchmal Per-
_____ 34 Vgl. für einen Überblick über Emotionstheorien und einige Standardeinwände gegen kognitivistische Emotionstheorien de Sousa (2014), Deigh (2010) sowie Deonna und Teroni (2012, Kap. 5). Vgl. für ausführliche, kritische Diskussionen von kognitivistischen Emotionstheorien z.B. D’Arms und Jacobson (2003) und Prinz (2004, Kap. 2). 35 Vgl. z.B. de Sousa (1987), Roberts (1988), Döring (2003; 2007), Prinz (2004) und Wringe (2014). Vgl. zur Übersicht und Kritik Deonna und Teroni (2012, Kap. 6).
30 | 1 Was Vorwürfe sind
sonen Vorwürfe machen, von denen wir urteilen, dass alle Urteile über sie falsch sind, die der Urteilstheorie zufolge Bestandteile von Vorwürfen sind. Nehmen wir den folgenden Fall: Emma hat Fiona versprochen, nach der Arbeit beim Bäcker Brot zu kaufen. Doch auf der einzigen Straße zum Bäcker staut sich der Verkehr wegen eines plötzlichen Unfalls gleich vor Emmas Auto so sehr, dass Emma nicht vor Ladenschluss beim Geschäft ankommt. Zufälligerweise kommt Fiona nach einem anstrengenden Arbeitstag und nach Ladenschluss am Unfall und am Stau vorbei, in dem Emma noch immer weit vor dem Geschäft feststeckt. Fiona bemerkt, dass Emma es nicht mehr rechtzeitig zum Bäcker geschafft hat und sie erkennt, dass Emma daran keine Schuld hat. Als sie nach Hause kommt, muss sich Fiona – wie vereinbart – um Abwasch und Wäsche kümmern, und während sie dies tut, merkt sie, dass sie Emma wider besseres Wissen vorwirft, dass es kein frisches Brot geben wird. Als Emma dann nach Hause kommt, kann sie einen zornigen Kommentar („Ich hoffe, Du konntest dich im Auto gut erholen!“) nicht zurückhalten. Je nachdem, welche Urteilstheorie man mit diesem Beispiel herausfordern will, muss es leicht umformuliert werden: Manche Urteilstheoretikerinnen und -theoretiker glauben, Vorwürfe beinhalten das Urteil, dass das Ziel des Vorwurfs einen mangelnden guten Willen hat, andere glauben, Vorwürfe beinhalten das Urteil, dass das Ziel des Vorwurfs die Beziehung zum Vorwerfenden beschädigt hat, dass das Ziel verdient, dass man sich über es ärgert oder Ähnliches. Um diesen Theorien gerecht zu werden, soll das Beispiel so verstanden werden, dass Fiona urteilt, dass all diese Dinge nicht auf Emma zutreffen. Situationen wie diese dürften uns aus dem Alltag, insbesondere wenn wir müde, hungrig oder gestresst sind, bekannt sein. Wir urteilen bewusst, dass unser Gegenüber keinen – sagen wir – mangelnden guten Willen an den Tag gelegt hat, trotzdem machen wir ihm Vorwürfe und bemerken dies auch. Sollte die Urteilstheorie über moralische Vorwürfe wahr sein, dann würden wir in Situationen dieser Art über einen längeren Zeitraum hinweg zwei sich offensichtlich widersprechende Urteile fällen, deren Inhalte uns jeweils bewusst sind. Aber das scheint nicht zu stimmen. Denn normalerweise geben wir, wie gesagt, in solchen Umständen ein Urteil auf oder enthalten uns. In Situationen wie der skizzierten hören wir aber nicht einfach auf, Vorwürfe zu machen und wir bejahen auch nicht, dass unser Gegenüber einen mangelnden guten Willen (oder einen ähnlichen Fehler) hat – selbst wenn wir merken, dass wir das Urteil fällen und dass wir Vorwürfe machen. In den beschriebenen Fällen erscheint es uns so, als hätte unser Gegenüber einen mangelnden guten Willen (oder Ähnliches), aber wir bejahen dies nicht. Der Emotionalismus hat keinerlei Probleme mit Fällen dieser Art. Emotionen haben einen repräsentationalen Gehalt, gehen aber – nichtkognitivisti-
1.2 Vorwürfe als Ärger und Schuld | 31
schen Theorien zufolge – nicht notwendigerweise mit Urteilen einher. In den hier diskutierten Fällen wird das Ziel des Vorwurfs von zwei unterschiedlichen Einstellungen auf unvereinbare Weise repräsentiert: Die Vorwurfsemotion repräsentiert ihr Ziel als jemanden, der eine negative Eigenschaft hat, während das Urteil die Person als jemanden repräsentieren, der diese Eigenschaft nicht hat. Beide Einstellungen sind unabhängig voneinander und wir können sie über einen längeren Zeitraum hinweg haben, selbst wenn wir merken, dass sie in Konflikt stehen. Urteilstheoretikerinnen und -theoretiker könnten nun entweder bestreiten, dass in Fällen dieser Art Vorwürfe gemacht werden oder sie könnten darauf beharren, dass die Vorwerfenden sehr wohl die für Vorwürfe notwendigen Urteile fällen. Die erste Antwort ist problematisch, weil es sich um einen geradezu paradigmatischen Fall von Vorwürfen handeln. Was, so könnte man Urteilstheoretikerinnen und -theoretiker fragen, sollen denn Vorwürfe sein, wenn nicht (wenigstens eine von) Fionas Einstellungen oder Verhaltensweisen in der beschriebenen Situation? Sie müssten dann antworten, dass sie nur als Vorwürfe verstanden werden können, wenn Fiona bestimmte Urteile fällt. Es ist aber alles andere als einleuchtend, weshalb man akzeptieren sollte, dass die Einstellungen und Verhaltensweisen im beschriebenen Fall nicht als Vorwürfe gelten, wohl aber in einem ganz ähnlichen Fall, in dem Fiona genauso reagiert, aber außerdem noch bestimmte Urteile fällt. Was, so würde man wieder fragen, ist an dem Urteil so besonders, dass in jenem Fall kein Vorwurf vorliegt, wohl aber in diesem? Die Attraktivität der Urteilstheorie scheint darin begründet zu sein, dass Vorwürfe einen gewissen Gehalt haben und deshalb korrekt oder inkorrekt sein können. Urteile sind nun typische Beispiele für Einstellungen, die Gehalt haben und korrekt oder inkorrekt sind. Doch haben Emotionen ebenfalls einen bestimmten Gehalt und können deshalb ebenfalls korrekt oder inkorrekt sein. Ich sehe daher keinen Grund für die Annahme, dass Vorwürfe Urteile sein müssen. Die zweite Reaktion der Urteilstheoretikerinnen und -theoretiker besteht darin, darauf zu beharren, dass die Vorwerfenden in Fällen der beschriebenen Art sehr wohl die relevanten Urteile fällen. Hier liegt aber der Verdacht nahe, dass sie etwas anderes unter einem Urteil verstehen.36 Ich bin bislang von der
_____ 36 Solomon (2004) entwickelt eine, wie mir scheint, idiosynkratische Theorie des Urteils, um plausiblerweise behaupten zu können, dass Emotionen Urteile sind. Deshalb gibt es wohl zwischen Solomon und bestimmten nichtkognitivistischen Emotionstheorien keine sachliche Dif-
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Annahme ausgegangen, dass sich Urteile vor allem dadurch auszeichnen, dass Urteilende den Gehalt ihres Urteils bejahen, ihm zustimmen oder ihm beipflichten. Es scheint, als würden Urteilstheoretikerinnen und -theoretiker, die darauf pochen, dass Fiona etwa urteilt, dass Emma einen mangelnden guten Willen an den Tag gelegt hat, ablehnen, dass Urteile notwendigerweise dieses Merkmal haben. Vielleicht verstehen sie unter „S urteilt, dass p“ schon, dass es S so scheint, als ob p. Wenn dem so ist, dann müsste man mit ihnen vor allem darüber diskutieren, wie das Wort „Urteil“ verwendet werden sollte. In jedem Fall wären diese Urteilstheoretikerinnen und -theoretiker aber herausgefordert, mehr darüber zu sagen, was sie unter einem Urteil verstehen. Und ihre These, dass Vorwürfe Urteile sind, wäre nur dann akzeptabel, wenn ihre Urteilskonzeption unabhängig von der Frage nach dem Wesen von Vorwürfen plausibel ist. Die gerade angestellten Überlegungen sollen nicht bestreiten, dass wir im Alltag sehr oft Vorwürfe machen und urteilen, dass das Ziel des Vorwurfs mangelnden guten Willen oder dergleichen hat. Mir scheint, dass unsere Vorwürfe in der Regel von Urteilen dieser Art begleitet werden. Es wurde hier nur dafür argumentiert, dass es nicht notwendig für einen Vorwurf ist, ein solches Urteil zu fällen, sodass es nicht ein notwendiger Teil des Vorwurfs sein kann. Als Fazit lässt sich festhalten, dass anti-urteilstheoretische emotionalistische Vorwurfstheorien besser dazu in der Lage sind, ein sehr alltägliches Phänomen zu erklären als Alternativtheorien, nämlich dass unsere Vorwürfe auf bestimmte Weise in Konflikt geraten können mit unseren Urteilen. Der Emotionalismus ist also nicht nur auf den ersten Blick plausibel, er hat auch theoretische Vorteile gegenüber seinen Konkurrenten.
1.3 Kraft, Emotionalität und Vielgestaltigkeit des Vorwerfens 1.3 Kraft, Emotionalität und Vielgestaltigkeit des Vorwerfens 1.3.1 Die Kraft des Vorwerfens Der Grundgedanke, dass Vorwürfe Emotionen sind, ist in der philosophischen Debatte aufs engste an Peter Strawsons Überlegungen zu reaktiven Einstellungen und an R. Jay Wallace’ daran anknüpfende Verantwortungstheorie gebunden.37 Eine ähnliche Position lässt sich auch bei bei Allan Gibbard und Ernst
_____ ferenz, sondern nur eine darüber, wie das Wort „Urteil“ (judgment) am besten verwendet wird. Vgl. für eine ähnliche Beobachtung D’Arms und Jacobson (2000, N. 4). 37 Vgl. Strawson (1962), Wallace (1994, Kap. 2 und 3).
1.3 Kraft, Emotionalität und Vielgestaltigkeit des Vorwerfens | 33
Tugendhat finden (der allerdings vom Tadel und nicht vom Vorwurf spricht).38 Bislang habe ich diesen Grundgedanken mit einem Blick darauf, was Emotionen sind, als Emotionalismus über Vorwürfe ausbuchstabiert. Diese Position werde ich nun ausbauen, indem ich zeige, dass sie viele weitere alltägliche Intuitionen über Vorwürfe auf elegante Weise einfangen kann. Die Diskussion wird dabei die Form einer Verteidigung annehmen. Denn in den vergangenen Jahren ist von verschiedenen Autorinnen und Autoren behauptet worden, dass der Emotionalismus besonders schwerwiegende Probleme damit habe, bestimmte alltägliche Vorstellungen über Vorwürfe zu erhellen und dass er sogar mit ihnen in Konflikt gerate. Insbesondere wird behauptet, der Emotionalismus könne nicht erklären, dass Vorwürfe eine bestimmte Wichtigkeit für unser alltägliches Zusammenleben haben, es wird eingewandt, dass es einfach unplausibel sei, dass wir immer Emotionen haben, wenn wir Vorwürfe machen und es wird argumentiert, dass der Emotionalismus der Vielgestaltigkeit unserer Vorwurfspraxis nicht gerecht werden könne. Ich werde diese drei Einwände der Reihe nach zurückweisen. Vorwürfe scheinen eine besondere Bedeutung für unser Leben und unser soziales Miteinander zu haben. Das scheint nicht nur für offen ausgedrückte Vorwürfe, sondern genauso für die privaten Vorwurfseinstellungen zu gelten, um die es in dieser Arbeit vor allem geht: Zu wissen, dass man das Ziel von Vorwurfseinstellungen ist, ist den meisten von uns höchst unangenehm und wir fühlen uns dadurch oft auf eine noch zu charakterisierende Weise herausgefordert. In der Literatur wird in diesem Zusammenhang von der Kraft (force)39, dem Gewicht (weight)40 oder dem Stachel (sting)41 von Vorwurfseinstellungen gesprochen. Und es wird diskutiert, wie dieser Charakter erklärt werden kann. Manche Autorinnen und Autoren meinen, dass emotionalistische Vorwurfstheorien besondere Schwierigkeiten damit haben, verständlich zu machen, weshalb Vorwürfe eine solche Kraft haben. In diesem Abschnitt werde ich den Kraftlosigkeitseinwand genauer darstellen und dann zurückweisen. Zunächst muss aber festgehalten werden, dass die folgende Diskussion auf einer Annahme beruht, die vielleicht nicht alle teilen werden, nämlich dass Vorwurfseinstellungen überhaupt irgendeine Bedeutung für unser soziales Miteinander haben. Manche könnten einwenden, dass das bloße Haben von Einstellungen nur für diejenigen Bedeutung haben kann, die diese Einstellung ha-
_____ 38 39 40 41
Vgl. Gibbard (1990, Kap. 3), Tugendhat (2006). Vgl. z.B. Hieronimy (2004). Vgl. z.B. Scanlon (2008, Kap. 4). Vgl. z.B. McKenna (2013) und Pickard (2013).
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ben. Für alle anderen sei es, so der Gedanke, nur relevant ob die Einstellungen in Verhaltensweisen ausgedrückt werden. Ich werde Überlegungen dieser Art ausführlicher zu Beginn von Kapitel 3 diskutieren. Hier werde ich einfach, wie in der Literatur üblich, voraussetzen, dass auch das Haben von Vorwurfseinstellungen einen Stachel, Gewicht und eine Kraft haben kann und zwar nicht nur für diejenigen, die sie haben, sondern auch für diejenigen, auf die sie gerichtet sind. Das kann ich an dieser Stelle tun, weil mein vorrangiges Ziel darin besteht, den Emotionalismus über Vorwürfe zu verteidigen. Der hier diskutierte Einwand besagt, dass dieser Ansatz Probleme damit habe, die Kraft von Vorwurfseinstellungen zu erklären. Dieser Einwand setzt also voraus, dass solche Einstellungen eine gewisse Kraft haben. Falls diese Voraussetzung nicht stimmen sollte, muss der antiurteilstheoretische Emotionalismus auch nicht gegen den Einwand verteidigt werden. Wer die Annahme nicht teilt, kann also die folgenden Überlegungen überspringen, ohne dass dadurch der hier vertretene Ansatz an Plausibilität verliert. Damit komme ich zum Kraftlosigkeitseinwand. Pamela Hieronymi beschreibt ihn auf folgende Weise: [I]t is unclear how the affective accompaniment of a judgment could, itself, carry the characteristic force of blame. An affective accompaniment of a judgment would be a certain unpleasant emotional disturbance, occasioned by the judgment. But, the force of blame seems deeper, more serious or weighty than simply being the object of certain unpleasant emotional disturbance. The affect, itself, seems insufficiently robust (Hieronymi 2004, S. 121). Hieronymi meint, dass nur der Gehalt eines bestimmten Urteils die Kraft haben könne, die für Vorwürfe charakteristisch sei. Ob dieses Urteil von irgendwelchen Affekten begleitet werde, sei für die Kraft dieses Urteils gleichgültig. Schließlich handle es sich bei den für Vorwürfe vielleicht typischen Affekten nur um eine „unpleasant emotional disturbance“. Hieronymi scheint die phänomenale Qualität von Emotionen zu meinen, wenn sie von Affekten spricht und nicht die Emotionen selbst. Emotionen beinhalten, dem oben skizzierten Minimalverständnis zufolge, neben den Empfindungen einen repräsentationalen Gehalt und motivationale Tendenzen. Wenn eine Person auf eine andere wütend ist, hat sie charakteristischerweise bestimmte Empfindungen, aber es erscheint ihr auch so, als hätte die andere Person etwas Wertvolles bedroht und sie ist motiviert dazu, sich sanktionierend ihr gegenüber zu verhalten. Typische emotionale Episoden bestehen wenigstens aus diesen drei Komponenten.
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Ob solche emotionalen Episoden eine bestimmte Kraft oder einen Stachel haben, hängt davon ab, was man mit Kraft oder Stachel meint. In der Literatur wird diese Frage vernachlässigt und es wird ein intuitives Verständnis vorausgesetzt. Ich werde im Folgenden drei Verständnisse diskutieren und zeigen, wie der Emotionalismus die so verstandene Kraft von Vorwürfen erklären kann. Eine Möglichkeit, die Behauptung zu verstehen, dass Vorwürfe einen Stachel haben, ist, dass es typischerweise unangenehm ist, das Ziel von Vorwürfen zu sein, dass wir es also in der Regel einfach nicht mögen, wenn man zum Beispiel empört über uns ist.42 Ob eine einzelne Vorwurfsemotion für ein bestimmtes Ziel dieser Emotion unangenehm ist oder nicht, hängt dann unter anderem davon ab, ob und wenn ja, wie sie vom Vorwerfenden ausgedrückt wird, von den Charaktereigenschaften des Ziels des Vorwurfs – ob es besonders selbstbewusst ist oder sich die Reaktionen anderer sehr zu Herzen nimmt – und von der Situation, in der das Ziel des Vorwurfs bemerkt, dass ihm ein Vorwurf gemacht wird – ob es vielleicht betrunken ist oder gerade eine depressive Verstimmung hat oder Ähnliches.43 Im Allgemeinen scheint es aber sehr plausibel, dass Wut und Ärger einen solchen Stachel haben. Wenn wir merken, dass andere wütend auf uns sind, reagieren wir oft selbst damit, unsererseits wütend zu werden. Wütend werden wir aber nur, wenn es uns so scheint, als würde irgendetwas unseren Wünschen und Wertvorstellungen zuwiderlaufen. Daraus folgt, dass es uns oft so scheint, als laufe es unseren Wünschen und Wertvorstellungen zuwider, dass andere wütend auf uns sind oder sich über uns ärgern. Es ist uns einfach oft unangenehm. Man kann den Stachel und die Kraft von Vorwürfen aber auch zweitens so verstehen, dass wir, wenn wir merken, dass uns jemand Vorwürfe macht, uns von Vorwürfen herausgefordert fühlen, uns zu rechtfertigen, zu entschuldigen oder, wenn wir einsehen, dass sie angemessen sind, um Verzeihung zu bitten. Dieser Stachel sitzt tiefer, weil er nicht nur unangenehm ist, sondern uns zu spezifischen Reaktionen herausfordert. Ob ein emotionalistisch verstandener Vorwurf diesen Stachel hat, hängt ebenfalls davon ab, ob und wenn ja, wie der Vorwurf ausgedrückt wird, von der Psyche des Ziels des Vorwurfs und von der Situation, in der es bemerkt, dass es Ziel eines Vorwurfs ist. Aber es ist ebenfalls plausibel, dass die oben beschriebenen kognitiven Varianten von Wut und Ärger – Empörung, Zorn, Entrüstung,
_____ 42 Dieses Verständnis setzt Pickard (2013) voraus. 43 Vgl. Pickard (2013, S. 619).
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Groll – oft einen solchen Stachel haben: Wenn wir bemerken, dass jemand empört über uns ist, scheint es eine ganz natürliche Reaktion zu sein zu versuchen, sich zu rechtfertigen oder eine Entschuldigung anzugeben. Und wenn wir einsehen, dass wir mit diesen Versuchen scheitern, kommt es auch vor, dass wir um Verzeihung bitten. Es ist wichtig zu betonen, dass die Frage, ob emotionalistisch verstandene Vorwürfe einen Stachel haben, bislang rein empirisch verstanden wurde. Es wurde gefragt, ob Vorwürfe üblicherweise bestimmte, als negativ empfundene Reaktionen in denjenigen auslösen, die bemerken, dass sie das Ziel der Vorwurfsemotionen sind. Eine wirklich überzeugende Antwort auf diese Frage kann natürlich nur mithilfe von empirischen Untersuchungen gegeben werden. Aber die hier angestellten Überlegungen legen zumindest nahe, dass die Frage bejaht werden kann.44 Zugleich liegt aber der Verdacht in der Luft, dass mit dem Stachel und der Kraft von Vorwürfen noch etwas anderes gemeint sein könnte. Denn einerseits scheint es mir einfach offensichtlich, dass es den meisten von uns unangenehm ist, wenn andere Leute zornig auf uns sind und dass wir uns dadurch herausgefordert fühlen, sodass kaum zu sehen ist, wie Autorinnen und Autoren wie Hieronymi daran zweifeln können, dass emotionalistisch verstandene Vorwürfe diese Kraft haben. Andererseits ist nicht zu sehen, weshalb philosophische Theorien über das Wesen von Vorwürfen sich so stark abhängig machen sollten von empirischen Spekulationen darüber, ob Vorwürfe eine bestimmte kausale Kraft haben oder nicht. Mir scheint daher, dass mit der Kraft von Vorwürfen nicht immer nur ihre typische kausale Wirkung gemeint ist, sondern manchmal auch eine normative Kraft. Wenn von der Kraft oder dem Stachel von Vorwürfen die Rede ist, ist zumindest in bestimmten Kontexten, wie mir scheint, nicht nur gemeint, dass Vorwürfe die Tendenz haben, bestimmte Reaktionen auszulösen, sondern auch dass sie bestimmte Reaktionen angemessen machen. Die dritte Weise, die Kraft von Vorwürfen zu verstehen, ist also die folgende: Wenn ich bemerke, dass mir eine Person einen Vorwurf macht, ist es unter sonst gleichen Umständen angemessen, dass ich mich ihr gegenüber rechtferti-
_____ 44 Scanlon (2008, S. 186 f.) versteht die Aufgabe, das Gewicht und die Wichtigkeit von Vorwürfen zu erklären, so, dass eine Theorie des Vorwurfs verständlich machen sollte, dass wir Grund haben zu wünschen, nicht das Ziel von Vorwürfen zu sein. Diese Aufgabe scheint die emotionalistische Vorwurfstheorie zu erfüllen: Wir mögen es in der Regel nicht, dass andere wütend auf uns sind und wir mögen es in der Regel nicht, uns auf die für Vorwürfe typische Weise herausfordern zu lassen. Und so haben wir in der Regel Grund, uns zu wünschen, nicht das Ziel von Vorwürfen zu sein.
1.3 Kraft, Emotionalität und Vielgestaltigkeit des Vorwerfens | 37
ge, entschuldige oder erkläre; wenn ich einsehe, dass der Vorwurf angemessen ist und die Vorwerfende auch das Opfer ist, dann ist es auch angemessen, dass ich um Verzeihung bitte. Vorwürfe sind selbst normative Gründe dafür, bestimmte Handlungen oder Sprechakte auszuführen. Kann der Emotionalismus über Vorwürfe das erklären? Die gerade gestellte Frage setzt voraus, dass es der Fall ist, dass Vorwürfe normative Gründe für das Ziel der Vorwürfe sind, sich zu rechtfertigen, zu entschuldigen oder um Verzeihung zu bitten. Es gibt jedoch Gegenbeispiele zu dieser Annahme. Ein solches Gegenbeispiel entsteht dadurch, dass man den Fall von Fiona und Emma leicht verändert und annimmt, dass nicht nur alle Beteiligten wissen, dass Emma keine Schuld hat, sondern dass auch Emma weiß, dass alle dieses Wissen haben. Wir können uns zum Beispiel vorstellen, dass Emma gesehen hat, dass Fiona sie im Stau erkannt hat. Stellen wir uns also vor, dass Emma weiß, dass Fiona weiß, dass Emma keinerlei negative Eigenschaft an den Tag gelegt hat, die es rechtfertigen würde, ihr Vorwürfe zu machen. Nun macht Fiona Emma aber trotzdem einen Vorwurf – wie im ursprünglichen Fall. Ist dieser Vorwurf ein normativer Grund für Emma zu erklären, dass sie nur deshalb kein Brot kaufen konnte, weil sie im Stau stecken geblieben ist? Das scheint nicht der Fall zu sein. Emma weiß, dass Fiona all das weiß. Emma hat jetzt vielleicht einen Grund, deutlich zu machen, dass sie weiß, dass Fiona weiß, dass sie im Stau stecken geblieben ist. Fionas Vorwurf ist aber kein Grund für Emma, Fiona all das zu sagen, was sie ohnehin schon weiß und von dem Emma weiß, dass Fiona es weiß. Vielleicht hat Emma andere Gründe, sich Fiona gegenüber zu erklären – etwa dass sie nur auf diese Weise einen heftigen Streit vermeiden kann. Doch Fionas Vorwurf selbst ist kein Grund für Emma, sich zu erklären. Denn Emma weiß, dass Fiona ihre Entschuldigung schon kennt.45 Diese Version des Falls von Emma und Fiona zeigt, dass nicht alle Vorwürfe die gesuchte normative Kraft haben. Man könnte versuchen, dieses Ergebnis zu vermeiden, indem man entweder verneint, dass es sich bei Fionas Verhalten
_____ 45 Der Fall hat folgende allgemeine Struktur: Alle Beteiligten wissen, dass Person A keine moralisch negative Eigenschaft x hat und dass x notwendig dafür ist, dass man einer Person angemessenerweise Vorwürfe machen kann. A weiß außerdem, dass alle das wissen. B wirft A vor, x zu haben. Wenn alle Vorwürfe Gründe dafür wären, sich gegenüber der Vorwerfenden zu entschuldigen, zu erklären, zu rechtfertigen oder das Opfer um Verzeihung zu bitten, dann hätte A jetzt einen Grund zu erklären, dass sie x nicht hat. Das scheint aber nicht zu stimmen. Der Vorwurf selbst ist kein Grund für A zu zeigen, dass sie x nicht hat, weil A weiß, dass alle wissen, dass sie x nicht hat.
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oder Einstellungen um Vorwürfe handelt oder indem man behauptet, dass Emma wohl einen normativen Grund hat, sich zu erklären. Die erste Antwort habe ich oben bereits zurückgewiesen und die zweite ist schlicht unplausibel. Nun scheint es aber auch so zu sein, dass wir oft Grund haben, uns zu rechtfertigen, zu entschuldigen, zu erklären oder um Verzeihung zu bitten, wenn man uns Vorwürfe macht. Und mit dieser These ist der Emotionalismus über Vorwürfe problemlos vereinbar. Angenommen, wir haben uns in relevanter Weise schuldig gemacht und das Opfer, das in der richtigen Position dazu ist, wirft uns unser Vergehen vor.46 In diesem Fall scheinen wir, in sonst gleichen Umständen, Grund zu haben, um Verzeihung zu bitten. Das liegt aber nicht daran, dass uns das Opfer einen Vorwurf macht, sondern daran, dass wir uns schuldig gemacht haben und daran, dass das Opfer in der richtigen Position ist, uns Vorwürfe zu machen. Dass der tatsächliche Vorwurf hier normativ irrelevant ist, erkennt man daran, dass wir auch dann Grund hätten, um Verzeihung zu bitten, wenn die Person uns keinen Vorwurf machen würde. Angenommen, in einem zweiten Fall haben wir uns nicht schuldig gemacht, eine Person urteilt aber, dass wir uns schuldig gemacht haben, macht uns einen Vorwurf und wäre auch in der richtigen Position, uns Vorwürfe zu machen, wenn wir uns schuldig gemacht hätten. Hier haben wir, bei sonst gleichen Umständen, Grund zu erklären, dass wir uns tatsächlich nicht schuldig gemacht haben. Das liegt aber daran, dass die Person urteilt, dass wir uns schuldig gemacht haben, daran, dass dies falsch ist und daran, dass die Person grundsätzlich in der richtigen Position wäre, uns Vorwürfe zu machen. Denn schließlich hätten wir auch Grund, uns zu erklären, wenn die andere Person nur das Urteil fällen, uns aber keinen Vorwurf machen würde. Der tatsächliche Vorwurf ist also auch hier normativ irrelevant. Auf diese Weise kann also erklärt werden, dass wir oft Grund haben, auf bestimmte Weise zu reagieren, wenn man uns Vorwürfe macht, auch wenn die Vorwürfe selbst diese Gründe nicht liefern. Und die vorgestellten Erklärungen sind problemlos mit dem Emotionalismus über Vorwürfe vereinbar. Als Fazit lässt sich festhalten, dass der Emotionalismus keinerlei Probleme damit hat, die Kraft, den Stachel oder das Gewicht von Vorwürfen zu erklären. Versteht man die Aussage, dass Vorwürfe diese Eigenschaft haben, als empirische These darüber, dass Vorwurfseinstellungen bestimmte Reaktionen auslösen, wenn das Ziel des Vorwurfs bemerkt, dass es Ziel eines Vorwurfs ist, ist es
_____ 46 Ich werde in Kapitel 3 ausführlich die Frage diskutieren, wer in der richtigen Position ist, Vorwürfe zu machen.
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sehr plausibel, dass wir es nicht mögen, dass andere empört über uns sind und dass wir uns dadurch herausgefordert fühlen. Versteht man die Aussage als die normative These, dass alle Vorwurfseinstellungen bestimmte Reaktionen angemessen machen, dann ist sie falsch. Schließlich habe ich gezeigt, dass der Emotionalismus problemlos damit vereinbar ist, dass es oft angemessen ist, auf bestimmte Weise zu reagieren, wenn man das Ziel eines Vorwurfs ist. Der Kraftlosigkeitseinwand gegen den Emotionalismus über Vorwürfe ist damit zurückgewiesen worden.
1.3.2 Die Emotionalität des Vorwerfens Der Einfach-unplausibel-Einwand ist die Behauptung, dass wir nicht immer eine Emotion haben, wenn wir einen moralischen Vorwurf machen und dass wir erst recht nicht immer wütend sind oder uns ärgern, wenn wir einer anderen Person etwas vorwerfen. Das ist der wohl am weitesten verbreitete – und für einige Autoren auch wichtigste – Einwand gegen emotionalistische Vorwurfstheorien.47 In diesem Unterabschnitt werde ich zunächst einige bekannte Versionen dieses Einwands vorstellen und dann zurückweisen. Typischerweise wird der Einfach-unplausibel-Einwand gestützt durch Beispiele, in denen es einerseits so scheint, als würde eine Person einer anderen einen Vorwurf machen und in denen es zugleich so scheint, als hätte die Vorwerfende keine Emotion oder zumindest nicht die von bestimmten Emotionalistinnen und Emotionalisten favorisierte. So schreibt etwa George Sher: We may, for example, feel no hostility toward the loved one whom we blame for failing to tell a sensitive acquaintance a hard truth, the criminal whom we blame for a burglary we read about in the newspaper, or the historical figure whom we blame for the misdeeds he performed long ago. As [these] examples suggest, blaming is something that we can do regretfully or dispassionately (Sher 2006, S. 88). Wenig später fasst Sher zusammen: We simply do not have the emotional resources to muster even a twinge of hostility toward each of the innumerable miscreants, scoundrels, and thugs
_____ 47 Vgl. z.B. Tognazzini (2013).
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– many of them long dead – whom we blame for what we know to be their bad behavior or bad character (Sher 2006, S. 89). Ähnlich argumentiert Angela Smith: After repeated disappointments, for example, I may have lost my ability to feel anger toward an unreliable friend, yet I may still protest his treatment of me by cutting off relations with him. In doing this, […] I make clear that I blame him, even if my predominant feeling is one of sadness (A.M. Smith 2013, S. 41).48 Ob diese Überlegungen wirklich Einwände gegen den Emotionalismus über Vorwürfe sind, hängt zum einen davon ab, welche Emotionstheorie man voraussetzt und zum anderen davon, was es heißt, dass man die Fähigkeit verloren hat, Ärger zu empfinden (lost my ability to feel anger) beziehungsweise dass man nicht die emotionalen Ressourcen habe, auch nur einen Anflug von Feindseligkeit aufzubringen (emotional resources to muster even a twinge of hostility). Ich werde mich im Folgenden auf Smith’ Version des Einfach-unplausibelEinwands konzentrieren, doch ist meine Antwort problemlos auf Shers Version übertragbar. Smith beschreibt einen Fall, in dem eine Person, sagen wir Barbara, nicht in der Lage ist, einer anderen gegenüber, sagen wir Alice, Ärger zu empfinden (feel). Ärgerepisoden (und auch Ärger im Sinn eines langfristigen emotionalen Prozesses oder einer emotionalen Haltung) sind aber, dem in Unterabschnitt 1.2.1 skizzierten Minimalverständnis zufolge, mehr als eine bloße Empfindung. Zwar würde niemand bestreiten, dass Ärgerepisoden typischerweise mit bestimmten Empfindungen einhergehen, man könnte aber bestreiten, dass Ärgerempfindungen oder -gefühle notwendig für Ärgerepisoden sind.49 Wer also eine Emotionstheorie akzeptiert, die besagt, dass Gefühle und Empfindungen nicht notwendig für emotionale Episoden sind, der kann zustimmen, dass Barbara zwar keinen Ärger empfindet, trotzdem aber eine Ärgerepisode durchlebt. Dann
_____ 48 Ähnlich Einwände finden sich u.a. auch bei Kekes (2009) und Fricker (2016). 49 So schreibt z.B. Nussbaum: „[A]nger is typically accompanied by a wide range of bodily changes and subjective feeling-states. But these bodily changes and subjective feelings, though important in their way, have too little constancy for them to be included in the definition of anger as necessary conditions of that emotion. For one thing some anger isn’t felt at all, like a fear of death that lurks beneath the surface of awareness“ (Nussbaum 2015, S. 43; vgl. auch Nussbaum 2001, Kap. 1 und 2).
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ist der beschriebene Fall kein Gegenbeispiel zur These, dass Vorwürfe Emotionen sind. Die meisten Emotionstheoretikerinnen und -theoretiker gehen jedoch von der, wie mir scheint plausiblen, Annahme aus, dass Gefühle und Empfindungen notwendig für emotionale Episoden sind. Selbst wenn man diese Annahme teil, folgt noch nicht, dass der Emotionalismus impliziert, dass Barbara Alice keine Vorwürfe macht. Zuerst sollte man nämlich fragen, ob Barbara die sehr spezifische Fähigkeit verloren hat, Alice gegenüber in der Situation Ärger zu empfinden, in der sie die Beziehung zu ihr abbricht. Oder hat Barbara eine allgemeinere Fähigkeit verloren, Alice gegenüber Ärger zu empfinden, vielleicht sogar die ganz allgemeine Fähigkeit, sich überhaupt über Alice zu ärgern? Ich beginne mit dem Fall, in dem Barbara die spezifische Fähigkeit verloren hat, sich in der konkreten Situation über Alice zu ärgern. Das kann daran liegen, dass sie bestimmte Medikamente genommen hat, die ihre Empfindungsfähigkeit hemmen, daran dass sie eine depressive Verstimmung durchmacht oder auch einfach nur daran, dass sie derart traurig über die zerbrochene Freundschaft ist, dass das Gefühl der Niedergeschlagenheit all ihre Empfindungen beherrscht. Dann handelt es sich nicht um ein Gegenbeispiel zum Emotionalismus über Vorwürfe. Denn Barbara kann sich noch immer im kalten Sinn über Alice ärgern. Dieser kalte Ärger besteht in der Disposition zu Ärgerepisoden und geht typischerweise mit der Tendenz einher, Alice in einem bestimmten Licht zu sehen und sich Alice gegenüber sanktionierend und aggressiv zu verhalten. Dass Barbara nun alle Beziehungen zu Alice abbricht, kann durchaus als sanktionierendes Verhalten verstanden werden. Wenn man also über mehr Hintergrundinformationen über Barbara verfügt, kann ihr Verhalten als Aktualisierung einer Disposition verstanden werden, die Teil dessen ist, was ich kalten Ärger nenne – die lang anhaltende emotionale Haltung oder der emotionale Prozess, den wir als Groll bezeichnen können. Und dies setzt nicht voraus, dass Barbara irgendwelche Ärgerempfindungen hat, wenn sie die Beziehungen zu Alice abbricht. Wenn sich Barbara also in diesem kalten Sinn über Alice ärgert oder ihr grollt, dann können Vertreterinnen und Vertreter des Emotionalismus zustimmen, dass sie Alice einen Vorwurf macht, wenn sie die Beziehung abbricht. Der von Smith beschriebene Fall ist also nicht notwendigerweise ein Gegenbeispiel zum Emotionalismus über Vorwürfe. Doch lässt sich der Fall auch auf eine Weise ausbauen, sodass Smith und Vertreterinnen und Vertreter des Emotionalismus zu unterschiedlichen Ansichten darüber gelangen, ob Barbara einen Vorwurf macht. Angenommen, Barbara hat die ganz allgemeine Fähigkeit verloren, sich überhaupt über Alice zu ärgern. Selbst wenn sie sich auf Alice’ Unzuverlässigkeit konzentriert, wenn sie keine Medikamente genommen hat
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und keine andere Empfindung überwiegt, ist sie nicht in der Lage, Alice gegenüber Ärger zu empfinden. Wenn man nun, wie ich es hier tue, annimmt, dass Empfindungen notwendig für emotionale Episoden sind, dann besagt der Emotionalismus, dass Barbara nicht mit einem Vorwurf reagiert. Gegnerinnen und Gegner des Emotionalismus mögen auf diese Weise begründen, dass der Emotionalismus nicht haltbar sei. Doch werde ich nun zeigen, weshalb dieser Schluss voreilig wäre. Eine Überlegung, die dafür spricht, Vorwürfe mit Ärgeremotionen zu identifizieren ist, dass Vorwürfe ein aggressives und deshalb destruktives Potential haben. Diese aggressive Dimension von Vorwürfen macht verständlich, weshalb uns Vorwürfe im Alltag und in der philosophischen Reflexion so wichtig sind. Erstens ist es sehr einleuchtend, dass wir es im Alltag einfach nicht mögen, das Ziel aggressiver Einstellungen zu sein. Zweitens wird in der philosophischen Literatur diskutiert, ob es fair oder angemessen sein kann, einer Person Vorwürfe zu machen, obwohl ihr ganzes Verhalten und Denken von Kausalketten bestimmt wird, die lange vor ihrer Geburt begonnen haben. Das ist eine der zentralen Fragen in der Debatte um die Vereinbarkeit von Verantwortung und Determinismus und um sie zu beantworten, müssen die Angemessenheits- oder Fairnessbedinungen von Vorwürfen geklärt werden. Wenn man annimmt, dass Vorwürfe ein aggressives Potential haben, wird es verständlich, weshalb sich Philosophinnen und Philosophen derart intensiv mit den Angemessenheitsbedingungen von Vorwürfen auseinandersetzen: Es scheint problematisch zu sein, sich gegenüber einer Person aufgrund einer Tatsache aggressiv zu verhalten, die das Ergebnis von Kausalketten ist, die lange vor ihrer Geburt begonnen haben. Drittens fragen sich einige Autorinnen und Autoren, ob es nicht besser wäre, unsere Praxis des Vorwerfens insgesamt aufzugeben und durch eine friedlichere zu ersetzen. Diese Debatte, auf die ich ausführlich in Kapitel 4 eingehen werde, beruht auf der Annahme, dass Vorwürfe etwas Aggressives und deshalb potentiell Destruktives sind. Wenn man es nun für plausibel hält, dass Vorwürfe eine aggressive und destruktive Dimension haben, ist es sehr naheliegend, Vorwürfe mit Ärgeremotionen zu identifizieren. Einer Person einen Vorwurf zu machen, ist, dieser Position zufolge, nichts anderes, als sich auf bestimmte Weise über sie zu ärgern, und sich zu ärgern geht charakteristischerweise mit der Tendenz zu aggressivem, sanktionierendem Verhalten einher. Eine Vorwurfstheorie, die dagegen Raum für vollkommen aggressionslose Vorwürfe lässt, läuft Gefahr, eine Dimension des Vorwurfs aus dem Blick zu verlieren, die viele für eine der wichtigsten und interessantesten halten. Wer diesem Gedankengang etwas abgewinnen kann, der sollte auch geneigt sein, der These zuzustimmen, dass Barbara, die ihre allgemeine Fähigkeit verloren hat, sich überhaupt über Alice
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zu ärgern, Alice keine Vorwürfe macht. Die Art und Weise wie sie reagiert ist zu friedlich, um als Vorwurf zu gelten.50 Gegnerinnen und Gegner des Emotionalismus werden wohl einwenden, dass die Verbindung zwischen Vorwurf und Aggression weniger eng ist, als ich hier behaupte. Das ist eine der zu Beginn des Kapitels angekündigten Stellen, an der starke Intuitionen darüber, was Vorwürfe sind, in Konflikt geraten. Doch muss sich die Verteidigung des Emotionalismus nicht damit zufriedengeben, diesen Konflikt festzustellen. Sie kann zum einen zeigen, dass ihre Gegnerinnen und Gegner, so wie etwa Smith und Sher, andere Probleme haben, die der Emotionalsmus nicht hat. Die von Smith und Sher vertretenen Ansätze gehören der Familie der Urteilstheorien an, besagen also, dass Vorwürfe Urteile sind. Diese Ansätze haben Probleme damit zu erklären, wie es möglich ist, dass unsere Vorwürfe manchmal über einen längeren Zeitraum stabil mit unseren Urteilen in Konflikt geraten. Zum anderen kann die Verteidigung des Emotionalismus verständlich machen, weshalb vollkommen ärgerfreie Einstellungen manchmal für Vorwürfe gehalten werden, auch wenn sie, dem Emotionalismus zufolge, keine echten Vorwürfe sind. In den oben beschriebenen Fällen urteilt eine Person, dass eine andere bestimmte negative Eigenschaften hat, etwa ohne Entschuldigung ein Versprechen gebrochen zu haben. Außerdem setzt die urteilende Person wohl voraus, dass das Haben dieser Eigenschaften hinreichend dafür ist, dass es grundsätzlich angemessen ist, den Trägern der Eigenschaften Vorwürfe zu machen. Ein solches Urteil zu fällen, kommt einem Vorwurf zwar sehr nahe, ist aber selbst noch kein Vorwurf. Vielmehr ist es ein Urteil darüber, dass die Angemessenheitsbedingungen von Vorwürfen erfüllt sind oder, kurz, ein Vorwerfbarkeitsurteil. Urteile darüber, dass bestimmte Einstellungen angemessen sind, sollten aber nicht mit den Einstellungen selbst verwechselt werden, auch wenn es schnell passieren kann, dass man sie verwechselt. Auf diese Weise können Vertreterinnen und Vertreter des Emotionalismus erklären, weshalb einige geneigt sind, Barbaras vollkommen ärgerfreie Einstellung einen Vorwurf zu nennen, obwohl sie dem Emotionalismus zufolge kein Vorwurf ist. Ich werde im folgenden Unterabschnitt noch einmal auf diesen Gedankengang zu sprechen kommen, möchte an dieser Stelle aber die wichtigsten Ergebnisse schon einmal zusammenfassen. Wenn man die These, dass Vorwürfe Emotionen sind, mit einem minimalen und plausiblen Verständnis davon, was
_____ 50 Die hier vorgestellten Überlegungen sprechen auch gegen Pickards (2013) Version des Emotionalismus, der zufolge auch eine Emotion wie Enttäuschung ein Vorwurf sein kann.
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Emotionen sind, kombiniert, zeigt sich, dass viele angebliche Gegenbeispiele zum Emotionalismus mit dieser Position vereinbar sind. Trotzdem gibt es Fälle, für die der Emotionalismus impliziert, dass eine bestimmte Einstellung kein Vorwurf ist, während manche die Intuition haben, dass es sich um einen Vorwurf handelt. Dann können Vertreterinnen und Vertreter des Emotionalismus ihre Position unabhängig motivieren und erklären, weshalb manche geneigt sind, die fragliche Einstellung – fälschlicherweise – für einen Vorwurf zu halten. Deshalb ist der Einfach-unplausibel-Einwand gegen den Emotionalismus nicht stichhaltig.
1.3.3 Die Vielgestaltigkeit des Vorwerfens Der Emotionalismus gehört zu der Großfamilie von Ansätzen, die ich klassische Theorien nenne. Diese versuchen unter anderem, eine genau umrissene Gruppe einzelner Einstellungen zu identifizieren, die notwendig dafür sind, Vorwürfe zu machen. Der hier verteidigte Emotionalismus besagt, dass man nur (und genau) dann einer anderen Person Vorwürfe macht, wenn man sich auf bestimmte Weise über sie ärgert. Klassische Vorwurfstheorien sind, wie oben bereits erwähnt, in den vergangenen Jahren in die Kritik geraten. So hält Fricker ihnen entgegen, dass die Praxis des Vorwerfens zu vielgestaltig (internally diverse 2016, S. 166) sei, als dass man diese Praxis erhellen könne, wenn man nach einzelnen für Vorwürfe notwendige Einstellungen sucht. Sie meint: [T]he highest common denominator will turn out to be very low, delivering an extremely thin account. In particular, it will not be capable of illuminating how the different forms of the practice are explanatorily related to one another (Fricker 2016, S. 166). Stattdessen macht sie es sich zum Ziel, den paradigmatischen Vorwurf zu identifizieren, was ihr dann dabei helfen soll, die gesamte Praxis des Vorwerfens verständlich zu machen. Hat Fricker recht, dass klassische Theorien im Allgemeinen und der Emotionalismus im Besonderen „zu dünn“ sind, um unsere Praxis des Vorwerfens insgesamt verständlich zu machen? Ich werde zunächst ihre These vorstellen, dass die Praxis des Vorwerfens in sich vielgestaltig sei, und ich werde dafür argumentieren, dass sie weniger vielgestaltig ist, als Fricker annimmt. Dann werde ich zeigen, wie der Emotionalismus explanatorische Verhältnisse zwischen verschiedenen Arten des Vorwerfens erhellen kann, nämlich zwischen privaten
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Vorwurfseinstellungen einerseits und offenen Vorwurfsverhaltensweisen andererseits. Fricker belegt ihre These, dass die Praxis des Vorwerfens vielgestaltig sei, indem sie auf Fremd- und Selbstvorwürfe verweist, darauf, dass wir UnsNahestehenden und vollkommen Fremden Vorwürfe machen können und so weiter.51 Es stimmt, dass eine Vorwurfstheorie diese verschiedenen Arten von Vorwürfen erhellen sollte. Und der Emotionalismus hat keinerlei Probleme damit: Sobald eine Person eine bestimmte Emotion hat, macht sie einen Vorwurf. Doch Fricker geht einen Schritt weiter: Further diversity is moreover introduced by the fact that each of these forms of blame may or may not involve some emotional colour, and of somewhat different tones. Sometimes our blame is little more than a dispassionate judgement that someone is blameworthy, the merest answer to the question „Whose fault is it?“ („I blame the carpenter for the warped table top“) (Fricker 2016, S. 167). Wenig später schlägt Fricker eine minimale Definition von Vorwürfen vor (die sie jedoch für explanatorisch schwächer hält, als das, was sie als paradigmatischen Vorwurf ausmacht): „a finding fault with someone for their (inward or outward) conduct. I suspect if one were required to offer a definition, this would have to be it“ (Fricker 2016, 170, Hervorhebung im Original). Fricker beruft sich hier stark auf eine Intuition, die auch den Einfachunplausibel-Einwand antreibt, nämlich dass es möglich zu sein scheint, jemandem Vorwürfe zu machen, ohne eine Emotion gegenüber dieser Person zu haben. Sie geht kurz auf den oben unterbreiteten Vorschlag ein, die relevanten Einstellungen nicht als Vorwürfe, sondern als Vorwerfbarkeitsurteile aufzufassen. Darauf antwortet sie: Certainly it is possible to carve up the concepts that way. But any observations we might make of supposed mere judgements of blameworthiness are in themselves entirely neutral as to whether they should be described as examples of judgements of blameworthiness without (something called) blame being present, or whether instead we say, more simply, that there can be forms of blame that lack emotion (Fricker 2016, S. 171).
_____ 51 Vgl. Fricker (2016, S. 166–167).
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Diese Antwort ist jedoch nicht überzeugend (und die Überlegungen, die gegen Frickers Antwort sprechen, sprechen auch gegen reine Urteilstheorien über Vorwürfe im Allgemeinen, also gegen Ansätze, die Vorwürfe mit bestimmten Urteilen identifizieren). Denn es stimmt zwar, dass eine Untersuchung der fraglichen Einstellungen allein nicht dabei hilft zu klären, ob es sich um einen Vorwurf oder ein Vorwerfbarkeitsurteil handelt. Doch hilft es, die Einstellung in einen größeren Kontext einzubetten. Wir können zum Beispiel problemlos urteilen, dass es der Fehler der Tischlerin war, die Tischplatte zu verziehen oder dass die Tischlerin an der verzogenen Platte schuld ist und wir können zugleich urteilen, dass wir ihr keinen Vorwurf dafür machen („The warped table top was the carpenter’s fault, but I do not blame her for it“). Wenn die bloße Antwort auf die Frage „Wer ist daran schuld?“ („Whose fault is it?“) schon ein Vorwurf wäre, dann würden wir uns in solchen Situationen falsch beschreiben. Es ist aber sehr plausibel, dass komplexe Urteile der Art „Es war ihre Schuld, aber ich werfe es ihr nicht vor“ wahr sein können. Angenommen, erstens wir haben der Tischlerin schon verziehen, dass sie die Platte verzogen hat. Wir sind noch immer der Meinung, dass es ihre Schuld war und dass es grundsätzlich angemessen wäre, ihr Vorwürfe zu machen, doch haben wir ihr den Fehler verziehen. Ein sowohl einleuchtender als auch in der Literatur weitverbreiteter Gedanke besagt, dass wir dann, wenn wir einer Person einen Fehler verziehen haben, ihr, zumindest in der Regel, den Fehler nicht mehr vorwerfen.52 Wenn das stimmt, kann man korrekterweise darauf beharren, dass die Tischlerin an der verzogenen Tischplatte schuld ist und dass wir ihr trotzdem keine Vorwürfe machen. Angenommen, zweitens wir urteilen, dass wir nicht in der richtigen Position sind, einer Person einen Vorwurf zu machen. So können wir urteilen, dass die Nachbarin an dem neuen Fleck auf der Tischplatte schuld ist („Sie hätte wissen müssen, dass die Platte keine Feuchtigkeit verträgt“), dass wir ihr aber keine Vorwürfe dafür machen, weil wir ihr vor einigen Wochen schuldhaft die Tischplatte zerkratzt haben. Es ist ihre Schuld und es wäre grundsätzlich angemessen, ihr Vorwürfe zu machen, aber wir sind nicht in der richtigen Position, dies zu tun und machen ihr deshalb keine Vorwürfe. Wenn Schuldurteile der genannten Art bereits Vorwürfe wären, wären Selbstbeschreibungen wie diese immer falsch. Das scheint aber nicht zu stimmen. Ein dritter Einwand gegen Frickers Vorschlag, dass bestimmte Urteile hinreichend für Vorwürfe sind, beruht auf dem Gedanken, dass Vorwerfende nicht
_____ 52 Vgl. z.B. die Übersichtsarbeiten von Tognazzini und Coates (2014) über Vorwürfe und von Hughes (2015) über Vergebung, vgl. auch z.B. Warmke (2016).
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bloße Beobachterinnen und Beobachter und, sozusagen, unbeteiligte Bewerter sind. Vorwerfende scheinen, wie zu Beginn des Kapitels bereits gesagt, nicht nur am Spielfeldrand zu stehen und einem Verhalten eine negative Eigenschaft zuzuschreiben. Vielmehr scheinen Vorwerfende auf bestimmte Weise involviert zu sein, Partei zu ergreifen und auf oft emphatische Weise Stellung zu beziehen. Urteile allein haben jedoch nicht diese Dimension der Involviertheit. Schließlich können wir vollkommen unbeteiligt sein, wenn wir urteilen, dass die Tischlerin an der verzogenen Tischplatte schuld ist – etwa wenn es uns egal ist, wie der Tisch aussieht – und wir können uns sogar freuen, dass wir endlich einen Grund haben, das hässliche Erbstück wegzuschmeißen. Wenn man dagegen annimmt, dass Vorwürfe bestimmte Emotionen sind, kann die Dimension der Involviertheit problemlos erklärt werden. Denn nur wem bestimmte Dinge wichtig sind, wer sich bestimmte Dinge zu Herzen nimmt, der hat eine Emotion, wenn diese Dinge zum Beispiel bedroht, eingeschränkt oder gefördert werden.53 Wer sich also über die verzogene Tischplatte ärgert, der ist auch auf die für Vorwürfe typische Weise in das Geschehen involviert. Die drei genannten Überlegungen unterstützen den Gedanken, dass bloße Schuldurteile nicht hinreichend dafür sind, Vorwürfe zu machen. Wenn das stimmt, folgt zum einen, dass Frickers minimale Definition von Vorwürfen falsch ist und zum anderen, dass die Praxis des Vorwerfens weniger vielgestaltig ist, als sie in ihrem Argument gegen den Emotionalismus voraussetzt. Ihr Einwand, dass der Emotionalismus nicht die ganze Praxis des Vorwerfens erhellen könne, beruht auf der Annahme, dass bloße Schuldurteile Vorwürfe sein können. Da diese Annahme falsch ist, ist der Einwand gescheitert. Um mein Plädoyer für den Emotionalismus weiter zu untermauern, werde ich nun den Aspekt der Vielgestaltigkeit des Vorwerfens in den Blick nehmen, der wohl am offensichtlichsten ist, nämlich dass wir Vorwürfe sowohl mit bestimmten Einstellungen (private Vorwürfe) als auch mit bestimmten Verhaltensweisen (offene Vorwürfe) verbinden. Der Emotionalismus konzentriert sich auf das Haben von Vorwurfseinstellungen. Ist er aber auch in der Lage, die Sprechakte und Verhaltensweisen zu erhellen, die wir mit Vorwürfe assoziieren? Im Alltag geht es uns wohl vor allem um offene Vorwürfe. Wenn wir darüber nachdenken, ob oder wie Barbara Alice ihren Versprechensbruch vorgeworfen hat, könnte uns die zu Beginn des Kapitels bereits genannte Reaktion in den Sinn kommen: Barbara zischt Alice an: „Du glaubst wohl, du lebst in einem
_____ 53 Vgl. z.B. Hurley und Macnamara (2010), Wallace (2011) und Franklin (2013).
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Hotel!“ Der Emotionalismus legt nun eine plausible Erklärung dafür nahe, wann und weshalb solch ein Verhalten ein Vorwurf ist. Um das zu erkennen, ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass emotionale Episoden in Verhaltensweisen ausgedrückt werden können. In der Literatur wird darüber diskutiert, wie genau das Verhältnis zwischen emotionaler Episode und Verhalten zu verstehen ist, doch ist es intuitiv einleuchtend, dass wir zum Beispiel vor Freude springen oder aus Hass töten können.54 Der Emotionalismus besagt, dass eine Weise, einer Person Vorwürfe zu machen, nichts anderes ist als eine emotionale Episode ihr gegenüber zu haben. Und diese Episoden können sich ebenfalls in Verhaltensweisen ausdrücken. Dies legt den Gedanken nahe, dass eine besonders offensichtliche Art des offenen Vorwurfs darin besteht, sich gegenüber einer Person auf eine Weise zu verhalten, die Ausdruck der Tatsache ist, dass man ihr gegenüber eine Vorwurfsepisode hat. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn Barbara Alice aus Empörung anzischt, dass sie wohl glaube, in einem Hotel zu leben. Doch scheint es auch Vorwurfsverhaltensweisen zu geben, die nicht Ausdruck von emotionalen Episoden sind und auch nicht von ihnen begleitet werden. Einen solchen Fall hat Smith beschrieben (vgl. Abschnitt 1.3.2): Eine Person bricht die Beziehungen zu einer anderen ab, weil diese sich unzuverlässig verhalten hat, empfindet dabei aber keinen Ärger. Vertreterinnen und Vertreter des Emotionalismus müssen mehr wissen, um entscheiden zu können, ob es sich um einen offenen Vorwurf handelt oder nicht. Wenn Barbaras Handeln die Aktualisierung einer Disposition ist, die Teil eines kalten Vorwurfs (die lang anhaltende emotionale Haltung wie zum Beispiel Groll) ist, dann kann sie als offener Vorwurf verstanden werden. Wir assoziieren auch Verhaltensweisen mit Vorwürfen, die weder Ausdruck von emotionalen Episoden noch Aktualisierungen von Dispositionen sind, die Teil kalter Vorwürfe sind. Barbara kann zum Beispiel auf die skizzierte Weise Alice anzischen, ohne sich in irgendeinem Sinn über sie zu ärgern. Sie könnte zum Beispiel für ein Theaterstück proben, in dem sie eine Furie spielt oder sie hat eine Wette verloren und der Preis, den sie zahlen muss, ist, eine Szene zu machen, sobald Alice ein Versprechen bricht. In einem solchen Fall verhält sich die Person auf eine Weise, die typischerweise Ausdruck einer Ärgerepisode ist. Oder sie verhält sich auf eine Weise, die typisch für jemanden ist, der einen lang anhaltenden Groll gegenüber einer anderen Person hegt. Doch tatsächlich ärgert jene Person sich nicht und hegt auch keinen Groll. Manchmal passiert es
_____ 54 Vgl. z.B., Goldie (2000, Kap. 2 und 5), Döring (2003) und Scarantino und Nielsen (2015).
1.3 Kraft, Emotionalität und Vielgestaltigkeit des Vorwerfens | 49
uns unabsichtlich, dass wir eine Miene aufsetzen oder mit einer Stimme sprechen, die typisch für Personen ist, die sich über jemanden ärgern oder jemandem grollen. Manchmal versuchen wir aber auch, anderen etwas vorzuspielen und wollen ihnen weismachen, dass wir Emotionen haben, die wir tatsächlich nicht haben. Wenn wir nun feststellen, dass eine Person sich auf eine Weise verhält, die in der skizzierten Weise unabhängig von den Vorwurfseinstellungen ist, dann könnten wir im Alltag noch immer sagen, dass die Person Vorwürfe macht. Mir scheint aber, dass wir auch im Alltag zögern und uns fragen würden, ob diese Person einer anderen wirklich etwas vorwirft. Der Emotionalismus legt den, wie mir scheint, plausiblen Gedanken nahe, dass die hier skizzierten Verhaltensweisen keine echten, sondern nur scheinbare oder unechte Vorwürfe sind. Das Ergebnis der hier angestellten Überlegungen lautet, dass viele verschiedene Verhaltensweisen, die wir im Alltag mit Vorwürfen assoziieren, erklärt werden können, indem auf ihr Verhältnis zu den Vorwurfsemotionen verwiesen wird. Offene Vorwürfe sind erstens Verhaltensweisen, die Vorwurfsepisoden ausdrücken oder zweitens Aktualisierungen von Verhaltensdispositionen, die Teil von lang andauernden Vorwurfshaltungen oder -prozessen sind. Was ich als scheinbare oder unechte Vorwürfe bezeichne, sind erstens Verhaltensweisen, die typischerweise Vorwurfsepisoden ausdrücken, es aber nicht tun, oder zweitens Verhaltensweisen, die typischerweise als Aktualisierungen von Dispositionen verstanden werden, die Teil von lang andauernden Vorwurfshaltungen oder -prozessen sind, die aber tatsächlich keine Aktualisierungen solcher Dispositionen sind. Obwohl sich also der Emotionalismus auf private Vorwurfseinstellungen konzentriert, ist er in der Lage, offene Vorwürfe zu erhellen, indem er plausible Erklärungen dafür nahelegt, wann und warum bestimmte Verhaltensweisen als Vorwürfe verstanden werden können. Insgesamt lässt sich festhalten, dass der Emotionalismus keine Probleme damit hat, dass wir scheinbar eine Vielzahl verschiedener Einstellungen und Verhaltensweisen im Alltag mit Vorwürfen assoziieren.
