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German Pages 280 [288] Year 1989
Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter 6
Sonderforschungsbereich 227 - Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter Ein interdisziplinäres
Projekt der Universität
Bielefeld
unter Leitung von Prof. Dr. Gürtler Albrecht, Prof. Dr. Peter-Alexis Albrecht, Prof. Dr. Otto Backes, Prof. Dr. Michael Brambring, Prof. Dr. Klaus Hurrelmann, Prof. Dr. Franz-Xaver Kaufmann, Prof. Dr. Friedrich Lösel, Prof. Dr. Hans-Uwe Otto, Prof. Dr. Helmut Skowronek
Uwe Engel • Klaus Hurrelmann
Psychosoziale Belastung im Jugendalter Empirische Befunde zum Einfluß von Familie, Schule und Gleichaltrigengruppe
W G DE
Walter de Gruyter Berlin New York 1989
Uwe Enget Dr. phil., S o n d e r f o r s c h u n g s b e r e i c h 227, Universität Bielefeld, u n d wissenschaftlicher Assistent, Universität D u i s b u r g Klaus
Hurrelmann
Dr. sc. pol., Prof. für Pädagogik u n d Soziologie, Universität Bielefeld
CIP- Titelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Engel, U w e : Psychosoziale B e l a s t u n g im J u g e n d a l t e r : empirische B e f u n d e zum Einfluss von Familie, Schule und G l e i c h a l t r i g e n g r u p p e / U w e Engel ; Klaus H u r r e l m a n n . - Berlin ; New Y o r k : d e G r u y t e r , 1989 ( P r ä v e n t i o n u n d Intervention im Kindes- und J u g e n d a l t e r ; 6) ISBN 3-11-011696-0 N E : H u r r e l m a n n , Klaus:; G T
© G e d r u c k t auf s ä u r e f r e i e m Papier
Copyright © 1989 by Walter de G r u y t e r & C o . , Berlin 30. Alle Rechte, i n s b e s o n d e r e das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Ü b e r s e t z u n g , v o r b e h a l t e n . Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner F o r m (durch P h o t o k o p i e , Mikrofilm oder ein a n d e r e s Verfahren) o h n e schriftliche G e n e h m i g u n g d e s Verlages reproduziert o d e r u n t e r V e r w e n d u n g elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt o d e r verbreitet w e r d e n . D r u c k : W B - D r u c k G m b H , Rieden a m Forggensee. - B i n d u n g : Lüderitz & Bauer G m b H , Berlin 61. U m s c h l a g - E n t w u r f : H a n s b e r n d L i n d e m a n n , Berlin. - Foto: Ullstein-Bilderdienst. Printed in G e r m a n y .
Inhalt Vorwort 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
Lebensbedingungen und Risiken im Jugendalter Soziale Rahmenbedingungen Risiken Der theoretische Bezugsrahmen der Studie Empirische Evidenz Anlage der Studie
2.
Jugendliche im Kontext von Familie, Schule und Gleichaltrigengruppe Aktuelle Probleme aus Sicht der Jugendlichen Wertpräferenzen und die Rolle von Gesundheit, Arbeit und Erfolg Bildungsaspirationen, Schulerfolg und die berufliche Zukunft der Jugendlichen Streit, Meinungsverschiedenheiten und die Bedeutung der Eltern als Bezugspersonen Finanzielle Ressourcen, Freizeit und Freunde
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 5. 5.1
Psychosomatische und emotionale Streß—Symptome Das Streß-Konzept Operationale Definition und Symptomstruktur Die einzelnen Streß — Symptome im quantitativen Vergleich Der Einfluß von Schulform, Bildungshintergrund und Region auf Streß — Symptome Zusammenfassung
1 5 5 8 11 16 26
31 31 33 38 46 54 65 66 69 76 88 97
Selbstwertprobleme Das Selbstwertgefühl als soziales und persönliches Gut Operationale Definition Selbstwertgefühl und schulische Zukunft: Antizipationsunsicherheit und Kausalattributionen Die Bedeutung der Gleichaltrigengruppe Zusammenfassung
99 99 100
Delinquenz und Aggressivität Leistungs— und Erfolgskultur als Ausgangspunkt für abweichendes Verhalten
115
100 106 112
115
5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 6. 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 7. 7.1 7.2 7.3 7.4 8. 8.1 8.2
9. 9.1 9.2 9.3
Die erfaßten Formen abweichenden Verhaltens im Jugendalter Sozialer Hintergrund und das Risiko eingeschränkter Erfolgsaussichten Erfolgsorientierung und das Risiko eingeschränkter Aussichten Statusunsicherheit und die Erfahrung von Ungerechtigkeit Statusdeprivation Zusammenfassung Alkohol , Tabak— und Drogenkonsum Drogenkonsum in der Jugendphase Die Verbreitung des Konsums von Alkoholika, Tabak und anderen Rauschmitteln Alkoholika und Tabak: Wegbereiter illegaler Drogen? Kulturelle Integration: Alter und Geschlechtsrolle Drogenkonsum als Alltagsbewältigung: das Beispiel Schulleistungen Zusammenfassung Belastungspotential, Statusunsicherheit und Konflikte im Elternhaus: Eine zusammenfassende Analyse Einleitung Reaktionen und Risiken im Zusammenhang Streß, Konflikte und Verunsicherung: eine Längsschnitt — betrachtung Zusammenfassung
118 122 137 143 150 155 157 157 159 164 172 177 181
183 183 183 192 199
Interventionstheoretische Schlußfolgerungen Kompetenz— und Netzwerkförderung bei Streß — Symptomen und Selbstwertproblemen Kompetenz— und Netzwerkförderung bei delinquentem Verhalten und Drogenkonsum
201 205
Statistische Modellrechnungen Regressionsanalyse zu Abschnitt 3.4 Lineares und logistisches Modell zu Abschnitt 5.4 Stochastische Modellrechnung zu Abschnitt 5.6
221 221 225 240
211
Anhang: Struktur der Stichprobe
257
Literaturverzeichnis
261
Vorwort
Wir können im folgenden über eine Untersuchung berichten, deren Ziel es ist, eine Bestandsaufnahme und Analyse verschiedener Erscheinungsformen psychosozialer Belastung im Jugendalter vorzunehmen. Eine der zentralen Ausgangsannahmen der Untersuchung besagt, daß sowohl Delinquenz, Kriminalität und Aggressivität als auch psychische Auffälligkeiten und gesundheitliche Beschwerden als Reaktion auf die vielfaltigen Belastungsmomente angesehen werden können, denen sich junge Menschen in modernen Industriegesellschaften täglich ausgesetzt sehen. Wir können die angesprochenen Symptome auch als Ausdruck der psychosozialen "Kosten" werten, die die heutige Lebensweise und der Lebensstil in Industriegesellschaften mit sich bringen. Aggressives Verhalten, Tabak— und Alkoholkonsum, der Gebrauch illegaler Drogen, psychosomatische Beschwerden bzw. gesundheitliche Beeinträchtigungen sind letztlich als Reaktionen auf bestimmte soziale Lebensbedingungen zu verstehen. In der einschlägigen Literatur wird viel über die Frage diskutiert, ob in heutigen Gesellschaften ein höherer Grad von gesundheitlicher Beeinträchtigung (in einem weiten Wortsinn) vorherrscht als etwa vor ein oder zwei Jahrzehnten. Die Frage ist mit empirisch abgesicherten Untersuchungsergebnissen kaum zu belegen. Viele Indizien sprechen aber dafür, daß die Lebenssituation von Jugendlichen, grob gesprochen also von Menschen im zweiten Lebensjahrzent, heute sehr spannungsreich und konfliktgeladen ist. Das gilt für die Sektoren der Schul— und Berufsbildung, der Kontakte zu den Eltern, der Eingliederung in die Gleichaltrigengruppe und auch für die Bewältigung der vielfaltigen "Stimulationen" im Freizeitbereich, am Konsumwarenmarkt und im Mediensektor. Unsere Untersuchung ermöglicht eine nüchterne Bestandsaufnahme, die zuverlässige Verbreitungsdaten an die Hand gibt. Im analytischen Teil suchen wir nach Indizien dafür, ob die schulischen, familienbezogenen, partnerschaftlichen und kommunikativen "Spannungspotentiale", mit denen Jugendliche heute konfrontiert sind, tatsächlich zu spezifischen Belastungen in Familie, Schule, Gleichaltrigengruppe und Freizeit führen, wie sie sich ausprägen und in welche Reaktionsformen sie schließlich einmünden. Zu fragen wird auch sein, welche Rolle dabei die Schule als eine heute sehr wichtig gewordene Institution im Alltag von Jugendlichen spielt.
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Die Untersuchungsinstrumente, die in diese Studie einbezogen sind, stützen sich zum Teil auf altbewährte Verfahren, teilweise sind sie von uns neu entwickelt worden. Wir beziehen in die Untersuchung vier Indikatoren für psychosoziale Reaktionsformen ein: 1. Psychosomatische und emotionale Streß —Symptome. Hier werden beispielsweise Symptome wie Schwindelgefühle, starkes Herzklopfen, Übelkeit, Schlaflosigkeit, Händezittern, Appetitlosigkeit sowie Gefühle von Hilflosigkeit, Überflüssigkeit, Einsamkeit, Traurigkeit und Sinnlosigkeit etc. einbezogen. 2. Selbstwertprobleme. Gestützt auf ein klassisches Instrumentarium wird zu prüfen sein, ob bzw. inwieweit das Selbstwertgefühl von Jugendlichen in Belastungssituationen beeinträchtigt ist. 3. Sozial abweichendes Verhalten in Form von Delinquenz, Aggressivität oder Kriminalität. Gefragt wird nach Ereignissen, deren Spektrum von leichten Regelverletzungen (z.B. die Schule einen ganzen Tag schwänzen) über Sachbeschädigung und leichtere Aggressionen gegen Personen bis hin zu kriminellen Delikten (z.B. Einbruch, Betrug usw.) reicht. 4. Drogenkonsum. Hier wird die Häufigkeit und Intensität von Tabak— und Alkoholgebrauch ebenso erfaßt wie der Gebrauch illegaler Drogen. Auch wurden in die Studie Fragen zum Arzneimittelkonsum einbezogen. Auf diese vier Symptomkomplexe gehen wir in den Kapiteln 3 — 6 der Reihe nach ausführlich ein. Streß — Symptome und Selbstwertprobleme werden dabei als typischerweise "innengerichtete", sozial abweichendes Verhalten und Drogenkonsum als eher "außengerichtete" Formen der Verarbeitung von Problembelastungen gewertet. In Kapitel 7 wird eine Gesamtanalyse vorgelegt, in die alle vier Symptomgruppen eingehen. Die Kapitel 3 — 7 bilden damit den empirischen Kern unserer Darstellung, ergänzt durch Modellrechnungen in Kapitel 9. In Kapitel 1 gehen wir zuvor auf theoretische und konzeptionelle Grundsatzfragen der Jugendforschung im hier zur Diskussion stehenden Teilbereich ein. In Kapitel 2 werden überblicksartig wichtige deskriptive Befunde aus unserer Studie unterbreitet. Kapitel 8 geht abschließend auf interventionstheoretische Schlußfolgerungen ein. Die Untersuchung ist so angelegt, daß sie eine repräsentative Auswahl von Jugendlichen im größten Bundesland Nordrhein — Westfalen einbezieht. Durch die Anlage der Studie kann die Verbreitung verschiedener psychosozialer Reak-
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tionsweisen bei Jugendlichen in der Altersgruppe von hauptsächlich ca. 12 — bis 16jährigen erfaßt werden. Für die Stichprobe wurde ein mehrstufiger Auswahlplan realisiert, der bewußte Gebietsauswahlen mit Wahrscheinlichkeitsauswahlen innerhalb der Gebiete verbindet. Gestützt auf die Siedlungs— und Raumstruktur der amtlichen Statistik des Landes Nordrhein — Westfalen wurde zunächst aus jeder Gruppe von Regionen (Kreisen bzw. kreisfreien Städten), die unterschiedliche Gebietsformen darstellen, jeweils eine typische Region ausgewählt. Dieses sind ein Ballungsgebiet, und zwar der Raum der Großstadt Essen, ein sogenanntes solitäres Verdichtungsgebiet, der Raum der Mittelstadt Bielefeld, und eine ländliche Region, der Kreis Lippe. Innerhalb dieser Regionen wurden anschließend nach dem Zufallsprinzip Schulen und innerhalb dieser Schulen Schulklassen ausgewählt. In die erste Befragung im Spätherbst 1986 waren insgesamt rd. 90 Schulklassen mit über 1.700 Schülerinnen und Schülern einbezogen. Um zuverlässsige Informationen über die Entwicklung von Belastungsformen im Zeitablauf zu erhalten, wurde die Befragung im Jahresabstand im Spätherbst 1987 wiederholt. In diese Wiederholungsbefragung wurden genau die gleichen Schülerinnen und Schüler einbezogen, die schon bei der Erstbefragung teilgenommen hatten. Es handelt sich hier um eine Panel —Untersuchung, also die wiederholte Befragung der gleichen Population. Wir werden im folgenden nur über die ersten zwei Erhebungen berichten; die Untersuchung wird aber als Längsschnittstudie noch weitergeführt. Die Untersuchungsergebnisse bestätigen sehr weitgehend die zentrale theoretische Annahme der Studie: Jugendliche reagieren auf Risikokonstellationen in ihren Lebensbedingungen in der Tat mit verschiedenen Symptomen, die auf psychosoziale Belastung schließen lassen, wobei unterschiedliche Ausgangsbedingungen die eine oder andere Reaktionsform begünstigen können. Als zentrale "Risikofaktoren" erwiesen sich beispielsweise überzogene elterliche Erwartungen an die schulische Leistungsfähigkeit ihrer Kinder, starke Beanspruchung durch schulische Anforderungen, tatsächlich aufgetretenes Schulversagen, die Struktur des Freundeskreises oder Deprivationserfahrungen im Vergleich zu Freunden und gleichaltrigen Bezugspersonen. In vielen Fällen sind dabei an der Entstehung psychosozialer Reaktionen soziale Spannungen im Elternhaus beteiligt — der neben der Wahrnehmung einer unsicheren schulischen und beruflichen Zukunft zweite Faktor, der in der Genese psychosozialer Belastungen eine zentrale Rolle übernimmt.
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Die vorliegende Untersuchung kann neben ihrer in erster Linie jugendsoziologischen Orientierung auch als Beitrag zur " Gesundheitsforschung" in dem Sinne verstanden werden, daß Ausgangsbedingungen von Gesundheit im Jugendalter untersucht werden. Als 'Gesundheit' ließe sich hierbei derjenige Zustand einer Person kennzeichnen, der gegeben ist, wenn diese Person sich in den verschiedenen Bereichen ihrer Entwicklung in Einklang mit den eigenen Möglichkeiten und Zielvorstellungen und den jeweils gegebenen äußeren Lebensbedingungen befindet. Die Studie, über die wir hier berichten können, wäre ohne die große Bereitschaft der Schülerinnen und Schüler, sich an der Befragung zu beteiligen, nicht möglich gewesen. Dafür möchten wir uns bei allen von ihnen herzlich bedanken. Auch den Schulen, an die wir uns dank der Genehmigung durch den Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen mit unserem Forschungsanliegen wenden konnten, und die uns über die ganze Zeit so tatkräftig unterstützt haben, sind wir sehr dankbar. Die vorliegende Studie ist in verschiedenen Hinsichten ein Produkt kollektiver Anstrengungen. So konnten wir bei der Konstruktion des Erhebungsinstrumentes auf Erfahrungen aufbauen, die Anfang der achtziger Jahre in einer im Raum Hannover und Leer von Ulf Wuggenig und Uwe Engel durchgeführten Befragung von Jugendlichen gewonnen werden konnten, und auch einzelne Fragen dieser Studie übernehmen; Ulf Wuggenig, Universität Lüneburg, möchten wir zudem für einige sehr konstruktive Hinweise zu Entwurfsteilen unseres Erhebungsinstrumentes danken. Wichtige Anregungen verdanken wir den Forschungsgruppen um Rainer Silbereisen und Jürgen Zinnecker. Um überhaupt ein größeres Forschungsvorhaben realisieren zu können, ist es praktisch unumgänglich, daß sich die vorhandene Arbeit auf mehrere Schultern verteilt. Die Studie, über die wir hier berichten, ist in diesem Sinne durch die gemeinsame Anstrengung eines kleinen Teams von wissenschaftlichen und studentischen Mitarbeitern entstanden. Wir möchten uns bei allen Mitarbeitern im Projekt bedanken, allen voran Birgit Holler und Elisabeth Nordlohne, die als wissenschaftliche Mitarbeiterinnen an anderen Fragestellungen der gleichen Studie arbeiten und uns mit Hinweisen und Informationen aus ihrer Arbeit sehr geholfen haben. Bielefeld, im März 1989 Uwe Engel Klaus Hurrelmann
1.
Lebensbedingungen und Risiken im Jugendalter
1.1
Soziale Rahmenbedingungen
Wie sozialhistorische Studien zeigen, ist die Jugend als spezifische und eigenständige Phase im menschlichen Lebenslauf erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entstanden und eng mit den ökonomischen, politischen und kulturellen Wandlungen verbunden, die der Prozeß der Industrialisierung und mit ihm die Etablierung eines allgemeinen Schulsystems mit sich brachten (Hurrelmann, Rosewitz und Wolf 1985). Seitdem hat sich die Phase des Übergangs vom Kind zum Erwachsenen strukturell grundlegend gewandelt. Einige aktuelle Merkmale dieser 'Statuspassage' verdienen besondere Beachtung, wenn es — wie in der vorliegenden Arbeit — um eine Analyse psychosozialer Belastungsfaktoren im Jugendalter geht.
Jugend und Bildungskapital In allen westlichen Industriegesellschaften ist die Bedeutung der schulischen und beruflichen Bildung in den letzten Jahrzehnten deutlich gewachsen: Bildungsinvestitionen dienen nicht nur dazu, aus gesamtgesellschaftlicher Sicht hohe Standards im Bereich von Produktivität, technologischer Entwicklung und infolgedessen kollektiven Wohlstands zu sichern. 'Bildungsgüter' zu erwerben liegt nicht nur im gesamtgesellschafdichen Interesse, sondern auch in dem jedes einzelnen Gesellschaftsmitglieds, will es an der kollektiv erwirtschafteten Prosperität teilhaben. In wettbewerbsorientierten Leistungsgesellschaften bedeutet das für den Einzelnen in erster Linie, die qualifikationsbezogenen Voraussetzungen zu erwerben, die ihn oder sie in die Lage versetzen, mit realistischen Aussichten auf Erfolg in den Wettbewerb um die Positionen einzutreten, die Vorteile in Hinblick auf die durch sie eröffneten Gratifikationen bieten. Auch wenn Positionen keineswegs nur nach Leistungsgesichtspunkten besetzt werden, sondern vielfach leistungsfremde Kriterien zum Tragen kommen, werden positionsadäquate Leistungs— bzw. Eignungsvoraussetzungen doch zumindest zu Legitimationszwecken benötigt. Eine Gesellschaft, die Chancengleichheit und faire Auswahl auf ihre Fahnen geschrieben hat, muß den Schein der Umsetzung dieser Prinzipien auch dann wahren, wenn in vielen Fällen letztlich nicht die Qualifikation des Bewerbers, sondern andere Kriterien den Ausschlag geben, die angestrebte Position zu erhalten, seien es gute "Beziehungen" oder einfach der Umstand, den "passenden" sozialen Hintergrund mitzubringen. Über ein positionsadäquates Bildungszertifikat zu verfügen, wird im allgemeinen aber zumindest als notwendige, wenngleich nicht hinreichende Bedingung dafür
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Lebensbedingungen und Risiken im Jugendalter
anzusehen sein, in den Augen der relevanten Entscheidungsträger für eine gegebene Stelle akzeptiert zu werden. Es liegt entsprechend im wohlverstandenen Eigeninteresse jedes Einzelnen, Qualifikationsvoraussetzungen zu erwerben, die hinsichtlich der auf sie realistischerweise aufbaubaren Erwerbs— und Lebenschancen gute Aussichten eröffnen. Aus den im Zuge der Bildungsexpansion verbesserten Möglichkeiten, 'Bildungskapital' zu erwerben, ergibt sich allerdings auch ein paradoxer Effekt insofern, als infolge der Aufhebung von institutionellen und motivationalen Bildungsschranken die Konkurrenz innerhalb des Gesamtsystems zunimmt, mithin auch der Anteil derer steigt, die in diesem Wettbewerb als "Verlierer" frustriert werden: In einem System, in dem beispielsweise 3 x 10 Personen in drei getrennten Teilen des Systems im Wettbewerb um ein bestimmtes Bildungsziel stehen, beträgt die Anzahl der Mitbewerber jeweils neun; fallen die internen Schranken aber institutionell oder infolge eines Verlustes einzelner Bildungsziele an Attraktivität in den Augen der ursprünglichen Aspiranten, so daß sich dieselbe Zahl von Bewerbern auf nurmehr eines der drei Bildungsziele konzentriert, dann erhöht sich für jeden Kandidaten auch die Anzahl der Mitbewerber entsprechend auf (im Beispiel) 29. Ändern sich dabei im Laufe der Zeit zwar die Bildungsaspirationen, also die angestrebten Bildungsziele, nicht aber die Voraussetzungen, die die Bewerber gewissermaßen von zu Hause in die Schule mitbringen, so wird sich die anfängliche Verteilung von Bildungsvoraussetzungen auch unter Bedingungen eines in vertikaler Hinsicht erheblich durchlässigeren Systems in der Verteilung der Bildungsabschlüsse widerspiegeln. Allerdings wird sich jetzt der Anteil kollektiv frustrierter Aspiranten erhöhen, die an ihren Zielen gemessen nicht die entsprechend darauf hinführende Schulform erreicht haben, und/oder die innerhalb der Klassengemeinschaften in spürbarer Weise mit dem Risiko konfrontiert sind, an den gestellten Anforderungen zu scheitern. Die Etablierung formal gleicher Bedingungen, eine geforderte Leistung zu erbringen, wird das Kriterium effektiv gleicher Chancen dabei nur dann erfüllen, wenn alle Kandidaten auch unter effektiv gleichen Bedingungen gestartet sind. Daß jedoch als Ergebnis auch der vorliegenden Studie festzuhalten ist, daß die besuchte Schulform weitgehend dem Bildungshintergrund in der Herkunftsfamilie entspricht, sich also sowohl günstige als auch ungünstige Voraussetzungen über die Aussichten, die die jeweils besuchte Schulform realistischerweise bieten kann, auch unter Bedingungen formaler Chancengleichheit weitgehend fortpflanzen, ist als deutlicher Anhaltspunkt für diese ungleiche Anfangsverteilung zu verstehen.
Soziale Rahmenbedingungen
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Gehobene Bildungsgüter sind dabei in dem Sinne strukturell knapp, daß das Bildungssystem seinem Wesen nach eine Institution ist, die ihre Mitglieder in eine nach definierten Kriterien bestimmte Rangfolge zu bringen hat. Diese Funktion würde sie verlieren, kämen im Ergebnis nur 'gleiche Leistungen' heraus. Sie wäre unter dieser Voraussetzung auch ein wenig taugliches Instrument, bildungsbezogene Eignung für Positionen eines hierarchisch strukturierten Beschäftigungssystems zu bescheinigen. Gute oder ausgezeichnete Leistungen gewinnen ihre besondere Bedeutung letztlich nur im Vergleich mit weniger guten Leistungen und werden daher strukturell stets ein knappes Gut bleiben (oder aufhören, als besonderes Gut zu existieren). In bestimmter Weise ist dieser Effekt auch zu beobachten. Denn in dem Maße, in dem im Zuge von Bildungswerbung und — expansion sich die schulischen Voraussetzungen generell verbessern und zu einem erhöhten Anteil von Bewerbern mit gehobenen Ausbildungsabschlüssen führen, entwerten sich diese Abschlüsse genau dadurch, daß sie weniger als noch vor Jahren ein im Bewerberkreis seltenes Ereignis darstellen und infolgedessen keine Garantie mehr dafür darstellen, einen qualifikationsadäquaten Arbeitsplatz zu finden. Werden diese Vorgänge am Ausbildungsstellen— und Arbeitsmarkt in Betracht gezogen, so wäre es sowohl für den Jugendlichen als auch für dessen Eltern ein riskantes Unternehmen, auf den Erwerb möglichen Bildungskapitals zu verzichten, bedeuten eingeschränkte Zukunftsaussichten des Jugendlichen unter Umständen doch auch, den sozialen Status der Herkunftsfamilie dadurch zu verspielen, daß er in der Generationenfolge nicht mehr reproduziert werden kann.
Eltern und Gleichaltrige Da es ein grundlegendes Kennzeichen der Jugendphase ist, im organisierten Wettbewerb Leistungsvermögen und — bereitschaft unter Beweis zu stellen und auf diese Weise auch den Grundstein der anschließenden berufsbezogenen Karriere zu legen, sind die Jugendlichen gehalten, sich den diesen Lebensabschnitt tragenden Rollenerwartungen entsprechend zu verhalten. Das bedeutet jedoch nicht nur, auf längere Zeit permanent Leistungsanforderungen parieren zu müssen, sondern auch eine vielfach verlängerte materielle Abhängigkeit vom Elternhaus. Denn den Erwartungen nach "passenden" schulischen und berufsbezogenen Leistungen ist oft nur durch eine längere Verweildauer im Bildungssystem zu entsprechen, und der Übergang von der Schule in den Beruf gestaltet sich nicht selten als schwierig bis unmöglich. Die Herkunftsfamilie ist dabei de facto auch insofern eine sehr wirksame Instanz, als sie der Hauptrepräsentant der an den Jugendlichen gerichteten qualifikationsbezogenen Karriereerwartungen ist und sich deswegen ergebende Auseinandersetzungen daher
Lebensbedingungen und Risiken im Jugendalter
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auch vorrangig in diesem sozialen Rahmen abspielen. Unter Umständen schwierig gestaltet sich das Verhältnis des Jugendlichen zu seinen Eltern aber noch aus zwei weiteren Gründen. Zum ersten ist die Familie unter den herrschenden wettbewerbsorientierten Verhältnissen selbst ökonomischen und sozialen Risiken ausgesetzt, die das Familienleben belasten können (z.B. Arbeitslosigkeit, Scheidung), und zum zweiten ist der gewachsene Einfluß der Gleichaltrigengruppe und der mit ihr verbundenen Jugend— und Freizeitkultur in Betracht zu ziehen. Ist der Handlungsspielraum des Jugendlichen im Kontext von Schule und Familie im allgemeinen eng begrenzt, stellt die Gleichaltrigengruppe schon insofern einen bedeutsamen Faktor in der Entwicklung des Jugendlichen dar, als sie die aktive und erprobende Auseinandersetzung unter Gleichgestellten ermöglicht. Die Gleichaltrigengruppe bietet den Jugendlichen ein Forum zur Selbstdarstellung und Entfaltung eines eigenständigen Lebensstiles (Youniss, 1980; Kandel, 1986), in dessen Rahmen die Auseinandersetzung mit kulturellen Inhalten erfolgt, Wertvorstellungen geformt werden und auch ein aktives Einüben der stark durch Werbung und Massenmedien suggerierten jugendbezogenen Stereotype, Leitbilder und sozialen Rollen stattfinden kann. Aktive Partizipation am sozialen Geschehen der Gleichaltrigengruppe eröffnet den Jugendlichen persönlichkeitsbildende Entfaltungschancen, die sie im Verhältais zu den Eltern nicht finden können. Der Kontakt zu Gleichaltrigen ist nicht nur wichtig, sondern seiner grundsätzlichen Qualität als sozialem Austausch unter Gleichgestellten nach auch nicht ersetzbar.
1.2
Risiken
In einer Gesellschaft, in der die berufliche Zukunft stark von dem Bildungskapital abhängt, das in der Jugend im Rahmen organisierter Lernprozesse erworben und durch entsprechende Zertifikate nachgewiesen wird, kann jeder Rückschlag in der Schullaufbahn die schulische und berufliche Perspektive des Jugendlichen nachhaltig verunsichern (Hurrelmann und Wolf 1986, S. 153). Da die Bildungslaufbahn wesentlich über die später erreichbare berufliche Position mitentscheidet, ist in der Generationenfolge die Möglichkeit sozialen Aufstiegs ebenso gegeben wie die Gefahr sozialen Abstiegs. Statusunsicherheit (Kreutz, 1974) ist deshalb auch ein grundlegendes Kennzeichen der Jugendphase, das sich subjektiv in erster Linie in einem verunsicherten Zukunftsbezug der Jugendlichen niederschlagen wird.
Risiken
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Die schulische und berufliche Zukunft Damit ist verstärkt im Falle drohender oder schon erfolgter schulischer Zurückstufungen sowie nicht erwartungsgemäßer Leistungen, aber auch dann zu rechnen, wenn die Bildungskarriere des Jugendlichen — strukturell betrachtet — die Bildungsposition der Eltern verfehlen oder übersteigen wird. Darin, aber auch in dem anhaltenden Trend zum Erwerb gehobener Bildungszertifikate, liegen besondere psychosoziale Risiken: So erhöht sich bei höher geschraubten Bildungszielen, aber nicht entsprechend optimierten Voraussetzungen, diese Ziele auch realistischerweise erreichen zu können, der Anteil enttäuschter Aspiranten und infolgedessen der Anteil von Jugendlichen, der darauf entsprechend reagiert. Der (per Schulformwahl eingeleitete) soziale Aufstieg kann wegen des mit diesem Weg unter Umständen verbundenen Bezugsgruppenwechsels und Wertekonflikts auf seiten des Jugendlichen, aber auch in der Familie, Belastungsreaktionen hervorrufen. Eine wichtige Rahmenbedingung ist dabei auch in grundlegenden sozialen Werten zu sehen. An bestimmten Rollenerwartungen zu scheitern, ist nur für denjenigen eine enttäuschende Erfahrung, der diese Erwartungen teilt. Besonderes Augenmerk verdient dabei die subjektive Bedeutung von Status und Erfolg unter äußeren Bedingungen kontinuierlichen Wettbewerbs um stets knappe soziale Güter und einer Kultur, in der gerade individualistische Ziele sehr hoch im Kurs stehen. Die Verfolgung selbst weithin geteilter Ziele kann aber durchaus auch unerwünschte Nebenwirkungen hervorbringen. Dabei zählt das beachtliche Potential destruktiver Impulse (Krankheit und Streß; Gewaltbereitschaft), das einzelne Teile der Gesellschaft charakterisiert, zu den vielleicht grundlegendsten "Kosten" der Organisation des sozialen Lebens, wie es heute üblich ist. Denn wie Verhaltensweisen im allgemeinen sind auch destruktive Impulse in gewissem Sinne als durchaus "folgerichtige" Reaktionen auf die äußeren Lebensbedingungen anzusehen, denen die Akteure unterworfen sind.
Soziale Konflikte im Elternhaus Auch wenn die Bedeutung der Elternfamilie als lebensstilprägende Wohn- und Lebensgemeinschaft abgenommen hat, bleibt sie eine zentrale Bezugsgruppe des Jugendlichen nicht zuletzt schon aus dem Grund, daß Jugendliche heute zum Teil sehr lange von der finanziellen Unterstützung des Elternhauses abhängig sind. Zu denken ist auch an die Auseinandersetzungen, die sich in diesem Kontext abspielen können.
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Lebensbedingungen und Risiken im Jugendalter
Das Risiko, an den im Schul— und Ausbildungsbereich gestellten Erwartungen zu scheitern, ist nicht nur für den Jugendlichen, sondern auch für dessen Herkunftsfamilie "kostspielig". Denn im Falle eines Scheiterns an den gestellten Anforderungen verspielt er nicht nur seine eigenen Aussichten, sondern beschwört auch die Gefahr herauf, daß die soziale Stellung der Herkunftsfamilie in der Generationenfolge nicht reproduziert werden wird. Der Schulerfolg des Nachwuchses liegt daher auch im vitalen Interesse der Eltern, die im allgemeinen darauf bedacht sein werden, daß die Schulleistungen der Kinder ihren Erwartungen entsprechen. Ist dies nicht der Fall, werden sie ihren Erwartungen Nachdruck zu verleihen suchen. Die in der Folge zu erwartenden Auseinandersetzungen können jedoch selbst sehr leicht dazu beitragen, den Schulerfolg zu gefährden, schaffen sie doch gerade nicht das soziale Klima, das als günstige Voraussetzung schulischen Erfolgs anzusehen wäre. Leicht kann daher mit solchen Auseinandersetzungen das Gegenteil dessen bewirkt werden, was mit ihnen eigentlich bezweckt war: Es wird Versagen antizipiert und durch eine Auseinandersetzung in dieser Frage versucht, die drohende Situation abzuwenden. Gerade diese soziale Intervention aber ist es, die im Sinne einer Sich — selbst—erfüllenden —Prophezeiung letztlich genau das bewirkt, was es eigentlich verhindern soll: Schul versagen. Wir nehmen an, daß Streit und Meinungsverschiedenheiten im Elternhaus entscheidend an der Entstehung psychosozialer Belastungen im Jugendalter beteiligt sind (vgl. auch Jessor & Jessor, 1977; Vondra, 1986). Auseinandersetzungen entbrennen dabei jedoch nicht nur am Thema Schulleistungen. Konfliktanlässe ergeben sich in den verschiedensten Lebensbereichen des Jugendlichen. Konflikte werden zudem auch als Folge von Belastungen entstehen, denen primär nicht der Jugendliche, sondern dessen Eltern ausgesetzt sind.
Ungefestigte Position in der Gleichaltrigengruppe Eine schwierige Entwicklungsaufgabe im Jugendalter ist es, Anerkennung in der Gleichaltrigengruppe zu finden und über den aktiven sozialen Austausch in der Welt der Gleichaltrigen eine eigene Persönlichkeit auszubilden. Um soziales Ansehen in den Augen der Peers zu gewinnen, wird dabei meist versucht, durch Werbung und Massenmedien suggerierten Leitbildern zu entsprechen, in denen die Vorstellung von "Jugendlich-Sein" üblicherweise eng an Rollenattribute gekoppelt ist, über die nicht zu verfügen eine Quelle beeinträchtigten Selbstwertgefühls und abweichenden Verhaltens ist. Die Gleichaltrigengruppe ist eine für Jugendliche zentrale (komparative und normative) Bezugsgruppe, die nicht nur den Rahmen für eine Vielzahl sensibler sozialer Vergleiche darstellt, sondern dem Jugendlichen auch entscheidenden emotionalen Rückhalt bieten
Der theoretische Bezugsrahmen der Studie
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kann. Psychosoziale Risiken liegen dabei nicht nur in Vergleichen, in denen der Jugendliche ungünstig abschneidet und sich entsprechend depriviert fühlt; sie liegen auch darin begründet, nur eine marginale Stellung in einem ansonsten "lebhaften" sozialen Geschehen der Gruppe einzunehmen. Ist das Gruppengeschehen selbst an devianten Zielsetzungen orientiert, kann allerdings gerade in einer zentralen Position innerhalb der Gruppe ein Risikofaktor gesehen werden: Ist im einen Fall der emotionale Rückhalt des Jugendlichen gefährdet und etwa ein beeinträchtigtes Selbstwertgefühl die Folge, kann dieser Rückhalt im anderen Fall gerade den Weg zur tatkräftigen Verfolgung der (devianten) Gruppenziele bereiten. Eine differentielle Betrachtungsweise erscheint daher unumgänglich.