1.3.4 Vorwürfe im Überblick Die Frage, die in diesem Kapitel diskutiert wurde, lautet: Was sind Vorwürfe? Um diese Frage zu beantworten, habe ich mich zum einen darauf verlassen, dass bestimmte Einstellungen und Haltungen, mit denen wir auf Dinge, die wir als problematisch ansehen, reagieren, Teil unseres gemeinsamen moralischen Alltags sind. Und zum anderen habe ich mich darauf verlassen, dass wir die von mir so beschriebenen Phänomene im Alltag sinnvollerweise als Vorwürfe be-
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zeichnen können. Was haben nun diese Phänomene gemeinsam, außer dass wir das gleiche Wort für sie verwenden? Mein Vorschlag lautet, dass sie bestimmte Emotionen sind, nämlich bestimmte Arten von Ärger im Fall des Fremd- und von Schuld im Fall des Selbstvorwurfs. Der hier entwickelte Emotionalismus steht in einer einflussreichen Tradition, die wenigstens bis zu Peter Strawsons „Freedom and Resentment“ (1962) zurückreicht und die Vorwürfe aufs engste an Emotionen bindet. Ich habe den Grundgedanken, dass Vorwürfe Emotionen sind, mit einem Blick auf ein minimales aber plausibles Verständnis von Emotionen ausbuchstabiert, seine Attraktivität aufgezeigt und gegen wichtige Einwände verteidigt. Der Emotionalismus kann auf elegante und einleuchtende Weise erklären, weshalb uns Vorwürfe im Alltag und in der philosophischen Reflexion wichtig sind. Er macht deutlich, weshalb Vorwerfende keine neutralen Beobachterinnen und Beobachter, sondern in das Geschehen involviert sind. Der Emotionalismus ist damit vereinbar, dass wir Personen, denen wir ihre Vergehen verziehen haben, zumindest in der Regel keine Vorwürfe mehr machen. Er erklärt, wie es möglich ist, dass unsere Vorwürfe manchmal mit unseren Urteilen in Konflikt geraten. Und schließlich kann er die Vielgestaltigkeit des Vorwerfens erhellen, indem er zeigt, weshalb wir Vorwürfe sowohl mit kurzzeitigen Zuständen assoziieren als auch mit lang anhaltenden Haltungen oder Prozessen, und er unterbreitet plausible und naheliegende Vorschläge dafür, wann und weshalb Verhaltensweisen als Vorwürfe gelten können.
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2 Vorwerfbarkeit und Falschheit | 51
2 Vorwerfbarkeit und Falschheit 2 Vorwerfbarkeit und Falschheit DOI 10.1515/9783110527285-003 2 Vorwerfbarkeit und Falschheit
Im ersten Kapitel habe ich untersucht, was Vorwürfe sind. In diesem steht die Frage im Zentrum, wem man angemessenerweise moralische Vorwürfe machen kann. Angenommen, eine Person tritt mir auf den Fuß. Unter welchen Bedingungen ist sie ein angemessenes Ziel moralischer Vorwürfe? Es liegt nahe, sich dieser Frage zu nähern, indem man unsere Praxis des Entschuldigens in den Blick nimmt.1 Eine Möglichkeit, die Person zu entschuldigen, ist zu sagen, dass sie geschubst wurde. Entschuldigungen dieser Art sollen verdeutlichen, dass eine Person eine bestimmte Art der Kontrolle über ihr Verhalten nicht hatte und deshalb kein angemessenes Ziel von Vorwürfen ist. Diese Überlegung stützt den Gedanken, dass eine Person eine Kontrollbedingung erfüllen muss, um ein angemessenes Ziel von Vorwürfen zu sein. Eine zweite Art, die Fußtreterin zu entschuldigen, wäre die folgende: „Sie konnte nicht wissen, dass mein Fuß genau dort steht.“ Eine Entschuldigung dieser Art soll zeigen, dass die Person bestimmte Tatsachen nicht wissen konnte, was nahelegt, dass sie eine epistemische Bedingung erfüllen muss, um ein angemessenes Ziel moralischer Vorwürfe zu sein. Eine dritte Entschuldigung würde lauten: „Die Person hat mich nur getreten, weil sie eine gefährliche Schlange verscheuchen wollte, die gerade auf meinen Fuß gekrochen kam und kurz davor war zuzubeißen.“ Diese Entschuldigung besagt, dass die Person zwar alles unter Kontrolle hatte und auch genau wusste, was sie tat, dass aber an ihrer Handlung nichts moralisch problematisch war. Diese Überlegung legt nahe, dass eine Person eine evaluative Bedingung erfüllen muss, damit sie ein angemessenes Ziel moralischer Vorwürfe ist:2 An ihr oder ihrem Verhalten muss etwas moralisch auszusetzen sein.
_____ 1 Unter einer Entschuldigung können wir im Alltag zwei verschiedene Dinge verstehen. Einerseits verstehen wir unter einer Entschuldigung eine Bitte um Verzeihung mit einem Schuldeingeständnis – etwa: „Entschuldige bitte, dass ich Dir auf den Fuß getreten bin.“ Andererseits können wir unter einer Entschuldigung auch Gründe dafür verstehen, dass wir nicht schuldig sind – etwa: „Ich habe eine gute Entschuldigung dafür, dass ich Dir auf den Fuß getreten bin.“ Die Praxis des Entschuldigens besteht dann darin, auf solche Gründe aufmerksam zu machen. Im Folgenden geht es um dieses zweite Verständnis von Entschuldigung. 2 Manchmal wird in der Literatur das Evaluative dem Normativen entgegengestellt. In den Bereich des Evaluativen fällt dann alles, was mit dem Guten und Schlechten zu tun hat, in den Bereich des Normativen fallen dann Gründe, Pflichten und das, was man tun soll. So möchte ich „evaluativ“ hier nicht verstanden wissen. Mit dem Ausdruck meine ich allgemein „bewertend“, unabhängig davon, ob damit Aussagen über das Gute, Schlechte, über Gründe, Pflichten oder Sollen gemeint sind. DOI 10.1515/9783110527285-003
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Typischerweise konzentrieren sich Theorien der moralischen Vorwerfbarkeit auf die Kontroll-, auf die epistemische Bedingung oder auch auf beide. Die evaluative Bedingung wird dagegen selten untersucht. Ich werde mich im Folgenden auf die evaluative Bedingung konzentrieren und die epistemische sowie die Kontrollbedingung für angemessene Vorwürfe nur am Rande streifen. Ein möglicher Grund dafür, dass die evaluative Bedingung lange vernachlässigt wurde, ist, dass es eine scheinbar offensichtliche Antwort auf die Frage gibt, wie sie zu verstehen ist, nämlich dass es nur dann angebracht ist, einer Person moralische Vorwürfe zu machen, wenn sie moralisch falsch gehandelt hat. Im Folgenden nenne ich diese Position die Falschheitsthese. Obwohl die Falschheitsthese auf den ersten Blick plausibel erscheint, ist sie in jüngster Zeit von verschiedenen Seiten zurückgewiesen worden.3 Gegen die Falschheitsthese wird eingewandt, dass es Fälle gebe, in denen eine Person nichts Falsches tut und in denen wir trotzdem den starken Eindruck haben, dass es angemessen ist, ihr Vorwürfe zu machen. Als Konsequenz haben Autorinnen und Autoren Alternativtheorien der evaluativen Bedingung von Vorwerfbarkeit entwickelt, etwa dass es nur dann angemessen ist, einer Person Vorwürfe zu machen, wenn sie einen mangelnden guten Willen hatte oder hat oder wenn die Person eine Beziehung beschädigt hat.4 Mein Ziel ist es, die Falschheitsthese gegen die wichtigsten Einwände zu verteidigen. Wenn das gelingt, ist zugleich vielen Alternativen zur Falschheitsthese die Grundlage entzogen. Denn die meisten werden damit begründet, dass die Falschheitsthese unplausibel sei und dass man daher nach Alternativen suchen müsse. Ich werde zu zeigen versuchen, dass diese Suche unnötig ist. Der erste Einwand gegen die Falschheitsthese besagt, dass sie nicht damit vereinbar sei, dass es angemessen sein kann, Akteurinnen und Akteuren vorzuwerfen, dass sie das Richtige aus niederen Motiven tun (Abschnitt 2.2). Der zweite Einwand besteht in der Behauptung, dass sie nicht damit vereinbar sei, dass es angemessen sein kann, Personen bestimmte Grundhaltungen oder Charaktereigenschaften vorzuwerfen (Abschnitt 2.3). Ein dritter, zwar nicht expliziter, aber an manchen Stellen, wie mir scheint, im Hintergrund stehender Einwand besagt, dass die Falschheitsthese gemeinsam mit gewissen Zusatzan-
_____ 3 Vgl. z.B. Scanlon (2008, Kap. 4), Khoury (2011), McKenna (2012, Kap. 8), Capes (2012), Macnamara (2013) und Shoemaker (2013; 2015a; 2015b, Kap. 3). 4 Vgl. z.B. Shoemaker (2014; 2015b, Kap. 3) für den ersten Ansatz. Implizit scheinen auch McKenna (2012, Kap. 3 und 8) und Capes (2012) eine solche Position zu vertreten. Vgl. für den zweiten Ansatz insbesondere Scanlon (2008, Kap. 4), auf den ich im Exkurs am Ende dieses Kapitels noch genauer eingehen werde, und A. Smith (2013).
2.1 Vorbemerkungen | 53
nahmen impliziere, dass es unangemessen ist, einer Person in einer determinierten Welt Vorwürfe zu machen (Abschnitt 2.4 – das ist natürlich nur unter der Annahme ein Einwand, dass man außerdem glaubt, dass es angemessen sein kann, Personen in einer determinierten Welt Vorwürfe zu machen; ich werde ausführlich auf dieses Thema zu sprechen kommen). In einem Anhang zu diesem Kapitel werde ich schließlich eine in der Literatur viel beachtete Theorie moralischer Vorwerfbarkeit, nämlich die von T.M. Scanlon, kritisch diskutieren. Bevor ich mein Hauptziel angehen kann, müssen zunächst (Abschnitt 2.1) zwei für die folgenden Überlegungen zentrale Begriffe kurz genauer charakterisiert werden, nämlich der Begriff der Falschheit und der Begriff der Angemessenheit. Außerdem werde ich auf sogenannte suberogatorische Handlungen eingehen, auf die sich einige Autorinnen und Autoren berufen, um gegen die Falschheitsthese zu argumentieren.
2.1 Vorbemerkungen 2.1 Vorbemerkungen 2.1.1 Moralische Falschheit Ich werde versuchen, im Verlaufe des Kapitels so weit wie möglich neutral gegenüber substantiellen Theorien moralischer Falschheit zu bleiben. So werde ich – soweit möglich – versuchen, mich auf Annahmen zu beschränken, die mit deontologischen, kontraktualistischen, konsequentialistischen und tugendethischen Theorien der Falschheit kompatibel sind.5 Dort, wo einzelne Argumente auf substantielleren Annahmen beruhen und damit in Konflikt mit bestimmten Theorien der Falschheit geraten, werde ich alternative Verteidigungen der Falschheitsthesen vorstellen, die auch mit diesen Ansätzen vereinbar sind.
_____ 5 Es sei darauf hingewiesen, dass die These, die ich hier explizit verteidige, eine über notwendige Bedingungen moralischer Vorwerfbarkeit ist: Es ist nur dann angemessen, einer Person Vorwürfe zu machen, wenn sie die Kontroll- und die epistemische Bedingung erfüllt und wenn sie falsch handelt. Nun halte ich aber auch eine sehr ähnliche These über hinreichende Bedingungen für plausibel, die allerdings mit einer substantiellen moralischen Theorie in Konflikt gerät. Die These, dass es angemessen ist, einer Person Vorwürfe zu machen, die die Kontrollbedingung erfüllt, die weiß, dass es falsch ist, eine bestimmte Handlung auszuführen und es trotzdem tut, ist nicht mit dem sogenannten Objektivismus über moralische Pflichten vereinbar; vgl. z.B. Jackson (1991) und Graham (2010). Ich werde im Folgenden den Objektivismus über Pflichten nicht weiter diskutieren. Vgl. aber z.B. Kiesewetter (2011) und Henning (2014) für Diskussionen und Alternativen.
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Ich werde annehmen, dass der Begriff der Falschheit mit Verweis auf moralische Pflichten charakterisiert werden kann. Ich setze also voraus, dass es genau dann moralisch falsch von einer Person ist zu x-en, wenn sie die moralische Pflicht hat, nicht zu x-en und dass es genau dann moralisch falsch von einer Person ist, nicht zu x-en, wenn sie die moralische Pflicht hat zu x-en. Ich nehme desweiteren an, dass eine Handlung oder Unterlassung oder Ähnliches genau dann zulässig ist, wenn sie nicht falsch ist. Die Falschheitsthese besagt also diesem Verständnis zufolge, dass es nur dann angemessen ist, einer Person moralische Vorwürfe zu machen, wenn sie eine moralische Pflicht verletzt hat.
2.1.2 Die Angemessenheit von Vorwürfen: Fairness, Verdienst und Korrektheit In diesem Kapitel diskutiere ich die Frage, wer ein angemessenes Ziel von moralischen Vorwürfen ist. Doch was ist unter Angemessenheit hier zu verstehen? Der Ausdruck „angemessen“ wird auf ganz verschiedene Weise genutzt. So kann er zum Beispiel so verwendet werden, dass eine bestimmte Reaktion oder Handlung nur angemessen ist, wenn es auch moralisch zulässig ist, die Reaktion oder Handlung zu zeigen. So werde ich den Begriff der Angemessenheit nicht verstehen. Stattdessen werde ich im Folgenden den Begriff der Angemessenheit so verwenden, dass es genau dann angemessen ist, einer Person Vorwürfe zu machen, wenn sie die Bedingungen der Vorwerfbarkeit erfüllt und dass daraus allein nicht folgt, dass es eine Person gibt, für die es zulässig, also moralisch erlaubt ist, dass sie ihr einen Vorwurf macht. Vielleicht ist niemand in der richtigen Position, den Vorwurf zu machen, weil sich alle auf ähnliche Weise schuldig gemacht haben. Manche meinen sogar, dass wir alle versuchen sollten aufzuhören, einander Verfehlungen vorzuwerfen. Überlegungen dieser Art werde ich in den folgenden beiden Kapiteln ausführlich diskutieren. Wichtig ist an dieser Stelle nur, dass daraus, dass es angemessen ist, einer Person Vorwürfe zu machen, nicht folgt, dass es zulässig für mich oder irgendjemand anderen ist, ihr einen Vorwurf zu machen.6 Der so umrissene Begriff der Angemessenheit von Vorwürfen wird in der Literatur auf zwei verschiedene Weisen charakterisiert. Manche Autoren meinen erstens, dass die Angemessenheit, um die es geht, moralisch verstanden werden muss. So glauben einige, dass es genau dann an-
_____ 6 Vgl. auch Fritz (2014), der deutlich macht, wie wichtig es ist, die verschiedenen Bedeutungen von „angemessen“ (appropriate) in diesem Kontext auseinanderzuhalten.
2.1 Vorbemerkungen | 55
gemessen ist, einer Person Vorwürfe zu machen, wenn es fair ist, ihr Vorwürfe zu machen.7 Andere glauben, dass es genau dann angemessen ist, einer Person Vorwürfe zu machen, wenn sie es verdient, ein Ziel von Vorwürfen zu sein.8 Ein solches moralisches Verständnis scheint auf den ersten Blick plausibel zu sein, ist aber mit Problemen konfrontiert, auf die ich vor allem in Kapitel 5 Abschnitt 3.3 eingehen werde.9 Die zweite Möglichkeit, den hier relevanten Begriff der Angemessenheit zu verstehen, betont, dass Vorwurfsemotionen wie alle anderen Emotionen einen repräsentationalen Gehalt haben, der von einigen Emotionstheoretikerinnen und -theoretikern in Analogie zum repräsentationalen Gehalt von Sinneswahrnehmungen charakterisiert wird. Angst vor einem Hund zu haben, besteht unter anderem darin, dass einem der Hund als gefährlich erscheint, also als Gefahr für mich oder für etwas, das ich wertschätze. Der repräsentationale Gehalt von Emotionen ermöglicht es, ihre Angemessenheit auf bestimmte Weise zu bewerten. Eine Emotion ist genau dann angemessen, wenn sie ihr Ziel korrekt repräsentiert.10 Die Angst vor dem Hund ist also genau dann angemessen, wenn der Hund tatsächlich eine Gefahr für mich oder etwas für mich Wertvolles ist. Wenn der Hund ein braves Schoßhündchen ist, dann ist es unangemessen, Angst vor ihm zu haben. Und genauso lassen sich auch Vorwurfsemotionen evaluieren.11 Sobald wir einmal wissen, was der repräsentationale Gehalt von Vorwurfsemotionen ist, können wir im Prinzip auch jede einzelne Vorwurfsemotion dahingehend bewerten, ob sie ihr Ziel korrekt repräsentiert. Diesem Verständnis von Angemessenheit zufolge ist die Frage, ob es angemessen ist, einer Person Vorwürfe zu machen, keine moralische Frage. Der Begriff der Korrektheit, mit dem Angemessenheit hier gleichgesetzt wird, muss so
_____ 7 Vgl. z.B. Wallace (1994, Kap. 4) und Rosen (2004). 8 Vgl. z.B. Pereboom (2007; 2014) und Scanlon (2008, Kap. 4; 2013a). 9 Vgl. für Kritik an Angemessenheit als Fairness Hieronymi (2004), A. Smith (2007) und Graham (2014). 10 In der englischsprachigen Literatur wird in diesem Zusammenhang oft von der fittingness von Emotionen gesprochen. Vgl. etwa D’Arms und Jacobson (2000). Vgl. auch Abschn. 2.1.2 dieser Studie. 11 Vgl. für einen Vorschlag dieser Art King (2012; 2014), Clarke (2013) und Graham (2014). King und Clarke charakterisieren die Korrektheit von Vorwurfsemotionen als Verdienst: Eine Person verdient es genau dann, ein Ziel von Vorwurfsemotionen zu sein, wenn eine Vorwurfsemotion sie korrekt repräsentiert. Es ist aber wichtig festzuhalten, dass dieser Begriff des Verdiensts kein moralischer ist. Allein daraus, dass eine Person es in diesem Sinn nicht verdient, dass man ihr einen Vorwurf macht, folgt nicht, dass etwas moralisch problematisch daran wäre, ihr einen Vorwurf zu machen.
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ähnlich verstanden werden wie der Begriff der Angemessenheit, mit dem etwa Farbwahrnehmungen bewertet werden können: Es ist nur dann korrekt, eine Blume als rot wahrzunehmen, wenn sie auch rot ist. Wer eine rote Blume bei normalen Lichtverhältnissen als grün wahrnimmt, begeht damit keine moralische Verfehlung, es scheint einfach etwas an seiner Farbwahrnehmung nicht zu stimmen. Ähnlich ist es bei Personen, die vor Schoßhündchen Angst haben. Wenn nun die Angemessenheit, um die es bei der Frage geht, wer ein angemessenes Ziel von Vorwürfen ist, als Korrektheit verstanden wird, dann folgt allein daraus, dass eine Vorwurfsemotion inkorrekt ist, nicht, dass es auch moralisch problematisch ist, den Vorwurf zu machen. Wenn ich empört über die Person bin, die mir auf den Fuß getreten und damit die Schlange verscheucht hat, dann ist meine Empörung inkorrekt, aber daraus allein folgt noch nicht, dass mein Vorwurf moralisch problematisch ist. Ein solches amoralisches Verständnis der Angemessenheit und Unangemessenheit von Vorwürfen scheint mit unserem Alltagsverständnis in Konflikt zu geraten. Um das zu erkennen, können wir uns vorstellen, dass wir jemandem nur deshalb auf den Fuß treten, weil wir eine gefährliche Schlange verscheuchen wollen und dies auch tun und dass diese Person dann zornig auf uns ist, obwohl sie weiß, was wir getan haben und warum wir es getan haben. Wir würden wohl meinen, dass etwas an diesem Vorwurf unfair ist. Uns erscheint es in solchen Fällen so, als sei an der Vorwurfsemotion unseres Gegenübers auch moralisch etwas nicht in Ordnung. Das kann aber nicht allein damit erklärt werden, dass ihre Emotion uns inkorrekt repräsentiert. Der gerade skizziert Gedankengang kann aber auch dann philosophisch erhellt und gerechtfertigt werden, wenn man daran festhält, dass die bloße Angemessenheit von Vorwürfen nicht moralisch verstanden werden sollte. Um zu erklären, dass etwas moralisch problematisch daran ist, uns den Fußtritt vorzuwerfen, kann man die substantielle moralische Zusatzannahme machen, dass es nur dann moralisch zulässig von einer Person ist, einer anderen einen Vorwurf zu machen, wenn der Vorwurf diese Person korrekt repräsentiert.12 Das ist
_____ 12 Im folgenden Kapitel werde ich genauer der Frage nachgehen, welchen deontischen Status Vorwürfe haben können, ob sie also moralisch falsch oder zulässig sein können. Wenn man annimmt, dass das Haben einer Emotion selbst nicht falsch oder zulässig sein kann, dann kann man argumentieren, dass eine Person, die einer anderen einen unangemessenen Vorwurf macht (und gewisse andere Bedingungen erfüllt), die moralische Pflicht hat, dafür zu sorgen, dass sie die Vorwurfsemotion nicht mehr hat. Wenn sie diese Pflicht verletzt, tut sie etwas moralisch Falsches. Dann ist zwar nicht das Haben der Vorwurfsemotion selbst moralisch unzulässig, wohl aber, dass diejenige, die sie hat, nichts dagegen tut.
2.1 Vorbemerkungen | 57
im skizzierten Fall nicht so und deshalb ist der Vorwurf, so der Vorschlag, moralisch problematisch. Ich kann an dieser Stelle keine vollständige Analyse der Begriffe von Korrektheit, Fairness und Verdienst vorlegen. Doch scheint mir, dass es ausreicht aufzuzeigen, wie eine Analyse des Begriffs der Angemessenheit plausiblerweise aussehen kann, wenn ich nun die Falschheitsthese diskutiere. Man kann den Begriff sowohl amoralisch als die Korrektheit bestimmter Emotionen verstehen als auch moralisch als Verdienst oder Fairness.
2.1.3 Suberogatorische Handlungen Die Falschheitsthese besagt, dass es nur dann angemessen ist, einer Person moralische Vorwürfe zu machen, wenn sie eine moralische Pflicht verletzt hat. Bevor ich die drei wichtigsten Einwände gegen diese These diskutieren werde, muss ich kurz auf einige angebliche Gegenbeispiele eingehen. Viele Gegnerinnen und Gegner der Falschheitsthese verweisen auf sogenannte suberogatorische Handlungen. Diese Handlungen sollen moralisch zulässig (also nicht moralisch falsch) und dennoch moralisch problematisch sein und zwar auf eine Weise, die es erklären kann, dass es angemessen ist, der Akteurin oder dem Akteur Vorwürfe zu machen. In der Literatur finden sich unter anderem Beispiele der folgenden Art:13 Meine Nachbarin mäht sonntags früh um 8 Uhr den Rasen. Ich bitte eine Mitbewohnerin, die zur Bibliothek geht, drei Bücher für mich abzugeben, damit ich mich um meine kranke Schwester kümmern kann, was meine Mitbewohnerin nur deshalb ausschlägt, weil ihr nicht danach ist. Eine Person weigert sich, ihrem Bruder, der an schwerem Nierenversagen leidet, eine Niere zu spenden, obwohl sie die einzig kompatible Spenderniere hat. Ich sehe nicht, weshalb diese Fälle zeigen sollen, dass es angemessen sein kann, Personen, die keine Pflichten verletzt haben, Vorwürfe zu machen. Mir scheint vielmehr, dass die meisten der skizzierten Handlungen falsch sind, die Handelnden also Pflichten verletzen.14 Setzt man etwa eine handlungs- oder regelutilitaristische Theorie der Falschheit voraus, sind wohl die meisten dieser Handlungen und Unterlassungen falsch. Es scheint auch so, als würde eine tu-
_____ 13 Die folgenden Beispiele stammen von Driver (1992). Vgl. auch McKenna (2012, Kap. 8), Macnamara (2013) und Shoemaker (2013; 2015b, Kap. 3). 14 Vgl. Liberto (2012) für die These, dass es keine suberogatorische Handlungen gebe und vgl. die Antwort von Atkins und Nance (2015).
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gendhafte Person nicht so handeln und als könnte man einige der skizzierten Akteurinnen und Akteure mit Lasterbegriffen wie rücksichtslos oder geizig beschreiben, was nahelegt, dass tugendethische Theorien der Falschheit einige dieser Handlungen als falsch klassifizieren würden. Schließlich ist es plausibel, dass bestimmte Prinzipien, die jeder vernünftigerweise akzeptieren kann und dass auf die richtige Weise universalisierte Maximen (und damit kontraktualistische und kantische Theorien) einige der Handlungen verbieten würden. Und je mehr man die Fälle derart variiert, dass der Eindruck stärker wird, dass es sich nicht um Pflichtverletzungen handelt, desto schwächer wird der Eindruck, dass es angemessen ist, den Personen Vorwürfe zu machen. Deshalb halte ich die Fälle für keine überzeugenden Gegenbeispiele zur Falschheitsthese.
2.2 Das Richtige aus niederen Motiven tun? 2.2 Das Richtige aus niederen Motiven tun? 2.2.1 Der Fall Beatrix: Notwehr und Hass Ein weitverbreiteter Einwand gegen die Falschheitsthese geht davon aus, dass wir manchmal die richtige – und damit zulässige – Handlung aus niederen Motiven ausführen. Das, was wir tun, so sollte man sich den Einwand vorstellen, habe die besten Konsequenzen, es gerate nicht in Konflikt mit plausiblen Prinzipien und verallgemeinerten Maximen und tugendhafte Personen würden das Gleiche tun. Aber weil wir es aus niederen Motiven tun, scheint es dennoch angemessen zu sein, uns Vorwürfe zu machen. Aber das steht, so der Einwand, in Konflikt mit der Falschheitsthese. Schließlich haben wir in einem solchen Fall das Richtige und nichts Falsches getan.15 Ich werde in diesem Unterabschnitt ein Beispiel für einen solchen Fall und dann eine mögliche, aber unplausible Antwort zugunsten der Falschheitsthese vorstellen. In den folgenden zwei Unterabschnitten werde ich dann überzeugende Antworten auf den genannten Einwand entwickeln. Ein eindrückliches Beispiel für einen Fall, in dem eine Person das scheinbar Richtige aus niederen Motiven tut, stammt von Justin Capes:
_____ 15 Vgl. z.B. Scanlon: „It can also make sense to blame a person even when what he did was not impermissible. For example, it can be appropriate to blame a person who has done what was in fact the right thing if he or she did it for an extremely bad reason“ (Scanlon 2008, S. 125). Vgl. auch Khoury (2011) und Shoemaker (2013).
2.2 Das Richtige aus niederen Motiven tun? | 59
Beatrix freely shot and killed Bill. She did this despite believing that it was objectively wrong to kill Bill, that it was within her power to avoid killing him and, indeed, that it was within her power to avoid wrongdoing altogether. Why, then, did Beatrix kill Bill? What motivated her to perform this action? A significant role was played by her hatred of Bill and her (no doubt morally unjustified) desire to rid the world of him. Unbeknownst to Beatrix, however, Bill was just about to torture and kill her daughter, and the only way she could have prevented him from doing this was to shoot and kill him (Capes 2012, S. 428–429).16 Angenommen, Bill hat keinen akzeptablen Grund dafür, Beatrix’ Tochter zu foltern und zu töten. Dann scheint es so, als sei es moralisch zulässig von Beatrix, ihn zu erschießen, denn nur so kann sie ihre Tochter vor Folter und ungerechtfertigtem Schmerz und Tod beschützen. Ihr Handeln fällt, so Capes, unter ein Prinzip der Notwehr, das besagt, dass es nicht nur dann zulässig ist, ungerechtfertigte Angreifer umzubringen, wenn man nur auf diese Weise sich selbst schützen kann, sondern auch dann, wenn es die einzige Möglichkeit ist, andere zu schützen, die man verpflichtet ist zu beschützen. Und Beatrix scheint die Pflicht zu haben, ihre Tochter zu schützen. Außerdem scheint Beatrix’ Handeln die besten Konsequenzen zu haben, es scheint nicht in Konflikt zu geraten mit plausiblen Prinzipien und verallgemeinerten Maximen und eine tugendhafte Person würde in dieser Situation wohl ebenfalls Bill erschießen. Gegnerinnen und Gegner der Falschheitsthese meinen, dass Beatrix hier zulässig (also nicht falsch) gehandelt hat und dass es angemessen ist, ihr moralische Vorwürfe zu machen. Schließlich hat sie Bill aus Hass und dem Wunsch heraus umgebracht, dass er vom Erdboden verschwindet. Daran ist etwas moralisch problematisch, selbst wenn ihr Handeln zulässig ist. Und dass es moralisch problematisch ist, scheint erklären zu können, dass es angemessen ist, Beatrix moralische Vorwürfe zu machen. Diese Position ist nicht mit der Falschheitsthese vereinbar. Und deshalb, so der Schluss, sei die Falschheitsthese nicht zu halten.
_____ 16 Dass Beatrix nicht weiß (unbeknownst), dass Bill kurz davor ist, ihre Tochter zu foltern und zu töten, bedarf einer kurzen Erläuterung. Denn einige Autorinnen und Autoren glauben, dass es nur dann moralisch falsch ist, eine Handlung auszuführen, wenn die oder der Handelnde gerechtfertigterweise glauben kann, dass dem so ist. Deshalb ist es wichtig zu betonen, dass es sein kann, dass Beatrix zwar nicht weiß, dass Bill kurz davor ist, ihre Tochter zu foltern und zu töten, dass sie aber hinreichende oder sogar entscheidende Evidenz dafür hat, dass er es vor hat. Vgl. auch Capes (2012, N. 28).
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Eine mögliche Antwort der Vertreterinnen und Vertreter der Falschheitsthese würde darin bestehen, darauf aufmerksam zu machen, dass Beatrix glaubt, dass es falsch von ihr ist, Bill zu töten. Nun könnte man versucht sein, die Prämisse hinzuzufügen, dass es falsch ist, eine Handlung auszuführen, von der man glaubt, dass sie falsch ist. Doch selbst wenn man das annimmt, kann man den Fall von Beatrix auf eine Weise ändern, sodass er wieder problematisch für die Falschheitsthese ist. Stellen wir uns einen Fall vor, der mit dem von Capes beschriebenen identisch ist, bis auf die Tatsache, dass Beatrix glaubt, dass es zulässig ist, Bill zu töten. Es scheint auch hier angemessen zu sein, Beatrix Vorwürfe zu machen, weil sie Bill aus Hass und dem Wunsch heraus umbringt, dass er vom Erdboden verschwindet. Beatrix verletzt, so scheint es, keine Pflicht; sie tut das Richtige, aber sie tut es aus abscheulichen Motiven. Es scheint angemessen zu sein, ihr Vorwürfe zu machen. Wenn das stimmt, ist die Falschheitsthese falsch.
2.2.2 Die Rolle von Motiven bei Pflichtverletzungen Nun komme ich zu den Verteidigungsversuchen der Falschheitsthese, die ich für erfolgversprechend halte. Die erste lautet, dass sich mithilfe plausibler Zusatzannahmen zeigen lässt, dass Beatrix und ähnliche Akteurinnen und Akteure in Situationen dieser Art sehr wohl falsch handeln. Die zweite Verteidigung, die ich im folgenden Unterabschnitt vorstelle, lautet, dass in den Fällen, in dem das nicht so ist (oder wenn man die nötigen Zusatzannahmen ablehnt), die Vorwerfbarkeit von Beatrix darauf zurückgeführt werden kann, dass sie zu einem früheren Zeitpunkt eine Pflicht verletzt hat. Die erste Antwort beginnt mit der Beobachtung, dass sich die Gegnerinnen und Gegner der Falschheitsthese im genannten Fall darauf konzentrieren, dass Beatrix Bill tötet. Dann fragen sie, ob es zulässig oder falsch von Beatrix ist, Bill zu töten. Dies ist aber, so können Vertreterinnen und Vertreter der Falschheitsthese argumentieren, die falsche Frage.17 In diesem Fall ist es nicht nur relevant, ob es zulässig von Beatrix ist, Bill zu töten, sondern auch ob es zulässig von ihr ist, Bill aus Hass und dem Wunsch heraus zu töten, dass er vom Erdboden verschwindet.18 Aus dieser Perspektive scheint es, als habe Beatrix etwas moralisch
_____ 17 Vgl. Kiesewetter (im Erscheinen, Kap. 2) für eine ähnliche Antwort auf Capes. 18 Eine andere Frage, die sich zum Fall von Beatrix aufdrängt und der ich hier nicht weiter nachgehen werde, ist die folgende: Ist es zulässig von Beatrix, sich zu wünschen, dass sie Bill vom Erdboden tilgt? Capes selbst schreibt, dass dieser Wunsch „no doubt morally unjustified“
2.2 Das Richtige aus niederen Motiven tun? | 61
Falsches getan, als sie Bill aus diesen Motiven umgebracht hat, selbst wenn sie nichts Falsches getan hätte, wenn sie ihn aus anderen Motiven getötet hätte, etwa aus dem Wunsch heraus, die eigene Tochter zu schützen. Was man für diese Antwort benötigt, ist die Prämisse, dass es moralische Pflichten gibt, die komplexe Gebilde wie aus Hass jemanden töten oder aus Habgier die Unwahrheit sagen verbieten, sowie die Prämisse, dass Beatrix eine solche Handlung ausführt. Ich werde nun zwei Einwände gegen diese Verteidigung der Falschheitsthese diskutieren. Die erste mögliche Antwort der Gegnerinnen und Gegner der Falschheitsthese könnte darin bestehen, darauf zu pochen, dass es auch zulässig von Beatrix ist, Bill aus diesen Motiven zu töten. Schließlich falle auch das unter das Prinzip der Notwehr. Capes formuliert dieses Prinzip folgendermaßen: [I]t is morally permissible to kill an unjust aggressor, if doing so is the only way to save your own life or the lives of those you have a duty to protect, provided that you can do so without doing something else that you are morally required not to do (Capes 2012, S. 430). Angenommen, dieses Prinzip ist wahr. Dann stimmt es einfach nicht, dass aus diesem Prinzip und daraus, dass Beatrix einen ungerechtfertigten Angreifer getötet hat, der ihre Tochter getötet hätte, folgt, dass sie nichts Falsches getan hat. Man kann einen ungerechtfertigten Angreifer auf ganz verschiedene Weise töten. Und es kann offensichtlich falsch sein, einen ungerechtfertigten Angreifer, der das eigene Kind bedroht, langsam zu Tote zu foltern, statt ihn mit einem Kopfschuss aufzuhalten. Jenes kann moralisch falsch sein, selbst wenn dieses moralisch zulässig ist. Und es folgt auch nicht aus dem Prinzip und daraus, dass Beatrix einen ungerechtfertigten Angreifer getötet hat, dass es zulässig ist, dass sie einen ungerechtfertigten Angreifer aus niederen Motiven getötet hat. Beatrix’ Tun kann sowohl das Töten eines ungerechtfertigten Angreifers sein als auch ein Aus-Hass-Töten. Und wenn es die Pflicht gibt, niemanden aus Hass zu töten, dann ist es falsch von Beatrix, Bill aus Hass zu töten, unabhängig davon, ob sie damit außerdem einen ungerechtfertigten Angreifer getötet hat. Wenn es solche Pflichten gibt, dann rechtfertigt das Prinzip der Notwehr also nicht das, was Beatrix getan hat.
_____ (2012, S. 428) sei und so liegt es nahe, dafür zu argumentieren, dass Beatrix die Pflicht verletzt, diesen Wunsch nicht zu haben. Vgl. Graham (2014) für eine Theorie der Vorwerfbarkeit, die sich auf den moralischen Status der Motive von Handelnden konzentriert.
62 | 2 Vorwerfbarkeit und Falschheit
Die zweite Antwort der Gegnerinnen und Gegner der Falschheitsthese besagt, dass es keine Pflichten der Art gibt, wie sie die gerade vorgestellte Verteidigung benötigt. Zwar gebe es Pflichten, die verbieten, bestimmte Personen unter bestimmten Bedingungen zu töten und es gebe Pflichten, die gebieten, Personen zu helfen. Aber es gebe keine Pflichten, die es verbieten, Personen aus Hass zu töten oder Pflichten, die gebieten, Personen aus Freundschaft zu helfen. Allgemein besagt der Einwand, dass es moralisch ge- oder verboten sein kann x zu tun, nicht aber x aus Motiv m zu tun. Ein möglicher Grund für die These, dass es solche Pflichten nicht gibt, beruht auf der Annahme, dass wir nur die Pflicht haben, etwas zu tun oder zu unterlassen, wenn wir uns effektiv entscheiden können, es zu tun oder zu unterlassen. Wir können aber, so der Gedanke, uns nicht effektiv entscheiden, eine Handlung aus einem bestimmten Motiv auszuführen. Uns fehle die relevante Art der Kontrolle über unsere Motive, um eine Pflicht haben zu können, x aus m zu tun.19 Ein anderer möglicher Grund für die These, dass es nicht die Pflicht gibt, x aus m zu tun, geht von der konsequentialistischen Annahme aus, dass man Pflichten nur durch Verweis auf die Konsequenzen der Pflichterfüllungen und Pflichtverletzungen rechtfertigen könne. Ob nun eine Person x aus Motiv m oder aus irgendeinem anderen Motiv ausführt, so der Einwand, habe keinen Einfluss darauf, welche Konsequenzen sein Tun hat, solange sie x ausführt. Daher, so der Schluss, könne es nur Pflichten geben, x zu tun, nicht aber Pflichten x aus m zu tun. Ich kann an dieser Stelle nicht im Detail auf die Diskussionen um das Wesen und die Rechtfertigung moralischer Pflichten eingehen. Doch möchte ich vier Bemerkungen zugunsten der oben vorgestellten Verteidigung der Falschheitsthese machen. So halte ich es erstens einfach für sehr plausibel, dass es Pflichten der genannten Art gibt, etwa die Pflicht, niemanden aus niederen Motiven zu töten. Wenn es eine solche Pflicht gibt, erklärt das zum Beispiel unmittelbar, weshalb es moralisch unzulässig ist, Personen zu ermorden. Denn ein Mord ist eine vorsätzliche Tötung aus niederen Motiven.
_____ 19 Scanlon schreibt über einen Fall, in dem eine Person das scheinbar Richtige aus niederen Motiven tut, das Folgende: „The suggestion is that it might be impermissible either to bring about a result with certain bad reasons in mind or to fail to bring it about at all, and that the only thing that would be permissible would be to bring it about for the right reasons. If I am correct about the connection between permissibility and choice, this makes sense only if acting for those different reasons is something the agent can choose to do. I do not believe that such a choice is possible“ (Scanlon 2008, S. 59) Vgl. Lillehammer (2010) und Kolodny (2011) für hilfreiche Diskussionen von Scanlons Überlegungen zum Verhältnis von Motiven und Pflichtverletzungen.
2.2 Das Richtige aus niederen Motiven tun? | 63
Zweitens scheinen wir, insofern wir rational sind, eine gewisse Kontrolle darüber zu haben, aus welchen Motiven wir handeln. Rationale Akteurinnen und Akteure scheinen in der Lage zu sein, Handlungen oder Unterlassungen zu beabsichtigen, wenn sie der Meinung sind, dass es hinreichende Gründe der richtigen Art für sie gibt. Und dann ist es möglich, dass eine rationale Akteurin zum Beispiel die Absicht ausbildet und in die Tat umsetzt, nicht aus Hass zu schießen. Insofern Beatrix in diesem Sinn rational ist und insofern sie außerdem in dem Sinn willensstark ist, dass sie ihre Absichten in die Tat umsetzen kann, hat sie also die Möglichkeit, Bill nicht aus Hass zu erschießen. Würde sie dann ihre Tochter sterben lassen? Zumindest ist der Fall nicht so beschrieben, dass dies notwendigerweise passiert. Zwar stimmt es, dass Beatrix ihre Tochter nur retten kann, indem sie Bill erschießt, aber es stimmt nicht, dass sie ihre Tochter nur retten kann, indem sie Bill aus Hass erschießt. Daher ist es Beatrix möglich, Bill nicht aus Hass zu erschießen und trotzdem ihre Tochter zu retten. Drittens scheinen nun vor allem die Gegnerinnen und Gegner der Falschheitsthese am Zug zu sein. Die Falschheitsthese selbst ist auf den ersten Blick plausibel und sie wird durch die ebenfalls plausible These gestützt, dass es moralisch verboten ist, jemanden etwa aus Hass zu töten. Gegnerinnen und Gegner der Falschheitsthese tragen damit die größere Erklärungslast. Sie verneinen zwei auf den ersten Blick sehr plausible Thesen und haben die nicht leichte Aufgabe, das zu rechtfertigen. Viertens wird die These, dass es Pflichten gibt wie die, niemanden aus Hass zu töten oder jemandem aus Freundschaft zu helfen, von einer Reihe verschiedener Theorien moralischer Pflichten gestützt. Wenn man die plausible Annahme macht, dass Hass (in der Regel) schlechte Konsequenzen hat, kann die These mit dem Motivkonsequentialismus untermauert werden, der besagt, dass die Falschheit einer Handlung von den Folgen der Motive abhängt, mit denen sie ausgeführt wird. Desweiteren kommt der Einwand, dass es keine Pflichten gebe, die ge- oder verbieten, x aus Motiv m zu tun, mit der kantischen Position in Konflikt, dass wir die Pflicht haben, Personen zu achten und dass eine Person zu achten unter anderem darin besteht, bestimmte Handlungen aus Respekt vor ihr auszuführen oder nicht auszuführen.20 Auch Vertreterinnen und Vertreter
_____ 20 Vgl. z.B. Darwall, der meint, dass die Würde einer Person eng daran geknüpft ist, dass sie bestimmte Dinge legitimerweise fordern (demand) kann: „Someone might accept the first-order norms that structure the dignity of persons and regulate himself scrupulously by them without yet accepting anyone’s authority to demand that he do so. He might even accept these as mandatory norms without accepting any claim to his compliance. I hope it is now clear that al-
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der Doktrin der Doppelwirkung unterstützen die zumindest ähnliche These, dass es die Pflicht gibt, x aus Absicht a (nicht) auszuführen. Denn sie können dafür argumentieren, dass es zwar erlaubt ist, Bill mit der Absicht zu töten, die eigene Tochter zu retten, nicht aber mit der Absicht, ihn vom Erdboden zu tilgen.21 Die Antwort der Gegnerinnen und Gegner der Falschheitsthese steht also auf unsicherem theoretischen Boden. Ich habe in diesem Unterabschnitt eine erste Verteidigung der Falschheitsthese gegen den Einwand vorgestellt, dass sie nicht damit vereinbar sei, dass es manchmal angemessen ist, einer Person dafür Vorwürfe zu machen, dass sie das Richtige aus niederen Motiven tut. Die Antwort ist, dass die Akteurin in diesen Fällen auch etwas Falsches tut und dass die Fälle deshalb keine Gegenbeispiele zur Falschheitsthese sind.
2.2.3 Rückverfolgung von Vorwerfbarkeit zu früheren Pflichtverletzungen Damit komme ich zur zweiten ebenfalls erfolgversprechenden Verteidigung der Falschheitsthese gegen den Einwand, dass sie nicht vereinbar damit ist, dass es angemessen sein kann, Personen Vorwürfe zu machen, die das Richtige aus niederen Motiven tun. Angenommen, solche Akteurinnen und Akteure tun nichts Falsches. Vertreterinnen und Vertreter der Falschheitsthese können dann für die These argumentieren, dass man ihnen nur Vorwürfe machen kann, wenn sie zuvor eine moralische Pflicht verletzt haben und wenn diese Pflichtverletzung in einem bestimmten Verhältnis zu dem steht, das man ihnen vorwirft. Ein argumentativer Zug dieser Art wird in der Literatur als Rückverfolgungsstrategie (tracing-strategy) diskutiert. Dass Beatrix so handelt, wie sie es im oben beschriebenen Fall tut, ist ein guter Hinweis darauf, dass sie zuvor eine Pflicht verletzt hat. Es scheint nämlich plausibel, dass wir die allgemeine moralische Pflicht haben, in bestimmten Situationen Einfluss darauf zu nehmen, welche Einstellungen wir haben. Man könnte sagen, dass wir die Pflicht haben, Einstellungsmanagement zu betrei-
_____ though such a person would thereby respect the duties with which persons can demand compliance, in failing to respect their authority to demand this, he would also fail, in an important sense, to respect them. He would fail to acknowledge their equal authority as free and rational and so fail to relate to them on terms of equal respect“ (Darwall 2006, S. 140). 21 Neben Überlegungen zugunsten der Doktrin der Doppelwirkung gibt es auch andere Argumente dafür, dass Absichten die Falschheit von Handlungen beeinflussen. Vgl. z.B. Hanser (2005) und Heuer (2015).
2.2 Das Richtige aus niederen Motiven tun? | 65
ben. Wenn wir zum Beispiel auf eine Weise wütend sind, die leicht außer Kontrolle geraten könnte, haben wie in der Regel die Pflicht, dafür zu sorgen, dass wir uns wieder beruhigen, etwa indem wir dreimal tief durchatmen, bis 20 zählen, kalt duschen oder einen Sandsack boxen. Außerdem scheint es plausibel, dass wir die allgemeine Pflicht haben, dafür zu sorgen, dass es keine dramatischen Konsequenzen hat, wenn unsere Wut doch außer Kontrolle geraten sollte. Beatrix dürfte wohl die Pflicht gehabt haben, dafür zu sorgen, dass keine Pistole in der Nähe ist, wenn sie auf Bill trifft. Dass sie Bill nun aus Hass erschießt, ist ein guter Beleg dafür, dass sie eine dieser Pflichten zuvor verletzt hat. Nun lässt sich argumentieren, dass es nur angemessen ist, Beatrix vorzuwerfen, dass sie Bill getötet hat, wenn sie eine moralische Pflicht der genannten Art verletzt hat und wenn die Tatsache, dass sie Bill aus Hass getötet hat, in einem kausalen Verhältnis der richtigen Art dazu steht, dass sie zuvor eine solche Pflichtverletzung begangen hat. Dieses Verhältnis muss derart sein, dass ihre Pflichtverletzung erklären kann, weshalb sie Bill aus Hass tötet. Die Rückverfolgungsstrategie, die ich hier angewendet habe, besagt, dass es angemessen sein kann, einer Person für etwas Vorwürfe zu machen, insofern es angemessen ist, ihr für etwas anderes, zeitlich Früheres Vorwürfe zu machen und insofern diese beiden Vorwurfsgegenstände in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen. Diese Strategie wird in der Literatur intensiv diskutiert und zwar insbesondere mit Blick auf die Kontroll- und die epistemische Bedingung moralischer Vorwerfbarkeit.22 Ich werde diese Strategie hier nicht im Allgemeinen verteidigen, wohl aber die spezifische Version, die ich vorgeschlagen habe. Ein viel diskutierter Aspekt der Rückverfolgungsstrategie ist die Frage, welche epistemische Bedingung eine Person erfüllen muss, damit sie ein angemessenes Ziel von Vorwürfen sein kann. So wird diskutiert, ob Beatrix vorhersehen musste, dass sie Bill aus Hass töten wird, damit man ihr angemessenerweise dafür Vorwürfe machen kann. Kritiker wenden gegen eine solche Position ein, dass diese Bedingung fast nie erfüllt wird, sodass die Position unplausiblerweise impliziert, dass es viel seltener angemessen ist, Personen Vorwürfe zu machen, als wir im Alltag meinen. Eine überzeugendere Alternative besagt dagegen, dass es vernünftig für Beatrix gewesen sein muss zu glauben, dass ihr Hass schlimme Konsequenzen haben kann, damit man ihr angemessenerweise vorwerfen kann, dass sie Bill aus Hass getötet hat. Und es ist plausibel, dass Beatrix diese Bedingung erfüllt.
_____ 22 Vgl. für Einwände gegen die Rückverfolgungsstrategie z.B. Vargas (2005) und McKenna (2008). Vgl. Fischer und Tognazzini (2009) für eine allgemeine Verteidigung der Strategie.
66 | 2 Vorwerfbarkeit und Falschheit
Man könnte weiter einwenden, dass die Rückverfolgungsstrategie die falsche Antwort auf die Frage impliziert, was wir einander angemessenerweise vorwerfen können. Es scheint nun, als könnten wir Beatrix nur vorwerfen, dass sie kein Einstellungsmanagement betrieben hat, nicht aber, dass sie Bill aus Hass umgebracht hat. Doch scheint es, als können wir ihr genau das angemessenerweise vorwerfen. Es ist zunächst bemerkenswert, dass die prominenteste Alternative zur Falschheitsthese genau das gleiche Problem hat. Dieser Ansatz besagt, dass es nur angemessen ist, einer Person moralische Vorwürfe zu machen, wenn sie mangelnden guten Willen hat und dass es nicht moralisch falsch ist, mangelnden guten Willen zu haben.23 Wenn aber die Angemessenheit von moralischen Vorwürfen etwas moralisch Problematisches voraussetzt und das moralisch Problematische darin besteht, einen mangelnden guten Willen zu haben, dann scheint es so, als könnten wir Personen nur vorwerfen, einen mangelnden guten Willen zu haben und nicht, irgendwelche Handlungen auszuführen. Vertreterinnen und Vertreter des Willensqualitätsansatzes antworten auf diesen Einwand damit, dass wir Personen die Handlungen vorwerfen können, die Ausdruck ihres mangelnden guten Willens sind und dass die Relation des Ausdrucks zumindest teilweise eine kausale Relation ist. Damit rechtfertigen sie, dass wir Beatrix vorwerfen, Bill aus Hass getötet zu haben. Das ist eine Strategie der Rückverfolgung – und das ist besonders bemerkenswert, weil berühmte Vertreter der Willensqualitätsthese der Rückverfolgungsstrategie explizit kritisch gegenüberstehen.24 Die Verteidigung der Falschheitsthese kann nun die gleiche Strategie anwenden: Wir können Beatrix nur vorwerfen, Bill aus Hass getötet zu haben, insofern es eine kausale Verbindung der richtigen Art zwischen dieser Handlung und damit gibt, dass sie zuvor eine bestimmte Pflicht verletzt hat. Also können auch Vertreterinnen und Vertreter der Falschheitsthese Beatrix vorwerfen, Bill aus Hass getötet zu haben. Und eine allgemeine Lehre dieser Diskussion ist, dass Vertreterinnen und Vertreter einer Willensqualitätsthese, die erklären wollen, weshalb es angemessen sein kann, Personen bestimmte Handlungen vorzuwerfen, ebenfalls eine Rückverfolgungsstrategie anwenden: Auch sie meinen, dass es nur angemessen ist, einer Person ihre Handlungen vorzuwerfen, inso-
_____ 23 Vgl. z.B. Shoemaker (2015a; 2015b, Kap. 3), McKenna (2012, Kap. 3 und 8) und Capes (2012). 24 So etwa McKenna, der die Rückverfolgungsstrategie kritisiert (2008) und der außerdem meint, dass Vorwerfbarkeit nicht Falschheit (2012, Kap. 8), sondern stattdessen mangelnden guten Willen (2012, Kap. 3) voraussetzt.
2.3 Vorwürfe für Haltungen und Charaktereigenschaften | 67
fern es angemessen ist, ihr etwas anderes, zeitlich Früheres vorzuwerfen, nämlich dass sie einen mangelnden guten Willen hatte und wenn mangelnder guter Wille und Handlung in einem bestimmten kausalen Verhältnis zueinander stehen. Ein dritter Einwand lautet, dass die Rückverfolgungsstrategie in solchen Fällen unnötig ist. Wenn eine Person eine andere aus Hass umbringt, dann sei das so abscheulich, dass es angemessen sei, ihr Vorwürfe zu machen. Das Verhalten einer solchen Person sei Ausdruck einer problematischen Haltung gegenüber den moralischen Werten und diese Haltung sorge selbst dafür, dass es angemessen ist, ihr Vorwürfe zu machen. Um das zu wissen, sei es nicht nötig, die Handlung der Person zurückzuführen auf irgendetwas anderes. Die gerade vorgestellte Überlegung leitet zu dem Einwand über, den ich im folgenden Abschnitt diskutieren werde, nämlich dass es angemessen sein kann, Personen für ihre Haltungen und Charaktereigenschaften Vorwürfe zu machen, selbst wenn es nicht falsch ist, diese zu haben. Bevor ich diese These genauer diskutiere, werde ich kurz die zentralen Gedanken dieses Abschnitts zusammenfassen. Gegen die Falschheitsthese wird eingewandt, dass sie nicht damit vereinbar sei, dass es manchmal angemessen ist, Personen Vorwürfe zu machen, die das Richtige aus niederen Motiven tun. Dagegen habe ich argumentiert, dass es in manchen Fällen dieser Art einfach nicht stimmt, dass diese Personen nur zulässig handeln, sondern dass sie bestimmte Pflichten verletzen, indem sie aus niederen Motiven handeln. Doch auch wer ablehnt, dass es solche Pflichten gibt, kann mithilfe der Falschheitsthese erklären, dass es angemessen sein kann, Personen in den skizzierten Fällen Vorwürfe zu machen. Dazu muss man eine sogenannte Rückverfolgungsstrategie anwenden, die besagt, dass es nur angemessen ist, Akteurinnen und Akteuren vorzuwerfen, das Richtige aus falschen Gründen zu tun, wenn sie vorher bestimmte Pflichten verletzt haben.
2.3 Vorwürfe für Haltungen und Charaktereigenschaften 2.3 Vorwürfe für Haltungen und Charaktereigenschaften 2.3.1 Der Fall Dick: Sexistische Grundhaltung und richtige Entscheidung Am Ende des vorangegangenen Abschnitts wurde der hier zentrale Einwand gegen die These, dass es nur angemessen ist, Personen Vorwürfe zu machen, die eine Pflicht verletzt haben, schon genannt: Manchmal sei es angemessen, Personen bestimmte Haltungen oder Charaktereigenschaften vorzuwerfen, obwohl es nicht falsch sei, diese Haltungen oder Charaktereigenschaften zu haben. Ich werde in diesem Abschnitt zunächst einen solchen Fall genauer vor-
68 | 2 Vorwerfbarkeit und Falschheit
stellen und den Gedanken plausibilisieren, dass es sich um ein Gegenbeispiel zur Falschheitsthese handelt. Dann werde ich zwei Antworten zugunsten der Falschheitsthese vorstellen. Ich werde also dafür argumentieren, dass der hier im Zentrum stehende Fall tatsächlich kein Gegenbeispiel zur Falschheitsthese ist. David Shoemaker entwirft folgenden Fall:25 Suppose that Dick is the chair of a philosophy department. During a department meeting, he solicits opinions about a proposed resolution from several members of the department, but in so doing he pays attention only to the opinions of the men, and then, solely on the basis of their opinions, he institutes the resolution, with an enthusiastic attitude toward carrying out the will of the department. As it turns out, all of the members of the department support the resolution, so it is the will of the department. And let us suppose further that it is the right thing to do. He might well be blameworthy, however. Why? He instituted the resolution by taking seriously only the opinions of the men, ignoring the women’s voices altogether. The fact that they too support the resolution, and so consider it a good thing, was irrelevant to him (Shoemaker 2015a, S. 704). Dick fasst als Institutsdirektor einen Beschluss, den alle Institutsmitglieder unterstützen und Shoemaker beschreibt den Fall so, dass diese Entscheidung die Richtige ist. Trotzdem scheint es angebracht zu sein, Dick Vorwürfe zu machen. Ohne akzeptablen Grund achtet er nur auf die Unterstützung einer Untergruppe aller Teilnehmenden und fällt die Entscheidung allein vor diesem Hintergrund. Gegnerinnen und Gegner der Falschheitsthese meinen, dass Dick weder falsch handelt, noch beabsichtigt er, etwas Falsches zu tun, er glaubt nicht, dass die Entscheidung, die er trifft, falsch ist und er handelt nicht aus niederen Motiven. Trotzdem ist es, so die Gegnerinnen und Gegner, angemessen, ihm Vorwürfe zu machen. Deshalb sei die Falschheitsthese nicht zu halten. Die Verteidigung der Falschheitsthese könnte einfach antworten, dass Dick die Pflicht hatte, die Meinung der weiblichen Institutsmitglieder ernst zu nehmen. Es scheint, als könne man Pflichten dieser Art mit dem Wohlergehen der betroffenen Frauen begründen, mit ihrer Autonomie und Würde und mit plausiblen allgemeinen Verhaltensprinzipien.
_____ 25 Ähnliche Fälle spielen vor allem in der Diskussion darum eine Rolle, welche Art von Kontrolle Vorwerfbarkeit oder Verantwortung voraussetzen; vgl. z.B. Adams (1985), A. Smith (2005), Sher (2006, Kap. 4), Holroyd (2012) und McKenna (2012, Kap. 8).
2.3 Vorwürfe für Haltungen und Charaktereigenschaften | 69
Shoemaker meint dagegen, dass es nicht falsch von Dick ist, die Meinungen der weiblichen Institutsmitglieder nicht ernst zu nehmen. Er geht von der verbreiteten – wenn auch nicht von allen geteilten – Annahme aus, dass es nur dann falsch ist, eine bestimmte Handlung auszuführen, wenn man auf bestimmte Weise in der Lage ist, es zu unterlassen, diese Handlung auszuführen. Dieser Gedanke folgt aus den Annahmen, dass falsche Handlungen Pflichtverletzungen sind und dass man nur die Pflicht hat, etwas nicht zu tun, wenn man es in einem gewissen Sinn unterlassen kann, dies zu tun – das ist eine Version des Sollen-impliziert-Können-Prinzips, das auch Kants Gesetz genannt wird.26 Entscheidend ist nun, welche Art von Unterlassen- und Tunkönnen von moralischen Pflichten vorausgesetzt wird. Shoemaker bezeichnet das relevante Können als volitionale und rationale Kontrolle (volitional and rational control, 2015a, S. 705). Unter volitionaler Kontrolle versteht er unsere Möglichkeit, direkt und unmittelbar durch unseren Willen zu verursachen, dass wir bestimmte Handlungen ausführen.27 So scheinen wir etwa die Möglichkeit zu haben, jetzt den linken Arm zu heben oder einen Schritt nach rechts zu gehen, wenn wir uns entscheiden, dies zu tun. Wir scheinen aber auch mittelbar Kontrolle über komplexere Handlungen zu haben, wie etwa den Müll herauszubringen oder in die Uni zu fahren, indem wir volitionale Kontrolle über die einzelnen Schritte haben, die notwendig und hinreichend dafür sind, das zu tun. Rationale Kontrolle haben wir, so Shoemaker, über unsere Einstellungen, wenn sie sich den eigenen evaluativen Urteilen anpassen können. So sind meine Kopfschmerzen zum Beispiel nicht derart, dass ich sie aufgeben kann, indem ich urteile, dass sie sinnlos oder unvernünftig sind oder Ähnliches. Deshalb habe ich keine rationale Kontrolle über sie. Wenn ich jedoch die Absicht habe, einer Person weh zu tun, dann ist diese Einstellung zumindest der Art nach so, dass ich sie aufgeben kann, wenn ich urteile, dass es schlecht, sinnlos oder unvernünftig ist, ihr weh zu tun.28
_____ 26 Vgl. z.B. Haji (2012, Kap. 1). Vgl. für Kritik an dem Sollen-impliziert-Können-Prinzip z.B. Fischer (2003) und Graham (2011). 27 Shoemaker schreibt über volitional control, dass es „a direct and immediate effect of an exercise of our will“ (2015a, S. 699) sei. Vgl. Hieronymi (2008) für eine Übersicht über verschiedene Möglichkeiten, voluntariness in diesem Zusammenhang zu verstehen. 28 Shoemaker: „One’s attitudes are under one’s rational control when they are governable by one’s evaluative judgments, that is, alterable in line with one’s judgments of their – or their objects’ – worth. So, for example, to the extent my desire and intention to hurt you are governable my judgment that it would be best for me not to do so, those attitudes are under my rational control“ (Shoemaker 2015a, S. 699). Ähnliche Überlegungen lassen sich bei Scanlon
70 | 2 Vorwerfbarkeit und Falschheit
Wenn wir volitionale Kontrolle darüber haben, einen Schritt nach rechts zu tun und rationale Kontrolle darüber, die Absicht aufzugeben, jemandem wehzutun, kann es, so Shoemaker, falsch sein, einen Schritt nach rechts zu tun oder die Absicht zu haben, jemandem wehzutun. Dick habe aber keine Kontrolle dieser Art darüber, die weiblichen Institutsmitglieder ernst zu nehmen. Seine sexistische Grundhaltung (stance, 2015a, S. 705) sorge dafür, dass es angemessen ist, ihm Vorwürfe zu machen, aber weder habe sein Wille unmittelbar und direkten Einfluss darauf, dass er diese Grundhaltung hat oder aufgibt, noch sei es ihm möglich, diese Haltung aufzugeben, indem er ein normatives oder evaluatives Urteil fällt. Deshalb könne Dick nicht die moralische Pflicht haben, eine sexistische Haltung nicht zu haben. Trotzdem sorge die sexistische Grundhaltung von Dick dafür, dass es angemessen ist, ihm Vorwürfe zu machen. Also ist, so Shoemaker, die Falschheitsthese falsch. Shoemakers Argument kann verallgemeinert werden und ganz ähnliche Überlegungen spielen eine wichtige Rolle in der Diskussion um die Kontrollbedingung moralischer Vorwerfbarkeit.29 Es scheint angemessen zu sein, Personen bestimmte Charaktereigenschaften, wie feige zu sein, und Grundhaltungen, wie sexistisch zu sein, vorzuwerfen. Aber wir scheinen weder in der Lage zu sein, diese Haltungen und Eigenschaften unmittelbar und direkt durch Willensakte aufzugeben, noch scheinen wir in der Lage zu sein, sie einfach dadurch aufzugeben, dass wir bestimmte Urteile fällen. Wenn das stimmt, dann setzt Vorwerfbarkeit eine schwächere Art von Kontrolle voraus als die, die Shoemaker als volitionale und rationale Kontrolle bezeichnet. Und gemeinsam mit der zunächst plausiblen Zusatzannahme, dass moralische Pflichten eine dieser Arten von Kontrolle voraussetzen, kommt man zu dem Ergebnis, dass Vorwerfbarkeit eine schwächere Art von Kontrolle voraussetzt, als moralische Falschheit, sodass es angemessen sein kann, einer Person Vorwürfe zu machen, die keine Pflicht verletzt hat.
2.3.2 Zurückweisung des angeblichen Gegenbeispiels Ich werde nun zwei Antworten auf das angebliche Gegenbeispiel zur Falschheitsthese vorstellen: Die Falschheitsthese lässt sich verteidigen, indem man zeigt, dass Dick sehr wohl rationale Kontrolle über relevante Einstellungen hat
_____ (1998, Kap. 6), der in diesem Zusammenhang von judgment-sensitive attitudes spricht, und A. Smith (2005) finden. 29 Vgl. Fußnote 25 in diesem Kapitel.
2.3 Vorwürfe für Haltungen und Charaktereigenschaften | 71
und dass er entsprechende moralische Pflichten verletzt hat und es lässt sich auch hier die Rückverfolgungsstrategie anwenden, die ich oben vorgestellt habe. Die erste Verteidigung der Falschheitsthese beginnt mit der Feststellung, dass Gegnerinnen und Gegner dieser These fragen, welche Einstellungen Dick hat und was er tut. Und ihre Antworten sind, dass Dick den enthusiastischen Wunsch hat, den Willen des gesamten Instituts auszuführen und dass er die Entscheidung trifft, die alle Mitglieder unterstützen. Daraus folgern Gegnerinnen und Gegner der Falschheitsthese, dass Dick keine moralische Pflicht verletzt. Das folgt aber nicht. Denn wir können und sollten auch fragen, welche Einstellungen Dick nicht hat und was er nicht tut. Wir erfahren darüber nichts Explizites in der Beschreibung des Falls und können daher davon ausgehen, dass er nur die Einstellungen hat, die explizit genannt werden. Eine Einstellung, die Dick zum Beispiel nicht hat, ist die folgende: Er hat nicht die Absicht, allen Institutsmitgliedern gleichermaßen viel rationalen Einfluss auf seine Entscheidung zu ermöglichen. Und er unterlässt es auch, dies zu tun. Absichten sind typische Beispiele für Einstellungen, über die wir, insofern wir rationale Akteurinnen und Akteure sind, rationale Kontrolle haben. Wenn eine rationale Akteurin glaubt, dass sie entscheidenden Grund hat, eine Handlung auszuführen, dann beabsichtigt sie auch, sie auszuführen. Nimmt man an, dass Dick ein rationaler Akteur ist, was ich hier tue, um den Fall nicht unnötig zu verkomplizieren, dann hat er rationale Kontrolle über die Absicht, den Institutsmitgliedern gleichermaßen rationalen Einfluss auf seine Entscheidungen zu ermöglichen. Nimmt man dann mit Shoemaker an, dass Pflichten rationale Kontrolle voraussetzen, lässt sich außerdem dafür argumentieren, dass Dick die Pflicht haben kann, dies zu tun. Diese Pflicht kann mit dem Wohlergehen der Betroffenen begründet werden, mit dem Wert der Gleichheit, mit der Autonomie und Würde aller Beteiligten, mit plausiblen allgemeinen Verhaltensprinzipien, sowie mit den spezifischen Pflichten, die eine Direktorin oder ein Direktor einer wissenschaftlichen Einrichtung hat. Auf diese Weise kann dafür argumentiert werden, dass Dick die Pflicht hat, allen Institutsmitgliedern die Möglichkeit zu geben, gleichermaßen rationalen Einfluss auf seine Entscheidung zu nehmen. Dick hat aber nicht die Absicht, dies zu tun und er tut es auch nicht. Deshalb verletzt er eine moralische Pflicht und somit ist Dicks Fall kein Gegenbeispiel zur These, dass es nur angemessen ist, denjenigen moralische Vorwürfe zu machen, die eine moralische Pflicht verletzt haben. Die zweite Verteidigung der Falschheitsthese besteht darin zu zeigen, dass mit einer Rückverfolgungsstrategie gezeigt werden kann, dass Dicks Fall kein Gegenbeispiel zu ihr ist. Die Verteidigung der Falschheitsthese kann also akzep-
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tieren, dass es nicht falsch von Dick ist, eine sexistische Grundhaltung zu haben und dass er auch sonst in der beschriebenen Situation keine moralische Pflicht verletzt. Sie kann dann dafür argumentieren, dass es nur angemessen ist, Dick sein sexistisches Verhalten oder gar seine sexistische Grundhaltung vorzuwerfen, wenn es eine kausale Verbindung der richtigen Art zwischen diesem Verhalten oder dieser Haltung und einer vorherigen Pflichtverletzung gibt. So kann Dick zum Beispiel die Pflicht gehabt haben, seine sexistische Grundhaltung loszuwerden beziehungsweise die Pflicht, all die kleinen Schritte zu unternehmen, die notwendig und hinreichend dafür sind, seine Grundhaltung loszuwerden. Psychologische Studien legen nahe, dass viele Menschen dazu in der Lage sind, sexistische, rassistische und ähnliche Grundhaltungen und die sie teilweise konstituierenden impliziten Vorurteile in einem gewissen Maße zumindest abzuschütteln, etwa indem sie sich mit der Gruppe von Menschen beschäftigen, denen gegenüber sie solche Haltungen oder Einstellungen haben.30 So ist es gut möglich, dass Dick heute wohl eine andere Haltung gegenüber den weiblichen Institutsmitgliedern hätte, wenn er sich intensiv mit den Arbeiten von Wissenschaftlerinnen, Künstlerinnen oder Politikerinnen auseinandergesetzt und wichtige Themen mit Kolleginnen und Studentinnen diskutiert hätte. Nehmen wir an, dass Dick in der Lage war, auf diese Weise seinen Charakter zu bilden. Dann kann es sehr wohl sein, dass er die Pflicht hatte, seine sexistische Haltung loszuwerden. Es ist sogar sehr plausibel, dass er als Lehrender und Vorgesetzter die Pflicht hatte und hat, sich daraufhin zu überprüfen, ob er eine sexistische Grundhaltung hat, um gegebenenfalls solche Schritte der Charakterbildung zu unternehmen. Auf diese Weise kann mithilfe der Rückverfolgungsstrategie erklärt werden, dass es angemessen ist, Dick Vorwürfe zu machen, wenn sein sexistisches Verhalten oder seine sexistische Grundhaltung auf eine vorherige Pflichtverletzung zurückgeführt werden kann. Auch so kann also begründet werden, weshalb Dicks Fall kein Gegenbeispiel zur These ist, dass es nur dann angemessen ist, einer Person moralische Vorwürfe zu machen, wenn sie eine moralische Pflicht verletzt hat. In diesem Abschnitt habe ich einen zweiten Einwand gegen die Falschheitsthese vorgestellt und zurückgewiesen. Der Einwand besagt, dass die Falschheitsthese damit unvereinbar sei, dass es manchmal angemessen ist, Personen ihre Grundhaltungen oder Charaktereigenschaften vorzuwerfen, obwohl es nicht falsch ist, diese Grundhaltungen und Charaktereigenschaften zu haben.
_____ 30 Vgl. z.B. Holroyd (2012) und die dort diskutierte Literatur.
2.4 Inkompatibilistische Konsequenzen | 73
Ich habe dafür argumentiert, dass sich in dem konkreten Fall, der hier im Zentrum steht, Pflichtverletzungen finden lassen, die erklären, weshalb es angemessen ist, Vorwürfe zu machen. Zwar ist das Haben einer Charaktereigenschaft oder Grundhaltung keine Pflichtverletzung, doch das Nichthaben bestimmter Einstellungen kann eine Pflichtverletzung sein. Und das Haben der Grundhaltung kann auf eine vorherige Pflichtverletzung zurückgeführt werden. Der hier diskutierte Einwand gegen die Falschheitsthese kann also zurückgewiesen werden.
2.4 Inkompatibilistische Konsequenzen 2.4 Inkompatibilistische Konsequenzen Ich habe bislang ausführlich zwei Einwände gegen die These diskutiert, dass es nur dann angemessen ist, einer Person moralische Vorwürfe zu machen, wenn sie eine moralische Pflicht verletzt hat. Nun komme ich zu dem Gedanken, dass diese These unter bestimmten Annahmen mit der Position unvereinbar ist, dass es angemessen sein kann, Personen in einer determinierten Welt moralische Vorwürfe zu machen. Das ist natürlich nur ein Problem für Kompatibilistinnen und Kompatibilisten über Vorwerfbarkeit und Determinismus, also für Autorinnen und Autoren, die meinen, dass es auch in einer determinierten Welt angemessen sein kann, Personen moralische Vorwürfe zu machen. Ich werde mich gegenüber der Frage, ob das stimmt, neutral verhalten. Stattdessen werde ich dafür argumentieren, dass diese These viel von ihrer Plausibilität verliert, wenn man die Zusatzannahmen macht, die notwendig dafür sind, dass die Falschheitsthese inkompatibilistische Konsequenzen hat. Ich werde zeigen, dass der Einwand nur diejenigen trifft, die einen Inkompatibilismus über Falschheit und Determinismus vertreten und einen Kompatibilismus über Vorwerfbarkeit und Determinismus, was eine instabile und unattraktive Kombination von Positionen ist. Es wird, wie gesagt, von vielen angenommen, dass es nur dann falsch von einer Person ist, eine Handlung auszuführen, wenn sie in einem bestimmten Sinn in der Lage ist, es zu vermeiden, diese Handlung auszuführen. Manche Autorinnen und Autoren glauben nun, dass es in einer determinierten Welt diese Fähigkeit nicht gibt.31 Sie glauben, dass es in einer determinierten Welt keine
_____ 31 In der Debatte um die Vereinbarkeit von Verantwortung und Determinismus wird eine Position vertreten (der sogenannte harte Inkompatibilismus), die besagt, dass es in unserer Welt auch dann keine Verantwortung gibt, wenn der Determinismus falsch ist, weil es auch dann nicht die für Verantwortung nötige Kontrolle gibt (vgl. z.B. Pereboom 2007; 2014). Diese Position kann man auf die hier relevante Frage übertragen und sie würde dann, grob ge-
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falschen Handlungen geben kann, weil Akteurinnen und Akteure in einer solchen Welt nicht im relevanten Sinn vermeiden können, die Handlungen auszuführen, die sie tatsächlich ausführen.32 Manche glauben aber auch, dass es angemessen sein kann, Personen Vorwürfe zu machen, selbst wenn der Determinismus wahr ist. Diese beiden Thesen lassen sich kombinieren, wenn man annimmt, dass die Kontrolle, die Falschheit voraussetzt, anspruchsvoller ist als die Kontrolle, die Vorwerfbarkeit voraussetzt.33 Wenn beide Positionen stimmen, muss die Falschheitsthese falsch sein. Das Argument dafür, dass die Falschheitsthese inkompatibilistische Konsequenzen hat, ist im Detail das folgende: (i) Es ist nur dann angemessen, S moralisch vorzuwerfen zu x-en, wenn es moralisch falsch von S ist zu x-en [die Falschheitsthese].34 (ii) Es ist nur dann moralisch falsch von S zu x-en, wenn S die moralische Pflicht hat, nicht zu x-en [analytisch wahr]. (iii) S hat nur die moralische Pflicht, nicht zu x-en, wenn S es vermeiden kann, zu x-en [eine Version des Sollen-impliziert-Können Prinzips]. (iv) Also ist es nur dann angemessen, S moralisch vorzuwerfen zu x-en, wenn S es vermeiden kann zu x-en [aus (i) bis (iv)].35 (v) Wenn S x-t und der Determinismus wahr ist, dann kann S es nicht vermeiden, zu x-en [Annahme: der Determinismus schließt die Kontrolle aus, eine Handlung zu vermeiden]. (vi) Wenn also S x-t und der Determinismus wahr ist, dann ist es nicht angemessen, S moralisch vorzuwerfen zu x-en [aus (iv) und (v)].
_____ sprochen, besagen, dass es in unserer Welt keine moralische Pflichtverletzungen gibt, weil es in ihr nicht die Art von Kontrolle gibt, die notwendig für Pflichtverletzungen ist, unabhängig davon, ob unsere Welt determiniert ist oder nicht. Wenn ich im Folgenden vom Inkompatibilismus spreche, ist sowohl klassischer als auch harter Inkompatibilismus gemeint. 32 Vgl. z.B. Haji (2002, Teil 1; 2012) und Pereboom (2014, Kap. 6) für Diskussionen. 33 Das scheint die Position von Scanlon (2008, Kap. 4) und Shoemaker (2013; 2015a) zu sein. 34 Wer glaubt, dass man angemessene Vorwürfe auf die Weise zurückführen kann, die ich oben vorgestellt habe, der muss (i) folgendermaßen formulieren: Es ist nur dann angemessen, S moralisch vorzuwerfen zu x-en, wenn es moralisch falsch von S ist zu x-en oder wenn das xen auf ein moralisch falsches y-en zurückgeführt werden kann. Die folgenden Schritte des Arguments müssten durch entsprechende Ergänzungen erweitert werden. Für die hier zu diskutierende Frage, ob die Falschheitsthese mit einem Kompatibilismus über Vorwerfbarkeit und Determinismus vereinbar ist, spielen diese Erweiterungen jedoch keine Rolle, weshalb ich sie, der Einfachheit halber, weglasse. 35 Vgl. für das Argument bis zu diesem Punkt Widerker (1991). Vgl. für weitere Diskussionen z.B. Nelkin (2011, Kap. 5), Capes (2012) und Pereboom (2014, Kap. 6).
2.4 Inkompatibilistische Konsequenzen | 75
Ich werde nun kurz darauf eingehen, was unter Determinismus und der Kontrolle zu verstehen ist, eine Handlung zu vermeiden. Oft wird unter Determinismus die These verstanden, dass ein Weltzustand zu einem beliebigen Zeitpunkt gemeinsam mit den Naturgesetzen alle zukünftigen Weltzustände festlegt.36 Nehmen wir den Weltzustand, in dem ich jetzt meinen linken Arm ausstrecke und den Weltzustand, in dem Cäsar getötet wurde. Wenn der so verstandene Determinismus wahr ist, dann waren der Weltzustand, in dem Cäsar getötet wurde, und die Naturgesetze hinreichend dafür, dass ich jetzt meinen linken Arm ausstrecke. Was auch immer zwischen diesen beiden Weltzuständen passiert ist, schon als Cäsar getötet wurde, stand in einem gewissen Sinn fest, dass ich jetzt meinen linken Arm ausstrecke. Nehmen wir an, der Determinismus ist wahr. Welche Art von Kontrolle hatte ich darüber, dass ich jetzt meinen linken Arm nicht ausstrecke? Ich hätte nichts tun können, was dazu geführt hätte, dass ich meinen Arm jetzt nicht ausstrecke. Schließlich kann ich weder verhindern, dass Cäsar getötet wurde, noch kann ich die Naturgesetze ändern.37 Was immer ich auch getan hätte, ich hätte den Arm jetzt ausgestreckt. Nehmen wir an, dass man nur dann die Pflicht haben kann, etwas zu tun oder zu unterlassen, wenn man mit seinem Willen (unmittelbar oder mittelbar) dafür sorgen kann, dass man es tut oder unterlässt. Dann kann es nicht falsch von mir sein, den Arm jetzt auszustrecken. Denn mir fehlte die Kontrolle, die notwendig dafür ist, dass ich es vermeide, den Arm auszustrecken. Das Argument dafür, dass die Falschheitsthese inkompatibilistische Konsequenzen hat, beruht auf einem bestimmten Verständnis der Kontrolle, die notwendig für Falschheit ist. Das Argument beruht nämlich auf der Annahme, dass die Kontrolle darüber, eine Handlung zu vermeiden, die nach Prämisse (iii) notwendig für moralische Falschheit ist, derart ist, dass Personen sie in einer determinierten Welt nicht haben können, wie Prämisse (v) behauptet.
_____ 36 Vgl. z.B. van Inwagen (1983), Watson (2003) und Keil (2007, Kap. 2). 37 Überlegungen dieser Art werden in der Literatur um die Vereinbarkeit von Verantwortung und Determinismus als Konsequenz-Argument diskutiert, das v.a. van Inwagen (1983) entwickelt hat. Im Groben funktioniert das Argument auf folgende Weise, wenn man die Wahrheit des Determinismus annimmt: (i) Niemand hat Einfluss darauf, was in der Vergangenheit war und niemand hat Einfluss auf die Beschaffenheit der Naturgesetze; (ii) niemand hat Einfluss darauf, dass die Vergangenheit und die Naturgesetze die Zukunft bestimmen; (iii) also hat niemand Einfluss über die Zukunft; vgl. für diese Formulierung McKenna und Coates (2015); vgl. z.B. Watson (2003) und Keil (2007, Kap. 4) für andere Formulierungen und Diskussionen.
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Nun können Vertreterinnen und Vertreter der Falschheitsthese, die glauben, dass es angemessen sein kann, Personen in einer determinierten Welt Vorwürfe zu machen, auf (wenigstens) zwei Weisen auf diesen Gedankengang antworten. Erstens können sie die gerade genannte Annahme ablehnen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Kontrolle darüber, ob man eine Handlung ausführt oder vermeidet, zu verstehen. Und nicht jede Weise, diese Kontrolle zu verstehen, ist mit dem Determinismus unvereinbar.38 Und so kann die Verteidigung der Falschheitsthese dafür argumentieren, dass es die Kontrolle, die Falschheit voraussetzt, sehr wohl in einer determinierten Welt geben kann – man kann also für einen Kompatibilismus über Falschheit und Determinismus argumentieren. Ich kann an dieser Stelle nicht für oder gegen ein bestimmtes Verständnis der Kontrollbedingung für moralische Falschheit argumentieren. Doch das müssen Vertreterinnen und Vertreter der Falschheitsthese an dieser Stelle auch nicht. Um die Falschheitsthese zu verteidigen, reicht es auch zweitens zu zeigen, dass es plausibel ist, dass es in einer determinierten Welt unangemessen ist, Vorwürfe zu machen, wenn man annimmt, dass in einer determinierten Welt die Kontrollbedingung für Falschheit nicht erfüllt sein kann. Es reicht also zu zeigen, dass ein Inkompatibilismus über Falschheit und Determinismus und einer über Vorwerfbarkeit und Determinismus besser zusammenpassen als ein Inkompatibilismus über Falschheit und Determinismus und ein Kompatibilismus über Vorwerfbarkeit und Determinismus. Um das zu zeigen, sollte man sich zunächst fragen, weshalb der Kompatibilismus über Vorwerfbarkeit und Determinismus überhaupt so vielen Autorinnen und Autoren attraktiv erscheint. Die, wie mir scheint, treibende, wenn auch meist unausgesprochene Motivation dafür, den Kompatibilismus über Vorwerfbarkeit und Determinismus zu entwickeln und zu verteidigen, ist, dass er in einem gewissem Sinn konservativ ist. Er hat weniger Potential zu radikalen Konsequenzen für unser alltägliches Zusammenleben als der Inkompatibilismus über Vorwerfbarkeit und Determinismus. Diese Position besagt, dass es unangemessen sei, Personen moralische Vorwürfe zu machen, wenn der Determinismus wahr ist. Tatsächlich wissen wir nicht, ob der Determinismus wahr ist. Wenn sich nun herausstellt, dass er wahr
_____ 38 Die meisten Versuche, die Kontrollbedingung für moralische Verantwortung so zu beschreiben, dass eine Person diese Art von Kontrolle auch in einer determinierten Welt haben kann, lassen sich hier übernehmen: Notwendig dafür, dass eine Person eine Pflicht verletzt, sei dann, dass sie diese Art der Kontrolle hat. Vgl. zur Übersicht McKenna und Coates (2015) und vgl. Haji (2012) für ausführliche Diskussionen.
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ist und wenn wir einen Inkompatibilismus über Determinismus und Vorwerfbarkeit annehmen, müssen wir folgern, dass wir uns und anderen andauernd unangemessenerweise Vorwürfe gemacht haben und machen. Ein wichtiger Teil unserer alltäglichen moralischen Praxis ist dann untergraben – und das ist radikal. Der Kompatibilismus über Vorwerfbarkeit und Determinismus läuft nicht Gefahr, solch radikale Konsequenzen zu haben. Selbst wenn der Determinismus wahr ist, so Vertreterinnen und Vertreter dieser Position, könne unsere Praxis des Vorwerfens noch immer vollkommen angemessen sein. Diesen konservativen Vorteil haben die Autorinnen und Autoren nicht, die einen Inkompatibilismus über Falschheit und Determinismus vertreten. Denn diese Form des Inkompatibilismus hat ebenfalls das Potential zu radikalen Konsequenzen. Wenn es sich herausstellt, dass der Determinismus wahr ist, folgt aus dieser Position, dass alle Urteile darüber, dass eine Person eine Pflicht verletzt hat, falsch sind. Und weil zumindest in unserer Kultur moralisches Denken zu einem großen Teil das Denken darüber ist, welche Handlungen Pflichtverletzungen waren und sind, eröffnet diese Position die Möglichkeit, dass ein großer Teil unseres moralischen Denkens auf Irrtümern beruht. Diese Position ist alles andere als konservativ. Nehmen wir einmal an, unsere Welt ist determiniert, es gibt deshalb keine moralisch falschen Handlungen und wir erkennen, dass dem so ist. Ein großer Teil unseres moralischen Denkens und Urteilens beruht damit auf Irrtümern. Wenn wir das erkennen, dürfte es uns wohl so erscheinen, als stehe unser gesamtes moralisches Denken und Handeln infrage. Wir würden uns wohl über viele moralisch relevante Praktiken (Vorwerfen, Verzeihen, Entschuldigen, Rechenschaftfordern, Bestrafen, Loben, Danken und so weiter) fragen, ob es gerechtfertigt oder angemessen sein kann, an ihnen festzuhalten. Und wir würden uns wohl kaum wundern, wenn sich herausstellt, dass sich einige unserer moralischen Praktiken nicht halten lassen. Im Gegenteil würde es uns wohl sehr wundern, wenn sich herausstellt, dass wir unsere moralische Alltagspraxis vollständig so belassen können, wie sie ist. Schließlich scheinen Pflichtverletzungen eine wichtige Rolle in unserem moralischen Denken und Handeln zu spielen, sodass zu erwarten ist, dass unsere aktuelle moralische Praxis zu einem wichtigen Teil unangemessen und ungerechtfertigt ist, wenn es keine Pflichtverletzungen gibt. Wenn man versucht, sich eine Situation auszumalen, in der unsere gesamte moralische Praxis zur Diskussion steht, sehe ich nicht, weshalb man darauf pochen sollte, dass es auch in dieser Situation angemessen ist, Personen Vorwürfe zu machen. Ich sehe also keinen Grund dafür, den Kompatibilismus über Vorwerfbarkeit und Determinismus für plausibler oder attraktiver zu halten, wenn man einen Inkompatibilismus über Falschheit und Determinismus akzeptiert.
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Ein Inkompatibilismus über Falschheit und Determinismus und ein Inkompatibilismus über Vorwerfbarkeit und Determinismus passen dagegen gut zusammen: Wenn man die erste Art des Inkompatibilismus und ihre möglicherweise radikalen Konsequenzen akzeptiert, sollte man erwarten, dass auch andere wichtige Bereiche unserer moralischen Praxis untergraben sind, wenn diese Konsequenzen zutreffen. Und die zweite Art des Inkompatibilismus benennt eine Praxis, für die genau das gilt. Es sei schließlich daran erinnert, dass der Inkompatibilismus über Vorwerfbarkeit und Determinismus ein lokaler Inkompatibilismus ist. Er ist zum Beispiel damit vereinbar, dass es in einer determinierten Welt angemessene alternative Praktiken geben kann, mit Übeltäterinnen und -tätern umzugehen.39 So kann es noch immer korrekt sein, bestimmte Urteile über Personen zu fällen, etwa dass sie feige, sexistisch oder rücksichtslos sind oder gehandelt haben. Es kann sich auch herausstellen, dass es in einer solchen Welt gerechtfertigt ist, eine Übeltäterin zu bestrafen und es kann sich herausstellen, dass es angemessen ist, mit bestimmten Emotionen wie Verachtung, bestimmten Formen der Enttäuschung (vgl. Kapitel 4) und vielleicht sogar Arten der Wut auf Personen zu reagieren. Inkompatibilistinnen und Inkompatibilisten über Vorwerfbarkeit und Determinismus meinen nur, dass es unangemessen ist, die spezifischen Vorwurfsemotionen gegenüber Übeltäterinnen und -tätern zu haben, die im Zentrum dieser Studie stehen, wenn der Determinismus wahr ist. Damit schließe ich meine Verteidigung der Falschheitsthese ab. Ich bin von der auf den ersten Blick plausiblen Position ausgegangen, dass es nur dann angemessen ist, einer Person Vorwürfe zu machen, wenn sie eine moralische Pflicht verletzt hat. Diese These ist in den vergangenen Jahren von verschiedenen Seiten zurückgewiesen worden und als Reaktion auf diese Zurückweisung sind alternative Ansätze der evaluativen Bedingung moralischer Vorwerfbarkeit entwickelt worden. Ich habe drei wichtige Einwände gegen die Falschheitsthese vorgestellt und entkräftet und damit auch dafür argumentiert, dass es unnötig ist, nach Alternativen zu suchen. Im folgenden Exkurs werde ich auf T.M. Scanlons Theorie moralischer Vorwerfbarkeit genauer eingehen. Scanlon hat den sowohl innovativsten als auch am heftigsten diskutierten jüngeren Ansatz zu Vorwürfen und Vorwerfbarkeit vorgelegt. Er glaubt weder, dass Vorwürfe notwendigerweise mit Emotionen einhergehen, noch, dass Vorwerfbarkeit Falschheit voraussetzt – er vertritt so-
_____ 39 Vgl. für ähnliche Überlegungen wie die folgenden z.B. Pereboom (2014, Kap. 6–8).
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mit einen Ansatz, der kaum weiter vom hier verteidigten entfernt sein könnte. Deshalb lohnt es sich, einen genaueren Blick auf seine Theorie zu werfen.
Exkurs: Scanlon über moralischer Vorwerfbarkeit Wir erwarten von einer Theorie der moralischen Vorwerfbarkeit, dass sie uns die Bedingung dafür verständlich macht, dass es grundsätzlich angemessen ist, einer Person moralische Vorwürfe zu machen. Scanlon charakterisiert diese Bedingung als Beschädigung einer moralischen Beziehung. Ich werde diesen Ansatz zunächst vorstellen und dann dafür argumentieren, dass Scanlons Verwendung des Beziehungsbegriffs mehr verdunkelt, als dass er erhellt und dass es verständlicher und plausibler wäre, wenn er von der Verletzung moralischer Pflichten statt der Beschädigung moralischer Beziehungen sprechen würde.40 Es ist, Scanlon zufolge, genau dann angemessen, einer Person Vorwürfe zu machen, wenn sie durch ihre Einstellungen eine Beziehung beschädigt hat, in der sie zu anderen Personen stehen kann: [T]o claim that a person is blameworthy for an action is to claim that the action shows something about the agent’s attitudes toward others that impairs the relations that others can have with him or her. To blame a person is to judge him or her to be blameworthy and to take your relationship with him or her to be modified in a way that this judgment of impaired relations holds to be appropriate (Scanlon 2008, S. 128–129, Hervorhebung im Original). Scanlon geht es zunächst um, so werde ich sie nennen, enge Beziehungen. Sein leitendes Beispiel ist das der Freundschaft, aber ganz ähnlich charakterisiert Scanlon auch Beziehungen zwischen Nachbarinnen, Kolleginnen und auch zwischen Anhängerinnen derselben etwa politischen Sache. Ich bleibe zunächst, wie Scanlon, bei der Freundschaftsbeziehung. Es gebe ein normatives Ideal der Freundschaft, das dabei hilft zu erkennen, ob eine bestimmte Beziehung zwischen zwei Personen eine Freundschaft ist, indem man untersucht,
_____ 40 Vgl. für andere Diskussionen von Scanlons Theorie des Vorwurfs und der Vorwerfbarkeit z.B. Gibbard (2009), Anwander (2010), Wolf (2011) und Wallace (2011). Auf Scanlons Begriff der moralischen Beziehung beziehen sich v.a. Sher (2013) und Brown (2016).
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wie sehr sich diese Beziehung vom Ideal unterscheidet. Das normative Ideal der Freundschaft gebe zugleich Standards vor, wie sich Freunde idealerweise zueinander verhalten.41 Freunde sollen zum Beispiel unter normalen Umständen keine Geheimnisse ausplaudern. Standards dieser Art machen verständlich, wie eine Beziehung wie die der Freundschaft beschädigt werden kann. Wenn ein Freund sich nicht so verhält, wie es die Standards der Freundschaft fordern, beschädige er damit die Freundschaftsbeziehung. Ein Freund, der bei einer Party meine Geheimnisse ausplaudert, um ein paar Lacher auf seiner Seite zu haben, zeige damit, dass er nicht so loyal ist, wie ein Freund sein soll.42 Eine Person ist, Scanlon zufolge, also genau dann ein angemessenes Ziel von Vorwürfen innerhalb einer Freundschaftsbeziehung, wenn sie die Freundschaft auf diese Weise beschädigt.43 Viele Vorwürfe finden innerhalb von solchen engen Beziehungen statt. Doch scheint es manchmal auch angemessen zu sein, Personen Vorwürfe zu machen, zu denen wir in keiner Beziehung dieser Art stehen, so wie der Kriminellen, von der wir in der Zeitung lesen oder manchen Despoten dieser Welt. Scanlon versucht das zu erklären, indem er den Begriff der moralischen Beziehung einführt.44 Personen stehen in der moralischen Beziehung zueinander, wenn und weil sie rationale Akteurinnen und Akteure sind, wenn und weil sie, so Scanlon, Wesen sind, „that are capable of understanding and responding to reasons“ (Scanlon 2008, S. 139; vgl. auch 2013b, S. 87). Dass rationale Akteurinnen und Akteure diese Eigenschaft haben, sei für alle anderen rationalen Akteurinnen und Akteure ein Grund, allgemeine Absichten ihnen gegenüber zu haben, wie zum Beispiel die Absicht, ihnen nicht grundlos Schmerzen zuzufügen, sie nicht zu belügen, zu töten und so weiter. Es sei auch Grund dafür, die Disposition zu haben, sich zu freuen, wenn es ihnen gut geht und so fort. „These attitudes and dispositions define what I am calling the moral relationship: the kind of mutual concern that, ideally, we all have toward other rational beings“ (Scanlon 2008, S. 140). Die moralische Beziehung werde beschädigt, indem eine Partei nicht die Einstellungen hat, die sie gemäß den Standards der moralischen Beziehung ha-
_____ 41 Vgl. Scanlon (2008, S. 133–134) und (2013b, S. 86–87). 42 Vgl. Scanlon (2008, S. 129). 43 Scanlon schreibt: „Impairment of the kind I refer to occurs when one party, while standing in the relevant relation to another person, holds attitudes toward that person that are ruled out by the standards of that relationship, thus making it appropriate for the other party to have attitudes other than those that the relationship normally involves“ (Scanlon 2008, S. 135). 44 Vgl. Scanlon (2008, S. 139–152).
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ben soll. Wenn sich also eine Person über das Unglück ihrer Mitmenschen freut, nie bereit ist zu helfen oder sogar die Absicht hat, jemandem aus Spaß Schmerzen zuzufügen, dann beschädige sie damit die moralische Beziehung, in der sie zu ihren Mitmenschen steht. Eine Person ist, Scanlon zufolge, also genau dann ein angemessenes Ziel von moralischen Vorwürfen, wenn sie die moralische Beziehung auf die beschriebene Weise beschädigt. Im Zentrum von Scanlons Theorie moralischer Vorwerfbarkeit steht der Begriff der moralischen Beziehung. Doch wie ist diese Beziehung zu verstehen? Ich werde nun wesentliche Unterschiede zwischen der moralischen Beziehung und engen Beziehungen, wie der der Freundschaft, aufzeigen. Erstens erklärt Scanlon selbst, dass enge Beziehungen nur bedingt normative Kraft haben. Ich habe nur dann Grund, einem Freund zu vertrauen, wenn er bestimmte Einstellungen mir gegenüber hat, wenn er also zum Beispiel loyal ist. Viele Standards der moralischen Beziehung gelten dagegen unbedingt. Egal wie böse die Absichten eines anderen sind, ich habe immer Grund, seine basalen moralischen Ansprüche zu berücksichtigen. Keine böse Absicht meines Gegenübers rechtfertigt es zum Beispiel, so Scanlon, ihn umzubringen.45 Die Existenz der moralischen Beziehung und die Gültigkeit einiger ihrer Standards sind also vollkommen unabhängig davon, welche Einstellungen die Parteien tatsächlich haben. Sie gelten allein aufgrund der Tatsache, dass die Parteien rationale Akteurinnen und Akteure sind. Zweitens können moralische Beziehungen weder beendet, noch vollkommen zerstört werden. Anders ist es bei Freundschaften. Es kommt vor, dass Personen, die einmal Freunde waren, es irgendwann nicht mehr sind. Die Anforderungen und Standards der Freundschaft treffen dann nicht mehr auf sie zu. Das ist für die Anforderungen der moralische Beziehung nicht möglich. Für jede rationale Akteurin und jeden rationalen Akteur gilt, dass die Standards der moralischen Beziehung auf ihn zutreffen. Diese Beziehung ist also unausweichlich. Drittens zeigt R. Jay Wallace, dass enge Beziehungen, aber nicht Scanlons moralische Beziehung, eine bestimmte historische oder psychische Dimension haben.46 Elternschaft – im nicht nur biologischen Sinn – und Freundschaft haben zum Beispiel eine historische Komponente: Freunde teilen eine Vergangenheit, Eltern haben ihre Kinder gezeugt und geboren oder adoptiert und dann erzogen. Ähnliches gilt nicht für die moralische Beziehung. In diesem Verhältnis stehen wir, so Scanlon, zu allen Personen, unabhängig davon, ob wir je
_____ 45 Vgl. z.B. Scanlon (2008, S. 142). 46 Vgl. Wallace (2011, S. 361).
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Kontakt zu ihnen hatten, allein aufgrund der Tatsache, dass wir rationale Akteurinnen und Akteure sind. Andere enge Beziehungen, wie Anhänger derselben Sache sein, haben zwar nicht notwendigerweise eine historische Dimension, dafür aber eine psychische. Alle Menschen, die sich zum Beispiel weltweit für Flüchtlingshilfe einsetzen, stehen, so kann man Scanlon verstehen, in einer bestimmten normativen Beziehung zueinander, auch wenn sie nie voneinander gehört haben. Entscheidend dafür, dass sie in einer solchen Beziehung zueinander stehen, ist, dass sie sich mit dem gleichen politischen Ziel identifizieren, dass es also tief in ihrem Selbstbild verankert ist. Wir haben nur Grund, fremden Flüchtlingsaktivisten bei ihren Projekten zu helfen, ihnen Geld zu spenden und so weiter, wenn ihre Ziele auch unsere Ziele sind. Anders ist es bei der Eigenschaft, eine rationale Akteurin oder ein rationaler Akteur zu sein. Diese Eigenschaft ist nichts, womit wir uns im relevanten Sinn identifizieren können. Die moralische Beziehung besteht also unabhängig von historischen oder psychischen Tatsachen, die wesentlich für viele enge Beziehungen sind. In der moralischen Beziehung stehen wir unabhängig von solchen Tatsachen, die uns mit bestimmten anderen verbindet, zu allen rationalen Akteurinnen und Akteuren und damit gilt sie universell. Die Standards der moralischen Beziehungen gelten also – anders als zum Beispiel die der Freundschaftsbeziehung – unbedingt, unausweichlich und universell. Das ist ein gravierender Unterschied. An Gemeinsamkeiten bleibt dagegen nicht mehr viel übrig. Die einzige Gemeinsamkeit beider Beziehungsarten scheint zu sein, dass sie Standards dafür beinhalten, wie man sich anderen Parteien gegenüber verhalten soll, sodass Beziehungen beider Arten beschädigt werden können. Vor dem Hintergrund dieser wichtigen Unterschiede und den wenigen Gemeinsamkeiten stellt sich die Frage, weshalb man die Bedingung der moralischen Vorwerfbarkeit mithilfe des Begriffs der moralischen Beziehung charakterisieren sollte. Ich werde drei Argumente dafür vorstellen und zurückweisen. Erstens könnte man meinen, dass es einfach intuitiv plausibel sei, die Angemessenheitsbedingungen von Vorwerfbarkeit mithilfe des Beziehungsbegriffs zu charakterisieren. Und tatsächlich halte ich diesen Ansatz für sehr erhellend, wenn man Vorwürfe innerhalb von engen Beziehungen wie Freundschaften, Partnerschaften und so weiter untersucht. Doch mit Blick auf moralische Vorwürfe und Vorwerfbarkeit ist dieser Versuch alles andere als intuitiv plausibel. Scanlons Theorie setzt voraus, dass wir zu all den Personen, denen wir angemessenerweise Vorwürfe machen können – und das sind alle moralischen Akteurinnen und Akteure –, in einer moralischen Beziehung stehen. Und diese moralische Beziehung kann nicht in einem rein formalen Sinn verstanden werden: Wir stehen zum Beispiel in einer formalen Beziehung zu all den Menschen,
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die am gleichen Tag Geburtstag haben wie wir. Im Unterschied zu solchen Beziehungen stellt die moralische Beziehung jedoch normative Standards bereit, die beschädigt werden können – eine rein formale Beziehung, wie am gleichen Tag Geburtstag zu haben, tut das nicht. Scanlons Position setzt also voraus, dass wir in einer moralischen Beziehung zu Donald Trump, Kim Jong Un und sehr vielen anderen Menschen stehen, zu denen wir keinerlei persönlichen Kontakt haben. Dass viele Menschen zum Beispiel Trump moralisch vorwerfen, die Welt unsicherer zu machen, ist sehr einleuchtend. Die Behauptung, dass Trump die moralische Beziehung zwischen ihm und mir beschädigt hat, sodass ich mein Verständnis unserer Beziehung nun angemessenerweise revidieren kann, ist mir jedoch kaum verständlich. Die Behauptung, dass wir in solchen Beziehungen zueinander stehen, strapaziert unser Verständnis von zwischenmenschlichen Beziehungen sehr. Und sie wird nicht verständlicher dadurch, dass Scanlon die moralische Beziehung im Vergleich zur Freundschaftsbeziehung charakterisiert. Denn es überwiegen, wie gesagt, die wesentlichen Unterschiede zwischen diesen Arten von Beziehungen. Also ist es nicht intuitiv plausibel, die Angemessenheitsbedingungen moralischer Vorwerfbarkeit mithilfe des Beziehungsbegriffs zu charakterisieren. Zweitens so kann man Scanlon vielleicht verstehen, gibt es keine plausible alternative Charakterisierung der evaluativen Bedingung angemessener moralischer Vorwürfe.47 Er glaubt nicht, dass Vorwerfbarkeit Falschheit voraussetzt, weil man, wie er meint, eine moralische Beziehung beschädigen kann, ohne falsch zu handeln. Denn man könne das Richtige aus falschen Gründen tun und damit die moralische Beziehung beschädigen, ohne eine moralische Pflicht zu verletzen.48 Ich habe diesen Gedankengang ausführlich in Abschnitt 2.2.2 diskutiert und zurückgewiesen. In Fällen, in denen es scheint, als würde eine Person das Richtige aus falschen Gründen tun und in denen es angemessen ist, der
_____ 47 Scanlon ist sich darüber im Klaren, welche Kritik sein Ansatz hervorrufen wird, meint jedoch, dass dieser von unserem moralischen Alltagsverständnis besser gestützt werde, als jede Alternative: „Calling this a relationship may seem implausible because the attitudes that make it up are so abstract – directed toward people in general, rather than toward specified individuals. It may seem to make no sense to speak of our having attitudes toward people we have no knowledge of, or about what their attitudes may be toward us, of whom they are similarly unaware. But when we do become aware of others and are in actual or potential interaction with them, we generally assume that even if they are strangers they will manifest at least the basic elements of this ideal concern“ (Scanlon 2008, S. 139–140). 48 Vgl. Scanlon (2008, S. 125).
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Person Vorwürfe zu machen, lässt sich, so habe ich dort argumentiert, sehr wohl eine Pflichtverletzung finden. Es gibt also eine plausible Alternative zur Charakterisierung der evaluativen Bedingung als Beschädigung der moralischen Beziehung, nämlich als Pflichtverletzung. Drittens meint Scanlon, dass ein entscheidender Vorteil seines Ansatzes darin bestehe, dass er die These rechtfertigen kann, dass es moralischen Folgezufall gibt.49 Ein klassisches Beispiel für moralischen Folgezufall ist folgendes: Zwei Autofahrerinnen haben gleichermaßen die Pflicht, ihre Bremsen zu prüfen und unterlassen es. Fahrerin A hat Glück und ihre Unterlassung hat keine schlimmen Folgen. Fahrerin B hat dagegen Pech. Sie tötet bei einem Unfall, der zustande gekommen ist, weil sie ihre Bremsen nicht hat prüfen lassen, ein Kind. Es ist nun verständlich, wenn vor allem die Angehörigen des getöteten Kindes B heftigere Vorwürfe machen als A. Und die These, dass es moralischen Folgezufall gibt, wird üblicherweise so verstanden, dass dies auch angemessen ist. Scanlon meint nun, dass sein Ansatz diese These rechtfertigen kann. Dass B ihre Bremsen nicht hat prüfen lassen, habe eine besondere Bedeutung (significance, 2008, S. 149–150) für die Angehörigen, denn nur aufgrund dieser Unterlassung ist das Kind gestorben. Die angemessene Heftigkeit von Vorwürfen hängt, so Scanlon, nicht nur davon ab, ob das Ziel der Vorwürfe eine Beziehung verletzt hat, sondern auch davon, welche Bedeutung diese Beziehungsverletzung für bestimmte Personen hat. Und weil die Unterlassung von A keine besondere Bedeutung für die Angehörigen des toten Kindes hat, wäre es unangemessen, wenn sie A genauso heftige Vorwürfe machen wie B. Aus dieser Perspektive hat Scanlons These, dass die Angemessenheitsbedingung moralischer Vorwürfe mit dem Begriff der moralischen Beziehung zu charakterisieren sei, den Status eines Postulats: Auf diese Weise kann besonders einleuchtend und überzeugend begründet werden, dass es moralischen Folgezufall gibt. Das Problem an dieser Argumentation ist jedoch, dass es höchst umstritten ist, ob es moralischen Folgezufall gibt. Die Intuitionen darüber, ob es angemessen ist, Fahrerin B heftigere Vorwürfe zu machen als A gehen auseinander, wenn man sich alle relevanten Tatsachen genau vor Augen führt.50 Deshalb ist Scanlons Argument nur unter einer sehr umstrittenen Annahme überzeugend: Wenn man einmal annimmt, dass es moralischen Folge-
_____ 49 Vgl. Scanlon (2008, S. 148–150). Vgl. zu moralischem Zufall im Allgemeinen die klassischen Aufsätze von Williams (1976) und Nagel (1976); vgl. zum Überblick Nelkin (2013b). 50 Vgl. für eine Theorie moralischer Vorwerfbarkeit, die meiner in relevanter Hinsicht ähnelt und impliziert, dass es keinen moralischen Folgezufall gibt Graham (2014); vgl. zum Überblick wieder Nelkin (2013b).
2.4 Inkompatibilistische Konsequenzen | 85
zufall gibt, dann ist Scanlons Theorie der Vorwerfbarkeit attraktiv. Solange man dieser Position gegenüber neutral bleiben will und erst recht wenn man sie ablehnt, sehe ich keinen Grund dafür, die Angemessenheitsbedingung moralischer Vorwürfe mithilfe des Begriffs der moralischen Beziehung zu charakterisieren. Und es ist, im Allgemeinen, ein Makel einer philosophischer Theorie, dass ihr einziger oder größter angeblicher Vorteil darin besteht, eine These zu rechtfertigen, die hoch umstritten ist Scanlons Charakterisierung der Angemessenheitsbedingungen moralischer Vorwürfe kann daher nicht vollkommen überzeugen. Im Zentrum seines Ansatzes steht der Begriff der moralischen Beziehung, doch strapaziert sein Verständnis dieser Beziehung unser alltägliches Beziehungsverständnis, es gibt keinen unabhängigen, überzeugenden Grund dafür, Scanlons Begriff der moralischen Beziehung zu verwenden und es gibt eine plausible Alternative: Die evaluative Bedingung moralischer Vorwerfbarkeit kann mit Verweis auf die Verletzung moralischer Pflichten charakterisiert werden.
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86 | 2 Vorwerfbarkeit und Falschheit
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3 Wer ist in der Position Vorwürfe zu machen? | 87
3 Wer ist in der Position, Vorwürfe zu machen? 3 Wer ist in der Position, Vorwürfe zu machen? DOI 10.1515/9783110527285-004 3 Wer ist in der Position Vorwürfe zu machen?
Barbara wirft Alice vor, dass sie ihr Versprechen nicht gehalten hat, vor 19.00 Uhr den Müll herauszubringen. Ich habe im zweiten Kapitel Bedingungen dafür untersucht, wann ein solcher Vorwurf angemessen ist: Alice muss eine moralische Pflicht verletzt haben, sie muss eine gewisse Kontrolle über ihr Verhalten und Denken gehabt haben und sie muss eine epistemische Bedingung erfüllt haben – sie muss etwa die relevanten Tatsachen gekannt haben oder sie muss in der Lage gewesen sein, sie zu kennen. Das sind Bedingungen der Vorwerfbarkeit. Ich habe im gleichen Kapitel darauf hingewiesen, dass wir uns Situationen denken können, in denen eine Person die Bedingungen der Vorwerfbarkeit erfüllt, in denen es aber moralisch problematisch wäre, ihr tatsächlich Vorwürfe zu machen. In manchen Fällen kann dies an den Folgen eines Vorwurfs liegen. Wenn etwa Alice auch einen stillen Vorwurf bemerken und darunter unverhältnismäßig leiden würde, vielleicht weil sie heute von ihrer Chefin unfair behandelt wurde und keine Kritik mehr ertragen kann, sollte, so scheint es, Barbara dafür sorgen, dass sie ihr auch dann keinen stillen Vorwurf macht, wenn Alice die Bedingungen der Vorwerfbarkeit erfüllt. Wir können uns auch Fälle denken, in denen das Ziel des Vorwurfs die Bedingungen der Vorwerfbarkeit erfüllt, in denen ein Vorwurf keine unverhältnismäßig negativen Folgen hat und in denen es dennoch in einem noch näher zu erläuternden Sinn problematisch ist, dass bestimmte Personen solche Vorwürfe machen: Manchmal ist es so, dass bestimmte Eigenschaften der Vorwerfenden ihre Vorwürfe untergraben. Die Vorwerfenden sind dann nicht in der richtigen Position, Vorwürfe zu machen. Solche Fälle stehen im Zentrum dieses Kapitels. Ich werde zunächst Fälle vorstellen, die nahelegen, dass bestimmte Eigenschaften von Vorwerfenden ihre Vorwürfe auf gewisse Weise moralisch untergraben, und ich werde dann zeigen, was unter „moralisch untergraben“ hier zu verstehen ist (Abschnitt 3.1). Dann werde ich drei Eigenschaften von Vorwerfenden näher untersuchen, die ihre Vorwürfe zu untergraben scheinen, nämlich dass die Vorwerfenden die Verfehlung nichts angeht, dass die Vorwerfenden nicht mit hinreichender Sicherheit urteilen können, ob es angemessen ist, einen Vorwurf zu machen (beides in Abschnitt 3.2) und dass die Vorwerfenden sich selbst auf eine bestimmte Weise schuldig gemacht haben (Abschnitt 3.3).
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3.1 Der Status untergrabener Vorwürfe 3.1 Der Status untergrabener Vorwürfe 3.1.1 Worum es geht: Untergrabene private Vorwürfe In diesem Unterabschnitt werde ich zunächst anhand von drei typischen Reaktionen darauf, dass uns jemand einen Vorwurf macht, zeigen, dass wir Vorwürfe von bestimmten Personen für moralisch problematisch halten. Dann werde ich die Hypothese vorstellen, dass dies nicht nur für offene, sondern gleichermaßen auch für private Vorwürfe gilt. Nehmen wir den Fall von Alice und Barbara und stellen uns zunächst vor, die neu hinzugezogene Nachbarin, die Alice und Barbara nur vom Grüßen kennt, erfährt, dass Alice ihr Versprechen gebrochen hat, den Müll vor 19.00 Uhr herauszubringen, und die Nachbarin wirft ihr diese Verfehlung vor. Es wäre sehr verständlich, wenn sowohl Barbara als auch Alice sich denken, dass es die Nachbarin nichts angeht, ob Alice das Versprechen, das sie schließlich Barbara gegeben hat, hält oder nicht. Diese Beobachtung lässt sich verallgemeinern: Wenn uns Personen einen Vorwurf für etwas machen, das sie nichts angeht, halten wir dies wohl für inakzeptabel und zwar selbst dann, wenn wir wissen, dass wir die Bedingungen der Vorwerfbarkeit erfüllen. Nehmen wir für einen zweiten Fall an, dass die Nachbarin nicht wissen kann, ob Alice nicht vielleicht doch eine Rechtfertigung dafür hat, dass sie nicht den Müll herausgebracht hat. Schließlich hätte es sein können, dass sie nur deshalb den Müll nicht herausgebracht hat, weil etwas Wichtigeres dazwischen gekommen ist. Wenn die Nachbarin Alice den Versprechensbruch nun vorwirft, ohne vernünftigerweise urteilen zu können, dass Alice keine Rechtfertigung hat, scheint es nachvollziehbar, wenn Alice oder Barbara mit so etwas wie „Das kannst Du doch gar nicht wissen!“ antworten. Wenn also eine Person nicht mit hinreichender Sicherheit urteilen kann, dass bestimmte, noch näher zu charakterisierende Tatsachen vorliegen und trotzdem Vorwürfe macht, dann halten wir, so scheint es, ihre Vorwürfe für problematisch, selbst wenn wir wissen, dass wir die Bedingungen der Vorwerfbarkeit tatsächlich erfüllen. Stellen wir uns einen dritten Fall vor, in dem Barbara, die Alice vorwirft, ihr Versprechen gebrochen zu haben, rechtzeitig den Müll herauszubringen, am gleichen Tag ein ganz ähnliches Versprechen gebrochen hat, etwa die Stromrechnung zu bezahlen. Stellen wir uns außerdem vor, dass Barbara genau wie Alice die Bedingungen der Vorwerfbarkeit erfüllt. In einer solchen Situation scheint es verständlich, wenn Alice auf Barbaras Vorwurf reagiert, indem sie so etwas denkt oder sagt wie: „Du bist genau die Richtige, die sich darüber aufregt, dass ich meine Versprechen breche!“ Auch das lässt sich verallgemeinern. Oft reagieren wir darauf, dass uns bestimmte Personen einen bestimmten Vorwurf
3.1 Der Status untergrabener Vorwürfe | 89
machen, indem wir eine Ausgerechnet-Du-Haltung einnehmen. Vorwerfende müssen, so scheint es, in einem noch näher zu erläuternden Sinn eine weiße Weste mit Bezug auf den Gegenstand des Vorwurfs haben, damit wir ihre Vorwürfe für akzeptabel halten. Andernfalls erscheinen uns ihre Vorwürfe auch dann als scheinheilig oder heuchlerisch, wenn wir die Bedingungen der Vorwerfbarkeit erfüllen. Ob eine Person eine weiße Weste mit Bezug auf eine Verfehlung hat, ob sie mit hinreichender Sicherheit über bestimmte Tatsachen urteilen kann und ob sie die Verfehlung etwas angeht, scheint relevant dafür zu sein, wie wir auf ihre offenen Vorwürfe, also bestimmte Handlungen, Sprechhandlungen und andere Verhaltensweisen, reagieren. Die meisten von uns haben wohl ein Interesse daran, dass uns Personen keine offenen Vorwürfe machen, dass sie uns also nicht wütend anzischen, empört zur Rede stellen, zornig die kalte Schulter zeigen und so weiter.1 Dass eine Person sich auf diese Weise uns gegenüber verhält, ist, so scheint es, nur dann gerechtfertigt, wenn diese Person zuvor gewisse normative Hürden genommen hat. Andernfalls wiegt – zumindest unter sonst gleichen Bedingungen – unser Interesse daran, kein Ziel solcher Verhaltensweisen zu sein, schwerer und sorgt dafür, dass ihr Verhalten ungerechtfertigt ist. Aber gilt das gleiche auch für Vorwurfseinstellungen, um die es in dieser Studie geht?2 Haben wir auch ein Interesse daran, kein Ziel solcher Einstellungen zu sein, das erklären kann, weshalb eine Person zum Beispiel eine weiße Weste haben muss, damit es moralisch einwandfrei ist, wenn sie darüber empört ist, dass wir ein Vergehen begangen haben? Ich werde diese Fragen nicht abschließend beantworten können – denn das würde die endgültige Klärung von Thesen fordern, die zum einen höchst umstritten sind und uns zum anderen zu weit vom Phänomen des Vorwurfs wegführen –, doch zumindest werde ich zeigen, dass es gute Gründe gibt, sie zu bejahen. In der Regel – aber nicht notwendigerweise – erfahren wir, dass eine Person eine Einstellung hat, indem sie diese durch Sprechakte, offene Handlungen oder andere Verhaltensweisen ausdrückt. Und so könnte man meinen, dass das bloße Haben von Vorwurfseinstellungen uns gleichgültig sein kann, solange sie nicht ausgedrückt werden. Doch glaube ich, dass dem nicht so ist. Den allermeisten von uns ist es nicht nur wichtig, dass andere Personen sich uns gegenüber auf bestimmte Weise verhalten, sondern auch, was sie von uns denken,
_____ 1 Im Folgenden verwende ich den Ausdruck „Interesse“ in einem objektiven Sinn: Etwas ist, diesem Verständnis zufolge, nur in unserem Interesse, wenn es tatsächlich gut für uns ist. 2 Diese Frage werfen z.B. Fritz und Miller (2015) auf, wenn sie Wallace’ Theorie scheinheiliger Vorwürfe kritisieren.