1.3
Der theoretische Bezugsrahmen der Studie
Zur Erklärung der innen— und außengeleiteten Formen psychosozialer Reaktionen, die im Mittelpunkt der folgenden Analysen stehen, werden wir uns einerseits auf einen im engeren Sinne streßtheoretischen und andererseits einen anomietheoretischen Erklärungsansatz stützen, die im Kern gemeinsame paradigmatische Theorieelemente enthalten. Dieser gemeinsame theoretische Kern liegt dabei in einem 'Konsistenz —' und 'Spannungs —' ('strain'— )Paradigma begründet. Danach entstehen bestimmte Formen psychologischer Spannungen ('strains') durch Verletzung von Konsistenznormen bzw. —Vorstellungen. Dies können die zu einem Zeitpunkt gegebene Inkonsistenz bzw. Inkongruenz zwischen hierarchischen oder nichthierarchischen Statuspositionen (wie in der Statusinkonsistenztheorie bzw. Statusintegrationstheorie untersucht), aber auch Inkonsistenzen zwischen einer oder mehrerer Statusdimensionen sein, die zu zwei oder mehr Zeitpunkten (wie in der Mobilitätsforschung untersucht) existieren, oder als Inkonsistenzen zwischen individuellen und gruppenbezogenen Charakteristika bestehen. Neben solchen 'sozialen' Konsistenztheorien sind noch die aus dem Bereich der Sozialpsychologie kommenden 'kognitiven' Konsistenztheorien zu erwähnen, welche die Annahme enthalten, daß bestimmte subjektiv wahrgenommene Inkonsistenzen psychologische Spannungen hervorrufen. Beispiele wären etwa Heider's strukturelles Balance — Prinzip oder Festinger's Prinzip der kognitiven Dissonanz (vgl. Taylor, 1973; Taylor & Hornung, 1979; Alschuler, 1973; Geschwender, 1967). Auch das zur Erklärung devianten Verhaltens herangezogene anomietheoretische Argument impliziert, wie etwa Johnson (1979, lf.) hervorhebt, eine "strain explanation" in Gestalt der Schlüsselannahme, daß Gesetzes— bzw. Normbrüche (unter Jugendlichen) als Antwort auf Frustration und die Erfah-
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Lebensbedingungen und Risiken im Jugendalter
rung bzw. Antizipation von Mißerfolg anzusehen sind. Der Druck, von akzeptablen Verhaltensnormen abzuweichen, wird dabei durch eine Diskrepanz zwischen kulturell induzierten Aspirationen und den realistischerweise gegebenen Aussichten erzeugt. "The individual internalizes the goals of society but must employ illegitimate means to obtain them when legitimate avenues to success are blocked. ... The frustrated, deprived, or strained individual violates society's rules to obtain the commodities that society has convinced him or her are important to obtain" (Johnson 1979, 2). Auch aus handlungstheoretischer Perspektive spielen stresserzeugende Diskrepanzen zwischen Handlungsanforderungen und der Kompetenz, diesen zu begegnen, eine zentrale Rolle (Hurrelmann, 1986). In diesem Bezugsrahmen gehen wir im folgenden von dem Postulat sozial bzw. strukturell induzierbarer Spannungen aus, die sich in der einen oder anderen Form, etwa als gegen die eigene Person gerichtete emotionale oder psychophysiologische Streß — Symptome oder als außengeleitete Formen jugendlicher Delinquenz und Gewaltbereitschaft, entladen können. Dabei wird der Frage nachgegangen, inwieweit spezifische Bildungskonfigurationen in der durch Eltern und ihren Nachwuchs gebildeten sozialen Einheit "Familie" streßerzeugende Bedingungen darstellen. Im besonderen wird es dabei um Bildungsverläufe gehen, die nach erfolgreicher Absolvierung sozialen Auf— oder Abstieg in der Generationenfolge implizieren. Strukturelle Charakteristika werden dabei auch insofern berücksichtigt, als sie auf einen im Zuge der sich vollziehenden 'Bildungsmobilität' unvermeidlichen Bezugsgruppenwechsel und mithin einen potentiellen Risikofaktor verweisen. Aus anomietheoretischer Sicht besitzt die Chancenstruktur, der sich Heranwachsende gegenübersehen, entscheidende Funktionen in der Genese abweichenden Verhaltens. Die Wahrnehmung der sich bietenden Chancen ist jedoch auch insofern von Bedeutung, als sie spezifische Reaktionen auf strukturell streßerzeugende Situationen in ihrer Wahrscheinlichkeit beeinflussen kann. So wird beispielsweise mit Streß — Symptomen als Reaktion auf strukturell spannungsträchtige, da Rangungleichgewichte implizierende Situationen nicht generell, sondern nur im Falle ungünstiger bzw. blockierter Mobilitätschancen gerechnet (z.B. Galtung, 1973; Geschwender, 1967). Ob es letztlich zu intrapunitiven oder extrapunitiven Reaktionen, also etwa zu Streß — Symptomen oder gegen Personen oder Sachen gerichtete Aggression kommt, wird dabei auch von Vorstellungen des Individuums darüber beeinflußt werden, wo die relevanten Ursachen für die strukturell belastende Situation, namentlich ihrer inferioren Statuskomponenten, zu suchen sind. Entsprechend fand auch die Rolle solcher Kausalattributionen im Kontext günstiger bzw. ungünstiger Chancen in der einschlägigen theoretischen wie empirischen Forschung besondere Beachtung
Der theoretische Bezugsrahmen der Studie
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(vgl. z. B. Strasser, 1984; Stryker & Macke, 1978:68f.; Wuggenig, 1985; Wuggenig, 1989; Engel & Wuggenig, 1989). Zur Erklärung von emotionalem Streß und physischer Krankheit schlägt Pearlin (1987) ein Modell vor, das nicht nur eine Reihe sozialer und ökonomischer Rahmenbedingungen berücksichtigt, sondern auch zwischen zwei grundsätzlichen Arten von streßerzeugenden Bedingungen, sogenannten 'Stressoren', unterscheidet. Auf der einen Seite sind dies Stressoren, die durch Ereignisse und Lebensveränderungen entstehen, und auf der anderen Seite Stressoren, die eher in anhaltenden oder häufig wiederkehrenden Problemen lokalisiert sind. Besonderes Gewicht mißt Pearlin diesen chronischen, im Kontext sozialer Rollen auftretenden Spannungen zu, die sich — etwa im Rahmen der Familie — in Form interpersoneller Konflikte entladen. Unter Stressoren werden im besonderen Bedingungen verstanden, die für das Individuum zu einer als solchen empfundenen Bedrohung werden, und deshalb zum Auslöser von Streßreaktionen werden können. Einerseits können diese Reaktionen auf kritischen Lebensereignissen beruhen, wie beispielsweise dem unerwarteten Verlust einer wichtigen Bezugsperson, Trennung oder Scheidung, dem plötzlichen Eintreten einer schweren Krankheit, Arbeitsplatzwechsel oder Verlust des Arbeitsplatzes. Nicht Veränderung und Wandel als solche sind dabei Belastungsfaktoren, entscheidend ist vielmehr die Qualität der Veränderung: Vor allem von unerwünschten und unerwarteten Veränderungen sowie solchen, die außerhalb der eigenen Kontrolle liegen, werden streßerzeugende Effekte erwartet, nicht hingegen von Veränderungen, die im Rahmen gewollter und kontrollierter Übergänge im Lebenszyklus angesiedelt sind. Die zweite Gruppe von Stressoren sind durch chronische Spannungen ("chronic strains") im Rahmen von Rollenkonflikten gegeben. Diese entladen sich in erster Linie in Form interpersoneller Konflikte. Dabei wirken sich chronische Belastungsfaktoren nicht nur im Verhältnis der Eltern untereinander aus, sondern sind auch im Eltern — Kind — Verhältnis angesiedelt. Typische rollenbezogene Konfliktanlässe wären etwa mangelnde Respektierung der elterlichen Autorität, eine als vernachlässigt eingestufte Schularbeit oder zu starke Orientierung an der Gleichaltrigengruppe. Im Unterschied zur psychologischen Forschung betont Pearlin nicht so sehr die belastende Wirkung einer Kumulation verschiedener kritischer Lebensereignisse, sondern hebt mehr die ausstrahlende Wirkung jedes einzelnen gravierenden Ereignisses hervor. Außerdem handele es sich aus soziologischer Perspektive bei zahlreichen Problemen, mit denen Menschen in ihrem Leben konfrontiert werden, nicht um außergewöhnliche, sondern um andauernde Belastungen, die
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Lebensbedingungen und Risiken im Jugendalter
von jedem bewältigt werden müssen, der in gesellschaftlichen Institutionen wie Schule, Arbeitswelt oder Familie seine alltäglichen sozialen Rollen spielt (Pearlin, 1987). Den andauernden körperlichen und nervlichen Belastungen des Alltags wird in Pearlin's Konzeption eine große Bedeutung beigemessen, besonders insoweit, als zentrale Elemente des Rollen Verhaltens eines Individuums betroffen sind. Dauerhafter Konflikt und damit verbundene Frustrationen in Eltern —Kind — Beziehungen oder am schulischen bzw. beruflichen Arbeitsplatz können — manchmal durch das plötzliche Auftreten eines an sich belanglosen Einzelereignisses, manchmal aber auch ohne erkennbaren Anlaß — der Auslöser für Streß — Symptome sein. In diesem Fall ist es nicht das plötzliche Auftreten eines unerwarteten Ereignisses, sondern vielmehr die langandauernde Strapazierung des Selbstwertes, das Streß — Symptomen den Weg bereitet. Ob belastende Lebensumstände zu Streß - Symptomen führen, hängt auch von der Fähigkeit des Individuums ab, mit diesen Belastungen fertig zu werden. Es ist aber zu beachten, daß sich Belastungsfaktoren auch aus institutionellen und sozialen Gegebenheiten einer Gesellschaft ergeben, die nur durch öffentliche Politik oder kollektive Handlungen verändert werden könnten. Mit diesem Hinweis wird der Stellenwert einer Stärkung der Kompetenz des Individuums, adäquat sozialen Risiken zu begegnen, nicht geleugnet, wohl aber relativiert. Abweichendes bzw. auffalliges Verhalten werden in der öffentlichen Diskussion gerne durch Verweis auf persönliche Neigungen und Idiosynkrasien der Betroffenen zu erklären versucht. Im Vordergrund solcher Erklärungsversuche stehen nicht die sozialen Lebensbedingungen, sondern Persönlichkeitsmerkmale, Absichten, Fähigkeiten oder Motivationen, also individuelle, nicht kollektive Eigenschaften, innere, nicht äußere Bedingungen. Auch wenn der Rückgriff auf solche Merkmale in vielen Fällen sehr zutreffend sein kann, sind gegenüber allgemeinen Erklärungsversuchen dieser Art doch Vorbehalte angebracht. So wäre vor allem einzuwenden, daß diese nur unvollständige Erklärungen in dem Sinne liefern können, daß sie die äußeren Bedingungen ausklammern, unter denen sich im allgemeinen diese oder jene Individualmerkmale ausbilden oder unter denen sie ihre subjektive wie soziale Bedeutung gewinnen. Welche Ziele die Menschen haben, worauf sie mehr oder weniger Wert legen, wie sie auf Bedingungen der Außenwelt reagieren und wie sie mit diesen Anforderungen zurecht kommen, ist eine höchst soziale Angelegenheit — abhängig von der Kultur und den sozialen Chancen, die eine Gesellschaft ihren Mitgliedern bietet, den durch die Kultur geformten Zielsetzungen und Werthaltungen entsprechend zu handeln.
Der theoretische Bezugsrahmea der Studie
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Daß in der Art und Weise, wie jemand auf die äußeren Bedingungen seiner Lebenslage reagiert, auch spezifische Merkmale der Person eine wichtige Rolle spielen, ist unstrittig. Unstrittig ist auch, daß das soziale Geschehen vielfach von aktiv handelnden Subjekten gestaltet und geformt wird. Zu bedenken ist nur zweierlei: Erstens ist es eine empirische Frage, wie sehr der Einzelne nur auf äußere Bedingungen reagiert oder diese Bedingungen selbst aktiv gestaltet. Die zu einer solcherart aktiven und interessengeleiteten Handlungsweise erforderlichen persönlichen Ressourcen werden zweitens jedoch genau davon abhängen, daß zunächst hinreichend günstige äußere Umstände ihren Erwerb ermöglichten. Auch die sozialen Chancen zur aktiven Einflußnahme sind in erster Linie von der Position abhängig, die eine Person in der Sozialstruktur einnimmt. Auch wenn diese Beschreibung die tatsächlichen Verhältnisse überzeichnend und simplifizierend widergibt, macht sie doch auf das Risiko aufmerksam, das in einer Individualisierung sozialer Sachverhalte liegt. Damit ist nicht nur das Problem gemeint, im akademischen Sinne nur unvollständige Erklärungen zu bieten, weil die Kette verursachender Faktoren nicht weit genug zurück verfolgt und mithin die Möglichkeit konkomitanter Variation sozialer und personaler Faktoren ausgeklammert wird. 'Individualisierung* bezieht sich hier nicht nur im analytischen Sinne auf Ursachen, sondern im normativen Sinne auf die als relevant anzusehenden Ursachen des zur Disposition stehenden Phänomens. Beispielsweise in Leistungsproblemen einiger weniger Schüler die relevante Ursache für erhöhte Gewaltbereitschaft oder Streßreaktionen zu sehen, ist mit Blick auf die daraus ableitbaren Empfehlungen, wie Gewalt und Streß reduziert werden können, für viele sicher annehmbarer als eine Analyse, die in schulischen Wettbewerbs— und Konkurrenzbedingungen die relevante Ursache sieht. Solange 'soziale Probleme' nur als vereinzelte Ausnahmeerscheinungen eines ansonsten gut funktionierenden Systems gesehen werden, bleibt das System als solches nicht nur legitimiert. Es wird darüberhinaus in der gleichen Weise gestärkt, wie die vereinzelte, aber sozial sichtbare Verletzung einer Regel die Autorität eben dieser Regel stärkt, belohnt die Bestrafung der Regelverletzung doch zugleich die soziale Konformität derer, die sich an die Regel halten. Ein System kann sich höchster Wertschätzung in breitesten Kreisen der Bevölkerung erfreuen, und Devianz mag zugleich ein quantitativ unbedeutendes Randphänomen sein, und doch wäre nicht sicher, ob der Verweis auf den Ausnahmecharakter dieser devianten Verhaltensweisen nicht doch in dem Sinne mißverständlich ist, daß er unterstellt, Devianz und Systemmerkmale hätten nichts miteinander zu tun. Ein System, das vielen Vorteile bietet, kann jedoch durchaus auch soziale Probleme erzeugen. So ist es beispielsweise nicht, wie wir zeigen werden, die Abwendung der Akteure von einem sozialen System, für das Wettbewerb und Erfolg zentrale Werte darstellen, das die Entstehung
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Lebensbedingungen und Risiken im Jugendalter
abweichenden Verhaltens begünstigt; im Gegenteil: Es ist der hohe Grad, in dem diese, das System tragenden Werte von allen geteilt werden, der desintegrative Wirkungen zu entfalten vermag. Die Ansicht, 'im Übel die Wurzel allen Übels' zu sehen, hat neben ihrer Funktion in ideologisch motivierten Diskussionen sicher den Vorzug, die Aufmerksamkeit indirekt auf soziale Mißstände lenken zu können. Im Sinne der oben skizzierten Perspektive ist darüberhinaus jedoch auch aufzuzeigen, in welcher Weise auch und gerade sozial geschätzte Arrangements in der Gesellschaft sozial mißbilligte Resultate produzieren können (Merton & Nisbet, 1971, VII).
1.4
Empirische Evidenz
Studien über die differenzielle Verarbeitung unterschiedlicher sozialer Lebenslagen im Jugendalter konzentrieren sich in der Regel jeweils auf einzelne Erscheinungsformen von auffälligem Verhalten wie z.B. Aggressivität, Kriminalität, Drogenkonsum oder psychosomatische Störungen. Über einige einschlägige Ergebnisse informiert die folgende Übersicht. Weitere Hinweise sind in den Kapiteln zu den einzelnen Schwerpunktthemen zu finden. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß den Studien bzw. amtlichen Statistiken keineswegs dieselben operationalen Definitionen der untersuchten theoretischen Konzepte zugrundegelegt sind. Diese Unterschiede in Anlage und Konzeptionierung der einzelnen Studien erschweren daher auch jeden Versuch eines direkten Vergleichs der durch sie erzielten Ergebnisse. Folglich kann die Zusammenstellung auch nur einen ungefähren Eindruck von den aufgefundenen Zusammenhängen vermitteln.
Psychische und gesundheitliche Beschwerden Es wird geschätzt, daß etwa 10 — 12 % der Kinder im Grundschulalter an psychischen Störungen leiden. Die Häufigkeitsangaben schwanken in den verschiedenen Untersuchungen aber erheblich, da sie auf unterschiedlichen Erfassungsmethoden beruhen (Petri, 1979, 48; Remschmidt, 1984). Im Durchschnitt kann im Jugendalter nach den vorliegenden Studien von einer Prävalenzrate von 15 — 20 Prozent ausgegangen werden, während die Werte für die erwachsene Bevölkerung bei über 20 Prozent anzusetzen sind (Rutter, 1980, 45). Unter den genannten 10 — 20 % Auffalligen verbirgt sich ein schwer quantifizierbarer Anteil nur leicht psychisch beeinträchtigter Menschen, die mit ihren Lebensanforderungen Schwierigkeiten haben und darüber starken Leidensdruck empfinden. Die Gruppe der Auffalligen umfaßt andererseits aber auch einen Kern von
Empirische Evidenz
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ca. 5 %, der im engen Sinn des Wortes psychisch krank und unbedingt behandlungsbedürftig ist. Im Bereich gesundheitlicher Beschwerden hat sich — wie in anderen Altersgruppen — auch bei Jugendlichen in den letzten Jahrzehnten ein starker Rückgang der früher dominierenden Infektionskrankheiten und ein deutlicher Wandel des Krankheitsspektrums von den "akuten" zu den "chronischen" Krankheiten bemerkbar gemacht. Der Rückgang nicht — infektiöser Krankheiten wurde teilweise wieder kompensiert durch die Zunahme der Herz—Kreislaufkrankheiten, Krebskrankheiten und angeborenen Schädigungen (Waller, 1985, 49). Allerdings liegt der Anteil Jugendlicher an ärztlichen Behandlungsfällen sowohl bei akuten als auch bei chronischen Erkrankungen deutlich unter dem Anteil Erwachsener (Vogt, 1985, 131). Für das Kindes— und Jugendalter haben Petermann, Noecker und Bode (1987) eine aktuelle Schätzung der Häufigkeit chronischer Krankheiten vorgelegt. Demnach sind vor allem Bronchitis, Asthma, Herzfehler, Epilepsie, Diabetes und Krebserkrankungen stark verbreitet, mit teilweise steigender Tendenz. Die Autoren schätzen, daß etwa 7 bis 10 % aller Kinder und Jugendlichen von chronischen Krankheiten betroffen sind. Zusätzlich ist von ca. 5 % Seh — , Hör — , Sprach — , Lern— und geistig Behinderten auszugehen. Ebenso sind Erkrankungen, bei denen psychosoziale Konflikte als Krankheitsursache angenommen werden können, sowohl bei Erwachsenen als auch bei Jugendlichen im Zunehmen begriffen. Als spezielle Psychosomatosen des Jugendalters gelten Anorexia nervosa und Bullimie, aber auch Entfremdungssyndrome und Dysmorphophobien, die mit den Veränderungen des körperlichen Erscheinungsbildes im Zusammenhang gesehen werden (Meyer, 1986, 79). Während sich die obigen Angaben auf klinische Populationen beziehen, konnte Vogt (1985) an einer allgemeinen Stichprobe eine große Ähnlichkeit der Beschwerdehäufigkeit und geschlechtsspezifischen Verteilung von Jugendlichen im Alter von 14 bis 19 Jahren und Erwachsenen aufzeigen (Vogt 1985, 139). Eine vergleichende Studie von Brähler (1986) deutet sogar auf eine höhere Beschwerdehäufigkeit in der Altersgruppe der 8— bis 15jährigen gegenüber erwachsenen Populationen hin (Brähler, 1986 , 257). Eine andere Studie verweist auf den Zusammenhang zwischen psychischer Belastung und den familienstrukturellen Merkmalen unvollständiger Familien, emotional angespannter Ehepartnerbeziehungen, inkonsistenten elterlichen Erziehungsstils und mangelnder emotionaler Zuwendung gegenüber den Kindern (Schneewind, Beckmann & Engfer 1983 , 38). Auch diese Befunde sprechen für
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Lebensbedingungen und Risiken im Jugendalter
eine enge empirische Beziehung zwischen der Lebenslage des Individuums und gesundheitlicher Belastung. Wahrscheinlich sind die Belastungen, die sich Kindern und Jugendlichen in sozial und materiell benachteiligten Familien stellen, von ihnen schwieriger zu bewältigen, als das in privilegierteren Familien der Fall ist. Auch Strategie und Form der Bewältigung von Belastungen scheinen in den sozial unterprivilegierten Familien weniger effizient zu sein. In eher sozial privilegierten Familien mit insgesamt positiven Erfahrungen beim Umgang mit schwierigen Lebensaufgaben läßt sich eine größere Widerstandskraft gegen Gefahrdungen der seelischen Gesundheit und der sozialen Entwicklung ihrer Mitglieder beobachten. Ein weiterer Grund für die unterschiedliche Art der Verarbeitung von Belastungen kann darin gesehen werden, daß Angehörige der sozial privilegierten Familien über mehr ökonomische Ressourcen und mehr Macht und Einfluß verfügen, mittels derer sie Belastungssituationen besser bewältigen oder auf andere Befriedigungsmöglichkeiten ausweichen können (Wirsching & Stierlin, 1982). Zwischen sozialer Schicht und Gesundheitsbelastung ist von einer inversen Beziehung auszugehen, wie beispielsweise Waltz (1981, 86—95) in einem Review dieses Forschungsfeldes zeigen kann. Danach ist mit umso höheren Mortalitäts— und Morbiditätsraten zu rechnen, je niedriger der soziale Status ist. Beispielsweise ist der Anteil der Mitglieder einer sozialen Schicht, die an einer behindernden langandauernden Krankheit leiden, an der 'Spitze' der vertikalen Skala am geringsten und am 'Boden' mit Abstand am höchsten. Auch mentale Gesundheitsrisiken konzentrieren sich in den unteren Sozialklassen (vgl. z.B. Wheaton, 1978; Eaton, 1974; Bräutigam & Christian, 1986, 35f.). Die erhöhte Krankheitsanfälligkeit in den unteren sozialen Klassen wird dabei einerseits auf einen erhöhten Anteil von Stressoren, wie beispielsweise einem chronisch höheren Arbeitslosigkeitsrisiko, aber auch darauf zurückgeführt, daß dort im allgemeinen weniger persönliche (z.B. Selbstwertgefühl) oder soziale bzw. materielle Ressourcen zur Verfügung stehen, die Belastungen zu bewältigen. Mangelnde soziale Unterstützung, schlechter Informationsstand über mögliche Risiken, aber auch eingeschränkte finanzielle Ressourcen können hier als Beispiele angeführt werden. Darüberhinaus konzentrierte sich die empirische Forschung darauf, von einer multidimensionalen Konzeption sozialer Schichtung ausgehend zu prüfen, unter welchen Bedingungen inkonsistente Status— bzw. Rangkonfigurationen Risikofaktoren für Streß und Krankheit darstellen, und konnte auch zahlreiche Belege der Wirksamkeit statusinkonsistenter Konfigurationen liefern (Jackson, 1962; House & Harkins, 1975; Horan & Gray, 1974; Shekelle, 1976; Hornung,
Empirische Evidenz
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1977; Hornung, 1980; Hornung & McCullough, 1981; Dressler, 1988; Engel & Wuggenig, 1989). Auch ließen sich Anhaltspunkte auf die Wirksamkeit sozialer Mobilität, beruflicher Aspirationen und der Wahrnehmung blockierter Aufstiegschancen finden (Himmelweit & Turner, 1982). Die Stellung im Beruf und damit im gesellschaftlichen Produktionsprozeß führt zu einem unterschiedlichen Risiko für Sterblichkeit und Erkrankungshäufigkeit. Bei den Angehörigen von Arbeiterfamilien wurde in vergleichenden Untersuchungen ein erheblich größerer Grad an Morbidität (Erkrankungshäufigkeit bezogen auf 100 000 Personen, hier der gesamten Arbeiterbevölkerung) und Mortalität (Sterblichkeit bezogen auf 100 000) festgestellt als in Angestellten — , Beamten— und Selbständigenfamilien. Diese Unterschiede zwischen den Berufsgruppen sind in den letzten Jahrzehnten kleiner geworden — was die Angleichung der Arbeits— und Lebensbedingungen widerspiegelt — aber sie bestehen weiterhin (Antonovsky, 1979, 100). Auch heute noch ist z.B. die Wohnungsversorgung der unteren Einkommensgruppen sowohl quantitativ (nach Wohnfläche und Belegungsdichte) als auch qualitativ (nach Ausstattung mit Bad/WC, Heizung, Garten, Balkon usw.) schlechter als in den oberen Berufs— und Einkommengruppen. Meist ist auch die Ausstattung mit infrastrukturellen Einrichtungen (Kindergärten, Schulen, Ärzte, Dienstleistungen usw.) in diesen Wohngebieten schlechter und Umweltbelastungen (Lärm, Luftverschmutzung) und Verkehrsunsicherheit sind größer. Insofern sind ungleiche Lebenschancen nach wie vor die Grundursache für ungleiche Gesundheits— und Sterblichkeitsrisiken, wie sie in den Unterschieden bei Morbidität und Mortalität zum Ausdruck kommen. Die Vielfalt der Anforderungen im Jugendalter erfordert aktive Anpassungsleistungen in verschiedenen Bereichen. So kommen zum Beispiel bei dem im Jugendalter relativ häufigen Konzentrations— und Leistungsstörungen verschiedenartige Defizite über einen längeren Zeitraum zusammen und bewirken auf diese Weise chronische Überforderungen. Überhaupt kommt dem schulischen Leistungsstand im Selbstbild Jugendlicher zentrale Bedeutung zu (Lötz, 1984; Hurrelmann & Wolf, 1986). Auch die Einschätzung des Gesunheitszustandes erwies sich bei guten schulischen Leistungen als besser (Mechanic & Hansell, 1987).
Delinquentes Verhalten und Drogenkonsum Wird die Betrachtung zunächst auf den engeren Kreis strafrechtlich sanktionierter Jugenddelinquenz, also auf verurteilte Jugendkriminalität beschränkt, so
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Lebensbedingungen und Risiken im Jugendalter
gestattet die aktuelle Strafverfolgungsstatistik eine Bestandsaufnahme im längerfristigen Vergleich der Entwicklungen unter 'Jugendlichen' (14— unter 18 — Jährige), 'Heranwachsenden' (18— unter 21—Jährige) und 'Erwachsenen' (21 — Jährige und älter) in der Bundesrepublik Deutschland (Statistisches Bundesamt, 1988, 8 - 9). Gemessen an der Zahl der Verurteilten je 100.000 Einwohner der entsprechenden Alterskategorie im Bundesgebiet ist danach für 1986 festzustellen, daß in diesem Jahr umgerechnet rund 1,5 Prozent aller Jugendlichen, 2,7 Prozent aller Heranwachsenden und 1,2 Prozent aller Erwachsenen wegen Straftaten (inclusive Verkehrsdelikten) verurteilt wurden, wobei die entsprechenden Zahlen für Nordrhein — Westfalen leicht unter denen des Bundesgebietes liegen (vgl. Statistisches Bundesamt, 1988, 13). Heranwachsende haben mithin die höchste und Erwachsene die niedrigste Verurteilungsquote, wenn die Zahl der Verurteilten auf den jeweiligen Bevölkerungsanteil bezogen wird — ein Bild, das sich auf insgesamt niedrigerem Niveau auch dann ergibt, wenn nur Straftaten ohne solche im Straßenverkehr in die Berechnung eingehen: Verurteilt wurden danach 1986 1,2 Prozent der Jugendlichen, 1,7 Prozent der Heranwachsenden und 0,8 Prozent der Erwachsenen. Somit haben Jugendliche und Heranwachsende ein höheres Verurteilungsrisiko als Erwachsene, stellen jedoch aufgrund des unterschiedlichen Umfanges der einzelnen Bevölkerungsanteile zusammen nur rund ein Fünftel aller Verurteilten, das waren für 1986 insgesamt n = 699.402 bzw. (excl. Verkehrsdelikte) n = 441.713 Personen. Trotz der absolut wie relativ rückläufigen Entwicklung im Vergleich der Jahre 1983 und 1986 zeigt die Statistik für die beiden jüngeren Alterskategorien einen relativen Zuwachs im längerfristigen Trend der Verurteiltenziffern der letzten 30 Jahre, der allerdings nur bei den Jugendlichen klar in Erscheinung tritt. Da die Entwicklung der drei Quoten weder streng monoton noch semimonoton verläuft, erscheint es am sinnvollsten, die relative Veränderung in den Verurteiltenziffern jeweils gegenüber der letzten Vor —fünf— bzw. Vor —drei — Jahresrate zu bestimmen, um eine ungefähre Schätzung des längerfristigen Trends schließlich per Saldo durch einfache arithmetische Mittelung der (k = 7) einzelnen prozentualen Veränderungen erhalten zu können. Tabelle 1.1 weist das Ergebnis dieser Berechnungen aus. Wie die Tabelle zeigt, ist der relative Zuwachs mit durchschnittlich 11 Prozent bei den Jugendlichen am höchsten, mit 2,4 Prozent bei den Heranwachsenden deutlich geringer und mit einem Prozentpunkt unter den Erwachsenen am schwächsten ausgeprägt, wenn die Verkehrsdelikte ausgeklammert beiben. Ähnliche Relationen ergeben sich, wenn in die Berechnungen alle Straftaten inclusive dieser Delikte eingehen. Dann beträgt der durchschnittliche Zuwachs im Zeitraum von 1955 - 1986 bei Jugendlichen 9,5 Prozent und bei Heran-
Empirische
Evidenz
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wachsenden einen Prozentpunkt; für Erwachsende ergibt sich in dieser Zeit ein Minus — Wachstum von 0,6 Prozentpunkten.
Tabelle 1.1
Verurteilte je einhunderttausend Einwohner der betreffenden Alterskategorie 1955 und relative Veränderungen (in %) jeweils gegenüber letzter Verurteiltenrate 1955 — 1986.
Ohne Verkehrsdelikte Jahr
1955
JugendHeranwachsende 1 iche 718,2
1960 +53,4 1965 -11,2 1970 +47,7 1975 -13,5 1980 +10,0 1983 +10,6 1986 -20,0 Durchschnittliche +11,0 Quelle:
1504,9 + 13,8
Erwachsene
729,1
Mit Verkehrsdelikten JugendHeran1 iche wachsende 939,8
-8,4 +46,0 -16,3 -0,8 -11,1 +15,3 +4,2 +27,9 +8,9 +3,4 -9,1 +5,1 -3,3 +21,2 +16,6 +13,9 +5,6 -15,3 -3,4 -24,3 Veränderung 1955 - 1986 (in %): +2,4 +9,5 +1,0
Erwachsene
2634,9
1277,9
+15,6 -2,6 +11,4 -0,3 +0,9 +0,4 -18,4
-7,2 -4,1 +5,5 +0,5 +4,3 +4,9 -7,8
+1,0
-0,6
Statistisches Bundesamt, 1988:9; eigene Berechnungen nach den dort ausgewiesenen Zahlenangaben
Ein Anstieg registrierter Jugenddelinquenz ist auch dann zu konstatieren, wenn als Kriterium die aus der polizeilichen Kriminalstatistik ablesbare Zahl der Tatverdächtigen herangezogen wird. Besondere Aufmerksamkeit fand dabei die im längerfristigen Vergleich gestiegene Deliktsbelastung von Kindern und Jugendlichen. Kerner (1983, 271—273), der entsprechendes Zahlenmaterial für den Bezugszeitraum von 1963 — 1978 vorstellt, hebt bei dessen Kommentierung unter anderem hervor, daß die "Kriminalitätssteigerung" umso stärker gewesen sei, je jünger die Tatverdächtigen waren (also bei den Kindern und Jugendlichen stärker als bei den Heranwachsenden und Erwachsenen). Dabei dominierten bei den jüngeren Tatverdächtigen jedoch eindeutig einfache Deliktformen wie 'einfacher' Diebstahl und 'einfache' Sachbeschädigung. Albrecht (1987, Iii.), der die Kriminalitätsbelastung in der Bundesrepublik Deutschland im Zeitraum von 1971 — 1982 sowie für 1985 für einzelne Delikt-
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Lebensbedingungen und Risiken im Jugendalter
gruppen bei den unter 21 — jährigen Tatverdächtigen ausweist, kann anhand dieses Zahlenmaterials zeigen, daß der Gesamttrend der Jugendkriminalität im wesentlichen durch Eigentumsdelikte bestimmt wird, "die — zumindest am materiellen Indikator 'Schaden' gemessen — überwiegend den Charakter von einmaliger Bagatelldelinquenz tragen." Es sei "nicht zu bestreiten, daß in speziellen Deliktbereichen — hervorgehoben werden oft die Körperverletzungen und der Raub (Roheitsdelikte) — höhere Steigerungsraten auftreten. Allerdings ändert dieser Umstand wenig an der Feststellung, daß der Gesamtanstieg der Jugendkriminalität im wesentlichen auf Diebstahlsdelikte zurückzuführen ist, und zwar schon deshalb, weil allein auf die Entwicklung in diesem Bereich fast zwei Drittel aller Tatverdächtigen entfallen" (Albrecht, 1987, 8). Dabei liegt der Anteil der von der Polizei registrierten Tatverdächtigen an der 6—bis unter 21 —jährigen Wohnbevölkerung der Bundesrepublik jährlich bei 3 — 4 Prozent; nach Altersklassen aufgeschlüsselt wurden nach der polizeilichen Kriminalstatistik wegen eines oder mehrer Straftatbestände 3,9 Prozent aller Jugendlichen und 4,7 Prozent aller Heranwachsenden als tatverdächtig registriert (Albrecht, 1987, 4). Delinquentes und kriminelles Verhalten bildet vielfach den Endpunkt einer langen Kette von Belastungen durch ungünstige Sozialisationsbedingungen in der Familie, geringen Schulerfolg, fehlenden Schulabschluß, mangelhafte oder fehlende Berufsausbildung und Arbeitslosigkeit (Lamnek, 1982; Albrecht & Lamnek, 1979, 90f.; Sampson, 1987, 364, 348; zum Arbeitslosigkeitseffekt, Maly, 1988, 420); ein Befund, der die Bedeutung der Jugendphase als vielfach erschwerte, komplikationsbeladene und auch blockierte Passage im Rahmen der Bildungs— und Berufskarriere unterstreicht. Gerade die Tatsache, daß Jugenddelinquenz und —kriminalität (auch bei Personen, die in der polizeilichen Kriminalstatistik mehrfach als Tatverdächtige aufscheinen) sehr weitgehend episodenhaft bleibt und somit nicht den Weg in eine kriminelle Karriere vorzeichnet (Lamnek, 1982, 17f., Albrecht & Lamnek, 1979, 172), verweist eindringlich auf die strukturellen Besonderheiten der Jugend als unsichere und risikobeladene Interimsphase auf dem Weg der nachwachsenden Generation in die Positionen, die im Anschluß in den verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens die soziale Integration des Individuums sichern. Dabei erweist sich die Teilgruppe devianter Jugendlicher, die nun in der Tat in eine längerfristige kriminelle Karriere eingemündet sind und bereits mehrmals wegen bestimmter Vergehen verurteilt wurden, hinsichtlich Dauer und Verlauf dieser Karriere als keineswegs homogene Population. Nach den Ergebnissen einer in London durchgeführten Kohortenanalyse ist vielmehr von zwei Teilpopulationen 'häufiger' bzw. 'gelegentlicher' Täter auszugehen, mithin einer Kategorie von kriminellen Jugendlichen mit hoher jährlicher Verurteilungsrate und geringer Wahrscheinlichkeit eines Ausstiegs aus der kriminellen
Empirische Evidenz
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Karriere in der Folge einer Verurteilung sowie einer Kategorie mit geringer Verurteilungsrate und hoher Wahrscheinlichkeit, in der Folge einer Verurteilung die kriminelle Karriere abzubrechen (Barnett et al., 1987). Zwar erweist sich der direkte Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Hintergrund und Jugenddelinquenz im Lichte einschlägiger Surveystudien oft als schwach bis sehr schwach (und schwächer als im Lichte offiziell registrierter Jugenddelinquenz; vgl. z.B. Kreuzer, 1983 , 59) ausgeprägt, jedoch korreliert dieser Hintergrund mit Faktoren (vgl. z.B. unten Kapitel 5.2 und 7), welche selbst in starkem Maße mit delinquentem Verhalten verbunden sind: mit leistungsbezogenem Versagen im Kontext Schule, der Wahrnehmung ungünstiger berufs— und bildungsbezogener Zukunftschancen (vgl. Johnson, 1979, 10-25; Glock et al., 1975, 45—53), aber auch einer schlechten, durch Aggression und punitiven Erziehungsstil gekennzeichneten Familienatmosphäre (Lamnek, 1982). Mit Blick auf die Bedeutung des Schulkontextes faßt Johnson (1979, 21) seinen Review dieses Forschungsfeldes so zusammen: "There seems to be no doubt that school success and school attachment deserve a place in any serious delineation of the factors producing delinquency" (vgl. auch Hirschi, 1971, l l l f f . ) . Schulbezogenes Versagen gefährdet dabei nicht nur den Schulerfolg als solchen, sondern beeinträchtigt auch massiv die berufsbezogenen Aussichten, die sich auf den erreichten Bildungsgrad realistischerweise gründen lassen. Von Bedeutung sind jedoch nicht nur der schulbezogene Leistungsstatus, die bildungs— und berufsbezogenen Aussichten oder die Sozialisationsbedingungen im Elternhaus. Von Bedeutung ist ebenfalls die spezifische Integration in Freundeskreis und Gleichaltrigengruppe (vgl. z.B. Giordano et al., 1987). Eine wichtige Rolle scheint dabei zu spielen, ob sich der Freundeskreis eher als "Clique" darstellt oder eher aus einzelnen dyadischen Beziehungen zu engeren Freunden gebildet wird (vgl. Lamnek, 1982). Darüberhinaus sind Deprivationserfahrungen als eine Quelle devianten Verhaltens in Betracht zu ziehen. Solche Erfahrungen spielen keinesfalls nur mit Blick auf Schulleistungen und Berufsaussichten eine wichtige Rolle, sondern auch hinsichtlich des sozialen Lebens in der Welt der Gleichaltrigen in und außerhalb der Schule (vgl. z.B. Glock et. al., 1975, 4 2 - 4 4 ; Brüsten & Hurrelmann, 1976, 18f., 142ff.). Jugenddelinquenz ist in erster Linie als Antwort auf unterprivilegierte Lebensverhältnisse und Hemmnisse und Blockaden im Prozeß der sozialen Integration der nachwachsenden Generation anzusehen (vgl. Albrecht & Lamnek, 1979, 177). Es sieht so aus, daß Jugendliche vor allem dann zu delinquenten und kriminellen Handlungen Zuflucht nehmen, wenn sie daran (zu) scheitern (drohen), soziale Anerkennung und Selbstbestätigung durch sozial akzeptiertes Verhalten zu finden und auf diese Weise einen gesellschaftlich akzeptierten Lebensstil zu entwickeln.
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Lebensbedingungen und Risiken im Jugendalter
Ein großes Problem stellt nach wie vor der Drogenkonsum dar. Der Einstieg in ein "stoffgebundenes Suchtverhalten" beginnt eindeutig schon im Kindesalter, und zwar über die legalen Drogen, insbesondere die Genußmittel Alkohol und Tabak. Die Mehrzahl der Jugendlichen beschränkt ihren Drogenkonsum auf solche legalen Substanzen. Eine Minderheit experimentiert zusätzlich über einen Zeitraum von einigen Jahren mit leichten illegalen Drogen, wobei an erster Stelle Haschisch steht. Ein kleiner Teil derjenigen, die Haschisch konsumieren, geht vorübergehend oder dauerhaft auf den Konsum von schweren illegalen Drogen wie etwa Heroin ein. Es gibt also eine typische Abfolge des Gebrauchs verschiedener Drogen im Jugendalter, wobei die scheinbar harmlosen legalen Drogen als eine Art Vorläufer der illegalen Drogen betrachtet werden müssen (Silbereisen & Kastner, 1984). Der Konsum illegaler Drogen hat offenbar seinen "Modecharakter" verloren, dessen Höhepunkt mit der Propagierung von Haschisch als einer "Kultdroge" zusammenfiel. Wie beispielsweise Reuband (1988) im Rahmen seiner Analyse der Prävalenz jugendlicher Drogenerfahrung für die Jahre 1967 — 1987 zeigen kann, ist die Verbreitung der Drogenerfahrung gegenüber den frühen 70er Jahren zurückgegangen. Die heutige Prävalenz illegaler Drogen (meist Haschisch) betrage nurmehr ein Drittel der Werte zu Beginn der 70er Jahre. Von einer Drogenrenaissance innerhalb der 80er Jahre könne nicht gesprochen werden. Bachman et. al. (1984) untersuchten Faktoren zur Vorhersage von Drogenkonsum während der ersten Jahre nach dem High —School—Besuch. Als wichtigster Prädiktor des Drogenkonsums im Anschluß an den Schulbesuch erwies sich dabei Drogenkonsum während der High —School —Zeit. Daneben fanden die Autoren heraus, daß verschiedene Lebensbedingungen im Anschluß an die Schulzeit zu bedeutsamen Veränderungen im Konsum von Alkohol und unerlaubten Drogen führen. Geringen bzw. keinen Unterschied im Drogenkonsum zeigten danach beispielsweise solche Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen, die bei ihren Eltern wohnen blieben; aber unter den übrigen zeigten solche, die heirateten, eine Reduktion im Drogengebrauch, während Zusammenleben mit einem Partner des anderen Geschlechts mit einem Anstieg im Drogenkonsum verbunden war. Yamaguchi & Kandel (1985) untersuchten den Zusammenhang von Familienrollen und Marihuana — Gebrauch an einem Sample junger Erwachsener und konnten entsprechende Sozialisationseffekte aufzeigen: Unter Frauen war nach der Heirat das Risiko reduziert, mit Marihuana zu beginnen, und die Rate derer verstärkt, die damit aufhören; bei den Männern verstärkte sich die Rate der 'Aufhörer' nach Eintritt der Elternschaft.