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was sie uns wünschen, was sie fühlen, wenn sie uns sehen und so weiter. Und ich denke, dass wir es nicht nur deshalb wertschätzen, dass andere Personen nicht, sagen wir, zornig auf uns sind, weil Zornige geneigt sind, Handlungen auszuführen, die uns unangenehm sind. Ich halte es für sehr plausibel, dass wir es oft auch dann wertschätzen, dass andere nicht empört über und zornig auf uns sind oder uns grollen, wenn dies keine unangenehmen Folgen hat. Das wird besonders deutlich, wenn man sich überlegt, welche Einstellungen unserer Freunde und Partner wir wertschätzen. Wir würden es wohl auch dann als belastend empfinden, dass unsere Freunde oder Partner zornig auf uns sind, wenn wir zugleich wissen, dass sie ihren Zorn nicht ausdrücken werden. Wer es für unplausibel hält, dass es uns wichtig ist, welche Einstellungen andere uns gegenüber haben, könnte darauf antworten, dass das, was uns hier belastet, nicht die Einstellungen unserer Partner und Freunde sind, sondern dass wir glauben, dass sie diese Einstellungen haben. Die bloße Tatsache, dass unsere Freunde und Partner diese Einstellungen haben, sei irrelevant. Doch halte ich das aus zwei Gründen für nicht überzeugend. Erstens kann man die, wie ich meine, sehr plausible These aufstellen, dass wir nur dann eine Person in einem romantischen Sinn lieben, wenn es uns wichtig ist, was diese Person über uns denkt und fühlt, also welche Einstellungen sie uns gegenüber hat. Wenn wir bemerken, dass es uns gleichgültig ist, ob unser Partner zum Beispiel zornig auf uns ist, dann ist das ein guter Grund, daran zu zweifeln, dass wir ihn wirklich lieben.3 Und das gleiche scheint für Freundschaft zu gelten.4 Wenn sich herausstellt, dass sich eine Person, die ich für eine Freundin gehalten habe, überhaupt nicht darum schert, was ich über sie denke und fühle, sondern nur darum, was sie über meine Einstellungen glaubt, werde ich wohl daran zweifeln, dass sie eine echte Freundin von mir ist. Wenn das gerade Gesagte stimmt und wenn wir in Freundschafts- oder Liebesbeziehungen zu anderen Personen stehen, dann sind uns auch Einstellungen anderer Personen selbst wichtig und nicht nur, was wir über diese Einstellungen glauben.
_____ 3 Vgl. z.B. Shabo: „I submit that caring about how one’s partner in a romantic relationship treats one, regards one, and feels toward one is partly constitutive of mature, reciprocal love. To see this, suppose that Ben, after spending several years in a romantic relationship with Chris, comes to realize that he genuinely doesn’t care now what Chris thinks or feels about him [...]. Though he has long believed that he loves Chris, it is no exaggeration to say that he is now quite indifferent to Chris’s attitudes and feelings toward him. We would normally take this to show that Ben doesn’t love [...] Chris – at least not in the sense of reciprocal, romantic love“ (Shabo 2012, S. 111). 4 Vgl. z.B. die Diskussionen von Freundschaft bei Scanlon (2008, Kap. 4) und Wallace (2011).
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Nehmen wir zweitens einmal an, dass es uns nicht wichtig ist, dass andere uns gegenüber Vorwurfseinstellungen haben und dass es uns nur wichtig ist, dass wir dies glauben beziehungsweise nicht glauben. Nehmen wir weiter an, dass ich gerechtfertigter- und wahrerweise glaube, dass mein Partner zornig auf mich ist, obwohl ich mir nichts habe zuschulden kommen lassen und dass er seinen Zorn nicht ausdrücken wird. Dann stehen mir wenigstens zwei vernünftige und zulässige Wege offen, mit der Situation umzugehen. Ich könnte mich dann meinem Partner gegenüber erklären und zeigen, dass ich unschuldig bin, damit er nicht mehr zornig auf mich ist. Oder ich könnte dafür sorgen, dass ich nicht mehr glaube, dass er zornig auf mich ist. Das könnte ich vielleicht erreichen, indem ich so etwas wie eine Vergessenspille schlucke, mich einer Gehirnwäsche aussetze oder mir einrede, dass er nicht zornig auf mich ist. Sollte ich es nur wertschätzen, nicht zu glauben, dass er zornig auf mich ist, wäre diese zweite Option genauso vernünftig und zulässig wie die erste. Das scheint aber einfach nicht zu stimmen. Und die naheliegende Erklärung dafür, dass die zweite Option nicht genauso vernünftig ist wie die erste, ist, dass mein Partner noch immer zornig auf mich ist, selbst wenn ich glaube, dass er es nicht ist. Es scheint, dass dann das, was eigentlich meinem Interesse zuwiderläuft, noch immer vorhanden ist. Und das spricht gegen die Annahme, dass es uns nur wichtig ist, was wir über die Vorwurfseinstellungen unserer Partner und Freunde glauben und es unterstützt die Hypothese, dass es uns auch wichtig ist, ob sie wirklich Vorwurfseinstellungen uns gegenüber haben. Ich denke, dass das Gleiche für die Einstellungen von Fremden gilt. Mir ist es in den allermeisten Situationen wichtig, dass die mir sonst unbekannte Mitfahrerin in der S-Bahn nicht zornig auf mich ist. Selbstverständlich sind mir viele andere Dinge wichtiger, aber dennoch wertschätze ich es zu einem bestimmten Grad, dass fremde Personen mir wohl gesonnen und nicht wütend und zornig auf oder empört über mich sind. Angenommen, es ist eine Tatsache, dass den meisten von uns die Einstellungen anderer Personen wichtig sind – haben wir auch guten Grund, die Vorwurfsemotionen anderer wichtig zu nehmen? Eine von Scanlon inspirierte Erklärung dafür, dass dem so ist, besagt, dass es wertvoll für uns ist, in bestimmten Beziehungen zu unseren Mitmenschen zu stehen.5 Es ist wertvoll, in funktionierenden Freundschafts- oder romantischen Liebesbeziehungen mit anderen Personen zu stehen. Und es ist auch wertvoll, gute nachbarschaftliche oder kollegiale Beziehungen zu haben oder einfach nur auf gutem Fuße mit an-
_____ 5 Vgl. z.B. Scanlon (2008, Kap. 4) und Wallace (2011).
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deren zu stehen. Nun bestehen eine gute Liebesbeziehung, Freundschaft, aber auch eine gute nachbarschaftliche oder kollegiale Beziehung wohl zum Teil darin, den anderen gegenüber bestimmte Einstellungen zu haben und andere Einstellungen nicht zu haben. Wenn eine Person nun zornig auf mich ist, dann ist das zumindest ein Hindernis, eine funktionierende Beziehung dieser Art mit ihr aufrechtzuerhalten oder einzugehen. Die Beziehung ist dann nicht so, wie sie idealerweise sein sollte, oder – in dem Fall, in dem wir noch nicht in einer bestimmten Beziehung zur anderen Person stehen – es ist dann deutlich schwerer, eine funktionierende Beziehung mit ihr aufzubauen. Und daher haben wir guten Grund, es wertzuschätzen, dass andere nicht zornig auf oder empört über uns sind. Wenn die gerade angestellten Überlegungen stimmen, haben die meisten von uns ein Interesse daran, dass andere keine Vorwurfsemotionen uns gegenüber haben, genauso wie die meisten von uns ein Interesse daran haben, dass man uns gegenüber keine Vorwurfsverhaltensweisen an den Tag legt.6 Und genau wie dieses Interesse erklärt, weshalb bestimmte Vorwurfsverhaltensweisen moralisch ungerechtfertigt sind, wenn die Vorwerfenden bestimmte normative Hürden nicht genommen haben – zum Beispiel keine weiße Weste mit Bezug auf das Vergehen haben –, erklärt auch jenes Interesse, dass Vorwurfsemotionen moralisch untergraben sind, wenn die Vorwerfenden diese Hürden nicht genommen haben.7 Ich habe hier, wie angekündigt, nicht abschließend gezeigt oder bewiesen, dass Eigenschaften von Vorwerfenden auch ihre privaten Vorwürfe untergraben können. Trotzdem glaube ich, dass es sich lohnt, mit der Annahme zu arbeiten. Denn ich hoffe, im Folgenden darlegen zu können, dass auf diese Weise aus dem Alltag bekannte und relevante moralische Phänomene erhellt werden. Zunächst werde ich aber zeigen, dass die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der aktuellen Debatte die Hypothese teilen, dass bestimmte Eigenschaften von Vorwerfenden nicht nur dafür sorgen können, dass ihre offenen Vorwürfe untergraben sind, sondern auch dafür, dass ihre privaten Vorwürfe
_____ 6 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Nelkin: „While it is controversial, I find it plausible that things can be bad or good for us without our being aware of them. So it may very well be that your resenting me is bad for me even if I never find out about it and am not affected by it in indirect ways such as your spending less time with me“ (Nelkin 2013a, S. 124). 7 Es sei erwähnt, dass ich weder dafür argumentiere, dass alle Personen ein solches Interesse haben, kein Ziel von Vorwürfen zu sein, noch dafür, dass jeder Vorwurf ein Interesse verletzt. Ich habe nur dafür plädiert, dass die meisten von uns oft ein solches Interesse haben. Das wird in Kap. 5, Abschn. 1.2 dieser Studie wichtig.
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untergraben sind. So meint etwa Angela Smith über die Position (standing), Vorwürfe zu machen: Our relationship to the agent is relevant to determining not only whether we have standing to express moral criticism to her for an objectionable action or attitude, but also whether we have standing to adopt particular sorts of blaming attitudes toward her (A.M. Smith 2007, S. 479, Hervorhebung im Original). R. Jay Wallace schreibt Folgendes über die Position, empört zu sein, was er als Emotion und nicht als Verhaltensweise oder Handlung charakterisiert: You may actually have been dishonest in your dealings with me, in ways that violate important moral demands. But I deprive myself of the standing to resent you for this if I have regularly been dishonest toward you (Wallace 2010, S. 329). Und Roger Wertheimer schreibt über Personen, die andere verurteilen (condemn), was ebenfalls eine Einstellung ist: However authentic their compassion, does their impersonal concern for everyone’s plight entail an entitlement to indignantly seethe at anyone they fault? If not, if they have no right to be angry and harbor ill will, then they cannot rightfully condemn (Wertheimer 1998, S. 498–499). In diesen Zitaten wird vorausgesetzt, dass Eigenschaften von Vorwerfenden Einfluss darauf haben können, dass ihre Vorwurfseinstellungen untergraben sind oder nicht. Diese Annahme werde ich im Folgenden teilen. Doch was genau ist unter einem untergrabenen Vorwurf zu verstehen? Dieser Frage, die in der Literatur bislang nicht hinreichend diskutiert wurde, werde ich im folgenden Unterabschnitt nachgehen.
3.1.2 Untergrabene Vorwürfe und Gründe für Einstellungsmanagement Angenommen, eine Person wirft einer anderen etwas vor, ohne in der richtigen Position dazu zu sein – welchen Status hat dieser Vorwurf? In diesem Abschnitt werde ich zwei Weisen diskutieren, wie man den Gedanken genauer fassen kann, dass solche Vorwürfe moralisch untergraben sind. Ich werde dafür argumentieren, dass bestimmte Eigenschaften von Vorwerfenden moralische Grün-
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de für diese sind, Handlungen auszuführen, die es verhindern, dass sie die Vorwurfseinstellungen haben. Wenn sie nicht nach diesen Gründen handeln, dann, so meine These, sind ihre Vorwürfe moralisch untergraben. Abschließend werde ich zeigen, dass dieses Verständnis untergrabener Vorwürfe deutlich plausibler ist als das von Macalester Bell (2013), die die gesamte Debatte über das standing, Vorwürfe zu machen, kritisiert. Zunächst lässt sich fragen, ob Personen, die anderen Vorwürfe machen, ohne in der Position dazu zu sein, einen moralischen oder einen nichtmoralischen Fehler begehen, etwa so wie jemand, der inkonsistente Einstellungen hat oder sich verrechnet. Die meisten Autorinnen und Autoren nehmen an, dass die Frage nach der Position, Vorwürfe zu machen, eine moralische ist.8 Ich werde in Unterabschnitt 3.2.2 noch einmal auf diese Annahme zu sprechen kommen. Angenommen, es handelt sich um eine moralische Frage, ob eine Person in der Position ist, einer anderen einen Vorwurf zu machen. Nun gibt es wenigstens zwei Weisen zu beschreiben, was passiert, wenn eine Person einer anderen einen Vorwurf macht, obwohl sie nicht in der richtigen Position dazu ist. Erstens einen Vorwurf zu machen, ohne in der Position dazu zu sein, ist die Verletzung der prima facie moralischen Pflicht, die Vorwurfseinstellung nicht zu haben. Wenn eine Person zum Beispiel keine weiße Weste mit Bezug auf eine Verfehlung hat, dann hat sie die prima facie moralische Pflicht, etwa nicht empört darüber zu sein, dass eine Person eine solche Verfehlung begeht. Dieses Verständnis untergrabener Vorwürfe ist aus zwei Gründen problematisch. Erstens ist es unklar, ob wir die Pflicht haben können, eine Emotion nicht zu haben. Wenn man aber annimmt, dass es diese Pflicht geben kann, dann ist zweitens die vorgestellte Position mit dem sogenannten Problem der Gründe der falschen Art konfrontiert. Beide Probleme werde ich kurz vorstellen. Es ist unklar, ob wir die Pflicht haben können, eine bestimmte Emotion nicht zu haben, weil es unklar ist, ob wir die dafür nötige Kontrolle über unsere Emotionen haben. Wie ich in Kapitel 2 schon gesagt habe, wird allgemein angenommen, dass wir nur dann die Pflicht haben nicht zu x-en, wenn wir es auf eine gewisse Weise verhindern können zu x-en. Und es ist einfach nicht klar, ob wir in relevanter Weise verhindern können, bestimmte Emotionen zu haben. Deshalb ist es nicht klar, ob wir die Pflicht haben können, nicht empört zu sein.
_____ 8 So wird in der Literatur oft von „ethics of blame“ gesprochen, wenn es darum geht, wer in der Position ist, Vorwürfe zu machen. Vgl. etwa Scanlon (2008, Kap. 4) und die Überblicksaufsätze von Coates und Tognazzini (2012; 2013a) und Tognazzini und Coates (2014).
3.1 Der Status untergrabener Vorwürfe | 95
Angenommen, wir haben die Kontrolle, die notwendig für die moralische Pflicht ist, Vorwurfsemotionen nicht zu haben. Einem weitverbreiteten Verständnis zufolge – das ich hier voraussetze – haben wir genau dann eine moralische Pflicht (nicht) zu x-en, wenn wir entscheidenden moralischen Grund haben (nicht) zu x-en. Doch was könnte ein entscheidender Grund sein, zum Beispiel nicht empört zu sein? Die hier diskutierte These legt nahe, dass zum Beispiel die Tatsache, dass eine Person keine weiße Weste mit Bezug auf eine bestimmte Verfehlung hat, ein moralischer Grund dagegen ist, etwa empört darüber zu sein, dass eine andere Person diese Verfehlung begeht. Um diese Position zu bewerten, werfe ich einen kurzen Blick auf die Frage, welche Gründe überhaupt dafür oder dagegen sprechen können, eine Einstellung zu haben und damit auf das sogenannte Problem der Gründe der falschen Art (wrong kind of reason problem).9 Nehmen wir zunächst die Einstellung der Überzeugung. Angenommen, meine Nachbarn grüßen mich oft freundlich, lächeln mich oft an, helfen mir, wenn ich Hilfe brauche und so weiter. Diese Tatsachen sind gute Hinweise darauf, dass es wahr oder korrekt ist zu glauben, dass sie mich sympathisch finden. Und es scheint problemlos möglich zu sein, diese Überzeugung auszubilden, weil mich meine Nachbarn anlächeln, mir helfen und so fort. In diesem Sinn sprechen die Tatsachen, dass mich meine Nachbarn anlächeln und grüßen, dafür zu glauben, dass sie mich sympathisch finden. Gründe dieser Art werden oft Gründe der richtigen Art genannt, ich nenne sie im Folgenden Standardgründe.10 Andere Tatsachen scheinen auf ganz andere Weise dafür zu sprechen, die Überzeugung auszubilden, dass mich meine Nachbarn sympathisch finden. So könnte man zum Beispiel meinen, dass die Tatsache, dass ich selbst glücklicher bin, wenn ich dies glaube, dafür spricht, es zu glauben. Dass ich glücklicher bin, wenn ich die Überzeugung habe, dass meine Nachbarn mich sympathisch finden, spricht aber nicht dafür, dass diese Überzeugung korrekt ist. Und es scheint nicht unmittelbar möglich, diese Überzeugung aufgrund der genannten Tatsache auszubilden. Trotzdem, so meinen einige, scheint die Tatsache ir-
_____ 9 Das Problem der Gründe der falschen Art im Allgemeinen diskutieren Gertken und Kiesewetter (im Druck), an deren Darstellung ich mich im Folgenden orientiere. Aus der Perspektive bestimmter Wertetheorien wird es von Suikkinan (2009, Abschn. 3.5) vorgestellt. Hilfreich sind auch die ersten Abschnitte in Schroeder (2012). Mit Blick auf Emotionen wird das Problem vor allem von D’Arms und Jacobson (2000) diskutiert, mit Blick auf Vorwürfe und Vorwerfbarkeit wird es u.a. von Darwall unter dem Stichwort Strawson’s Point (u.a. 2006, Kap. 1) und von King (2012) diskutiert; implizit geht es auch Hieronymi (2004) und A. Smith (2007) um das Problem der Gründe der falschen Art für Vorwürfe. 10 Damit folge ich Gertken und Kiesewetter (im Druck).
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gendwie dafür zu sprechen, die Überzeugung zu haben. Solche pragmatischen Gründe für Überzeugungen werden oft Gründe der falschen Art genannt, ich spreche im Folgenden von Non-Standardgründen. Eine solche Unterscheidung lässt sich auch mit Blick auf Vorwurfsemotionen wie Empörung treffen. Bestimmte Tatsachen sind Standardgründe dafür oder dagegen, eine Vorwurfsemotion zu haben. Alle Tatsachen, die dafür sprechen, dass das Verhalten der Person empörend war, sind Standardgründe dafür, empört darüber zu sein, dass sie sich so verhalten hat. Welche Tatsachen dafür sorgen, dass ein Verhalten empörend ist, habe ich vor allem in Kapitel 2 diskutiert. Der dort vorgestellten Position zufolge ist ein Verhalten nur dann empörend, wenn die Person eine gewisse Kontroll- und eine gewisse epistemische Bedingung erfüllt und wenn sie eine moralische Pflicht verletzt. Nur wenn das der Fall ist, ist es korrekt, empört über die Person zu sein und es scheint unmittelbar möglich, aufgrund genau dieser Tatsachen Empörung darüber auszubilden, dass sie sich so verhalten hat. Die Tatsache, dass ich keine weiße Weste mit Bezug auf die Verfehlung der Person habe, kann jedoch nicht dafür sorgen, dass ihr Verhalten nicht empörend war. Was ich getan oder nicht getan habe, hat keinen Einfluss darauf, ob der Täter sich empörend verhalten hat. Und es scheint auch nicht unmittelbar möglich zu sein, aufgrund der Tatsache, dass ich keine weiße Weste mit Bezug auf eine Verfehlung habe, die Einstellung der Empörung nicht auszubilden oder loszuwerden. Dass ich als Vorwerfender keine weiße Weste mit Bezug auf eine bestimmte Verfehlung habe, ist demnach ein Non-Standardgrund dagegen, eine Vorwurfsemotion zu haben. In der Literatur wird diskutiert, ob Non-Standardgründe überhaupt Gründe dafür oder dagegen sind, die relevante Einstellung zu haben – zum Beispiel Gründe dafür oder dagegen zu glauben, dass einen die Nachbarn sympathisch finden, oder Gründe dafür oder dagegen, empört zu sein. Wer das ablehnt, könnte stattdessen meinen, dass es sich vielmehr um Gründe dafür oder dagegen handelt, Handlungen auszuführen, die dafür sorgen, dass man die Einstellung hat oder nicht hat.11 Wer die These vertritt, dass die Tatsache, dass eine Person keine weiße Weste mit Bezug auf eine Verfehlung hat, ein moralischer Grund dagegen ist, eine Vorwurfseinstellung zu haben, legt sich darauf fest, dass Non-Standardgründe tatsächlich Gründe für oder gegen das Haben von Emotionen sein können. Auf diese These will ich mich nicht festlegen. Die, wie mir scheint, plausiblere Alternative ist, dass die Tatsache, dass man keine wei-
_____ 11 Wer glaubt, dass praktische Gründe nur Gründe für Absichten und nicht für Handlungen sind, der würde hier selbstverständlich sagen, dass es sich um Gründe dafür handelt, zu beabsichtigen, bestimmte Handlungen auszuführen.
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ße Weste hat, ein moralischer Grund dafür ist, bestimmte mentale oder nichtmentale Handlungen auszuführen, nämlich bestimmte Formen des Einstellungs- oder, etwas plakativer, des Ärgermanagements. Um Ärger loszuwerden, können wir tief durchatmen, bis 20 zählen, uns etwas Schönes vorstellen, Joggen gehen oder kalt duschen. Gründe dafür, solche Handlungen auszuführen, können in manchen Situationen entscheidend sein, sodass es falsch wäre, kein Ärgermanagement zu betreiben, sie können aber auch von anderen Gründen überwogen werden. Die hier diskutierte These besagt, dass eine Person, die eine Vorwurfseinstellung hat, ohne in der Position dazu zu sein, die prima facie moralische Pflicht verletzt, die Vorwurfseinstellung nicht zu haben. Diese These steht vor den genannten zwei Problemen: Es ist unklar, ob wir die für diese Pflicht nötige Kontrolle haben, und wenn wir annehmen, dass wir sie haben, ist die Position darauf festgelegt, dass Non-Standardgründe echte normative Gründe für Einstellungen sind. Die alternative Weise, den Status von untergrabenen Vorwürfen zu verstehen, ist die folgende: Bestimmte Eigenschaften der Vorwerfenden sind moralische Gründe für die Vorwerfenden, Einstellungsmanagement zu betreiben, das verhindert, dass sie die Vorwurfseinstellungen haben. Wenn Vorwerfende solche Gründe haben und nicht nach ihnen handeln, dann sind ihre Vorwürfe moralisch untergraben. Abschließend lässt sich zeigen, dass das hier vorgestellte Verständnis vom Status untergrabener Vorwürfe deutlich schwächer und zugleich plausibler ist als das von Bell, die die philosophische Debatte über die Position, Vorwürfe zu machen, kritisiert. Bell meint, in der Literatur werde der Begriff des standings wie folgt verstanden: „If one lacks standing to blame, then one’s reproach necessarily lacks moral propriety and may be dismissed without consideration of its content“ (Bell 2013, S. 264). An dieser Charakterisierung ist zum einen unklar, was Bell mit moral propriety meint. Hier ist aber Bells Behauptung wichtiger, dass man jeden Vorwurf abweisen könne, ohne seinen Gehalt zu betrachten, nur weil die Vorwerfenden nicht in der Position sind, Vorwürfe zu machen. Dem von mir vorgeschlagenen Verständnis zufolge sprechen zwar Dinge dafür, Einfluss auf die eigenen Vorwurfsemotionen zu nehmen, wenn man nicht in der richtigen Position ist, aber es kann trotzdem sein, dass es in Anbetracht aller Tatsachen zulässig ist, diese Schritte nicht zu unternehmen oder sogar Schritte zu unternehmen, die dafür sorgen, dass man Vorwürfe macht. Und es folgt nicht aus dem von mir vorgeschlagenen Verständnis, dass Vorwürfe einfach abgewiesen werden können, nur weil die Vorwerfenden nicht in der Position sind, sie zu machen. Der Gehalt von Vorwürfen kann in vielerlei Hinsicht informativ und wichtig sein, wenn das Ziel des Vorwurfs ihn bemerkt. So kann er dem Ziel des
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Vorwurfs etwas darüber mitteilen, wie andere sein Verhalten wahrnehmen oder in welchen psychischen Zuständen die Vorwerfenden sind. Diese Informationen können relevant für das Ziel des Vorwurfs sein, unabhängig davon, ob die Vorwerfenden in der Position sind, Vorwürfe zu machen. Deshalb muss die Frage, ob man den Gehalt eines Vorwurfs berücksichtigen sollte, in jedem Einzelfall neu beantwortet werden und eine Antwort hängt nicht allein von der Position der Vorwerfenden ab. In diesem Abschnitt habe ich gefragt, welchen Status private Vorwürfe haben, die von Personen gemacht werden, die nicht in der richtigen Position sind, Vorwürfe zu machen. Unter der Annahme, dass solche Vorwürfe moralisch untergraben sein können, habe ich dafür plädiert, dass bestimmte Eigenschaften von Vorwerfenden moralische Gründe für sie sind, Schritte zu unternehmen, die es verhindern, dass sie Vorwurfseinstellungen haben. Wenn eine Person solche Gründe hat, aber nicht nach ihnen handelt, dann ist ihr Vorwurf moralisch untergraben. Es scheint dann prima facie angemessen, wenn diejenigen, auf die die Vorwürfe gerichtet sind, mit bestimmten Haltungen reagieren, etwa mit „Das geht Dich nichts an!“, „Du kannst doch gar nicht wissen, was passiert ist!“ oder „Ausgerechnet Du!“. Die Angemessenheit solcher Haltungen werde ich im weiteren Verlauf dieses Kapitels untersuchen.
3.2 „Das geht Dich nichts an“ und „Das kannst Du nicht wissen“ 3.2 „Das geht Dich nichts an“ und „Das kannst Du nicht wissen“ 3.2.1 Die Irrelevanz von „Das geht Dich nichts an“ Der Gedanke liegt nahe, dass Vorwürfe dadurch untergraben werden, dass die Verfehlung, die uns vorgeworfen wird, die Vorwerfenden schlicht nichts angeht. Ich werde in diesem Unterabschnitt dafür argumentieren, dass dieser Gedanke falsch ist. Zunächst ist es bemerkenswert, wie weit verbreitet die Annahme ist, dass eine bestimmte Klasse von Vorwürfen untergraben ist, weil die Verfehlung die Vorwerfenden nichts angeht. In der – zumeist englischsprachigen – Literatur wird in diesem Zusammenhang oft davon gesprochen, dass die Verfehlung none of one’s business sei. So schreibt etwa Wertheimer, der hier das Haben eines üblen Willens (ill will) gegenüber anderen mit Verurteilungen dieser Personen gleichsetzt: Some matters – like other folks’ intimate intrafamilial relations – may be none of your business, not your affair, no (proper) concern of yours, so,
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whatever your evidence and emotions, it is not your place to bear ill will (Wertheimer 1998, S. 499). In einem hilfreichen Überblicksaufsatz geben Justin Coates und Neal Tognazzini folgendes Beispiel für Vorwürfe für Verfehlungen, die einen nichts angehen: While Jennifer’s mother can appropriately blame her for the mess left lying around the living room, a next-door neighbor cannot. The messy room is simply „none of the neighbor’s business,“ and when we blame others for transgressions that are none of our business, we our [sic] overstepping the bounds of our jurisdiction (Coates und Tognazzini 2012, S. 204). Ein weiteres eindrückliches Beispiel stammt von A. Smith, die zwar nicht an dieser Stelle, aber doch in diesem Zusammenhang davon spricht, dass es darum gehe, was one’s business (2007, S. 483) sei und was nicht: Many of us have had the experience of being deeply hurt or offended by a wrong done to us by a close friend or loved one, only to find ourselves equally offended by the presumptuousness of unconnected third parties who take up attitudes of anger and indignation toward these loved ones on our behalf. These reactions are, to be sure, complex and not always fully rational or consistent; but at least sometimes, they reflect the perfectly reasonable judgment that the third party in question does not have legitimate standing to take up these particular attitudes toward the person who has wronged us (either because they do not stand in an appropriate relation to us, or because they do not stand in an appropriate relation to the one who has wronged us) (A.M. Smith 2007, S. 479). Die drei Zitate zeigen, dass es nicht nur auf den ersten Blick plausibel, sondern auch in der philosophischen Diskussion weit verbreitet ist anzunehmen, dass Vorwürfe untergraben sind, wenn und weil die Vorwerfenden die Verfehlung nichts angeht. Doch wann geht eine Person eine Verfehlung etwas an und wann nicht?12 Drei Antworten werden in der Literatur vorgeschlagen oder zumindest nahegelegt, von denen ich zwei in diesem Unterabschnitt diskutieren und die dritte im Folgenden aufgreifen werde.
_____ 12 Vgl. für die allgemeinere Frage, was geht wen etwas an, die Aufsätze von Lillehammer über den Wert von indifference (2014a; 2014b).
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Nehmen wir wieder den Fall von Alice und Barbara und stellen uns vor, dass die Nachbarin Alice am Abend vorwurfsvoll fragt, ob sie nun ihr Versprechen gehalten hat oder nicht. Hier scheint es angemessen, mit „Das geht Dich nichts an!“ zu reagieren und das scheint daran zu liegen, dass, so das erste Argument, die Nachbarin mit ihrer Frage in die Privatsphäre von Alice und Barbara einzudringen versucht. Ob eine Person eine Verfehlung etwas angeht, scheint also erstens davon abzuhängen, ob die Verfehlung durch den Bereich der Privatsphäre geschützt ist. Selbstverständlich sind nicht alle Vergehen auf diese Weise geschützt, denn der Wert der Privatsphäre kann mit anderen Werten in Konflikt geraten. Wenn prügelnde Eltern etwa mit „Das geht Dich nichts an!“ auf das besorgte oder auch vorwurfsvolle Nachfragen der Nachbarn reagieren, dann ist es wohl kaum so, dass ihre Privatsphäre ihr Tun schützt. Doch bestimmte leichtere Verfehlungen wie der hier relevante Versprechensbruch sind, so scheint es zumindest, durch die Privatsphäre von Täterinnen, Tätern und Opfern vor den Zugriffen anderer geschützt. Das legt auch Wertheimer nahe, indem er betont, dass etwa „other folks’ intimate intrafamilial relations“ (1998, S. 499) niemanden etwas angehen, selbst, so sollte man seine Position wohl verstehen, wenn innerhalb dieser Beziehungen nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Ob eine Verfehlung eine Person etwas angeht, scheint zweitens davon abzuhängen, in welchem Verhältnis diese Person zu Opfern, Täterinnen und Tätern steht. So könnte man ebenfalls auf die Nachbarin reagieren, indem man ihr deutlich macht, dass Alice das Versprechen nicht ihr, sondern Barbara gegeben hat. Nur Alice, Barbara und vielleicht ihnen sehr vertraute Personen stehen in einer derart engen Beziehung zueinander, dass die Verfehlung sie etwas angeht. Bei schweren Vergehen – wie etwa Mord – ist es selbstverständlich oft angebracht, moralisch empört über die Täterin oder Anstifterin zu sein, selbst wenn man kein unmittelbares oder mittelbares Opfer der Vergehen ist und selbst dann, wenn man niemanden persönlich kennt, der von diesen Vergehen betroffen ist. Doch bei kleineren moralischen Verstößen sind, so scheint es, nur bestimmte Personen in der Position, Vorwürfe zu machen. So argumentiert zum Beispiel A. Smith, dass manche Vorwerfende ihr standing verloren haben, Vorwürfe zu machen, „either because they do not stand in an appropriate relation to us [die Opfer der Verfehlung], or because they do not stand in an appropriate relation to the one who has wronged us“ (A. Smith 2007, S. 479).13
_____ 13 A. Smith verknüpft die These, dass nur diejenigen in der Position sind, Vorwürfe zu machen, die in der richtigen Beziehung zu Täterinnen, Tätern und Opfern stehen, mit der These, dass die Privatsphäre bestimmte Personen vor Vorwürfen schützt: „The rights of privacy are
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In der Literatur wird also vorgeschlagen, dass eine Verfehlung eine Person im hier relevanten Sinn nichts angeht, wenn die Verfehlung durch die Privatsphäre von Täterinnen, Tätern oder Opfern geschützt ist oder wenn die Vorwerfenden nicht in der richtigen Beziehung zu Täterinnen, Tätern oder Opfern stehen.14 Nun werde ich aber zeigen, dass erstens durch Vorwurfseinstellungen, um die es hier ja geht, die Privatsphäre von Täterinnen, Tätern und Opfern nicht verletzt werden kann und dass es zweitens unplausibel ist, dass die persönliche Beziehung der Vorwerfenden zu Täterinnen, Tätern und Opfern dafür sorgen kann, dass Vorwurfseinstellungen untergraben sind. Erstens das Problematische am Haben von Vorwurfsemotionen ist nicht, dass mit ihnen die Privatsphäre anderer verletzt wird. Um das zu erkennen, sollte man zunächst fragen, wie überhaupt die Privatsphäre einer Person verletzt werden kann. Einem weiten Verständnis von einem Recht aufs Private zufolge besteht dieses darin, den Zugang zu und die Nutzung von Informationen, Orten und Körpern zu kontrollieren. Die Privatsphäre umfasst nach diesem Verständnis die Informationen, Orte und Körper, die durch unser Recht aufs Private geschützt sind. Wenn das stimmt, kann die Privatsphäre nur verletzt werden, indem man sich Zugang zu Informationen, Orten oder Körpern verschafft, die zu kontrollieren eine Person berechtigt ist. Nun ist es wichtig zu sehen, dass eine Person allein durch das Haben einer Vorwurfsemotion all das nicht tun kann.15 Das Haben von
_____ such that it is generally not our business to reproach others for their minor moral faults unless we stand in a special relation to them and/or have a relevant stake in the matter“ (A.M. Smith 2007, N. 18; vgl. auch Nagel 1998). In welchem Verhältnis das Privatheitsargument und das Beziehungsargument dafür, dass Vorwürfe untergraben sind, wenn die Verfehlung die Vorwerfenden nichts angehen, stehen, ist für die Zwecke dieses Kapitels von keinem Belang. Ich versuche zu zeigen, dass beide nicht überzeugen können. 14 Manchmal reagieren wir auch mit einer Das-geht-Dich-nichts-an-Haltung, wenn wir der Meinung sind, dass unser Verhalten moralisch einwandfrei ist, oder wenn die Heftigkeit des Vorwurfs nicht der Schwere des Vergehens entspricht. Wenn etwa jemand empört darüber ist, dass wir bei roter Ampel über die freie Straße gehen, kann es leicht passieren, dass wir mit einer Das-geht-Dich-nichts-an-Haltung reagieren. In solchen Fällen scheinen wir aber entweder der Meinung zu sein, dass der Vorwurf in keinem angemessenen Verhältnis zu unserem Vergehen steht – dass aus einer Mücke ein Elefant gemacht wird – oder dass wir überhaupt kein Vergehen begangen haben. Was wir hier also zurückweisen, ist nicht, dass der Vorwerfende in der richtigen Position ist, Vorwürfe zu machen, sondern dass wir uns vorwerfbar verhalten haben oder dass die Vorwürfe der Schwere unseres Vergehens entsprechen. Diese Überlegungen sind unabhängig von der Frage, ob eine Person in der richtigen Position ist, Vorwürfe zu machen. 15 Vgl. Moore: „A right to privacy is a right to control access to and uses of – places, bodies, and personal information“ (Moore 2008, S. 421). Vgl. auch Rössler: „[A]ls privat gilt etwas dann, wenn man selbst den Zugang zu diesem ‚etwas‘ kontrollieren kann“ (Rössler 2001, S. 23).
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Emotionen kann keinen Zugang zu Informationen, Orten oder Körpern verschaffen. Vielmehr reagiert man mit Emotionen darauf, dass man bestimmte Informationen, Orte oder Körper wahrnimmt oder wahrzunehmen meint. Damit können Emotionen aber nicht selbst in die Privatsphäre eindringen, mit ihnen reagiert man höchstens darauf, dass man bereits in die Privatsphäre einer Person eingedrungen ist, oder darauf, dass man sich ausmalt, was man sieht, wenn man dies tut. Das Argument dafür, dass Vorwurfsemotionen nicht die Privatsphäre einer Person verletzen können, ist im Detail das Folgende: (i) Die Privatsphäre einer Person kann nur dadurch verletzt werden, dass man sich Zugang zu Informationen, Orten oder Körpern verschafft. (ii) Indem man eine Vorwurfsemotion hat, kann man sich keinen Zugang zu Informationen, Orten oder Körpern verschaffen. (iii) Also kann man nicht die Privatsphäre einer Person verletzen, indem man eine Vorwurfsemotion hat. Wenn also die Nachbarin empört darüber ist, dass Alice ihr Versprechen gebrochen hat, kann man sie nicht dafür kritisieren, dass ihre Vorwurfsemotion die Privatsphäre von Alice und Barbara verletzt. Wahrscheinlich ist ihr Versuch herauszufinden, was zwischen den beiden vorgefallen ist, eine versuchte Verletzung ihrer Privatsphäre. Aber die Privatsphäre wird dann allein durch ihr Fragen bedroht, nicht jedoch durch das Haben der Vorwurfsemotion. Zur Verteidigung der These, dass bestimmte Vorwurfseinstellungen die Privatsphäre von Personen verletzen können, könnte man versuchen, (i) abzulehnen und ein alternatives Verständnis des Rechts aufs Private vorstellen. Und tatsächlich ist (i) nicht unumstritten.16 Doch scheint mir, dass sich auf der
_____ Verletzungen der Privatheit bestimmt Rössler als das unzulässige Verschaffen von Zugang zu Informationen, Räumen und als unzulässiges Hineinreden in und „von Fremdbestimmen bei Entscheidungen und Handlungen“ (2001, S. 25). Nach Rössler kann man also auch in die Privatsphäre einer Person eindringen, indem man sie von einer Handlung abhält und nicht nur indem man sich Zugang zu bestimmten Dingen verschafft. Diese Abweichung von meinem Ansatz ist aber für die hier verfolgten Ziele nebensächlich. Wichtig ist vielmehr, dass das bloße Haben einer Emotion niemanden davon abhalten kann, eine Handlung auszuführen. Deshalb kann man auch nach Rösslers Ansatz nicht in die Privatsphäre einer Person eindringen, indem man ihr Vorwürfe macht. Neben den sogenannten kontrollbasierten Theorien des Privaten von Moore und Rössler gibt es selbstverständlich noch andere. Die hier angestellten Überlegungen sind aber, soweit ich sehe, mit all diesen Ansätzen vereinbar. 16 Vgl. z.B. Allen (2005) und Davis (2009) für Diskussionen verschiedener Theorien der Privatsphäre und des Rechts aufs Private.
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Grundlage aller Standardtheorien des Rechts aufs Private ein Argument bilden lässt, das analog zu dem funktioniert, das ich gerade vorgestellt habe und das ebenfalls (iii) impliziert. Damit komme ich zur zweiten Antwort auf die Frage, wann eine Verfehlung Vorwerfende nichts angeht, nämlich dann, wenn Vorwerfende einerseits und Täterinnen, Täter oder Opfer andererseits nicht in der richtigen Beziehung zueinander stehen. Dagegen spricht jedoch, dass sich leicht Situationen denken lassen, in denen unbeteiligte Dritte, die in keiner persönlichen Beziehung zu Täterinnen, Tätern oder Opfern stehen, Vorwurfseinstellungen haben, die nicht untergraben sind. Wenn etwa eine Beschreibung des Versprechensbruchs von Alice in einer Biographie oder einer Reportage dazu führt, dass sich persönlich nicht betroffene, aber sensible Leserinnen mit Barbara identifizieren, ihren Wunsch nach einem schönen Abend mit Gästen und so weiter nachvollziehen und dann mit einer Form der Empörung auf Alice’ Versprechensbruch reagieren, scheint daran nichts auszusetzen zu sein. In vielen Familiengeschichten in Film und Literatur passiert genau das: Zuschauerinnen oder Leser werden zu Zeugen von fiktiven oder tatsächlichen familiären Zwistigkeiten und ergreifen oft unwillkürlich Partei. Wenn es sich um eine mit hinreichenden Belegen unterstützte Schilderung von wahren Begebenheiten handelt, etwa wie eine Berühmtheit ihre Familienangehörige schikaniert, scheint es vollkommen alltäglich und angemessen zu sein, mit Formen des moralischen Ärgers zu reagieren. Es ist dann wohl kaum angemessen, vor Wut zu schäumen oder sich aktiv in das Familiengeschehen einzumischen. Aber das liegt daran, dass es sich um leichte Vergehen handelt, wenn man sie etwa mit Mord oder Vergewaltigung vergleicht, bei denen heftige Emotionen und wohl auch aktives Eingreifen angemessen sind, auch wenn man in keiner relevanten Beziehung zu Täterinnen, Tätern oder Opfern steht. Und deshalb stimmt es einfach nicht, dass die Angemessenheit der Vorwurfsemotionen davon abhängt, in welchem Verhältnis Vorwerfende einerseits und Opfer, Täterin oder Täter andererseits zueinander stehen. Die hier kritisierte Argumentation beginnt mit dem scheinbar plausiblen Gedanken, dass eine Verfehlung Vorwerfende nichts angeht, wenn die Verfehlung in die Privatsphäre von Täterinnen, Tätern oder Opfern fällt oder wenn die Vorwerfenden nicht im richtigen Verhältnis zu Täterinnen, Tätern oder Opfern stehen. Wenn eine dieser Bedingungen erfüllt ist, so die Argumentation, dann sind die Vorwürfe untergraben und die Ziele der Vorwürfe, aber auch die Opfer des Vergehens können angemessenerweise mit einer Das-geht-Dich-nichts-anHaltung auf die Vorwerfenden reagieren. Ich habe gezeigt, dass diese Überlegung auf falschen Annahmen beruht: Tatsächlich ist die persönliche Beziehung zwischen Vorwerfenden einerseits und Täterinnen, Tätern oder Opfern anderer-
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seits irrelevant, wenn es darum geht, ob Vorwurfseinstellungen untergraben sind. Und Vorwurfseinstellungen können nicht die Privatsphäre von Personen verletzen. Eine naheliegende Diagnose dafür, dass die Irrelevanz von „Das geht Dich nichts an“ bislang übersehen wurde, ist, dass in der Debatte nicht hinreichend zwischen offenen und privaten Vorwürfen unterschieden wird. Wie ich schon gezeigt habe, ist es plausibel, dass es angemessen sein kann, mit „Das geht dich nichts an“ auf bestimmte vorwurfsvolle Handlungen und Sprechhandlungen zu reagieren, wenn die Vorwerfenden die Privatsphäre verletzen oder nicht in der richtigen Beziehung zu Täterinnen, Tätern oder Opfern stehen. Daraus folgt aber nicht, dass es angemessen ist, auf das bloße Haben von Vorwurfsemotionen auf diese Weise zu reagieren. Und ich habe in Kapitel 1 gezeigt, dass Vorwürfe zunächst und vor allem bestimmte Einstellungen und nicht etwa Handlungen oder Verhaltensweisen sind.
3.2.2 „Das kannst Du nicht wissen“ Wenn die Nachbarin Alice vorwirft, ihr Versprechen gebrochen zu haben, rechtzeitig den Müll herauszubringen, scheint es auch angemessen, auf folgende Weise darauf zu reagieren: „Du kannst doch gar nicht wissen, was genau vorgefallen ist!“ Und wenn es stimmt, dass die Nachbarin die relevanten Tatsachen nicht kennt oder nicht kennen kann, dann scheint ihr Vorwurf untergraben zu sein. In diesem Unterabschnitt werde ich untersuchen, wie diese Untergrabung von Vorwürfen zu verstehen ist und wie sie sich von der scheinbaren Das-gehtDich-nichts-an-Untergrabung unterscheidet. Eine Person muss (wenigstens) drei Bedingungen erfüllen, damit es angemessen ist, ihr moralische Vorwürfe zu machen: Sie muss eine Kontroll- und eine epistemische Bedingung erfüllen und an ihr oder ihrem Verhalten muss etwas moralisch problematisch sein. Wenn nun die Nachbarin Alice ihren Versprechensbruch vorwirft, obwohl sie nicht mit hinreichender Sicherheit urteilen kann, dass Alice (wenigstens) diese drei Bedingungen erfüllt, dann scheint an ihrem Vorwurf etwas auszusetzen zu sein. Wenn sie etwa nur rät und keinerlei Hinweise dafür hat, dass Alice die relevante Art von Kontrolle darüber hat, den Müll herauszubringen, dann, so scheint es, ist ihr Vorwurf untergraben. Dieser Gedanke lässt sich verallgemeinern: Wenn Vorwerfende nicht mit hinreichender Sicherheit urteilen können, dass das Ziel ihrer Vorwürfe die Bedingungen der Vorwerfbarkeit erfüllt, dann sind die Vorwürfe untergraben und das Ziel der Vorwürfe kann angemessenerweise mit einer Das-kannst-Du-nicht-wissenHaltung auf den Vorwurf reagieren.
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Man könnte nun meinen, dass eine bestimmte Verfehlung einer Person eine andere Person nichts angeht, wenn diese nicht mit hinreichender Sicherheit über die Vorwerfbarkeit der Täterin urteilen kann.17 Der Vorschlag ist folgender: Wenn eine Person relevante Tatsachen über eine Verfehlung nicht kennt oder kennen kann, dann ist es angemessen auf ihre Vorwürfe mit einer Das-gehtDich-nichts-an-Haltung zu reagieren. Doch passt diese Verbindung von „Das geht Dich nichts an“ mit „Das kannst Du nicht wissen“ nicht mit dem zusammen, was wir denken, wenn wir im Alltag eine dieser Haltungen einnehmen. Wenn wir so etwas wie „Das geht Dich nichts an“ denken oder sagen, meinen wir, dass diese Person sich mit ihren Handlungen und Reaktionen zurückhalten soll, unabhängig davon, was sie glaubt und mit welcher Sicherheit sie das glaubt oder glauben kann: Selbst wenn sie mit Sicherheit weiß, dass wir die Bedingungen der Vorwerfbarkeit erfüllt haben, so der leitende Gedanke, geht es sie nichts an. Zugleich scheint es Fälle zu geben, in denen eine Person nicht hinreichend über unsere Vergehen informiert sein kann, und diese Vergehen gehen sie sehr wohl etwas an. So können wir uns vorstellen, dass Barbara noch nicht mit hinreichender Sicherheit urteilen kann, dass Alice eine Pflicht verletzt hat, als sie den Müll nicht herausgebracht hat. Wenn sie ihr trotzdem einen Vorwurf macht, ist daran etwas problematisch, aber es wäre unpassend mit „Das geht Dich nichts an“ zu reagieren. Deshalb sollten wir die Das-geht-Dich-nichts-an-Untergrabung von Vorwürfen von der Das-kannst-Du-nicht-wissen-Untergrabung unterscheiden. Es stellt sich die Frage, ob die hier vertretene Position erklären kann, weshalb es moralisch problematisch ist, Vorwurfseinstellungen zu haben, wenn man nicht mit hinreichender Sicherheit urteilen kann, dass die Bedingungen der Vorwerfbarkeit erfüllt sind. Wenn die Nachbarin eine Vorwurfsemotion ausbildet, ohne hinreichende Gewissheit zu haben, ist das zunächst einmal epistemisch problematisch: Der repräsentationale Gehalt ihres Vorwurfs ist nicht hinreichend gerechtfertigt. Nun kann man mit einer plausiblen
_____ 17 Vgl. etwa Duff, dem es aber nur um offene Vorwürfe geht: „But if a passing stranger who hears about what I have done castigates me for it, I might reasonably respond not by denying the accusation of wrongdoing, or by justifying or excusing my conduct, but by denying that the stranger has the standing to call me to answer for it: it is not her business. [...] On one view, my wrongdoing is in principle the stranger’s business, as it is the business of every moral agent; but whilst this gives the stranger some reason to criticise me, she has stronger reasons not to intervene in this way – reasons to do, for instance, with her lack of knowledge of the relevant facts, or with the likely effects of such an intervention“ (Duff 2010, S. 125, meine Hervorhebung).
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Zusatzannahme zeigen, dass ein solcher Vorwurf nicht nur epistemisch, sondern auch moralisch problematisch ist, nämlich mit dem Prinzip „im Zweifel für den Angeklagten“. Dieser aus dem Alltag und Rechtswesen geläufige sogenannte Zweifelssatz scheint auch für unsere Vorwurfsemotionen zu gelten. Mit Bezug auf diese lässt sich der Zweifelssatz so verstehen: Dass wir nicht mit hinreichender Sicherheit urteilen können, dass eine Person die Bedingungen der Vorwerfbarkeit erfüllt, ist ein moralischer Grund, Einstellungsmanagement zu betreiben, das unsere Vorwurfsemotionen verhindert. Wenn eine Person einen solchen Grund hat, aber nicht nach ihm handelt, dann ist ihre Vorwurfsemotion nicht nur epistemisch problematisch, sondern auch moralisch untergraben. Weshalb sollte der Zweifelssatz auch für Vorwurfsemotionen gelten? Bei Strafen gilt er, weil Strafen unter anderem darin bestehen, dass bestimmte Interessen der Bestraften – etwa ihr Interesse an Bewegungsfreiheit – verletzt werden.18 Und es scheint plausibel, dass es epistemische Hürden gibt, die genommen werden müssen, bevor es moralisch gerechtfertigt ist, dass man diese Interessen verletzt. An dieser Stelle wird es wichtig, dass ich mit der Hypothese arbeite, dass es im Interesse der meisten von uns ist, dass man keine Vorwurfsemotionen uns gegenüber hat. Und daher kann die Rechtfertigung des Zweifelssatzes mit Bezug auf Strafen übernommen werden für die Rechtfertigung mit Blick auf Vorwürfe: Sobald es in unserem Interesse ist, kein Ziel von Vorwürfen zu sein, müssen Vorwerfende gewisse epistemische Hürden nehmen, damit ihre Vorwürfe moralisch einwandfrei sind. Ich habe in diesem Abschnitt zunächst dafür argumentiert, dass Vorwürfe nicht dadurch untergraben werden, dass die Verfehlung die Vorwerfenden nichts angeht. Dann habe ich gezeigt, dass sie dadurch untergraben werden, dass die Vorwerfenden nicht mit hinreichender Sicherheit urteilen können, dass das Ziel der Vorwürfe die Bedingungen der Vorwerfbarkeit erfüllt. Im folgenden Abschnitt werde ich eine dritte Art diskutieren, auf die Vorwürfe scheinbar untergraben werden können, nämlich indem die Vorwerfenden sich ebenfalls auf relevante Weise schuldig gemacht haben.
_____ 18 Vgl. zum Überblick über das Wesen und die Rechtfertigung von Strafen Bedau und Kelly (2015).
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3.3 „Ausgerechnet Du“ 3.3 „Ausgerechnet Du“ 3.3.1 Scheinheilige Vorwürfe und der Wert der Gleichheit Wenn Barbara Alice vorwirft, dass sie ihr Versprechen gebrochen hat, den Müll vor 19.00 Uhr herauszubringen, Barbara aber selbst ihr Versprechen gebrochen hat, die Stromrechnung zu bezahlen, dann scheint etwas an Barbaras Vorwurf problematisch zu sein. Es ist dann verständlich, wenn Alice mit einer Ausgerechnet-Du-Haltung auf Barbaras Vorwurf reagiert. In diesem Unterabschnitt werde ich einen an Wallace’ Theorie scheinheiliger Vorwürfe orientierten Ansatz vorstellen, der verständlich macht, wann und weshalb es gerechtfertigt ist, mit einer solchen Haltung auf einen Vorwurf zu reagieren. Der zentrale Gedanke ist, dass manche Vorwerfende in Anspruch nehmen, dass für sie andere moralische Regeln gelten als für andere und auf diese Weise mit dem Wert der Gleichheit in Konflikt geraten. Dann, so die These, sind ihre Vorwürfe moralisch untergraben. Im folgenden Unterabschnitt werde ich diesen Ansatz verteidigen. Zunächst ist es interessant festzustellen, dass Ausgerechnet-Du-Haltungen auch in Fällen angebracht zu sein scheinen, die auf den ersten Blick ganz anders aussehen als der, in dem Barbara selbst ein Versprechen bricht. Angenommen, Barbara sorgt gezielt dafür, dass es schwierig für Alice ist, ihr Versprechen einzuhalten, etwa indem sie sie immer wieder in komplizierte philosophische Diskussionen verstrickt, bis es zu spät ist, rechtzeitig den Müll herauszubringen. Barbara macht es damit zwar nicht unmöglich, dass Alice ihr Versprechen hält, sie erschwert es ihr aber gezielt. Wenn Alice das weiß, scheint es angemessen, wenn sie auf Barbaras Vorwurf mit einer Ausgerechnet-DuHaltung reagiert. Andere und nicht ganz so alltägliche Beispiele für diese Weise, Vorwürfe zu untergraben, sind folgende: Der Mafiaboss ist wohl kaum in der Position, dem Mörder einen Mord vorzuwerfen, den er selbst in Auftrag gegeben hat. Und Gerald Cohen (2006) meint mit Blick auf den Nahostkonflikt, dass Mitglieder einer Gruppe, die einer anderen Gruppe keine vernünftige Alternative dazu lassen, ihre Interessen mit Gewalt durchzusetzen, nicht in der Position sind, Mitgliedern dieser Gruppe den Griff zur Gewalt vorzuwerfen. In den skizzierten Fällen hat die vorwerfende Person keine weiße Weste mit Bezug auf die Verfehlung, die sie der anderen Person vorwirft. Vorwürfe dieser Art sind, um Wallace’ (2010) Ausdruck zu verwenden, scheinheilig (hypocritical). Aber was genau ist an solchen Vorwürfen problematisch?19 In Wallace’ ei-
_____ 19 Wallace konzentriert sich auf Fälle, in denen die Vorwerfenden sich auf ähnliche Weise schuldig gemacht haben wie diejenigen, denen sie Vorwürfe machen. Es scheint jedoch
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genem Beispiel wirft eine Person einer anderen Unehrlichkeit vor, obwohl sie selbst oft unehrlich war. An einer zentralen Stelle schreibt Wallace über diesen Fall: We all have an interest in being protected from the kind of social disapproval and opprobrium that are involved in blame. Morality shields us from these effects, providing a justification that can disarm opprobrium when we comply with its requirements, but we lose this protection when we treat people with a lack of consideration and respect. In the hypocritical case just mentioned, I treat your dishonesty as a license to disregard your interest in avoiding social disapprobation. But I also act as if I continue to deserve protection from the same effect myself, despite the fact that I have been dishonest toward you in just the same way. As long as it goes uncorrected, this complex stance attaches to my interests greater importance than it ascribes to yours, affording my interests a higher standard of protection and consideration than it affords to yours. This offends against a presumption in favor of the equal standing of persons that I take to be fundamental to moral thought (Wallace 2010, S. 328). Ausgangspunkt ist auch hier die Annahme, dass die meisten von uns (Wallace meint sogar „we all“) ein Interesse daran haben, nicht das Ziel von Emotionen wie Empörung, Groll und so weiter zu sein. Dieses Interesse werde von der Moral geschützt und dürfe – von Ausnahmen abgesehen – nur verletzt werden, wenn eine Person die Bedingungen der Vorwerfbarkeit erfüllt. Ein für die Moral zentrales Prinzip sei dann das der Gleichheit (principal of equality 2010, S. 329), das verlangt, dass bestimmte Interessen von verschiedenen Personen gleichermaßen berücksichtigt werden.20 Mit Bezug auf Vorwürfe verlange dieses Prinzip, dass das Interesse einer Person, kein Ziel von Vorwürfen zu sein, genauso berücksichtigt wird wie das Interesse einer anderen Person, kein Ziel von Vorwürfen zu sein. Gegen dieses Prinzip der Gleichheit verstoßen, so Wallace, diejenigen, die scheinheilige Vorwürfe machen: Sie verletzen ein bestimmtes Interesse anderer, ohne anzuerkennen, dass es angemessen ist, ihr eigenes Interesse der gleichen Art genauso zu verletzen. Sie nehmen für sich in Anspruch,
_____ möglich, seinen Ansatz auf solche Fälle zu übertragen, in denen die Vorwerfenden wesentlich zum Vergehen beigetragen haben. Vgl. King (2015) für eine ausführlichere Diskussion solcher Fälle. 20 Vgl. auch Fritz und Miller (2015) für eine Diskussion von Gleichheit im Kontext scheinheiliger Vorwürfe.
3.3 „Ausgerechnet Du“ | 109
etwa vor Empörung geschützt zu sein, empören sich aber über andere, ohne anzuerkennen, dass sie ihren Anspruch auf Schutz vor Empörung genauso verloren haben wie jene. Zur Veranschaulichung wende ich diese Überlegungen auf den Fall von Alice und Barbara an. Alice und Barbara haben ein Interesse daran, dass man keine Vorwurfseinstellungen ihnen gegenüber hat, und dieses Interesse sei moralisch geschützt, solange sie nicht die Bedingungen der Vorwerfbarkeit erfüllen. Angenommen, Alice und Barbara erfüllen diese Bedingungen. Ein allgemeines Prinzip der Gleichheit verlange nun, dass das Interesse von Alice und Barbara, kein Ziel von Vorwürfen zu sein, gleichermaßen berücksichtigt wird. Barbara ist empört darüber, dass Alice ihr Versprechen gebrochen hat. Wie kann Barbara nun dafür sorgen, dass ihre Empörung nicht scheinheilig ist? Eine Möglichkeit für Barbara dafür zu sorgen, dass ihre Empörung nicht scheinheilig ist, besteht darin, ihre Einstellungen gegenüber Alice und sich selbst gegenüber in Einklang (harmony Wallace 2010, S. 326) zu bringen. Das kann auf zwei Weisen geschehen. Erstens kann Barbara dafür sorgen, dass sie aufhört, empört darüber zu sein, dass Alice ihr Versprechen gebrochen hat, indem sie das oben schon beschriebene Ärgermanagement betreibt. Zweitens kann sie dafür sorgen, dass sie sich selbst Vorwürfe macht, indem sie dafür sorgt, dass sie auf relevante Weise auf sich selbst zornig ist oder sich schuldig dafür fühlt, dass auch sie ein Versprechen gebrochen hat. Wenn sie auf eine dieser Weisen ihre Emotionen ihr selbst und Alice gegenüber in Einklang bringt, dann ist ihr Vorwurf nicht mehr scheinheilig. Denn dann nimmt Barbara nicht mehr für sich in Anspruch, dass ihr Interesse, kein Ziel von Vorwurfsemotionen zu sein, schützenswerter ist als das Interesse von Alice. Nun könnte man meinen, dass Barbaras Vorwurf dann scheinheilig ist, wenn sie Einstellungsmanagement dieser Art nicht ausführt. Man könnte also meinen, dass Barbaras Vorwurf scheinheilig ist, wenn sie empört über Alice’ Versprechensbruch ist, nicht dafür sorgt, dass sie ihre Empörung aufgibt, und auch nicht dafür sorgt, dass sie sich selbst Vorwürfe macht. Doch stimmt das nicht. Wenn Barbara in dieser Situation ist und dann öffentlich, und das heißt vor allem Alice gegenüber, ihre Schuld eingesteht, indem sie zum Beispiel um Verzeihung bittet, dann ist ihr Vorwurf nicht scheinheilig.21 Auch dann nimmt
_____ 21 Wallace schreibt: „In its paradigmatic forms, hypocritical address involves resentment or indignation about immoral behavior on the part of others, together with a refusal to acknowledge one’s own vulnerability to opprobrium of just the same kind“ (Wallace 2010, S. 336, meine Hervorhebung). Vgl. für die Bedeutung der öffentlichen Anerkennung des eigenen Fehlverhal-
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sie nicht für sich in Anspruch, dass ihre Interessen schützenswerter sind als die von Alice. Sie erkennt dann an, dass ihre eigenen Interessen angemessenerweise verletzt werden können, genau wie sie die Interessen von Alice verletzt. Denn Barbara gibt Alice mit ihrem Geständnis die Möglichkeit, empört über sie zu sein. Die hier angestellten, von Wallace inspirierten Überlegungen lassen sich auf folgende Weise zusammenfassen: Wenn eine Person einer anderen gegenüber eine Vorwurfsemotion hat, obwohl sie sich selbst in relevanter Weise schuldig gemacht hat, dann ist das ein moralischer Grund für sie, dafür zu sorgen, dass ihre Vorwurfsemotionen ihr selbst und der anderen Person gegenüber in Einklang kommen oder öffentlich, und das heißt insbesondere der anderen Person gegenüber, zuzugestehen, dass sie sich ebenfalls schuldig gemacht hat. Wenn die Vorwerfende dies nicht tut, dann ist ihr Vorwurf scheinheilig und moralisch untergraben.
3.3.2 Wie man scheinheilige Vorwürfe auf wertvolle Weise verhindern kann Ich halte den gerade vorgestellten, von Wallace inspirierten Ansatz scheinheiliger Vorwürfe für überzeugend. Die Scheinheiligkeit von bestimmten Vorwürfen ist ihm zufolge darin gegründet, dass die Vorwerfenden mit dem Wert der Gleichheit in Konflikt geraten. In diesem Unterabschnitt werde ich den Ansatz gegen einen wichtigen Einwand verteidigen. Gegen den von Wallace inspirierten Ansatz lässt sich einwenden, dass er zu viele eigentlich scheinheilige Vorwürfe entschuldige. Dieser Einwand kann zwei Formen annehmen. In der ersten Form besagt er, dass es einfach plausibel sei, dass eine Person, die ihre Einstellungen sich selbst und dem Ziel ihres Vorwurfs gegenüber nicht in Einklang bringt, einen scheinheiligen Vorwurf macht. Der oben vorgestellte Ansatz besagt dagegen, dass eine solche Person dann keinen scheinheiligen Vorwurf macht, wenn sie öffentlich, und das heißt insbesondere dem Ziel ihres Vorwurfs gegenüber, zugesteht, dass auch sie ein angemessenes Ziel von Vorwürfen ist. Das, so der Einwand, sei aber unplausibel. Um keinen scheinheiligen Vorwurf zu machen, müsse diese Person Einstellungsmanage-
_____ tens: „The commitment [...] is thus a commitment not merely to acknowledge intellectually or privately one’s own wrongdoing, but to acknowledge it as a legitimate basis for moral opprobrium, and in this way to open oneself potentially to the disapprobation of others. To live up to this commitment, one must be willing to admit publicly to one’s own moral failings“ (Wallace 2010, N. 37, meine Hervorhebung).
3.3 „Ausgerechnet Du“ | 111
ment betreiben, damit sie entweder sich selbst ebenfalls Vorwürfe macht oder damit sie aufhört, der anderen Person Vorwürfe zu machen. Zunächst sollte man sich bewusst machen, dass man auf verschiedene Weise anerkennen kann, dass die Interessen einer anderen Person genauso schützenswert sind wie die eigenen. Eine Möglichkeit für die Vorwerfenden, dies zu tun, besteht darin, anderen Personen die Möglichkeit zu geben, auf das eigene Fehlverhalten mit den gleichen Vorwurfsemotionen zu reagieren, wie sie selbst auf deren Fehlverhalten reagieren. Damit machen die Vorwerfenden deutlich, dass sie ihren eigenen Interessen grundsätzlich keinen höheren Wert beimessen als den Interessen der anderen. Dann sollte man betonen, dass dies nicht nur eine logisch mögliche Option ist, die man in Kauf nehmen muss, wenn man meint, dass die Scheinheiligkeit bestimmter Vorwürfe darin gegründet ist, dass sie mit dem Wert der Gleichheit in Konflikt geraten. Es ist außerdem eine wertvolle Weise, den Wert der Gleichheit anzuerkennen. Denn selbst wenn Vorwurfsemotionen die Interessen von Personen verletzen, ist es manchmal wertvoll, angemessene Vorwurfsemotionen zu haben und anderen die Möglichkeit zu geben, angemessene Vorwurfsemotionen zu haben. Ich werde im folgenden Kapitel ausführlich den Wert von Vorwürfen diskutieren. Doch sei bereits erwähnt, dass eine wertvolle psychische und soziale Funktion von Vorwurfsemotionen darin besteht, dass sie den Vorwerfenden und, wenn sie ausgedrückt werden, auch allen anderen deutlich machen, dass den Vorwerfenden die verletzte moralische Norm wichtig ist. Eine andere wertvolle Rolle von Vorwurfsemotionen ist es, Vorwerfende dazu zu motivieren, in einen Prozess des Austauschs mit anderen einzutreten, der es ermöglicht, Rechtfertigungen und Entschuldigungen auszutauschen. Solche Prozesse sind oft wertvoll. Und deshalb kann es durchaus wertvoll sein, empört über eine andere Person zu sein, derselben Person die Möglichkeit zu geben, empört über das eigene Verhalten zu sein und sich nicht schuldig zu fühlen. Das kann einen Prozess des Austauschs anstoßen, der nicht in Gang kommen würde, wenn die Vorwerfenden nur Einstellungsmanagement betreiben, um ihre eigenen Emotionen in Einklang zu bringen. Die wertvollen Rollen von Vorwürfen sind auch für die Antwort auf die zweite Form des Einwands wichtig, dass der oben vorgestellte Ansatz zu viele Vorwürfe entschuldige. In der zweiten Variante besagt er, dass es nur eine Weise gebe, scheinheilige Vorwürfe zu verhindern, nämlich die eigenen Vorwurfsemotionen loszuwerden: Wer sich auf bestimmte Weise selbst schuldig gemacht hat, ist grundsätzlich nicht in der richtigen Position, anderen Vorwürfe zu machen, die sich auf ähnliche Weise schuldig gemacht haben. Man könnte versuchen, diesen Gedanken durch weitere Überlegungen zum Wert der Gleichheit zu stützen. So könnte man gegen den von Wallace inspirierten Vorschlag einwen-
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den, dass er die absurde Konsequenz habe, dass man moralischen Grund und gegebenenfalls die Pflicht haben kann, zugunsten der Gleichheit die Situation derjenigen, denen es besser geht, an die Situation derjenigen anzupassen, denen es schlechter geht. Jemandem einen Vorwurf zu machen, so der Ausgangspunkt, sei etwas Schlechtes. Der Wert der Gleichheit könne es nicht rechtfertigen, etwas Schlechtes für den Einen mit etwas Schlechtem für Andere auszugleichen, er rechtfertige also kein sogenanntes leveling-down.22 Der Wert der Gleichheit rechtfertige es ja auch nicht, die Gleichheit zwischen Menschen mit und ohne Behinderung dadurch herzustellen, dass man allen ohne Behinderung eine Behinderung zufügt. Und so könne der Wert der Gleichheit es auch nicht rechtfertigen, dass die Ungleichheit, die durch einen scheinheiligen Vorwurf entstehen würde, dadurch verhindert oder ausgeglichen wird, dass die Vorwerfenden dafür sorgen, dass sie sich selbst Vorwürfe machen oder dafür, dass andere ihnen Vorwürfe machen – aber genau das besagt der vorgestellte Ansatz. Der Wert der Gleichheit könne nur rechtfertigen, dass die Vorwerfenden dafür sorgen, dass sie aufhören, Vorwürfe zu machen. Denn so werde Gleichheit hergestellt, indem Schlechtes weggenommen wird und nicht, indem Schlechtes hinzugefügt wird. Auch auf diesen Einwand ist die Antwort, dass Vorwürfe nicht nur etwas Schlechtes sind, sondern viele wertvolle Rollen spielen, selbst wenn sie die Interessen bestimmter Personen verletzen. Der Wert von Vorwürfen kann manchmal so groß sein, dass es besser ist, das Interesse der Vorwerfenden, kein Ziel von Vorwürfen zu sein, nicht zu berücksichtigen. Das kann zum Beispiel dann der Fall sein, wenn die Vorwerfenden durch ihre Schuldgefühle auf besonders eindrückliche Weise verstehen, wie wichtig ihnen die Normen sind, die sie und andere verletzt haben. Der Wert des Vorwurfs kann zum Beispiel auch dann überwiegen, wenn das Eingeständnis der Vorwerfenden, selbst ein angemessenes Ziel von Vorwürfen zu sein, einen Prozess des Austauschs über die begangenen Vergehen anstößt, der die Risse in der moralischen Gemeinschaft kittet, die durch die Vergehen entstanden sind. Wenn die Vorwerfenden dagegen Gleichheit herstellen, indem sie ihre eigenen Vorwurfsemotionen abschütteln, kann das nicht die genannten wertvollen Rollen spielen. Ich werde, wie gesagt, im folgenden Kapitel ausführlich die positiven und negativen Rollen von Vorwürfen diskutieren. Manche werden von diesen Überlegungen nicht überzeugt sein und weiterhin darauf pochen, dass diejenigen, die sich auf bestimmte Weise selbst schul-
_____ 22 Vgl. zur Übersicht über den Wert der Gleichheit im Allgemeinen Gosepath (2011).
3.3 „Ausgerechnet Du“ | 113
dig gemacht haben, grundsätzlich nicht in der richtigen Position sind, anderen Vorwürfe zu machen, die sich auf ähnliche Weise schuldig gemacht haben. Gegen diese These habe ich, zugegeben, kein Argument. Ich kann hier nur ausdrücken, dass es mir einleuchtend erscheint, dass unsere Position, Vorwürfe zu machen, nichts ist, was man einmal verliert und niemals wieder bekommen kann. Das scheint mir ein zu statisches Verständnis unserer normativen Stellung in der Welt zu sein. Ich halte ein dynamisches Verständnis für plausibler, dem zufolge wir uns die Position, anderen Vorwürfe zu machen, wieder erarbeiten und zurückgewinnen können, wenn wir sie einmal verloren haben. Auch wenn Alice ihr Versprechen gebrochen hat, den Müll rechtzeitig herauszubringen, kann sie, wie mir scheint, wieder in die richtige Position gelangen, Barbara Vorwürfe zu machen, wenn sie das Versprechen bricht, den Abwasch zu machen. Alice muss aber etwas dafür tun. So muss sie etwa für ihre Verfehlung einstehen, sie als solche anerkennen, um Verzeihung bitten oder sich selbst schuldig fühlen. Ich habe in diesem Abschnitt einen von Wallace inspirierten Ansatz über die Scheinheiligkeit bestimmter moralischer Vorwürfe entwickelt und verteidigt. Der zentrale Gedanke ist, dass manche Vorwerfende mit dem Wert der Gleichheit in Konflikt geraten, wodurch ihre Vorwürfe moralisch untergraben und scheinheilig werden. Vorwerfende, die in ähnliche Vergehen verstrickt sind wie die, die sie anderen vorwerfen, haben moralischen Grund, ihre Emotionen sich selbst und den anderen gegenüber durch Einstellungsmanagement in Einklang zu bringen oder öffentlich zuzugestehen, dass auch sie sich schuldig gemacht haben. Insgesamt bin ich in diesem Kapitel von der Annahme ausgegangen, dass es im Interesse der beteiligten Personen ist, kein Ziel von Vorwurfsemotionen zu sein. Dann habe ich dafür argumentiert, dass insbesondere zwei Eigenschaften von Vorwerfenden das Potential haben, ihre Vorwürfe moralisch zu untergraben: Dass sie nicht mit hinreichender Sicherheit urteilen können, dass die Bedingungen der Vorwerfbarkeit erfüllt wurden und dass sie selbst in ein Vergehen bestimmter Art verstrickt sind, sind moralische Gründe, dafür zu sorgen, dass sie keine Vorwurfseinstellungen haben. Diese Gründe können von anderen Gründen überwogen werden, sie können aber auch zu moralischen Pflichten werden. Wenn Vorwerfende solche Gründe haben und nicht nach ihnen handeln, dann sind ihre Vorwurfseinstellungen moralisch untergraben.
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4 Der Wert des Vorwerfens | 115
4 Der Wert des Vorwerfens 4 Der Wert des Vorwerfens DOI 10.1515/9783110527285-005 4 Der Wert des Vorwerfens
Auf den ersten Blick scheinen Vorwürfe etwas Negatives zu sein: Keiner ist gerne das Ziel von Vorwürfen und oft empfinden wir es als unangenehm, selbst Vorwurfsemotionen zu haben. Jemand, der sich über viele Dinge ärgert, so scheint es zunächst einmal, kann kein allzu gutes Leben haben. Auch passiert es nicht selten, dass offene Vorwürfe beim Gegenüber eher negative Reaktionen wie Trotz als Verständnis oder eine Bitte um Verzeihung hervorrufen. So kann es leicht passieren, dass auf offene Vorwürfe mit Gegenvorwürfen geantwortet wird und dass sich eine Art Vorwurfsspirale bildet, die schnell zu eskalieren droht. Ausgehend von solchen Überlegungen liegt es nahe, unser tagtägliches Vorwerfen kritisch zu beäugen und zu fragen, ob es nicht besser wäre, wenn wir ohne Vorwürfe auskommen würden. Eine solche Haltung findet sich in verschiedenen gesellschaftlichen und intellektuellen Strömungen: In der Ratgeberliteratur findet man Tipps, wie man ohne Wut und mit mehr Gelassenheit durchs Leben geht; Stoiker meinen, dass sich die ideal Akteurin und der ideale Akteur nicht aus Wut und Ärger, sondern aus bloßer Pflicht Übeltäterinnen und Übeltätern entgegenstellen;1 einige christliche Autorinnen und Autoren halten die Sanftmut, die kaum mit wütenden Vorwürfen vereinbar ist, für eine Tugend;2 buddhistische Philosophen meinen, dass Ärger und Wut zu den größten Hindernissen für moralische und spirituelle Entwicklung gehören;3 und Freiheitskämpfer wie Mahatma Ghandi und Martin Luther King Jr. werden dafür verehrt, dass sie wut- und vorwurfsfrei für ein besseres Leben und gegen Unterdrückung gekämpft haben.4 Angesichts dieser Eintracht in der Ablehnung der Vorwurfsemotionen überrascht es, dass die meisten heutigen Philosophinnen und Philosophen, die sich mit Vorwürfen auseinandersetzen, das Vorwerfen zu verteidigen versuchen.
_____ 1 Vgl. Seneca (2007, Buch 1.12). 2 Vgl. zur Übersicht Pettigrove (2012). 3 Pettigrove und Tanaka (2013) stellen in diesem Zusammenhang die Position von Shantideva vor. 4 Vgl. Watson (1987), Wallace (1994, Kap. 3) und Goldmann (2014). Ob diese oder ähnliche Personen wirklich wut- und vorwurfsfrei für ein besseres Leben und gegen Unterdrückung gekämpft haben, sei dahingestellt. Vgl. aber Nussbaum (2015) für eine Interpretation von Kings berühmter I Have a Dream-Rede, die nahelegt, King als jemanden zu sehen, der vorwurfsfrei gegen Unterdrückung gekämpft hat, oder zumindest als jemanden, der dafür plädiert, dass dies die beste Weise sei, gegen Unterdrückung zu kämpfen. DOI 10.1515/9783110527285-005
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Das erste Ziel, das ich in diesem Kapitel verfolge, ist zu zeigen, dass viele typische Verteidigungsversuche scheitern. Ein zweites Ziel ist, eine Verteidigung des Vorwerfens zu entwickeln, die zwar deutlich zurückhaltender, aber dafür erfolgversprechender ist. Der plausibelste Versuch, das Vorwerfen zu verteidigen, besteht darin zu zeigen, dass Vorwürfe angesichts der uns zur Verfügung stehenden Alternativen die effizientesten Mittel sind, wertvolle Ziele zu erreichen. Um diese Position zu entwerfen, werde ich zunächst die allgemeine Position der Vorwurfsverteidigung vorstellen und aufzeigen, welche Argumentationsstrategien ihr zur Verfügung stehen (Abschnitt 4.1). Dann werde ich die am weitesten verbreitete Verteidigung ausführlich und kritisch diskutieren, die besagt, dass das Vorwerfen notwendig dafür ist, etwas Wertvolles zu erhalten oder zu bekommen (Abschnitt 4.2). Im Anschluss werde ich die Frage diskutieren, ob Vorwürfe eher gute oder schlechte Effekte haben (Abschnitt 4.3) und davon ausgehend für die These argumentieren, dass wir nicht dafür sorgen sollen, dass wir einander keine Vorwürfe mehr machen. Abschließend werde ich kurz auf das allgemeine Verhältnis von Moral und Vorwurf eingehen (Abschnitt 4.4).
4.1 Die Vorwurfsverteidigung: Vier Ansätze 4.1 Die Vorwurfsverteidigung: Vier Ansätze 4.1.1 Die Vorwurfsverteidigung im Überblick Die Vorwurfsverteidigung kann zwei unterschiedliche Ziele haben. Sie kann für die starke These argumentieren, dass wir nicht dafür sorgen sollen, dass wir aufhören, moralische Vorwürfe zu machen. Wenn wir, so diese Position, doch dafür sorgen, unsere Tendenz zum Vorwerfen loszuwerden, verstoßen wir damit gegen ein Sollen oder eine Pflicht. Die Vorwurfsverteidigung kann aber auch für die schwächere These argumentieren, dass es nicht der Fall ist, dass wir dafür sorgen sollen, unsere Tendenz zum Vorwerfen loszuwerden. Dieser Position zufolge können wir dafür sorgen, dass wir aufhören, einander Vorwürfe zu machen, ohne gegen ein Sollen oder eine Pflicht zu verstoßen. Die schwache Vorwurfsverteidigung besagt bloß, dass wir nicht die Pflicht haben, die Tendenz zum Vorwerfen loszuwerden. Typischerweise argumentieren Vorwurfsverteidigerinnen und -verteidiger für die stärkere Position. Sie wollen zeigen, dass Vorwürfe in gewisser Weise gut sind und dass wir unsere Tendenz zu Vorwürfen nicht einfach abschütteln dürfen. Eine solche Vorwurfsverteidigung beinhaltet vier allgemeine Einschränkungen. Erstens haben Vorwurfsverteidigerinnen und -verteidiger nur das Ziel,
4.1 Die Vorwurfsverteidigung: Vier Ansätze | 117
angemessene Vorwürfe zu verteidigen. Es geht ihnen also nur um solche Fälle, in denen eine Person die Bedingungen der Vorwerfbarkeit erfüllt – also um eine Person, die die relevante Kontrolle über ihr Handeln und Denken hat, über das relevante Wissen verfügt oder verfügen kann, dennoch eine moralische Pflicht verletzt und eventuell noch weitere Bedingungen erfüllt. Die Verteidigung will auch zweitens nur Vorwürfe verteidigen, die in ihrer Heftigkeit der Schwere des Vergehens entsprechen – niemand glaubt, dass es im Allgemeinen gut ist, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen. Drittens behauptet keine Vorwurfsverteidigerin und kein -verteidiger, dass jeder zu allen Zeiten das Recht hat, Vorwürfe zu machen. Manche Personen sind – wie ich im vorangegangenen Kapitel diskutiert habe – nicht in der richtigen Position, anderen bestimmte Vergehen vorzuwerfen. Manchmal, so kann die Vorwurfsverteidigung viertens zugestehen, gibt es auch dann gute Gründe, dafür zu sorgen, dass man keine Vorwürfe macht, wenn die Übeltäterin die Bedingungen der Vorwerfbarkeit erfüllt und wenn man in der richtigen Position ist, Vorwürfe zu machen. Wenn etwa eine Person auch einen privaten Vorwurf bemerken und unverhältnismäßig unter ihm leiden würde, wäre es wohl besser, dafür zu sorgen, dass man keine Vorwurfseinstellung hat. Eine plausible Vorwurfsverteidigung versucht daher nur Vorwürfe im Allgemeinen und nicht jeden einzelnen Vorwurf zu rechtfertigen. Die typische Vorwurfsverteidigung verstehe ich also folgendermaßen: Im Allgemeinen, wenn auch nicht in jedem Einzelfall, ist es gut, wenn diejenigen, die in der richtigen Position dazu sind, denjenigen, die es verdienen, auf angemessene Weise Vorwürfe machen. Und deshalb sollen wir nicht dafür sorgen, dass wir unsere Tendenz zum Vorwerfen loswerden. Vorwurfsverteidigungen können für eine oder mehrere der folgenden Thesen argumentieren: Die An-sich-wertvoll-Verteidigung: Moralische Vorwürfe sind an sich wertvoll, so wie vielleicht ein gutes Leben oder bestimmte ästhetische Erfahrungen an sich wertvoll sind. Die Notwendigkeitsverteidigung: Moralische Vorwürfe sind notwendige Bestandteile von etwas an sich Wertvollem, sodass wir notwendigerweise etwas Wertvolles verlieren würden, wenn wir aufhören, Vorwürfe zu machen. Die instrumentelle Verteidigung: Moralische Vorwürfe sind die effizientesten uns zur Verfügung stehenden Mittel, etwas Wertvolles zu erreichen oder zu erhalten, sodass es in Anbetracht der Alternativen besser ist, das Vorwerfen beizubehalten.
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Ausgehend von einer dieser Thesen folgern Vorwurfsverteidigerinnen und -verteidiger, dass wir nicht aufhören sollen, Vorwürfe zu machen. In der Literatur findet sich immer wieder auch eine Version der schwächeren Verteidigung, die besagt, dass wir nicht die Pflicht haben, die Tendenz zu Vorwürfen loszuwerden, nämlich die Keine-Alternative-Verteidigung: Es gehört zur nichtveränderbaren Natur des Menschen, Vorwürfe zu machen; wenn es aber nicht möglich ist, aufzuhören, Vorwürfe zu machen, ist die Frage danach, ob wir aufhören sollen, Vorwürfe zu machen, eine bloße intellektuelle Spielerei. Im folgenden Unterabschnitt werde ich kurz auf die Keine-Alternative- und die An-sich-wertvoll-Verteidigung eingehen. In den anschließenden zwei Abschnitten werde ich ausführlich die Notwendigkeits- und die instrumentelle Verteidigung diskutieren. Letztere halte ich für diejenige mit den besten Erfolgschancen.
4.1.2 Weshalb Vorwürfe weder an sich wertvoll noch unvermeidlich sind Abgesehen von der An-sich-wertvoll-Verteidigung lassen sich die genannten Verteidigungsversuche in der Literatur finden. Trotzdem könnten diejenigen, die einen Retributivismus über Strafen für plausibel halten, auch auf den Gedanken kommen, die An-sich-wertvoll-Verteidigung für Vorwürfe zu entwickeln. Denn ein Kerngedanke retributivistischer Straftheorien ist, dass es an sich wertvoll ist, wenn eine Übeltäterin für ihre Tat bestraft wird.5 Und es liegt auf den ersten Blick nahe, Vorwürfe als eine informelle Art der Strafe zu betrachten. Daraus würde folgen, dass es an sich wertvoll ist, wenn einer Übeltäterin ihre Tat vorgeworfen wird. Diese Argumentation ist aber problematisch. Zunächst geht sie von der Annahme aus, dass es an sich wertvoll ist, dass die Interessen von Übeltäterinnen und -tätern durch Strafen verletzt werden, selbst wenn dies keine weiteren positiven Effekte hat. Das ist höchst umstritten. Nehmen wir aber an, dass die Annahme stimmt. Dann stellt sich bei genauerem Hinsehen heraus, dass die Tatsache, dass eine Person einer anderen Vorwürfe macht, nicht hinreichend dafür
_____ 5 Vgl. z.B. den Überblicksaufsatz zu „Retributive Justice“ von Walen (2014).
4.1 Die Vorwurfsverteidigung: Vier Ansätze | 119
ist, dass jene auch diese bestraft.6 Denn eine Person zu bestrafen besteht, dem üblichen Verständnis zufolge, notwendigerweise darin, ihre Interessen zu verletzen.7 Für Vorwürfe gilt das aber nicht. Zwar denke ich, wie gesagt, dass wir in der Regel ein Interesse daran haben, dass man uns keinen Vorwurf macht, doch lassen sich Situationen denken, in denen es uns gleichgültig sein kann oder in denen es sogar in unserem Interesse ist, dass man uns einen Vorwurf macht – etwa wenn uns ein verrückter Millionär mit Reichtümern beschenkt, wenn man uns einen Vorwurf für ein Vergehen macht.8 Wenn es aber Vorwürfe gibt, die nicht die Interessen derjenigen verletzten, auf die sie gerichtet sind, dann können Vorwürfe keine Strafen sein, weil Strafen notwendigerweise die Interessen der Bestraften verletzen. Ein zweiter wichtiger Unterschied zwischen Vorwürfen und Strafen ist, dass Strafende notwendigerweise absichtlich die Interessen der Bestraften verletzen.9 Wir werfen aber anderen Personen oft unwillkürlich etwas vor und haben ganz bestimmt nicht immer, wenn wir anderen Vorwürfe machen, die Absicht, ihre Interessen zu verletzen. Vorwürfe sind also nicht hinreichend für Strafen und auch nicht für informelle Strafen. Manche Vorwürfe können auch Strafen sein, aber das reicht nicht, um das Vorwerfen insgesamt zu verteidigen. Damit ist eine Prämisse für die hier vorgestellte An-sich-wertvoll-Verteidigung von Vorwürfen zurückgewiesen. Eine Form der Keine-Alternative-Verteidigung kann in Peter Strawsons „Freedom and Resentment“ (1962) gefunden werden.10 Strawson meint, dass es zur nichtveränderbaren Natur des Menschen gehört, in Beziehungen zu anderen Menschen zu treten. Ein wesentlicher Bestandteil unserer zwischenmenschlichen Beziehungen sei es, von unseren Mitmenschen guten Willen (good will) zu verlangen. Und sollte diese Forderung nicht erfüllt werden, ohne dass eine Entschuldigung vorliegt, dann gehöre es ebenfalls zur zwischenmenschlichen Beziehung, mit Empörung (resentment) zu reagieren. Wenn es nun zur nichtverän-
_____ 6 Vgl. z.B. Wallace (1994, Kap. 3), Watson (1996) und Nelkin (2013a) für das Verhältnis von blame und sanction. 7 Vgl. Bedau und Kelly: „Punishment is constituted by imposing some burden or by some form of deprivation or by withholding some benefit. [...] Deprivation has no covert or subjective reference; punishment is an objectively judged loss or burden imposed on a convicted offender“ (Bedau und Kelly 2015 Abschn. 2). 8 Vgl. Nelkin (2013a) und Graham (2014) für andere Beispiele. 9 Vgl. Walen: „[T]he punisher must do so [impose some sort of cost or hardship] intentionally, not as an accident, and not as a side-effect of pursuing some other end“ (Walen 2015 Abschn. 2.1). 10 Vgl. Russell (1992), Shabo (2012) und Goldman (2014) für eine genauere Strawson-Interpretation hinsichtlich dieser Frage.
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derbaren Natur des Menschen gehört, zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen und wenn es Teil dieser Beziehungen ist, die Tendenz zu haben, auf bestimmte Vergehen mit Empörung zu reagieren, dann gehört auch die Tendenz zur Empörung zur nichtveränderbaren Natur des Menschen. Die Frage danach, ob wir aufhören sollten, uns über solche Vergehen zu empören, hat dann höchstens den Charakter einer Gedankenübung. Für unser tatsächliches Miteinander ist sie vollkommen uninteressant, da wir, so die Schlussfolgerung, ohnehin nichts an ihr ändern können. Nimmt man außerdem an, dass wir nur das tun sollen, was wir auch tun können, folgt direkt aus Strawsons Annahmen, dass es nicht der Fall ist, dass wir aufhören sollen, einander Vorwürfe zu machen. Mir scheint, dass diese Argumentationslinie auf einer falschen empirischen Annahme beruht. Es ist nämlich alles andere als selbstverständlich, dass wir keinen Einfluss darauf haben, ob wir die Tendenz haben, mit Empörung auf Vergehen zu reagieren, ob also diese Tendenz wirklich zu unserer nichtveränderbaren Natur gehört. Denn wir können zu einem gewissen Grad lernen, mit unseren Emotionen umzugehen.11 Manche Feuerwehrleute, Soldatinnen und Soldaten können lernen, auch in gefährlichen Situationen keine Angst zu haben, gute Lehrerinnen und Diplomatinnen können lernen, sich auch dann nicht zu ärgern, wenn sie provoziert werden. In vielen dieser Fälle ist es nicht nur so, dass die Akteurinnen und Akteure lernen, ihre Emotionen nicht zu zeigen. Oft ärgern sich gute Lehrerinnen tatsächlich nicht darüber, dass kein Schüler zuhört, obwohl eine solche Situation ärgerlich ist. Und manche Feuerwehrleute haben tatsächlich keine Angst, sondern haben, wie manchmal gesagt wird, Respekt davor, ins brennende Haus einzudringen. Wenn wir aber generell dazu in der Lage sind, zu lernen, unsere Emotionen zu kontrollieren, und wenn Vorwürfe bestimmte Emotionen sind, dann sind wir auch generell dazu in der Lage, Vorwürfe zu kontrollieren. Das heißt nicht, dass wir alle gleichermaßen fähig sind, nie wieder Vorwürfe zu machen. Es bedeutet aber, dass es vielen von uns möglich ist, dafür zu sorgen, dass wir weniger Vorwürfe machen. Und nach langem Training und nachdem wir unsere Kinder auf möglichst vorwurfsfreie Weise erzogen haben und sie wiederum ihre Kinder auf ähnliche Weise und so fort, dürfte es einigen von uns oder unseren Nachkommen wohl möglich sein, gar keine Vorwürfe mehr zu machen. Ich denke also, dass die Keine-AlternativeVerteidigung zurückgewiesen werden kann. Nun könnte eine von Strawson inspirierte Vorwurfsverteidigung argumentieren, dass wir dann keine zwischenmenschlichen Beziehungen eingehen kön-
_____ 11 Vgl. z.B. Ochsner und Gross (2005).
4.2 Sind Vorwürfe notwendig für etwas unersetzlich Wertvolles? | 121
nen, weil Vorwürfe feste Bestandteile solcher Beziehungen sind. Und dann hätten wir mit Sicherheit etwas Wertvolles verloren.12 Das ist eine Form der Notwendigkeitsverteidigung, die im Folgenden ausführlicher diskutiert wird. Als erstes Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass die An-sich-wertvoll- und die Keine-Alternative-Verteidigung von Vorwürfen nicht zu halten sind. Und so überrascht es kaum, dass sich auch die meisten Autorinnen und Autoren auf eine der anderen beiden Verteidigungsstrategien stützen, nämlich auf die Position, dass Vorwürfe notwendig für etwas Wertvolles sind, oder darauf, dass sie die effizientesten Mittel zum Erlangen oder Erhalten von etwas Wertvollem sind.
4.2 Sind Vorwürfe notwendig für etwas unersetzlich Wertvolles? 4.2 Sind Vorwürfe notwendig für etwas unersetzlich Wertvolles? 4.2.1 Die Notwendigkeitsverteidigung In diesem Abschnitt werde ich zunächst die allgemeine Form der Notwendigkeitsverteidigung und mögliche Einwände vorstellen und anschließend darstellen, wie R. Jay Wallace mithilfe dieser Verteidigung Fremdvorwürfe zu rechtfertigen versucht (Abschnitt 4.2.1). Seine Position werde ich dann ausführlich diskutieren und zurückweisen (Abschnitt 4.2.2). Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit Wallace werde ich andere Versionen der Notwendigkeitsverteidigung kritisch untersuchen (Abschnitt 4.2.3). Obwohl ich dafür argumentieren werde, dass die Notwendigkeitsverteidigung von Fremdvorwürfen scheitert, werde ich abschließend zeigen, dass sich mithilfe einiger nicht vollkommen abwegiger Prämissen über das Wesen von moralischer Schuld eine Notwendigkeitsverteidigung von Selbstvorwürfen entwickeln lassen könnte (Abschnitt 4.2.4). Im Zentrum der Notwendigkeitsverteidigung moralischer Vorwürfe steht folgendes Argument:
_____ 12 Shabo (2012) hat die in diesem Unterabschnitt vorgestellte, von Strawson inspirierte Verteidigung von Vorwürfen auf die bislang plausibelste Weise ausgebaut und verteidigt. Doch ist es nicht vollkommen klar, ob er glaubt, dass es – für Gesellschaften wie der unseren, so schränkt Shabo plausiblerweise ein – unmöglich ist, keine Vorwurfsemotionen mehr zu haben, oder dass wir notwendigerweise wertvolle Beziehungen verlieren, wenn wir keine Vorwurfsemotionen mehr haben. In jedem Fall denke ich, dass die im folgenden Abschnitt vorgestellte Kritik an der Notwendigkeitsverteidigung von Vorwürfen auch Shabos Ansatz trifft.
122 | 4 Der Wert des Vorwerfens
(i) Wenn wir aufhören, einander Vorwürfe zu machen, würden wir notwendigerweise x verlieren. (ii) X ist an sich wertvoll. (iii) Wenn wir also aufhören, einander Vorwürfe zu machen, würden wir notwendigerweise etwas an sich Wertvolles verlieren. Formen der Notwendigkeitsverteidigung unterscheiden sich vor allem darin, was sie als x ausmachen. Manche meinen, wie ich später noch ausführlich zeigen werde, dass wir nicht mehr die Moral ernst nehmen können, wenn wir keine Vorwürfe machen; andere glauben, dass es ohne Vorwürfe überhaupt keine moralische Falschheit gebe oder dass wir bestimmte Formen der wertvollen Kommunikation verlieren würden, wenn wir aufhören, Vorwürfe zu machen. Vorwurfsgegnerinnen und -gegner haben nun eine weniger offensichtliche und zwei offensichtliche Optionen, gegen die Notwendigkeitsverteidigung zu argumentieren. Offensichtlich ist, dass sie Prämisse (i) oder (ii) verneinen können. Sie können also zurückweisen, dass Vorwürfe wirklich notwendig für die jeweiligen Güter sind oder dass diese Güter an sich wertvoll sind. Weniger offensichtlich ist die Option, dass sie das vollständige Argument akzeptieren und dennoch darauf pochen können, dass es besser wäre, keine Vorwürfe zu machen. Sie können dafür argumentieren, dass wir unser tagtägliches Vorwerfen durch eine alternative, vorwurfsfreie Weise, auf bestimmte Vergehen zu reagieren, ersetzen sollten. Sie würden dann akzeptieren, dass wir dadurch bestimmte an sich wertvolle Dinge verlieren würden. Sie würden dann aber zu zeigen versuchen, dass die Alternative, die durch die veränderte Praxis entstehen würde, wenigstens genauso wertvoll ist wie das, was wir verlieren würden. Ich werde im Folgenden annehmen, dass das, was die Vorwurfsverteidigung als an sich wertvoll bezeichnet, auch wirklich an sich wertvoll ist – ich werde also Prämisse (ii) der Verteidigung zugestehen. Ich werde aber zurückweisen, dass Vorwürfe notwendig für bestimmte Güter sind, von denen die Vorwurfsverteidigung behauptet, dass Vorwürfe notwendig für sie sind. Und da, wo ich zugestehe, dass Vorwürfe notwendig für bestimmte Güter sind, werde ich zurückweisen, dass jede realistische Alternative zu diesem Gut schlechter wäre. In jedem Fall werde ich für eine Position argumentieren, die ich die Ersatzthese nenne: Für jede positive Rolle, die Vorwurfseinstellungen in unserem Zusammenleben spielen, lassen sich Alternativen finden, die diese oder eine zumindest ähnliche und genauso wertvolle Rolle prinzipiell ebenfalls spielen können. Eine prominente Version der Notwendigkeitsverteidigung stammt von R. Jay Wallace. Ihm zufolge nehmen Vorwerfende bestimmte Dinge besonders ernst:
4.2 Sind Vorwürfe notwendig für etwas unersetzlich Wertvolles? | 123
In expressing these emotions, then, we are […] demonstrating our commitment to certain moral standards, as regulative of social life. Once this point is grasped, blame […] can be seen to have a positive, perhaps irreplaceable contribution to make to the constitution and maintenance of moral communities: by giving voice to the reactive emotions, these responses help to articulate, and thereby to affirm and deepen, our commitment to a set of common moral obligations (Wallace 1994, S. 69). Zunächst einmal ist festzuhalten, dass Wallace hier den Ausdruck der Vorwurfsemotionen verteidigt, also offene Vorwürfe. Seine These ist, dass offene Vorwürfe wertvoll sind, weil sie dabei helfen, eine moralische Gemeinschaft zu konstituieren, indem sie ausdrücken, dass wir uns die moralischen Normen zu Herzen nehmen. Etwas ganz Ähnliches gilt aber auch für private Vorwürfe, also die nicht ausgedrückten Vorwurfsemotionen. Eine Person, die sich als Reaktion auf eine Normverletzung empört, kann dadurch erkennen, dass und wie sehr sie sich die Moral zu Herzen nimmt. Nun könnte man daraus folgern, dass wir notwendigerweise etwas Wertvolles verlieren würden, wenn wir aufhören, einander Vorwürfe zu machen, nämlich dass wir uns die Moral zu Herzen nehmen oder zumindest dass wir erkennen können, dass wir uns die Moral zu Herzen nehmen. Diese Argumentation scheitert jedoch daran, dass es auch andere Emotionen gibt, die diese Rolle spielen können. Wenn wir etwa traurig oder enttäuscht darüber sind, dass eine Person eine moralische Norm verletzt hat, drückt auch diese Emotion aus, wie wichtig uns die Norm ist.13 Dann empfinden wir das moralische Vergehen als Verlust und dieses Empfinden kann ebenfalls unser „commitment“ zur Moral artikulieren, unterstützen und vertiefen. Vorwurfsemotionen sind nicht notwendig dafür, deutlich zu machen, dass und wie sehr wir uns moralische Normen und Werte zu Herzen nehmen, weil Trauer und Enttäuschung genau das Gleiche zu leisten vermögen. Diese Version der Ersatzthese nenne ich die erste Trauerthese. Sie besagt, dass die Tendenz, mit Vorwurfsemotionen auf bestimmte Übeltaten zu reagieren, vielleicht ein effizientes Mittel dafür ist, bestimmte wertvolle Ziele zu erreichen, dass sie aber nicht notwendig dafür ist, weil Enttäuschung oder Trauer prinzipiell das Gleiche leisten können.
_____ 13 Pereboom (2007; 2009) und Scanlon (2008, Kap. 4) schlagen zum Beispiel vor, dass Trauer (sadness) einige der positiven Rollen übernehmen kann, die sonst Empörung und andere Vorwurfsemotionen spielen.
124 | 4 Der Wert des Vorwerfens
Wallace (2011) antwortet auf Einwände dieser Art, dass es passender sei, mit Vorwurfsemotionen auf moralische Vergehen zu reagieren als etwa mit Trauer. Er meint, dass Vorwürfe einen repräsentationalen Gehalt haben, der auf moralische Vergehen besonders zugeschnitten ist, Trauer hingegen nicht. Es ist, wie ich in Kapitel 1 gezeigt habe, Teil einer moralischen Vorwurfsemotion, das Ziel des Vorwurfs als Akteurin oder Akteur zu repräsentieren, die oder der sich moralisch problematisch verhalten hat oder moralisch problematische Einstellungen hat. Trauer und Enttäuschung haben einen ganz anderen repräsentationalen Gehalt. Ich kann traurig darüber sein, dass meine Uhr nicht mehr funktioniert, und ich kann enttäuscht darüber sein, dass meine Lieblingsmannschaft verloren hat. In beiden Fällen ist es nicht Teil der Emotion, die Uhr oder die Mannschaft als Akteurin zu repräsentieren, die moralisch problematische Eigenschaften hat.14 Wallace schließt aus diesen Überlegungen, dass Vorwurfsemotionen auf einzigartige Weise zu moralischen Normen und Werten passen und auf die entsprechenden Normverletzungen und Vergehen antworten (uniquely answers 2011, S. 369): „In this way, the tendency to blame can be seen to be a peculiarly appropriate way of taking to heart the values around which morality is structured“ (Wallace 2011, S. 369). Wenn wir aufhören würden, Vorwürfe zu machen, würden wir, so Wallace, diese besonders passende Weise verlieren, uns die Moral zu Herzen zu nehmen. Im folgenden Unterabschnitt werde ich diese These zurückweisen.
4.2.2 Weshalb moralische Trauer und Enttäuschung genauso gut sind wie Vorwürfe Wallace argumentiert dafür, dass Vorwurfsemotionen besonders passende Antworten auf bestimmte moralische Vergehen sind, sodass wir diese passende Weise zu reagieren notwendigerweise verlieren, wenn wir aufhören, einander Vorwürfe zu machen. Ich werde nun zeigen, dass es Formen von Trauer und Enttäuschung gibt, die genauso zu moralischen Vergehen passen. Dann werde ich mögliche Einwände gegen meine Position diskutieren und zurückweisen. Zunächst ist es wichtig, noch einmal zu betonen, dass moralische Vorwürfe nicht einfach darin bestehen, wütend zu sein oder sich zu ärgern, sondern in bestimmten, kognitiv geformten Versionen von Wut und Ärger. Wenn wir wü-
_____ 14 Ein ähnliches Argument formuliert Franklin (2013).
4.2 Sind Vorwürfe notwendig für etwas unersetzlich Wertvolles? | 125
tend sind, kommt es uns so vor, als sei etwas bedroht oder erschwert (worden), das uns wertvoll erscheint. Doch wenn wir moralische Vorwürfe machen, kommt es uns so vor, als habe eine Akteurin oder ein Akteur auf moralisch problematische Weise dafür gesorgt, dass dem so ist. Vorwurfsgegnerinnen und -gegner können nun dafür argumentieren, dass Trauer und Enttäuschung als Analogon zu Wut und Ärger verstanden werden sollen. Demnach müssen die Alternativen zu den Vorwurfsemotionen Varianten von Trauer und Enttäuschung sein, die auf die gleiche Weise kognitiv geformt sind, wie die Vorwurfsemotionen kognitiv geformte Varianten von Wut und Ärger sind. Diese Emotionen können dann moralische Trauer oder moralische Enttäuschung genannt werden. Teil der moralischen Trauer ist es, die Repräsentation zu haben, dass eine Akteurin oder ein Akteur auf moralisch problematische Weise einen Verlust zustande gebracht hat. Und Teil moralischer Enttäuschung ist die Repräsentation, dass eine Akteurin oder ein Akteur die Hoffnung nicht erfüllt, dass sie oder er sich auf moralisch akzeptable Weise verhält oder moralisch akzeptable Eigenschaften hat. Die zweite Trauerthese besagt nun, dass moralische Enttäuschung und moralische Trauer die von Wallace beschriebenen positiven Rollen von Vorwurfsemotionen spielen können, obwohl sie sich deutlich von diesen unterscheiden. Sie unterscheiden sich in drei Hinsichten von den Vorwurfsemotionen: Erstens haben moralische Trauer und Enttäuschung einen anderen repräsentationalen Gehalt, weil sie das Vergehen als Verlust oder als nicht erfüllte Hoffnung repräsentieren, während die Vorwurfsemotionen das Vergehen als Bedrohung, Erschweren oder Verhindern repräsentieren; zweitens unterscheiden sich moralische Trauer und Enttäuschung in ihrer Phänomenologie von den Vorwurfsemotionen, denn Enttäuschung und Trauer fühlen sich anders an als Wut und Ärger; drittens unterscheiden sie sich in ihren motivationalen Tendenzen, weil Wut und Ärger mit der Tendenz zu angreifendem, sanktionierendem Verhalten verbunden sind, Trauer und Enttäuschung dagegen mit der Tendenz zum Rückzug. Wenn die zweite Trauerthese stimmt, dann ist Wallace’ Versuch, Vorwürfe zu verteidigen, gescheitert. Er meint, dass Vorwurfsemotionen wie Empörung, Entrüstung und so weiter besonders passende Antworten auf moralische Vergehen sind, weil es Teil einer solchen Emotion ist, das Ziel der Emotion als eine Akteurin oder einen Akteur zu repräsentieren, die oder der eine moralische Norm verletzt hat. Doch moralische Trauer und moralische Enttäuschung haben, wie ich gezeigt habe, den gleichen Gehalt. Teil einer solchen Emotion ist die Repräsentation, dass das Ziel der Emotionen, also die Akteurinnen oder Akteure, über deren Verhalten wir traurig sind oder von denen wir enttäuscht sind, eine moralische Norm verletzt haben. Deshalb sind diese Emotionen genauso passende Antworten wie die Vorwurfsemotionen.
126 | 4 Der Wert des Vorwerfens
Vorwurfsverteidigerinnen und -verteidiger werden bezweifeln, dass moralische Trauer und Enttäuschung moralische Vergehen und ihre Bedeutung ebenso adäquat repräsentieren können wie moralische Vorwürfe. Ich werde nun die zweite Trauerthese gegen zwei Gruppen von Einwänden verteidigen. Die erste Gruppe von Einwänden beruht auf dem Grundgedanken, dass die von mir skizzierten Formen moralischer Trauer und Enttäuschung gar nicht in unserem psychischen Repertoire vorhanden sind. Eine Form dieses Einwands ist die Behauptung, dass es einfach nicht stimmt, dass wir diese Emotionen haben. Das scheint mir jedoch sehr unplausibel zu sein. Man denke an alltägliche Aussagen wie „Ich bin enttäuscht, dass Alice ihr Versprechen gebrochen hat, den Müll rechtzeitig herauszubringen“. Wenn diese Aussage wahr ist, ist es naheliegend, sie so zu verstehen, dass die Sprecherin enttäuscht darüber ist, dass sich Alice, ihrer Meinung nach, moralisch problematisch verhalten hat. Ich halte es für sehr plausibel, dass wir manchmal auf eine solche Weise enttäuscht sind. Manche mögen es für problematisch halten, dass es keine eigenständigen deutschen (und auch keine englischen) Wörter für die moralischen Arten von Trauer und Enttäuschung gibt, sehr wohl aber für viele Vorwurfsemotionen wie etwa „Empörung“, „Entrüstung“, „Groll“ und „Zorn“. Doch auch diesen Einwand halte ich für wenig überzeugend. Im Englischen gab es zum Beispiel kein eigenständiges Wort für die Emotion der Schadenfreude, bis genau dieses deutsche Wort „schadenfreude“ in den englischen Wortschatz übernommen wurde. Es ist aber höchst wahrscheinlich, dass englischsprechende Personen die Emotion der Schadenfreude kannten, bevor das deutsche Wort übernommen wurde. Und genauso scheint es mit den moralischen Arten von Trauer und Enttäuschung zu sein: Wir haben und kennen sie, auch wenn uns kein eigenständiges Wort für diese Emotionen zur Verfügung steht. Ein weiterer Einwand gegen die These, dass wir die von mir skizzierten Formen der moralischen Trauer und Enttäuschung in unserem psychischen Repertoire haben, ist folgender: Vertreterinnen und Vertreter der zweiten Trauerthese haben zwar moralische Objekte von Trauer und Enttäuschung ausgemacht, daraus folgt aber nicht, so der Einwand, dass es auch moralische Arten von Trauer und Enttäuschung gibt. So kann es gut sein, dass ich vom Spiel meiner Lieblingsmannschaft enttäuscht bin. Aber folgt daraus etwa, dass es eine eigenständige Art der Lieblingsmannschaftsenttäuschung gibt? Es wäre sehr merkwürdig, das zu bejahen. Bislang wurde nur gezeigt, so der Einwand weiter, dass wir enttäuscht von und traurig über moralische Vergehen sein können. Aber folgt daraus bereits, dass es eine eigenständige moralische Trauer oder moralische Enttäuschung gibt, so wie Empörung, Entrüstung und Zorn eigenständige Emotionen sind?
4.2 Sind Vorwürfe notwendig für etwas unersetzlich Wertvolles? | 127
Eine vollständige Antwort auf diese Frage müsste auf einer überzeugenden Theorie der Emotionen beruhen, die erklärt, in welchem Verhältnis Schadenfreude und Freude, Höhenangst und Angst sowie Empörung und Ärger zueinander stehen. Denn auch hier lässt sich sinnvollerweise fragen, ob Schadenfreude mehr ist als bloß Freude mit einem bestimmten Objekt und ob Empörung mehr ist als Ärger mit einem bestimmten Ziel und Gegenstand. An dieser Stelle kann ich nur zeigen, dass zumindest eine prominente Theorie der Emotionen nahelegt, dass moralische Trauer und moralische Enttäuschung im gleichen Sinn Arten von Emotionen sind wie etwa Empörung und Entrüstung.15 Diese Theorie besagt, dass basale Emotionen wie Wut und Trauer verschiedene Emotionen sind und verschiedene Objekte haben, weil sie zuverlässigerweise von verschiedenen Auslösern verursacht werden. Wut repräsentiert unter anderem deshalb Bedrohungen, weil Bedrohungen zuverlässigerweise Wut auslösen. Trauer repräsentiert unter anderem deshalb einen Verlust, weil Verluste zuverlässigerweise Trauer auslösen. Diese verschiedenen Auslöser erklären zugleich, weshalb Trauer und Wut verschiedene Emotionen sind. Kognitiv geformte Emotionen wie Empörung, Schadenfreude, Höhenangst, aber auch moralische Trauer werden, so dieser Ansatz, zuverlässigerweise von bestimmten Unterklassen der Auslöser verursacht, die die entsprechende basale Emotion verursachen. Und dieser zuverlässige kausale Zusammenhang erklärt dann, weshalb es sich auch hier um eigenständige Emotionen handelt und nicht bloß um basale Emotionen mit bestimmten Objekten. Empörung, so lässt sich vor dem Hintergrund dieser Theorie sagen, wird zuverlässigerweise von Bedrohungen ausgelöst, die durch moralisch problematische Eigenschaften von Akteurinnen oder Akteuren zustande kommen. Deshalb repräsentiert Empörung solche Bedrohungen und aus dem gleichen Grund ist Empörung eine eigenständige Emotion. Genauso ist es mit moralischer Trauer: Sie wird zuverlässigerweise von Verlusten ausgelöst, die durch moralisch problematische Eigenschaften von Akteurinnen oder Akteuren zustande kommen, repräsentiert diese und ist aufgrund dieser kausalen Zusammenhänge eine eigenständige Emotion. Die Vorwurfsverteidigung könnte nun einwenden, dass moralische Vergehen nicht zuverlässigerweise Trauer auslösen, weshalb es auch keine eigenständige moralische Trauer geben kann. Aber das ist, wie ich oben schon gezeigt habe, unplausibel. Wir sind manchmal traurig darüber, dass unsere Partner, Freunde und Bekannten nicht ihre moralischen Pflichten erfüllen, wie etwa das Versprechen zu halten, den Müll rechtzeitig herauszubringen.
_____ 15 Die folgenden Überlegungen orientieren sich an Prinz (2004, Kap. 3 und 4; 2007, Kap. 2).
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Es wird aufgefallen sein, dass ich in den letzten Absätzen nur Trauer und Ärger einander gegenübergestellt habe, die Emotion der Enttäuschung aber beiseite gelassen habe. Das liegt daran, dass Enttäuschung wohl selbst keine basale Emotion, sondern eine kognitiv geformte Variante von Trauer ist. Das legen die folgenden Überlegungen nahe: Wenn wir uns erstens auf unsere Empfindungen konzentrieren, können wir kaum unterscheiden, ob wir über die Niederlage unserer Lieblingsmannschaft traurig sind oder ob wir enttäuscht sind – beides fühlt sich gleich an. Und wenn wir uns zweitens auf die motivationalen Tendenzen konzentrieren, stellen wir fest, dass Trauer und Enttäuschung mit Rückzug und fehlender Motivation verbunden sind.16 Enttäuschung scheint sich vor allem durch einen spezifischeren repräsentationalen Gehalt auszuzeichnen: Wenn wir enttäuscht sind, scheinen wir unwillkürlich einen Vergleich vorzunehmen zwischen der Welt, wie wir sie uns erhofft haben, und der, wie sie ist. Und im Vergleich zur erhofften Welt erscheint uns die wirkliche als eine, in der wir etwas verloren haben, nämlich den Sieg unserer Lieblingsmannschaft. Enttäuschung scheint also den Verlust zu repräsentieren, der dadurch entsteht, dass eine Hoffnung nicht erfüllt wurde. Diese spezifische Unterklasse von Verlusten ist wohl der zuverlässige Auslöser von Enttäuschung. Moralische Enttäuschung wird, diesem Verständnis zufolge, von Verlusten ausgelöst, die dadurch entstehen, dass eine Akteurin oder ein Akteur die Hoffnung nicht erfüllt, auf moralisch akzeptable Weise zu handeln oder moralisch akzeptable Eigenschaften zu haben. Wenn dem so ist, dann sind Ärger und Trauer die beiden basalen Emotionen, aus denen sich einerseits Vorwurfsemotionen und andererseits die von Vorwurfsgegnerinnen und -gegnern favorisierten Alternativen kognitiv formen lassen. Es hängt aber nicht viel davon ab, ob der gerade skizzierte Ansatz über den Zusammenhang von Enttäuschung und Trauer wahr ist. Wenn er nicht stimmt und wenn Enttäuschung eine basale Emotion ist oder wenn sie eine kognitive Variante einer anderen basalen Emotion als Trauer ist, dann lässt sich eine Theorie über den Gehalt moralischer Enttäuschung entwickeln, die der Theorie über moralische Trauer entspricht. Damit schließe ich die Verteidigung der zweiten Trauerthese gegen den Einwand ab, dass moralische Trauer und moralische Enttäuschung nicht in unserem psychischen Repertoire vorhanden sind. Es gibt sehr gute Gründe dafür anzunehmen, dass wir diese Emotionen haben und kennen.