Empirische Evidenz
25
An anderer Stelle untersuchten Kandel & Yamaguchi (1987) den Effekt täglichen Alkoholkonsums und monatlichen Konsums von Marihuana und anderer verbotener Substanzen auf Verlust und Wechsel des Arbeitsplatzes. Sie gelangten zu der Einschätzung, daß ihre Ergebnisse die Bedeutung des Drogenkonsums dokumentieren, hohe Arbeitsplatzmobilität und nachfolgende Arbeitslosigkeit in der späten Adoleszenz und bei jungen Erwachsenen vorhersagen zu können. Mensch & Kandel untersuchten den Zusammenhang von Drogenkonsum und 'drop out* von der High School (bei 19 —27jährigen) und fanden heraus, daß der Konsum von Zigaretten sowie Marihuana und anderer verbotener Drogen die drop —out Anfälligkeit erhöht, wobei die Wahrscheinlichkeit eines vorzeitigen Abbruchs des Schulbesuchs sich als umso größer erwies, je früher der Einstieg in den Drogenkonsum erfolgt war. Kandel (1978) stellt in einem Review von 23 Längsschnittstudien zum Drogengebrauch in verschiedenen Altersklassen einige wichtige Befunde heraus. Danach beginnt, um nur einige von diesen anzuführen, der Gebrauch verbotener Drogen im frühen Jugendalter (den frühen 'teens'), erreicht seinen Höhepunkt in der Gruppe der 18 —22jährigen, um schließlich auf ein geringes Niveau in den späten Zwanzigern abzusinken. Dabei stieg die Wahrscheinlichkeit, zugleich Benutzer verschiedener illegaler Drogen zu werden, mit Aktualität und Ausmaß anfänglichen Marihuana —Gebrauchs. Die Wahrscheinlichkeit, mit illegalen Drogen wieder aufzuhören, ist größer, wenn mit ihrem Konsum später begonnen wurde. Außerdem konnte Kandel über Entwicklungsstufen und Sequenzen im Drogen verhalten etwa in der Weise berichten, daß der Gebrauch einer der legalen Drogen beinahe stets dem Gebrauch illegaler Drogen vorangeht. Weitere Einzelbefunde seien kurz referiert: Castro et. al. (1987) testeten im Rahmen eines multivariaten Streß — Coping — Modells ein Set von Hypothesen über Bedingungen des Zigarettenrauchens in einem allgemeinen Sample von Adoleszenten. Dabei erwies sich der Einfluß der Gleichaltrigen als der stärkste Prädiktor jugendlichen Zigarettenrauchens. Im Rahmen einer Längsschnittanalyse von Galambos & Silbereisen (1987) ergab sich in einer Population von Jugendlichen Evidenz für die Annahme, daß Drogenkonsum verstärkt zu Kontakten mit devianten Peers und der Wahrnehmung von Schulversagen ein Jahr später führt, daß aber Drogenkonsum nicht das Resultat dieser Faktoren ist. Hundleby & Mercer (1987) fanden Hinweise auf den Einfluß der Familie und der Freunde, wobei sie unter anderem hervorheben, daß sich der Einfluß der Freundschaft weitgehend aus Drogenkonsum und delinquentem Verhalten der Freunde ergibt. Burkett & Warren (1987) ermittelten Evidenz für die Annahme, daß der Einfluß von Religion auf Marihuanakonsum unter Jugendlichen über den Einfluß des Kontaktes zu devianten Peers vermittelt ist.
26
1.S
Lebensbedingungen und Risiken im Jugendalter
Anlage der Studie
Erhebungsinstrument Grundlage der Studie bildet ein weitgehend standardisiertes Erhebungsinstrument, das so entwickelt wurde, daß es unter anderem Informationen zu drei zentralen sozialen Bereichen zu erheben gestattet, in denen sich Jugendliche bewegen: der Schule, der Gleichaltrigengruppe (in Schule und Freizeit) und dem Elternhaus. Für jeden dieser Kontexte war angezielt, möglichst umfassend drei Ebenen des sich darin abspielenden sozialen Lebens zu beleuchten, und zwar die Ebene sozialer Beziehungen (Struktur und Qualität), die Ebene sozialer Erwartungen seitens signifikanter Bezugspersonen und die Ebene sozialen Vergleichs. Zu vermuten war nicht nur, daß auf diesen 'Ebenen' besondere Risiken psychosozialer Belastung im Jugendalter angesiedelt sein können, sondern auch, daß die sich bietenden sozialen Chancen stark durch Qualität und Struktur des sozialen Kontextes vermittelt sind, in dem sich das soziale Leben des Jugendlichen abspielt. Schließlich war davon auszugehen, daß auch die Verfügbarkeit von Ressourcen, möglichen Risiken adäquat zu begegnen, von der Struktur der sozialen Integration des Jugendlichen bestimmt wird. Ein weiterer Schwerpunkt lag auf Informationen über die Zukunftsperspektive und den Wertbezug des Jugendlichen. Es konnten zudem dezidierte Informationen zu verschiedenen Formen psychosozialer Belastung erhoben werden: Streß — Symptome (emotional und psychosomatisch), Krankheiten und gesundheitliche Beschwerden, Selbstwertprobleme, Drogen— und Arzneimittelkonsum, Jugenddelinquenz bzw. Kriminalität. Dadurch werden sowohl Analysen möglich, in denen geprüft wird, unter welchen spezifischen Bedingungen am ehesten mit einzelnen dieser Belastungsformen zu rechnen ist, als auch Analysen, in denen die einzelnen Reaktionen im direkten Vergleich, d.h im Rahmen einer gemeinsamen statistischen Analyse, auf mögliche Risikokonstellationen zurückgeführt werden. Sample Im Sinne der Zielsetzung, vor allem den Beitrag sozialer Faktoren zu Entstehung und Verlauf psychosozialer Belastung im Jugendalter aufzudecken, war es geboten, die zu prüfenden Aussagen mit einer hinreichend allgemeinen empirischen Basis zu konfrontieren. In jedem Fall war zu vermeiden, durch eine einseitige und möglicherweise zu eng gefaßte Auswahl von Jugendlichen die tatsächlichen Belastungsmomente in ihrer Bedeutung entweder überzubewerten oder aber zu unterschätzen. Vielmehr war im Sinne unseres Anliegens zu versuchen, die zur Beurteilung der psychosozialen Lage erforderlichen empiri-
Anlage der Studie
27
sehen Vergleiche in einer allgemeinen, d.h. nicht —klinischen oder sonstwie (etwa von Polizei oder Gerichten) als auffallig registrierten, Population von Jugendlichen zu verankern. Die Population war dabei so zu bestimmen, daß sie nicht nur eine in statistischer Hinsicht wohldefinierte Grundgesamtheit darstellt, die es gestattet, den Stichprobenbefund mit numerisch berechenbarem Fehlerrisiko "hochzurechnen", sondern zugleich als realistische Zielgruppe präventionspolitischer Maßnahmen erreichbar ist. Unsere Analyse konzentriert sich daher auf eine Population von Jugendlichen, auf die diese Kriterien (hinreichende Allgemeinheit, Wohldefiniertheit, reale Erreichbarkeit) unter den gegebenen äußeren Rahmenbedingungen zutreffen: eine Population von Schülerinnen und Schülern. In der vorliegenden Studie ist dies im besonderen die Population von Schüler (innen) im 7. Jahrgang (Alterskohorte A) und 9. Jahrgang (Alterskohorte B) an Hauptschulen, Realschulen, Gymnasien und Gesamtschulen in drei ausgewählten Regionen Nordrhein — Westfalens. Am geeignetesten erschien ein für Nordrhein—Westfalen repräsentatives Sample der Jugendlichen, die (in der 1. Erhebungswelle) die Alterskohorten A und B bilden. Dazu wurde ein mehrstufiger Auswahlplan realisiert, der bewußte Gebietsauswahlen mit Wahrscheinlichkeitsauswahlen innerhalb dieser Gebiete verbindet. Primäre Grundlage der vorgenommenen Gebietsauswahl ist die Siedlungs— und Raumstruktur des Landes NRW, so wie sie im Landesentwicklungsplan I/II der Landesregierung niedergelegt ist (1979). Im Sinne der dort vorgenommenen Gebietseinteilung können Ballungsgebiete, solitäre Verdichtungsgebiete und ländliche Zonen unterschieden werden. 'Ballungskerne' sind Gebiete mit sehr hoher Bevölkerungsdichte und entsprechend ausgeprägter Infrastruktur. Von den so eingestuften Städten (vor allem im Ruhrgebiet) wählten wir für die Untersuchung die Stadt Essen aus, eine im Hinblick auf die Wirtschaftslage typische Ruhrgebietsstadt. 'Solitäre Verdichtungsgebiete' im Sinne des Landesentwicklungsplanes sind Regionen, in denen siedlungsräumliche Verdichtungen wie in Ballungsgebieten beobachtet werden können, ohne daß es zu den für Ballungsgebiete typischen Verpflechtungen zwischen einzelnen Gemeinden bzw. Städten kommt. In diese Kategorie fallen nach dem Landesentwicklungsplan vier Städte in Nordrhein — Westfalen, unter anderem die Stadt Bielefeld, die wir in die Untersuchung aufgenommen haben.
28
Lebeosbedingungen und Risiken im Jugendalter
Als 'ländliche Zone' wählten wir den Kreis Lippe aus, einen Raum mit vergleichsweise geringer, jedoch für ländliche Zonen typischen Bevölkerungsdichte, Arbeitsmarkt— und Infrastruktur. Die Abgrenzung der Untersuchungsregionen erfolgte auf der Ebene von Kreisen bzw. kreisfreien Städten und damit auf der Basis einer Gebietseinteilung, für die die amtliche Statistik die zur weiteren Stichprobenziehung erforderlichen regionalisierten Angaben ermittelt. Nach Auswahl der 3 Regionen wurden innerhalb jeder Region (separate) Wahrscheinlichkeitsauswahlen auf der Ebene von Schulen realisiert, die zur Kontrolle der Auswahlwahrscheinlichkeit zuvor zu einem Set von synthetischen Schulaggregaten (Clustern) gleicher Größe zusammengefaßt worden waren. Der Auswahlplan sieht vor, daß jedes Element (Schüler/in) der Grundgesamtheit die gleiche Chance hat, in die Stichprobe gezogen zu werden. Dies wurde durch gleiche Gesamtauswahlwahrscheinlichkeiten realisiert, die als Folge abgestimmter Auswahlwahrscheinlichkeiten auf verschiedenen Ebenen (Schulen, Schulklassen) entstehen. Dieser im Prinzip zweistufige Auswahlplan reduziert sich im Falle der Region Lippe jedoch auf den Grenzfall einer einstufigen Auswahl in dem Sinne, daß dort jeweils alle Klassen eines synthetischen Schulaggregats in die Stichprobe gezogen wurden. Um zu gewährleisten, daß die Stichprobe mit größtmöglicher Präzision ein strukturtreues, verkleinertes Abbild der Grundgesamtheit der Schüler der (zu Beginn) 7. und 9. Klassen wird, wurde die Grundgesamtheit zunächst nach den Strukturmerkmalen 'Schultyp' und 'Jahrgang' proportional geschichtet, d.h. in entsprechende Teilgesamtheiten unterteilt. Der oben beschriebene Auswahlvorgang wurde dann unabhängig voneinander innerhalb jeder Teilgesamtheit durchgeführt. Die im Anhang zu findenden Tabellen zeigen für die drei Untersuchungsregionen, daß auf diese Weise eine akzeptable Anpassung an die Strukturmerkmale der Population erreicht werden konnte: In den Regionen Bielefeld und Essen bewegen sich die Abweichungen der (marginalen) Sample —Wahrscheinlichkeiten von den korrespondierenden Populationswerten innerhalb zufalliger Schwankungen, für die Teilstichprobe Lippe ist jedoch einschränkend festzustellen, daß Hauptschüler unterrepräsentiert und Gesamtschüler leicht über repräsentiert sind. Die vergleichsweise schwere Erreichbarkeit bildungsfernerer Gruppen für die empirische Sozialforschung ist notorisch und auch im vorliegenden Fall wieder zu beobachten. Die Überrepräsentierung der Gesamtschüler ist hingegen die
Anlage der Studie
29
Folge einer bewußten Abweichung vom Auswahlplan, demzufolge für diese Region weniger als die Schülerzahl von jeweils der Stärke einer kompletten Gesamtschulklasse pro Jahrgang einzubeziehen war. Subsampling der beiden betreffenden Klassen hätte jedoch zu sehr geringen Fallzahlen und möglicherweise verzerrten Maßen für die aggregatbezogene Analyse geführt, so daß diese Abweichung hier bewußt in Kauf genommen wurde. Der Auswahlplan sieht für die Regionen Bielefeld und Lippe eine Wahrscheinlichkeitsauswahl von 10% der Populationselemente und für die Region Essen (aufgrund begrenzter Ressourcen) eine Auswahl von 5% der betreffenden Schülerpopulation vor. Auch hier konnten akzeptable Quoten erreicht werden. Mit Blick auf die jeweilige Gesamtpopulation/Region sind dies in Bielefeld 9,6%, in Lippe 9,3% (Erwartung in beiden Regionen: 10%) und in Essen 4,4% (Erwartung: 5%) der jeweiligen Gesamtpopulation, die de facto erreicht werden konnte. Auf dieser Grundlage ist daher statistische Repräsentativität im strengen, numerisch berechenbaren Sinne für jede der Regionen sehr weitgehend gesichert und für NRW mit Einschränkungen in dem schwächeren Sinne, daß jede der hauptsächlichen Gebietsformen in der Stichprobe durch eine typische Region vertreten ist. Der realisierte Stichprobenumfang der Ersterhebung im Spätherbst 1986 beträgt n = 1.717 Schülerinnen und Schüler. Von diesen konnten genau ein Jahr später im Rahmen der zweiten Welle der als Panelbefragung angelegten Studie 84,5 Prozent wieder erreicht werden (n = 1.450). Auf beide Erhebungswellen werden wir in den folgenden Analysen zurückgreifen. Soweit aus dem jeweiligen Kontext explizit nichts anderes hervorgeht, beziehen sich die Berechnungen auf die Erstbefragung im Spätherbst 1986. Da wir uns in diesen Analysen auf einen mehrstufigen Auswahlplan stützen, sind Vorkehrungen bei den zur inferenzstatistischen Bewertung des Befundes erforderlichen Standardfehlern zu treffen. Den üblicherweise computerunterstützt berechneten Standardfehlern liegt in der Regel das Modell der einfachen Zufallsauswahl (SRS simple random sampling) zugrunde. Diese SRS — Standardfehler sind jedoch nicht ohne weiteres im Rahmen mehrstufiger Auswahlpläne anwendbar. Eine Möglichkeit, dieser Komplikation zu begegnen, liegt darin, diese SRS — Standardfehler entsprechend zu korrigieren. Von den Korrekturfaktoren, die vorgeschlagen wurden, besitzt die Empfehlung von J.A. Davis (1985) den Vorzug, sich auf aktuelle empirische Versuchsreihen des National Opinion Research Center stützen zu können. Wir greifen daher im folgenden
30
Lebensbedingungen und Risiken im Jugendalter
diese Empfehlung auf und werden die SRS — Standardfehler bei einem angenommenen Designeffekt von 1,5 um den Faktor 1,225 korrigieren, um konservative Signifikanzschätzungen zu erhalten.
2.
Jugendliche im Kontext von Familie, Schule und Gleichaltrigengruppe
In den nachfolgenden Kapiteln werden psychosoziale Belastungen und auffalliges Verhalten im Jugendalter im Vordergrund der Betrachtung stehen. Um zu erklären, wie es zu diesen Reaktionsformen kommt, werden eine Reihe von Risikofaktoren erörtert. Eine unsichere Zukunft und Konflikt im Elternhaus sind zwei Beispiele. Zur Sprache wird auch der Leistungsdruck kommen, denen Jugendliche ausgesetzt sind und der seine Spuren nicht nur bei denen hinterläßt, die in der Schule mit echten Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Die soziale Erwartungshaltung, denen sich Jugendliche zu Hause ausgesetzt sehen, verfehlt ihre Wirkung auch dann nicht, wenn die Schulleistungen an schulischen Standards gemessen eigentlich nichts zu wünschen übrig lassen. Überhaupt stellen die Eltern in der Entwicklung der Jugendlichen eine zentrale Bezugsgruppe dar. Aber nicht nur die Eltern, auch die Gleichaltrigengruppe, also die Schulkameraden, der Freundeskreis, der beste Freund oder die beste Freundin, können zu sehr einflußreichen Bezugsgrößen in der Entwicklung werden. Im vorliegenden Kapitel soll es daher darum gehen, ein Bild des sozialen Kontextes zu zeichnen, in denen die Jugendlichen leben, und dabei auch einige Informationen zu liefern, die im Hintergrund unserer späteren Erklärungsversuche stehen werden.
2.1
Aktuelle Probleme aus Sicht der Jugendlichen
Worin sehen Jugendliche heutzutage ihre vorrangigen Probleme? Um einen Einblick in die selbst als Problem empfundenen Bereiche zu erhalten, baten wir die bei der Erstbefragung im wesentlichen 12 —16jährigen Schülerinnen und Schüler um entsprechende Angaben zu einigen vorgegebenen Themen. Zunächst formulierten wir eine Frage, die es völlig offen ließ, wo für den Jugendlichen mögliche Probleme liegen könnten. Diese Frage lautete: "Wo liegt zur Zeit Dein größtes Problem?". Während viele Jugendliche deutlich machten, kein Problem zu haben, zeigte sich im gegenteiligen Fall ein klarer Trend: An der Spitze der spontan genannten Probleme liegen mit großem Abstand schulleistungsbezogene Probleme, gefolgt von Problemen, die sich auf (einzelne oder Gruppen von) Gleichaltrigen beziehen sowie Probleme im Elternhaus. Mit nochmals großem Abstand folgen die Bereiche Geld, Freizeit, eigenes Aussehen, Gesundheit, Sinn— und Glaubensfragen, Religion, Zukunft und Beruf. Schon diese "Spitzenreiterrolle" schulleistungsbezogener Probleme führt uns vor Augen, daß die Jugendzeit eine Lebensphase ist, in der sich die Heranwachsenden spürbar mit leistungsbezogenen (Rollen — ) Erwartungen auseinandersetzen müssen.
32
Jugendliche
Tabelle 2.1
im Kontext
von Familie,
Schule und
Gleichaltrigengruppe
Aktuelle Probleme von Jugendlichen. Ergebnisse der Repräsentativbefragung im Spätherbst 1986
Fragetext: "Hier stehen einige Probleme, die man als Jugendlicher haben kann. Ist für Dich persönlich
..."
ein großes Problem %
ein kleines Problem %
gar kein Problem %
Vorgegebene Antwortkategorien
Schul 1 eistungen
...
Geld
24
58
18
100%
14
41
45
100%
12
39
49
100% 100%
Spannungen m i t Eltern Freund/Freundin 12
31
57
Dein A u s s e h e n
finden
7
39
54
100%
Gesundheit
5
35
60
100%
Freizeitgestaltung.
5
34
61
100%
Sinn sehen
7
28
66
101%
Drogen/Alkohol
4
5
92
101%
im Leben einen
n = 1671 —1690, je nach fehlenden Werten
Im Anschluß an diese offen gestellte Frage nach möglichen Problemen folgte eine Liste, in der potentielle Problemfelder vorgegeben waren. Tabelle 2.1 zeigt diese Vorgaben zusammen mit den vorgesehenen Antwortkategorien. Die Prozentangaben ergänzen sich jeweils zeilenweise zu 100 (oder durch rundungsbedingte Ungenauigkeiten zu 101) Prozent, prozentuiert wird jeweils auf alle Schüler, die zu der betreffenden Vorgabe inhaltlich Stellung bezogen haben. Bringen die Antworten auf die zuvor offen formulierte Frage zum Ausdruck, was den Jugendlichen am ehesten in den Sinn kommt, was ihnen bei dieser Frage aktuell am nächsten liegt, ermöglichen die Reaktionen auf die Liste
Wertpräferenzea
33
möglicher Problemfelder einen Vergleich des relativen Belastungsgehalts der einzelnen Bereiche aus der Sicht der Schüler. Ein Blick auf die Angaben in der Spalte 'Ein großes Problem' läßt einen klaren Trend erkennen: Mit Abstand an erster Stelle stehen Schulleistungen, gefolgt von Geld, Spannungen mit den Eltern und Freund/Freundin finden. Obwohl am seltensten von allen Vorgaben in der Weise eingestuft, sind es immerhin 4% der befragten Schüler, für die Alkohol/Drogen 'ein großes Problem' darstellt. Hinsichtlich Gesundheit und Freizeitgestaltung trifft dies auf 5% aller befragten Schülerinnen und Schüler zu.
2.2
Wertpräferenzen und die Rolle von Gesundheit, Arbeit und Erfolg
Auskunft über die Wertorientierungen von Jugendlichen geben die Antworten auf eine offen gehaltene Frage, die wir bei der Ersterhebung stellten. Alle waren aufgefordert, den Satz zu vervollständigen: "Das Wichtigste im Leben ist ..." Es wurden eine Reihe von Werten genannt, auf deren Grundlage ex post ein entsprechendes Set von Kategorien gebildet werden konnte. Tabelle 2.2 gibt in Prozent der Befragten an, wie häufig die einzelnen Werte als "das Wichtigste im Leben" benannt wurden. Dazu ein Hinweis: Prozentuiert wird auf die Anzahl der Befragten, nicht auf die Anzahl der insgesamt abgegebenen Antworten. Da jedoch vielfach mehr als eine Angabe gemacht wurde, addieren sich die ausgewiesenen Prozentwerte nicht auf 100%. Vielmehr wurde separat für jeden der ausgewiesenen 15 Bereiche ausgezählt, wieviel Prozent der Befragten die betreffende Kategorie (als erste, zweite oder dritte Angabe) als das Wichtigste im Leben benannt hat. Gesundheit: Deutlich unterstreichen die Antworten die dominante Rolle der 'Gesundheit' unter den Wertorientierungen der Jugendlichen, wobei diese Plazierung allerdings weder etwas über die faktische Handlungsrelevanz dieses Wertes aussagt, noch erhellt wird, welche subjektive Bedeutung dem Konzept 'Gesundheit' beigemessen wird. Allgemein kann jedoch gesagt werden, daß die befragten Jugendlichen ihren Gesundheitszustand insgesamt eher optimistisch einschätzen (Schaubild 2.1). Grundlage der in Schaubild 2.1 ausgewiesenen Verteilungen sind die Antworten auf die 1986 gestellte Frage "Wie würdest Du Deinen gegenwärtigen Gesund-
34
Jugendliche im Kontext von Familie, Schule und Gleichaltrigengruppe
Tabelle 2.2
"Das Wichtigste im Leben ist ..." Univariate Verteilungen der 15 am stärksten besetzten Kategorien*** In Prozent d e r Befragten** 1. 2. 3. 4. 5. 5. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.
..Gesundheit . . A r b e i t , Geld, Auskommen . . ( G u t e ) F r e u n d s c h a f t , Freunde . . G l ü c k , Spaß, Freude ..Freund(in), Partner(in) ..Liebe . . E r f o l g , g u t e r Beruf . . F a m i l i e , E l t e r n , Geschwister ..Hobby, F r e i z e i t ..Zufrieden sein ..Schule . . G l a u b e , Sinn im Leben ..Friede ..Tugenden, p o s i t i v e A t t r i b u t e ..Elementare Bedürfnisse: Essen, Trinken, Schlafen
23,2 19,9 18,6* 13,5 7,0* 5,8 5,7 5,5 5,2 5,1 4,9 3,7 3,1 2,3 1,7
* n = 2 Doppeinennungen; ** für Verteilungen 1 — 15, jeweils n=1717; *** Erläuterungen im Text
heitszustand beschreiben?" Dabei konnte sich jeder Jugendliche für eine von fünf Antwortalternativen entscheiden: 'Sehr gut', 'gut', 'zufriedenstellend', 'weniger gut' und 'schlecht'. Insgesamt stuften zwei Drittel der Befragten ihren Gesundheitszustand als gut oder sehr gut ein, gut ein Viertel als zufriedenstellend, 7 Prozent als weniger gut und knapp 1 Prozent als schlecht. Dabei sind deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede zu verzeichnen, wie Schaubild 2.1 zeigt (wobei die Antworten 'weniger gut' und 'schlecht' dort zu einer Kategorie zusammengezogen wurden): Die Mädchen schätzen ihre gesundheitliche Lage weitaus ungünstiger ein als die Jungen. Arbeit, Geld, Auskommen: Beachtlich ist auch die vorrangige Position, die Werte wie "Arbeit, Geld, Auskommen" in der untersuchten Schülerschaft besit-
35
Wertpräferenzen
Allgemeiner Gesundheitszustand aus der Sicht der Schüler
Scbaubild 2.1
zen. Rund ein Fünftel der Befragten sehen diese auf (sozio — )ökonomische Ressourcen reflektierenden Werte als "das Wichtigste im Leben" an. Typische Beispiele für diese Kategorie von Werten sind vor allem folgende Vervollständigungen des Satzes "Das Wichtigste im Leben ist...": "...(eine/die) Arbeit", "...(ein/der) Beruf", "...Geld", "...eine Arbeit zu bekommen/haben", "...einen Beruf zu können/erlernen/bekommen", aber auch Angaben wie "...nicht arbeitslos zu sein", "...ein fester Beruf", "...daß ich einen festen Arbeitsplatz habe", ..."feste Arbeit und Geld", "...eine Arbeit zu haben und Geld in der Tasche" und "...ohne Finanzprobleme zu leben". Die Nennung dieser Werte in vorrangiger Position fallt auf, weil sie aus dem Kreise von Schülerinnen und Schülern kommt, mithin aus einer gesellschaftlichen Gruppe, die — wie in Kapitel 1 diskutiert — die direkte persönliche Auseinandersetzung mit der Notwendigkeit eigener Subsistenzsicherung noch vor sich hat. Daß diese sich indirekt auf den gesellschaftlichen Allokationsprozeß beziehenden Werte dennoch so stark benannt werden, mag daher auf zweierlei beruhen: auf einem auf subjektiver Antizipation beruhenden "Ausstrahlungseffekt" der eigenen beruflichen Zukunft und/oder auf Erfahrungen in der Elternfamilie, die die Notwendigkeit der sozioökonomischen Subsistenzsicherung sinnfällig in den Vordergrund treten lassen. Für diese Interpretation spricht der Anhaltspunkt, daß die Wahrscheinlichkeit, mit der diese Werte benannt werden, eine Funktion des sozialen Hintergrundes ist: Ihre spontane Äußerung ist umso unwahrscheinlicher, je günsti-
36
Jugendliche im Kontext von Familie, Schule und Gleichaltrigengruppe
ger die soziale Position der Herkunftsfamilie ist. Es sind vor allem männliche Jugendliche, die die Werte Arbeit, Geld, Auskommen als vorrangig einstufen (25% gegenüber 15% der weiblichen Jugendlichen); ein Befund, der ansatzweise auf einen nach wie vor überwiegend traditional—bürgerlichen Lebensplan unter den Jugendlichen hindeutet und als weiterer Anhaltspunkt für die oben skizzierte Interpretation herangezogen werden kann. Für Jungen wie Mädchen gleichermaßen spielen Arbeit und Beruf heutzutage aber eine zentrale Rolle, wie die Antworten auf eine Frage zur subjektiven Bedeutung von Berufstätigkeit erkennen lassen. 65 Prozent der Jungen und 57 Prozent der Mädchen entschieden sich auf die Frage, mit welcher der drei Auffassungen sie am ehesten übereinstimmen, für die Aussage: "Für mich ist Berufstätigkeit sehr wichtig. Für mich hat ein Leben ohne Arbeit keinen Sinn (Schaubild 2.2)." 31 Prozent der Jungen und 40 Prozent der Mädchen entschieden sich für die zweite Aussage: "Für mich ist Berufstätigkeit wichtig. Ich kann mir aber auch gut ein Leben ohne Arbeit vorstellen." Und nur 4 Prozent der Jungen und 3 Prozent der Mädchen ließen erkennen: "Für mich ist Berufstätigkeit nicht so wichtig. Wenn es nicht unbedingt sein muß, möchte ich nicht arbeiten". Zwar scheint danach die subjektive Bedeutung von Arbeit und Beruf für Jungen noch etwas größer zu sein als für Mädchen, aber von nennenswerten Unterschieden kann eigentlich keine Rede mehr sein, zumal wenn bedacht wird, daß sich die Anteile derer mit starker Identifikation mit Arbeit und Beruf auf recht hohem Niveau bewegen. Status und Erfolg: Während Werte wie Arbeit, Geld, Auskommen spontan von rund einem Fünftel der Befragten geäußert werden, sind es auf Rangplatz 7 knapp 6 Prozent der Befragten, die eine direkte Bindung an eine auf Erfolg und Überlegenheit ausgerichtete Kultur erkennen lassen. Nicht mehr nur Subsistenzsicherung steht hier im Vordergrund, sondern Status und Erfolg. Nicht Arbeit und Beruf, sondern eine gute Arbeit oder einen guten Beruf zu haben, zählt als vorrangiger Wert; die explizite Äußerung von Erfolg als dem Wichtigsten im Leben dominiert. Genannt wurden hier in erster Linie folgende Vervollständigungen des Satzes "Das Wichtigste im Leben ist..." (in Prozent aller Nennungen in dieser Kategorie): "...(der) Erfolg", "...Erfolg zu haben", "...erfolgreich zu sein" (25%); "...ein guter Beruf', "...einen guten Beruf zu erlernen" (27%); "...(eine) gute Arbeit (zu finden)" (14%); "...eine gute Arbeitsstelle", "...daß man eine gute Arbeitsstelle hat" (7%). Hinzu kommen u.a. noch folgende Einzelangaben der Schülerinnen und Schüler: "...ein toller BeruP, "...ein anständiger Beruf', "...etwas zu werden", "...eine gesellschaftliche
Wertpräfereazen
37
Subjektive Bedeutung von Arbeit und Beruf In Prozent
sehr wichtig
wichtig
nicht so wichtig
"Für mich ist Berufstätigkeit.." Jungen
Ü Ü Mädchen
Schaubild 2.2
Stellung", "...ein gutes Leben", "...alles zu besitzen", "...eine gute Zukunft", "...Zahnarzt zu sein", "...Pilot der Luftwaffe zu sein", "...im Beruf erfolgreich zu sein", "...gute Beziehungen und Erfolg zu haben". Wir interpretieren diese Antworten als Ausdruck einer vorhandenen Erfolgs— bzw. Statusorientierung. Anders als im Falle der an sozioökonomischen Ressourcen orientierten Werte erweist sich diese Statusorientierung übrigens nicht als Funktion des Bildungshintergrundes oder des Geschlechts. Auch das Thema (gute) Freundschaft, Freunde wird vergleichsweise häufig als das Wichtigste im Leben benannt. Auf Rangplatz 3 in dieser Kategorie sind die Angaben zusammengefaßt, die nicht zugleich die Konnotation von (existierender oder zu findender) Partnerschaft im Rahmen einer Dyade erkennen lassen. Die Kategorie enthält Äußerungen wie: "...(die) Freundschaft", "...Freunde", "...(viele bzw. gute) Freunde (haben)". Ganz offensichtlich davon zu unterscheiden ist die zweite Kategorie zu dieser Thematik (Rangplatz 5) "Freund(in) —Partner(in)". Sie enthält meist im Singular vorgetragene Äußerungen wie etwa ".. (m)ein Freund", ",..(m)eine Freundin", "...ein(e) gute(r) Freund(in)", aber sporadisch auch Formulierungen, in dem explizit auf das für Jugendliche wichtige Thema der Partnerfindung bzw. —wähl angespielt wird. Im Vordergrund steht hier die "exklusive" und stabile Freundschaftsdyade und nicht der größere Freundeskreis.
38
Jugendliche im Kontext von Familie, Schule und Gleichaltrigengruppe
Im Falle der Kategorie Hobby, Freizeit (Rangplatz 9) wurde in knapp einem Drittel der hier berücksichtigten Fälle explizit "Freizeit", ansonsten aber Beispiele aus verschiedenen Freizeit— und Hobbyfeldern angegeben, z.B. (Haus —)Tiere, (Tier)sportarten (Reiten), andere konkrete Sportarten und Beispiele aus dem Bereich Musik(gruppen). In die Kategorie Glaube, Sinn im Leben, Religion (Rangplatz 12) fallen Angaben mit sehr allgemeinen Äußerungen und solche, in denen der Glaube expressis verbis auf "(das Leben mit) Gott" oder "Jesus" bezogen wurde. Bei den allgemeiner gehaltenen Äußerungen handelt es sich dabei um Ergänzungen des Satzes "Das Wichtigste im Leben ist wie etwa "...einen Sinn darin zu finden", "...einen Sinn und ein Ziel zu sehen", "...an etwas glauben zu können", "...daß man eine Aufgabe hat". Zur Kategorie Tugenden, positive Attribute zählen Äußerungen wie "...Ehrlichkeit", "...Hilfsbereitschaft", "...Rücksicht", "...ein guter Charakter", "...zu leben, ohne anderen zu schaden", "...Benehmen", "...fleißig sein" und Beispiele von Umgänglichkeit ("...wie gut man mit den Leuten/Mitmenschen auskommt"), von kognitiven Attributen ("...klug sein", "...Denken", "...Wissen"), "...Humor", "...Ausgeglichenheit". Wir haben einige der Werte herausgegriffen und näher erläutert oder kommentiert. Was insgesamt auffallt, ist das breit gefächerte Spektrum von Nennungen. Von einer einseitigen Orientierung der Jugend im Sinne einer überwiegend "postmaterialistischen" Orientierung, um mit diesem Begriff auf die in den 70er Jahren geführte kritische Wertediskussion im Anschluß an Inglehart (1977) anzuspielen, kann keine Rede sein (vgl. auch Kreutz, 1988). Zu hoch rangiert in der untersuchten Schülerschaft die Bedeutung materieller Werte; zu sehr erweisen sich auch Deprivationen in materieller und statusbezogener Hinsicht als Faktoren, welche die soziale Integration des Jugendlichen erschweren, sein Selbstwertgefühl beeinträchtigen (siehe unten) und die faktische Bedeutung materialistischer Werte insofern erkennbar werden lassen, als sich solche Deprivationen weniger drastisch auswirken würden, würde dieser Wertbezug nicht bestehen.
2.3
Bildimgsaspirationen, Schulerfolg und die berufliche Zukunft des Jugendlichen
Aspirationen: Wie im Eingangskapitel betont, kommt dem schulischen Leistungsbereich in unserem Kulturkreis heute eine herausragende Bedeutung im Jugendalter zu. Untersuchungen aus der Bildungsforschung (zuletzt Hurrelmann
39
Bildungsaspirationen
1989) machen auf ein deutlich verändertes Bildungsverhalten der jungen Generation aufmerksam: Der Besuch anspruchsvoller Langzeitbildungsgänge in der Mittel— und Oberstufe des Bildungssystems gilt inzwischen vielfach als soziokultureller Standard. Dieser Trend spiegelt sich auch in den Antworten unserer Erstbefragung wider. Danach sind die Bildungswünsche der Schülerinnen und Schüler insgesamt sehr anspruchsvoll: Nur 9 Prozent aller befragten Jugendlichen in den 7. und 9. Jahrgängen wollen sich mit einem Hauptschulabschluß zufrieden geben, während 43 Prozent einen mittleren Abschluß und 37 Prozent das Abitur anstreben; 11 Prozent waren sich über den von ihnen angestrebten Schulabschluß noch im unklaren (Tabelle 2.3).
Tabelle 2.3
Schulabschlußwünsche 12 — löjähriger, nach besuchter Schulform (in Prozent) Gewünschter Schulabschluß
Schul form
Hauptschul abschluß
Hauptschule Real schule Gymnasium Gesamtschule Gesamt
Mittlerer Abschluß
Abitur
weiß noch nicht
n
26 0 0 8
55 68 9 45
7 19 83 38
12 13 8 10
100% 100% 100% 101%
9
43
37
11
100%(1712)
(545) (471) (550) (146)
Nicht überraschend ist dabei, daß sich die Abschlußwünsche von Schülerinnen und Schülern der einzelnen Schulformen unterscheiden, bemerkenswert ist aber, daß die angestrebten Schulabschlüsse keineswegs in dem Maße durch die tatsächlich besuchte Schulform festgelegt sind, wie es vielleicht vermutet werden könnte. Zwar wird das Abitur von über vier Fünfteln der Gymnasialschüler als gewünschten Abschluß angegeben, jedoch ist die sich darin (auf der Ebene des sozialen Aggregats) widerspiegelnde hohe Sicherheit im schulischen Aspirationsniveau ohne weiteres nicht auf die anderen Schulformen übertragbar, am ehesten vielleicht noch auf die Realschüler, die zu 68 Prozent einen dieser Schul-
40
Jugendliche im Kontext von Familie, Schule und Gleichaltrigengruppe
form entsprechenden Abschluß anstreben. Ist es bei den Realschülern noch knapp ein Fünftel (19%), das nicht den traditionellen Abschluß dieser Schulform, sondern den des weiterführenden Gymnasiums, das Abitur, anstrebt, wünschen Hauptschüler nurmehr zu einem Viertel den traditionellen Abschluß dieser Schulform und sind vielmehr an anspruchsvolleren Abschlüssen orientiert, die sie nur mit Zusatzkursen erreichen können. Anders als in den drei Schultypen des dreigliedrigen Schulsystems, in denen eine klare Konzentration der Schulabschlüsse erkennbar ist, verteilt sich die Schülerschaft an Gesamtschulen diesbezüglich ausgewogener auf das Abitur und mittlere Abschlüsse. Dabei ist von einer hohen (perzipierten) Übereinstimmung in den Abschlüssen auszugehen, den der Jugendliche für sich und dessen Eltern für ihn anstreben: So stimmten im Spiegel der vorliegenden Zahlen knapp drei Viertel (72%) der Schulabschluß wünsche überein, in 5 Prozent der Fälle wünschten die Eltern für ihren Nachwuchs einen höheren Abschluß als dieser für sich selbst und in 7 Prozent war der Jugendliche ambitionierter als seine Eltern; in 4 Prozent der Fälle hatten die Eltern definitive Vorstellungen, nicht aber der Jugendliche, und bei 12 Prozent war es genau umgekehrt. Welchen Schulabschluß der Jugendliche anstrebt, wird nach diesem Befund daher alles andere als eine unbeeinflußte Perspektive und — soweit sich diese Perspektive bereits in der Schulformwahl niedergeschlagen hat — Entscheidung darstellen. Ganz im Gegenteil: Schulerfolg und passable Leistungen des Nachwuchses haben offensichtlich auch für die Eltern große Bedeutung, wie wir unten noch genauer aufzeigen möchten. Vor allem die hohe Wahrscheinlichkeit, mit der echte Schulschwierigkeiten, aber auch einfach Leistungen, die nicht die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen, zuhause zu sozialen Konflikten führen, zeigt, daß hier auch vitale Interessen der Eltern berührt sind. Chancen: Die schulische und berufliche Zukunft ist ein Thema, das das Verhalten bereits im Jugendalter stark beeinflussen kann, wie Analysen zeigen, über die wir im weiteren Verlauf noch berichten können. Gerade in der Jugend ist der subjektive Zukunftsbezug von großer Bedeutung, wird in Betracht gezogen, daß es eine Phase ist, in der sich der Nachwuchs in dem Sinne "zu bewähren" hat, daß hier der Grundstein des weiteren bildungs— und berufsbezogenen Lebensweges gelegt wird, soweit es sich jedenfalls um Qualifikationserfordernisse handelt. Wie Henrik Kreutz (1974) treffend feststellte, ist die Jugendphase durch ein hohes Maß an Statusunsicherheit gekennzeichnet, mithin durch eine Verunsicherung, die aus dem Risiko erwächst, daß der für diese Zeitspanne übliche temporäre Statusverlust auch über die eigentliche Jugendphase hinaus andauert und
Bildungsaspirationen
41
auf lange Sicht eine Minderung der Lebenschancen begründet. Als Kind wird dem Nachwuchs der Status der Herkunftsfamilie fraglos zugestanden; mit Eintritt in das Schulsystem wird es aber an den Anfang einer Karriere gestellt, an der seine Eltern schon mehr oder weniger weit vorangeschritten sind. Das heranwachsende Kind hat sich nun zu bewähren: Es hat die leistungsbezogenen Voraussetzungen zu erwerben, die es ihm im allgemeinen erst ermöglichen werden, später eine entsprechende und im Vergleich zum Status der Familie, aus der es stammt, unter Umständen auch "passende" soziale Stellung zu erreichen. Damit wird nicht behauptet, daß es letztlich nur oder in erster Linie diese Leistungen sind, welche später die Übernahme der Positionen in Wirtschaft und Gesellschaft regeln. Auch Kooptationsvorgänge spielen hier eine nachhaltige Rolle. Dem ideologischen Selbstverständnis leistungsorientierter Wettbewerbsgesellschaften entsprechend muß jedoch die Besetzung von Positionen legitimiert erscheinen; zumindest zur Rechtfertigung eines solchen Allokationsvorganges müssen daher auch positionsadäquate Qualifikationen des Kandidaten vorausgesetzt werden können. Für das heranwachsende Kind und später den Jugendlichen bedeutet das vor allem, die Schulzeit erfolgreich abzuschließen und zu versuchen, die beruflichen Pläne zu realisieren; der Jugendliche kann sich den Leistungserwartungen, denen er sich ausgesetzt sieht, zwar entziehen, jedoch nur um den Preis langfristiger Nachteile bis hin zur echten sozialen Deklassierung. Wie Schaubild 2.3 zeigt, ist die subjektive Bedeutung schulischer Leistungen jedoch als sehr hoch anzusetzen. (Das Schaubild weist die Antworten auf die Frage aus, "wie wichtig" es dem Jugendlichen sei, "in der Schule gute Leistungen zu zeigen". Antwortformat: 'sehr wichtig', 'wichtig', 'nicht so wichtig', 'ganz unwichtig'; die letzten beiden Kategorien wurden im Schaubild zu 'unwichtig' zusammengefaßt). Die subjektive Sicherheit oder Unsicherheit, den angestrebten Schulabschluß oder seine beruflichen Pläne realisiert zu bekommen — zwei Anhaltspunkte der subjektiven Seite von Statusunsicherheit in der Jugend — hat sich wie erwartet als zentraler Faktor in der Genese psychosozialer Belastungen erwiesen (vgl. z.B. unten, Kapitel 7). Wir fragten zunächst: "Wie sicher oder unsicher bist Du Dir, daß Du den Schulabschluß bekommst, den Du haben willst?", und einige Seiten später: "Wie sicher oder unsicher bist Du Dir, daß Deine beruflichen Wünsche in Erfüllung gehen?" Es folgte jeweils eine fünfstufige Skala mit den Kategorien ( + 2) 'ganz sicher', ( + 1) 'ziemlich sicher', (0) 'unklar', ( —1) 'ziemlich unsicher', ( — 2) 'ganz unsicher', wobei die auch im Erhebungsinstrument ausgewiesene, numerisch um Null zentrierte Skalierung den bipolaren Charakter der Skala im Sinne einer Reduzierung maximaler Unsicherheit in die eine oder andere Richtung definitiver Sicherheit oder Unsicherheit unterstreichen sollte.
42
Jugendliche im Kontext von Familie, Schule und Gleichaltrigengruppe
Subjektive Bedeutung schulischer Leistungen
sehr wichtig
36%
Schaubild 2.3
Das nächste Schaubild zeigt getrennt für den 7. und 9. Jahrgang, wie sich die Antworten über diese Kategorien verteilen, wenn der Übersichtlichkeit halber die Plus— und Minus —Werte zu den Kategorien 'sicher' bzw. 'unsicher' zusammengezogen werden. Sowohl in den 7. als auch den 9. Klassen herrscht danach ein hohes Maß an Antizipationsunsicherheit, eine unklare bzw. definitiv unsichere Perspektive, vor. Unterscheiden sich die 7. und 9. Klassen dabei kaum hinsichtlich der Unsicherheit im beruflichen Zukunftsbezug (64% in 7. und 66% in 9. Klassen empfinden diese als ungewiß oder definitiv unsicher), zeigen sich mit Blick auf die Chancen, den gewünschten Schulabschluß zu erwerben, die Schülerinnen und Schüler der 7. Klassen verunsicherter als die der 9. Klassen: Für 57 Prozent im 7. Jahrgang und 41 Prozent im 9. Jahrgang ist der Schulerfolg noch völlig ungewiß oder definitiv unsicher. Wie eine weitergehende Analyse zeigte, bleibt dieser in Schaubild 2.4 dargestellte Zusammenhang bestehen, wenn nicht die Schülerinnen und Schüler insgesamt, sondern die Schülerschaften der einzelnen Schulformen getrennt betrachtet werden. Einzige Ausnahme stellen die Gymnasialschüler mit Blick auf die subjektive Chance dar, den gewünschten Schulabschluß zu erreichen. Zwar erweisen sich auch hier die Jüngeren als verunsicherter als die Älteren im 9. Jahrgang, jedoch ist dies nicht mehr als ein schwacher Trend.
Bildungsaspirationen
43
Schulische und berufliche Zukunft
In Prozent
120 100
80 80 40
20 0 7. Klassen
9. Klassen
7. Klassen
9. Klassen
Den SchulabschluB bzw. Beruf zu bekommen H B sicher
P ü unklar
l
I unsicher
Link*: SchuKMchluB; Ftecht*: Beruf
Schaubild 2.4 Vergleich mit den Eltern: Jugendliche sehen sich klaren Abschlußerwartungen seitens ihrer Eltern gegenüber: Nur etwas weniger als ein Fünftel der Befragten war sich im unklaren über den Schulabschluß, der von Seiten des Vaters oder der Mutter von ihnen erwartet wird. Zudem war festzustellen, daß in der Schülerschaft auch solche Abschlüsse hoch im Kurs stehen, die über den traditionalen Abschluß der besuchten Schulform hinausgehen. Diese Tendenz "nach oben" weisender Präferenzen ist auch sehr plausibel. Einerseits führt der verschärfte Wettbewerb am Ausbildungsstellen— und Arbeitsmarkt zu einem Aufschaukeln der als Eingangsvoraussetzung geforderten Bildungszertifikate, so daß es für den einzelnen Schüler ohne Einschränkung rational ist, sich an diesem Wettbewerb zu beteiligen, will er später nicht das Nachsehen haben. Dadurch aber, daß es sich kaum jemand leisten kann, auf eine möglichst günstige Ausgangsposition in der Konkurrenz um knappe Stellen zu verzichten, und infolgedessen auch entsprechende Bildungsaspirationen entwickelt und umzusetzen versucht werden, kommt es verstärkt zu Konkurrenz und im Rahmen dessen zur faktischen Entwertung auch weiterführender Bildungsabschlüsse, mit der letztlich unvermeidlichen Folge nochmals angehobener Forderungen von für erforderlich gehaltenen Eignungsvoraussetzungen, beispielsweise von einem besonders guten Notendurchschnitt, von Zusatzqualifikationen, etc. Aber nicht nur, daß sich die Qualifiaktionsanforderungen an die Bewerber so allmählich in
44
Jugendliche im Kontext von Familie, Schule und Gleichaltrigengruppe
die Höhe schrauben, es sind auch die infolge der Bildungsexpansion verbesserten Bildungschancen als solche in Betracht zu ziehen, wenn die heutige Generation ihre berufsbezogenen Lebenschancen mit denen ihrer Eltern vergleicht. Genau um diesen Vergleich baten wir die Jugendlichen separat für Vater und Mutter: "Was erwartest Du, wenn Du im Alter Deiner Eltern bist: Wirst Du dann beruflich mehr, gleich viel oder weniger erreicht haben als Dein Vater bzw. Deine Mutter?" Den Schaubildern 2.5 und 2.6 ist zu entnehmen, wie sich die Antworten der Schülerinnen und Schüler über die vorgegebenen Antwortalternativen verteilen. Dabei überwiegt im Vergleich zum Vater die Einschätzung, es später einmal genauso weit, und im Vergleich zur Mutter, es weiter gebracht haben zu werden, worin unter den Mädchen vor allem die Abkehr von der traditionalen Hausfrauenrolle und der Weg in eine eigenständige berufliche Existenz zu verstehen sein wird. Im Vergleich zum Vater wird aber auch nicht selten eine inferiore Position antizipiert und für viele ist der Sachverhalt noch nicht überschaubar. Es darf auch nicht übersehen werden, daß mit Blick auf die aktuellen Schulleistungen nur 32 Prozent der befragten Jugendlichen von erwartungsgemäßen und 8 Prozent von Schulleistungen berichten können, die über den Erwartungen der Eltern liegen; 24 Prozent sehen definitiv, daß ihre Schulleistungen nicht die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen, und 37 Prozent sind sich über ihren Leistungsstand im Spiegel der elterlichen Erwartungen im unklaren. Auch gibt es nach eigenem Bekunden in der Schülerschaft etliche Jugendliche mit echten Schulschwierigkeiten, etwa: 35 Prozent, bei denen mindestens schon einmal eine akute Versetzungsgefährdung bestand; 22 Prozent Schüler, die tatsächlich schon mindestens einmal von einer Klassenwiederholung betroffen waren; 7 Prozent Schüler, die aufgrund ihrer schlechten Leistungen schon die Schulform wechseln mußten. Schulleistungen aus Sicht der Schüler: Die befragten Jungen und Mädchen sind mit ihren Schulleistungen überwiegend zufrieden, wie Tabelle 2.4 zeigt. 62 Prozent der Schülerinnen und Schüler sind demnach mehr oder weniger mit ihren Leistungen zufrieden, eine Minderheit von 16% unzufrieden. Die Mitschülerinnen und Mitschüler stellen eine wichtige Bezugsgruppe der Jugendlichen dar. Wir wollten daher auch wissen, wie sich der Jugendliche im Vergleich zu seinen Mitschülern einschätzt. Er konnte dabei seine Schulleistungen als sehr gut, gut, Klassendurchschnitt, ziemlich schwach oder sehr schwach einstufen. Knapp zwei Drittel (62%) der Befragten sieht die eigenen Schullei-
Bildungsaspirationen
Antizipierter Status im Vergleich zum Vater In Prozent 41
weniger
gleich viel
mehr
weiß nicht
Das beruflich Erreichte wird sein I Mädchen
i Jungen
Schaubild 2.5
Antizipierter Status im Vergleich zur Mutter In Prozent
0 weniger
gleich viel
mehr
weiB nicht
Das beruflich Erreichte wird sein I Mädchen
Schaubild 2.6
I Jungen
Jugendliche im Kontext von Familie, Schule und Gleichaltrigengruppe
46
Tabelle 2.4
Zufriedenheit mit den eigenen Schulleistungen sehr zufrieden ziemlich zufrieden eher zufrieden a l s nicht weder zufrieden noch unzufrieden eher nicht zufrieden ziemlich unzufrieden sehr unzufrieden
6% 33% 23%
22% 13%
2% 1%
stungen im Klassendurchschnitt, 30 Prozent sehen sich darüber und 9 Prozent darunter. Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen treten dabei zutage, wenn wir auf die einzelnen Fächer blicken. Drei Beispiele: Über dem Klassendurchschnitt sehen sich in Physik 40 Prozent der Jungen und 20 Prozent der Mädchen, in Mathematik 44 Prozent der Jungen und 33 Prozent der Mädchen und in Deutsch 25 Prozent der Jungen und 33 Prozent der Mädchen.
2.4
Streit, Meinungsverschiedenheiten und die Bedeutung der Eltern als Bezugspersonen
Zwar orientieren sich viele Jugendliche mit steigendem Alter in wesentlichen Bereichen des Alltagslebens stärker an gleichaltrigen Bezugspersonen, doch bleiben die Eltern in wichtigen Fragen zentrale Bezugspersonen und Ansprechpartner. Aufgrund der langen schulischen Ausbildungswege bleiben die Jugendlichen heutzutage auch verhältnismäßig lange von den Eltern finanziell abhängig. Auch im Lichte der vorliegenden Studie erscheint das Verhältnis zu den Eltern überwiegend recht gut zu sein (vgl. auch Jugendwerk, 1981). Die Schaubilder 2.7 und 2.8 zeigen anhand von Ergebnissen der 1986er Erhebung deutlich, daß die Mehrzahl der Jugendlichen das Verhältnis zu den Eltern positiv beurteilt. Gefragt war separat für Vater und Mutter: "Wie gut verstehst Du Dich mit Deinen Eltern?"; es folgte die Vorgabe von jeweils vier inhaltlichen Alternativen: 'sehr gut', 'gut', 'weniger gut: es gibt gelegentlich Streit' und 'schlecht: es gibt oft Streit'. Ganz bewußt war von uns 'Streit' als Begriff in die Antwortmöglichkeiten eingebaut worden, um auf diese Weise verstärkt auch die härteren sozialen Konflikte im Elternhaus zu erfassen. Außerdem fragten wir noch in einer Anschlußfrage nach der Häufigkeit von 'Meinungsverschiedenheiten', zu denen es zuhause wegen verschiedener Anlässe in den zurückliegenden drei Monaten gekommen sei (siehe unten).
Streit und
Meinungsverschiedenheiten
Streit im Elternhaus Das Verhältnis zum Vater In Prozent
schlecht
weniger gut
gut
sehr gut
Das Verhältnis zum Vater Mädchen
Eilig Jungen
Schaubiid 2.7
Streit im Elternhaus Das Verhältnis zur Mutter In Prozent
schlecht
weniger gut
gut
sehr gut
Das Verhältnis zur Mutter H H Midchen
Schaubild 2.8
H ü Jungen
48
Jugendliche im Kontext von Familie, Schule und Gleichaltrigengruppe
Das Verhältnis zum Vater finden 49,9 Prozent der Jungen sehr gut und 34,1 Prozent gut; 12,1 Prozent halten es für weniger gut und 3,8 Prozent für schlecht (n = 812). Das Verhältnis der Mädchen zum Vater gestaltet sich etwas schwieriger: Von den befragten Mädchen finden das Verhältnis zum Vater 41,7 Prozent sehr gut, 38,7 Prozent gut, 14,3 Prozent weniger gut und 5,3 Prozent schlecht (n = 775). Gelegentliche oder häufige Probleme mit dem Vater haben danach knapp ein Sechstel der Jungen, aber ein Fünftel der Mädchen. Auch das Verhältnis zur Mutter gestaltet sich für die Mädchen etwas schwieriger als für die Jungen. Von den Jungen berichten 56,2 Prozent über ein sehr gutes, 32,3 Prozent über ein gutes, 9,1 Prozent über ein weniger gutes und 2,4 Prozent über ein schlechtes Verhältnis zur Mutter (n = 860). Von den Mädchen haben 55,1 Prozent ein sehr gutes, 29,9 Prozent ein gutes, 11,1 Prozent ein weniger gutes und 3,9 Prozent ein schlechtes Verhältnis zur Mutter (n = 817). Mithin berichten über gelegentlichen oder häufigen Streit mit dem Vater umgerechnet immerhin knapp ein Fünftel (18%) der Jugendlichen, über Streit mit der Mutter 13 Prozent. Solche Schwierigkeiten im Verhältnis zu den Eltern sind, wie die weitere Analyse zeigen wird, als ein wichtiges Glied in der Kette belastender Faktoren im Jugendalter anzusehen, über das vermittelt Schwierigkeiten des Jugendlichen in Schule und Freizeit zu Drogenkonsum und Jugenddelinquenz, zu Streß — Symptomen und Selbstwertproblemen führen (vgl. das Strukturgleichungsmodell in Kapitel 7: Der Beitrag sozialer Konflikte in der Elternfamilie an der Genese auffalligen Verhaltens und psychosozialer Belastungen im Jugendalter liegt sehr hoch). Tatsächlich war es im Bezugszeitraum der zurückliegenden drei Monate bei einem beachtlichen Teil der Jugendlichen zu Hause zu 'Meinungsverschiedenheiten' gekommen. Wir hatten die Jugendlichen gebeten, zu einer Reihe von uns vorgegebenen Konfliktanlässen anzugeben, ob es deswegen 'zu Hause manchmal oder auch öfter zu Meinungsverschiedenheiten' gekommen sei. Zu jedem dieser Konfliktanlässe sollte zwischen den Möglichkeiten 'häufig', 'manchmal', 'selten' oder 'nie' entschieden werden. Schaubild 2.9 zeigt, wie sich die Antworten im einzelnen über diese Kategorien verteilen. An der Spitze der häufig oder manchmal zu Auseinandersetzungen führenden Anlässe steht dabei Konflikt wegen der 'Unordentlichkeit' des Befragten, an zweiter Stelle als Grund, daß er bzw. sie 'zu Hause nicht helfen wollte'. Es folgt Konflikt wegen der 'Leistungen in der Schule' und weil der bzw. die Befragte 'abends ausgehen wollte'. Weitere Anlässe, zu denen wir Angaben erbaten, waren die 'Kleidung/Frisur' des Befragten und weil er bzw.
Streit und
49
Meinungsverschiedenheiten
sie 'raucht'. An der Spitze der Konfliktanlässe stehen mithin Themen der häuslichen Ordnung und das Thema Schulleistungen. Wird als Maßstab der Anteil manchmal bzw. häufig vorkommender Meinungsverschiedenheiten genommen, so lassen sich beim Rauchen keine Unterschiede feststellen, bei den Schulleistungen sind die Jungen etwas stärker betroffen, und bei allen übrigen in Schaubild 2.9 aufgeführten Anlässen die Mädchen (wobei sich die Prozentsatzdifferenzen zwischen 4 und 7 Punkten bewegen). Auch im Falle der im folgenden berichteten Orientierungen lassen die befragten Mädchen eine kritischere Distanz zu den von den Erwachsenen repräsentierten Werten erkennen als die Jungen.
Meinungsverschiedenheiten im Elternhaus
In Prozent
80
0 Ordentlichkeit
Mithilfe
Schule
Ausgehen
Kleidung
Rauchen
Meinungsverschiedenheiten wegen selten
manchmal
häufig
Schaubild 2.9
Wie uns auf eine andere Frage berichtet wurde, wollen von den 12-16jährigen Befragten unserer Studie 'auf jeden Fall' 23 Prozent, 'vielleicht' 51 Prozent,
50
Jugendliche im Kontext von Familie, Schule und Gleichaltrigengruppe
'eher nicht' 20 Prozent und 'auf keinen Fall' knapp 7 Prozent 'zu Hause so lange wohnen bleiben wie irgend möglich* (n = 1713). Wollten die Jugendlichen bei der Erstbefragung im Spätherbst 1986 noch in ihrer großen Mehrheit 'später als Erwachsene' so leben wie der Vater bzw. die Mutter, hatten sich die Anteile bei der Wiederholungsbefragung genau ein Jahr später doch zuungunsten des elterlichen Lebensstils entwickelt. 1986 wollten 14 Prozent später 'genauso' und 49 Prozent 'ungefähr so' leben wie die elterlichen Bezugspersonen; 37 Prozent wollten anders leben (n=1690). Ein Jahr später, als ein großer Teil der 1986 erstmals Befragten wieder erreicht werden konnte, waren es nurmehr 6 Prozent, die 'genauso', dafür aber 47 Prozent, die später ungefähr so wie die Eltern leben möchten; erhöht hatte sich in der Zwischenzeit auch der Anteil derer, die jetzt definitiv angeben, später als Erwachsener 'anders' als die Eltern leben zu wollen: Von 37 Prozent bei der Ersterhebung auf ein Jahr später 47 Prozent (n = 1423). Wir fragten die Jugendlichen im Spätherbst 1986 auch, ob sie später einmal Kinder haben möchten. Zwischen zwei Drittel und drei Viertel der Befragten gaben an, Kinder haben zu wollen, nur 5 Prozent war definitiv dagegen; was aber bemerkenswert ist: Nicht mehr als ein Fünftel würde ihre Kinder dann 'anders' erziehen als sie selbst erzogen wurden. Daß die Eltern zentrale Ansprechpartner für Jugendliche sind, zeigen auch die Antworten auf eine quasiexperimentelle Frage (zu dieser Fragetechnik, vgl. Kreutz, 1972), um deren Beantwortung wir die Jugendlichen gebeten hatten. Wir hatten danach gefragt, an welche Person oder Institution sich der Jugendliche im Falle eines sehr persönlichen und eines ebenfalls persönlichen, aber primär im Schulkontext verankerten Problems wenden würde. Dem Befragten wurden dazu in der 1986er Erhebung zwei hypothetische Situationen vorgegeben, die so gehalten waren, daß nach Art der Situation realistischerweise auch verschiedenste formelle und informelle Ansprechpartner hinzugezogen werden könnten. Wir entschieden uns für die Vorgabe solcher hypothetischen Situationen, um die relative Bedeutung einzelner Bezugspersonen unter genau vergleichbaren Bedingungen ermitteln zu können und nicht davon abhängig zu machen, ob aktuell entsprechende Probleme vorliegen oder nicht. Allerdings sollte sich ein aktuelles Bild der relativen Bedeutung dieser Bezugspersonen ergeben. Der genaue Wortlaut der beiden separat, aber im gleichen Kontext plazierten Fragen war: Stell' Dir vor, Du kommst in folgende Situation: Situation 1 : Du hast ein ganz persönliches Problem als Junge bzw. ein ganz persönliches Problem als Mädchen und Du willst Dich einmal richtig aussprechen. An wen wendest Du Dich? Wer kommt für Dich in Frage?
51
Streit und Meinungsverschiedenheiten
Situation 2: Du bist in der Schule oft müde und unkonzentriert. Du hast schon länger Schwierigkeiten, im Unterricht mitzukommen. Du willst wissen, was mit Dir los ist. An wen wendest Du Dich? Wer kommt für Dich in Frage? Jeder dieser Situationsvorgaben schloß sich eine Liste möglicher informeller und formeller Bezugspersonen bzw. — institutionen an. Zu jedem einzelnen dieser Ansprechpartner war der Jugendliche aufgefordert, auf einer fünfstufigen Skala die Frage zu beantworten: "Daß Du Dich an diese Person oder Stelle wendest, das ist für Dich .." ( + 2) 'ganz sicher', ( + 1) 'ziemlich sicher', (0) 'unklar,
Bezugspersonen im Vergleich Situation 1
Mittelwerte Mutter Vater Geschwister Großvater/-mutter Tante/Onkel Cousine/Cousin Klassenlehrer(in) Vertrauen8lehrer(in) Beratungslehrer(in) Nachbar(in) Freundin Freund Sozialarb./Psychol. Geistlicher/Pastor Arzt Beratungsstelle
Schaubild 2.10
Minus-Werte
Plus-Werte
52
Jugendliche im Kontext von Familie, Schule und Gleichaltrigengruppe
fraglich', ( — 1) 'ziemlich unsicher', ( - 2 ) 'völlig ausgeschlossen'. Durch Berechnung des arithmetischen Mittels von jeder auf diese Weise erhaltenen Häufigkeitsverteilung wird daher für die Gruppe als Ganzer ersichdich, wie subjektiv gewiß oder ungewiß es ist, sich an die eine oder andere Person zu wenden. Und über den Vergleich der Mittelwerte kann ein ungefährer Eindruck von der relativen Bedeutung der einzelnen Bezugspersonen verschafft werden. Da die Skalen um Null zentriert sind, kann das arithmetische Mittel im positiven oder negativen Wertebereich liegen und für die Gruppe als Ganzer auf diese Weise signalisieren, ob Sicherheit (Plus) oder Unsicherheit (Minus) überwiegt.
Bezugspersonen im Vergleich Situation 2
Mittelwerte Mutter Vater Geschwister Großvater/-mutter Tante/Onkei Cousine/Cousin Klassenlehrer(in) Vertrauenslehrer(in) Beratungslehrer(in) Nachbar(in) Freundin Freund Sozialarb./Psychol. Geistlicher/Pastor Arzt Beratungsstelle
Schaubild 2.11
Das Ergebnis der Berechnungen ist in den Schaubildern 2.10 und 2.11 ausgewiesen. In beiden Situationen erweisen sich die Eltern und der Freund bzw. die
Streit und Meinungsverschiedenheiten
53
Freundin unangefochten als die Kontaktpersonen, an die sich der oder die Befragte wenden würde. Vor allem die Mutter erweist sich hier als vorrangige Bezugsperson. Dabei spielt die Freundin bzw. der Freund bei persönlichen Problemen als Junge bzw. als Mädchen eine wichtigere Rolle als bei dem im Schulkontext angesiedelten Problem und rangiert bei der ersten Situation auch klar vor dem Vater. Es folgen in der Reihenfolge ihrer Bedeutung als Ansprechpartner die Geschwister und Großeltern bei ganz persönlichen Problemen, Geschwister und der Klassenlehrer bei den schulbezogenen Schwierigkeiten der Situation 2. Die Jugendlichen orientieren sich daher in erster Linie an unmittelbaren, informellen Bezugspersonen bzw. —gruppen, während formelle Bezugsinstitutionen demgegenüber ein deutlich geringeres Gewicht besitzen.
Tabelle 2.5
Bezugspersonen im Vergleich
Es wandten sich wegen eines Problems wie in Situation 1 oder 2 schon einmal
an ... (jeweils in Prozent aller
Befragten)
Situation 1
Situation 2
Mutter
56,7
45,2
Vater
32,9
26,3
Freundin
43,9
27,4
Freund
30,1
20,0
Geschwister
24,9
15,7
Großvater/-mutter
11,4
5,9
Tante/Onkel
6,3
Cousin/Cousine
8,7
4,1 5,1
Nachbarn
2,6
1,5
Klassenlehrer/in
4,7
9,4
Vertrauens!ehrer/in
2,2
2,9
Beratungslehrer/in
0,4
0,5
Sozi alarbeiter/Psychologe
0,9
1,0
Gei stlicher/Pastor
2,8
1,4
Arzt
2,9
3,8
0,6
0,4
Öffentliche
Beratungsstelle
Die Nachfrage, ob sich der Jugendliche wegen der in den Situationen 1 und 2 angesprochenen Probleme tatsächlich schon einmal an jemanden gewandt habe, veraeinten von allen Befragten ein Fünftel (Situation 1) bzw. zwei Fünftel
Jugendliche im Kontext von Familie, Schule und Gleichaltrigengruppe
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(Situation 2). Alle übrigen Jugendlichen waren im Anschluß aufgefordert anzugeben, an wen sie sich tatsächlich schon gewandt hätten, um ein solches persönliches bzw. schulisches Problem zu besprechen. Es waren Mehrfachnennungen möglich. Tabelle 2.5 zeigt ein Ergebnis (jeweils in Prozent aller n = 1 7 1 7 Befragten), das eine Rangfolge in der Bedeutung der einzelnen Bezugspersonen bzw. — Institutionen widerspiegelt, wie wir sie weitgehend schon auf die hypothetische Frage erkennen konnten. Die Ergebnisse haben rein beschreibenden Charakter und sollen hier auch nur einen ungefähren Eindruck von der relativen Signifikanz der berücksichtigten Bezugspersonen vermitteln.
2.5
Finanzielle Ressourcen, Freizeit und Freunde
Ressourcen: Als weitgehend kommerzialisierter Bereich setzt die Freizeit durchaus nennenswerte finanzielle Ressourcen voraus, will man als Jugendlicher nicht bei vielen gemeinsamen Aktionen unter den Gleichaltrigen im Abseits stehen. Die meisten Freizeitaktivitäten von Jugendlichen sind ohne eigenes Geld heutzutage kaum mehr auszuüben. Um einen ungefährlichen Überblick über die finanziellen Ressourcen zu erhalten, fragten wir: "Wenn Du alles zusammenzählst: Wieviel Geld hast Du für Dich zur Zeit zur freien Verfügung?" Dabei wurden separate Angaben für Taschengeld (von Eltern oder anderen Verwandten) und Geld aus anderen Quellen, z.B. durch Zeitungaustragen oder Nachbarn helfen, erbeten. Nach eigenem Bekunden hatten die Schülerinnen und Schüler im Monat die in Tabelle 2.6 (gruppiert) aufgeführten Geldbeträge zur freien Verfügung (Erstbefragung).
Tabelle 2.6
Monatliche Taschengeldbeträge (in DM und Prozent) % 0 - 15 DM 16 - 30 DM 31 - 45 DM 46 - 60 DM 61 - 75 DM 76 - 90 DM 91 - 105 DM Mehr als 105 DM
19,6 43,0 16,8 11,4 2,5 1,8 2,0 2,8
n=1627
100%
Finanzielle Ressourcen
55
Am Median (der nicht gruppierten Verteilung) gemessen, liegt der durchschnittliche monatliche Taschengeldbetrag bei 28 DM; jeweils ein Viertel aller Befragten haben monatlich weniger als 20 DM bzw. mehr als 40 DM Taschengeld zur freien Verfügung, die Hälfte der Befragten erhält entsprechend einen Betrag zwischen 20 und 40 DM. Darunter sind 5 Prozent Befragte ohne Taschengeld. Zwar lassen sich mit durchschnittlich 28 Mark monatlich durchaus einige Konsumwünsche erfüllen, jedoch darf dabei der Sachverhalt nicht übersehen werden, daß sich die ca. 12 —16jährigen Schülerinnen und Schüler mit Blick auf ihr Taschengeld als recht heterogene Gruppe darstellen, in der sich einige doch bedeutend mehr Wünsche erfüllen können als andere. In Deprivationserfahrungen ist aber gerade im Rahmen der stark an marktvermittelten sozialen Stereotypen und demonstrativem Konsum orientierten Jugendkultur eine Quelle psychosozialer Belastungen und auffalligem Verhalten zu sehen (siehe unten). Das Bild der finanziellen Lage ändert sich nicht entscheidend, wenn auch die zusätzlichen Geldquellen in Betracht gezogen werden. 62 Prozent der befragten Jugendlichen haben keine solche Zusatzquelle, 24 Prozent geben hier einen monatlichen Betrag zwischen einer und 25 Mark an, 8 Prozent einen Betrag zwischen 26 und 50 Mark und 6 Prozent einen darüberliegenden Geldbetrag. Werden schließlich für jeden Befragten Taschengeld und das Geld aus anderen Quellen exakt zusammengerechnet, so führt auch dies nicht zu einem wesentlich anderen Bild. Das durchschnittlich verfügbare Geld erhöht sich dann von 28 DM auf 35 DM im Monat, der am häufigsten auftretende Geldbetrag bleibt jedoch unverändert bei 20 Mark im Monat. Ein Viertel verfügt über bis zu 20 Mark, das obere Quartil verschiebt sich von 40 auf 56 Mark, so daß folglich ein Viertel der Befragten mehr als 56 DM zur Verfügung hat. Vier Fünftel der Befragten sind mit ihrer finanziellen Lage zufrieden bis sehr zufrieden; aber wie wir aus den Antworten auf eine andere Frage wissen, empfinden doch gut ein Fünftel der Befragten echten Mangel an den Dingen, 'die man sich als Mädchen bzw. als Junge gerne kaufen möchte, um bei anderen gut anzukommen'; ein Mangel, der nicht nur das Selbstwertgefühl entscheidend berührt, sondern auch jugenddelinquente Verhaltensweisen fördert (siehe unten). Freizeitaktivitäten: Über die Freizeitaktivitäten der Jugendlichen informiert Tabelle 2.7. Die Angaben stammen aus der Wiederholungsbefragung, die wir im Spätherbst 1987 durchführten. Berücksichtigt sind mithin nur Jugendliche, die in beiden Erhebungen erreicht werden konnten. Bei der Erstbefragung hatten wir diese Frage nicht gestellt. Die Prozentwerte addieren sich zeilenweise zu 100 Prozent (rundungsbedingt auch zu 99 oder 101 Prozent; n=1403 — 1421, je nach fehlenden Werten).
56
Jugendliche im Kontext von Familie, Schule und Gleichaltrigengruppe
Tabelle 2 . 7
Freizeitaktivitäten (in Prozent) I II
Das machst Du schon Das machst Du nicht, würdest Du aber gerne machen III Das interessiert Dich wenig oder gar nicht
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17.
18. 19. 20.