_____ 16 Vgl. für Enttäuschung Prinz (2010) und für Trauer Nichols (2007).
4.2 Sind Vorwürfe notwendig für etwas unersetzlich Wertvolles? | 129
Die zweite Gruppe von Einwänden gegen die zweite Trauerthese beruht auf dem Gedanken, dass moralischer Trauer und Enttäuschung der Aspekt der moralischen Verurteilung und Ablehnung fehlt, der charakteristisch für Vorwurfsemotionen ist. Und dieser Aspekt der Ablehnung scheint besonders wertvoll zu sein. Zunächst ist festzuhalten, dass mit moralischer Verurteilung oder Ablehnung zwei verschiedene Dinge gemeint sein können. Zum einen kann man einfach eine negative moralische Bewertung meinen. Jetzt lässt sich fragen, woher genau dieser moralisch bewertende Charakter eines Vorwurfs kommt. Er scheint nicht mit der Emotion des Ärgers allein erklärt werden zu können, weil es vorkommt, dass wir uns ärgern, ohne eine moralische Bewertung vorzunehmen, etwa wenn wir uns über unseren Computer ärgern oder darüber, dass es an unserem Geburtstag regnet. In diesen Fällen wird – zumindest in der Regel – keine moralische Beurteilung vorgenommen. Der moralisch verurteilende Charakter moralischer Vorwürfe scheint vielmehr an das kognitive Element gebunden zu sein, das den Unterschied zwischen bloßem Ärger einerseits und Empörung, Entrüstung, Zorn und anderen Vorwurfsemotionen andererseits ausmacht. Wenn wir eine solche Emotion haben, scheint es uns notwendigerweise so, als habe jemand eine moralisch problematische Eigenschaft oder als habe eine Akteurin oder ein Akteur moralisch problematisch gehandelt. Doch genau den gleichen Eindruck haben wir, wenn wir moralische Trauer und Enttäuschung empfinden. Deshalb haben diese Emotionen ebenfalls den moralisch bewertenden Charakter der Verurteilung und Ablehnung. Zum anderen kann man mit Ablehnung und Verurteilung mehr als eine bloße negative moralische Bewertung meinen. Wer empört, entrüstet oder zornig ist, der will dem Ziel seiner Emotion eine Lektion erteilen, der will, dass der andere sich schuldig und schlecht dafür fühlt, dass er so gehandelt hat, wie er gehandelt hat, oder dafür, dass er so ist, wie er ist. Dies nenne ich die aggressive Dimension von Vorwürfen (vgl. Kap. 1, Abs. 3.2). Moralische Trauer und moralische Enttäuschung haben diesen Aspekt nicht. Diese Emotionen gehen eher mit Tendenzen zum Rückzug als zum Angriff einher. Die Vorwurfsverteidigung könnte nun meinen, dass dies ein wichtiger Unterschied ist, dass die aggressive Dimension unersetzlich wertvoll ist und dass deshalb moralische Trauer und Enttäuschung nicht alle wichtigen positiven Rollen übernehmen können, die Vorwürfe spielen. Dieser Schluss ist aus zwei Gründen voreilig. Der erste Grund ist, dass die aggressive Dimension nicht notwendigerweise mit Vorwurfsemotionen verbunden ist. Man kann den Wunsch haben und realisieren, einer Person eine Lektion zu erteilen, und man kann sich wünschen, dass sie sich schlecht und schuldig fühlt, ohne sich über sie zu ärgern. Man kann auch so tun, als wäre man wü-
130 | 4 Der Wert des Vorwerfens
tend, und man kann sie auf die für Wut typische Weise konfrontieren, ohne tatsächlich wütend zu sein. Es ist also möglich, Akteurinnen und Akteure auf diese mehr-als-bewertende Weise zu verurteilen, ohne ihnen Vorwürfe zu machen. Vorwurfsgegnerinnen und -gegner könnten nun ihre Position dahingehend umformulieren, dass man in den meisten Fällen Vorwurfsemotionen durch bestimmte Arten der Trauer und Enttäuschung ersetzen kann, dass man aber in manchen Fällen außerdem noch den Wunsch haben sollte, der Übeltäterin eine Lektion zu erteilen, oder den Wunsch, dass sie sich schlecht und schuldig fühlt. Da all das möglich ist, ohne Vorwürfe zu machen, können Vorwurfsgegnerinnen und -gegner weiterhin an ihrer zentralen These festhalten, dass wir aufhören können, Vorwürfe zu machen, ohne notwendigerweise etwas unersetzlich Wertvolles zu verlieren. Der zweite Grund dafür, dass sich die Vorwurfsverteidigung nicht auf die aggressive Dimension von Vorwürfen stützen kann, ist, dass diese Eigenschaft von Vorwürfen oft kontraproduktiv und schädlich ist. Zwar werde ich in Abschnitt 4.3 ausführlich auf die Effekte von Vorwurfsemotionen zu sprechen kommen, doch sei an dieser Stelle bereits darauf hingewiesen, dass es einer der Ausgangspunkte der Vorwurfsgegnerinnen und -gegner ist, dass Vorwürfe oft Trotzreaktionen statt Verständnis und Gegenvorwürfe statt der Bitte um Verzeihung hervorrufen. Und es ist sehr plausibel, dass das zum Teil an der aggressiven Dimension von Vorwürfen liegt. Die motivationale Tendenz von Ärger bringt Vorwerfende dazu, ihre Forderungen angreifend vorzutragen, statt ruhig und sachlich auf moralische Vergehen hinzuweisen. Wer die Sanftmut dem Ärger vorzieht, wer in der Wut ein Hindernis zur spirituellen und moralischen Entwicklung sieht oder Ghandis und Kings angeblich vorwurfsfreien Kampf gegen Unterdrückung bewundert, der tut dies wohl gerade, weil Ärger einen aggressiv-konfrontativen Charakter hat. Deshalb dürften Vorwurfsgegnerinnen und -gegner kaum ein Problem darin sehen, dass die von ihnen vorgeschlagenen Alternativen keinen aggressiven Charakter haben. Sie werden das für einen Vorteil halten. So lässt sich zusammenfassen, dass moralische Trauer und Enttäuschung Teil unseres psychischen Repertoires sind und dass sie die Art der Ablehnung und Verurteilung beinhalten, die eine wertvolle Antwort auf Übeltaten haben sollte. Deshalb sind diese Emotionen adäquate Antworten auf moralische Vergehen und ihre besondere Bedeutung. Damit kann die zweite Trauerthese gegen die wichtigsten Einwände verteidigt werden und Wallace’ Versuch, moralische Vorwürfe zu verteidigen, ist gescheitert: Moralische Enttäuschung und moralische Trauer können die von ihm beschriebenen positiven Rollen übernehmen, die die Vorwurfsemotionen spielen, obwohl sie sich deutlich von diesen unterscheiden.
4.2 Sind Vorwürfe notwendig für etwas unersetzlich Wertvolles? | 131
4.2.3 Andere Varianten der Notwendigkeitsverteidigung Ich habe in den vorangegangenen beiden Unterabschnitten ausführlich Wallace’ Version der Notwendigkeitsverteidigung diskutiert und gezeigt, weshalb sie nicht haltbar ist. Nun lassen sich in der Literatur verschiedene Varianten dieser Verteidigungsstrategie finden. Ich werde die, wie ich meine, vier wichtigsten vorstellen und ich werde zeigen, weshalb auch diese nicht überzeugen können: Es wird erstens behauptet, dass es wertvoller ist, passende Vorwurfseinstellungen zu haben als passende Vorwurfseinstellungen nicht zu haben; zweitens meinen manche, dass es ohne Vorwurfseinstellungen wertvolle Phänomene oder Begriffe wie den der moralischen Falschheit nicht gebe; es wird drittens dafür argumentiert, dass wir ohne Vorwürfe eine wertvolle Weise verlieren würden, die Würde der Übeltäterin anzuerkennen; und es wird viertens die These verteidigt, dass wir ohne Vorwürfe eine wertvolle Weise verlieren würden, miteinander über (scheinbare) Vergehen zu kommunizieren. Erstens fragt Randolphe Clarke (2013) mit Blick auf die Vorwurfsemotion der Schuld, weshalb ein Weltzustand, in dem eine Person, die die Bedingungen der Vorwerfbarkeit erfüllt (Clarke spricht hier von einer schuldigen Person), im angemessenen Maße und zum richtigen Zeitpunkt Schuld empfindet, besser ist, als ein Weltzustand, in dem sie keine Schuld empfindet. Er schlägt vor: „[I]n the first state of affairs, but not the second, the guilty person has a certain fitting attitude, one that, given her guilt, it is fitting for her to have“ (Clarke 2013, S. 159). Und die gleiche Antwort lässt sich auch auf die Frage geben, warum es gut sein soll, zum richtigen Zeitpunkt im angemessenen Maße empört über Personen zu sein, die sich empörend verhalten haben: Es ist angemessen, empört über diese Personen zu sein, und es ist besser, angemessene Einstellungen zu haben als angemessene Einstellungen nicht zu haben. Es ist wichtig zu betonen, dass Clarke diese Position nicht als seine eigene markiert. Er präsentiert sie im Gestus des Man-könnte-meinen (it might be said 2013, S. 159) – aber er diskutiert sie auch nicht kritisch. Trotzdem ist es leicht, Gegenbeispiele zu finden. Es ist genau dann passend (fitting) von mir, die Emotion der Schadenfreude zu haben, wenn einer Person Leid zugestoßen ist und wenn ich mir genau das wünsche. Daraus folgt nicht, dass ein Weltzustand, in dem ich Schadenfreude habe, besser ist als einer, in dem ich sie nicht habe. Es ist nicht abwegig, dass es am besten wäre, überhaupt keine Schadenfreude zu haben, unabhängig davon, ob die Situation so ist, dass diese Emotion passen würde. Ob es (in jedem Einzelfall oder im Allgemeinen) besser ist, eine korrekte Einstellung zu haben als eine korrekte Einstellung nicht zu haben, hängt wesentlich vom Wesen der Einstellung ab, um die es geht. Manche Einstellungen
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scheinen derart zu sein, dass es am besten wäre, sie gar nicht zu haben. Und die offene Frage ist, ob Vorwurfseinstellungen zu diesen zählen oder nicht. Auf diese Frage gibt Clarkes Verteidigungsversuch keine Antwort. Zweitens meinen einige Autoren, dass es ohne Vorwürfe keine Moral oder zumindest keine moralische Falschheit geben kann. Zu dieser These kann man auf verschiedene Weise gelangen, doch beschränke ich mich auf zwei Ansätze. Ernst Tugendhat meint, dass im Zentrum der Moral ein „eigentümliche[s] soziales Müssen“, ein „Verpflichtetsein“ stehe (2006, S. 19). Das, was das spezifisch moralische Müssen und Verpflichtetsein seiner Meinung nach auszeichnet, ist, dass man auf das Andershandeln mit Empörung, Entrüstung und im Fall des eigenen Verschuldens mit Schuld reagiere. Diese Emotionen sind für Tugendhat (2006, S. 20) Teil des Tadels, man könnte aber, so scheint mir, genauso gut von Vorwürfen sprechen. Ohne Vorwürfe, so könnte man nun schließen, gibt es keine moralischen Pflichten und damit auch keine Falschheit mehr.17 Angenommen, Tugendhat hat Recht und ohne Vorwürfe – oder Tadel – gibt es keine moralischen Pflichten, wie wir sie kennen. Folgt daraus, dass es besser wäre, am Vorwerfen festzuhalten, statt es aufzugeben? Nein, denn wenn wir die Tendenz entwickeln würden, auf bestimmte Handlungen mit Formen der Trauer und Enttäuschung zu reagieren, dann würde es zwar nicht mehr moralische Pflichten geben, wie wir sie kennen, aber die Alternativen, die dann entstehen – nennen wir sie moralische* Pflichten –, können wenigstens genauso gut sein wie das, was wir kennen. Die moralischen* Pflichten können die gleichen Handlungen verbieten, die auch moralische Pflichten verbieten. Auch hier kann es ein soziales Müssen geben, eine Form des Verpflichtetseins, das uns bei unseren Entscheidungen und Bewertungen leitet und unser Zusammenleben koordiniert. Dieses Müssen und dieses Verpflichtetsein wäre zwar anders – Vergehen würden als Verlust statt als Bedrohung wahrgenommen, es würde sich anders anfühlen und wäre mit anderen Handlungstendenzen verbunden –, aber daraus folgt nicht, dass eine Welt, in der es moralische*, aber keine moralischen Pflichten gibt, insgesamt schlechter wäre. Einige Vorwurfsgegnerinnen und -gegner würden wohl meinen, dass die Moral, wie wir sie kennen, ohnehin ein problematisches System von Zwängen und Vorschriften ist, dem es nur gut tun würde, radikal reformiert zu werden.18 So weit muss man aber nicht gehen,
_____ 17 Owens (2012, Kap. 1) entwickelt einen ähnlichen Ansatz über den Zusammenhang von Vorwürfen und Freundschaften, der darauf hinausläuft, dass es ohne Vorwürfe keine Freundschaftsbeziehungen gibt. 18 Vgl. z.B. Williams (1985, Kap. 10).
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um die an Tugendhat angelehnte Vorwurfsverteidigung zurückzuweisen. Es reicht, deutlich zu machen, dass nicht zu sehen ist, weshalb eine Welt ohne Vorwürfe schlechter sein sollte als eine mit, solange die Tendenz zu Vorwürfen durch adäquate Alternativen ersetzt wird. Die zweite Weise dafür zu argumentieren, dass es ohne Vorwürfe keine Moral, keine moralischen Pflichten oder Ähnliches gibt, ist die folgende: Bestimmte moralische Begriffe können wir nur verstehen, wenn wir die Emotionen kennen, die moralische Vorwürfe ausmachen. Wenn wir nicht wissen, wie es sich anfühlt, empört zu sein oder sich schuldig zu fühlen, so der Grundgedanke, dann können wir gar nicht verstehen, was eine Pflichtverletzung ist, was es heißt, dass etwas moralisch falsch ist, was es bedeutet, Opfer eines moralischen Vergehens zu sein, oder was moralische Verantwortung ist.19 Auch darauf lässt sich zunächst antworten, dass es alles andere als offensichtlich ist, dass eine Welt, in der wir nicht kompetent im Umgang mit diesen Begriffen sind, wirklich schlechter ist als eine, in der wir kompetent im Umgang mit den sehr ähnlichen Alternativen (Vergehen*, falsch*, Verantwortung* usw.) sind. Vorwurfsgegnerinnen und -gegner können aber sogar zugestehen, dass dem so ist, dass also eine Welt, in der Personen nicht kompetent im Umgang mit den Begriffen der Pflicht, Verantwortung und so fort sind, wirklich schlechter ist als eine, in der sie kompetent im Umgang mit ihnen sind. Und sie können außerdem zugestehen, dass wir in unserer individuellen Entwicklung die Vorwurfsemotionen in den relevanten Situationen wenigstens einmal haben müssen, um die entsprechenden Begriffe wirklich zu verstehen und kompetent im Umgang mit ihnen zu werden.20 Vorwurfsgegnerinnen und -gegner, die all das zugestehen, würden dann aber darauf pochen, dass wir, sobald wir die Begriffe einmal verstanden haben, versuchen sollten, unsere Tendenz zu zähmen und schließlich loszuwerden, diese Emotionen weiterhin zu haben. Dadurch würden wir nicht unsere Kompetenz im Umgang mit den Begriffen verlieren. Denn selbst wenn das Haben der Emotionen notwendig dafür ist, ein Verständnis der Begriffe zu entwickeln, heißt das nicht, dass wir auch dann, wenn wir die Be-
_____ 19 Vgl. für die Verbindung zwischen Pflicht und Vorwürfen z.B. Gibbard (1990, Kap. 3), der sich in diesem Zusammenhang auf Mill (1871, Kap. 5) bezieht. Vgl. für die Verbindung zwischen Verantwortung und Vorwürfen Kap. 5 dieser Studie. 20 Vgl. Pettigrove und Tanaka (2013) für die folgende Antwort von Vorwurfsgegnerinnen und -gegnern. Sie nennen Begriffe, die man nur lernt, korrekt zu verwenden, wenn man einmal bestimmte Emotionen hatte, historisch affektive Begriffe (historically affective concepts 2013, S. 282).
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griffe einmal verstanden haben, diese Emotionen noch immer haben müssen, um kompetent im Umgang mit ihnen zu sein. So können wir auch dann noch kompetent im Umgang mit dem Begriff des Schmerzes sein, wenn wir schon sehr lange keinen Schmerz mehr empfunden haben und, zum Beispiel wegen einer Lähmung, keinen mehr empfinden werden. Vorwurfsgegnerinnen und -gegner würden also ihre These unter der Annahme, dass relevante moralische Begriffe derart an das Haben von Emotionen gebunden sind, und unter der Annahme, dass es besser ist, kompetent im Umgang mit ihnen zu sein als es nicht zu sein, dahingehend präzisieren, dass wir versuchen sollen, mit den Vorwürfen aufzuhören, sobald wir hinreichend kompetent im Umgang mit den relevanten moralischen Begriffen sind. Drittens meinen manche Autoren, dass uns in einer Welt ohne Vorwürfe eine wertvolle Möglichkeit fehlen würde, die Würde der Übeltäterin anzuerkennen. Stephan Darwall meint zum Beispiel, dass wir mit einem Vorwurf Personen für ihr Verhalten zur Rechenschaft ziehen – unabhängig davon, ob wir unseren Vorwurf offen ausdrücken oder privat für uns behalten.21 Darwall zufolge besteht ein solches Zurrechenschaftziehen unter anderem darin, dass wir die Eigenschaften anerkennen, die eine Person als solche ausmachen und die Personen ihre Würde (dignity) verleihen.22 Insbesondere glaubt Darwall, dass wir, indem wir einen Vorwurf machen, anerkennen, dass die Akteurinnen und Akteure die Fähigkeit haben, bestimmte Gründe, die gegen ihr Verhalten gesprochen haben, einzusehen und nach ihnen zu handeln, sowie die Autorität, von sich und anderen zu verlangen, nach solchen Gründen zu handeln. Und sollten wir aufhören, Übeltäterinnen und -tätern Vorwürfe zu machen, würden wir damit diese Weise verlieren, ihre Würde anzuerkennen. Doch warum sollten wir dann, wenn wir aufhören, Vorwurfseinstellungen zu haben, auch aufhören, die Würde von Übeltäterinnen und -tätern anzuerkennen? Es gibt schließlich eine offensichtliche Alternative, dies zu tun, nämlich einfach das Urteil zu fällen, dass die Übeltäterin Würde hat oder dass sie die Eigenschaften hat, die erklären, dass sie Würde hat, wie etwa auf bessere Gründe reagieren zu können und die Autorität zu haben, von sich und anderen zu verlangen, auf solche Gründe zu reagieren. Darwall scheint zu glauben, dass solche Urteile – in Kombination mit der Forderung (demand), auf bessere Gründe zu reagieren – bereits hinreichend für Vorwurfseinstellungen im für ihn rele-
_____ 21 Vgl. Darwall (2006, Kap. 4 und 6). 22 Vgl. Darwall (2006, S. 84, 119, 121, 126); vgl. auch Scanlon (2008, S. 168 f.) und Wolf (2011, S. 339).
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vanten Sinn sind.23 Aber das ist, wie ich in Kapitel 1 gezeigt habe, eine problematische Vorwurfstheorie. Glaubt man dagegen, dass Vorwurfseinstellungen kognitiv geformte Versionen von Wut, Ärger und Schuld sind, dann ist nicht zu sehen, weshalb diese Einstellungen notwendig dafür sein sollten, die Würde von Übeltäterinnen und -tätern anzuerkennen. Vorwurfseinstellungen zu haben, mag also eine Weise sein, die Würde der Übeltäterin anzuerkennen, sie sind aber nicht notwendig dafür, dies zu tun. Die vierte und letzte Notwendigkeitsverteidigung von Vorwürfen, die ich hier diskutieren werde, geht davon aus, dass moralische Vorwürfe eine bestimmte kommunikative Dimension haben. Ein Vorwurf habe unter anderem den Gehalt, dass man mit dem Verhalten der scheinbaren Übeltäterin nicht einverstanden ist, unabhängig davon, ob es sich um einen privaten oder öffentlichen Vorwurf handelt. Doch weil Vorwurfsemotionen eine motivationale Kraft haben, haben Vorwerfende zumindest die Tendenz, ihre Vorwürfe auszudrücken und damit allen Beteiligten deutlich zu machen, dass sie nicht einverstanden sind. Damit ermöglicht der Vorwurf, so etwa Michael McKenna, eine bestimmte Form der zwischenmenschlichen Auseinandersetzung oder, wie er schreibt, der Kommunikation insbesondere zwischen der Täterin und der Vorwerfenden:24 Die Täterin erfährt, wie ihr Vergehen wahrgenommen wird, bekommt die Möglichkeit, sich zu rechtfertigen und zu entschuldigen, was wiederum der Vorwerfenden ermöglicht, eine eventuelle Fehleinschätzung einzusehen oder der Täterin zu verzeihen, um die in der Beziehung entstandenen Risse zu kitten.25 Diese besondere und wertvolle Art der Auseinandersetzung gehe verloren, wenn wir aufhören, Vorwürfe zu machen. Auch hier stellt sich die Frage, weshalb es uns unmöglich sein soll, einen bestimmten wertvollen Prozess loszutreten oder fortzuführen, wenn wir keine Vorwurfseinstellungen haben. Der Prozess, der vom Vergehen der Übeltäterin in Gang gesetzt wurde, könnte genauso gut dadurch weitergeführt werden, dass
_____ 23 Darwall schreibt: „Moral accountability does not have to be tied to any specific reactive attitude or even, in principle, to specifically human reactive attitudes at all. And even reactive attitudes like resentment and indignation can be distinguished from the desire to retaliate or gain vengeance, as we shall see presently. What is central is simply reciprocal recognition of the standing to make certain demands of one another, that is, in the moral case, mutual respect of the equal dignity of free and rational persons“ (Darwall 2006, S. 83–84). 24 Vgl. McKenna (2012, Kap. 7). 25 Vgl. für ähnliche Vorwurfsverteidigungen Shoemaker (2015b, Kap. 3) und Fricker (2016), deren Ansatz aber auch als Version der instrumentellen Verteidigung verstanden werden kann; vgl. für die kommunikative Dimension von Vorwurfsemotionen insbesondere Macnamara (2015).
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das Opfer der Täterin traurig, enttäuscht oder emotionslos mitteilt, dass es mit ihrem Verhalten nicht einverstanden ist. Das Opfer könnte ruhig eine Entschuldigung verlangen oder Ähnliches. Das ist möglich, ohne empört oder zornig zu sein. Und der Prozess der Auseinandersetzung würde nichts von seinem Wert verlieren. McKenna scheint zu glauben, dass auch solche emotionslosen oder zumindest nichtwütenden Verhaltensweisen Vorwürfe sein können. 26 Doch selbst wenn die hier vorgestellte Verteidigung für dieses spezifische Verständnis moralischer Vorwürfe erfolgreich sein sollte, ist sie keine Hilfe für diejenigen, die meinen, dass Vorwürfe wesentlich bestimmte Emotionen, nämlich kognitiv geformte Arten von Ärger und Schuld sind. Für diese Einstellungen ist einfach nicht zu sehen, weshalb sie notwendig dafür sein sollten, die skizzierten Prozesse in Gang zu setzen oder aufrechtzuerhalten. Hiermit schließe ich die Diskussion der Notwendigkeitsverteidigung von Fremdvorwürfen ab. Sie besagt, dass wir notwendigerweise etwas Wertvolles verlieren, wenn wir aufhören, einander Vorwürfe zu machen, und dass wir deshalb nicht aufhören sollen, uns gegenseitig unsere Vergehen vorzuwerfen. Wir würden uns dann nicht mehr richtig die Moral zu Herzen nehmen, es würde keine moralischen Pflichten mehr geben oder wir würden nicht mehr verstehen, was es heißt, eine Pflicht zu verletzen; wir würden nicht mehr die Würde von Übeltäterinnen und -tätern anerkennen oder wir würden einen wertvollen Prozess des Austauschs über das Vergehen verlieren. Ich habe jedoch dafür argumentiert, dass all diese Verteidigungsversuche scheitern. Denn es gibt stets alternative Einstellungen, die prinzipiell die gleiche oder zumindest eine genauso positive Rolle spielen können wie Vorwürfe.
4.2.4 Skizze einer Notwendigkeitsverteidigung von Selbstvorwürfen Ich habe mich bislang, wie in der Literatur üblich, auf Fremdvorwürfe konzentriert. In diesem Unterabschnitt werde ich zeigen, dass es unter bestimmten
_____ 26 McKenna schreibt: „Understood in this light, moral responsibility is shown to be a dynamic process that is essentially interpersonal. It relates those who are and those who hold morally responsible in a fashion structurally analogous to the sort that unfolds between competent speakers of a natural language when involved in a conversational transaction. The nature of blaming, and specifically directed blaming, is a distinctive move in that kind of social practice“ (McKenna 2013, S. 128, Hervorhebung im Original; vgl. auch 2012, Kap. 3 und 5). Für diesen move in der sozialen Praxis ist McKennas Meinung nach keine Ärgeremotion notwendig. Seine Vorwurfstheorie gehört insgesamt in die Theoriegroßfamilie nichtklassischer Ansätze, wie ich sie in Kapitel 1 vorgestellt habe.
4.2 Sind Vorwürfe notwendig für etwas unersetzlich Wertvolles? | 137
Annahmen möglich ist, eine überzeugende Notwendigkeitsverteidigung bestimmter Arten von Selbstvorwürfen vorzulegen. Ich werde aber diese Annahmen nicht prüfen und verteidigen. Das Folgende ist daher eher die Skizze einer Verteidigung von Selbstvorwürfen als eine Verteidigung selbst. Selbstvorwürfe können in der Emotion der Schuld bestehen oder darin, bestimmte auf sich selbst gerichtete Varianten von Ärgeremotionen zu haben. Eine Notwendigkeitsverteidigung des auf sich selbst gerichteten moralischen Ärgers kann mit den oben ausführlich vorgestellten Argumenten zurückgewiesen werden: Wir können eine Tendenz zu dieser Form des Ärgers durch eine Tendenz zu bestimmten Arten der Trauer ersetzen, ohne notwendigerweise etwas Wertvolles zu verlieren. Doch wie sieht es mit Schuld aus? Einige Autoren argumentieren dafür, dass Schuld eine bestimmte Kombination aus Trauer und Angst ist.27 Diese Position kann mit Überlegungen darüber gestützt werden, in welchen Situationen Kinder Schuldgefühle entwickeln: Wenn sich Kinder auf eine Weise verhalten, die Eltern oder andere Bezugspersonen als negativ wahrnehmen, reagieren diese oft mit manchmal kurzzeitigem, manchmal länger anhaltendem Liebesentzug. Die Bezugspersonen reagieren nicht mit der Freundlichkeit und Zuwendung auf das Kind, die das Kind als angenehm empfindet. Das Kind kann diesen Liebesentzug als Bedrohung für die Beziehung zu den Eltern oder anderen Bezugspersonen wahrnehmen und sollte die Beziehung tatsächlich geschädigt sein, ist das ein paradigmatischer Auslöser von Trauergefühlen. Außerdem ist eine enge Beziehung zwischen Bezugsperson und Kind ein Hort der Sicherheit für das Kind und gerät die Beziehung in Gefahr, ist das ein paradigmatischer Auslöser von Angst. Das Kind lernt dann, so die hier vorgestellte Position, dass es mit dieser komplexen emotionalen Mischung aus Angst und Trauer auf sein eigenes angebliches Fehlverhalten reagiert. Und „Schuld“ ist, so die hier vorgestellte Theorie, der Ausdruck, mit dem wir auf diese komplexe Emotion verweisen. Angenommen, Schuld ist tatsächlich eine komplexe Mischung aus Angst und Trauer, die paradigmatischerweise vom eigenen angeblichen Fehlverhalten ausgelöst wird und dieses Fehlverhalten repräsentiert. Nun könnte die Vorwurfsverteidigung wieder dafür argumentieren, dass diejenigen, die sich die Moral wirklich zu Herzen nehmen, auch die Tendenz haben, sich schuldig zu fühlen, wenn sie gegen bestimmte moralische Normen verstoßen. Und wer aufhört, sich schuldig zu fühlen, so diese Verteidigung, der hört auch auf, sich die
_____ 27 Vgl. z.B. Prinz (2004, Kap. 5) und Prinz und Nichols (2010).
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Moral wirklich zu Herzen zu nehmen. Jetzt stellt sich die Frage, ob Vorwurfsgegnerinnen und -gegner die gleiche Antwort geben können, die ich oben auf diesen Verteidigungsversuch für Fremdvorwürfe gegeben habe: Gibt es eine andere Emotion, die die gleiche oder zumindest eine ähnlich positive Rolle spielen kann wie die Emotion der Schuld? Man könnte zunächst versuchen, die Emotion der Schuld durch Formen der moralischen Trauer zu ersetzen. Doch wenn die gerade skizzierte Theorie der Schuld korrekt ist, dann ist Schuld nichts anderes als eine bestimmte Form der moralischen Trauer. Der Unterschied zwischen Schuld und moralischer Trauer dürfte nicht allzu groß sein. Und das Gleiche gilt für den Vorschlag, dass man Formen der Schuld durch Formen der moralischen Angst ersetzen könnte. Die oben vorgestellte Theorie besagt, dass Schuld nichts anderes ist als eine Form der Angst gemischt mit Trauer. Mit einer Zusatzannahme könnte man die These weiter stützen, dass die Emotion der Schuld tatsächlich notwendig dafür ist, sich die Moral, und zwar insbesondere den moralischen Status der eigenen Handlungen, zu Herzen zu nehmen, nämlich mithilfe der Annahme, dass es neben Trauer, Angst und Wut keine weiteren negativen basalen Emotionen gibt. Der Grundgedanke ist, dass andere negative Emotionen wie etwa Ekel oder Scham aus den drei gerade genannten basalen Emotionen (gemeinsam mit bestimmten psychischen Mechanismen) konstruiert werden können. Wenn das stimmen sollte, dann gibt es für Vorwurfsgegnerinnen und -gegner kaum eine Möglichkeit, eine echte Alternative zu Schuld zu finden: Selbstvorwürfe sind moralische Formen von moralischer Wut oder eine Mischung aus Trauer und Angst. Jede Emotion, die nun die wertvollen Rollen spielen soll, die Selbstvorwürfe übernehmen, muss ebenfalls eine moralische Form von Wut, Trauer oder Angst sein. Und es ist nicht zu sehen, dass das Ergebnis einer solchen Konstruktion derart verschieden von den Selbstvorwürfen ist, wie wir sie kennen, dass es sich um echte Alternativen handelt. Hiermit habe ich nur eine Skizze einer Verteidigung von Schuld aufgezeigt, ich habe nicht die Emotion der Schuld verteidigt. Um das auf die hier angedeutete Weise zu tun, müsste man zeigen, dass Schuld tatsächlich eine Mischung aus Angst und Trauer ist, dass es neben Trauer, Angst und Wut keine weiteren negativen basalen Emotionen gibt und dass der Unterschied zwischen Selbstvorwürfen und möglichen Alternativen wirklich so gering ist, wie ich behauptet habe. All diese Prämissen sind umstritten und bedürfen einer jeweils eigenständigen Untersuchung, die ich hier nicht leisten kann. So scheint es zum Beispiel zumindest auf den ersten Blick so, als sei etwa Scham derart verschieden von Schuld, dass es sich um eine echte Alternative handeln könnte. Trotzdem ist das Ergebnis relevant: Während die Notwendigkeitsverteidigung von Fremd-
4.3 Gute und schlechte Effekte von Vorwürfen | 139
vorwürfen, wie ich argumentiert habe, scheitert, hat die Notwendigkeitsverteidigung von Selbstvorwürfen zumindest größeres Potential.
4.3 Gute und schlechte Effekte von Vorwürfen 4.3 Gute und schlechte Effekte von Vorwürfen 4.3.1 Die epistemische Situation von Vorwerfenden Ich habe in Abschnitt 4.1 vier verschiedene Thesen vorgestellt, für die die Vorwurfsverteidigung argumentieren kann, nämlich dass Vorwürfe an sich wertvoll sind, dass wir nicht aufhören können, Vorwürfe zu machen, dass sie notwendig für etwas Wertvolles sind und dass sie das effizienteste Mittel dafür sind, Wertvolles zu bekommen oder zu erhalten. Bislang habe ich die ersten drei Thesen – zumindest für Fremdvorwürfe – zurückgewiesen. In diesem Abschnitt werde ich die vierte, instrumentelle Verteidigung vorstellen und diskutieren. Um die instrumentelle Verteidigung zum Erfolg zu führen, reicht es nicht zu zeigen, dass Vorwürfe zu machen, effektiv ist, also wertvolle Effekte hat. Es muss auch gezeigt werden, dass dieses Mittel das effizienteste uns zur Verfügung stehende ist, dass also das Verhältnis zwischen guten und schlechten Folgen sowohl quantitativ als auch qualitativ im Vergleich zu allen zur Verfügung stehenden Alternativen besser ist. An dieser Stelle sind also sowohl Vorwurfsverteidigung als auch Gegnerinnen und Gegner gefordert, Belege dafür vorzuweisen, welche positiven und negativen Effekte moralische Vorwürfe haben. In diesem Unterabschnitt werde ich Ergebnisse empirischer Studien vorstellen, die nahelegen, dass Personen, die sich ärgern, über viele Dinge anders urteilen als Personen, die sich nicht ärgern. Diese Studien deuten darauf hin, dass Ärger – zumindest im Allgemeinen – es erschwert, gerechtfertigte Urteile zu fällen. Wenn man nun die plausible Annahme macht, dass es im Allgemeinen wertvoll ist, gerechtfertigte Urteile zu fällen, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass Vorwürfe es erschweren, etwas Wertvolles zu bekommen oder zu erhalten. Glenn Pettigrove listet eine ganze Reihe empirisch belegter Effekte von Ärger auf die epistemische Situation von Menschen auf, die sich ärgern.28 Für die Studien wird zunächst bei den Versuchspersonen (moralischer) Ärger ausgelöst, indem sie aufgefordert werden, sich an eine Situation zu erinnern, in der sie sich geärgert haben, oder indem sie mit fiktiven oder scheinbar authenti-
_____ 28 Vgl. Pettigrove (2012, sec. 3).
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schen Situationen konfrontiert werden, in denen eine Person das Opfer eines moralischen Vergehens ist oder indem die Leiterinnen und Leiter der Experimente sich den Teilnehmenden gegenüber ärgerlich verhalten. Dann werden die Versuchspersonen gebeten, verschiedene Fragen zu beantworten. Einige der interessanten Ergebnisse sind die folgenden: Personen, die sich ärgern, schätzen Risiken geringer ein als Personen, die sich nicht ärgern. Sie halten es etwa für unwahrscheinlicher, dass sie sich in den kommenden fünf Jahren scheiden lassen werden. Personen, die sich ärgern, glauben eher an ihren zukünftigen Erfolg als Personen, die sich nicht ärgern, zum Beispiel daran, dass sie einen gut bezahlten Beruf bekommen werden. Sie sind eher dazu bereit, ein negatives Ereignis als Resultat von absichtlichen Handlungen von verantwortlichen Akteurinnen und Akteuren zu betrachten, und sie haben eher die Tendenz, moralisch fragwürdige Handlungen als Ausdruck von negativen Charaktereigenschaften zu betrachten. Außerdem glauben Personen, die sich ärgern, eher, dass sie selbst vorurteilsfrei urteilen, obwohl sie zugleich die Tendenz haben, sich von Stereotypen leiten zu lassen. So glauben sie zum Beispiel eher als Personen, die sich nicht ärgern, dass ein Angeklagter schuldig ist, wenn sein Name Juan Garcia ist, als wenn er John Garner heißt. Pettigrove schließt aus diesen und ähnlichen Ergebnissen: What these studies show is that „moral“ anger can have an adverse effect on an agent’s judgment across a wide range of morally relevant domains. Not only is the person who is angry about something at work more likely to come home and kick the cat, but, these studies suggest, he or she is more likely to believe the cat deserves it (Pettigrove 2012, S. 364). Man könnte bezweifeln, dass diese Studien für die Frage nach dem Wert von Vorwürfen überhaupt relevant sind. Denn es kann gut sein, dass nicht alle Personen, die sich in den Experimenten auf die beschriebene Weise verhalten haben, im hier relevanten Sinn Vorwürfe gemacht haben. Doch ist es wahrscheinlich, dass Vorwerfende ebenfalls den genannten Effekten ausgesetzt sind. Denn notwendig dafür, anderen einen moralischen Vorwurf zu machen, ist, sich zu ärgern. Und weil Ärger anscheinend die genannten Effekte hat, sind auch Vorwerfende diesen Effekten ausgesetzt. Dann muss bedacht werden, dass viele der genannten Effekte nicht an sich schlecht sind und auch nicht notwendigerweise dafür sorgen, dass die Urteilenden ungerechtfertigte Urteile fällen – dass Personen, die sich ärgern, die Tendenz haben, sowohl sich selbst für vorurteilsfrei zu halten als auch ihre Urteile auf Stereotype zu stützen, nehme ich hier aus. Denn dass man ein Risiko geringer einschätzt, wenn man sich ärgert, zeigt noch nicht, dass diese Ein-
4.3 Gute und schlechte Effekte von Vorwürfen | 141
schätzung ungerechtfertigt ist. Und das Gleiche gilt dafür, negative Ereignisse verantwortlichen Akteurinnen und Akteuren zuzuschreiben und so weiter. Ob diese Effekte dafür sorgen, dass die Urteile derjenigen, die sich ärgern, ungerechtfertigt sind, hängt zu einem gewissen Grad davon ab, wie sie Risiken einschätzen und wem sie negative Ereignisse zuschreiben, wenn sie sich nicht ärgern. Stellen wir uns vor, jemand schätzt in der Regel Risiken viel zu hoch ein, macht sich selbst und seinen Mitmenschen damit das Leben schwer und hat deshalb auch schon oft moralisch falsche Entscheidungen getroffen. Es wäre wohl etwas Gutes, wenn diese Person sich häufiger und zur rechten Zeit ärgern würde. Für manche Personen kann Ärger ein willkommenes Korrektiv zu bestimmten Schwächen sein. Trotzdem ist es naheliegend, dass für die meisten von uns Ärger kein willkommenes Korrektiv, sondern ein verzerrendes Element ist. Dieses Ergebnis wiegt umso schwerer gegen das tagtägliche Vorwerfen, als dass eine mögliche Alternative zu Vorwürfen, nämlich moralische Trauer, die gegenteiligen, eher positiven Effekte zu haben scheint. Wer traurig ist, so legen empirische Studien nahe, nimmt sich mehr Zeit, über Details nachzudenken, entwickelt ausgefeiltere Problemlösungsstrategien, verlässt sich weniger auf Stereotype, Vorurteile und auf sein eigenes verzerrtes Gedächtnis.29 Die angestellten Überlegungen machen deutlich, mit welch hohen epistemischen Kosten unsere Tendenz zu Vorwürfen verbunden ist. Vorwerfende haben die Tendenz, vorschnell und damit wohl ungerechtfertigt zu urteilen. Wer hingegen moralische Trauer als Antwort auf moralische Vergehen kultiviert, dem dürfte es leichter fallen, gerechtfertigte Urteile zu fällen, was plausiblerweise wertvoll ist.
4.3.2 Die Handlungstendenzen von Vorwerfenden In diesem Unterabschnitt werde ich die Effekte von Ärger in den Blick nehmen, die auf die Handlungsmotivation von Personen zurückzuführen sind, die sich ärgern oder wütend sind. Zunächst werde ich diskutieren, welche Rolle Wut für unsere unmittelbare zwischenmenschliche Kommunikation spielt, dann werde ich die Rolle von Wut in der Auseinandersetzung mit Personen diskutieren, mit denen wir nicht in einen unmittelbaren Austausch treten können.
_____ 29 Vgl. Bonanno, Goorin und Coifman (2008) für einen Überblick und weiterführende Literatur.
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Auf den ersten Blick liegt der Gedanke nahe, dass Ärger und damit auch Vorwürfe ein Problem für den unmittelbaren zwischenmenschlichen Austausch sind. Pettigrove erinnert daran, dass wütend vorgebrachte Informationen – etwa darüber, dass man mit einem bestimmten Verhalten nicht einverstanden ist – Gefahr laufen, vom Adressaten nicht richtig verstanden zu werden.30 Einer der ersten Schritte einer Paartherapie, so Pettigrove, bestehe darin zu lernen, seinem Partner mitzuteilen, dass man mit irgendetwas nicht einverstanden ist, ohne damit seinen Ärger auszudrücken. Das erhöhe die Wahrscheinlichkeit, dass die Botschaft, wie man sagt, beim Partner wirklich ankommt. Eine mit Ärger vorgebrachte Botschaft habe es also im Allgemeinen schwerer, vom Adressaten richtig verstanden zu werden. Überlegungen wie diese liegen dem schon mehrfach genannten Gedanken zugrunde, dass ausgedrückte Vorwürfe oft negative Reaktionen wie Trotz, Entfremdung von den gemeinsamen Werten und Gegenvorwürfe hervorrufen bis hin zu einer potentiell eskalierenden Vorwurfsspirale.31 Wer eine Vorwurfsemotion hat, sei motiviert Handlungen auszuführen, die leicht dazu führen können, dass die zwischenmenschlichen Risse, die durch ein (scheinbares) Vergehen entstanden sind, tiefer werden und eine Versöhnung irgendwann unmöglich wird. Und das, so die plausible Annahme, ist schlecht. Diese uns wohl aus dem Alltag bekannte Beobachtung steht hingegen im Kontrast zu der von vielen Vorwurfsverteidigerinnen und -verteidigern angeführten und ebenfalls plausiblen These, dass Vorwürfe eine kritische Auseinandersetzung über das Vergehen erleichtern. Zwar sind Vorwürfe nicht, wie ich oben gezeigt habe, notwendig dafür, in einen Prozess des Austauschs einzutreten. Doch ist es plausibel, dass Vorwurfsemotionen uns oft dazu motivieren, Handlungen auszuführen, die ein effizientes Mittel sind, einen solchen Prozess in Gang zu setzen und aufrechtzuerhalten: Wenn wir bemerken, dass wir das Ziel von Vorwürfen sind, nehmen wir – zumindest in der Regel – sofort an, dass die Vorwerfenden von uns eine Rechtfertigung, Entschuldigung oder eine Bitte um Verzeihung verlangen oder erhoffen. Damit hat der Vorwurf das Potential, uns dazu zu bringen, an einem Prozess des Austauschs teilzunehmen, der schlussendlich die entstandenen zwischenmenschlichen Risse kitten kann. Vorwurfsemotionen können darüber hinaus auch den positiven Effekt haben, dass Vorwerfende deutlich machen, dass sie die Würde der Übeltäterin anerkennen und dass sie sich die Moral zu Herzen nehmen. Vorwürfe sind zwar,
_____ 30 Vgl. Pettigrove (2012, Abschn. 3). 31 Vgl. Holroyd (2007) und Springer (2008) für eine durch empirische Studien unterstützte Kritik an bestimmten Formen offener moralischer Kritik.
4.3 Gute und schlechte Effekte von Vorwürfen | 143
wie ich gezeigt habe, nicht notwendig dafür, dies zu tun, wenn wir aber bemerken, dass uns jemand einen Vorwurf macht, besteht kein Zweifel daran, dass diese Person uns als moralische Akteurin oder Akteur anerkennt und dass es ihm wichtig ist, dass wir nicht so handeln, wie wir es getan haben. Das sind im Allgemeinen positive Effekte von Vorwurfsemotionen. Außerdem ist es plausibel, dass die alternativen Einstellungen und Haltungen, die Vorwurfsgegnerinnen und -gegner vorschlagen, ebenfalls negative Effekte haben können. Zum einen können sie Effekte haben, die denen von Vorwürfen ähneln. Denn wenn uns jemand zerknirscht mitteilt, wie enttäuscht er von uns ist, kann auch das schnell dazu führen, dass wir, sozusagen, auf Durchzug schalten. Zum anderen gehen Emotionen wie Trauer und Enttäuschung mit einer geringeren Handlungsmotivation einher.32 Wenn wir also mit diesen statt mit den Vorwurfsemotionen auf Übeltaten reagieren, fehlt uns eine wichtige Motivationsquelle, die uns sonst dazu bringen kann, Gutes zu tun. Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass die von den Vorwurfsemotionen motivierten Handlungen sowohl positive als auch negative Effekte auf den unmittelbaren zwischenmenschlichen Austausch haben können. Vorwurfsemotionen bringen uns dazu, Handlungen auszuführen, die deutlich machen, dass uns moralische Werte wichtig sind, dass wir die Übeltäterin als Akteurin anerkennen, und die das Potential haben, einen Versöhnungsprozess in Gang zu setzen und aufrechtzuerhalten. Zugleich können sie einen solchen Versöhnungsprozess auch erschweren. Doch ist es plausibel, dass mögliche alternative Antworten auf Übeltaten wie etwa Trauer oder Enttäuschung solche wertvollen Prozesse ebenfalls erschweren können. Damit komme ich zur Frage, welche Effekte Ärger auf unser Verhalten gegenüber Personen hat, mit denen wir nicht in einen unmittelbaren Prozess des zwischenmenschlichen Austauschs treten. Ein Argument, das hier eine wichtige Rolle spielt, ist das folgende: (i) Es ist wertvoll, Übeltäterinnen und -täter dazu zu bringen, in Zukunft besser zu handeln, selbst wenn dies kostspielig ist. (ii) Übeltäterinnen und -täter zu bestrafen, ist ein effizientes Mittel, sie dazu zu bringen, in Zukunft besser zu handeln. (iii) Die Vorwurfsemotionen motivieren Personen dazu, Übeltäterinnen und -täter zu bestrafen, selbst wenn dies kostspielig für sie ist. (iv) Also motivieren Vorwurfsemotionen Personen dazu, Wertvolles zu tun.
_____ 32 Vgl. z.B. Nichols (2007, S. 420–421) und Prinz (2010).
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Shaun Nichols argumentiert auf diese Weise für den Wert von moralischem Ärger im Allgemeinen und greift ausführlich auf Studien der Ökonomen Ernst Fehr und Simon Gächter zurück, um die Prämissen (ii) und (iii) zu stützen.33 Prämisse (i) werde ich im Folgenden nicht weiter diskutieren, doch sollte sie nicht so verstanden werden, dass es immer das Beste sei, Übeltäterinnen und -täter dazu zu bringen, in Zukunft besser zu handeln. Ihre Autonomie, Überlegungen darüber, wie aufwendig es ist, sie zu bessern, und viele andere Dinge können in jedem Einzelfall dagegen sprechen. Prämisse (i) sollte daher so verstanden werden, dass es im Allgemeinen gut ist, Übeltäterinnen und -täter dazu zu bringen, in Zukunft besser zu handeln. Damit gehe ich zu den Studien über, die die Prämissen (ii) und (iii) stützen sollen. Fehr und Gächter ließen Versuchspersonen sogenannte Public Good Games spielen:34 Vier anonyme Spielerinnen und Spieler bekommen je 20 Geldeinheiten und können entscheiden, ob und wie viel Geld sie in einen öffentlichen Topf geben. Den Rest darf jeder behalten. Für eine Geldeinheit, die eine Person beiträgt, bekommt jeder der vier Teilnehmenden 0.4 Einheiten. Zu jeder Geldeinheit, die eine Person in den Topf gibt, werden also 0.6 Einheiten von außen hinzugefügt. In einer solchen Situation ist es für jede Einzelne und jeden Einzelnen finanziell am besten, wenn sie oder er gar nichts beiträgt, alle anderen aber alles beitragen. Wenn alle ihre 20 Einheiten behalten, haben sie nur 20 Einheiten. Wenn aber jede Versuchsperson alle 20 Einheiten beiträgt, also kooperiert, bekommt jede Person 32 Einheiten zurück. Dieses Spiel kann in mehreren Runden gespielt werden. In manchen Spielen geben Fehr und Gächter den Versuchspersonen die Option, andere zu bestrafen: Eine Person kann eine Geldeinheit abgeben und sich dann aussuchen, welcher der anderen Personen drei Einheiten abgenommen werden. Die Möglichkeit zur Bestrafung hat erhebliche Auswirkungen auf das Verhalten der Teilnehmenden. In Spielen, in denen sie keine Möglichkeit haben, andere zu bestrafen, ist nach wenigen Runden kaum jemand bereit, etwas zum öffentlichen Topf beizutragen. In den Spielen mit Bestrafungsoption ist der durchschnittliche Kooperationsbeitrag von Beginn an deutlich größer und steigt von Runde zu Runde sogar an. Nun ist eine tatsächlich durchgeführte Bestrafung kein sonderlich effizientes Mittel, andere zur Kooperation zu bewegen, weil Strafende und Bestrafte dafür zahlen müssen. Deshalb ist ein wichtiges Ergebnis der Studie, dass die Teilnehmenden, sobald sie einmal verstanden ha-
_____ 33 Vgl. Nichols (2007); vgl. auch Prinz und Nichols (2010, Abschn. 3.2); vgl. für die empirischen Studien v.a. Fehr und Gächter (2002). 34 Vgl. für das Folgende Fehr und Gächter (2002).
4.3 Gute und schlechte Effekte von Vorwürfen | 145
ben, dass sie für mangelnde Kooperation bestraft werden können und auch bestraft werden, kooperieren. Wirklich effizient ist daher nicht die tatsächlich durchgeführte Bestrafung, sondern die Möglichkeit, dass gestraft wird in Kombination mit der Tendenz einiger, Nichtkooperierende zu bestrafen. Für den Wert moralischer Vorwürfe ist nun entscheidend, weshalb Teilnehmende überhaupt bereit sind, Geld dafür zu zahlen, andere zu bestrafen. Zunächst könnte man meinen, dass dafür vor allem die Annahme der Strafenden entscheidend ist, dass sie auf die zukünftige Kooperationsbereitschaft der anderen einwirken, um davon später zu profitieren. Doch haben Fehr und Gächter allen Beteiligten deutlich gemacht, dass sie mit keinem Teilnehmenden mehr als einmal zusammenspielen werden. Auch hier haben viele von ihnen diejenigen bestraft, die sich unkooperativ verhalten haben. Sie können es aber nicht deshalb getan haben, weil sie in Zukunft vom Verhalten der Bestraften profitieren wollen – sie wussten, dass sie es nicht tun werden. Weshalb haben sie dann gestraft? Die Autoren schlagen vor, dass die Strafenden aus Wut oder Ärger handeln. Sie stützen diese Position damit, dass sie die Teilnehmenden mit fiktiven Szenarien konfrontieren, in denen eine Person wenig zu einem öffentlichen Topf beiträgt, sie selbst und drei andere dagegen viel. Die Versuchspersonen werden dann gefragt, wie wütend sie auf diejenige sind, die sich unkooperativ verhält. Das Ergebnis ist, dass sie – abhängig davon, wie groß die Differenz zwischen dem Beitrag der drei Kooperativen und der einen Unkooperativen ist – ziemlich wütend sind. Vorwurfsverteidiger wie Nichols meinen, dass mit diesen Studien eine wertvolle Rolle von Vorwurfsemotionen deutlich gemacht wird: It’s plausible that moral anger historically played a critical role in securing social norms including conventions of cooperation. The norms were probably partly fixed through a regime of punishment for defectors [...]. The experimental results suggest that moral anger still plays an important role in securing cooperative behavior (Nichols 2007, S. 419). Es ist wichtig, dass die skizzierten Ergebnisse nicht überbewertet werden. Die Studien zeigen nicht, dass Vorwurfsemotionen notwendig dafür sind, kooperatives Verhalten sicherzustellen. Die gleichen Ergebnisse hätte man schließlich auch dann bekommen, wenn die Personen nur den Wunsch gehabt hätten, die Unkooperativen zu bestrafen, und diesen Wunsch in bestimmten Situationen realisiert hätten. Diesen Wunsch kann man haben, ohne wütend zu sein. Auch ist es wichtig, dass Prämisse (ii) des Arguments nur besagt, dass Strafen ein effizientes Mittel sind, Übeltäterinnen und -täter dazu zu bringen, in Zu-
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kunft besser zu handeln. Es besagt nicht – und die vorgelegten Studien belegen auch nicht –, dass Bestrafungen effizienter sind als alle realistischen Alternativen. Die Studien belegen auch nicht, dass uns die Vorwurfsemotionen in allen Kooperationsformen dazu bringen, in Anbetracht der zur Verfügung stehenden Alternativen effiziente Mittel zu wählen, kooperatives Verhalten zu unterstützen. In unserem Alltag ist es wohl oft effizienter, ruhig und sachlich mit den Unkooperativen zu sprechen und sie zu überzeugen, ihren Teil beizutragen, als sie wütend zu bestrafen. Denn ein wichtiger Unterschied zwischen unserem Alltag und den Experimenten von Fehr und Gächter ist, dass wir oft nicht mit anonymen Marktteilnehmern, sondern mit Kolleginnen, Freundinnen, Verwandten und unseren Partnern kooperieren. Und wir haben, wie oben ausführlich diskutiert, ganz andere Möglichkeiten, auf das Verhalten anderer in einem persönlichen Austausch einzuwirken, als sie zu bestrafen. Und schließlich sollte man nicht vergessen, dass die Effizienz von Vorwurfsemotionen, wie sie in der Studie dargestellt wurde, zu allen möglichen Zwecken genutzt werden kann – zum Brückenbau oder zum Einmarsch in ein fremdes Land. Trotzdem zeigen die Experimente, dass Vorwurfsemotionen positive Rollen spielen. Sie legen insbesondere nahe, dass in einer Gesellschaft, in der wir mit vielen Personen kooperieren, zu denen wir keinen oder kaum unmittelbaren Kontakt haben, durch Ärger motiviertes sanktionierendes Verhalten positive Effekte haben kann. Man denke etwa an die negativen Bewertungen von wütenden Käuferinnen und Käufern auf Internetportalen.35 Sie selbst haben oft keinen finanziellen Nutzen davon darzustellen, dass und weshalb sie sich von mehr oder weniger anonymen Verkäuferinnen und Verkäufern betrogen fühlen. Sie bringen trotzdem viel Zeit und Kreativität dafür auf, ihren Leidensweg zu schildern, und tragen damit dazu bei, dass sich Unternehmen in Zukunft kooperativ verhalten. Wenn die Vorwurfsemotionen eine wichtige Rolle dabei gespielt haben, die scheinbar Betrogenen dazu zu motivieren, so zu handeln, dann spielen sie eine wichtige Rolle dabei, Kooperationsnormen aufrechtzuerhalten. Auch für größere gesellschaftliche Veränderungsprozesse und insbesondere für Demonstrationen bis hin zum Widerstand etwa gegen staatliche Institutionen scheinen Emotionen wie Empörung und Zorn eine wichtige Rolle zu spielen.36 Hier begehren Personen gegen Entscheidungsträgerinnen und -träger auf,
_____ 35 Vgl. zur Funktion solcher Bewertungen z.B. Dellarocas (2003). 36 Vgl. für eine Studie zu Empörung und sozialem Wandel Iser (2008).
4.3 Gute und schlechte Effekte von Vorwürfen | 147
die in gewissem Sinn außerhalb ihrer Reichweite sind. Denn die Allerwenigsten haben die Möglichkeit, einflussreichen Politikerinnen und Politikern oder ranghohen Militärs ruhig und sachlich mitzuteilen, dass sie mit bestimmten Entscheidungen nicht einverstanden sind. Die individuelle Empörung kann dann eine wichtige Rolle dabei spielen, jeden Einzelnen dazu zu motivieren, zu demonstrieren oder Widerstand zu leisten, was dann weitreichende Folgen haben kann. Durch Vorwurfsemotionen motivierte Veränderungsprozesse dieser Art können selbstverständlich auch negative Folgen haben und zwar selbst dann, wenn diejenigen, die empört Widerstand geleistet haben, angemessenerweise empört waren. Doch scheint es insgesamt plausibel, dass es wertvoll ist, dass der empörte Widerstand Teil unseres sozialen und psychischen Repertoires ist. Eine zornige Demonstration und ein empörter ziviler Ungehorsam sind effiziente Mittel auszudrücken, dass man nicht einverstanden ist, sie üben Druck auf die Entscheidungsträgerinnen und -träger aus und können deshalb eine wichtige Rolle dabei spielen, diese dazu zu bringen, in Zukunft besser zu handeln. Als Fazit lässt sich festhalten, dass moralische Vorwürfe dazu motivieren können, Gutes und Schlechtes zu tun. Sie können deutlich machen, dass den Vorwerfenden die Moral wichtig ist und dass sie die Würde der Übeltäterin anerkennen; sie können dazu motivieren, in einen Austauschprozess über das Vergehen einzutreten; und sie können zu sanktionierendem Handeln motivieren, das dann dazu führen kann, dass die Sanktionierten in Zukunft besser handeln. Zugleich können wütende Handlungen Versöhnungsprozesse erschweren und es sollte nicht vergessen werden, dass immer die Gefahr besteht, dass Wut außer Kontrolle gerät.