Musik hören Ins Kino gehen Sport treiben Fernsehen, Videos anschauen Bücher lesen Sich in der Clique treffen Einfach nichts tun, ausruhen In die Disco gehen Im Turn- oder Sportverein mitmachen Für dich allein bleiben Ein Musikinstrument spielen/ erlernen Fotografieren In eine Gaststätte, Kneipe gehen In ein Freizeitheim oder Jugendzentrum gehen Über Politik diskutieren In einer religiösen Gemeinschaft mitmachen In einem Schützenverein, Gesangsverein oder bei der Feuerwehr mitmachen Theater, Oper besuchen Spiel am Glücksspielautomaten In einer politischen Gruppe mitmachen
I
II
III
93 74 74 72 70 59 58 46
4 16 13 10 11 18 17 27
4 9 13 18 19 23 25 28
45 38
16 14
39 49
27 25
16 30
57 45
25
10
65
24 21
17 13
59 67
16
5
79
9 9 8
7 14 8
85 76 84
3
9
88
Finanzielle Ressourcen
57
Zwischen Jungen und Mädchen verschieben sich die Präferenzen dabei etwas: Bei Jungen rangiert "Sport treiben" um einiges höher als bei Mädchen, und zwar auf dem 2. Rangplatz; bei Mädchen rückt an diese Stelle "Bücher lesen". Bei Mädchen steht "Theater— und Opernbesuch" deutlich höher im Kurs als bei Jungen, dagegen diskutieren sie weniger über Politik. Außer diesen Akzentsetzungen sind aber keine größeren Unterschiede im Freizeitverhalten zu verzeichnen. Vereinszugehörigkeit, Integration in Clique von Gleichaltrigen und Struktur des Freundeskreises: Nach den Angaben in Tabelle 2.7 verbringen 45 Prozent der Jugendlichen einen Teil ihrer Freizeit im Turn— oder Sportverein. Bei der Ersterhebung, als wir in einem anderen Fragekontext, aber in vergleichbarer Formulierung ebenfalls nach der Integration in Vereine fragten, erhielten wir mit 50 Prozent einen ähnlichen Wert. Im 'Schützenverein/Spielmannszug', 'Feuerwehr'— oder 'Gesangverein' machten nach Angaben im Rahmen derselben Fragesequenz 9 Prozent der Befragten in der Freizeit mit. Anders als der in der öffentlichen Diskussion oft entstehende Eindruck ist also durchaus noch ein nennenswerter Anteil vereinsgebundener Aktivitäten zu verzeichnen. Viele ziehen allerdings eine andere Gesellungsform vor. Bei der Ersterhebung folgte auf eine Liste mit Vereinen und Organisationen, in denen Jugendliche ihre Freizeit verbringen können, die Vorgabe, in der Freizeit 'in keinem Verein, aber in einer Clique' mitzumachen. Auf 37 Prozent der Befragten traf diese Form jugendlicher Gruppenbildung zu. Ohne diese explizite Kontrastierung ist der Begriff der Clique anscheinend weiter gefaßt. In den Kontext möglicher Freizeitaktivitäten gestellt, geben bei der Wiederholungsbefragung 59 Prozent der Befragten an, 'sich in der Clique zu treffen'. Auch in der Ersterhebung, in einer Frage zur Struktur des Freundeskreises entschieden sich auf die Frage "Seid Ihr eine feste Gruppe (Clique), in der 'jeder jeden gut kennt' und in der so manche gemeinsame Aktion läuft?" für 'Ja, Dir macht viel gemeinsam* 38 Prozent und für 'Ja, Ihr macht aber nur wenig gemeinsam' 22 Prozent der Befragten; 40 Prozent treffen sich stattdessen 'mal mit dem einen oder anderen Freund/der einen oder anderen Freundin'. Die anfänglich beschriebene explizite Kontrastierung zwischen Vereins— und Cliquenzugehörigkeit war dabei insofern von Bedeutung, als die an diesem Indikator gemessene 'Cliquenintegration' stärker als im Lichte der übrigen dafür eingesetzten Indikatoren mit jugendlichem Drogenkonsum und delinquenten Verhaltensweisen verbunden war (vgl. Kapitel 7). Auf die Frage nach 'wirklich guten Freunden oder Freundinnen' müssen bei der Erstbefragung im Spätherbst 1986 nur knapp 2 Prozent passen, 24 Prozent haben einen bis drei Freunde, vier bis sechs Freunde haben 35 Prozent und der
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Jugendliche im Kontext von Familie, Schule und Gleichaltrigengruppe
Rest gibt an, daß sein engerer Freundeskreis aus sieben und mehr Personen besteht (n = 1671, kA = 2,7%). Ein Jahr später hatten 2 Prozent keine Freunde, 28 Prozent Kreise aus einem bis drei und 31 Prozent aus vier bis sechs Freunden (n=1408). Vor allem Jungen berichten über größere Freundeskreise, Mädchen haben überwiegend Kreise mit nicht mehr als sechs Personen. Als wir ein Jahr später auch nach der Zusammensetzung des engeren Freundeskreises fragten, ergab sich, daß er in 16 Prozent der Fälle 'nur aus Jungen', in 14 Prozent 'nur aus Mädchen* und in 70 Prozent 'aus Jungen und Mädchen' bestand (n = 1413). 13 Prozent treffen sich seltener als mindestens einmal pro Woche mit einem oder mehreren ihrer Freunde, etwas über die Hälfte von diesen sogar seltener als einmal pro Monat. Um ein Bild des sozialen Netzwerkes zu erhalten, in dem sich der Jugendliche bewegt, konzentrierten wir uns in der vorliegenden Studie unter anderem darauf, die morphologische Struktur des Freundeskreises so zu erfassen, wie sie sich in der Einschätzung des Befragten widerspiegelt, auch um auf die Nennung von Namen und mithin die Preisgabe der Anonymität sowie auf ein reines netzwerkbezogenes Samplingdesign, etwa nach dem "Schneeballprinzip", verzichten zu können. Eine der dazu entwickelten Fragen haben wir bereits vorgestellt: die Unterscheidung des Freundeskreises danach, ob er eher einer Clique mit hoher wechselseitiger Bekanntheit oder eher einer Reihe von Freundschaftsdyaden gleicht, die beim Befragten "zusammenlaufen", ansonsten aber nicht verbunden sind. Der entsprechenden, oben schon vorgestellten Frage "Seid Ihr eine feste Gruppe ..." schloß sich deswegen die Frage an: "Kennen sich Deine Freunde bzw. Freundinnen auch untereinander gut?" Tabelle 2.8 zeigt die Wahrscheinlichkeit der durch Kombinierung mit der erstgenannten Frage sichtbar werdenden Konfigurationen. Tabelle 2.8 zeigt nicht nur, daß knapp ein Drittel (31,3%) aller Befragten in sehr stark integrierten Freundeskreisen verkehren, sondern auch, daß 16,7 Prozent im sozialen Geschehen ihres Freundeskreises eine eher marginale Stellung einzunehmen scheinen. Während die Freunde untereinander viel Kontakt haben, trifft sich der oder die befragte Jugendliche selbst nicht in der Gruppe mit diesen, sondern mal mit dem einen oder dem anderen Gruppenmitglied. 16,2 Prozent (12,9 + 3,3%) der Befragten scheinen sich —am Grad gemeinsamer Aktionen gemessen— definitiv in relativ schwach integrierten Freundeskreisen zu bewegen: Der oder die Jugendliche trifft sich nicht nur mal mit dem einen oder anderen Freund/Freundin, auch diese haben (aus Sicht der Befragten) untereinander nur wenig oder gar keinen Kontakt.
Finanzielle
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Ressourcen
Tabelle 2.8
Struktur des Freundeskreises (in Prozent aller Befragten) "Seid Ihr eine feste Gruppe ("Clique"), in der jeder jeden gut kennt und in der so manche gemeinsame Aktion läuft?"* Ja, viel
Ja, wenig
Nein
Alle
11,6
16,7
59,3
7,4
12,9
24,8
1,4
0,5 2,7
3,3 7,2
4,6 11,3
Alle .... 37,7
22,2
40,2
Freunde auch untereinander gut bekannt?** viel .,.. 31,3 wenig .... 4,5 Nein .... 0,7 nicht ....
100% (n=1616)
•Ja, Ihr macht viel gemeinsam; Ja, Ihr macht aber nur wenig gemeinsam; Nein, Du triffst Dich mal mit dem einen oder anderen Freund/der einen oder anderen Freundin. **Ja, haben viel Kontakt untereinander; Ja, haben aber nur wenig Kontakt untereinander; Nein; Weiß nicht.
Wir können das Bild von der Struktur der Freundeskreise noch vervollständigen. So versuchten wir nicht nur einiges über den engeren Freundeskreis, sondern auch über den besten (gleichgeschlechtlichen) Freund in Erfahrung zu bringen und uns dazu auf eine in Interviewstudien — hier etwas modifizierte — Fragetechnik zu stützen. 2 Prozent gaben keine Antwort, der Rest konnte uns größtenteils die erbetenen Angaben zum besten Freund bzw. zur besten Freundin machen, unter anderem auch eine Frage zum Überschneidungsgrad des eigenen Freundeskreises mit dem des besten Freundes oder der besten Freundin beantworten. Schaubild 2.12 zeigt, wieviele der hier gefragten Jugendlichen 'den gleichen' oder 'nur teilweise den gleichen' Freundeskreis haben, und bei wievielen 'jeder einen anderen Freundeskreis hat'. Tabelle 2.9 ist zu entnehmen, daß in der großen Mehrheit aller Fälle bildungsbezogen sehr homogene Freundschaftsdyaden bestehen: Drei Viertel aller besten
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Jugendliche im Kontext von Familie, Schule und Gleichaltrigengruppe
Überschneidungsgrad der Freundeskreise gleich
Die Freundeskreise sind In Dy*d« mit bcnttm Freund
Schaubild 2.12
Freunde besuchen eine Schule des gleichen Typs wie sie der oder die Befragte selbst besucht. Wie wir auf andere Fragen erfuhren, besuchen in zwei Drittel der Fälle der oder die Befragte und der beste Freund bzw. die beste Freundin dieselbe Schule, gut die Hälfte geht in dieselbe Schulklasse. Tabelle 2.9
Bildungskonfigurationen von befragten Jugendlichen und ihren besten Freunden (in Prozent aller Dyaden)
Besuchte Schul form von.. Befragter/m Hauptschule Realschule Gymnasium Gesamtschule
HS HS RS GY GS
22,6 3,4 1,6 0,5 n=1604
.. bestem Freund/bester Freundin RS GY GS Andere 2,9 19,7 2,5 0,6
2,2 2,9 27,6 1,0
0,6 0,7 0,8 5,8
2,5 1,5 0,4 0,6 100%
Es kann jetzt die Information über den Besuch des gleichen oder eines verschiedenen Schultyps von Befragtem und bestem Freund/bester Freundin mit
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Ressourcen
der Information über den oben angesprochenen Überlappungsgrad ihrer Freundeskreise in Beziehung gesetzt werden. Schaubild 2.13 weist den Befund aus, der sich auf diese Weise ergeben hat: Wird der gleiche Schultyp besucht, liegt der Anteil von Paaren mit verschiedenen Freundeskreisen mit 8,5 bis 9,6 Prozent auf praktisch gleich niedrigem Niveau. Werden hingegen Schulen verschiedenen Typs besucht, ist auch der Anteil von Freundschaftsdyaden mit völlig verschiedenen Freundeskreisen deutlich höher als im Falle der bildungshomogenen Freundschaftsdyaden. Paare, die denselben Schultyp und dann meist auch dieselbe Schule besuchen, haben daher mehr gemeinsame Freunde; ihre Freundeskreise tendieren eher dazu, sich durch diesen erhöhten Anteil "interner" Freundschaftwahlen nach außen hin stärker abzuschließen als dies in Paaren von Freunden der Fall ist, die verschiedene Schultypen besuchen. Der dort erhöhte Anteil mit verschiedenen und folglich auch offeneren Freundeskreisen impliziert jedoch, daß verstärkt Verbindungen auch zwischen ansonsten unverbundenen sozialen Zirkeln hergestellt werden. Darin kann durchaus eine Variante der aus der Netzwerkforschung bekannten Hypothese der Stärke schwacher Verbindungen gesehen werden.
Freundeskreise in Dyade mit bestem Freund In Prozent
0
Hauptschule Realschule Gymnasium Gesamtschule Schulform von Befragtem und Freund ist
* VSr*otil«d*n« Freundeskreis«
Schaubild
2.13
Medienkonsum: In der heutigen Jugendkultur spielt der Medienkonsum eine wichtige Rolle. Auf die Frage, wieviel Zeit der Befragte in der Regel vor dem Fernseher oder Videogerät verbringe, ergaben sich bei der Wiederholungsbefragung im Spätherbst 1987 die in Tabelle 2.10 (gruppiert) ausgewiesenen Werte.
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Jugendliche im Kontext von Familie, Schule und Gleichaltrigengruppe
Tabelle 2.10
Medienkonsum
Medienkonsum an einem.. .. normalen Wochentag b i s zu 1 Stunde 1 b i s 2 Stunden 2 b i s 3 Stunden 3 b i s 4 Stunden mehr a l s 4 Stunden
..Samstag
..Sonntag
22%
14%
25%
36%
23% 22%
26%
21%
10% 11% 100% (1408)
16%
25% 100% (1396)
19% 14% 17% 101% (1385)
Der Durchschnitt an einem normalen Wochentag liegt bei etwa zwei und an einem Samstag bei drei Stunden. Die Jungen sehen mehr fern und schauen länger Video als die Mädchen, und zwar im Durchschnitt um fast eine Stunde. Politisches Interesse: Das geringe Engagement, sich aktiv politisch zu betätigen, ist auffallig: Wie oben gezeigt, machen nach eigenem Bekunden nur 3 Prozent der Befragten in einer politischen Gruppe mit, allerdings geben in der gleichen Liste möglicher Freizeitaktivitäten 21 Prozent an, über Politik zu diskutieren. Ein Jahr zuvor hatten wir mit 17 Prozent einen vergleichbaren Wert ermittelt. Politische Gespräche werden in erster Linie mit den Eltern geführt: Ein Drittel der Befragten unterhält sich oft mit den Eltern über Politik; mit den Freunden führt ein Fünftel oft politische Gespräche, wie den Angaben der 1987er Erhebung zu entnehmen ist. 7 Prozent sind in der Schülervertretung aktiv, 16 Prozent haben sich schon einmal auf einer Schülerversammlung zu Wort gemeldet. Allgemein ist das Interesse für Politik bei den Jungen stärker ausgeprägt als bei den Mädchen, wie Schaubild 2.14 zeigt. Ausgewiesen ist die Verteilung der Antworten, die wir im Spätherbst 1987 auf die Frage "Interessierst Du Dich für Politik?" erhielten (n = 1415). Auch gaben bei der Ersterhebung im Jahre 1986 23 Prozent der Jungen, aber nur 6 Prozent der Mädchen an, regelmäßig den politischen Teil einer Tageszeitung zu lesen. Zu den politischen Parteien hat knapp ein Drittel (31%) der 1987 Befragten ein kritisches Verhältnis. Auf die Frage, welche politische Partei die Interessen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen heute am besten vertrete, entschieden sie sich für die letzte der möglichen Alternativen: 'keine
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Interesse für Politik Ja 51%
Ja
8%
Nein 49%
Jungen
Nel 72%
Mädchen
Schaubild 2.14
Partei', während sich die genannten Präferenzen ansonsten über alle im Bundestag vertretenen politischen Parteien, der SPD (23%), CDU/CSU (18%), den Grünen (11%) und der FDP (3%), verteilen. 3 Prozent entschieden sich für eine andere Partei und von 12 Prozent fehlen die entsprechenden Angaben (n = 1450). Auf die Frage "Glaubst Du, daß von der Bundesregierung genügend für die Jugend getan wird?" antworteten im Spätherbst 1987 33 Prozent mit ja, 61 Prozent verneinten; 7 Prozent äußerten sich nicht zu dieser Frage.
3.
Psychosomatische und emotionale Streß—Symptome
Die folgenden Kapitel behandeln der Reihe nach vier unterschiedliche Belastungssymptome, die in unsere Untersuchung einbezogen sind. Kapitel 3 und 4 gehen auf emotionale und psychophysiologische Streßsymptome sowie auf beeinträchtigtes Selbstwertgefühl ein, sie setzen sich also mit solchen Belastungssymptomen auseinander, die eine innengerichtete, interiorisierende Form der Belastungsverarbeitung signalisieren. Die Kapitel 5 und 6 beschäftigen sich mit "Delinquenz" und "Drogenkonsum" bei Jugendlichen als von ihrem Typus her stärker außengerichteten, exteriorisierenden Formen der Belastungsverarbeitung. In jedem der vier Kapitel beginnen wir mit einer kurzen konzeptionellen Darstellung des jeweiligen Belastungssymptoms und einer Erläuterung der methodischen Operationalisierung, bevor hypothesengeleitet gewonnene statistische Datenzusammenhänge vorgestellt werden. In Kapitel 7 werden dann die statistischen Zusammenhänge zwischen allen Befunden, die in Kapitel 3 — 6 unterbreitet werden, herausgearbeitet.
3.1
Das Streß-Konzept
In verschiedenen Forschungsbereichen, vor allem in Sozialpsychiatrie, Persönlichkeitspsychologie und medizinischer Soziologie, ist in den letzten Jahren intensiv mit einem pragmatischen Konzept von "Streß" gearbeitet worden. Der Begriff "Streß" ist trotz seiner oft unscharf angesetzten Definition tauglich für eine Analyse psychosozialer Belastungen, weil er die Aufmerksamkeit auf die Formen, Stile und Ergebnisse der Auseinandersetzung eines Individuums mit der sozialen Umgebung lenkt. Das Konzept "Streß" ist sowohl für eine innerpsychische Analyse von persönlichen Reaktionen auf Belastungen geeignet wie es auch zugleich gestattet, diese Reaktionen mit den jeweiligen sozialen Umweltbedingungen zu verbinden, in die ein Individuum einbezogen ist. In neueren medizinischen Ansätzen wird ein umfassendes Gesundheits— und Krankheitsmodell vertreten, das eine biologische, psychologische und soziologische Sicht des menschlichen Organismus miteinander verbindet: — Gesundheit und Krankheit werden als multifaktoriell bedingt angesehen; Prädisposition, Beginn und Verlauf einer Krankheit folgen jeweils sozialen, psychologischen, entwicklungsbedingten und physiologischen Regeln. — Krankheit wird als ein Versagen der Anpassung auf verschiedenen Ebenen angesehen, also nicht in erster Linie als Beschädigung des Körpers durch
66
Psychosomatische und emotionale Streß—Symptome
eine chronische Noxe oder einen Erreger verstanden, sondern als eine nichtgelungene Adaption des Organismus an Belastungen. — Gesundheit wird als hohe Anpassungsfähigkeit des Menschen an körperliche, psychische und soziale Belastungen aufgefaßt — und mit der gesamten Lebensweise in Verbindung gebracht. Solchen theoretischen Prämissen folgend, liegen aus der medizinischen Forschung Versuche vor, psychosoziale und psychobiologische Faktoren in ein umfassendes Modell zur Erklärung von Gesundheit und Krankheit einzubeziehen. In der Konzeption von Kagan und Levi (1975) z.B. wird der Rolle belastender psychosozialer Stimuli als Risikofaktoren und als Auslöser für psychobiologische Anpassungs— und Fehlanpassungsprogramme und damit als Initiatoren für Streßmechanismen Rechnung getragen. Es wird ihnen das Potential zugesprochen, Gesundheitsbeeinträchtigungen auszulösen, zumindest dann, wenn sie auf ein bestimmtes "psychobiologisches Programm" stoßen. Darunter verstehen die Autoren eine bestimmte Disposition und Eigenart des Individuums, auf Umweltanforderungen und soziale Ereignisse in einer habituellen Weise zu reagieren. Dieses psychobiologische Programm wird durch die zurückliegenden Erfahrungen im Umgang mit Umwelteinflüssen auf der einen Seite und durch genetische Faktoren auf der anderen Seite mitbestimmt. Psychosoziale Stimuli, die auf eine spezifische psychobiologische Disposition treffen, können demnach Streßsituationen als "Mechanismen" der Spannungsbewältigung auslösen. Unter diesen Mechanismen wird insbesondere die physiologische Reaktion des Organismus verstanden, die durch psychosoziale Stimuli ausgelöst wird. Erreicht die Reaktion ein bestimmtes Ausmaß an Intensität, Häufigkeit und Dauer und treten spezifische interagierende Variablen hinzu, kann diese Reaktion zu Gesundheitsbeeinträchtigung oder Krankheit führen. Der Begriff "Streß" wird in dieser Tradition noch stark in dem klassischen, von Selye (1956) beschriebenen Sinne verwendet, nämlich zur Bezeichnung der unspezifischen Reaktionen des Körpers auf Anforderungen, als ein stereotypes Anpassungsmuster, das den Organismus primär auf körperliche Aktivität, z.B. Kampf oder Flucht, vorbereitet. Wenn körperliche Aktivität nicht möglich oder sozial nicht akzeptabel ist, kann körperlicher oder psychischer Streß entstehen. Streß gilt als einer der Mechanismen, die (unter bestimmten Umständen) zu Krankheit führen. Ein weitergefaßtes Streßkonzept liegt in der sogenannten "psychosomatischen" Forschung zugrunde. Hier wird dem subjektiven Krankheitsempfinden große
Das Streß—Konzept
67
Bedeutung zugemessen. Körperliche Beschwerden geben demnach Auskunft über das aktuelle subjektive Wohlbefinden und Hinweise auf zugrundeliegende Konflikte und ihren subjektiven Bedeutungskontext. Gesundheit bedeutet psychisches Wohlbefinden, das zugleich körperliches Wohlbefinden miteinschließt, insoweit es durch die Psyche beeinflußt ist. Psychosomatische Krankheiten werden von Bräutigam und Christian (1986) unterteilt in: 1.
2.
3.
psychosomatische Krankheitsbilder, bei denen faßbare organische oder zumindest funktionelle Veränderungen in ihrer Entstehung und ihrer Behandlung entscheidend durch die Psyche des Kranken mitbestimmt sind; körperliche Beschwerdebilder ohne organisches Substrat, deren Ursache in psychischen Konflikten, Spannungs— und Gefühlszuständen liegen, die zu einer Somatisierung bzw. zu körperlichen Reaktionen und Begleiterscheinungen führen; seelische Reaktionen auf körperliche Leiden, z.B. bei chronischen Krankheitszuständen, nach Unfällen oder Operationen.
Es wird deutlich, daß in diesem Konzept den psychischen und personalen Faktoren sowohl der Stellenwert einer Ursache als auch einer Begleiterscheinung eingeräumt wird. Die Psychosomatik lehnt damit ein monokausales Krankheitsverständnis ab und betont einen individuellen Bedeutungskontext im gesamten Krankheitsverlauf. Entsprechend werden zu den psychosomatischen Krankheiten und Beschwerdebildern auch gerade diejenigen Krankheiten gezählt, bei denen die traditionelle Medizin weitgehend versagt, also chronische Krankheiten bzw. Krankheiten ohne pathologischen Befund. Deutlich multidimensional und interdisziplinär ausgerichtet sind auch neuere sozialmedizinische und sozialepidemiologische Modelle. Sie gehen von streßauslösenden Risikofakoren aus, die sie in eine umfassende Konstellation von Verhaltensweisen eines Menschen einbeziehen, die als Lebensstil oder Lebensweise bezeichnet wird. Als psychosoziale Risikofaktoren werden solche Umweltbedingungen verstanden, die zu einer schwerwiegenden und mitunter länger andauernden Überforderung führen und in der Folge erhebliche Fehlanpassungen der körperlichen, psychischen und sozialen Kapazitäten, vor allem auch im Bereich der Lebensführung und des Sozialverhaltens, mit sich bringen. Psychosoziale Risiken sind in dieser Konzeption durch die Diskrepanz zwischen menschlichen Bedürfnissen, Fähigkeiten und Erwartungen einerseits und gegebenen Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung bei bestimmten Verhaltensanforderungen andererseits gegeben (Badura 1983, 35). Badura unterscheidet dabei zwischen akuten und chronischen Streßreaktionen.
68
Psychosomatische und emotionale Streß—Symptome
Den andauernden körperlichen, nervlichen und Rollenbelastungen im Alltag wird in der Konzeption von Pearlin (1987) eine große Bedeutung zugesprochen, besonders soweit, wie sie zentrale Elemente des Rollenverhaltens eines Individuums betreffen. Dauerhafter Konflikt, mit nachfolgenden Spannungen und Frustrationen der Erwartungen in Freundschafts — , Eltern—Kind—Beziehungen oder am schulischen/beruflichen Arbeitsplatz können — manchmal durch das plötzliche Auftreten eines an und für sich belanglosen Einzelereignisses, manchmal auch ohne einen erkennbaren Anlaß — der Auslöser für psychische und gesundheitliche Streß — Symptome sein. In diesem Fall ist es nicht das plötzliche Auftreten eines unerwarteten Ereignisses, sondern vielmehr die langandauernde und immer wiederkehrende Strapazierung des Selbstwertgefühls, das den Hintergrund für "Streß" bedeutet. In dieser Konzeption stehen nach Pearlin die dauerhaften konfliktartigen Belastungen und die situativ—aktuellen Belastungsereignisse in einer Beziehung zueinander. Zum Beispiel können kritische Lebensereignisse deshalb belastend sein, weil sie ohnehin bestehende Rollenbelastungen zur endgültigen Strapaze werden lassen oder auch eine Rollenbelastung von überdauernder Bedeutung auslösen. Dieses Modell verhilft dazu, psychische Störungen und körperliche Krankheiten als Symptome und Manifestationen von konflikthaften sozialen Ereignissen und Prozessen zu verstehen. Die Manifestationen von Streß werden auf verschiedenen Ebenen der Gesamtpersönlichkeit beobachtbar, und zwar sowohl auf den Ebenen des Organismus, also des körperlichen und physischen Funktionierens des endokrinen und des immunologischen Systems, als auch im psychischen, emotionalen, kognitiven und sozialen Verhaltensbereich. Störungen auf der einen Ebene führen dabei in der Regel auch zu Störungen auf einer anderen Ebene, wobei die genauen Zusammenhänge noch nicht systematisch erforscht sind. Der Prozeß der Entstehung von Abweichung, Auffälligkeit und Beeinträchtigung, hier verstanden als Symptombildung in Reaktion auf Streß, wird in diesem Modell als ein differenzierter Ablauf mit vielen Weichenstellungen konzipiert. Soziale Faktoren und Rahmenbedingungen werden mit personalen Faktoren und Persönlichkeitsmerkmalen verbunden, spezifische punktuelle Ereigniskonfigurationen werden mit überdauernden Belastungskonstellationen in Beziehung gebracht. Selbstkonzept und Selbstwertgefühl werden als wichtige Vermittlungsvariablen aufgefaßt, die Manifestationen von Streß werden auf verschiedenen Ebenen des Organismus und der Psyche angesiedelt. Dieses Konzept ist damit für eine interdisziplinäre Sichtweise sehr gut geeignet und kann auch für unsere Analyse als Rahmenmodell fungieren.
Operationale Definition
3.2
69
Operationak Definition und Symptomstruktur
Um das Streßkonzept in einer allgemeinen Population von Jugendlichen zu messen, steht uns eine prominente Klasse von Maßen zur 'mentalen Gesundheit' zur Verfügung. Diese besteht aus der '22 —Item—Mental —Health'—Skala, wie sie ursprünglich in der inzwischen klassischen Midtown — Manhattan — Studie (Langner, 1962) eingesetzt wurde, ihrem Vorläufer im Health Opinion Survey (Stirling County Study) (Macmillan, 1957) und Index psychophysiologischer Symptome, wie er von Gurin et. al. (1960) zur Verwendung in seinem nationalen Survey modifiziert wurde. Diese Maße, die selbst eine gemeinsame Quelle, und zwar die 'Army Neuropsychiatric Screening Adjunct' (Stouffer et al., 1950), besitzen, fanden in der nachfolgenden Forschung verbreitete Anwendung (z.B.: Haberman, 1965; Segal et. al., 1967/68; Meile & Haese, 1969; Phillips & Segal, 1969; Inkeles & Smith, 1970; Summers et. al., 1971; Meile, 1972; Schwartz et. al., 1973; Otto & Featherman, 1975; Wheaton, 1978; Kessler & Cleary, 1980), verbunden mit einer anhaltenden Diskussion damit verknüpfter methodologischer Themen. Eingebettet in die umfassendere Diskussion von Validitätsfragen, bezog sich eine der aufgeworfenen Fragen im besonderen auf den Inhalts— bzw. Bedeutungsumfang, der durch diese Skalen repräsentiert wird (Seiler, 1973; Wheaton, 1978, 388; Crandell & Dohrenwend, 1967; Schwartz et. al., 1973). Ursprünglich waren diese Skalen zur Messung von "psychophysiologischen" Beschwerden entworfen worden (Macmillan, 1957: 328; Langner, 1962; Langner, 1965, 372f.), wurden jedoch nachfolgend auch zur Messung verwandter Konzepte eingesetzt (vgl. Seiler, 1973, 257, für einen Review des Langner — Indexes). Einerseits wurden die erfaßten psychophysiologischen Symptome als Indikatoren eines emotionalen Zustandes aufgefaßt, zum Beispiel als "emotionalem Streß" (emotional stress), "depressive und ängstlich/besorgte Stimmung" (moods of depression and anxiety)(Kessler & Cleary, 1980; Wheaton, 1978), als "aktuelle emotionale Anpassung" (current emotional adjustment) (Segal et. al., 1967/68), oder als partieller Indikator des Konstruktes "Machtlosigkeit" (powerlessness) (Otto & Featherman, 1975). Andererseits wurden Versuche angestellt, zum Beispiel den Langner — Index in Teile von "psychologischen", "psychophysiologischen", "physiologischen" und "ambiguösen" Items (z.B.: Crandell & Dohrenwend, 1967; Phillips & Segal, 1969) oder in eine "psychologische" und "physiologische" Komponente zu unterteilen (z.B. Seiler, 1973). Offensichtlich existiert in diesem Forschungsfeld keine völlig übereinstimmende Konzeption des Inhalts, der realerweise durch diese Skalen 'mentaler Gesundheit' erfaßt wird. Wahrscheinlich ist dieser Sachverhalt in Teilen auf die operationale Definition des zugrundeliegenden Konstrukts zurückzuführen, so wie sie
70
Psychosomatische und emotionale Streß—Symptome
durch das Set von Items abgebildet wird. Dieses Set umfaßt eine Majorität von Symptomen, die als "psychophysiologisch" oder "psychosomatisch" bezeichnet werden können, aber es umfaßt auch eine Minorität von Indikatoren von Zuständen, die als emotionale Zustände im Sinne etwa von alltagssprachlich so bezeichneten 'Gefühlen' oder 'Stimmungen' eingestuft werden können. Darüberhinaus beinhalten die Skalen Indikatoren von Drogenkonsum (Rauchen, Trinken). Diese Heterogenitätsspanne zeigt deutlich, daß der Bedeutungsumfang, der mit dem Konzept verbunden wird, primär hinsichtlich der Beziehung zwischen 'psychosomatischen' und 'emotionalen' Komponenten vage ist. Auch ist zu registrieren, daß das Konzept 'mentale Gesundheit' bisweilen in einem sehr weiten Sinne verwandt wurde, der zum Beispiel 'aggressive' Reaktionen, d.h. die sogenannten 'maskulinen' Formen von Anpassung, beinhaltet (Phillips & Segal, 1969; Seiler, 1973; Inkeles & Smith, 1970; vgl. Scott, 1958, für eine Diskussion dieses Themas). Im Rahmen der vorliegenden Studie erschien es uns nicht überzeugend zu versuchen, ein einziges theoretisches Konzept zur Erklärung von teilweise völlig verschiedenen empirischen Phänomenen zu nehmen, sondern diese gegebenenfalls als Indikatoren verschiedener theoretischer Konzepte zu behandeln (vgl. Wingard et. al., für eine ähnliche Strategie). Dies betrifft hier vor allem die Konzepte 'Jugenddelinquenz', 'Drogenkonsum' und 'Streß —Symptome'. Dieses zuletzt genannte Konzept entspricht in seiner operationalen Fassung in weiten Teilen dem oben skizzierten Konzept 'mentale Gesundheit'. Wir wollen uns hier jedoch explizit auf das damit verwandte Streßkonzept stützen, um (1) die ansonsten im Zusammenhang mit dem Bedeutungsgehalt des Konzeptes 'mentale Gesundheit' zu erwartende Konfusion zu vermeiden, und um (2) deutlich zu machen, daß wir nicht beabsichtigen, Jugendliche als mental 'krank' oder 'gesund' einzustufen (vgl. Scott, 1958). Um ein (konstrukt — )valides Maß des Konzeptes 'Streß —Symptome' zu erhalten, unterscheiden wir zwischen einer psychosomatischen und emotionalen Dimension, die operational nicht über ein 'gemischtes' Meßinstrument (der Art der oben beschriebenen, bisher eingesetzten Instrumente), sondern über zwei separate, zu diesem Zweck entworfene Sets von (Einzel — )Skalen erfaßt werden sollten. Eines dieser Instrumente ist eine Symptom —"Checkliste", die sich an der Gurin —Skala und mithin an einer Meßvariante orientiert, die gegenüber der Langner — Version den Vorzug eines deutlich höheren Anteils von Indikatoren besitzt, die das messen, was wir hier als 'psychosomatische Symptome' bezeichnen wollen. Das zweite, auch im Erhebungsinstrument weit vom ersten separierte Set von Indikatoren erfaßt schließlich nicht psychosomatische Beschwerden, sondern 'negative' und 'positive' emotionale Reaktionen, um auf diese Weise dem oben angeführten Problem der Inhalts Validität zu begegnen.
Operationale Definition
71
Denn in gewissem Sinne setzt Konstruktvalidität Inhaltsvalidität voraus, und zwar dann, wenn Inhaltsvalidität weniger als spezifischer Validitätstyp als vielmehr als Ziel aufgefaßt wird, das es zu erreichen gilt, um überhaupt valide Messungen irgendeines Typs zu erhalten (Carmines & Zeller, 1979, 26); dies nur, um sicherzustellen, daß das empirische Maß den gesamten Bedeutungs — bzw. Inhaltsumfang des theoretischen Konzeptes umfaßt und nicht nur einen Teil davon (Fiske, 1987, 288f., 295). Da es im Rahmen einfacher ULS — Faktorenanalysen auch bei Auslassen der Indikatoren einzelner theoretischer Konzepte im wesendichen möglich war, den jeweils verbleibenden Teil der Gesamtstruktur zu replizieren, erschien es gerechtfertigt, sich für eine Analyse der Struktur zwischen emotionalen und psychosomatischen Streß — Symptomen auf den entsprechenden Teil der Korrelationsmatrix zu konzentrieren. Zum Zwecke dieser Analyse wie auch der Analyse des Strukturgleichungsmodells in Kapitel 7 wurden entsprechende Modelle aufgestellt und mithilfe des Programms LISREL VI (Jöreskog & Sörbom, 1986) deren Parameter geschätzt. Da die meisten unserer Indikatoren Ordinalskalen formen, erschien es trotz des Risikos nichtnormalverteilter latenter Variablen noch am sinnvollsten, die Analyse nicht auf die Matrix der Produktmomentkorrelationen, sondern auf die Matrix der polychorischen/polyseriellen Korrelationen der einbezogenen Indikatoren zu stützen und diese Matrix schließlich mit der Methode der ungewichteten Kleinstquadrate (ULS) zu analysieren (vgl. Jöreskog & Sörbom, 1986, IV.1—3; Olsson, 1979; 1982). Die korrespondierenden Maximum — Likelihood —(ML—) Lösungen werden nur zu Vergleichszwecken herangezogen. Chi2 und/oder t —Werte (im Falle von ML) wurden angesichts der Abweichung der involvierten Skalen von der Normalverteilung nicht für valide gehalten. Folglich werden auch keinerlei Schlußfolgerungen aus diesen Zahlen gezogen (vgl. Jöreskog & Sörbom, 1986, IV.l).
Ergebnisse einer konfirmatorischen Faktorenanalyse Tabelle 3.1 zeigt das Ergebnis der Faktorenanalyse einer Reihe von psychosomatischen Beschwerden und negativen Gefühlen. Getestet wurde eine Struktur, die einerseits durch einen Faktor gebildet wird, der das in der psychosomatischen Medizin so genannte 'allgemeine vegetative Syndrom' abbildet (z.B. Bräutigam & Christian, 1986) und andererseits aus einem Set von drei weiteren Faktoren besteht, das spezifische emotionale Reaktionen erfaßt. Es sind dies ein Faktor mit primär anomischen Gefühlen (hilflos, überflüssig, usw.), ein Faktor mit Gefühlen (angespannt, überfordert, erschöpft), die als Reaktion auf eine Situation starker äußerer Leistungsanforderung interpretierbar sind, sowie schließlich ein Faktor außengeleiteter, Aggression widerspiegelnder Gefühle (Zorn, Ärger, Wut).
Psychosomatische
72
Tabelle 3.1
und emotionale
Streß—Symptome
Psychosomatische und emotionale Streß — Symptome Standardisierte Lösung einer konfirmatorischen Faktorenanalyse Faktoren
Streß-Symptome* Psychosomatische Beschwerden: Gewichtsverlust wegen Beunruhigung Schwindelgefühle starkes Herzklopfen Übelkeit Schlaflosigkeit, Schlafstörungen Händezittern Appetitlosigkeit Magenbeschwerden Schweißausbrüche Atembeschwerden Alpträume Kopfschmerzen Nervosität, Unruhe Konzentrationsschwierigkeiten
.72 .67 .65 .63
.08
-.01
.02
.03
.62 .62
.03
.61
.60
.59 .57 .55 52 .51 .44
.07 .29 .32
Gefühle: hilflos überflüssig einsam traurig Sinnlosigkeit Angst Schuldgefühle unzufrieden angespannt überfordert erschöpft Zorn, Ärger wütend
-.10 .07 .19 .10 -.07 .09
.77 .75 .69 .59 .56 .54 .47 .27
-
-
.12
-
.11 .16 .69 .67 .67
.08
.25 .17 .08 .29
-
.09 .95 .77
Nicht ausgewiesene Koeffizienten sind gleich Null gesetzt und wurden nicht als freie Parameter geschätzt. Für die Koeffizienten außerhalb der Boxen wurde die Nullrestriktion sukzessiv in einer Serie von jeweils erneuten Schätzungen aufgehoben, um die Modellanpassung (goodness—of— fit) zu verbessern. * Skala (für jedes Symptom): häufig (4)/ manchmal (3)/ selten (2)/ nie (1)
Operationale Definition
73
Zunächst gingen wir von der Hypothese einer 'reinen' Struktur aus. Um die Güte der Anpassung des Modells an den empirischen Befund, den Goodness—of—Fit, zu verbessern, erschien es jedoch ratsam, einige Nullrestriktionen des Meßmodells aufzuheben und auf diese Weise auf der Modellebene zuzulassen, daß Symptome indikativ für mehr als ein einzelnes theoretisches Konstrukt sein können. Gemessen an den verfügbaren Indices (Goodness—of— fit—index GFI=.991; root mean Square residual RMR= .033) konnte eine akzeptable Modellanpassung erzielt werden. Dafür sprechen auch die Werte der Modifikationsindices (alle kleiner 5.0), die hier jedoch nur von heuristischem Wert sind. (Verglichen mit der korrespondierenden ML—Lösung ermitteln wir zudem einen relativ invarianten Befund: Rund 86% der 56 Schätzwerte der standardisierten Lösung in Tabelle 3.1 sind annähernd gleich bzw. differieren um nicht mehr als .01, weitere 11% Schätzwerte differieren um nicht mehr als .02 und 2 weitere Werte (4%) weichen um .03 bzw. .04 ab). Es existieren zwei Wege, jeder latenten Variable eine Skaleneinheit zuzuweisen: 1. Für jedes Konzept wird die Skaleneinheit festgelegt, so zu sein wie in einem seiner Indikatoren (durch eine fix gesetzte Eins in jeder Spalte der einbezogenen Lambda—Matrizen), oder 2. durch die Annahme einheitlicher Varianzen (unit variances) der latenten Variablen (durch Standardisierung der Phi —Matrix) (Jöreskog & Sörbom, 1986, 1.70- Der vorliegenden Analyse liegt die zweite, dem Strukturgleichungsmodell in Kapitel 7 die erste Option zugrunde. Der empirische Befund in Tabelle 3.1 stützt die Vermutung, daß Emotionen und psychovegetative Beschwerden in der Tat verschiedene Dinge sind und daher auch als separate Größen in die Betrachtung einbezogen werden sollten. Nur in sehr seltenen Fällen erweisen sich Streß — Symptome als multiple Indikatoren in dem Sinne, daß sie zugleich zu mehr als einem Faktor einen nennenswerten Beitrag leisten; ein Befund, der als Beleg für die oben vorgetragene Annahme eines in zwei (Bedeutungs—»Komponenten zerfallenden Streßkonzeptes gewertet werden kann. Im Rahmen dieser Gesamtstruktur liefert der Befund in Tabelle 3.1 auch empirische Evidenz für die Annahme, daß alle einbezogenen Beschwerden Ausdruck desselben zugrundeliegenden (latenten) Phänomens sind. Zu fragen ist daher, welches die latente Dimension ist, die durch diese Beschwerden erfaßt wird, und wir nehmen an, daß es sich hierbei wahrscheinlich um Symptome im Rahmen des allgemeinen psychosomatischen Syndroms handelt (vgl. Bräutigam & Christian, 1986, 341). Dabei erweisen sich im besonderen zwei der insgesamt einbezogenen vierzehn Beschwerden als Symptome, die noch in weiterer Hinsicht Indikatorwert besitzen, da sie zugleich auch Symptome für Überforderung, dem 3. Faktor in Tabelle 3.1, darstellen. In deutlich schwächerem Ausmaße, aber ebenfalls nicht unplausibel, trifft dieser Sachverhalt auch auf Kopfschmerzen zu. Die Faktoren Zwei, Drei und Vier bilden anders als Faktor Eins Emotionen ab, und zwar im besonderen negative oder "schmerzhafte Emotionen" (Kemper, 1981). Kemper nimmt an, daß eine Reihe grundlegender Emotionen wie Schuld, Scham, Angst, Depression und Ärger aus subjektiv empfundenem Überfluß oder Mangel an Macht und Status resultiert, die das Individuum in seinen sozialen Beziehungen besitzt oder zuerkannt bekommt. Auch werden aus Sicht der Soziologie spezifische soziale Relationen vielfach erst durch Vorhandensein bestimmter Emotionen definiert. Beispiele sind etwa Neid, Eifersucht und Mißgunst (vgl. Simmel, 1908, 210f.) sowie Dankbarkeit und das sich aus ihr ableitbare Deferenzverhalten.