4.3.3 Eine zurückhaltende Vorwurfsverteidigung Die Fragen, die im Zentrum dieses Kapitels stehen, lauten: Sollen wir versuchen, unser tagtägliches Vorwerfen grundsätzlich zu reformieren und die Tendenz zu Vorwurfsemotionen durch die Tendenz zu alternativen Einstellungen zu ersetzen? Oder dürfen wir an unserer Tendenz zu Vorwürfen festhalten oder sollen wir sie sogar kultivieren? Erstens wird es, wenn wir einander keine Vorwürfe machen, schwieriger, Wertvolles zu erhalten oder zu bekommen. Vorwurfsemotionen haben oft den Effekt, uns dazu zu bewegen, sanktionierend auf Übeltäterinnen und -täter einzuwirken, was dazu führen kann, dass sie in Zukunft besser handeln. Sie machen deutlich, dass uns die verletzten Normen wirklich wichtig sind. Indem wir
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Vorwurfsemotionen haben, erkennen wir in der Regel die Übeltäterinnen und -täter als Akteurinnen und Akteure an. Und Vorwurfsemotionen bringen uns dazu, in einen Austausch über das Vergehen einzutreten. Prinzipiell können all diese Rollen auch andere Einstellungen spielen. Doch Vorwürfe spielen sie eben auch und sie spielen sie gut. Zweitens stellt sich die Frage, ob ein individuelles Leben, eine Kultur, ein System (quasi-)moralischer Pflichten ohne Vorwurfsemotionen wirklich besser ist als das, was wir haben. Wäre eine Welt, in der wir auf Übeltaten mit moralischer Trauer und Enttäuschung reagieren, nicht in ähnlicher Weise problematisch wie die, die wir kennen? Um diese Fragen abschließend zu beantworten, müsste man die Effekte von Trauer und Enttäuschung eingehender untersuchen, als ich es hier leisten kann. Zwar haben traurige Personen wohl bessere Chancen, gerechtfertigte Urteile zu fällen als wütende, doch liegt es zumindest nahe, dass auch Trauer und Enttäuschung negative Effekte haben. Das Leben einer Person, die oft traurig und enttäuscht ist, scheint nicht besser zu sein als das Leben einer Person, die sich oft ärgert. Und wenn uns, wie gesagt, jemand zerknirscht mitteilt, wie enttäuscht er von uns ist, kann auch das zu Abblocken, Trotzreaktionen und so weiter führen. Schließlich sind Trauer und Enttäuschung mit der Tendenz verbunden, sich zurückzuziehen und nicht mehr zu handeln. So würde in einer Welt, in der wir mit Trauer oder Enttäuschung statt mit Ärger auf Vergehen reagieren, eine wichtige Motivationsquelle fehlen. Die in diesem Kapitel im Detail vorgestellten Überlegungen zu moralischen Vorwürfen und die skizzierten Gedanken zu Trauer und Enttäuschung unterstützen nicht eindeutig die These, dass eine Welt ohne Vorwürfe besser ist als eine, in der wir Vorwürfe machen. Genau das behaupten aber die Vorwurfsgegnerinnen und -gegner. Sie sind nun am Zug und sollten überzeugende Argumente vorlegen. Solange sie das nicht getan haben, sollten wir die zu Beginn vorgestellte schwache Vorwurfsverteidigung akzeptieren: Es ist nicht der Fall, dass wir dafür sorgen sollen, unsere Tendenz zu Vorwürfen loszuwerden. Doch selbst wenn es sich herausstellen würde, dass eine Welt ohne Vorwürfe besser ist als eine mit, folgt daraus noch nicht, dass wir unsere Welt tatsächlich derart reformieren sollen. Um das zu sehen, lohnt es sich, an die KeineAlternative-Verteidigung von Vorwürfen zu erinnern, die ich oben vorgestellt habe. Sie beruht auf der Annahme, dass es zur nichtveränderbaren Natur des Menschen gehöre, Vorwürfe zu machen. Diese Annahme habe ich zurückgewiesen. Einen ähnlichen, jedoch nicht ganz so starken Gedanken halte ich dagegen für sehr überzeugend, nämlich dass die Tendenz zu Vorwürfen tief in unserer Kultur und in unserer individuellen Psyche verankert ist. Es ist vielleicht nicht unmöglich, die Tendenz zum Vorwerfen aufzugeben, doch ist es wohl sehr
4.4 Moral ohne Vorwürfe | 149
schwer. Wir müssten uns enorm anstrengen, um unsere Kultur der Erziehung, der institutionellen Bildung, der öffentlichen Diskussion, aber auch das individuelle Verhalten von Erwachsenen dahin zu bringen, dass Menschen (eventuell erst ab einem bestimmten Alter) keine oder kaum mehr Vorwurfsemotionen haben. Und es stellt sich die Frage, ob die Ressourcen, die aufgebracht werden müssen, um dies zu erreichen, nicht woanders besser genutzt werden können – zum Beispiel im Kampf gegen Ungerechtigkeit, Hunger, Krankheit und so weiter. Eine Welt ohne Vorwürfe müsste schon sehr viel besser sein als eine Welt mit Vorwürfen, damit es sich lohnt, unsere begrenzten Ressourcen zu bündeln, um eine solche Welt zu erschaffen. Und bislang gibt es nicht hinreichend Grund zur Annahme, dass sich der Aufwand lohnen würde. Dieser Gedankengang stützt die zu Beginn vorgestellte starke Vorwurfsverteidigung: Wir sollen nicht dafür sorgen, unsere Tendenz zu Vorwürfen loszuwerden, weil nicht zu sehen ist, dass das Ergebnis eines erfolgreichen Versuchs den Aufwand rechtfertigen würde.
4.4 Moral ohne Vorwürfe 4.4 Moral ohne Vorwürfe In der Einleitung zu dieser Studie habe ich den weitverbreiteten Gedanken vorgestellt, dass Vorwürfe aufs Engste an das Wesen der Moral gebunden sind. In diesem Kapitel ist an einigen Stellen die Beziehung zwischen Moral im Allgemeinen und Vorwürfen thematisiert worden, sodass es sich lohnt, zum Abschluss einen Schritt hinter die Diskussion um den Wert des Vorwerfens zurückzutreten, um noch einmal die allgemeine Frage zu stellen, in welcher Beziehung Vorwürfe und Moral stehen. Eine Möglichkeit, die Verbindung von Moral und Vorwürfen zu fassen, ist die These, dass moralische Normen sich dadurch auszeichnen, dass ihre Verletzungen Vorwürfe angemessen machen können. Vorwürfe sind demnach charakteristisch für die Moral als Ganzes.37 Wer diese These plausibel findet, der könnte auch eine weitere überzeugend finden, nämlich dass Vorwürfe konstitutiv für die Moral sind: In einer Welt ohne Vorwürfe, so der Gedanke, kann es keine Moral geben. Und nun liegt die Frage nahe, wie diese Position mit einer der Kernthesen dieses Kapitels vereinbar sein soll, nämlich dass es möglich ist, das Vorwerfen aufzugeben, ohne dass die Welt dadurch notwendigerweise schlechter wird, als sie ist.
_____ 37 Vgl. Williams (1985, Kap. 10), Gibbard (1990, Kap. 3), Tugendhat (1993, Kap. 3; 2006) und Darwall (2006).
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Angenommen, es stimmt, dass es ohne Vorwürfe keine Moral gibt. Das ist zunächst einmal eine rein deskriptive These. Wie auch immer das System von Normen und Werten heißen mag, das übrig bleibt, wenn man keine Vorwürfe mehr macht, es ist kein moralisches System – das ist der Gehalt der Annahme. Dann muss man fragen, ob wir damit notwendigerweise etwas unersetzlich Wertvolles verlieren. Oder ist es vielleicht möglich, das, was wir an der Moral wertschätzen, beizubehalten, auch wenn es keine Vorwürfe und deshalb keine Moral gibt? Ein, wie mir scheint, mit allen Theorien der Moral vereinbarer und zugleich besonders plausibler Kandidat für etwas, das wir an der Moral schätzen, ist, dass die Moral Normen und Maßstäbe bereitstellt, die festlegen, was richtig und falsch ist, was gut, was böse ist und so weiter. Diese Maßstäbe können eine leitende Funktion mit Blick darauf übernehmen, wie wir in Zukunft handeln und unsere Gesellschaft gestalten sollen. Sie helfen uns aber auch, rückblickend Handlungen und andere Ereignisse, die schon eingetreten sind, zu bewerten. Eine oft mit Kant in Verbindung gebrachte Version dieses Grundgedankens besagt, dass die Moral Normen bereitstelle, deren Befolgung bestimmte Beziehungen ermögliche, in denen sich Personen gegenseitig anerkennen würden. Andere Theorien betonen die Abwesenheit von Leid, das Empfinden von Freude oder ein allgemeines Wohlergehen. Wir schätzen an der Moral insbesondere, so meine Annahme, diese leitende und bewertende Funktion. Allgemein gesprochen helfen uns die Normen der Moral dabei, die Welt auf eine für ihre Bewohnerinnen und Bewohner gute Weise einzurichten. Im ersten Kapitel habe ich den von Strawson, Wallace, Gibbard und Tugendhat inspirierten Gedanken entwickelt und verteidigt, dass Vorwürfe Emotionen sind. In diesem Kapitel habe ich gezeigt, dass es möglich ist, diese Emotionen aufzugeben und durch alternative Einstellungen und Haltungen zu ersetzen, ohne dabei handlungs- und bewertungsleitende Normen oder Maßstäbe zu verlieren. Und auch die alternativen Normen können Beziehungen des Anerkennens, das Minimieren von Leid, das Maximieren von Freude und so weiter ermöglichen. Diese Normen sind zwar anders als die moralischen Normen, die wir kennen. Denn auf Normverstöße wird hier nicht mit Vorwürfen reagiert, sondern zum Beispiel mit Formen der Trauer. Trotzdem können diese Normen die Funktionen übernehmen, die wir an moralischen Normen wertschätzen: Indem sie Maßstäbe dafür bereithalten, was falsch, was richtig, was böse, was gut ist und so weiter, können auch diese Normen leitende und bewertende Funktionen übernehmen. Die in diesem Kapitel vorgestellten Überlegungen über den Wert des Vorwerfens legen also eine allgemeine These über die Beziehung von Vorwürfen
4.4 Moral ohne Vorwürfe | 151
und Moral nahe: Selbst in einer Welt ohne Vorwürfe und – unter der Annahme, dass Vorwürfe notwendig sind für Moral – ohne Moral kann es all das geben, was wir an der Moral wertschätzen. Eine solche Welt ist anders als die, die wir kennen, aber sie ist nicht notwendigerweise schlechter.
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5 Vorwürfe und Verantwortung 5 Vorwürfe und Verantwortung 5 Vorwürfe und Verantwortung DOI 10.1515/9783110527285-006
Angenommen, Alice weiß, dass sie Barbara das Versprechen gegeben hat, vor 19 Uhr den Müll herauszubringen, sie weiß, dass Barbara legitimerweise von ihr verlangen kann, das Versprechen zu halten, und dass es falsch ist, den Müll nicht herauszubringen. Trotzdem entscheidet sie sich frei und bewusst dafür, ihre Lieblingsfernsehserie zu schauen, anstatt den Müll rechtzeitig herauszubringen. Nun scheinen die zwei folgenden Dinge auf Alice zuzutreffen: Zum einen ist es angemessen, ihr den Versprechensbruch vorzuwerfen und zum anderen ist sie für den Versprechensbruch moralisch verantwortlich. Die Frage, die im Zentrum dieses Kapitels stehen wird, lautet: Wie genau hängen diese beiden Dinge – also erstens ein angemessenes Ziel von moralischen Vorwürfen zu sein und zweitens moralisch verantwortlich zu sein – zusammen? Dass es einen engen Zusammenhang zwischen Verantwortung für problematische Handlungen oder Einstellungen und angemessenen Vorwürfen gibt, ist eine in der Literatur weitverbreitete Ansicht. Ausgehend von Peter Strawsons „Freedom and Resentment“ (1962) meinen viele Autorinnen und Autoren, dass die Tatsache, dass Alice für ihren Versprechensbruch verantwortlich ist, mit Bezug darauf charakterisiert werden sollte, dass es angemessen ist, sie dafür verantwortlich zu machen. Jemanden verantwortlich zu machen wird, wie ich gleich noch zeigen werde, ebenfalls in Anlehnung an Strawson, üblicherweise mit Bezug auf die Vorwurfsemotionen charakterisiert, die im Zentrum dieser Arbeit stehen, also mit Verweis auf bestimmte Varianten von Wut oder Ärger wie Empörung, Entrüstung, Groll oder Zorn. R. Jay Wallace, einer der berühmtesten Vertreter einer solchen Position, argumentiert für die folgende These: Eine Person S „is morally responsible (for action x) if and only if it would be appropriate to hold [S] morally responsible (for action x)“ (Wallace 1994, S. 91). Im Folgenden werde ich diese Position schwachen Strawsonismus nennen.1 Der schwache Strawsonismus ist in dem Sinn schwach, dass er nur besagt, dass zwei Dinge notwendigerweise gemeinsam auftreten, nämlich dass eine Person für eine problematische Handlung moralisch verantwortlich ist und dass es angemessen ist, sie dafür verantwortlich zu machen (indem man ihr moralische Vorwürfe macht). Der schwache Strawsonismus besagt nicht, dass diese beiden Dinge in irgendeinem Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen. Er
_____ 1 Einen Ansatz dieser Art vertreten unter anderem Watson (1996), Fischer und Ravizza (1998, Kap. 1), Darwall (2006, Kap. 4) und Schulte (2014). DOI 10.1515/9783110527285-006
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besagt auch nicht, dass die eine Seite des Bikonditionals fundamentaler ist als die andere oder dass die eine Seite die andere erklärt. Die meisten der Autorinnen und Autoren, die den schwachen Strawsonismus akzeptieren, haben aber wohl ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinn. Einige scheinen anzunehmen, dass die Eigenschaft, moralisch verantwortlich zu sein, mit der Eigenschaft, ein angemessenes Ziel von Vorwürfen zu sein, identisch ist. Andere scheinen anzunehmen, dass moralische Verantwortung fundamentaler ist als die Angemessenheit moralischer Vorwürfe und diese erklärt. Einige Autorinnen und Autoren – Wallace ist ihr prominentester Vertreter –, die den schwachen Strawsonismus akzeptieren, argumentieren für die umgekehrte These. Diese besagt, dass die Angemessenheit moralischer Vorwürfe fundamentaler ist als moralische Verantwortung und diese erklärt. Das ist der zentrale Gedanke der Position, die ich starken Strawsonismus nennen werde. Der starke Strawsonismus verdient aus zwei Gründen, die ich noch genauer beleuchten werde, eine eingehende Untersuchung. Zum einen zielt er darauf ab herauszufinden, was erklärt, dass eine Person für etwas verantwortlich ist. Während viele andere Theorien der Verantwortung solche Erklärungsthesen entweder gar nicht oder nur implizit anstreben, sind sie das explizite Ziel des starken Strawsonismus. Und das ist ein theoretisch interessantes Projekt. Zum anderen ist der starke Strawsonismus ein Versuch, den ebenfalls oft mit Strawson assoziierten Grundgedanken auszubuchstabieren, dass die Verantwortung einer Person nicht allein aufgrund ihrer mentalen Eigenschaften zustande komme. Die Person müsse in eine Gemeinschaft und soziale Praxis integriert sein. Wer diesen Gedanken auf den ersten Blick plausibel oder auch nur bedenkenswert findet, der sollte sich eingehender mit dem starken Strawsonismus auseinandersetzen. In diesem Kapitel verfolge ich das Ziel, den starken Strawsonismus zu rehabilitieren. Mein Ziel ist nicht zu zeigen, dass diese Position zur Metaphysik moralischer Verantwortung die beste uns zur Verfügung stehende ist – ich bin mit Blick auf diese Frage agnostisch. Vielmehr geht es mir darum zu zeigen, dass dieser von Strawson und Wallace inspirierte Ansatz bedenkenswert ist und dass die in den vergangenen Jahren vorgebrachten Einwände gegen ihn zurückgewiesen werden können. Zu diesem Zweck werde ich zunächst verschiedene Verwendungsweisen von „Verantwortung“ unterscheiden (Abschnitt 5.1) und dann die plausibelste Version des starken Strawsonismus entwickeln (Abschnitt 5.2). Im Zentrum des Kapitels steht eine ausführliche Verteidigung dieser Position gegen die wichtigsten Einwände (Abschnitt 5.3). Es sei erwähnt, dass ich mich, wie in der Literatur üblich, auf moralische Verantwortung für problematische Handlungen und Einstellungen konzentrieren werde. Ich werde nur kurz in Abschnitt 5.2.1 skizzieren, wie sich der starke
5.1 Einige Vorstellungen von Verantwortung | 155
Strawsonismus auf Fälle übertragen lässt, in denen eine Person für eine neutrale oder gar besonders wertvolle Handlung oder Eigenschaft moralisch verantwortlich ist.
5.1 Einige Vorstellungen von Verantwortung 5.1 Einige Vorstellungen von Verantwortung Die Ausdrücke „Verantwortung“, „moralische Verantwortung“, „verantwortlich sein“ und so weiter können im Alltag und in der philosophischen Diskussion für verschiedene Dinge verwendet werden. Ich werde in diesem Unterabschnitt skizzieren, worum es mir geht, wenn ich in diesem Kapitel von Verantwortung spreche und was der starke Strawsonismus zu erklären versucht. Dafür werde ich zunächst eine grobe Unterscheidung zwischen Verantwortung als Sollen und Verantwortung als Zurechenbarkeit treffen und dann zwischen zwei Arten von Zurechenbarkeit differenzieren. Eine übliche Verwendungsweise des Ausdrucks „Verantwortung“ wird in Sätzen wie dem folgenden deutlich: „Es liegt in unserer Verantwortung, Menschen in den Tropen die Möglichkeit zu geben, sich vor Malaria zu schützen“. Eine naheliegende Weise, diese Aussage zu verstehen, ist, dass wir dafür sorgen sollen, dass Menschen in den Tropen die Möglichkeit haben, sich vor Malaria zu schützen. Wer also in diesem Sinn danach fragt, ob jemand für etwas verantwortlich ist oder was seine Verantwortung beinhaltet, der fragt, grob gesprochen, was jemand tun soll, welche Handlungen falsch und welche gefordert sind. Ich werde diesen Sinn von „Verantwortung“ als Verantwortung als Sollen bezeichnen.2 Dass wir im Alltag und in der philosophischen Diskussion Ausdrücke wie „Verantwortung“, „verantwortlich sein“ und so weiter auch anders verstehen können, erkennt man daran, dass wir sinnvollerweise davon sprechen können, dass wir für moralisch neutrale oder bloß erlaubte Handlungen verantwortlich sind. Zwar werden Fragen danach, wer für was verantwortlich ist oder war, im Alltag besonders relevant, wenn jemand nicht das getan hat, was er hätte tun sollen. Doch ist es auch sinnvoll zu sagen, dass wir dafür verantwortlich sind, dass wir bei grüner Ampel über die Straße gehen, dass wir den Computer anschalten und so weiter, auch wenn es nicht der Fall ist, dass wir dies tun oder
_____ 2 Wenn wir z.B. von einer Person sagen, dass sie verantwortungsbewusst sei, meinen wir in der Regel, dass sie sich bewusst ist, was sie tun soll, und dass sie typischerweise auch so handelt.
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unterlassen sollen. Wir könnten genauso gut bei grüner Ampel stehen bleiben und stattdessen ans klingelnde Mobiltelefon gehen und wir könnten genauso gut erst einen Kaffee kochen, bevor wir den Computer anschalten, ohne damit gegen ein Sollen zu verstoßen. Wenn wir nun behaupten, dass wir dafür verantwortlich sind, dass wir bei grüner Ampel über die Straße gehen, meinen wir, dass wir in einem noch näher zu erläuternden engen Verhältnis zu dieser Handlung stehen. In einem emphatischen Sinn sind wir es, die da über die Straße gehen und das Über-die-Ampel-Gehen ist in einem starken Sinn unsere Handlung. Im Folgenden werde ich in diesem Zusammenhang von Verantwortung als Zurechenbarkeit sprechen.3 In diesem Kapitel geht es mir ausschließlich um Verantwortung als Zurechenbarkeit. Es gibt wohl interessante Verbindungen zwischen Verantwortung als Sollen und Verantwortung als Zurechenbarkeit und es wäre mit Sicherheit hilfreich, diese Verbindungen besser zu verstehen.4 Doch werde ich mich auf Verantwortung als Zurechenbarkeit konzentrieren müssen. Auch innerhalb der philosophischen Diskussion um das, was ich Verantwortung als Zurechenbarkeit nenne, werden verschiedene Arten oder Bedeutungen von Verantwortung als Zurechenbarkeit unterschieden.5 Angenommen, Alice bricht absichtlich, frei, bewusst und ohne Rechtfertigung ihr Versprechen, den Müll herauszubringen und schaut stattdessen Fernsehen. Nun lässt sich einerseits fragen, ob es korrekt ist, Alice bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben, etwa dass sie rücksichtslos, egoistisch oder faul gehandelt hat. Wenn dem so ist, dann kann ihr Versprechensbruch als Ausdruck von bestimmten, tief in ihr verankerten Eigenschaften und Einstellungen darüber verstanden werden, was wichtig, wertvoll und was vernachlässigungswürdig ist. Wenn man etwa korrekterweise von Alice sagen kann, dass sie rücksichtslos gehandelt hat, dann schreibt man ihr damit eine bestimmte Haltung gegenüber bestimmten
_____ 3 Eine Unterscheidung wie die zwischen Verantwortung als Sollen und Verantwortung als Zurechenbarkeit findet sich mit terminologischen und einigen hier aber zu vernachlässigenden sachlichen Abweichungen etwa bei Bayertz (1995), der von Verantwortung als Zurechenbarkeit und Zuständigkeitsverantwortung spricht, und bei Neuhäuser (2013), der zwischen Verantwortung als Haftung und Verantwortung als Sorge unterscheidet. 4 Nida-Rümelin glaubt dagegen nicht, „dass es Sinn ergibt, unterschiedliche Verantwortungsbegriffe voneinander zu unterscheiden“ (Nida-Rümelin 2011, S. 14). Er arbeitet stattdessen einen „Kern des Verantwortungsbegriffs“ heraus und seine zentrale These ist, „dass wir für genau das Verantwortung tragen, für welches wir Gründe haben“ (Nida-Rümelin 2011, S. 17, Hervorhebung im Original). 5 Die folgende Unterscheidung orientiert sich grob an Watson (1996). Vgl. auch Shoemaker (2011), Fischer und Tognazzini (2011) und King (2014).
5.1 Einige Vorstellungen von Verantwortung | 157
Werten zu. Diese Art der Verantwortung als Zurechenbarkeit wird in der englischsprachigen Literatur meist als attributability bezeichnet. Wem es um Verantwortung als attributability geht, der fragt, ob es korrekt ist, bestimmte, (meist) evaluative Aussagen über tief in eine Person verankerte Einstellungen und ihre Handlungen zu machen.6 Wer sich fragt, ob eine Person für ein Vergehen verantwortlich im Sinn der Zurechenbarkeit ist, kann aber auch überlegen, ob es angemessen ist, auf eine bestimmte Weise auf sie zu reagieren, die darüber hinausgeht, Urteile über sie und ihre Handlungen zu fällen. Diese Reaktionen werden oft unter dem Stichwort „Verantwortlichmachen“ (holding responsible) zusammengefasst. So lässt sich etwa fragen, ob Alice’ Versprechensbruch derart ist, dass es grundsätzlich angemessen ist, von ihr zu fordern, sich zu entschuldigen, oder ob es angemessen ist, ihr Vorwürfe zu machen. Dabei ist es wichtig, dass solche Forderungen und Vorwürfe nicht wiederum bloße Urteile über die Personen und ihre Einstellungen sind. In der englischsprachigen Literatur wird diese Art von Verantwortung als Zurechenbarkeit meist als accountability bezeichnet.7 Mit Sicherheit gibt es auch interessante und wichtige Verbindungen zwischen Verantwortung als attributability und Verantwortung als accountability.8 Doch sollte aus meiner Charakterisierung bereits hervorgegangen sein, dass es mir nur um Verantwortung als accountability geht, also um die Frage, wie die Art von Verantwortung zu verstehen ist, die Akteurinnen und Akteure haben, wenn es grundsätzlich angemessen ist, auf eine mehr als bloß urteilende Weise auf ihr Tun und Denken zu reagieren. Wenn ich also im Folgenden von „Verantwortung“ spreche, geht es mir um Verantwortung als Zurechenbarkeit und nicht um Verantwortung als Sollen und insbesondere geht es mir um die Art von Verantwortung als Zurechenbarkeit, die in der englischsprachigen Literatur in der Regel als accountability bezeichnet wird. Diese Art der Verantwortung werde ich nun ein wenig eingehender charakterisieren.
_____ 6 Um einen solchen Begriff der Verantwortung als Zurechenbarkeit geht es etwa Frankfurt (1988, insbes. Kap. 1 und 2) und Seebaß (2007, Kap. 2). 7 Den in Fußnote 1 genannten Vertretern des schwachen Strawsonismus geht es um accountability. 8 A. Smith (2012) bestreitet dagegen, dass es überhaupt verschiedene Arten von Zuschreibbarkeit gibt. Vgl. für ihren Vorschlag, Verantwortung als answerability zu verstehen, A. Smith (2005; 2008) und Scanlon (1998, Kap. 6).
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Verantwortung als accountability spielt eine wichtige Rolle in unserer Praxis des Verzeihens. Einem klassischen Verständnis zufolge überwinden Verzeihende bestimmte Ärgeremotionen oder geben bestimmte Ansprüche gegenüber denjenigen auf, denen sie verzeihen.9 Die Verzeihenden meinen dabei aber weiterhin, dass solche Einstellungen grundsätzlich angemessen wären. Wenn Barbara irgendwann Alice verzeihen sollte, dass sie ihr Versprechen gebrochen hat, den Müll herauszubringen, dann hört Barbara damit nicht auf zu glauben, dass Alice’ Verfehlung derart gewesen sei, dass es angemessen war oder ist, auf bestimmte negative Weise zu reagieren. Sie glaubt dann auch nicht plötzlich, dass Alice eine Entschuldigung für ihr Vergehen hatte, etwa dass sie nicht wissen konnte, was sie versprochen hatte. Denn ein wesentlicher Unterschied zwischen Vergessen, Unterdrücken und Neubewerten einerseits und Verzeihen andererseits ist, dass die Verzeihenden noch immer meinen, dass diejenigen, denen sie verzeihen, für ihr Vergehen in einem bestimmten Sinn verantwortlich sind, nämlich im Sinn der Zurechenbarkeit – und zwar insbesondere im Sinn von accountability. Verantwortung als Zurechenbarkeit und insbesondere als accountability ist auch der Sinn von Verantwortung, um den es in der philosophischen Diskussion um die Vereinbarkeit von Determinismus und Willensfreiheit vor allem geht. Manche Autorinnen und Autoren glauben oder fürchten, dass es in einer determinierten Welt nicht die Art von Freiheit oder Kontrolle gibt, die notwendig dafür ist, dass Personen für ihre Handlungen verantwortlich sind. Sie meinen, dass in einer determinierten Welt Personen und Handlungen derart voneinander getrennt sind, dass es unangemessen ist, auf bestimmte fordernde oder emotionale Weise auf ihr Tun zu reagieren. Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass wir den Ausdruck „Verantwortung“ auf verschiedene Weise verwenden können und dass es dem starken Strawsonismus nur um einen ganz bestimmten Sinn von Verantwortung geht. Im Englischen wird für diesen Sinn der Ausdruck accountability verwendet und damit geht es um die Art von Verantwortung, die zum Beispiel aufs Engste an unsere Praxis des Verzeihens gebunden ist und die im Zentrum der Debatte um Willensfreiheit und Determinismus steht.
_____ 9 Dass Verzeihen vor allem darin bestehe, resentment zu überwinden, wird in der Regel Butler (1726, Predigt 9) zugeschrieben. Vgl. zur Übersicht zum Thema Verzeihen Hughes (2015).
5.2 Der starke Strawsonismus | 159
5.2 Der starke Strawsonismus 5.2 Der starke Strawsonismus 5.2.1 Die Fundierung moralischer Verantwortung in angemessenen Vorwürfen In diesem Unterabschnitt stelle ich Wallace’ Theorie der moralischen Verantwortung vor. Damit geht es mir zum einen darum zu zeigen, dass die Position, die ich starken Strawsonismus nenne, in einem der klassischen Texte der jüngeren Verantwortungsdebatte angelegt ist. Zum anderen und vor allem geht es mir aber darum, den Grundgedanken, dass die Angemessenheit moralischer Vorwürfe metaphysisch fundamentaler ist als moralische Verantwortung für problematische Handlungen, auf möglichst überzeugende Weise zu entwickeln. Abschließend werde ich zeigen, wie man diesen Ansatz auf neutrale und positive Handlungen erweitern kann. Wallace argumentiert explizit für die These, die ich schwachen Strawsonismus nenne: „[S] is morally responsible (for action x) if and only if it would be appropriate to hold [S] morally responsible (for action x)“ (Wallace 1994, S. 91). Doch was heißt hier „Verantwortlichmachen“ (holding responsible)? Wallace meint, dass es zwei Arten gibt, eine Person für ein Vergehen verantwortlich zu machen, nämlich indem man eine Vorwurfsemotion ihr gegenüber hat oder indem man urteilt, dass es angemessen ist, ihr gegenüber Vorwurfsemotionen zu haben.10 Das Wesen des Verantwortlichmachens wird in der Literatur kontrovers diskutiert.11 Für meine Zwecke ist es jedoch wichtiger, dass aus Wallace’ Ansatz folgt, dass es angemessen ist, einer Person gegenüber für ein Vergehen eine Vorwurfsemotion zu haben, wenn es angemessen ist, sie für das Vergehen verantwortlich zu machen. Deshalb werde ich mich auf das Verhältnis zwischen Verantwortung einerseits und angemessenen Vorwurfsemotionen andererseits konzentrieren. Überall dort, wo in den folgenden Zitaten von „holding responsible“ die Rede ist, meine ich Vorwurfsemotionen, unabhängig davon, was man sonst unter Verantwortlichmachen verstehen kann. So
_____ 10 Zunächst meint Wallace, dass die Einstellung, jemanden für problematische Handlungen verantwortlich zu machen (hold responsible), aufs Engste daran gebunden ist, ihr Pflichten zuzuschreiben: „[W]e hold people morally responsible for complying with moral obligations only if we hold them to those obligations“ (Wallace 1994, S. 66, Hervorhebung im Original). Dann schreibt er über holding to obligations: „[T]o hold a person to a moral obligation is either to be subject to an episode of reactive emotion because the person has breached some moral obligation that we accept, or to believe that the violation would make it appropriate for one to be subject to such a reactive emotion“ (Wallace 1994, S. 70). 11 Vgl. etwa Macnamara (2011) und McKenna (2012, Kap. 1).
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verstanden besagt der schwache Strawsonismus also, dass genau dann eine Person S für eine moralisch problematische Handlung x verantwortlich ist, wenn es angemessen ist, S für x moralische Vorwürfe zu machen. Nun werde ich zeigen, dass Wallace tatsächlich für eine stärkere These argumentiert als den schwachen Strawsonismus. Wallace vertritt die Position, dass die linke Seite des schwachen Strawsonismus, also das Verantwortlichsein, von der rechten Seite, also den angemessenen Vorwürfen, abhängt: „[W]e must interpret the relevant [responsibility] facts as somehow dependent on our practices of holding people responsible“ (Wallace 1994, S. 89, meine Hervorhebung, vgl. auch S. 91). Es ist wichtig, dass Wallace die Abhängigkeit zwischen Verantwortung und der Praxis des Vorwerfens für ein metaphysisches (und nicht etwa semantisches oder epistemisches) Verhältnis hält, also ein Verhältnis zwischen den Verantwortungstatsachen (responsibility facts) und unserer Praxis. Wallace meint also, dass Verantwortungstatsachen von Tatsachen über unsere Praxis des Vorwerfens abhängen. Die These, dass Tatsache x von Tatsache y abhängt, ist damit kompatibel, dass y auch von x abhängt. Wenn das der Fall ist, besteht ein Verhältnis der Interdependenz zwischen x und y. Aber es scheint nicht so, als würde Wallace glauben, dass Verantwortungstatsachen und Tatsachen über unsere Praxis des Vorwerfens interdependent sind.12 Wallace schreibt nämlich über die Verantwortungstatsachen das Folgende: Diese „facts are fixed by the answer to the question of when it is appropriate to hold people responsible“ (Wallace 1994, S. 93, meine Hervorhebung). Der Begriff der Fixierung (fixing) legt nahe, dass Verantwortungstatsachen von den Dingen abhängen, die sie fixieren, dass aber diese Dinge nicht wiederum von Verantwortungstatsachen abhängen. Der Begriff der Fixierung legt also nahe, dass es eine Asymmetrie zwischen Verantwortungstatsachen einerseits und unserer Vorwurfspraxis andererseits gibt. Im gerade zitierten Satz schreibt Wallace, dass Verantwortungstatsachen von der Antwort (answer) auf die Frage abhängen, wann es angemessen ist, einer Person Vorwürfe zu machen. Aber er meint wohl kaum, dass die Tatsache, dass eine Person für ein bestimmtes Vergehen verantwortlich ist, davon abhängt, was wir tatsächlich auf die Frage antworten würden, ob es angemessen ist, ihr Vorwürfe zu machen. Denn unsere tatsächlichen Antworten können falsch, widersprüchlich, irregeleitet und so weiter sein. Deshalb ist es wohlwol-
_____ 12 Explizit argumentiert McKenna (2012, Kap. 2; 2014) für die These, dass Verantwortungstatsachen und Tatsachen über unsere Praxis des Vorwerfens interdependent sind.
5.2 Der starke Strawsonismus | 161
lender, ihn so zu verstehen, dass die Verantwortungstatsachen von den normativen Tatsachen abhängen und fixiert werden, die dafür sorgen, dass eine bestimmte Antwort auf die Frage wahr ist. Man kann Wallace also plausiblerweise so interpretieren, dass er dafür argumentiert, dass die Tatsache, dass eine Person für ein Vergehen verantwortlich ist, davon abhängt und fixiert wird, dass es angemessen ist, ihr für das Vergehen Vorwürfe zu machen. An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass – unter der Annahme, dass manche Personen für ihr Handeln verantwortlich sind – der hier zu entwickelnde starke Strawsonismus nicht mit einer Irrtumstheorie über normative Aussagen vereinbar ist. Der Ansatz ist darauf festgelegt, dass es normative Tatsachen gibt, die andere Tatsachen fundieren können. Wie diese normativen Tatsachen beschaffen sind, ist für den starken Strawsonismus dagegen nicht von Belang. Er ist zum Beispiel mit einem normativen Konstruktivismus, Humeanismus, Naturalismus, Nichtnaturalismus und so weiter vereinbar.13 Aussagen über notwendige und hinreichende Bedingungen, so wie der schwache Strawsonismus, behaupten nicht, dass es eine metaphysische Abhängigkeit zwischen den beiden Seiten des Bikonditionals gibt. Doch habe ich gerade gezeigt, dass man Wallace plausiblerweise so verstehen kann – und vielleicht sollte –, dass er dafür argumentiert, dass es ein metaphysisches, asymmetrisches Abhängigkeitsverhältnis zwischen der Angemessenheit von moralischen Vorwürfen und moralischer Verantwortung für problematische Handlungen gibt. Die These, dass es ein metaphysisches, asymmetrisches Abhängigkeitsverhältnis zwischen x und y gibt, wird oft als These über die Fundierungsbeziehung (grounding relation) zwischen x und y verstanden.14 Solche Thesen können als Weil-, Aufgrund- oder Dafür-sorgen-dass-Aussagen formuliert werden. Die Fundierungsbeziehung ist etwa gemeint, wenn Autorinnen und Autoren schreiben, dass fromme Handlungen von den Göttern geliebt werden, weil sie gut sind, dass das Glas aufgrund seiner chemischen Mikrostruktur zerbrechlich ist oder dass die Aktivierung bestimmter Gehirnströme dafür sorgt, dass Gerda Schmerzen hat. Mein Vorschlag ist, dass man den Grundgedanken des starken Strawsonismus mit Verweis auf die Fundierungsbeziehung aus-
_____ 13 Ob auch Vertreterinnen und Vertreter von raffinierten Versionen des Antirealismus – etwa neuere Expressivisten – sinnvollerweise von normativen Tatsachen sprechen können, die Verantwortungstatsachen fundieren, kann ich hier nicht diskutieren. 14 Vgl. für den Begriff der Fundierung z.B. Rosen (2010), Fine (2012) und die weiteren Aufsätze in Correia und Schnieder (2012). Es ist umstritten, ob die Fundierungsbeziehung transitiv ist oder nicht, vgl. z.B. Schaffer (2012). Die Version des starken Strawsonismus, die ich hier verteidige, hängt nicht von einer Antwort auf diese Frage ab.
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buchstabieren sollte: Eine Person S ist für eine problematische Handlung x moralisch verantwortlich genau dann, wenn und weil es angemessen ist, S x moralisch vorzuwerfen. Aussagen über die Fundierung moralischer Verantwortung sind Versuche, moralische Verantwortung auf eine nichtkausale Weise zu erklären. Wenn der starke Strawsonismus wahr ist und wir das wissen, wissen wir nicht nur, dass die Tatsache, dass eine Person für ein Vergehen verantwortlich ist, immer damit einhergeht, dass es angemessen ist, ihr Vorwürfe zu machen. Wir wissen dann auch, dass die Tatsache, dass es angemessen ist, ihr Vorwürfe zu machen, dafür sorgt und damit auf bestimmte Weise erklärt, dass sie verantwortlich ist. Dann wissen wir, in Kit Fines Worten, dass es eine „explanatory or determinative connection – a movement, so to speak“ (Fine 2012, S. 38) von der Tatsache, dass es angemessen ist, ihr Vorwürfe zu machen, hin zu ihrer Verantwortung gibt. Ein solcher Ansatz über moralische Verantwortung ist erklärungsstärker und damit interessanter als ein Ansatz, der notwendige und hinreichende Bedingungen identifiziert. Der starke Strawsonismus kann mit dem folgenden Schaubild illustriert werden, in dem die Kästchen für Tatsachen stehen und der Pfeil für die Fundierungsbeziehung: Es ist angemessen, S für x Vorwürfe zu machen
S ist für x verantwortlich
Das ist die zentrale These des starken Strawsonismus. Sie ist zwar von Wallace’ Theorie der moralischen Verantwortung inspiriert, es ist aber nicht eindeutig, dass er sie so auch vertreten würde. Manche Passagen lesen sich so, als würde er dafür argumentieren, dass die moralische Verantwortung einer Person für ein Vergehen damit identisch sei, dass es angemessen ist, ihr Vorwürfe zu machen.15 Und diese Behauptung ist nicht mit dem starken Strawsonismus vereinbar, weil sich die Identitätsbeziehung von der Fundierungsbeziehung unterscheidet (Identitätsbeziehungen sind symmetrisch, Fundierungsbeziehungen dagegen asymmetrisch). Die Identitätsthese über moralische Verantwortung und die Angemessenheit von Vorwürfen halte ich für eine interessante Alternative zum starken Strawsonismus und zur Position, dass Verantwortung funda-
_____ 15 Vgl. etwa die folgende Aussage: „[F]acts [about whether people are morally responsible for what they do] can be interpreted as facts about whether it would be appropriate to hold people morally responsible“ (Wallace 1994, S. 91).
5.2 Der starke Strawsonismus | 163
mentaler ist als die Angemessenheit von Vorwürfen.16 Doch werde ich mich im Folgenden ganz auf den starken Strawsonismus, wie ich ihn gerade vorgestellt habe, konzentrieren, ihn verteidigen und genauer entwickeln. Der hier entwickelte Ansatz kann auch auf Verantwortung für positive oder neutrale Handlungen erweitert werden. So lässt sich für besonders positive Handlungen sagen, dass eine Person für sie genau dann verantwortlich ist, wenn und weil es angemessen ist, sie dafür zu loben oder ihr gegenüber dankbar für sie zu sein. Und allgemein lässt sich sagen, dass eine Person für eine Handlung x genau dann verantwortlich ist, wenn und weil es angemessen ist, sie für x zu loben oder ihr dankbar zu sein, wenn x besonders gut ist oder wenn und weil es angemessen ist, ihr x vorzuwerfen, wenn x moralisch falsch ist.
5.2.2 Warum starker Strawsonismus? Der starke Strawsonismus besagt, dass eine Person für ein Vergehen moralisch genau dann verantwortlich ist, wenn und weil es angemessen ist, zum Beispiel empört darüber zu sein, dass sie das Vergehen begangen hat. Eine erste Frage, die sich hier stellt, lautet, weshalb man überhaupt auf den Gedanken kommen sollte, diese Position zu prüfen, geschweige denn zu akzeptieren. Ein Grund dafür, sich eingehend mit dem starken Strawsonismus (und ähnlichen Positionen) zu befassen, ist, dass er bestimmte Asymmetrien in unseren Intuitionen über Verantwortung ernst nimmt und explizit macht. Denn viele andere Verantwortungstheorien sind zumindest ihrer Form nach symmetrisch:17 Manche Autorinnen und Autoren haben das Ziel, den Begriff der Verantwortung
_____ 16 Für die Identitätsthese könnte sprechen, dass es schwer ist, die beiden Tatsachen, (a) dass die Person verantwortlich ist (im Sinn von accountability) und (b) dass sie ein angemessenes Ziel von Vorwürfen ist, unabhängig voneinander zu charakterisieren. Das könnte die Vermutung stützen, dass es sich um dieselbe Tatsache handelt. Eine eingehende Diskussion der Vorund Nachteile der Identitätsthese kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. 17 Wie oben bereits gesagt, werden zwar viele Thesen in der Literatur über Verantwortung symmetrisch formuliert, oft ist es aber sinnvoll, sie asymmetrisch zu verstehen. Tognazzini (2015) z.B. argumentiert dafür, dass einige dieser Thesen als Fundierungsthesen verstanden werden sollten. Ein Beispiel sind die berühmten Frankfurt-Fälle (vgl. Frankfurt 1969), die zeigen sollen, dass man nicht in der Lage sein muss, anders zu handeln, um für eine Handlung verantwortlich zu sein. Tognazzini schlägt vor, dass die entscheidende Frage in der Debatte um Frankfurt-Fälle folgendermaßen lautet: Fundiert die Tatsache, dass eine Person anders handeln konnte, die Tatsache, dass sie für ihr Handeln verantwortlich ist? Und Frankfurt-Fälle sollen zeigen, so Tognazzini, dass die Frage verneint werden sollte.
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zu analysieren. Andere haben das Ziel, die Eigenschaft, verantwortlich zu sein, mit anderen Eigenschaften der Person zu identifizieren. Wer nun etwa dafür argumentiert, dass bestimmte Dinge kontrollieren zu können und bestimmte Dinge zu wissen notwendig und hinreichend dafür oder identisch damit ist, verantwortlich zu sein, der hat eine symmetrische These aufgestellt. Denn die These „x ist nichts anderes als y“ besagt das Gleiche wie „y ist nichts anderes als x“ und „x genau dann, wenn y“ besagt das Gleiche wie „y genau dann, wenn x“. Tatsächlich haben wir aber auch stark asymmetrische Intuitionen über Verantwortung, denen rein symmetrische Thesen nicht gerecht werden können. Angenommen, wir fragen, warum eine Person für eine Handlung verantwortlich ist, und man antwortet uns: „Weil sie ein bestimmtes Wissen und eine bestimmte Kontrolle über die Handlung hatte“. Damit dürften wir uns im Alltag oft zufrieden geben. Angenommen, wir fragen aber, warum die Person ein bestimmtes Wissen und eine bestimmte Kontrolle über ihre Handlung hatte, und man antwortet uns: „Weil sie für die Handlung verantwortlich war“. Diese Antwort dürften wir für unbefriedigend, sogar für falsch halten. Es scheint einfach nicht zu stimmen, dass eine Person etwas kontrollieren kann und weiß, weil sie verantwortlich ist. Das deutet darauf hin, dass wir im Alltag eine bestimmte Asymmetrie zwischen Verantwortung einerseits und anderen Eigenschaften wie etwa Kontrolle und Wissen andererseits annehmen: Kontrolle und Wissen scheinen in gewisser Weise fundamentaler zu sein als Verantwortung und zwar so, dass Kontrolle und Wissen erklären können, weshalb eine Person verantwortlich ist. Dass die Person verantwortlich ist, kann aber nicht, so scheinen wir im Alltag anzunehmen, erklären, weshalb sie eine bestimmte Kontrolle und ein bestimmtes Wissen hat.18 Der starke Strawsonismus ist eine Position, die solche asymmetrischen Intuitionen sehr ernst nimmt und explizit macht. Und es ist interessant zu sehen, wie weit ein solcher Ansatz kommt. Nun besagt der starke Strawsonismus aber gerade nicht, dass die Verantwortung einer Person darin gegründet ist, dass sie eine bestimmte Kontrolle und ein bestimmtes Wissen hat. Vielmehr besagt er, dass die Angemessenheit von Vorwürfen die Verantwortung der Person fundiert. Wieso sollte man diese
_____ 18 Vgl. für einen ähnlichen Gedankengang z.B. Rosen: „Thus it sounds right to say that Fred’s being a bachelor consists in (reduces to) his being an unmarried male, but slightly off to say that Fred’s being an unmarried male consists in (or reduces to) his being a bachelor. This asymmetry corresponds to an explanatory asymmetry. Fred is a bachelor because (or in virtue of the fact that) he is an unmarried man, but not vice versa“ (Rosen 2010, S. 124).
5.2 Der starke Strawsonismus | 165
spezifische und für einige vielleicht kontraintuitive Position genauer prüfen oder gar akzeptieren? Zwar mag die gerade vorgestellte These einigen unplausibel erscheinen, doch ist sie zugleich in der Lage, eine weitverbreitete Intuition über das Wesen moralischer Verantwortung besonders gut einzufangen und auf plausible Weise genauer auszubuchstabieren. Das ist der Gedanke, dass eine vollständige Erklärung dafür, dass Personen moralisch verantwortlich sind, auf die moralische Gemeinschaft und ihre Praxis verweisen müsse. Eine Person sei nicht allein aufgrund ihrer mentalen Eigenschaften für ihr Tun moralisch verantwortlich. Wesentlich seien dafür außerdem Eigenschaften, die sie als Mitglied einer moralischen Gemeinschaft und als Teilnehmerin einer moralischen Praxis hat. Ich behaupte an dieser Stelle nicht, dass der gerade vorgestellte Gedanke derart einleuchtend ist, dass alle Theorien, die ihn nicht einfangen können, deshalb verworfen werden müssen. 19 Vielmehr handelt es sich um einen Strawson’schen Grundgedanken, der eine gewisse Attraktivität hat und dem auch viele (aber selbstverständlich nicht alle) Autorinnen und Autoren gerecht werden wollen.20 Und wer diesen Gedanken attraktiv findet, für den ist es naheliegend, eine Position wie den starken Strawsonismus auszubauen und zu verteidigen.21 Das gilt zum Beispiel für Wallace. Er schreibt seiner Gegenposition die These zu, dass es einen Bereich der moralischen Verantwortungstatsachen gebe, ein „realm of moral responsibility facts, inhering in the fabric of the world completely independently of our activities and interests in holding people responsible“ (Wallace 1994, S. 88). Doch Wallace meint, dass es solche Tatsachen nicht gebe: „My worry […] is that I cannot see how to make sense of the idea of a prior and independent realm of moral responsibility facts“ (Wallace 1994, S. 88). Dass eine Person für ihr Tun moralisch verantwortlich ist, so
_____ 19 Vgl. McKenna (2012, Kap. 2) zur Lage der Debatte zwischen Autorinnen und Autoren, die, in McKennas Worten, interpersonale Theorien der Verantwortung attraktiv finden, und Autorinnen und Autoren, die solchen Theorien nichts abgewinnen können. 20 Der Gedanke motiviert, wie mir scheint, u.a. Strawson (1962), Watson (1987), Wallace (1994), Darwall (2006, Kap. 4) und McKenna (2012). 21 Es sei darauf hingewiesen, dass der starke Strawsonismus nicht die einzige theoretisch mögliche und tatsächlich vertretene Position ist, die den Grundgedanken einfangen kann, dass eine vollständige Erklärung moralischer Verantwortung auf die moralische Gemeinschaft und deren Praxis verweisen muss. Insbesondere McKennas (2012, Kap. 4) konversationale und wahrscheinlich auch Darwalls (2006, Kap. 4) zweitpersonale Theorie der Verantwortung werden diesem Gedanken ebenfalls gerecht.
166 | 5 Vorwürfe und Verantwortung
der Gegenvorschlag, liegt zu einem wesentlichen Teil daran, dass sie auf bestimmte Weise in eine moralische Gemeinschaft und deren Praxis eingebunden ist. Der starke Strawsonismus fängt diesen Grundgedanken auf elegante und plausible Weise ein. Er besagt nicht, dass es von unserer tatsächlichen Praxis abhängt, ob eine Person verantwortlich ist, denn unsere tatsächliche Praxis kann verfehlt sein und ist es zum Teil wohl auch. Ob eine Person für etwas verantwortlich ist, hänge viel mehr von den normativen Tatsachen ab, die unsere moralische Praxis idealerweise leiten würden. Dass eine Person für ihr Tun verantwortlich ist, entsteht dieser Position zufolge dadurch, dass andere Personen angemessenerweise in eine Beziehung zu ihr eintreten können, indem sie auf bestimmte Weise auf ihr Tun reagieren. Wer also den Grundgedanken attraktiv findet, dass Verantwortung nicht allein aufgrund von mentalen Eigenschaften der Person in die Welt kommt, der findet im starken Strawsonismus eine Position, die diesem Gedanken gerecht wird und die, wie ich jetzt zeigen werde, gegen die wichtigsten Einwände verteidigt werden kann.
5.3 Verteidigung des starken Strawsonismus 5.3 Verteidigung des starken Strawsonismus 5.3.1 Der Natürlich-falsch-Einwand Der Gedanke, dass die moralische Verantwortung einer Person metaphysisch davon abhängt, dass es angemessen ist, ihr Vorwürfe zu machen, ist in den vergangenen Jahren von verschiedenen Seiten kritisiert und von wenigen verteidigt worden. In diesem Abschnitt werde ich genau das nachholen: Ich werde die drei wichtigsten Einwände gegen diesen Grundgedanken vorstellen – nämlich, dass er offensichtlich falsch sei, dass er uninteressant sei und dass er absurde Konsequenzen habe – und ich werde zeigen, dass der starke Strawsonismus, wie ich ihn entwickelt habe, gegen sie verteidigt werden kann. Abschließend werde ich fragen, wie viel Strawson und wie viel von dem, was typischerweise mit Strawson verbunden wird, in meinem Ansatz enthalten ist. Das, was ich den Natürlich-falsch-Einwand nenne, beginnt mit der Behauptung, dass es natürlich (natural) ist zu glauben, „that responsibility facts are fixed by features of the agent and the agent’s action“ (Vargas 2004, S. 225). Es sei zum Beispiel natürlich zu meinen, dass etwa die Tatsachen, dass eine Person eine problematische Handlung wirklich ausgeführt hat, dass sie wusste, was sie tat und dass sie eine bestimmte Art der Kontrolle über ihr Handeln und Denken hatte, dafür sorgen, dass sie für diese Handlung moralisch verantwortlich ist.
5.3 Verteidigung des starken Strawsonismus | 167
Der starke Strawsonismus behaupte aber, so der Einwand weiter, dass nicht Eigenschaften von Person und Handlung dafür sorgen, dass sie verantwortlich ist, sondern Tatsachen darüber, wie man auf ihre Handlung reagiert. Deshalb, so wird geschlossen, sei es natürlich zu glauben, dass der starke Strawsonismus falsch ist. Wenn man jedoch den starken Strawsonismus so versteht, wie ich ihn entwickelt habe, wird deutlich, dass diese Position nicht natürlich falsch ist. Der oben vorgestellte Ansatz besagt, dass die Tatsache, dass es angemessen ist, einer Person Vorwürfe zu machen, dafür sorgt, dass sie verantwortlich ist. Das schließt aber nicht aus, dass die Tatsache, dass es angemessen ist, ihr Vorwürfe zu machen, ihrerseits in anderen Tatsachen fundiert ist und zwar insbesondere in Tatsachen über die Person und ihr Handeln. Die einzige These über die Fundierung von Verantwortung, die mit dem starken Strawsonismus unvereinbar ist, ist die, dass moralische Verantwortung (zum Teil) dafür sorgt, dass es angemessen ist, einer Person Vorwürfe zu machen. Der starke Strawsonismus ist zum Beispiel damit vereinbar, dass es nur aufgrund der folgenden Tatsachen angemessen ist, einer Person für ein bestimmtes Vergehen Vorwürfe zu machen: Erstens hat sie das Vergehen wirklich begangen, zweitens wusste sie, was sie tat, drittens hatte sie eine bestimmte Kontrolle über ihr Handeln und Denken und viertens ist es angemessen, Personen mit diesen Eigenschaften Vorwürfe zu machen. Dann, so Vertreterinnen und Vertreter des starken Strawsonismus, sorgt die Tatsache, dass es angemessen ist, dieser Person Vorwürfe zu machen, dafür, dass sie für das Vergehen moralisch verantwortlich ist. Dieser Gedanke kann auf die folgende Weise illustriert werden – wieder stehen Kästchen für Tatsachen und Pfeile für die Fundierungsbeziehung:
T
Es ist angemessen, S für x Vorwürfe zu machen
S ist für x verantwortlich
Der starke Strawsonismus besagt nur, dass die Tatsache, für die das rechte Kästchen steht, in der Tatsache fundiert ist, für die das mittlere Kästchen steht. Und diese These ist damit vereinbar, dass die Tatsache, für die das mittlere Kästchen steht, wiederum in anderen Tatsachen T fundiert ist. Es ist nicht nur möglich, sondern auch plausibel, dass Tatsachen über S und x zum Teil dafür sorgen, dass es angemessen ist, S Vorwürfe für x zu machen. Und diese Tatsachen über die Person und ihre Handlung spielen deshalb eine zentrale Rolle in der Erklärung der Tatsache, dass die Person für ihre Handlung verantwortlich ist. Wenn man außerdem annimmt, dass die Fundierungsbeziehung transitiv
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ist, können Vertreterinnen und Vertreter des starken Strawsonismus sogar die These vertreten, dass T selbst die Tatsache fundiert, dass S für x verantwortlich ist.22 Gegnerinnen und Gegner des starken Strawsonismus werden mit dieser Antwort wohl kaum zufrieden sein. Sie könnten einwenden, dass der starke Strawsonismus noch immer unplausibel sei, denn „in our common-sense moral ontology, the property of responsibility is not dependent on some further and more basic normative property“ (Vargas 2004, S. 226). Wie soll man aber feststellen, was unsere common-sense Moralontologie beinhaltet und was nicht? Eine Möglichkeit, das zu tun, besteht darin, bestimmte Praktiken genauer zu untersuchen, um festzustellen, auf welche metaphysischen Annahmen wir verpflichtet sind, wenn wir an den Praktiken teilnehmen. Als Beispiel nehme ich die Praxis des Angebens von Entschuldigungen. Wenn wir von einer Person sagen, dass sie eine Entschuldigung oder eine gute Entschuldigung für eine Handlung hat, meinen wir damit, dass sie für eine (scheinbar) moralisch problematische Handlung nicht verantwortlich ist.23 Der starke Strawsonismus würde mit der Praxis des Angebens von Entschuldigungen in Konflikt geraten, wenn diese Praxis Aussagen der folgenden Art beinhalten oder voraussetzen würde: „Weil Alice nicht dafür verantwortlich ist, dass sie den Müll nicht rechtzeitig herausgebracht hat, ist es unangemessen, ihr Vorwürfe dafür zu machen.“ Oder: „Aufgrund der Tatsache, dass Alice nicht verantwortlich dafür ist, dass sie den Müll nicht rechtzeitig herausgebracht hat, ist es unangemessen, ihr Vorwürfe dafür zu machen“. In unserer alltäglichen Praxis kommen solche Entschuldigungen aber, wie mir scheint, nicht vor. Wir entschuldigen Personen, indem wir etwa sagen „sie hatte nicht die Absicht, es zu tun“ oder „sie konnte nicht wissen, dass dies passieren würde“. Aussagen dieser Art sind aber sehr wohl mit dem starken Strawsonismus vereinbar. Denn dem starken Strawsonismus zufolge sind solche Entschuldigungen Versuche zu zeigen, dass bestimmte Tatsachen, die wesentlich für die metaphysische Fundierung von Verantwortung sind, nicht vorliegen. Die Tatsache, dass eine Person etwas wissen kann oder die Tatsache, dass sie etwas beabsichtigt, so können Vertreterinnen und Vertreter des starken Strawsonismus argumentieren, gehören zu den Tatsachen, die dafür sorgen, dass es angemessen ist, der Person
_____ 22 Vgl. zur Transitivität der Fundierungsbeziehung Fußnote 14 in diesem Kapitel. 23 Ob Entschuldigungen in diesem Sinn zeigen sollen, dass wir für eine problematische Handlung nicht verantwortlich sind oder dass die Handlung gar nicht problematisch war, wird in der Literatur diskutiert. Vgl. für die erste These z.B. Zimmerman (2004) und für die zweite Wallace (1994, Kap. 5). Diese Diskussion ist für meine Ziele nicht relevant.