74
Psychosomatische und emotionale Streß—Symptome
Mit welchen Emotionen aus Sicht der soziologischen Theorie zu rechnen ist, ist jedoch nicht nur eine Frage der wahrgenommenen Verteilung von Macht und Status, sondern auch eine Frage der wahrgenommenen Verantwortlichkeit für diese Verteilung: Sieht sie das Individuum bei sich oder anderen Beteiligten am sozialen Geschehen? Emotionen enthalten in starkem Maße eine bewertende Komponente, sie entstehen vielfach als Reaktion auf den vermeintlichen oder sachlich begründeten Glauben, im sozialen Vergleich zuwenig oder zuviel eines Gutes zu besitzen (vgl. Homans, 1972). Die Entstehung vieler Emotionen ist mithin auch stark an die Existenz sozialer Werte gebunden, die zum Beispiel vorsehen, was einen gerechten oder sonstwie akzeptablen sozialen Tausch von Gratifikationen im täglichen Leben ausmacht. Nicht in jedem Fall wird dieser Bezug von Emotionen auf den insgesamt oder in Teilen der Gesellschaft wirksamen Werthintergrund so sichtbar werden wie etwa im Falle moralischer Gefühle wie Empörung und Entrüstung, aber in vielen Fällen ist dieser Werthintergrund von Bedeutung. Etwa im Falle von Neid als Folge sozialer Vergleiche, aber auch in verdeckter Weise bei Gefühlen mit nur geringem Grad an sozialer Sichtbarkeit im sozialen Alltagskontext. Möglicherweise ist es dieser Wertbezug, der Emotionen die Eigenschaft der Punitivität verleiht; eine Idee, die auch in der politischen Philosophie Bertrand Russell's, in der Impulse im sozialen Gewände daraus entstehenden Verlangens eine wichtige Rolle spielen, als Unterscheidung zwischen konstruktiven und destruktiven Impulsen zu finden ist (Russell, 1916, 15f., 18). Emotionen entstehen nicht nur in einem genuin sozialen Prozeß, sie sind in vielen Fällen auch zielgerichtete Emotionen in der Weise, daß sie als Objekt entweder die eigene Person oder aber eine vorgestellte oder reale Bezugsgruppe oder —person, ansprechen. Auf jedes dieser Objekte kann sich daher auch im Falle negativer Gefühle der Bestrafungsgehalt von Emotionen beziehen. Ist dieses Objekt die eigene Person, wollen wir von intrapunitiven Emotionen sprechen, andernfalls von extrapunitiven Emotionen. Dabei behalten wir die Prämisse im Auge, daß die soziale Basis der Gefühle in Merkmalen der Beziehungen zu suchen ist, die das Individuum zu signifikanten Bezugspersonen und — gruppen unterhält sowie überhaupt in Merkmalen des sozialen Kontextes, in dem sich die Person bewegt. Und es ist präzise dieser soziale Hintergrund von Emotionen, der die in Tabelle 3.1 ausgewiesene Gefühlsstruktur erklären kann. So ermitteln wir für die untersuchte Gruppe von Jugendlichen mit dem zweiten Faktor eine Dimension primär intrapunitiver Gefühle, die wir als anomische Gefühle bezeichnen können, weil sich in ihnen sehr deutlich Merkmale von Situationen sozialer Anomie widerspiegeln. Zum einen eine geschwächte soziale Bande zwischen den Mitgliedern der für Jugendliche zentralen Bezugsgruppen und zum anderen die nur eingeschränkte Fähigkeit dieser Kollektive zur Vermittlung positiver Wertbindungen. Soziale Anomie in weitgehend geschlossenen sozialen Interaktionssystemen (wie es das Familien— und Verwandtschaftssystem, aber auch die Gleichaltrigengruppe sein kann) kann in der Weise entstehen, daß die einzelnen Mitglieder des Kollektivs trotz faktischer Interdependenz der Folgen ihrer Handlungen in zu weitgehendem Maße an der Verwirklichung ihrer Individualbedürfnisse orientiert agieren, die Konsequenzen ihrer Handlungen für (beteiligte) Dritte nicht oder nur unzureichend bedenken und Handlungsziele auch zu Lasten Dritter durchzusetzen versuchen. Eine solche Situation indiziert bereits eine Schwächung der auf sozialen Ausgleich und Egalität wirkenden Werte und so ansatzweise Anomie im Sinne Durkheim's als Folge grenzenlos werdender Bedürfnisse unter Bedingungen einer allgemein geschwächten moralischen Autorität der Gruppe (Gesellschaft). Folglich ist auf Seiten der Beteiligten mit den ungünstigeren Aussichten auf Durchsetzung ihrer Bedürfnisse mit Gefühlsreaktionen zu rechnen, die genau diese äußere Lage widerspiegeln: Gefühle von Hilf— und Machtlosigkeit
Operationale Definition
75
bis hin zu Angst. Auch werden in einer solchen Situation die Personen, die stärker als andere Objekt individualistischer Handlungsweisen werden, spüren, daß an ihnen als Subjekten kaum Interesse besteht. Es werden in der Folge entsprechende emotionale Bewertungen dieses Sachverhalts nicht ausbleiben und es wird vor allem das Gefühl vital werden, überflüssig zu sein; ein Gefühl, das in seinem Kern in der Majorität der Fälle bereits eine echte Selbstwertschwächung indizieren dürfte. Unter Bedingungen sozialer Anomie kommt es jedoch nicht nur zu Reaktionen auf die Versuche, einen letztlich individualisierenden Lebensstil auch zu Lasten Beteiligter durchzusetzen, sondern auch zu Konsequenzen der mit der eingeschränkten Solidarität verbundenen Schwächung des Kollektivs, den Heranwachsenden auch in moralischer Hinsicht eine echte Perspektive bieten zu können. Wir nehmen an, daß nur auf der Grundlage positiver und als solidarisch empfundener Beziehungen unter Gleichen, nicht hingegen durch moralisierende Appelle an die Disziplin (vgl. Russell, 1916, 11) eine echte Bereitschaft geweckt werden kann, soziale Werte der Gruppe zu übernehmen. Ist dies nicht der Fall, ist mit emotionalen Haltungen zu rechnen, in denen die Gruppe ihre moralische Autorität und mithin ihre Fähigkeit einbüßt, auf Seiten des heranwachsenden Jugendlichen zu einer klaren und als erstrebenswert und verbindlich erlebten Zielperspektive beizutragen. Es kommt zu Sinnproblemen und Formen emotionalen Rückzugs aus der aktiven sozialen Auseinandersetzung, verbunden mit Schuldgefühlen und Unzufriedenheit. An der Entstehung sozialer Gefühle hat das umgebende Kollektiv einen nicht zu unterschätzenden Anteil. Emotionen erscheinen nur in dem Sinne als individuelle Größen, daß sie unter den gegebenen kulturellen Rahmenbedingungen eher als individuelles denn kollektives Erlebnis interpretiert werden. Sie spiegeln jedoch vielfach soziale Beziehungen wider und sind in dem Sinne relationale Größen. Darauf hat besonders auch Kemper (1981) aufmerksam gemacht. So nimmt er etwa an, daß depressive Gefühle (sie entsprechen teilweise den anomischen Gefühlen des 2. Faktors) aus einem Mangel an Status resultieren, also auf ungenügender Belohnung und Anerkennung beruhen, die freiwillig durch andere Mitglieder des Kollektivs gewährt wird (Kemper, 1981, 144). Wird dabei die eigene Person als für das Statusdefizit verantwortlich angesehen, kommt es zu dem, von Kemper so bezeichneten, "selbstbestrafenden Typ der Depression". Dieser wird jedoch nicht einfach als nach innen gerichtete Feindseligkeit interpretiert, "sondern als Ergebnis des Gratifikationsentzugs durch andere. Depression ist einfach der Hunger nach dem, was andere zu bieten haben und nicht geben oder zurückgezogen haben" (Kemper, 1981, 144). Das in Tabelle 3.1 ausgewiesene empirische Resultat weicht dabei in Teilen von einer reinen Symptomstruktur in der Weise ab, daß einige Gefühle mehr als eine theoretische Dimension erfassen. Zwar leisten sie mit Ausnahme des offensichtlich unspezifischen Gefühls der Unzufriedenheit, das praktisch gleichgewichtig die Dimensionen Anomie und emotionale Aggressivität indiziert, zu jeweils einem der Faktoren einen hauptsächlichen Beitrag. Einige wenige Gefühle besitzen jedoch durchaus auch Indikatorwert für eine weitere theoretische Dimension. So zeigt sich etwa, daß Traurigkeit und Sinnlosigkeit primär zwar Anomie widerspiegeln, sekundär jedoch auch eine Verbindung mit emotionaler Aggressivität eingehen, also mit einer emotionalen Größe, für die in erster Linie Zorn, Ärger und Wut die tragenden Gefühle sind. Diese besondere 'Mixtur' innen— und außengeleiteter Gefühle ist auch keineswegs unplausibel, wenn man bedenkt, daß Sinnlosigkeitserlebnisse eine subjektiv sehr bedrohliche Qualität erhalten können und daher zu Versuchen, sich von der emotionalen Last zu befreien, geradezu provozieren können. Auch Angst weist tendenziell die Verbindung mit einer solchen extrapunitiven emotionalen Komponente auf, jedoch in deutlich schwächerem Ausmaße.
76
Psychosomatische und emotionale Streß—Symptome
Angst scheint eine emotionale Reaktion zu sein, die in viel stärkerem Maße intrapunitive Reaktionsweisen und hier auch begleitende Somatisierungstendenzen anzuzeigen vermag. Nach dem Befund in Tabelle 3.1 sind es von den anomischen Gefühlen vor allem Angst und Schuldgefühle, die im Sinne einer leichten Tendenz nebenher auch zu dem Faktor beitragen, der die psychovegetativen Beschwerden abbildet. Das Gleiche gilt für das Gefühl, erschöpft zu sein.
3.3
Die einzelnen Streß—Symptome im quantitativen Vergleich
Im folgenden wollen wir zeigen, wie häufig die Symptome (ohne Berücksichtigung der Faktorenstruktur) im einzelnen aufgetreten sind, und wie sich diese Verteilungen nach den drei Untersuchungsregionen aufgeschlüsselt darstellen. Wie die Tabellen 3.2 und 3.3 zeigen, dominieren bei den Symptomen, die nach den Strukturinformationen des letzten Abschnitts wahrscheinlich im Rahmen des allgemeinen vegetativen Syndroms gesehen werden können (ohne daß wir hier allerdings in Einzelfallen verläßlich spezifische Symptomursachen ausschließen könnten), mit Abstand Kopfschmerzen und Nervosität/Unruhe. Auch Schwindelgefühle sind sehr verbreitet, während am anderen Ende des erfaßten Spektrums von Symptomen Alpträume, Atembeschwerden und Gewichtsverlust wegen Beunruhigung zu den vergleichsweise seltensten Ereignissen zählen. "Spitzenreiter" bei den emotionalen Streß — Symptomen ist die Reaktion, wütend zu sein, gefolgt von Zorn/ Ärger und Gefühlen von Erschöpfung und Überforderung. Am anderen Ende stehen die Gefühle, hilflos und überflüssig zu sein, sowie Schuldgefühle. Wir erfragten diese emotionalen Reaktionen im Rahmen einer längeren Liste, die in gemischter Folge sowohl positive als auch die bereits referierten negativen Gefühle enthielt. Schaubilder 3.1 und 3.2 zeigen die Ergebnisse in zusammengefaßter Form. Werden die Werte nach Regionen aufgeschlüsselt (siehe Tabellen 3.2 und 3.3), so sind bei den Gefühlen so gut wie keine größeren Unterschiede zu verzeichnen. Mit Blick auf die anderen Symptome ist zwar am Kriterium 'häufiger' (versus nicht — häufiger) Symptome gemessen für elf der vierzehn Beschwerden der Trend einer im ländlichen Raum leicht reduzierten Symptombelastung zu konstatieren, jedoch bleibt einschränkend festzuhalten, daß dieser Trend nur bei vier dieser elf Symptome (auf dem 5%— Niveau, zweiseitigem Test und um den Faktor 1,225 korrigierten Standardfehlern) Signifikanz erreicht, und zwar im Falle von Kopfschmerzen, Alpträumen, Nervosität/Unruhe und Händezittern. Dabei ist der geringere Anteil 'häufiger' Symptome im ländlichen Raum nur im Falle von Kopfschmerzen und Alpträumen mit einem dort zugleich erhöhten Anteil von Jugendlichen ohne solche Beschwerden verbunden (und nicht nur mit seltener als 'häufig' auftretenden Beschwerden). Wird dabei (wie unten) als Kriterium herangezogen, wenigstens ein Symptom häufig zu haben, ergeben
Die einzelnen
Streß—Symptome
Tabelle 3.2
Streß — Symptome (psychosomatisch), nach Region häufig
Kopfschmerzen
Nervosität, Unruhe
Schwindelgefühle
Schlaflosigkeit, Schlafstörungen Magenbeschwerden
Konzentrationsschwierigkeiten Starkes Herzklopfen
Händezittern
Übelkeit
Appetitlosigkeit
Schweißausbrüche
AIpträume
Atembeschwerden
Gewichtsverlust wegen Beunruhigung
BZ LR SV BZ LR SV BZ LR SV BZ LR SV BZ LR SV BZ LR SV BZ LR SV BZ LR SV BZ LR SV BZ LR SV BZ LR SV BZ LR SV BZ LR SV BZ LR SV
23,4 17,1 21,6 18,3 12,7 17,5 13,9 11,4 10,2 9,5 7,0 10,2 10,2 7,6 8,7 9,6 7,0 9,6 5,4 8,6 8,5 8,4 5,3 9,2 8,1 5,9 7,2 8,3 4,8 6,2 4,0 2,7 5,3 5,2 2,0 2,8 3,3 3,0 2,7 1,9 1,2 1,4
manchmal 30,8 27,2 27,2 27,6 23,6 24,1 14,9 17,0 20,5 17,8 15,1 15,4 22,8 20,4 19,8 26,0 28,5 25,6 18,1 14,8 15,6 12,3 17,6 16,3 21,3 18,9 18,7 17,6 15,9 13,5 10,0 11,4 10,5 7,1 6,1 6,9 9,3 5,8 4,4 3,5 2,3 3,5
selten
nie
27,5 35,9 33,7 23,2 38,0 29,0 26,5 27,4 26,7 30,5 28,0 26,7 36,1 36,1 34,3 37,9 37,8 37,7 26,2 26,7 19,9 23,8 26,8 18,4 35,3 37,6 33,4 23,9 25,4 28,8 22,6 23,6 21,9 23,2 20,3 20,3 17,4 17,9 16,1 14,2 11,2 11,5
18,2 19,9 17,5 30,9 25,6 29,4 44,7 44,3 42,6 42,1 49,9 47,7 30,9 35,9 37,2 26,5 26,7 27,2 50,3 49,9 56,0 55,5 50,2 56,0 35,3 37,6 40,6 50,2 53,8 51,5 63,4 62,3 62,3 64,5 71,6 70,0 70,0 73,4 76,9 80,4 85,2 83,6
BZ Ballungszentrum, LR Ländlicher Raum, SV Solitäres Verdichtungsgebiet
N (483) (644) (566) (482) (644) (565) (483) (643) (561) (482) (643) (566) (482) (643) (565) (480) (643) (563) (481) (637) (563) (479) (641) (564) (479) (644) (566) (482) (641) (565) (478) (640) (562) (482) (644) (566) (483) (643) (566) (479) (642) (567)
78
Psychosomatische und emotionale
Tabelle 3.3
Streß—Symptome
Streß-Symptome (emotional), nach Region häufig
wütend
Zorn, Ärger
erschöpft
traurig
überfordert
angespannt
unzufrieden
einsam
Angst
Sinnlosigkeit
hilflos
überflüssig
Schuldgefühle
BZ LR SV BZ LR SV BZ LR SV BZ LR SV BZ LR SV BZ LR SV BZ LR SV BZ LR SV BZ LR SV BZ LR SV BZ LR SV BZ LR SV BZ LR SV
26,1 24,2 24,1 20,5 15,5 16,7 18,2 13,7 20,7 17,8 13,7 14,9 12,3 10,3 14,9 9,3 8,0 10,4 7,8 7,5 10,5 9,8 6,0 8,3 7,5 6,1 8,3 4,9 4,1 6,0 5,0 3,2 5,8 4,8 4,2 4,4 5,2 2,5 5,0
manchmal 46,4 47,6 47,5 36,2 40,1 36,1 46,2 44,4 38,4 37,6 37,4 37,9 44,2 47,8 41,2 36,7 36,0 34,1 39,5 38,9 42,4 21,2 23,5 19,4 23,5 24,6 22,2 21,8 21,8 19,8 16,3 19,0 14,4 22,9 17,5 17,2 24,3 23,9 21,2
selten 26,7 26,8 27,4 38,7 40,9 43,1 30,0 34,9 32,6 40,2 45,9 43,9 38,1 35,7 38,5 40,6 41,7 42,9 47,3 47,1 43,2 40,0 38,0 36,9 48,6 49,5 47,5 47,2 47,0 44,5 50,2 48,6 48,6 36,4 43,5 42,3 44,0 52,5 48,8
nie 0,8 1,4 1,1 4,6 3,6 4,0 5,6 6,9 8,2 4,5 2,9 3,3 5,4 6,2 5,4 13,4 14,3 12,7 5,3 6,5 3,9 29,0 32,5 35,3 20,4 19,8 22,0 26,1 27,1 29,7 28,5 29,2 31,2 35,8 34,8 36,1 26,6 21,1 25,0
BZ Ballungszentrum, LR Ländlicher Raum, SV Solitäres Verdichtungsgebiet
N (491) (649) (569) (483) (646) (568) (483) (648) (570) (490) (649) (570) (480) (649) (571) (471) (636) (560) (486) (650) (569) (482) (650) (566) (481) (642) (564) (472) (634) (562) (480) (648) (568) (475) (644) (565) (482) (648) (565)
Die einzelnen
Streß—Symptome
Stressymptome im Vergleich Psychosomatische Symptome Kopfschmerzen NervositäUlnruhe Schwindelgefühle Sehls Moeig kelt Magenbeschwerden Konzentratlonsechw. Starkes Herzklopfen Händezittern Übelkeit Appetitlosigkeit SchwelBausbruche Alpträume Atembeschwerden Gewichtsverlust* 120
40 60 80 In Prozent
m i
nl« i manchmal
iH 1ü
selten häufig
' wegen Beunruhigung
Schaubild
3.1
Stressymptome im Vergleich
Emotionale Stressymptome wütend Zorn, Arger erschöpft traurig überfordert angespannt unzufrieden einsam Angst Sinnlosigkeit hilflos überflüssig Schuldgefühle 20
40 60 80 In Prozent
H ü nie 1
Schaubild
3.2
1 menchmel
eeiten SU häufig
100
120
80
Psychosomatische und emotionale Streß—Symptome
sich mit Anteilen von 31,2 Prozent (Ballungszentrum), 34,9 Prozent (Ländlicher Raum) und 33,9 Prozent (Solit. Verdichtungsgebiet) keine regional bedeutsamen Unterschiede.
Stressymptome
Jungen und Mädchen im Vergleich
D a s
S y m p t o m
h a b e n
' h ä u f i g '
Kopfschmerzen Nervosität,Unruhe Schwindelgefühle Schlaflosigkeit Magenbeschwerden Konzentrationsschw. Starkes Herzklopfen Händezittern Übelkeit Appetitlosigkeit SchweiBausbrüche Alpträume Atembeschwerden Gewichtsverlust
Mädchen
• ¡7,3
"aacuen
^
i
»
a
Jungen ^
e
.
n
7
In Prozent
Schaubild 3.3
Vor allem Mädchen berichten über häufige Beschwerden. Schaubild 3.3 zeigt im Vergleich den Anteil von Jungen bzw. Mädchen mit häufigen Symptomen. Beispielsweise berichten 27,3 Prozent der Mädchen und 13,7 Prozent der Jungen über 'häufige' Kopfschmerzen, über häufige Konzentrationsschwierigkeiten klagen 10,9 Prozent der Mädchen und 6,4 Prozent der Jungen, etc. Dabei liegen die Anteile von Jugendlichen mit häufigen Beschwerden bei praktisch allen der ausgewiesenen Symptomen bei Mädchen auf circa doppelt so hohem oder höherem Niveau als bei den Jungen. Anders bei den emotionalen
81
Die einzelnen Streß—Symptome
Reaktionen in Schaubild 3.4: Zwar erweist sich auch hier das Belastungsniveau bei den Mädchen als fast durchgängig höher als bei den Jungen, nur ist der Abstand bei den meisten Symptomen viel geringer bis praktisch nicht vorhanden. Bemerkenswert ist allerdings ein Unterschied: Der Anteil von Jugendlichen, der häufig Angst hat, beträgt bei den Mädchen das 7fache des entsprechenden Anteils bei den Jungen.
Stressymptome
Jungen und Mädchen im Vergleich
Mädchen
Das Gefühl haben 'häufig' wütend Zorn.Ärger erschöpft traurig überfordert angespannt unzufrieden einsam Angst Sinnlosigkeit hilflos überflüssig Schuldgefühle
2H M 17.2 — ,8 —
H B Jungen
M •
12.9 17.5 8.1
• 1 4 — | B W « 10.9 j 9.8 — P B M 8.6 : 10,5 • • H B 6,9
In P r o z e n t
Schaubild 3.4
Zahl der Symptome Wir wollen uns in den folgenden Analysen nicht auf einzelne Symptome beziehen, sondern vielmehr versuchen, zu einem globaleren Bild der Belastungssituation zu gelangen, wie sie etwa durch das häufige Auftreten des einen oder
82
Psychosomatische und emotionale Streß—Symptome
anderen Symptoms indiziert sein kann. Wir gehen deshalb so vor, daß für jede Person die Zahl der nach eigenem Bekunden 'häufig' auftretenden Symptome ausgezählt wird, wobei die Summenbildung getrennt für die emotionale und psychosomatische Streßkomponente durchgeführt wird. Den Schaubildern 3.5 und 3.6 ist zu entnehmen, in welcher relativen Häufigkeit null, eines, zwei oder mehr als 'häufig' berichtete Symptome vorgekommen sind. 56 Prozent der (n = 1.717) Befragten hatten keines der vierzehn erfragten (psychosomatischen) Symptome 'häufig', weitere 19,5 Prozent hatten ein Symptom häufig, 9 Prozent zwei und 5,4 Prozent hatten drei häufige Symptome. Der Rest der befragten Jugendlichen berichtete über vier oder mehr häufige Symptome.
Anzahl
häufiger Symptome In P r o » n t
i 0
1
i 2
i 3
i 4
6
i 6
i 7
i 8
i 9
i 1
i 0
i 11
i
i
1213
Anzahl 'häufiger' Stressymptome psychosomatisch
Schaubild 3.5
Es entsteht auf diese Weise eine charakteristische Häufigkeitsverteilung der Zahl der häufigen Streß —Symptome. Wir prüften daher auch, welcher theoretischen Verteilung die in Schaubild 3.5 ausgewiesene empirische Verteilung am ehesten entspricht. Als Ergebnis dieses computerunterstützt durchgeführten Testes war festzuhalten, daß die empirische Verteilung am besten durch die Geometrische Verteilung abgebildet wird. Ausgehend von einer empirisch geschätzten Ereigniswahrscheinlichkeit von p = 0,47 läßt sich danach in der untersuchten Population von Jugendlichen die Wahrscheinlichkeit, x Symptome häufig zu haben, nach der Formel p(x)=p(i-py
X
(x = 0,l,2,...)
83
Die einzelnen Streß—Symptome
bestimmen. Wird hingegen nicht die Anzahl der häufigen, sondern der 'manchmal' bzw. 'häufig' auftretenden Gefühle für jede Person ausgezählt, ist die resultierende Verteilungscharakteristik nicht mehr durch die Geometrische Verteilung abzubilden, da sich von dieser alternativen operationalen Definition ausgehend vor allem die Symptomwerte im mittleren Häufigkeitsspektrum erhöhen (was für die Berechnungen im Rahmen des Strukturgleichungsmodells in Kapitel 7 von Vorteil sein wird).
Anzahl häufiger Symptome In Prozant
0
1
2
3
4
6
6
7
8
Anzahl 'häufiger' Symptome emotional Nur anomiacha Gefühl«; N-1717
Schaubild 3.6
In den folgenden tabellarischen Analysen stützen wir uns auf die etwa am Median dichotomisierte Verteilung der Zahl 'häufig' auftretender Streß —Symptome. Ausgewiesen wird der Anteil von Jugendlichen mit über dem Durchschnitt liegenden Symptomzahlen. Da der Median dieser Verteilung bei Null 'häufigen' Symptomen liegt, werden mithin der Anteil von Personen mit wenigstens einem häufig auftretenden (psychosomatischen) Streß — Symptom ausgewie-
Schaubild 3.7 enthält schließlich noch Informationen über einige weitere Symptombilder, mit denen unter Jugendlichen zu rechnen ist. Bei der Wiederholungsbefragung im Spätherbst 1987 stellten wir folgende Frage: "Hast Du im letzten Jahr folgende Beschwerden gehabt? Warst Du deswegen beim Arzt? Es folgte eine Liste möglicher Beschwerdebilder, jeweils verbunden mit den Ant-
Psychosomatische und emotionale Streß—Symptome
84
wortalternativen: 'Ja, war deswegen beim Arzt', 'Ja, war deswegen nicht beim Arzt', 'Nein' und 'Weiß nicht'. Von einem kleinen Teil der n = 1.450 Befragten, die in beiden Erhebungen erreicht werden konnten, liegen keine Angaben vor. Der jeweilige Prozentsatz schwankt zwischen 0,7 und 1,1 Prozent, lag ein Mal bei 1,4 Prozent und wurde in Schaubild 3.7 dem zugehörigen 'weiß nicht' Werten zugeschlagen.
Gesundheitliche
Beschwerden und Arztbesuch Heuschnupfen Andere Allergien Asthma Kreislaufstörungen Starkes Untergewicht Herzschmerzen Starkes Übergewicht Starke Sehschwäche Verdauung8beschw. Magenbeschwerden* In Prozent WM
welB nicht
Nein
Ja, nicht beim Arzt
Ja,deswegen bei Arzt
•Magenschleimhautentzündung
Schaubild 3.7
Sozialer Hintergrund: Bildung und berufliche Position des Vaters Fester Bestandteil des Hypotheseninventars der empirischen Sozialforschung ist die Annahme, daß die Wahrscheinlichkeit mentaler Gesundheit (auch) eine Funktion der Plazierung im hierarchischen Statusgefüge der Gesellschaft ist: Je
Die einzelnen
85
Streß—Symptome
ungünstiger diese Plazierung, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit gesundheitlicher Probleme im mentalen Bereich. Um Anhaltspunkte zur Einschätzung dieser Annahme zu erhalten, stehen uns separat für Vater und Mutter entsprechende Bildungs— und Berufsangaben zur Verfügung. Tabelle 3.4 zeigt für jede der Untersuchungsregionen, in welcher Weise die Wahrscheinlichkeit einer überdurchschnittlichen Symptomhäufigkeit über die drei Kategorien des Bildungshintergrundes variiert. Dabei ist nur ein recht schwacher und im Vergleich der Regionen nur teilweise konsistenter Trend zu erkennen. Zwar überwiegt (mit zwei von drei Regionen) ein Trend im Sinne der oben formulierten Annahme einer vergleichsweise stärkeren Belastung im unteren Bereich des vertikalen Gefüges, jedoch sind die beobachteten Unterschiede im Anteil überdurchschnittlicher Symptomhäufigkeit kaum von substantieller Bedeutung.
Tabelle 3.4
Streß — Symptome (psychosomatisch), Bildungshintergrund und Region Bildungshintergrund* niedrig mittel hoch
Alle
% überdurchschnittliche Symptomhäufigkeit In.. 45% 41% ..Solitärem 49% 45% (114) Verdichtungsgebiet (138) (300) (552)
..Ländlichem Raum
40% (117)
40% (370)
45% (123)
41% (610)
54% (123)
50% (244)
42%
..Ballungszentrum
( 94)
49% (461)
..Allen Regionen
48% (378)
44% (914)
43% (331)
45% (1623)
* Bildungshintergrund des Vaters
Ein im Grunde vergleichbares Resultat erbringt der in Tabelle 3.5 ausgewiesene Vergleich der Streßwahrscheinlichkeit über die Kategorien beruflichen Ranges. Auch hier erweist sich der beobachtete Trend für das Ballungszentrum als am bedeutsamsten, ist generell aber nur schwach ausgeprägt.
86
Psychosomatische und emotionale Streß—Symptome
Tabelle 3.5
Streß - Symptome (psychosomatisch), beruflicher Rang des Vaters und Region Beruflicher Rang niedrig mittel hoch
% überdurchschnittliche Symptomhäufigkeit In.. ..Solitärem 44% 45% 44% Verdichtungsgebiet (178) (208) ( 91)
..Ländlichem Raum
( 98)
39%
37% (234)
44% (250)
..Bai 1ungszentrum
57% (122)
49% (156)
40% (147)
..Allen Regionen
47% (311)
43% (568)
43% (605)
Jeder Jugendliche war um eine möglichst genaue Bezeichnung (bzw. bezeichnenden Kurzcharakterisierung) des Berufs seines Vaters gebeten worden. Wie schon bei den Bildungsangaben können wir uns also auch hier nur auf die Informationen stützen, die uns die befragten Schülerinnen und Schüler über ihre Väter (bzw. Mütter) geben konnten. Nicht alle hatten diese Informationen parat und viele konnten nur ungefähre Angaben machen. Dies ist nicht überraschend, zwingt jedoch zu Abstrichen auf Seiten der Klassifikationen, die sich auf solche Angaben vernünftigerweise stützen lassen. Um dabei die Wahrscheinlichkeit von Fehlklassifikationen zu reduzieren, entschieden wir uns einerseits wie empfohlen (Galtung, 1969) für eine trichotome Klassifikation und wählten andererseits eine "Doppelstrategie" in dem Sinne, daß sich die Klassifikation einmal auf ein geschlossenes Antwortformat und einmal auf ein offenes Antwortformat beziehen sollte. So basiert der hier einbezogene Bildungsindex auf einer Sequenz von drei standardisierten Fragen zu Lehrabschluß, Abitur und Hochschulstudium beider Elternteile (Antwortformat: ja/ nein/weiß nicht). Der Bildungsgrad ließ sich dabei recht genau ermitteln; es war jedoch die implizite Hilfshypothese einzuschalten, daß im Falle der befragten Jugendlichen der Kenntnisstand über Bildungsmerkmale der Eltern selbst eine Funktion eben dieses elterlichen Bildungsgrades ist: Je höher der Bildungshintergrund, desto höher der Kenntnis-
Die einzelnen Streß—Symptome
87
stand über elterliche Bildungsmerkmale. Gestützt auf diese Hilfshypothese erschien es gerechtfertigt, die expliziten Angaben 'nein' und 'weiß nicht' als 'Nein'— Angaben einzustufen, um auf dieser Grundlage die bereits oben beschriebene Bildungsklassifikation (niedrig: Kein Abitur, kein Lehrabschluß; mittel: Kein Abitur, mit Lehrabschluß; hoch: Abitur, ggf. Studium (mit oder ohne Lehrabschluß) zu erstellen. Auf der anderen Seite liegt der vorliegenden Klassifikation der Berufe eine 'offene' Frage nach der Bezeichnung des Berufes, den der Vater bzw. die Mutter ausübt(e), zugrunde. Um diese Berufsangaben in eine ebenfalls trichotome Klassifikation einmünden zu lassen, erschien es uns am sinnvollsten, diese auf eine kürzlich vorgestellte, auf Angaben des Mikrozensus 1982 basierte Clusteranalyse der 100 am stärksten besetzten Berufe in der Bundesrepublik (Kling, 1985) zu stützen. Grundlage der Clusterbildung waren die Merkmale Geschlecht, Alter, Berufsausbildung und Nettoeinkommen. Es ergaben sich sechs Cluster, darunter drei Cluster, die vorrangig aus Frauenberufen bestanden. Als Orientierungsdatum zur Klassifikation der Berufe der Väter unserer Befragten blieben mithin die folgenden drei Cluster: 1. Männer ohne Berufsabschluß in typischen Arbeiterberufen 2. Berufe für Männer mit Berufsabschluß 3. (Beamten— und Angestellten — )Berufe für Erwerbstätige mit Berufsabschluß und höherem Einkommen. Kling (1985, 490) erwähnt, daß sich als wichtigste Merkmale zur Differenzierung der Berufstypen Geschlechtszugehörigkeit und Bildung herausgestellt hätten. Darüberhinaus erwies sich das Einkommen als relevant. Da das Bildungskriterium, wie zu sehen, in der Tat stark zur Differenzierung zwischen den Clustern beiträgt, erschien es uns nicht unsinnig, die sich darauf stützende Klassifikation der Berufe auch zum Vergleich der oben beschriebenen Bildungsklassifikation einzubeziehen. Die Klassifikation der Berufsangaben orrientierte sich daher soweit möglich an dieser Clusterstruktur, die, wie wir unterstellen, eine ordinale Relation zwischen den Clustern zum Ausdruck bringt; wobei diese Ordinalität im Vergleich des erstgenannten mit den beiden übrigen Berufstypen sicher stärker ausgeprägt ist als im Vergleich des zweiten mit dem dritten Typus.
88
3.4
Psychosomatische und emotionale
Streß—Symptome
Der Einfluß von Schulform, Bildungshintergrund und Region auf Streß—Symptome
Merkmale wie Schulform, Bildungshintergrund und Region mit Blick auf die Wahrscheinlichkeit psychosomatischen Stresses im Zusammenhang abhandeln zu wollen, mag zunächst überraschend erscheinen und ist auch in der Tat bereits das erste Ergebnis einer entsprechenden Analyse, die ihren Anfang bei dem einfachen (bivariaten) schulformspezifischen Vergleich der Streßwahrscheinlichkeit genommen hat. Wird dieser Vergleich separat für die drei Untersuchungsregionen vorgenommen, so ergibt sich ein zunächst überraschender Befund. Dieser bezieht sich auf die Gesamtschule im Vergleich der einbezogenen Regionen. Wie Tabelle 3.6 zeigt, lassen sich mit Ausnahme der Gesamtschule (und partiell der Realschule) kaum größere Unterschiede in der Streßwahrscheinlichkeit erkennen, wenn die einzelnen Schülerpopulationen miteinander verglichen werden. Für die Gesamtschulpopulation ermitteln wir jedoch im Sinne einer statistischen Wechselwirkung den interessanten Befund eines für den ländlichen Raum moderat und für den großstädtischen Ballungsraum stark erhöhten Anteils streßbelasteter Schülerinnen und Schüler.