5.3 Verteidigung des starken Strawsonismus | 169
Vorwürfe zu machen. Und wenn manche dieser Tatsachen nicht vorliegen – die Person etwa nicht wissen konnte, was passieren würde – und wenn es deshalb unangemessen ist, der Person Vorwürfe zu machen, dann erklärt das auch, weshalb die Person nicht moralisch verantwortlich ist. Auf diese Weise sind viele unserer tagtäglichen Entschuldigungen Versuche zu erklären, weshalb eine Person nicht für eine (scheinbar) problematische Handlung verantwortlich ist: Sie besagen, dass bestimmte Tatsachen nicht vorliegen, die teilweise dafür sorgen, dass es angemessen ist, einer Person Vorwürfe zu machen. Der starke Strawsonismus gerät also keineswegs in Konflikt mit unserer Praxis des Angebens von Entschuldigungen. Ich kann an dieser Stelle nicht alle Bereiche unseres alltäglichen Denkens über Verantwortung und die entsprechenden Praktiken durchgehen, um zu zeigen, dass der starke Strawsonismus mit unserer common-sense Moralontologie vereinbar ist. Doch lässt sich auch allgemeiner fragen, weshalb Gegnerinnen und Gegner des starken Strawsonismus überhaupt auf den Gedanken kommen, dass hier ein Konflikt vorliegt. Vielleicht meinen manche Autorinnen und Autoren, dass der starke Strawsonismus offensichtlich falsch sei, weil sie Aussagen über die Fundierungsbeziehung mit Aussagen über notwendige Bedingungen von Verantwortung verwechseln. Der starke Strawsonismus besagt, dass die Tatsache, dass eine Person für ein Vergehen moralisch verantwortlich ist, nicht dafür sorgt, dass es angemessen ist, ihr dieses Vergehen vorzuwerfen. Manche könnten nun denken, dass er außerdem besagt, dass die Tatsache, dass eine Person für ein Vergehen moralisch verantwortlich ist, nicht notwendig dafür ist, dass es angemessen ist, ihr dieses Vergehen vorzuwerfen. Und diese Aussage ist höchst unplausibel. Tatsächlich ist der starke Strawsonismus aber nicht auf diese unplausible These festgelegt – im Gegenteil: Er kann sogar erklären, weshalb moralisch verantwortlich zu sein eine notwendige Bedingung dafür ist, ein angemessenes Ziel von Vorwürfen zu sein. Er besagt, dass die Tatsache, dass man ein angemessenes Ziel von Vorwürfen ist, dafür sorgt, dass man verantwortlich ist. Deshalb ist es unmöglich, dass man ein angemessenes Ziel von Vorwürfen und nicht verantwortlich ist. Der starke Strawsonismus impliziert also, dass moralisch verantwortlich zu sein eine notwendige Bedingung dafür ist, ein angemessenes Ziel von Vorwürfen zu sein, und er erklärt, weshalb dem so ist. Ich sehe keinen weiteren Grund dafür, dass der starke Strawsonismus mit unserer common-sense Moralontologie in Konflikt geraten sollte. Er ist vereinbar mit unserer Praxis des Angebens von Entschuldigungen und wohl auch mit anderen Verantwortungspraktiken wie der des Verzeihens, des Vorwerfens und so weiter. Außerdem gibt es eine naheliegende Diagnose dafür, weshalb manche Autorinnen und Autoren auf den Gedanken kommen, dass der starke Strawson-
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ismus mit unserem alltäglichen Denken in Konflikt gerät. Und so ist der Natürlich-falsch-Einwand zurückgewiesen.24 Ein wichtiges Ergebnis der hier angestellten Überlegungen ist, dass der starke Strawsonismus sich nicht dadurch von anderen Theorien über das Wesen moralischer Verantwortung unterscheidet, dass er eine abweichende Aussage darüber impliziert, welche Tatsachen metaphysisch absolut fundamental für Verantwortung sind. Er macht also keine Aussagen über Tatsachen, die, sozusagen, am Anfang der Fundierungskette stehen, deren vorläufiges Ende die Tatsache ist, dass eine Person für ein Vergehen verantwortlich ist. Das entscheidende Merkmal des starken Strawsonismus ist eine Aussage darüber, was unmittelbar dafür sorgt, dass eine Person für ein Vergehen moralisch verantwortlich ist. Er besagt, dass die Angemessenheit bestimmter Einstellungen und Haltungen unmittelbar erklärt, dass eine Person verantwortlich ist. Und das ist damit vereinbar, dass die Angemessenheit moralischer Vorwürfe wiederum in anderen Tatsachen fundiert ist, etwa in den Tatsachen, dass die Person bestimmte Dinge wusste oder wissen konnte, dass sie die Absicht hatte, so zu handeln und dass sie eine bestimmte Art von Kontrolle über ihr Handeln und Denken hatte.
_____ 24 McKenna scheint den starken Strawsonismus aus einem Grund abzulehnen, der dem Natürlich-falsch-Einwand zumindest ähnelt: „I want both explanatory and metaphysical priority to go in the direction Wallace rejects […]: Holding responsible should in the first place answer to the facts about what it is to be responsible“ (McKenna 2012, S. 50, Hervorhebung im Original). Wenig später führt er fort: „Our norms and practices of holding responsible are sensitive to facts about agency that help settle whether an agent is equipped for being responsible. Often, our norms and practices bend to the nature of the agent, not vice versa“ (McKenna 2012, S. 50). Und McKenna meint, dass der starke Strawsonismus mit diesen Gedanken in Konflikt gerate. Das stimmt aber nicht. Vertreterinnen und Vertreter des starken Strawsonismus argumentieren dafür, dass die normative Tatsache, dass es angemessen ist, einer Person Vorwürfe zu machen, dafür sorgt, dass sie verantwortlich ist. Diese normative Tatsache kann – wie McKenna meint – in Tatsachen über den Akteur (seiner agency) gegründet sein. Und schließlich können Vertreterinnen und Vertreter des starken Strawsonismus zustimmen, dass sich unsere tatsächliche Praxis des Vorwerfens daran orientieren soll, ob ein Akteur verantwortlich ist. Starke Strawsonisten können McKenna also zustimmen: „Our norms and practices of holding responsible are sensitive to facts about agency“ und die tatsächliche Praxis des „[h]olding responsible should in the first place answer to the facts about what it is to be responsible“.
5.3 Verteidigung des starken Strawsonismus | 171
5.3.2 Der Uninteressant-Einwand Der Uninteressant-Einwand gegen den starken Strawsonismus kann zwei Formen annehmen. In der ersten Form besagt er, dass der starke Strawsonismus uninteressant ist, weil er nicht die Frage beantwortet, was metaphysisch absolut fundamental für moralische Verantwortung ist. In der zweiten besagt der Einwand, dass der starke Strawsonismus uninteressant ist, weil er nicht unmittelbar dazu beiträgt, die Frage zu beantworten, ob es moralische Verantwortung in einer determinierten Welt gibt. Ich werde dafür argumentieren, dass der starke Strawsonismus interessant ist, obwohl er beide Fragen nicht beantwortet. Die erste Form des Uninteressant-Einwands geht davon aus, dass wir eigentlich wissen wollen, was, sozusagen, die metaphysisch tiefste Schicht ist, in der moralische Verantwortung gründet. Der starke Strawsonismus ist keine Hilfe dabei, diese Schicht zu erkennen. Denn er besagt nur, dass moralische Verantwortung unmittelbar in der Angemessenheit von Vorwürfen fundiert ist und er impliziert keine Aussagen darüber, worin die Angemessenheit von Vorwürfen fundiert ist. Doch stimmt es nicht, dass wir nur wissen wollen, was metaphysisch absolut fundamental für moralische Verantwortung ist. Ein guter Hinweis dafür, dass wir auch an ganz anderen Fragen interessiert sind, ist, dass die allerwenigsten aktuellen Theorien moralischer Verantwortung etwas darüber aussagen, was das letzte Fundament ist, auf dem moralische Verantwortung gründet. Die meisten aktuellen Theorien haben eine Form der folgenden Art: Eine Person S ist für eine Handlung x genau dann moralisch verantwortlich, wenn S eine bestimmte Kontrolle k über x hat (etwa moderat gründesensitiv zu sein) und wenn S ein bestimmtes Wissen w hat oder haben kann (etwa alle relevanten normativen und nichtnormativen Tatsachen kannte). Einigen Autorinnen und Autoren geht es aber nicht nur um notwendige und hinreichende Bedingungen, also um die These, dass S genau dann für x verantwortlich ist, wenn S k und w hat. Implizit geht es vielen um die Erklärungsthese, dass S genau dann für x verantwortlich ist, wenn und weil S k und w hat. Die einzelnen Theorien unterscheiden sich darin, wie sie k und w genau verstehen, doch kann diese Frage hier beiseitegelassen werden. Die These, dass k und w die moralische Verantwortung von S für x fundieren, würde nur dann das absolute Fundament moralischer Verantwortung identifizieren, wenn k und w nicht ihrerseits in anderen Tatsachen fundiert sind. Es ist jedoch plausibel, dass die Kontrolle, die eine Person über ihr Handeln und Denken hat, zumindest teilweise eine psychische oder mentale Tatsache ist und das Gleiche gilt für ihr Wissen oder Wissenkönnen. Und es ist auch plausibel, dass psychische oder mentale Tatsachen zumin-
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dest teilweise in anderen Tatsachen fundiert sind, etwa in der Tatsache, dass das Gehirn einer Person bestimmte Eigenschaften hat.25 Angenommen, dem ist so, dann ist die Aussage, dass k und w dafür sorgen, dass Person S für Handlung x verantwortlich ist, keine Aussage über das absolute Fundament ihrer moralischen Verantwortung. Aber sehr viele Philosophinnen und Philosophen finden die Frage höchst interessant, ob die Verantwortung einer Person tatsächlich mit k und w erklärt werden kann. Wenn wir also die Natur moralischer Verantwortung untersuchen, sind wir – oder zumindest sehr viele Philosophinnen und Philosophen – nicht ausschließlich daran interessiert, das tiefste metaphysische Fundament moralischer Verantwortung auszumachen. Es ist interessant, verschiedene Ebenen der Fundierungskette zu verstehen, in der moralische Verantwortung gründet. Man mag zugestehen, dass es nicht nur interessant ist, das absolute Fundament moralischer Verantwortung zu verstehen, und trotzdem darauf pochen, dass die Ebene, auf die sich der starke Strawsonismus konzentriert, uninteressant ist. Denn das, was wir eigentlich wissen wollen, so die zweite Variante des Uninteressant-Einwands, sei die Ebene, die für die Frage relevant ist, ob wir in einer determinierten Welt für unsere Vergehen moralisch verantwortlich sein können. Und der starke Strawsonismus helfe nicht dabei, so der Einwand weiter, diese Frage unmittelbar zu beantworten. Es stimmt, dass der starke Strawsonismus neutral gegenüber dieser Kompatibilitätsfrage ist. Aber ich sehe einfach nicht, dass wir uns nur für die Fundierung moralischer Verantwortung interessieren, wenn uns Erkenntnisse über die Fundierung unmittelbar bei der Beantwortung der Kompatibilitätsfrage weiterhelfen. Die Frage „Wer ist für was verantwortlich?“ ist von großer Bedeutung für unser alltägliches Leben. Um diese Frage besser beantworten zu können oder auch nur um besser zu verstehen, was wir eigentlich wissen wollen, wenn wir diese Frage stellen, ist es hilfreich, das Wesen moralischer Verantwortung selbst zu untersuchen. Dies ist ein interessantes Thema, unabhängig von Überlegungen über die möglichen Folgen des Determinismus. Außerdem kann der starke Strawsonismus indirekt dabei helfen, die Kompatibilitätsfrage zu beantworten. Denn eine plausible Theorie über die Metaphysik moralischer Verantwortung, die von Vertreterinnen und Vertretern des Kompatibilismus und des Inkompatibilismus akzeptiert werden kann, kann
_____ 25 M. Smith schreibt z.B. über die rationalen Fähigkeiten, die er notwendig dafür hält, dass man seine Handlungen kontrolliert, dass sie dadurch konstituiert (constitute) werden „whatever it is that underwrites psychological states in general, which, for the sake of argument, we can assume to be some state of the brain“ (M. Smith 2004, S. 122).
5.3 Verteidigung des starken Strawsonismus | 173
dabei helfen, die Diskussion zwischen diesen beiden Lagern zu strukturieren und ihnen eine gemeinsame Grundlage zu verschaffen. Auch das kann zum Erkenntnisgewinn beitragen. Die Neutralität des starken Strawsonismus gegenüber der Kompatibilitätsfrage kann daher durchaus als theoretischer Vorteil dieser Position betrachtet werden.26 Schließlich beinhaltet der starke Strawsonismus eine interessante Teilantwort auf eine Frage, die wohl viele Autorinnen und Autoren in der Diskussion um Verantwortung umtreibt: Was sind die nichtnormativen Tatsachen, die dafür sorgen, dass man einer Person angemessenerweise ein Vergehen vorwerfen kann? Der starke Strawsonismus schränkt den Bereich der möglichen Antworten auf bemerkenswerte Weise ein: Was auch immer diese nichtnormativen Tatsachen sind – die Tatsache, dass die Person für ihr Tun verantwortlich ist, gehört nicht zu ihnen. Der hier diskutierte Einwand besagt, dass der starke Strawsonismus uninteressant ist. Ich stimme zwar zu, dass der starke Strawsonismus weder Aussagen über das absolute Fundament moralischer Verantwortung noch unmittelbare Antworten auf die Kompatibilitätsfrage impliziert oder nahelegt. Doch handelt es sich um eine innovative Theorie über einen interessanten Ausschnitt der metaphysischen Struktur, in der moralische Verantwortung gründet. Es ist interessant zu erfahren, ob sie wahr ist oder auch nur vernünftigerweise akzeptiert werden kann.
5.3.3 Der Reductio-Einwand Die Kritik am starken Strawsonismus, die ich den Reductio-Einwand nenne, nimmt den Begriff der Angemessenheit in den Blick, der eine so zentrale Rolle in diesem Ansatz spielt. Üblicherweise wird er als Einwand gegen den schwachen Strawsonismus formuliert, doch wenn er stichhaltig ist, trifft er natürlich auch die stärkere Position, die ich hier verteidige. Der Einwand besagt, dass diese Formen des Strawsonismus absurde Antworten auf die Frage implizieren, welche Personen verantwortlich sein können und welche nicht. Wallace ist der Meinung, dass die Angemessenheit im Zentrum des Strawsonismus moralisch verstanden werden sollte.27 Er meint, dass die Tatsache, dass eine Person für ein Vergehen moralisch verantwortlich ist, davon abhängt,
_____ 26 McKenna (2012) entwickelt z.B. eine Verantwortungstheorie, von der er ausdrücklich schreibt, dass sie neutral gegenüber der Kompatibilitätsfrage sein soll. 27 Vgl. Wallace (1994, Kap. 4.3).
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ob es fair ist, ihr Vorwürfe zu machen. Ob es jedoch fair ist, einer Person Vorwürfe zu machen, hängt, so der Reductio-Einwand, auch von Dingen ab, die überhaupt nichts damit zu tun haben, dass die Person verantwortlich für ihr Handeln ist.28 So scheint es etwa unfair zu sein, wenn eine Person einer anderen Vorwürfe macht, wenn diese ernsthaft bedauert, was sie getan hat. Und es scheint auch unfair zu sein, wenn eine Person einer anderen scheinheilige Vorwürfe macht, wie ich sie in Kapitel 3 charakterisiert habe. Die moralische Version des starken Strawsonismus scheint in diesen Fällen die Konsequenz zu haben, dass die Personen nicht verantwortlich für ihre Vergehen sind. Denn wenn es unfair ist, einer Person für ein Vergehen Vorwürfe zu machen, so könnte man Wallace’ Ansatz verstehen, dann ist sie auch nicht für dieses Vergehen verantwortlich. Aber das ist absurd. Selbstverständlich können die Personen in den geschilderten Fällen für ihre Vergehen moralisch verantwortlich sein, auch wenn es unfair ist, wenn bestimmte andere Personen sie ihnen vorwerfen. In der Literatur gibt es bereits einige Versuche, auf den Reductio-Einwand zu antworten.29 Außerdem handelt es sich um eine spezifische Version des Problems der Gründe der falschen Art, das ich bereits in Kapitel 3 vorgestellt habe: Die Tatsache, dass ich unglücklich werde, wenn ich glaube, dass mich meine Nachbarn unsympathisch finden, spricht nicht dagegen, dass sie mich unsympathisch finden. Doch scheinen nur Tatsachen, die dafür oder dagegen sprechen, dass etwas der Fall ist, Standardgründe für oder gegen Überzeugungen zu sein. Und so scheint die Tatsache, dass ich unglücklich werde, wenn ich glaube, dass mich meine Nachbarn unsympathisch finden, kein Standardgrund gegen diese Überzeugung zu sein. Analog dazu verhält es sich in den oben skizzierten Fällen. Die Tatsache, dass es unfair von mir wäre, empört über eine Person zu sein, spricht nicht dagegen, dass sie sich empörend verhalten hat. Doch nur Tatsachen, die dafür oder dagegen sprechen, dass sich eine Person empörend verhalten hat, scheinen Standardgründe dafür zu sein, sich zu empören. Wenn das stimmt, dann ist die Tatsache, dass es unfair von mir wäre, empört über die Person zu sein, kein Standardgrund dagegen, dass ich mich über sie empöre. Nun könnten Verteidigerinnen und Verteidiger des starken Strawsonismus einfach darauf hoffen, dass eine allgemeine Theorie entwickelt wird, die klärt, was Standardgründe von Non-Standardgründen für Einstellungen unterschei-
_____ 28 Der Einwand und die folgenden Fälle stammen von A. Smith (2007). Graham (2014) entwickelt einen strukturell sehr ähnlichen Einwand. 29 Vgl. Maher (2010) und McKenna (2012, Kap. 2).
5.3 Verteidigung des starken Strawsonismus | 175
det und dass mithilfe dieser Theorie der Reductio-Einwand zurückgewiesen werden kann.30 Wer darauf nicht warten will, der kann den Begriff der Angemessenheit vorläufig als Korrektheit interpretieren, so wie ich es in Kapitel 3 bereits vorgeschlagen habe.31 Diesem Vorschlag zufolge ist es genau dann angemessen, einer Person einen moralischen Vorwurf zu machen, wenn eine Vorwurfsemotion diese Person und ihr Verhalten korrekt repräsentieren würde. Dieses Verständnis angemessener Vorwürfe setzt voraus, dass Vorwürfe einen repräsentationalen Gehalt haben, sodass sie ihr Ziel korrekt oder inkorrekt repräsentieren können. Wie dieser Gehalt zu verstehen ist, welche Bedingungen also eine Person erfüllen muss, damit eine Vorwurfsemotion sie korrekt repräsentiert, habe ich teilweise in Kapitel 3 diskutiert. Wer den Begriff der Angemessenheit auf diese Weise versteht, der kann die oben skizzierten Fälle auf die folgende Weise beschreiben: Zwar ist es in Anbetracht aller Tatsachen unfair, wenn bestimmte Personen diesen Übeltäterinnen und -tätern Vorwürfe machen und die Vorwerfenden haben vielleicht auch die Pflicht, dafür zu sorgen, die Vorwurfsemotionen nicht mehr zu haben, aber die Vorwurfsemotionen repräsentieren ihre Ziele korrekt. Und weil die Korrektheit von Vorwurfsemotionen gegenüber bestimmten Personen, so können Vertreterinnen und Vertreter des starken Strawsonismus argumentieren, dafür sorgt, dass diese Personen moralisch verantwortlich sind, folgt aus diesem Ansatz, dass die in den Fällen skizzierten Personen für ihr Handeln moralisch verantwortlich sind. Kombiniert man den starken Strawsonismus mit diesem Verständnis angemessener Vorwürfe, hat der Ansatz also keine absurden Konsequenzen. Dieser Ansatz unterscheidet sich deutlich von dem von Wallace, weil es für Wallace wichtig ist, die Angemessenheit moralischer Vorwürfe als Fairness zu verstehen. Doch öffnet genau dieses Verständnis die Tür für den ReductioEinwand. Deshalb meine ich – solange noch keine allgemeine Lösung für das Problem der Gründe der falschen Art vorliegt –, dass die plausibelste Version des starken Strawsonismus diese für Wallace zentrale These aufgibt und Angemessenheit als Korrektheit interpretiert.
_____ 30 Schroeder (2010) meint z.B., dass es guten Grund gibt, optimistisch zu sein, dass es eine allgemeine Lösung für das Problem der Gründe der falschen Art gibt, auch wenn sie noch nicht vorliegt. 31 Vgl. für einen Vorschlag dieser Art King (2012; 2014), Clarke (2013) und Graham (2014).
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5.3.4 Wie viel Strawsonismus steckt im starken Strawsonismus? Ich habe in diesem Kapitel die These entwickelt und verteidigt, dass eine Person für eine Handlung genau dann verantwortlich ist, wenn und weil es angemessen ist, ihr für die Handlung Vorwürfe zu machen. Das ist eine Präzisierung des Strawson’schen Grundgedankens, dass eine Person nicht allein aufgrund ihrer mentalen Eigenschaften verantwortlich ist, sondern auch, weil sie auf bestimmte Weise in eine Gemeinschaft und deren Praxis eingebunden ist. Wenn man meinen Vorschlag, den Strawson’schen Gundgedanken auszubuchstabieren, mit typischen Ansätzen aus der Strawson’schen Tradition vergleicht, stellt sich die Frage, wie viel Strawson oder zumindest wie viel klassischer Strawsonismus eigentlich im starken Strawsonismus steckt. Ein Thema, bei dem man Abweichungen von der Strawson’schen Tradition vermuten könnte, ist die Kompatibilitätsfrage. Viele Autorinnen und Autoren verstehen Strawsons „Freedom and Resentment“ als Inspiration für antilibertarische Theorien der Verantwortung. Der Libertarismus über Verantwortung besagt im Allgemeinen, dass Verantwortung nicht mit dem Determinismus vereinbar ist und dass es in unserer Welt Menschen gibt, die verantwortlich für ihr Tun oder für bestimmte Einstellungen sind. Also kann unsere Welt, so der Libertarismus, nicht determiniert sein. Strawson selbst hält diesem Ansatz entgegen, dass er die Tatsachen, wie wir sie kennen, überintellektualisiere (overintellectualize the facts 1962, S. 91) und dass es nicht nötig sei, nach einer solchen Freiheit oder Verantwortung zu suchen, um unsere Praxis des Verantwortlichmachens zu rechtfertigen.32 Patrick Todd beschreibt diese antilibertarische Haltung als eine oder sogar als die Konstante innerhalb der Strawson’schen Tradition, über Verantwortung nachzudenken: Strawsonian claims about the „facts of responsibility“ and the „order of explanation“ are often stated in different ways, but one thing remains constant in such presentations: either implicitly or explicitly, such proposals are drawn in contrast to libertarian theories of moral responsibility (Todd 2016, S. 209).
_____ 32 Mit der Kritik des Überintellektualisierens richtet sich Strawson auch gegen die von ihm sogenannten Optimisten. Diese meinen, dass allein die positiven Konsequenzen unserer Praxis des Verantwortlichmachens ausreichen, um die Praxis zu rechtfertigen. In der an Strawson anknüpfenden jüngeren Debatte wird aber vor allem auf seine Zurückweisung des Libertarismus Bezug genommen, auf die ich mich hier ebenfalls beziehe.
5.3 Verteidigung des starken Strawsonismus | 177
Der starke Strawsonismus, wie ich ihn entwickelt habe, ist jedoch vereinbar mit dem Libertarismus und mit jeder anderen Theorie der Kontrollbedingung für moralische Verantwortung. Die von mir verteidigte Position besagt nur, dass die Tatsache, dass es angemessen ist, einer Person Vorwürfe zu machen, dafür sorgt, dass sie auch verantwortlich ist. Und die Tatsache, dass es angemessen ist, ihr Vorwürfe zu machen, kann ihrerseits in einer Kontrolle gegründet sein, die mit dem Determinismus vereinbar ist oder auch nicht. Selbstverständlich können Vertreterinnen und Vertreter des starken Strawsonismus zugleich Antilibertarier sein und zum Beispiel dafür argumentieren, dass der Determinismus sehr wohl damit vereinbar sei, dass es Personen gibt, die für ihr Tun verantwortlich sind. Aber das ist eine zusätzliche These und nicht schon Teil des starken Strawsonismus. In dieser Hinsicht ist der starke Strawsonismus weniger strawsonisch, als es sich manche vielleicht wünschen würden. Doch zugleich ist er plausibler als die meisten Alternativen, weil er die typischen Einwände gegen den Strawson’schen Grundgedanken parieren kann. Die zweite Stelle, an der man fragen könnte, wie viel Strawsonismus im starken Strawsonismus steckt, setzt bei der These an, dass die Tatsache, dass es angemessen ist, einer Person Vorwürfe zu machen, ihrerseits darin gegründet sein kann, dass sie eine bestimmte Kontrolle oder ein bestimmtes Wissen hat oder hatte. Auch hier könnte man meinen, dass dies zu wenig strawsonisch sei, denn schlussendlich hänge die Verantwortung der Person nun doch wieder davon ab, welche mentalen Eigenschaften sie hat. Und das, so könnte man meinen, laufe Strawson und der Strawson’schen Tradition zuwider. Mir scheint jedoch, dass dieser Gedanke schon bei Strawson und dann erst recht bei Wallace eine wichtige Rolle spielt. Über reaktive Einstellungen wie etwa Empörung schreibt Strawson an zentraler Stelle: „What I have called participant reactive attitudes are essentially natural human reactions to the good or ill will or indifference of others toward us, as displayed in their attitudes and actions“ (Strawson 1962, S. 80, Hervorhebung im Original). Wann ist es angemessen, eine bestimmte reaktive Einstellung zu haben? Eine sehr naheliegende (und auch von Strawsons Überlegungen zu den verschiedenen Weisen, Personen zu entschuldigen, unterstützte) Antwort besagt, dass es genau dann angemessen ist, eine bestimmte reaktive Einstellung wie etwa Empörung zu haben, wenn ihr Ziel tatsächlich einen mangelnden guten Willen hat. Auf schwer psychisch Kranke oder kleine Kinder reagieren wir zum Beispiel in der Regel nicht mit Empörung. Und eine Strawson’sche Erklärung dafür, weshalb es auch unangemessen wäre, mit Empörung zu reagieren, lautet, dass schwer psychisch Kranke und kleine Kinder gar keinen mangelnden guten Willen im relevanten Sinn haben können. Ihnen fehlt etwas dafür, dass ihre Einstellungen mangelnden guten Willen ausmachen können. Wenn dieser Gedankengang bei Strawson
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angelegt ist, dann ist bei ihm auch angelegt, dass die Angemessenheit der reaktiven Einstellungen zumindest teilweise von mentalen Eigenschaften derjenigen abhängt, auf die sie gerichtet sind. Strawsons Aufsatz „Freedom and Resentment“ ist berüchtigt dafür, dass er auf ganz verschiedene Weise interpretiert werden kann. Deshalb poche ich nicht darauf, dass meine hier skizzierte Auslegung die einzig plausible ist. Stattdessen werfe ich einen Blick in die Strawson’sche Tradition. So schreibt etwa Wallace: On the account I have proposed, the stance of holding someone to blame for an action is connected with a special class of demands, namely the moral obligations one accepts; qualities of will are therefore important to blameworthiness only insofar as they bear on the question of whether such moral obligations have been violated. But for this purpose, the qualities of will that matter would seem primarily to be an agent’s choices. Only if an action expresses a choice of some sort can we say that a moral obligation has either been violated or complied with (Wallace 1994, S. 128, Hervorhebung im Original). Wallace selbst geht es hier darum, die Grundlagen einer Theorie moralischer Pflichten zu skizzieren. Ob diese überzeugt, ist für mein Anliegen irrelevant. Wichtig ist mir nur, dass Wallace der Meinung ist, dass es nur dann angemessen ist, einer Person Vorwürfe zu machen, wenn sie eine Pflicht (obligation) verletzt hat. Und eine Pflicht kann eine Person mit einer Handlung nur verletzen, so Wallace, wenn diese Handlung eine Entscheidung (choice) der Person ausdrückt. Dass eine Handlung aber eine Entscheidung der Person ausdrückt, hängt offensichtlich von den mentalen Eigenschaften der Person ab, nämlich davon, wie sie sich entschieden hat. Und so zeigt sich, dass Wallace auf die These festgelegt ist, dass die Angemessenheit von Vorwürfen davon abhängt, dass das Ziel der Vorwürfe bestimmte mentale Eigenschaften hat, nämlich dass sich die Person für eine Handlung entschieden hat. Als Fazit lässt sich festhalten, dass der starke Strawsonismus in dem Sinn unstrawsonisch ist, dass er mit allen möglichen Antworten auf die Kompatibilitätsfrage vereinbar ist. Zugleich kann er als erster Schritt für typische Strawsonianer verstanden werden, die auf der Grundlage dieser Theorie nun gegen den Libertarismus argumentieren können. Dass der starke Strawsonismus auch damit vereinbar ist, dass die Angemessenheit von Vorwürfen in mentalen Eigenschaften der Person gegründet ist, halte ich dagegen für eine von Beginn an bei Strawson angelegte Überlegung, die sich auch in anderen Ansätzen der Strawson’schen Tradition finden lässt.
5.3 Verteidigung des starken Strawsonismus | 179
Insgesamt habe ich in diesem Kapitel das Ziel verfolgt, den Strawson’schen Grundgedanken zu entwickeln, dass die Verantwortung einer Person in Tatsachen über eine soziale Gemeinschaft und deren Praxis gegründet ist. Insbesondere habe ich eine von Wallace stark inspirierte Verantwortungstheorie formuliert und gegen die wichtigsten Einwände verteidigt. Ich habe, wie eingangs gesagt, nicht dafür argumentiert, dass der hier entwickelte starke Strawsonismus wahr ist. Vielmehr ging es mir darum, einen theoretisch interessanten Ansatz zu rehabilitieren, der Grundgedanken einfangen kann, die viele Autorinnen und Autoren attraktiv finden.
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Allgemeines Fazit | 181
Allgemeines Fazit ohne Überschriftenzählung!
Allgemeines Fazit DOI 10.1515/9783110527285-007 Allgemeines Fazit Ausgehend von der Beobachtung, dass Vorwürfe eine wichtige und oft heikle Rolle in unserem Alltag und eine zentrale Funktion in der Diskussion grundlegender philosophischer Fragen spielen, habe ich für eine Reihe von Thesen über Vorwürfe argumentiert, die ich hier noch einmal zusammenfassen werde. Zunächst habe ich die Frage gestellt, was Vorwürfe sind. Ich habe dafür argumentiert, dass Vorwurfseinstellungen bestimmte Emotionen sind, nämlich bestimmte Arten von Ärger – zum Beispiel Empörung, Groll oder Zorn – und Schuld. Außerdem habe ich gezeigt, dass ausgehend von dieser These die gesamte Praxis des Vorwerfens erhellt werden kann (Kapitel 1). Dann habe ich normative Fragen untersucht, die sich mit Blick auf unser tagtägliches Vorwerfen stellen und zwar zunächst die, unter welchen Bedingungen es angemessen ist, einer Person Vorwürfe zu machen. Ich habe dafür argumentiert, dass es nur dann angemessen ist, einer Person Vorwürfe zu machen, wenn sie eine Pflicht verletzt hat (Kapitel 2). Manchmal ist es auch dann problematisch, einer Person einen Vorwurf zu machen, wenn diese ein angemessenes Ziel von Vorwürfen ist. Besonders interessant sind hier bestimmte Eigenschaften der Vorwerfenden (Kapitel 3). Eine Person ist nicht in der richtigen Position, Vorwürfe zu machen, wenn sie nicht mit hinreichender Sicherheit urteilen kann, dass es angemessen ist, einer anderen Person Vorwürfe zu machen, oder wenn sie sich selbst auf relevante Weise schuldig gemacht hat, sich selbst keine Vorwürfe dafür macht und wenn sie ihre Schuld bislang nicht zugegeben hat. In Fällen dieser Art haben Vorwerfende Grund, dafür zu sorgen, dass sie ihre Vorwurfsemotionen nicht mehr haben. Manche meinen, dass wir im Allgemeinen dafür sorgen sollen, dass wir keine Vorwurfsemotionen mehr haben. Diese Position habe ich zurückgewiesen (Kapitel 4). Zwar würden wir nicht notwendigerweise etwas unersetzlich Wertvolles verlieren, wenn wir aufhören, Vorwurfsemotionen zu haben, doch gibt es auch keinen überzeugenden Grund zu glauben, dass sich der Aufwand lohnen würde, unsere Tendenz zu Vorwürfen loszuwerden. Im fünften und letzten Kapitel habe ich schließlich das Verhältnis zwischen Vorwürfen und Verantwortung untersucht. Ich habe die Position entwickelt und verteidigt, dass die Angemessenheit von Vorwürfen moralische Verantwortung fundiert – und nicht umgekehrt. Abschließend möchte ich noch einmal auf die in der Einleitung genannten grundsätzlichen philosophischen Fragen zu sprechen kommen, für deren Diskussion eine Theorie des Vorwurfs hilfreich sein kann: Was ist Moral? Was ist DOI 10.1515/9783110527285-007
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Verantwortung? Und kann es angemessen sein, Personen in einer determinierten Welt Vorwürfe zu machen? Die deskriptive These, dass es ohne Vorwürfe keine Moral gebe, habe ich bislang nicht diskutiert und kann sie auch an dieser Stelle nicht klären. Doch angenommen, es gibt eine enge oder sogar notwendige Verbindung zwischen Moral und Vorwürfen – würden wir dann notwendigerweise etwas unersetzlich Wertvolles verlieren, wenn wir aufhören, Vorwürfe zu machen? In Kapitel 4 habe ich diese normative Frage verneint. Auch ohne Vorwürfe kann es all das geben, was an der Moral wichtig und wertvoll ist und zwar auch dann, wenn es keine Moral gibt. In Kapitel 5 habe ich eine Theorie über die Metaphysik von Verantwortung entwickelt, der zufolge eine Person genau dann für etwas Problematisches verantwortlich ist, wenn und weil es angemessen ist, ihr dafür Vorwürfe zu machen. Angenommen, diese These ist wahr. Kann es dann Verantwortung in einer Welt ohne Vorwürfe geben? Ja, denn auch in einer Welt, in der keine Person sich selbst oder anderen tatsächlich Vorwürfe macht, kann es angemessen sein, sich selbst oder anderen Vorwürfe zu machen. Selbst wenn also die vorgestellte These über das Wesen von Verantwortung stimmt und wenn wir aufhören, Vorwürfe zu machen, können Personen für ihr Tun verantwortlich sein. Können aber auch Personen in einer determinierten Welt verantwortlich sein und können wir ihnen in einer determinierten Welt angemessenerweise Vorwürfe machen? Die mit Blick auf diese Frage wichtigste Konsequenz der in der Studie vorgestellten Überlegungen ist, dass eine Strawson’sche Verantwortungstheorie allein noch keine Antwort auf die Kompatibilitätsfrage impliziert oder auch nur nahelegt:1 Auch wer in Anlehnung an Strawson meint, dass die Verantwortung einer Person damit erklärt werden kann, dass sie auf bestimmte Weise in eine soziale Gemeinschaft und Praxis eingebunden ist, kann, wie ich in Kapitel 5 gezeigt habe, die Kompatibilitätsfrage verneinen oder bejahen. Damit habe ich das Wesen von Vorwürfen und einige sowohl für unseren moralischen Alltag als auch für grundsätzliche philosophische Fragen wichtige Rollen von Vorwürfen untersucht. Selbstverständlich ist das Phänomen des Vorwurfs damit nicht abschließend diskutiert. So habe ich zum Beispiel Fragen nach der angemessenen Heftigkeit von Vorwürfen sowie nach der epistemischen Bedingung und der Kontrollbedingung angemessener Vorwürfe ausge-
_____ 1 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Todd (2016).
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spart. Es besteht aber Grund zur Hoffnung, dass die hier verteidigten Thesen neues Licht auf diese in der Literatur zum Teil bereits intensiv diskutierten Fragen werfen können.2 Denn ob es angemessen ist, einer Person Vorwürfe zu machen und, wenn ja, wie heftig diese angemessenerweise sein können, hängt zum Teil davon ab, was Vorwürfe sind.
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_____ 2 Vgl. zur angemessenen Heftigkeit von Vorwürfen z.B. Coates und Swenson (2013) und Nelkin (2016). In einem großen Teil der Debatte um moralischen Folgezufall geht es ebenfalls um die Frage, was Einfluss auf die angemessene Heftigkeit von Vorwürfen haben kann. Vgl. dazu meinen Exkurs zu Scanlons Theorie moralischer Vorwerfbarkeit in Kapitel 2. Vgl. zur epistemischen Bedingung angemessener Vorwürfe z.B. Rosen (2004), FitzPatrick (2008), Sher (2009) und Levy (2014). Vgl. zur Kontrollbedingung z.B. die vier Einführungen von Fischer, Kane, Pereboom und Vargas (2007).
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194 | Literatur
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Sachregister | 195
Sachregister Sachregister Sachregister Absicht, absichtlich, beabsichtigen 7, 10, 63, 69, 70, 71, 80, 81, 119, 168, 170 Affekt, affektiv 34, 133 Aggression, aggressiv 20, 41, 42, 43, 129, 130 Alltagssprachgebrauch 7, 8, 9, 10, 24, 28 amoralisch 56, 57 Angst 18, 19, 22, 29, 55, 56, 120, 127, 137, 138 Ärger 4, 5, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 35, 40, 41, 42, 48, 50, 97, 103, 115, 124, 125, 127, 128, 129, 130, 135, 136, 137, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 148, 153, 181 – Ärger und Erkenntnis 139, 140, 141 – Ärger und Motivation 20, 24, 26, 27, 34, 111, 125, 130, 135, 142, 143, 145, 146, 147, 148 – Ärger und Wut 19, 20, 103, 115 – Ärgerepisode 20, 21, 22, 40, 41, 48 – Ärgermanagement 97, 109 – heißer vs. kalter Ärger 25, 26, 41 Ausgerechnet-Du-Haltung 1, 4, 89, 107 Autonomie, autonom 21, 68, 71, 144 Beziehung 13, 18, 30, 41, 48, 52, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 90, 91, 92, 100, 101, 103, 104, 119, 121, 132, 135, 137, 150, 166 – Beschädigung einer Beziehung 30, 52, 79, 80, 81, 82, 83, 84 – enge Beziehung 79, 80, 81, 82 – moralische Beziehung 79, 80, 81, 82, 83, 84, 85 – Standards einer Beziehung 80 Bikonditional 154, 161 Bildung 149 Charakter 72 – Charakterbildung 72 – Charaktereigenschaft 8, 35, 52, 67, 70, 72, 140 Das-geht-Dich-nichts-an-Haltung 99, 100, 104, 105
Das-kannst-Du-nicht-wissen-Haltung 104, 105 Demonstration 146, 147 Determinismus 2, 3, 42, 53, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 158, 171, 172, 176, 177, 182 Disposition 25, 26, 27, 41, 48, 49, 80 Einstellungsmanagement 64, 66, 93, 97, 106, 109, 111, 113 Ekel 138 Eltern 81, 100, 137 Emotion 3, 5, 7, 12, 13, 14, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 24, 25, 26, 27, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 39, 41, 43, 44, 45, 47, 49, 50, 55, 56, 57, 78, 93, 94, 95, 96, 102, 103, 108, 109, 111, 113, 120, 123, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 136, 137, 138, 143, 146, 150, 181 – basale Emotion 127, 128, 138 – emotionale Episode 17, 18, 19, 22, 23, 24, 25, 26, 34, 35, 40, 41, 42, 48, 49, siehe auch Ärgerepisode – emotionale Prozesse/Haltungen 17, 18, 25, 26, 41, 49, 50 – kognitiv geformte/elaborierte Emotion 22, 24, 25, 35, 124, 125, 127, 128, 135, 136 – kognitivistische Emotionstheorien 29 – motivierende Kraft 19, 21, 22, 24, Siehe auch Ärger und Motivation – phänomenale Qualität 18, 19, 20, 22, 34, 125 – repräsentationaler Gehalt 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 27, 29, 30, 34, 55, 105, 124, 125, 127, 128, 175 Emphase, emphatisch 6, 47 empörend 96, 131, 174 Empörung, empört 1, 7, 14, 19, 24, 25, 35, 36, 39, 48, 56, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 100, 101, 102, 103, 108, 109, 110, 111, 119, 120, 123, 125, 126, 127, 129, 131, 132, 133, 136, 146, 147, 153, 163, 174, 177, 181 Entrüstung, entrüstet 19, 24, 25, 35, 125, 126, 127, 129, 132, 153
196 | Sachregister
Entscheidung, entscheiden 12, 62, 67, 68, 69, 71, 102, 132, 141, 153, 178 Entschuldigung, entschuldigt 6, 7, 35, 36, 37, 38, 43, 51, 110, 111, 119, 135, 136, 142, 157, 158, 168, 169, 177 Enttäuschung, enttäuscht 43, 78, 123, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 132, 136, 143, 148 Erziehung 149 Evidenz 59 Fähigkeit 40, 41, 42, 73, 134, 172 – spezifische vs. allgemeine Fähigkeit 41 Fairness, fair 42, 54, 55, 56, 57, 174, 175 Falschheitsthese 52, 53, 54, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 66, 67, 68, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 78 Folter, foltern 59, 61 Frankfurt-Fälle 163 Freude 18, 22, 48, 127, 150 Freundschaft, Freundin 17, 18, 25, 41, 62, 63, 79, 80, 81, 82, 83, 90, 91, 92, 127, 132 Gegenvorwurf 115, 130, 142 Groll 24, 25, 26, 36, 41, 48, 108, 126, 153, 181 Grund – entscheidender Grund 71, 95 – moralischer Grund 94, 95, 96, 97, 98, 110, 112, 113 – Non-Standardgrund 96, 97, 174 – normativer Grund 37, 38, 97 – Problem der Gründe der falschen Art 94, 95, 175 – Standardgrund 95, 96, 174 Grundhaltung 52, 67, 70, 72, 73 guter Wille 119 – mangelnder guter Wille 12, 30, 32, 52, 66, 67, 98, 177 Hass 48, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 65, 66, 67 Identität 162, 163, 164 implizites Vorurteil 72
Interdependenz 160 Interesse 89, 91, 92, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 118, 119 Intuition 5, 7, 8, 9, 10, 33, 43, 44, 45, 84, 163, 164, 165 kantische Moraltheorie 58, 63, 150 Kinder 20, 22, 61, 81, 84, 120, 137, 177 Kommunikation, kommunizieren 122, 131, 135, 141 Kompatibilitätsfrage 2, 172, 173, 176, 178, 182 – Falschheit und Determinismus 73, 76 – Inkompatibilismus 73, 74, 75, 76, 77, 78, 172 – Kompatibilismus 73, 74, 76, 77, 172 – Vorwerfbarkeit und Determinismus 73, 76 Konsequentialismus 53, 62 Konsequenz-Argument 75 Kontraktualismus 53, 58, 63 Kontrolle 21, 51, 53, 63, 65, 68, 69, 73, 74, 75, 76, 120, 147, 164, 171, 183 – Kontrollbedingung für Pflichten 62, 71, 74, 75, 76, 94, 95, 97, siehe auch Sollenimpliziert-Können-Prinzip – rationale Kontrolle 69, 70, 71 – volitionale Kontrolle 69, 70 Kooperation, kooperieren 144, 145, 146 Korrektheit, korrekt 31, 54, 55, 56, 57, 78, 95, 96, 156, 157, 175 leveling-down 112 Libertarismus 176, 177, 178 Liebesbeziehung, lieben 90, 91 Loyalität, loyal 80, 81 Metaphysik 3, 160, 168, 173 – metaphysisch fundamental 154, 159, 164, 170, 171, 172 – metaphysische Abhängigkeit 154, 161, 166, 177 – metaphysische Fundierung 159, 161, 162, 163, 164, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 181 Methode, Herangehensweise 5, 10
Sachregister | 197
Moral 1, 2, 108, 116, 122, 123, 124, 132, 133, 135, 136, 137, 138, 143, 147, 149, 150, 151, 181, 182 – die Moral zu Herzen nehmen 123, 124, 136, 137, 138, 143 – moralisch falsch 1, 7, 52, 53, 54, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 64, 66, 67, 68, 69, 70, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 83, 97, 122, 131, 132, 133, 141, 150, 153, 155, 163 – moralisch neutral 155, 159, 163 – moralisch zulässig, erlaubt 54, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 67, 91, 97, 155 – moralische Norm 2, 111, 112, 123, 124, 125, 137, 149, 150 – moralische Pflicht 4, 51, 53, 54, 56, 57, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 83, 84, 85, 87, 94, 95, 96, 97, 112, 113, 115, 116, 117, 118, 127, 132, 133, 136, 159, 175, 178, 181 – moralischer Folgezufall 84, 85, 183 – Moralontologie 168, 169 – Moralpsychologie 3 – Quasimoral 132, 148 – System der Moral 132, 148, 150 Müller-Lyer-Illusion 28 Natur des Menschen 118, 119, 120, 148 Notwehr 58, 59, 61 Prinzip der Gleichheit 108, 109 Privatsphäre, Privates 100, 101, 102, 103, 104 Prozess des Austauschs Siehe Kommunikation psychisch krank 177 Public Good Games 144 Rechtfertigung, sich rechtfertigen 6, 35, 36, 37, 38, 88, 111, 135, 142, 156 Retributivismus 118 Risiko 140, 141 Rückverfolgungsstrategie 64, 65, 66, 67, 71, 72 Sanktion, sanktionieren 20, 21, 24, 27, 34, 41, 42, 125, 146, 147
Schadenfreude 22, 23, 126, 127, 131 Scham 138 Schuld – Emotion der Schuld 4, 5, 11, 17, 24, 25, 26, 50, 109, 111, 112, 113, 121, 129, 130, 131, 132, 133, 135, 136, 137, 138, 181 – schuldig sein 1, 6, 7, 28, 30, 37, 38, 46, 47, 51, 54, 87, 91, 106, 107, 109, 110, 111, 113, 140, 181 Sexismus 28, 67, 70, 72 Sinneswahrnehmung 28, 29, 55 Sollen-impliziert-Können-Prinzip 69, 74 Sprechakt 7, 10, 37, 47, 89 Strafe, strafen 77, 78, 106, 118, 119, 143, 144, 145, 146 Strawsonismus 153, 154, 155, 157, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 173, 174, 175, 176, 177, 178, 179 starker vs. schwacher Strawsonismus 154 Suberogation 53, 57 Trauer 18, 25, 26, 41, 123, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 132, 136, 137, 138, 141, 143, 148, 150 Tugend 115 Tugendethik 53, 58 Verantwortung 3, 4, 16, 32, 42, 68, 73, 75, 76, 133, 140, 141, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 173, 174, 175, 176, 177, 179, 181, 182 – epistemische Bedingung für Verantwortung 164, 166, 171 – Kontrollbedingung für Verantwortung 158, 164, 166, 171, 177 – Metaphysik moralischer Verantwortung 4, 154, 162, 171, 172, 173, 179, 182 – verantwortlich machen 153, 157, 159, 176 – Verantwortung als accountability 16, 135, 157, 158, 163 – Verantwortung als Sollen 155, 156, 157 – Verantwortung als Zurechenbarkeit 155, 156, 157
198 | Sachregister
Verdienst, verdienen 14, 28, 30, 54, 55, 57, 117 Verurteilung, verurteilen 93, 98, 129, 130 Verzeihung, verzeihen 6, 11, 24, 35, 36, 37, 38, 46, 50, 51, 77, 109, 113, 115, 130, 135, 142, 158, 169 Vorwerfbarkeit 51, 52, 53, 54, 60, 61, 64, 65, 66, 68, 70, 73, 74, 76, 77, 78, 79, 81, 82, 83, 84, 85, 87, 88, 89, 95, 101, 104, 105, 106, 108, 109, 113, 117, 131, 183 – epistemische Bedingung der Vorwerfbarkeit 22, 23, 27, 51, 52, 53, 65, 87, 88, 96, 104, 117, 158, 167, 168, 170, 177, 182 – evaluative Bedingung der Vorwerfbarkeit 51, 52, 78, 83, 84, 85 – Kontrollbedingung der Vorwerfbarkeit 22, 23, 27, 51, 52, 65, 70, 74, 87, 96, 104, 117, 167, 170, 177, 182 Vorwerfbarkeitsurteil 43, 45, 46 Vorwürfe – Antiurteilstheorien über Vorwürfe 12, 13, 14, 15, 17, 34 – Emotionalismus über Vorwürfe 13, 14, 15, 16, 17, 24, 26, 27, 28, 30, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 47, 48, 49, 50 – Funktionalismus über Vorwürfe 15 – Heftigkeit von Vorwürfen 84, 101, 117, 182, 183 – klassische vs. nicht-klassische Vorwurfstheorien 10, 15, 16, 136 – Kraft, Gewicht, Stachel des Vorwerfens 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38
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– lang anhaltende vs. kurzzeitige, kalte vs. heiße Vorwürfe 25, 26, 27, 41, 48, 49 – moralische vs. nicht-moralische Vorwürfe 23 – offene vs. private Vorwürfe 7, 10, 11, 33, 45, 47, 48, 49, 88, 89, 90, 93, 104, 105, 123, 134 – paradigmatischer Vorwurf 16, 19, 31, 44, 45 – Position, Vorwürfe zu machen 1, 4, 38, 46, 54, 87, 93, 94, 97, 98, 100, 101, 107, 111, 113, 117, 181 – reine Urteilstheorien über Vorwürfe 11, 12, 46 – scheinheilige Vorwürfe 89, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 174 – Selbstvorwurf 4, 5, 8, 11, 23, 24, 25, 45, 50, 109, 111, 121, 136, 137, 138, 139 – unreine Urteilstheorien über Vorwürfe 12, 13, 14, 16 – Vielgestaltigkeit von Vorwürfen 7, 15, 32, 33, 44, 45, 47, 50 Würde 63, 68, 71, 131, 134, 135, 136, 142, 147 Wut, wütend 10, 13, 19, 20, 24, 25, 26, 34, 35, 36, 39, 65, 78, 89, 91, 103, 115, 124, 125, 127, 129, 130, 135, 138, 141, 142, 145, 146, 147, 153, Siehe auch Ärger und Wut Zorn, zornig 24, 25, 35, 36, 56, 89, 90, 91, 92, 109, 126, 129, 136, 146, 153, 181 Zweifelssatz 106
Namensregister | 199
Namensregister Namensregister Namensregister Adams, Robert Merrihew 68 Allen, Anita L. 102 Anwander, Norbert 79 Aristoteles 18 Arpaly, Nomy 2, 13 Atkins, Philip 57 Bayertz, Kurt 156 Bedau, Hugo Adam 106, 119 Bell, Macalester 94, 97 Ben-Ze’ev, Aaron 17, 18 Berkowitz, Leonard 21 Bonanno, George A. 141 Brown, Eric 79 Burkard, Anne 5 Butler, Joseph 158 Capes, Justin A. 52, 58, 59, 60, 61, 66, 74 Clarke, Randolph 55, 131, 175 Coates, D. Justin 11, 13, 46, 75, 76, 94, 183 Cogley, Zac 14, 24 Cohen, Gerald A. 107 Coifman, Karin G. 141 Correia, Fabrice 161 D’Arms, Justin 18, 22, 28, 29, 32, 55, 95 Darwall, Stephen 2, 16, 63, 64, 95, 134, 135, 149, 153, 165 Davis, Steven 102 de Sousa, Ronald 29 Deigh, John 14, 28, 29 Dellarocas, Chrysanthos 146 Demmerling, Christoph 20, 21 Deonna, Julien 17, 29 Dodge, Kenneth A. 21 Döring, Sabine A. 17, 18, 29, 48 Driver, Julia 57 Duff, Antony 105 Ekman, Paul 18 Fehr, Ernst 144, 145, 146 Feldman Barret, Lisa 17 Fine, Kit 161, 162
Fischer John Martin 2, 65, 69, 153, 156, 183 FitzPatrick, William 183 Frankfurt, Harry G. 157, 163 Franklin, Christopher Evan 47, 124 Frege, Gottlob 28 Fricker, Miranda 7, 15, 16, 40, 44, 45, 46, 47, 135 Fritz, Kyle G. 13, 54, 89, 108 Gächter, Simon 144, 145, 146 Gertken, Jan 95 Ghandi, Mahatma 115, 130 Gibbard, Allan 2, 32, 33, 79, 133, 149, 150 Goldie, Peter 17, 18, 25, 26, 48 Goldman, David 115, 119 Goorin, Laura 141 Gosepath, Stefan 112 Graham, Peter A. 53, 55, 61, 69, 84, 119, 174, 175 Gross, James J. 120 Haji, Ishtiyaque 12, 69, 74, 76 Hanser, Matthew 64 Haviland-Jones, Jeannette M. 17 Henning, Tim 53 Heuer, Ulrike 64 Hieronymi, Pamela 12, 34, 36, 55, 69, 95 Holroyd, Jules 68, 72, 142 Hughes, Paul M. 46, 158 Hurley, Elisa A. 14, 47 Iser, Mattias 146 Jackson, Frank 53 Jacobson, Daniel 22, 28, 29, 32, 55, 95 Kane, Robert 183 Keil, Geert 75 Kekes, John 13, 40 Kelly, Erin 106, 119 Khoury, Andrew C. 52, 58 Kiesewetter, Benjamin 53, 60, 95 Kim, Jong-un 83
200 | Namensregister
King, Martin Luther Jr. 115 King, Matt 55, 95, 108, 156, 175 Kolodny, Niko 62 Landweer, Hilge 20, 21 Lazarus, Richard S. 21 Lemerise, Elizabeth A. 21 Levy, Neil 183 Lewis, Michael 17 Liberto, Hallie Rose 57 Lillehammer, Hallvard 62, 99 Macnamara, Coleen 14, 47, 52, 57, 135, 159 Maher, Chauncey 174 McGeer, Victoria 15 McKenna, Michael 3, 16, 33, 52, 57, 65, 66, 68, 75, 76, 135, 136, 159, 160, 165, 170, 173, 174 Mill, John Stuart 2, 133 Miller, Daniel 89, 108 Moore, Adam 101 Nagel, Thomas 84, 101 Nance, Ian 57 Nelkin, Dana K. 74, 84, 92, 119, 183 Neuhäuser, Christian 156 Nichols, Shaun 21, 128, 137, 143, 144, 145 Nida-Rümelin, Julian 156 Nielsen, Michael 48 Nietzsche, Friedrich 2 Nussbaum, Martha C. 18, 40, 115 Ochsner, Kevin N. 120 Owens, David 19, 132 Pereboom, Derk 2, 13, 55, 73, 74, 78, 123, 183 Pettigrove, Glen 18, 115, 133, 139, 140, 142 Pickard, Hanna 14, 28, 29, 33, 35 Prinz, Jesse 21, 22, 29, 127, 128, 137, 143, 144 Pust, Joel 5 Ravizza, Mark 2, 153 Roberts, Robert C. 29 Rosen, Gideon 55, 161, 164, 183
Rössler, Beate 101 Russell, Paul 119 Scanlon, T.M. 12, 13, 14, 16, 33, 36, 52, 53, 55, 58, 62, 69, 74, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 90, 91, 94, 123, 134, 157, 183 Scarantino, Andrea 48 Schaffer, Jonathan 161 Schnieder, Benjamin 161 Schroeder, Mark 95, 175 Schulte, Peter 153 Seebaß, Gottfried 157 Seneca, Lucius Annaeus 115 Shabo, Seth 90, 119, 121 Sher, George 13, 39, 40, 43, 68, 79, 183 Shoemaker, David 14, 18, 19, 52, 57, 58, 66, 68, 69, 70, 71, 74, 135, 156 Sie, Maureen 2 Smith, Angela M. 12, 13, 16, 40, 41, 43, 48, 52, 55, 68, 70, 93, 95, 99, 100, 101, 157, 174 Smith, Michael 172 Solomon, Robert C. 17, 31 Springer, Elise 142 Strawson, Peter F. 3, 4, 11, 14, 16, 32, 50, 119, 120, 121, 150, 153, 154, 165, 166, 176, 177, 178, 182 Suikkanen, Jussi 95 Swenson, Philip 183 Talbert, Matthew 16 Tanaka, Koji 115, 133 Teroni, Fabrice 17, 29 Todd, Patrick 176, 182 Tognazzini, Neal A. 11, 13, 14, 39, 46, 65, 94, 99, 156, 163 Trump, Donald 83 Tugendhat, Ernst 2, 33, 132, 133, 149, 150 van Inwagen, Peter 75 Vargas, Manuel 65, 166, 168, 183 Walen, Alec 118, 119 Wallace, R. Jay 2, 3, 4, 14, 32, 47, 55, 79, 81, 89, 90, 91, 93, 107, 108, 109, 110, 111, 113, 115, 119, 121, 122, 123, 124, 125, 130, 131, 150, 153, 154, 159, 160, 161, 162, 165, 168, 170, 173, 174, 175, 177, 178, 179
Namensregister | 201
Warmke, Brandon 46 Watson, Gary 3, 12, 14, 75, 115, 119, 153, 156, 165 Wertheimer, Roger 93, 98, 99, 100 Widerker, David 74
Williams, Bernard 2, 84, 132, 149 Wolf, Susan 14, 79, 134 Wringe, Bill 29 Zimmerman, Michael J. 12, 168
202 | Namensregister