Tabelle 3.6
Streß — Symptome (psychosomatisch), besuchte Schulform und Region
SCHULFORM*
HS
RS
GY
GS
% überdurchschnittliche Symptomhäufigkeit REGION Solitäres Verdichtungsgebiet
Ländlicher Raum
Bai 1ungszentrum
43% (188)
50% (143)
43% (174)
( 69)
39% (208)
40% (203)
38%
57%
(194)
( 46)
49% (151)
57% (125)
38% (183)
( 33)
42%
67%
* HS Hauptschule RS Realschule GY Gymnasium GS Gesamtschule
Auch wenn dadurch nur partiell Aufschluß über die in Tabelle 3.6 ausgewiesene schulformspezifische und regionale Variation der Streßwahrscheinlichkeit
Der Einfluß von Schulform und Bildungshintergrund
89
zu erwarten war, erschien es uns doch sinnvoll, im besonderen dem für die Gesamtschule skizzierten Trend nachzugehen. Da das Merkmal 'besuchte Schulform' (wie etwa auch das Merkmal 'Geschlecht') eine Komponentenvariable ist (vgl. M. Rosenberg, 1968), in deren scheinbarer Wirkung sich der Einfluß einer Vielzahl von impliziten Drittvariablen widerspiegeln kann (und in diesem Sinne nicht per se Ursache oder Risikofaktor ist), war daher zu prüfen, worin sich die Gesamtschulpopulation von den übrigen Teilgruppen unterscheidet und ob dieser etwaige Unterschied zur Erklärung der beobachteten Variation in der Streßwahrscheinlichkeit herangezogen werden kann. Da sich der beobachtete Trend dabei auf den Typ schulischer Bildung bezieht, der in bewußter und öffentlich diskutierter Abgrenzung von dem in der Bundesrepublik vorherrschenden, streng hierarchischen dreigliedrigen Schulsystem entstanden ist, war es naheliegend, mögliche regionale Unterschiede in der sozialen Rekrutierung der einzelnen Schülerschaften in Erwägung zu ziehen. Wird dabei als erster, grober Anhaltspunkt für den Bildungshintergrund in der Familie der Bildungsgrad des Vaters genommen, so erbringt der regionale Vergleich der Schülerschaften im Sinne dieses Kriteriums einen aufschlußreichen Befund: Wie Tabelle 3.7 (ausschnittweise für die Kategorie 'hoher' versus 'mittlerer' und 'niedriger' Bildungshintergrund) zeigt, ist es exakt die untersuchte Schülerschaft an Gesamtschulen, die sich in diesem Hintergrundmerkmal unterscheidet: Im Vergleich der drei Regionen sinkt der Anteil von Gesamtschülern mit hohem Bildungshintergrund von rd. 23 Prozent im solitären Verdichtungsgebiet auf 14 Prozent im ländlichen Raum und 6 Prozent im Ballungszentrum, während sich an diesem Kriterium gemessen die Schülerschaften an Hauptschule, Realschule und Gymnasium im regionalen Vergleich nicht unterscheiden. Da auch im globalen Vergleich der Regionen (vgl. unterste Reihe der Tabelle 3.7) keine Differenzierung im Bildungshintergrund festzustellen ist, wenn als Kriterium der Anteil von Schülern mit hohem Bildungshintergrund herangezogen wird, sind wir hier mit einem echten Unterschied in der Rekrutierung der Gesamtschülerschaften konfrontiert (zumindest, was die untersuchten Gesamtschulklassen betrifft). Es ist mithin die Situation gegeben, daß der im Vergleich der Regionen beobachtete Anstieg der Streßwahrscheinlichkeit mit einer entsprechenden Abnahme des Anteils von Schülern mit hohem Bildungshintergrund einhergeht. Möglicherweise ist daher die beobachtete Variation in der Streßwahrscheinlichkeit eine Funktion dieses implizit variierenden Bildungshintergrundes, ohne daß sich
90
Psychosomatische und emotionale
Tabelle 3.7
Streß—Symptome
Soziale Zusammensetzung der Schülerschaft in den drei untersuchten Regionen: Bildungshintergrund in der Familie Region BallungsZentrum
Ländlicher Raum
Solitäres Verdichtungsgebiet
Alle Regionen
%Anteil: Schüler mit 'hohem' Bildungshintergrund.. * ..an.. Hauptschule: 10% 12% 10% 11% (134) (193) (177) (504) .Real schule:
14% (123)
12% (189)
12% (142)
13% (454)
.Gymnasium:
36% (172)
38% (185)
38% (168)
38% (525) 16% (140)
.Gesamtschule:
.allen Schul formen :
*)
6%
14%
( 32)
( 43)
23% (65)
20% (461)
20% (610)
21% (552)
20% (1623)
Für jede Kombination von Schulform und Region: 100% minus ausgewiesenem % Anteil = % Anteil von Schülern mit niedrigem bzw. mittlerem Bildungshintergrund. In ( ) Prozentuierungbasis = jeweils alle, für die die Bildungsangaben ermittelbar waren. (Es fehlen Angaben von 1717 — 1623=94 Befragten. Der Bildungshintergrund ist hier operational über das Bildungsniveau des Vaters ermittelt worden; 'hoch', wenn Abitur bzw. Studium)
aus der zugrundeliegenden Beobachtung bereits die spezifische Form dieser Funktion ableiten ließe. Der oben vorgestellte allokationstheoretische Bezugsrahmen gestattet jedoch, einige Vermutungen über die Art und Weise, in der sich dieses Element des sozialen Hintergrundes auswirkt, anzustellen.
Der Einfluß von Schulform und Bildungshintergrund
91
Danach wäre die Streßwahrscheinlichkeit weder durch den Bildungshintergrund noch die besuchte Schulform per se bestimmt, die maßgebende Determinante wäre vielmehr das spezifische Verhältnis zwischen Bildungsstatus der Eltern und besuchter Schulform des Kindes; läßt sich an diesem Verhältnis doch ablesen, welcher bildungsbezogene Karriereverlauf wahrscheinlich zu erwarten sein wird. So kann der Heranwachsende eine Schulform besuchen, die auf einen Abschluß vorbereitet, die dem Bildungsniveau in der Familie entspricht, unter diesem liegt oder dieses übertrifft. Da der Heranwachsende als Schüler (zum Befragungszeitpunkt) das Ziel seiner schulischen Karriere noch vor sich hat, spielt dabei unter Umständen auch eine Rolle, wie sehr das implizite Zielniveau bereits in der Wahl der betreffenden Schulform angelegt ist. Während Hauptschule, Realschule und Gymnasium auf die Vermittlung von klar abgegrenzten Bildungsniveaus abzielen, ist die Gesamtschule in dieser Hinsicht gerade durch größere Permeabilität gekennzeichnet. Die Vermeidung früher Festlegungen auf eine bestimmte schulische Karriere hat neben unbestreitbaren Vorteilen einer auf mehr Chancengleichheit und sozialen Ausgleich abzielenden Schulorganisation den (gemessen an der ideologischen Zielsetzung dieser Schulform) in gewisser Weise paradoxen Nebeneffekt, in der Generationenfolge nicht nur die Chance sozialen Aufstiegs, sondern zugleich das Risiko zu erhöhen, an diesem Ziel zu scheitern. Auch mag es in einem System mit größerer Durchlässigkeit riskanter sein, einen gehobenen Status in der Familie per entsprechendem Schulerfolg zu bewahren. Das Argument impliziert nicht, daß sich letztiich die Chancen für sozialen Auf— oder Abstieg auch de facto voneinander unterscheiden, sondern nur, daß die größere Permeabilität das aus subjektiver Sicht wahrgenommene Risiko und und in der Folge dessen das psychosoziale Belastungspotential verstärken kann, das mit solchen Karriere wegen verbunden ist. Aufgrunddessen scheint es uns sinnvoll zu sein in den Kalkül einzubeziehen, auf welche Weise ein bestimmter Karriereweg realisiert wird, über eine der Schulformen des dreigliedrigen Schulsystems oder die Gesamtschule.
Bilduagsmobilität als Individual— oder Kollektivschicksal Um die Annahme zu prüfen, daß mit unterschiedlichen bildungsbezogenen Karrierewegen auch ein différentielles Belastungsrisiko verbunden ist, war im Sinne einer verfeinerten Analyse des Rekrutierungsprozesses auch zu berücksichtigen, ob die betreffende Karriere eher ein Individual— oder Kollektivschicksal darstellt. Vor allem für potentielle, über Bildungserfolg zu realisierende Aufwärtsmobilität ist zu erwarten, daß es einen erheblichen Unterschied
92
Psychosomatische und emotionale Streß—Symptome
macht, ob ein Jugendlicher, der sich auf diesem Weg befindet, einer von vielen ist oder nicht. Beide Varianten teilen zwar das gleiche Ziel, sie unterscheiden sich jedoch in einem ganz entscheidenden Hintergrundmerkmal; pronounciert formuliert: Im Falle eines Individualschicksals provoziert der Wechsel der Bildungskategorie zugleich einen echten Bezugsgruppenwechsel, im Falle des Kollektivschicksals hingegen nicht. Dabei ist es von nachrangiger Bedeutung, ob dieser Bezugsgruppenwechsel auf längere Sicht tatsächlich vollzogen wird. Entscheidend ist vielmehr, daß er im Zuge der schulischen Karriere nahegelegt wird und auf Seiten des Heranwachsenden entsprechende Wertkonflikte heraufbeschwören kann. Mit dieser Möglichkeit ist zu rechnen, da die Entwicklung des Heranwachsenden im Verlauf seiner Schulzeit nicht nur von dem sozialen Hintergrund bestimmt wird, den er selbst in die Schule mitbringt, sondern auch von dem Hintergrund, der durch die Mitschüler(innen) in seiner Klasse überwiegend vertreten ist. Der eigene Hintergrund kann sich konsistent in diesen kollektiven Rahmen einfügen, von diesem aber auch deutlich abweichen. Für einen Jugendlichen, der sich mit ungünstigem eigenem Hintergrund etwa in der gymnasialen Laufbahn befindet, wird sich die Situation in der Schule jedoch völlig unterschiedlich darstellen, je nachdem ob er sich dort hinsichtlich seines sozialen Hintergrundes überwiegend unter seinesgleichen befindet, oder aber in eine Schulklasse kommt, in der sich überwiegend Mitschüler (innen) mit günstigerem sozialen Hintergrund befinden. Leicht stoßen dann nicht nur sehr unterschiedliche kulturelle Vorstellungen aufeinander, sondern es entstehen auch echte Disparitäten im Bereich materieller Lebensstandards, die ihre Wirkungen auf die Beziehungen zwischen unterschiedlich privilegierten Peers in einer Kultur neiderfüllter Status vergleiche sicher nicht verfehlen werden. Schwierig kann ein solcher Entwicklungsverlauf im besonderen auch dadurch werden, daß aus unterprivilegierter Lage kommend ein Bezugsgruppenwechsel schon deshalb heikel ist, da er in der Herkunftsfamilie leicht die Konnotation eines 'Wechsels in das andere Lager* erhalten kann. Damit wäre beispielsweise in dem Maße zu rechnen, in dem die eigene unterprivilegierte Lage im Sinne eines Nullsummenspiels als Reaktion auf die Privilegierung der gesellschaftlichen Gruppen angesehen wird, in deren Reihen sich der Heranwachsende nach Realisierung sozialen Aufstiegs befinden wird. In entsprechende Positionen aufzurücken, kann dann nicht nur sensible, leistungsbezogene Vergleiche mit dem in der Elternfamilie Erreichten provozieren, sondern auch die zwischen unterprivilegierten und privilegierten Gruppen vielfach latent vorhandenen Span-
Der Einfluß von Schulform und Bildungshintergrund
93
nungen innerhalb des Familien Verbandes virulent werden lassen. Die für den (schulischen) Erfolg erforderliche Identifikation mit einer Kultur des Erfolgs und der Überlegenheit stößt in unterprivilegierten Familien leicht an ihre Grenzen, denn die soziale Akzeptanz dieser Kultur ist in dem Maße kompromittierend, in dem sie zwangsläufig zu einem (impliziten) Eingeständnis eigener sozialer Inferiorität wird. So entsteht eine Situation, in der sich der Heranwachsende um des Erfolgs willen mit einer Kultur zu identifizieren hat, für deren Akzeptanz es in Familien mit ungünstigem sozialen Hintergrund eigentlich kaum Grund gibt. Liegen dabei zugleich statusbezogene Aufstiegsaspirationen vor, erscheint der Wettbewerb um die stets knappen Statusgüter aus Sicht der Familie attraktiv, dann wird das zugrundeliegende Wertsystem zudem ambivalent: es beginnt, den Erwerb von Privilegien und Vorrangstellungen zu billigen wie zu verurteilen. In jedem Fall aber erhöht ein Bezugsgruppenwechsel die Wahrscheinlichkeit unvereinbarer handlungsleitender Vorstellungen und Werte und reduziert auf diese Weise die Möglichkeit, einen Konsensus in Fragen der Legitimation und Akzeptanz eines Karriereweges (des Nachwuchses) zu erzielen, dessen Ziel aus Sicht der Elternfamilie auch als relative Inferiorisierung des eigenen Status und mithin einer impliziten Schwächung des Senioritätsprinzips eingestuft werden kann.
Streßbelastung als Funkdon des Bildungsschicksals Zum Test dieser Annahmen führten wir eine Mehrebenenanalyse durch, in der die Wahrscheinlichkeit überdurchschnittlicher Streßbelastung als Funktion des Bildungsschicksals des Jugendlichen analysiert wird. Dazu wird die besuchte Schulform des Jugendlichen mit dem Bildungshintergrund in der Herkunftsfamilie (operational: Bildungsstatus des Vaters) in Beziehung gesetzt. Zugleich werden die Jugendlichen danach unterschieden, ob sie sich in einer Schulklasse befinden, in der der Anteil von Schüler(inne)n mit gehobenem Bildungshintergrund (operational: Bildungsgrad des Vaters = Abitur oder höher) unterdurchschnittlich ist oder nicht. Sicherlich erlaubt diese aggregatbezogene Unterscheidung nur eine grobe Abschätzung des in der Klasse vorherrschenden, kollektiven Bildungshintergrundes. Aber auch, wenn wir fallzahlbedingt für die folgende Analyse von feineren Abstufungen dieses Kollektivmerkmals Abstand nehmen müssen, erhalten wir doch wichtige empirische Anhaltspunkte für das vermutete Zusammenspiel von individuellem und kollektivem Bildungshintergrund im Rahmen der bildungsbezogenen Karriere des Jugendlichen. Tabelle 3.8 weist die korrespondierende multivariate Häufigkeitsverteilung aller einbezogenen Merkmale aus. Die Tabelle ist so angelegt, daß sie den schulformspezifischen Vergleich der Streßwahrscheinlichkeit in Abhängigkeit von
94
Psychosomatische und emotionale Streß—Symptome
Tabelle 3.8
Streß —Symptome (psychosomatisch), besuchte Schulform und Bildung des Vaters, 1986
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S CVI SS CV O oS co U1 w in -—- O >o u
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°'25
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2,11
POl•PlO
°'51
1>12
0,16
0,50
Pll" P00
61
M2
1,50
2,73
°>
Jungen
Mädchen
Zum zweiten wird als Maßzahl der Anteil p u , der konstant zu beiden Zeitpunkten über Selbstwertprobleme berichtet, dividiert durch den Anteil p«), der konstant keine solche Probleme hat, herangezogen. Der algebraische Wert dieser Verhältniszahl steigt entsprechend mit wachsender Selbstwertbelastung. Dem Befund in Tabelle 4.6 zufolge ist sowohl für die Jungen als auch für die Mädchen festzustellen, daß der Trend in Richtung auf eine Belastung des
Selbstwertprobleme
112
Selbstwertes wie erwartet dann am höchsten ist, wenn in derselben Zeit Deprivation entstanden ist, und dann am geringsten, wenn anfanglich vorhandene Deprivation verschwand. Bei konstantem Vorliegen oder Fehlen von Deprivation sind diese Ströme hingegen in etwa gleich ausgeprägt. Dies entspricht der theoretischen Erwartung genauso wie der Befund, daß bei überdauerndem Fehlen von Deprivation die konstante Selbstwertbelastung am geringsten und umgekehrt bei überdauerndem Vorliegen von Deprivation am höchsten ist. Dies gilt absolut und, wie die Werte der zweitgenannten Verhältniszahl zeigen, relativ zu konstant fehlenden Selbstwertproblemen. Aus alledem ist der Schluß zu ziehen, daß Statusdeprivationen in der Genese von Selbstwertproblemen wahrscheinlich auch eine kausale Rolle übernehmen. Der Befund unterstreicht auf diese Weise die starke Bedeutung, die Deprivationserfahrungen in der heutzutage stark waren— und marktvermittelten Jugendkultur zukommt.
4.5
Zusammenfassung
Ein positives Selbstwertgefühl muß — gerade im Jugendalter — als ein zentrales persönliches und dabei unmittelbar sozial beeinflußtes Gut angesehen werden. Die Analyse in diesem Kapitel hat gezeigt, wie stark Selbstwertprobleme mit den sozialen Kontexten Schule und Gleichaltrigengruppe verbunden sind. Erwartungswidrige Schulleistungen, die die Ansprüche der Eltern oder der Jugendlichen selbst nicht erfüllen, sind ganz eindeutig mit Selbstwertproblemen verknüpft. Es ist vor allem ein unsicherer Zukunftsbezug, der hier den Ausschlag gibt, also die Einschätzung, den angestrebten Schulabschluß möglicherweise nicht zu erreichen. Analoges gilt für die Verunsicherung der beruflichen Zukunftsperspektive ("Antizipationsunsicherheit"). Die Beeinträchtigung des Selbstwertes steigt dann weiter an, wenn der schulische Leistungs(miß — )erfolg vor allem auf die eigenen Fähigkeiten und nicht auf äußere Faktoren zurückgeführt wird. Die soziale Randposition in der Gleichaltrigengruppe ist ebenfalls mit Selbstwertproblemen verbunden. Das gilt sowohl auf der Leistungsdimension als auf der "Prestigedimension" der Beziehungen zu den Mitschülerinnen und Mitschülern.
5.
Delinquenz und Aggressivität
5.1
Leistungs— und Erfolgskultur als Ausgangspunkt für abweichendes Verhalten
Die spezifische Organisation des sozialen Lebens in unserer Gesellschaft bringt nicht nur Vorteile, sondern auch Nachteile mit sich. Das beachtliche Potential innen— und außengeleiteter Formen destruktiver Impulse (Krankheit und Streß; Gewaltbereitschaft), das einzelne Teile der Gesellschaft (im sozialen Aggregat überdauernd) charakterisiert, zählt zu den vielleicht grundlegendsten 'Kosten' der Organisation des sozialen Lebens, wie es heute üblich ist. Wie individuelle Verhaltensweisen im allgemeinen sind auch extra— und intrapunitive (Handlungs — )Impulse primär als 'folgerichtige' Reaktionen auf die äußeren soziokul turellen und —strukturellen Lebensbedingungen anzusehen, denen die beteiligten Akteure unterworfen sind. Den Rahmen steckt dabei eine Gesellschaftsform ab, in der Leistungs— und Erfolgsorientierung unter äußeren Bedingungen kontinuierlichen Wettbewerbs um stets knappe soziale Gratifikationen und Ressourcen eine sehr dominierende Rolle spielen. Unsere grundlegende These lautet: Es ist nicht die Abwendung der Akteure von einem sozialen System, für das Erfolg und Überlegenheit inzwischen sakrosankte Werte darstellen, sondern im Gegenteil der hohe Grad, in dem diese, das System tragenden Werte geteilt werden, der desintegrative Wirkungen entfaltet. An Leistungserwartungen zu scheitern, ist nur für denjenigen eine schmerzhafte und enttäuschende Erfahrung, der diese Erwartung teilt, nicht hingegen für Personen, die soziale Anerkennung auf andere Weise als durch Demonstration passabler Leistungen in dafür vorgesehenen 'Kanälen' zu erwerben versuchen. Deviante Verhaltensweisen entstehen dabei im Grunde nicht durch Verfolgung devianter, sondern im Gegenteil zentraler gesellschaftlicher Werte: Erfolg und Status. Wie im Rahmen anomietheoretischer Ansätze gezeigt wird, kann gerade die Integration in eine umfassende Erfolgs— und Leistungskultur Devianz in dem Maße erzeugen, in dem der wertgeschätzte Erfolg nicht auf konforme Weise, also mit 'legitimen' Mitteln, erreicht werden kann (Merton, 1957; Cloward & Ohlin, 1960). Werden die Ziele der Gesellschaft geteilt, ohne daß zugleich die institutionalisierten Mittel verfügbar sind, diese Ziele auch zu erreichen, dann bleibt dem Individuum als eine Reaktionsmöglichkeit der Rückgriff auf 'illegitime' Mittel. (Merton, 1957, 140) nennt diese Form der Anpassung des Individuums an die Gesellschaft 'Innovation'. Beispiele wären etwa alle gesellschaftlich, d.h. in der
114
Delinquenz und Aggressivität
öffentlichen Meinung nicht — wertgeschätzten Mittel, um eine gehobene sozioökonomische Position und die üblicherweise damit verbundenen materiellen wie symbolischen Statusgüter zu erlangen. Für die Welt der Erwachsenen ist sicher die 'White —Collar'—Kriminalität ein nach wie vor prominentes Beispiel für soziale Anpassung im Sinne der Merton'schen 'Innovation', und auch die besondere Rolle einer an materiellen Standards orientierten Erfolgskultur hat nichts an Aktualität eingebüßt. Wir nehmen an, daß das kulturelle Ziel der Realisierung und Präsentation eines gehobenen und überlegenen Lebensstils keineswegs nur für das Verhalten von Erwachsenen eine Rolle spielt, und auch, daß die als 'Innovation' bezeichnete Variante in zumindest übertragenem Sinne auf die Situation in der Jugendphase anwendbar ist. Denn ein entscheidendes Kennzeichen einer sich selbst als 'Leistungsgesellschaft' verstehenden Gesellschaft ist nicht nur ihre Orientierung an Erfolg und Überlegenheit als erstrebenswerten Zielen, sondern auch an 'Leistung' als dem 'legitimen' Mittel, Erfolg zu realisieren. 'Per Leistung zum Erfolg zu gelangen' beschreibt dabei im wesenüichen das Erforderais, sich unter vergleichbaren Wettbewerbsbedingungen zu "bewähren" und — stellt man in Rechnung, nach welcher Logik sich Wettbewerb und Konkurrenz vollzieht — sich auch "durchzusetzen" . Dies gilt mit entsprechenden Veränderungen für schulische, berufliche und andere Formen sozialen Wettbewerbs gleichermaßen. Eine grundlegende Funktion der Schule kann beispielsweise darin gesehen werden, die einzelnen Schülerkohorten (formal) gleichen Wettbewerbsbedingungen auszusetzen und auf diese Weise festzustellen, wie gut oder schlecht sich der Einzelne in der so etablierten Leistungskonkurrenz bewährt, und mithin auch festzustellen, welche weiterführende berufliche und gesellschaftliche Karriere sich auf das so ermittelte Leistungsvermögen 'legitimerweise' aufbauen läßt. Dabei ist es nicht einmal von primärer Bedeutung, ob die dem ideologischen Anspruch nach gleichen Chancen, sich in der schulischen Konkurrenz bewähren zu können, nur in einem formalen Sinne bestehen, oder ob de facto faire Chancengleichheit im Rawls'sehen Sinne realisiert ist (vgl. Engel & Hurrelmann, 1987). Entscheidend ist in erster Linie vielmehr, daß die Partizipation am schulischen Wettbewerb den 'legitimen' Weg beschreibt, Erfolg in dem Sinne zu realisieren, daß der so erworbene Bildungsgrad entsprechend abgestufte Optionen auf die mehr oder minder mit Privilegien ausgestatteten Positionen in Wirtschaft und Gesellschaft eröffnet. Die Demonstration passabler Leistungen in der Schule hat so gesehen für den Jugendlichen dieselbe Bedeutung wie die Befolgung der "Verfahrensregeln", die der Erwachsene etwa im Wirtschafts — und Berufsleben zu beachten hat. In beiden Fällen kann zumindest im Prinzip
Leistungs — und Erfolgskultur
115
von allgemein gebilligten Verfahrensregeln abgewichen und mithin der Boden 'illegitimer' Mittel betreten werden, wenn der Erfolg in Frage gestellt ist; nur dürfte der potentiell verfügbare Spielraum für die Wahl entsprechender Strategien mit fortschreitendem Lebenslauf zunehmen. In der Leistungskonkurrenz
ungünstig abzuschneiden, wird für den Jugend-
lichen daher letztlich Konsequenzen haben, die weit über die eigentliche Festlegung auf ein bestimmtes Bildungsniveau hinausgehen. Denn da die erreichte schulische Bildung ihrerseits den Rahmen festlegt, innerhalb dessen überhaupt nur Aussichten auf eine Stelle im Beschäftigungssystem bestehen, ist die Plazierung in der schulischen Konkurrenz nahezu ein Präjudiz der effektiven Chancen, später in vorteilhafte statusbezogene Positionen vorzurücken. Für die große Majorität der Heranwachsenden mag ein grundlegendes Ziel des schulischen Wettbewerbs entsprechend darin gesehen werden, eine notwendige (wenngleich nicht hinreichende) Voraussetzung dafür zu schaffen, per anschließender Allokation im Wirtschafts— bzw. Beschäftigungssystem eine möglichst günstige soziale (Gesamt—)Position zu erreichen. Ist dieses Ziel, statusbezogenen Erfolg per Leistung zu erzielen, effektiv oder (auch nur) vermeintlich bedroht, dann werden gerade starke Affiliationen gegenüber der Leistungs — und Erfolgskultur eine günstige Voraussetzung dafür darstellen, nicht diese kulturelle Identifikation aufzugeben, sondern vielmehr die Bereitschaft dafür zu entwickeln, die eigenen statusbezogenen Ziele gegebenenfalls auch mit allgemein nicht —akzeptierten, 'illegitimen' Mitteln zu verfolgen. Für einen Schüler, der an schulischen Anforderungen zu scheitern droht und der deshalb Zuflucht zu allgemein weniger akzeptierten Formen sucht, soziale Anerkennung zu finden, wird dieser Vorgang allerdings mit einem impliziten Wandel in der Erfolgsdefinition verbunden sein. Denn was sich zumindest vorübergehend wandeln wird, ist die subjektive Definition dessen, was einen überlegenen Status ausmacht und wie er am besten in Szene gesetzt werden kann (vgl. Cohen, 1955). Im Sinne der oben zugrundegelegten 'allgemeinen' Definition ist statusbezogener Erfolg über die Allokation im Wirtschafts— bzw. Beschäftigungssystem der Gesamtgesellschaft definiert. Erfolgreich
wäre
demnach,
wer
eine
Position
erreicht, die hinsichtlich Merkmalen wie Einkommen, Berufsprestige, Einfluß etc., sowie Bildung als Investitionsstatus, hoch rangiert. Hinzu kommen lebensstilbezogene Formen, einen überlegenen Status in symbolischer Weise (durch Sprach— und Umgangsformen) oder per Präsentation hochwertiger Statusgüter zu demonstrieren.
116
Delinquenz und Aggressivität
Im Falle schulischen Scheiterns wird der Weg zu vielen dieser Formen, Statusüberlegenheit (oder Statusgleichheit auf einem gehobenen Niveau) zu demonstrieren, versperrt sein. Statusüberlegenheit kann — bei Unterstellung eines impliziten Wandels der Bezugsgruppe — jedoch auch auf andere Weise zu erreichen versucht werden, etwa durch bewußte, sozial sichtbare Formen von Regelverletzung, aber im besonderen auch durch die demonstrative Anwendung von physischer Gewalt. Coser (1967, 78f) nimmt an, daß demonstrative Gewalt als letzter Weg dann bleibt, Status per Leistung zu erzielen, wenn alle übrigen (legitimen und illegitimen) Kanäle blockiert sind. "Where no social status can be achieved through socioeconomic Channels, it may yet be achieved in the show of violence among equally deprived peers" (Coser, 1967, 79). Es wäre dies eine Reaktionsform, die das weithin geteilte Ziel statusorientierten Erfolgs beibehält, es jedoch auf allgemein nicht akzeptierte Weise zu erreichen sucht. Dabei ändert sich allerdings zumindest der Bezugsrahmen, in dem sozialer Status gewonnen werden kann: Ist dieser primär durch die gesamtgesellschaftlich verankerte Allokation von Positionen gegeben, wird die Erlangung von sozialem Status per demonstrativer Gewalt üblicherweise auf den Kontext primärer (Gleichaltrigen — )Gruppen beschränkt sein. Kritisch zu bedenken ist jedoch, daß das, was als 'legitimes' oder 'illegitimes' Mittel gilt, selbst kultureller Definition und mithin auch möglichen kulturellem Wandel unterworfen ist. In diesem Sinne sind die Grenzen fairen Wettbewerbs in der bürgerlichen Gesellschaft keineswegs festgelegt. Mag es schon immer so gewesen sein, daß ein "aggressiver" Stil bei der Durchsetzung eigener Interessen ein sehr effektives, wenngleich auch verpöntes Mittel war, zu (wirtschaftlichem) Erfolg zu gelangen, so scheint sich aktuell doch ein Wertewandel in dem Sinne abzuzeichnen, daß "Aggressivität" ein durchaus akzeptables Attribut sozialen Verhaltens zu werden scheint. Zu den Möglichkeiten, Erfolg per Leistung zu realisieren, können sehr unterschiedliche Wertstandpunkte bezogen werden. Zu bedenken ist in jedem Fall, daß die Chance sozialer Mobilität selbst als ein hohes Gut eingestuft werden kann, mit dem individuelle wie kollektive Vorteile verbunden sind. Nur liegt es in der 'Natur' von sozialen Systemen, in denen letztlich die Idee des sozialen Ranges von individuellen und kollektiven Akteuren verwirklicht wird, daß sie diese ihre rangordnende Funktion verlieren würden, käme als Ergebnis im wesentlichen soziale Gleichheit heraus. Ein System, das aufhört, die involvierten Akteure (gemäß definierter Kriterien) als erst—, zweit— oder sonstwie nachgereiht einzustufen, hört auf, ein Rangsystem zu sein. Folglich erzeugt jedes rangreihende soziale System, etwa die Schule per Vergabe der Leistungsbewertungen, in der Logik des Systems begründete, strukturelle Inferiorität, die die beteiligten Akteure leicht in 'Sieger' und 'Verlierer' spaltet (vgl. dazu auch
Leistungs — und Erfolgskultur
117
Neidhardt, 1974:21 sowie die Kontroverse in der Enquete—Kommission zum Jugendprotest, in Deutscher Bundestag, 1983 , 52 — 55). Für die Gesellschaft als Ganzer mag ein System, das dem Einzelnen hinreichend Anreize schafft, sich im Wettbewerbsgeschehen optimal in Szene zu setzen, von großem Nutzen sein, da es die Effizienz des Systems und den kollektiven Wohlstand erhöht. So gesehen mag es auch im rationalen Interesse jedes Einzelnen (als einem Teil des Ganzen) liegen, an dieser Konkurrenz zu partizipieren. Zu beachten ist nur, daß ein solches System bei allen Vorteilen eben nicht nur 'Sieger', sondern auch 'Verlierer' produziert, die sich großen Teils auch als solche sehen werden, da es zur kollektiv geteilten Illusion zählt anzunehmen, jeder hätte die Chance zum Erfolg, er müsse sie nur nutzen. Dafür, daß die zugrundeliegende Erfolgs— und Leistungsideologie sehr weitgehend geteilt wird, gibt es zahlreiche Anhaltspunkte im vorliegenden Survey (siehe unten). Hinweise geben auch Befragungen von Personen, die selbst am unteren Ende der vertikalen sozialen Skala plaziert sind. So fanden etwa Wuggenig & Engel (1985, 66 — 68) in einer Befragung von (n = 137) zum Teil arbeitslosen Arbeiterjugendlichen eine sehr hohe Akzeptanz dieser letztlich individualisierenden Erfolgs— und Leistungsideologie: Es meinten etwa 70 % der befragten Arbeiterjugendlichen, daß die meisten Arbeitslosen an ihrer Arbeitslosigkeit "teilweise" oder "fast ausschließlich" selbst schuld seien (und dabei zu rund zwei Dritteln die Ansicht vertraten, daß sich Arbeitslose zu wenig um Stellen bemühen würden; vgl. auch das Allensbach — Zeitreihenmaterial in Brenke/Peter, 1985 , 99). Nur weniger als ein Drittel schloß mithin eine solche individualisierende Attribution der Arbeitslosigkeit definitiv aus; ein Anteilswert, der auch in der Gruppe der Arbeitslosen nur mäßig von rund 31% auf 38% ansteigt. Auch unter den arbeitslosen 'underdogs', also unter Jugendlichen in extrem ungünstiger sozialer Position, ist daher eine zumindest partiell — individualisierende Attribution der Arbeitslosigkeit beachtlich verbreitet; und dies trotz der ungünstigen Aussichten gerade für Ungelernte in den Regionen, in denen die Befragungen durchgeführt wurden (Raum Hannover und Leer, Ostfriesland). Wir nehmen an, daß sozial deviantes Verhalten im besonderen aus der Wechselwirkung kultureller und sozialer Integration entsteht: Die weitgehende Akzeptanz einer Kultur, die Erfolg und Leistung als das Nonplusultra zeitgemäßen Lebensstils sieht, begünstigt den Rückgriff auch auf illegitime Mittel in dem Maße, in dem die grundlegenden Ziele nicht auf den dafür vorgesehenen, institutionalisierten Wegen erreicht werden können bzw. erreichbar erscheinen.
118
5.2
Delinquenz und Aggressivität
Die erfaßten Formen abweichenden Verhaltens im Jugendalter
Tabelle 5.1 gibt eine Übersicht über die in der vorliegenden Studie erfaßten Formen abweichenden Verhaltens und deren relativer Häufigkeit in den drei in die Studie einbezogenen Regionen Nordrhein—Westfalens. Die Auswahl dieser auch als Jugenddelinquenz bezeichneten Verhaltensweisen orientierte sich in der Mehrzahl der in Tabelle 5.1 ausgewiesenen 'Ereignisse' am Kriterium relativer Nähe zu Delikten im Sinne des Strafrechts, ohne allerdings anzustreben, einzelne dieser Delikte als solche zu erheben. Nur die Prävalenz der ersten in Tabelle 5.1 ausgewiesenen Form abweichenden Verhaltens unterscheidet sich signifikant im regionalen Vergleich ein— bzw. mehrmaligen Vorkommens. Es zählt nicht zu den Zielen der vorliegenden Studie, quantitative Schätzungen 'dunkelfeldbezogener' Jugendkriminalität bzw. — delinquenz vorzulegen (vgl. dazu und den immanenten Schwierigkeiten einer solchen Zielsetzung, z.B. Albrecht, 1987, 14-17; Kreuzer, 1983 , 56ff; Lamnek, 1982, Kap.2). In einer stärker grundlagentheoretischen Perspektive ist das primäre Forschungsanliegen vielmehr darin zu sehen, zu empirisch gehaltvollen Aussagen über diverse, vergleichend einbezogene Formen jugendlichen Problemverhaltens zu gelangen und dabei zu versuchen, durch Rückgriff auf im Prinzip strafrechtlich relevante Verhaltenskategorien ein hinreichend breites Spektrum auch nach vorherrschender gesellschaftlicher Definition 'problematischen' Verhaltens zu berücksichtigen (soweit außengeleitete Reaktionsweisen betroffen sind). Im Rahmen dieser Zielsetzung konnte daher auch der Allgemeinverständlichkeit der Fragen Vorrang vor deren präziser Beschreibung im Sinne juristisch definierter Straftatbestände eingeräumt werden und auch auf Informationen über etwaig erfolgte institutionelle Sanktionierungen der einzelnen, in den Antworten implizit enthaltenen Bezugsereignisse verzichtet werden. Mit diesen Einschränkungen erfolgte bei einigen der standardisiert vorgegebenen 'Delinquenz'—Ereignissen auf der Ebene der Operationalisierung eine grobe Orientierung an strafrechtlich relevanten Kategorien (in Klammern: Nummer der Aussage lt. Tab. 5.1): Sachbeschädigung (6), Körperverletzung (7,1), Bedrohung (2), Raub (8), Diebstahl (11,3), Urkundenfälschung (10), Betrug (4) (vgl. z.B. Kiefl & Lamnek, 1983, 16; Ludwig, 1982, 109). Als keineswegs gesichert darf dabei allerdings angenommen werden, daß die so ermittelten Delinquenzereignisse auch in jedem Fall die strafrechtliche Kategorie abbilden, auf die sie annäherungsweise bezogen wurden. Zwar scheint für diesen Zweck der denotative Gehalt der Aussagen größtenteils als hinreichend präzise. Variationen in den mit den Aussagen verbundenen Konnotationen können jedoch leicht artifizielle Klassifikationen begründen. Gemessen an der relativen Häufigkeit, in der die Delinquenzereignisse auftreten, scheint zumin-
Formen abweichenden Verhallens
Tabelle 5.1
Die erfaßten Formen abweichenden Verhaltens, nach Region Region*
nie
ein-/ zweimal
drei-/ mehrmals
%
%
%
BZ LR SV
92,5 96,5 95,0
5,4 2,2 4,0
2,1 1,3 1,0
(482) (636) (519)
2). .jemanden mit einer Waffe (z.B. Messer, Schlagring) bedroht hast, damit er/sie tut, was Du willst?
BZ LR SV
97,3 97,5 98,7
1,5 1,4 1,0
1,2 1,1 0,4
(482) (636) (521)
3). .irgendwo eingebrochen hast (z.B. in ein Gebäude, Auto) oder einen Automaten "geknackt" hast?
BZ LR SV
96,0 97,0 95,2
2,9 2,0 3,9
1,0 0,9 1,0
(481) (536) (519)
4). .in einer Kneipe/einem Cafe Deine Rechnung nicht bezahlt hast?
BZ LR SV
96,3 96,9 96,0
2,7 2,4 3,1
1,0 0,8 1,0
(480) (635) (519)
5). .in einer "Bande" mitgemacht hast, in der so manche unerlaubten "Dinge gedreht" wurden?
BZ LR SV
91,2 91,7 93,2
5,6 6,1 5,2
3,1 2,2 1,5
(479) (635) (518)
6). .Sachen von anderen Leuten oder öffentliche Sachen absichtlich zerstört oder beschädigt hast?
BZ LR SV
88,1 84,3 87,7
10,2 13,7 10,6
1,7 2,0 1,7
(481) (537) (521)
7). .jemanden absichtlich verprügelt hast?
BZ LR SV
77,9 75,2 80,2
18,4 21,0 16,4
3,8 3,8 3,5
(479) (638) (519)
8). •jemandem eine Sache mit Gewalt weggenommen hast?
BZ LR SV
85,0 79,8 83,2
13,5 17,8 15,6
1,5 2,4 1,2
(481) (635) (518)
9). .die Schule einen ganzen Tag geschwänzt hast?
BZ LR SV
80,5 83,7 83,2
15,8 11,7 11,2
3,7 4,6 5,6
(482) (632) (519)
10) ..eine Unterschrift nachgemacht hast, um jemanden zu täuschen oder um selbst Vorteile zu haben?
BZ LR SV
87,3 84,3 86,9
10,0 13,7 10,9
2,7 2,0 2,1
(480) (635) (521)
11) ..irgendwo Sachen, die Dir nicht gehörten, genommen hast, ohne zu bezahlen oder vorher zu fragen?
BZ LR SV
82,5 82,0 85,2
14,4 13,6 11,9
3,1 4,4 2,9
(480) (633) (521)
12) ..über Nacht weggeblieben bist, ohne daß man zu Hause Bescheid wußte?
BZ LR SV
93,1 94,2 92,7
5,4 3,1 5,0
1,5 2,7 2,3
(480) (635) (520)
Ist es in den letzten 12 Monaten vorgekommen, daß Du.. 1). .jemanden bei einer Schlägerei arg ("krankenhausreif") zugerichtet hast?
* BZ Ballungszentrum, LR Ländlicher Raum, SV Solitäres Verdichtungsgebiet
120
Delinquenz und Aggressivität
dest die achte Aussage ("jemandem eine Sache mit Gewalt wegnehmen") nicht in der Tragweite des involvierten Gewaltbegriffes verstanden worden zu sein. Auch die unten berichtete Faktorenanalyse legt diesen Schluß nahe. Zu unsicher erscheint daher insgesamt betrachtet der Versuch, von den berichteten Delinquenzereignissen auf deren juristische Relevanz schließen zu wollen. Ein solcher Versuch war, wie schon oben erwähnt, auch gar nicht beabsichtigt. Die einzelnen Verhaltensweisen wurden in ihrer in Tabelle 5.1 ausgewiesenen problemspezifischen Fassung vielmehr als Indikatoren einer analytischen Konzeption devianten Verhaltens einbezogen, die primär darauf abzielt, die Tendenz zu anomischem Verhalten im Sinne extrapunitiver oder anderer Formen abweichenden Verhaltens zu erfassen. Individuelle (Verhaltens — )Reaktionen auf sozialstrukturelle und soziokulturelle Bedingungen können zu heuristischen Zwecken nicht nur danach unterschieden werden, ob in ihnen positive oder negative soziale Bewertungen ihren Ausdruck finden, sondern im letzteren Falle auch "in terms of whom to blame": die eigene Person ("seif") oder die Gesellschaft (Galtung 1978, 160). Intrapunitive, gegen das Selbst gerichtete Reaktionen letztlich bestrafender Natur wären etwa Formen des Rückzugs in die soziale Isolation oder Reaktionen in Form psychosomatischer Streß—Symptome (vgl. Kapitel 3). Als extrapunitive Verhaltensweisen können vor allem gewaltbezogene Aktivitäten gegen Personen oder Sachen gewertet werden. Dabei wird es sich im vorliegenden Kontext größtenteils um leichtere, zum kleineren Teil aber auch stärkere Varianten eines Verhaltens handeln, in dem sich im Sinne der von Galtung vorgeschlagenen analytischen Definition von 'Aggression' tendenziell der Antrieb ausdrückt, 'andere zu schlagen und ihnen zu schaden, weil sie der eigenen Selbstbehauptung im Wege stehen' (Galtung, 1964, 95; vgl. auch Neidhardt, 1974, 17). Zur Messung dieser Konzepte stützten wir uns auf die Technik sowohl der intensionalen als auch der extensionalen Indexkonstruktion (Galtung, 1969, 246). Intensionale Indexkonstruktionen orientieren sich bei der Zusammenfassung der zur Disposition stehenden Indikatoren primär an der theoretischen Bedeutung des Begriffes, der durch die Indikatorenmenge abzubilden ist. Im vorliegenden Kontext werden auf diese Weise die Ereignisse 1,2,3 und 6,7,8 (lt. Tabelle 5.1) zu einem Index zusammengefaßt, der die oben zitierte Aggressionsdefinition widerspiegelt und bei dafür äquivalenter Indikatorenmenge auch für die zweite Erhebungswelle berechnet werden konnte. Demgegenüber orientiert sich die Technik der extensionalen Indexkonstruktion primär an der gemeinsamen Häufigkeitsverteilung der einbezogenen Indikatoren. Um für diesen Zweck empirische Anhaltspunkte zur Untergliederung der Indikatorenmenge in einzelne Teilgruppen zu erhalten, wurde die Liste der in Tabelle 5.1 ausgewiesenen Formen abweichenden Verhaltens einer ULS — Faktorenanalyse unterzogen. Es ergab sich eine dreifaktorielle, ausschnittsweise in Tabelle 5.2 ausgewiesene Lösung, die wir als heuristisches Kriterium zur Bildung entsprechender Teilgruppen von Indikatoren verwandten. Dabei bildet der erste in Tabelle 5.2 ausgewiesene Faktor die Delinquenzformen 1 bis 5 ab und wird entsprechend als Faktor starker Extrapunitivität bezeichnet. Der zweite in der Tabelle ausgewiesene (als Dritter extrahierte) Faktor bildet die Delinquenzformen 6 bis 8 ab, die sich von den ersteren vor allem durch ihre geringere Schwere des involvierten Delinquenzereignisses zu unterscheiden scheinen. Wir nehmen dies auch für das dritte der drei Ereignisse,
Formen abweichenden
Tabelle 5.2
Verhaltens
121
Abweichendes Verhalten, nach Geschlecht
Faktorenladungen
1). .jem. arg zugerichtet
Geschlecht männlich
Fl (30,4%) EXTRAPUNITIVITÄT .68 8,7 (843) .58
2). .jem. mit Waffe bedroht
3). .irgendwo
.55
eingebrochen
.50
5). .in "Bande" mitgemacht
.50 F2
6). .Sachen zerstört oder beschädigt
(STARK) 1,4 (794)
3,7
0,7
(844)
(795)
5,7
1,9 (794)
(842) 4). .Rechnung nicht bezahlt
weiblich
4,5
2,6
(841)
(793)
11,9 (841)
3,8
(791) (4,1%)*EXTRAPUNITIVITÄT (SCHWACH) .58 19,6 7,0 (844) (795)
7). .jem. verprügelt
.52
30,8 (843)
13,7 (793)
8). .jem. Sache mit Gewalt
.44
21,6
13,3
weggenommen 9)- .Schule geschwänzt
(841) (793) F3 (4,7%)*EINFACHE REGELVERLETZUNG .63 18,8 15,9 (840)
(793)
.57
15,3 (843)
12,6 (793)
11) ..fremde Sachen mitgenommen
.45
19,7 (841)
13,7 (793)
12) ..über Nacht weggeblieben
.44
8,0
5,2 (795)
10) ..Unterschrift
nachgemacht
(840) * F2 als dritter, F3 als zweiter Faktor extrahiert.
122
Delinquenz und Aggressivität
'jemandem etwas mit Gewalt wegnehmen', an, da ansonsten zu erwarten gewesen wäre, daß dieses Ereignis vor allem auf dem ersten Faktor hoch lädt. Wir sehen in der durch die Ereignisse 6 bis 8 erfaßten Dimension einen Faktor schwacher Extrapunitivität, wobei die Qualifizierung als 'schwache' und 'starke' Extrapunitivität ausschließlich auf den direkten Vergleich dieser ersten beiden Faktoren abzielt, um auf diese Weise den Unterschied in der relativen Schwere beider Kategorien von Delinquenzereignissen sprachlich zu markieren. Schließlich wird der dritte, in Tabelle 5.2 ausgewiesene (als Zweiter extrahierte) Faktor durch die Ereignisse 9 bis 12 gebildet. Wir sehen in ihm vorrangig einen Faktor regelverletzenden Verhaltens, das sich von den übrigen in Tabelle 5.1 ausgewiesenen Delinquenzformen, den Faktoren schwacher und starker Extrapunitivität, in zweifacher Hinsicht zu unterscheiden scheint: Zum einen durch die geringere 'Schwere' der Delinquenz und zum anderen dadurch, daß die Handlungen nicht oder nicht unbedingt (mit punitiver 'Absicht') gegen Personen oder Sachen gerichtet sind. Die Schule zu schwänzen oder über Nacht von zu Hause wegzubleiben sind vielmehr Verhaltensweisen, die sich eher gegen die Autorität der Regel als solche richten. Eine Unterschrift zu falschen, wird für die meisten Jugendlichen primär bedeuten, sich selbst einen Vorteil zu verschaffen (bzw. einen Nachteil abzuwenden), ohne daß dies schon irgendein 'aggressives', extrapunitives Element Dritten gegenüber impliziert. Nur eines der vier Ereignisse dieses dritten Faktors, fremde Sachen mitnehmen, impliziert bei strikter Auslegung ein punitives Element Dritten gegenüber. Daß dieses Ereignis jedoch im Kontext eher harmloser Formen abweichenden Verhaltens zu sehen ist, macht deutlich, daß diese Form jugendlicher Delinquenz eine ganz andere Qualität hat als die Ereignisse, die den Faktor starker (oder schwacher) Extrapunitivität bilden. Die Qualifizierung der Delinquenzereigoisse dieses dritten Faktors als Formen 'einfacher' Regelverletzung soll dabei nur dazu dienen, im direkten Vergleich mit den beiden ersten Dimensionen das Fehlen des dort vorzufindenden punitiven Elementes sprachlich zum Ausdruck zu bringen (auch die Delinquenzformen des ersten und zweiten Faktors stellen als solche regelverletzendes Verhalten dar). Auf der Grundlage dieser Faktorenstruktur berechneten wir für jeden Befragten drei Indexwerte durch Summierung der im Bezugszeitraum ein— oder mehrmals aufgetretenen Delinquenzereignisse, in die der Jugendliche als Akteur verwickelt war, wobei die Summenbildung getrennt über die drei Ereignisgruppen erfolgte. Als (polychorische) Interkorrelationen der so gebildeten Summenindices ergaben sich rho 1 2 =.60 (starke vs. schwache Extrapunitivität), rho 1 3 =.66 (starke Extrapunitivität, einfache Regelverletzung) und r h o j ^ . 4 2 (schwache Extrapunitivität, einfache Regelverletzung). Diese Summenindices werden, soweit es sich um tabellarische Analysen handelt, in recodierter Form ausgewiesen (in keines vs. wenigstens eines der Ereignisse ein— oder mehrmals involviert).
5.3
Sozialer Hintergrund und das Risiko eingeschränkter Erfolgsaussichten
Zu den aus anomie— und (sub — )kulturtheoretischer Sicht relevanten Bedingungen jugenddelinquenten Handelns zählen eine Reihe von Faktoren (vgl. Johnson, 1979), die neben anderen auch in der vorliegenden Studie berücksichtigt werden konnten. Ein Großteil dieser Einflußfaktoren fand Eingang in ein umfassenderes Strukturgleichungsmodell, das zugleich auch verschiedene Formen extra— und intrapunitiver Reaktionen enthält, oder wurde in andere multivariate Analysen einbezogen. Einige dieser Determinanten jugendlicher Delinquenz sind
123
Sozialer Hintergrund
in Tabelle 5.3 ausgewiesen. Zum Teil können sie in einer anomietheoretischen Perspektive als Risiken aufgefaßt werden, welche die Aussichten mindern, weitgehend geteilte Ziele auf allgemein akzeptierte, 'legitime' Weise zu verwirklichen (etwa direkt oder dadurch, daß sie Delinquenz begründen, welches dann zu einer Minderung der Aussichten führt). Wir werden in den folgenden Abschnitten der Reihe nach ausführlich auf diese "Risikofaktoren" eingehen.
Tabelle 5.3
Einige Determinanten abweichenden Verhaltens (polychorische/ — serielle Korrelationen) Abweichendes Verhalten im Jugendalter
Determinanten
Extrapunitivität stark schwach
Bildungsgrad des Vaters -.05 Schul bezogene Leistungsprobleme .30 Statusdeprivation .15 Soziale Integration in "Clique" .29 Integration des Freundeskreises (schwach) -.26
Einfache Regelverletzung
-.01
-.08
.22 .19
.35 .18
.15
.26
-.09
-.16
BUdungshintergrund und die schulische Perspektive Der Bildungshintergrund in der Herkunftsfamilie erweist sich im Spiegel des bivariaten Befundes als nur schwach bis sehr schwach mit den drei Delinquenzindikatoren korreliert. Als grober Indikator für den sozialen Hintergrund bzw. die Schichtzugehörigkeit genommen, bedeutet dies, daß im Vergleich des dadurch erfaßten vertikalen Spektrums mit nur geringfügigen Variationen in der Prävalenz jugenddelinquenten Handelns zu rechnen ist. (Zur Situation Anfang der 70er Jahre vgl. Brüsten & Hurrelmann, 1976, 134f.). Zwar nimmt der Anteil von delinquenten Jugendlichen im Vergleich der drei unterschiedenen Kategorien im wesentlichen wie erwartet mit steigendem Bildungshintergrund
124
Delinquenz und Aggressivität
ab, doch sind insgesamt nur schwache, regional geringfügig variierende Prozentsatzdifferenzen zu beobachten. Im solitären Verdichtungsgebiet ist allerdings kein monoton abnehmender Trend in der Delinquenzbelastung zu erkennen. Hier erweist sich vielmehr die mittlere Bildungskategorie als am stärksten belastet und hat nur in einem der drei Indikatoren die Delinquenzrate in der höchsten Bildungskategorie den vergleichsweise niedrigsten Stand (Tabelle 5.4). Tabelle 5.4
Jugenddelinquenz und Bildungshintergrund, nach Region
niedrig mittel hoch Ballungszentrum
Bildungshintergrund* niedrig mittel hoch Ländlicher Raum % Extrapunitivität
17% 15% 13% (115) (242) ( 93)
niedrig mittel hoch Solit.
Verdichtungsgebiet
(stark)
15% 12% 7% (114) (365) (122)
10% 15% 12% (126) (270) (103)
% Extrapunitivität (schwach) 34% 30% 31% (115) (244) ( 93)
47% 41% 37% (114) (366) (123)
31% 36% 30% (127) (272) (102)
% Einfache Regelverletzung 44% 37% 29% (115) (244) ( 91)
37% 34% 32% (111) (365) (120)
30% 35% 23% (129) (272) (103)
* Bildungsgrad Vater
Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn als Indikator die berufliche Position des Vaters herangezogen wird. Werden gestützt auf die (in Kapitel 3 bereits vorgestellte) Klassifikation 'Beamten— und Angestelltenberufe für Erwerbstätige mit Berufsabschluß und höherem Einkommen* den übrigen Berufskategorien 'Berufe für Erwerbstätige mit Abschluß bzw. ohne Abschluß in typischen Arbeiterberufen' gegenübergestellt (Tabelle 5.5), so liegen die beiden Extrapunitivitätsraten bei jenen besser situierten Beamten— und Angestelltenberufen global um ca. fünf bis sechs Prozent sowie die Delinquenzrate 'Regelverletzung' um ca. zehn Prozent unterhalb der betreffenden Rate in der Vergleichskategorie. Dabei sind nach Regionen aufgeschlüsselt die vergleichsweise stärksten Unterschiede in der Delinquenzwahrscheinlichkeit im untersuchten Ballungszentrum und die
Sozialer Hintergrund
125
jeweils schwächsten Differenzen im solitären Verdichtungsgebiet zu verzeichnen. Der beobachtete regionale Trend erweist sich jedoch als zu schwach ausgeprägt, um schon als verläßliches Indiz echter regionaler Unterschiede dienen zu können. Tabelle 5.5
niedrig/ mittel
Jugenddelinquenz und beruflicher Hintergrund, nach Region
hoch
Ballungszentrum
18% (269)
8% (146)
Beruflicher Hintergrund* niedrig/ hoch niedrig/ mittel mittel Ländlicher Raum
hoch
Solit. Verdichtungsgebiet
% Extrapunitivität (stark) 15% 9% 13% (325) (245) (259)
12% (205)
% Extrapunitivität (schwach) 33% (272)
25% (146)
44% (326)
37% (245)
32% (262)
33% (204)
% Einfache Regelverletzung 43% (271)
24% (145)
39% (322)
31% (242)
33% (262)
28% (206)
* Erläuterungen im Text
So förderten entsprechende, für jede Delinquenzrate separat durchgeführte Tests auf Signifikanz der jeweils drei involvierten (regionalen) Differenzen zwischen den (berufsspezifischen) Prozentsatzdifferenzen keine signifikante Wechselwirkung zwischen Region und beruflicher Position zutage. Nur in zwei Fällen lag der beobachtete Testwert nahe dem kritischen Wert (von 1,%): Mit z = 13,7/0,0774= 1,77 (Regelverletzung) bzw. z=0,098/0,0548= 1,79 (starke Extrapunitivität) kann die Nullhypothese keiner Wechselwirkung von regionalem Typ und beruflicher Position jedoch auch bei diesen im Vergleich von Ballungszentrum und solitärem Verdichtungsgebiet ermittelten z—Werten nicht zurückgewiesen werden (Irrtumswahrscheinlichkeit 5%; H t = Wechselwirkung existent). Ein weiterer z—Wert ergab sich als 1,43, alle übrigen z—Werte lagen unterhalb z = 1,25 und mithin weit unter dem kritischen Wert.
Daß nicht von in diesem Sinne regional variierenden Delinquenzraten auszugehen ist, legt auch der Befund in Tabelle 5.6 nahe. Dort wird die Kategorie von Berufen (des Vaters), für die akademische Bildung erforderlich ist, mit deijenigen verglichen, wo dies nicht der Fall ist. Der Tabelle ist mithin eine engere Definition dessen zugrundegelegt, was einen 'hohen* beruflichen Status
126
Delinquenz und Aggressivität
darstellt. Entsprechend ist die so gebildete Kategorie von Berufen vergleichsweise auch quantitativ kleiner als die zuvor betrachteten bessersituierten Angestellten— und Beamtenberufe.
Tabelle 5.6
Jugenddelinquenz und akademischer Hintergrund, nach Region
Region
NA
A
Akademischer Hintergrund* NA A NA
% Extrapunitivität stark schwach
A
% Regelverletzung
Ballungszentrum
16% 5% (354) ( 62)
31% 26% (358) ( 61)
38% 25% (356) ( 61)
Ländlicher Raum
13% 5% (505) ( 75)
43% 31% (507) ( 74)
37% 25% (502) ( 72)
SolitäresGebiet
14% 9% (398) ( 66)
33% 29% (400) ( 66)
33% 21% (402) ( 66)
14% 6% (1257) (203)
36% 29% (1265) (201)
36% 24% (1260) (199)
Alle Regionen
* NA Nichtakademisch, A Akademisch
Wie erwartet, ist nach diesem Befund mit geringerer Prävalenz jugendlicher Delinquenz unter der Voraussetzung eines akademischen Hintergrundes zu rechnen. Da die Kategorie der akademischen Berufe quantitativ jedoch nur einen Bruchteil des Umfanges der nichtakademischen Berufe ausmacht, fallt die im Vergleich dieser beiden Kategorien zu beobachtende Reduktion in der konditionalen Delinquenzwahrscheinlichkeit bei der Delinquenzrate in der Gesamtpopulation umgerechnet jedoch nur sehr geringfügig ins Gewicht. Sicher kann der Bildungshintergrund nur partiell als Schichtindikator herangezogen werden. Auch ist im vorliegenden Fall aufgrund der Tatsache, daß die Bildungs— und Berufsmerkmale des Vaters aus Schülerangaben zu rekonstruieren waren, mit meßfehlerbedingt verminderten Korrelationen zu rechnen. Zudem lagen einige Sonderformen der schulischen Bildung außerhalb des Befragungsansatzes. Aber auch wenn aufgrunddessen angenommen wird, daß die Korrelation zwischen Jugenddelinquenz und der sozialen Schichtzugehörig-
Sozialer Hintergrund
127
keit durch die vorliegenden Daten unterschätzt wird, erweist es sich zur anomietheoretischen Erklärung von Variationen in der Delinquenzwahrscheinlichkeit dennoch als sinnvoll, auch 'direktere' Indikatoren ungünstiger Chancen einzubeziehen. In dem Versuch, die Tendenz zu delinquentem Handeln daraus abzuleiten, daß zentrale kulturelle Ziele zwar angestrebt werden, aufgrund einer ungünstigen Chancenstruktur aber nicht auf den dafür vorgesehenen, sozial akzeptierten Wegen realisiert werden können, dient die Zugehörigkeit zu einer bestimmten, mit mehr oder minder sozialen Ressourcen ausgestatteten Schicht im Grunde als Indikator der damit korrelierten Chance, diese Ziele auf legitime Weise zu erreichen . Wir nehmen an, daß diese Chance in der subjektiven Perzeption von Jugendlichen in besonderer Weise durch spezifische Bedingungen der sozialen Organisation der Jugend als Phase institutionalisierten schulischen und sozialen Wettbewerbs beeinflußt werden kann und es daher für die empirische Analyse von Nutzen ist zu versuchen, explizite Indikatoren dieser vermutlichen Bedingungen in die Analyse einzubeziehen. Wir denken dabei in erster Linie an Faktoren, die den heranwachsenden Kindern und Jugendlichen das vermeintliche oder tatsächliche Risiko sozialer Inferiorität sowie des Scheiterns an bildungs — und berufslaufbahnbezogenen Anforderungen per sozialem Vergleich, per Nichtentsprechung leistungsbezogener sozialer Erwartungen, denen sich der Heranwachsende ausgesetzt sieht, aber auch per möglicher Deprivationserfahrungen als Folge eines in der peer group existierenden Gefälles sozialer und finanzieller Ressourcen in sinnfälliger Weise vor Augen führen. In diesem Sinne ist zu vermuten, daß die Wahrnehmung des Risikos, bei dem Versuch zu scheitern, auf sozial gebilligte Weise zu Ansehen und Erfolg zu gelangen, und sich infolgedessen einen inferioren Status einzuhandeln, unter Bedingungen eines weitgehend »egregierten Schulsystems auch von Faktoren innerhalb der zentralen Bezugsgruppen des Jugendlichen mitbestimmt wird. Diese Faktoren können mehr oder weniger stark mit der Schichtzugehörigkeit korrelieren, die Verteilung des aus Sicht des Jugendlichen gegebenen Risikos zu scheitern kann jedoch durchaus auch entlang anderer Grenzen als der der strikten Schichtzugehörigkeit verlaufen. Daß in der besuchten Schulform per se ein sehr weitgehendes Präjudiz der effektiven Lebenschancen zu sehen ist, die Absolventen einer bestimmten Schulform realistischerweise erwarten können, ist unbestritten und bleibt von dem Argument völlig unberührt. Denn es geht hier vielmehr um das aus Sicht eines unbeteiligten Beobachters perzipierte Risiko, bei dem Versuch zu scheitern, einige zentrale Werte auf allgemein akzeptierte Weise zu realisieren.
128
Delinquenz und Aggressivität
Dieses Risiko wird je nach Bezugsbereich unterschiedliche Formen annehmen und auch auf unterschiedlichen Bedingungen beruhen. Beispielsweise liefern leistungsbezogene Probleme im Kontext Schule auch unter ansonsten eher homogen zusammengesetzten Gruppen ein klares Indiz der Möglichkeit kurz — oder längerfristiger Inferiorisierung, und zwar im Prinzip unabhängig davon, ob sich das faktische Anforderungsniveau auf der Ebene des Gymnasiums oder einer anderen Schulform bewegt. Daß dabei im deskriptiven Vergleich der einbezogenen Schulformen rekrutierungsbedingt die niedrigste Delinquenzrate für die Gymnasien ermittelt wurde, mag als Hinweis auf die dort auch kollektiv günstigere Chance, kulturell definierte Erfolgsziele zu realisieren, angesehen werden: So beträgt beispielsweise im Spiegel des für das Gesamtsample ermittelten Zahlenmaterials der Anteil starker Extrapunitivität an Gymnasien ca. ein Viertel, der Anteil schwacher Extrapunitivität ca. vier Fünftel und der Anteil einfacher Regelverletzung ca. drei Fünftel des entsprechenden Anteils an Hauptschulen (Tabelle 5.7). Tabelle 5.7
Delinquenz und besuchte Schulform*, nach Region
Ballungszentrum ~HS
RS
GY
Ländlicher Raum GS
HS
RS
GY
Solit. Verdichtungsgebiet GS
HS
RS
GY
GS~
19% (173)
11% (142)
13% 7% ( 1 3 5 ) ( 64)
36% (175)
35% (143)
30% 27% ( 1 3 5 ) ( 63)
39% (175)
29% (143)
26% 26% (135) ( 65)
% Extrapunitivität (stark) 31% (138)
10% (124)
7% (182)
22% 19% 11% ( 32) ( 1 9 8 ) ( 2 0 0 )
5% 17% ( 1 9 0 ) ( 46)
% Extrapunitivität 38% (141)
39% (123)
22% (181)
39% 43% ( 33) ( 1 9 8 )
41% (200)
(schwach)
38% 48% (191) ( 46)
% Einfache Regelverletzung 54% (139)
36% (124)
21% (180)
46% ( 33)
42% (195)
28% (198)
29% 48% (188) ( 46)
* HS Hauptschule, RS Realschule, GY Gymnasium, GS Gesamtschule
Wird in Rechnung gestellt, in welcher Weise sich im Jugendalter die Erfolgschancen vermindern, so überrascht es nicht, wenn Jugenddelinquenz stärker mit schulbezogenen Leistungsproblemen als mit dem Bildungshintergrund per se korreliert ist. Da allerdings mit solchen Versetzungsproblemen verstärkt im
Sozialer Hintergrund
129
Falle eines ungünstigen Bildungshintergrundes zu rechnen ist, kann in diesen Schulschwierigkeiten auch ein Glied in der Kette von Bedingungen gesehen werden, über die hinweg eine ungünstige Startposition im Wettbewerb um knappe schulische und soziale Ressourcen letzdich zu devianten Verhaltensweisen zu führen vermag. So steigt im vorliegenden Sample der Anteil von Befragten mit schulischen Versetzungsproblemen (Versetzung gefährdet oder nicht erfolgt, Schulwechsel wegen schlechter Noten) von 30,5% in der Kategorie mit höchster Bildung des Vaters (n=331) auf 44,6% in der Kategorie ohne gymnasiale Bildung oder Hochschulstudium des Vaters (n=1292), — eine im statistischen Sinne (auf dem 5 %— Niveau und designbedingt um den Faktor 1,225 korrigierten Standardfehlem mit z = 0,141/0,0353 = 3,99) signifikante Prozentsatzdifferenz (wobei sich die betreffenden Delinquenzanteile mit 42,6% (n=378) in der unteren und 45,4% (n = 914) in der mittleren Bildungskategorie nur insignifikant unterscheiden und aufgrunddessen oben zusammengelegt werden konnten). Dabei ist auch dann eine signifikante Differenz zu konstatieren, wenn die hohe mit der niedrigen (unter Ausschluß der mittleren) Bildungskategorie in Beziehung gesetzt wird (z=2,75). Eine analoge Verteilung kann für einen weiteren, in den folgenden Abschnitten näher untersuchten Risikofaktor delinquenten Verhaltens registriert werden. So steigt der Anteil von Jugendlichen, die sich subjektiv im unklaren darüber sind, ob ihre Schulleistungen den elterlichen Erwartungen entsprechen, von 32,1% in der Kategorie mit hohem Bildungshintergrund (n=330) auf 47,5% in der Vergleichskategorie mit niedrigem Bildungshintergrund (n = 377). Mit den Schulleistungen hinter den elterlichen Erwartungen zurückzubleiben, ein weiterer Risikofaktor auf der Ebene sozialer Erwartungen, erweist sich hingegen mit 27,2% in der mittleren Bildungskategorie (n=909) als am höchsten; die Vergleichsraten liegen hier bei 22,1% (hohe Bildungskategorie) und 19,4% (niedrige Bildungskategorie). Dabei ist zwar der Anstieg von der niedrigen zur mittleren Kategorie (mit z=2,5) im statistischen Sinne signifikant, nicht jedoch die im Vergleich der mittleren und hohen Bildungskategorie ermittelte Differenz (z= 1,5; jeweils mit korrigierten s.e's).
Der Einfluß schulischer Versetzungsprobleme wie auch des Bildungshintergrundes ist zum Teil über weitergehende Faktoren in der Kette potentieller Determinanten vermittelt. Als zwei zentrale intermediäre Faktoren haben sich dabei vor allem Verunsicherungen im Zukunftsbezug und soziale Konflikte im Elternhaus herausgestellt. Im Rahmen der Erörterung unseres Strukturgleichungsmodells werden wir auf diesen Befund im einzelnen zu sprechen kommen (siehe Kapitel 7). Aus anomietheoretischer Sicht ist das Ziel gesellschaftlichen Erfolgs jedoch keineswegs nur auf die umfassendere Sozialstruktur bezogen. Gerade für heranwachsende Kinder und Jugendliche ist das Ziel, einen 'passenden' Status zu erwerben, stark auch auf das soziale Leben in der Gleichaltrigengruppe bezogen. Wie wir unten noch im einzelnen darlegen wollen, spielt dazu unter Bedingungen äußeren sozialen Wettbewerbs der Grad der Verfügbarkeit über geeignete 'Statusgüter' eine wichtige Rolle. Solche Güter nicht oder nur be-
130
Delinquenz und Aggressivität
dingt in die Waagschale des sozialen Austausches werfen zu können, begründet Deprivationserfahrungen, die als Quelle nicht nur sozial devianten Verhaltens im Jugendalter angesehen werden können. Solche 'Statusdeprivationen', wie wir sie nennen wollen, spielen eine eigenständige Rolle in der Genese jugendlicher Delinquenz, können im vorliegenden Bezugsrahmen aber auch zur exemplarischen Verdeutlichung der Annahme herangezogen werden, daß ein ungünstiger sozialer Hintergrund vor allem dann Delinquenz fördert, wenn mit ihm effektiv eingeschränkte Möglichkeiten verbunden sind, kulturelle Erfolgsziele zu realisieren. Tabelle 5.8 zeigt in diesem Sinne, daß sich ungünstige soziale Voraussetzungen im besonderen dann auswirken, wenn mit ihnen zugleich Deprivationserfahrungen verbunden sind.
Tabelle 5.8
Extrapunitivität (stark), sozialer Hintergrund* und Deprivationserfahrungen Bildungsniveau niedrig mittel hoch % Extrapunitivität
Wenn Deprivation** nicht gegeben:
gegeben:
10% (260)
11% (682)
10% (252)
28% ( 90)
22% (184)
11% ( 57)
* operational über Bildungsgrad des Vaters ** genauer Fragetext: "Wenn Du an die Dinge denkst, die man sich als Mädchen bzw. als Junge gerne kaufen möchte, um bei anderen gut anzukommen: Hast Du alles, was Du Dir wünscht? Oder fehlt Dir einiges?"
Zu dem gleichen Bild führt die Berücksichtigung relativer Deprivationen hinsichtlich der dem Jugendlichen verfügbaren finanziellen Ressourcen. Wir fragten: "Wenn Du noch einmal an das Geld denkst, das Du im Monat für Dich hast: Glaubst Du, daß Du., viel mehr/viel weniger/ oder ungefähr soviel Geld ..wie die meisten Deiner Klassenkameraden hast?" Dabei waren der Bildungshintergrund und Delinquenz (starke Extrapunitivität) nur im Falle wahrgenommener relativer Deprivation (n=179) assoziiert: im Vergleich der drei Bildungskategorien (niedrig/ mittel/hoch) sanken die Delinquenzanteile wie erwartet von 21,7% über 17,9% auf 10,5%. In der Majorität der Fälle mit in etwa als gleich perzipierten finanziellen Ressourcen (n=1138) sind hingegen keine nennenswerten Differenzen festzustellen (niedrig: 10,3%, mittel: 12,0%, hoch: 9,0%). Das Gleiche gilt auch für die Teilgruppe, die für sich eine im sozialen Vergleich
Sozialer Hintergrund
131
bessere Ressourcenlage sieht (n = 205); nur daß sich dort die Delinquenzrate auf vergleichsweise höherem Niveau bewegt (niedrig: 21,4%, mittel: 15,7%, hoch: 20,6%). Eine analoge Effektstruktur ist außerdem noch für den zweiten der drei Delinquenzindikatoren, einfache Regelverletzung, zu konstatieren. Im Vergleich der drei Bildungskategorien (niedrig/mittel/ hoch) ergeben sich die Delinquenzanteile bei ungefähr gleicher Ressourcenlage als 29,9%/ 32,7%/27,8%, bei besserer Ressourcenlage als 51,8%/41,7%/41,2% und bei schlechterer Lage als 51,1%/ 39,6%/18,4%.
Zur Erklärung devianten Verhaltens ist aus anomietheoretischer Sicht nicht nur die (ungleich) verteilte Chance zu berücksichtigen, die angestrebten Ziele mit allgemein akzeptierten Mitteln zu erreichen, sondern auch die ebenfalls variierende Chance, kulturelle Erfolgsziele mit illegitimen Mitteln verfolgen zu können (vgl. Diekmann & Opp, 1979). Wird als Hilfshypothese akzeptiert, diese illegitime Gelegenheitsstruktur indirekt über Form und Stärke der Integration in die Gleichaltrigengruppe zu erfassen, so können die beobachteten, in Tabelle 5.3 ausgewiesenen Korrelationen auf globaler Ebene als Evidenz der Annahme gewertet werden, daß die Delinquenzwahrscheinlichkeit auch durch die Chance des Rückgriffes auf abweichendes Verhalten geformt wird. Sowohl Integration in die "Clique" als eine der Formen jugendlicher Gruppenbildung als auch starke Integration des Freundeskreises im allgemeinen sind verstärkt mit Jugenddelinquenz verbunden. Die Wahrscheinlichkeit devianten Verhaltens ist jedoch nicht nur eine Funktion der spezifischen 'Gelegenheiten', die in einem gegebenen sozialen Rahmen existieren. Deviantes Verhalten, in dem sich im Sinne Galtungs im besonderen die Neigung ausdrückt, anderen Schaden zuzufügen, weil sie der eigenen Selbstbehauptung im Wege stehen, kann im allgemeinen auch durch eine soziale Struktur begünstigt werden, die nicht oder nur eingeschränkt die Eigenschaft besitzt, sozialem Konflikt und vor allem interpersoneller Aggression vorzubeugen. Sozialstrukturen varriieren nach ihrer 'total linkage capacity' (Galtung) als einer Struktureigenschaft, die sich aus der Verteilung von Verbindungen ("links") ableitet, die zwischen den Mitgliedern eines sozialen Aggregats bestehen. Diese operational über das Criss — Cross — Konzept erfaßte Struktureigenschaft sozialer Kollektive stellt eine Hintergrund— oder Kontextbedingung dar, die es begünstigt, daß spezifische Determinanten (Risikofaktoren) delinquenten Verhaltens ihre Wirkung entfalten können. Dies läßt sich gut am Beispiel schulischer Versetzungsprobleme verdeudichen.
Criss —Cross und schulische Versetzungsprobleme Criss —Cross ist als Konzept Teil der multidimensionalen Rangtheorie (Galtung, 1966a; 1966b; Wuggenig, 1989). Es bezieht sich nicht auf einzelne Individuen,
132
Delinquenz und Aggressivität
sondern auf soziale Aggregate solcher Individuen. In der vorliegenden Analyse ist diese Aggregateinheit die Gemeinschaft der Mitschülerinnen und Mitschüler. Mit Criss—Cross wird ein bestimmtes Charakteristikum der Sozialstruktur innerhalb solcher Aggregateinheiten bezeichnet. Strukturelle Charakteristika sind stets Emergenzeigenschaften. Das bedeutet, daß die Struktur eines sozialen Aggregats durch exakt solche Eigenschaften höherer Ordnung charakterisiert werden, die nicht dazu verwandt werden können, die einzelnen Mitglieder eben dieses Kollektivs zu unterscheiden (Blau, 1981). Die einbezogenen Rangdimensionen: Um den Grad an Criss—Cross festzustellen, sind wenigstens zwei in der untersuchten Population relevante Rangdimensionen in Betracht zu ziehen. In Populationen von Schülerinnen und Schülern spielt sozialer Rang eine bedeutende Rolle. Dabei begünstigt die soziale Organisation von Jugend und Schule vor allem hierarchische Bewertungen auf solchen Dimensionen, die in der Gleichaltrigengruppe von Klassen— und Schulkameraden einen hohen Grad an sozialer Sichtbarkeit besitzen. Wir nehmen an, daß dieses Kriterium einerseits auf Bewertungen des schulischen Leistungsstandes und andererseits auf die im sozialen Leben der peers eingenommene Position zutrifft. Uns erschien daher sinnvoll, der Analyse als Rangdimensionen den subjektiven, im sozialen Vergleich verankerten Leistungsrang und die wahrgenommene Zentralität (Macht) im sozialen Geschehen der peers an der Schule zugrunde zu legen. Die Jugendlichen wurden dazu um eine Einschätzung ihres Leistungsstandes im Vergleich zu demjenigen ihrer Mitschüler(innen) gebeten, wobei die eigenen Schulleistungen als sehr gut, ziemlich gut, als Klassendurchschnitt, als ziemlich schwach oder sehr schwach bewertet werden konnten. An anderer Stelle baten wir die Jugendlichen auf einer ebenfalls 5—stufigen Skala um eine Einschätzung ihrer wahrgenommenen sozialen Zentralität. Dazu stützten wir uns auf eine graphische Skalierungstechnik aus der 1961er 'Adolescent Society' von James S. Coleman, nach der die Plazierung in einem Set konzentrischer Kreise vorzunehmen ist. Gefragt war: "Wer gibt den Anstoß für die Aktionen, die unter Euch Schülern laufen? Wer steht im Mittelpunkt des Geschehens? In den Kreisen, die Du hier siehst, steht die '1' für diesen Mittelpunkt. Kreuze bitte die Zahl an, die Deiner eigenen Position am nächsten kommt.
Außerdem baten wir anschließend um separate Angabe der Position, die der Jugendliche am liebsten einnehmen würde, um durch Berechnung des Gradienten dieser Dimension (vgl.
Sozialer Hintergrund
133
Galtung, 1966b, 123) feststellen zu können, in welchem Maße es sich hierbei auch de facto um eine Rangdimension handelt. Es ergab sich mit G = + 0 , 7 9 ein Wert nahe des theoretischen Maximums einer perfekten Rangvariable von + 1 . Beide Ist—Rangdimensionen wurden zur Berechnung des Criss —Cross—Grades als Dichotomie einbezogen: Subjektive Leistung oberhalb des wahrgenommenen sozialen Durchschnitts ('hoch'), 'niedrig' ansonsten; soziale Zentralitat: Lokalisierung im Zentrum oder dem angrenzenden Kreis ('hoch'), 'niedrig' im Falle der drei übrigen Kreise.
Criss—Cross: Zusammengenommen repräsentieren hier diese beiden Rangdimensionen, subjektive Leistung und soziale Zentralität, die soziale Matrix einer (Schulklassen — Gemeinschaft (vgl. Galtung, 1966a, 134). Schaubild 5.1 zeigt diese Matrix. Sie hat vier Zellen, die mit den vier möglichen Status —Sets (Merton, 1957) korrespondieren. Die zum Verständnis von Criss—Cross entscheidende Frage lautet dabei, wie sich die Mitglieder der Gemeinschaft über diese vier möglichen Status —Sets verteilen, und Schaubild 5.2 zeigt diesbezüglich zwei extreme Gesellschaften, die ein Charakteristikum gemeinsam haben, und zwar einen Mangel an Criss —Cross (vgl. Galtung, 1966b, 136): Criss —Cross fehlt perfekt, wenn es in der Gemeinschaft keine Individuen gibt, die als Brücken zwischen strukturell völlig disparaten Konfliktgruppen dienen können (vgl. Ross, 1920, 164f.). Wie in Schaubild 5.2 zu sehen ist, ist dies der Fall, wenn zwischen den Status —Sets keine Verbindungen bestehen. Dabei besteht eine Verbindung zwischen zwei Status —Sets genau dann, wenn sie einen Status gemeinsam haben (Galtung, 1966a, 137). So besteht zum Beispiel zwischen TT und UT eine Verbindung (und zwar durch den zweiten Status), aber zwischen TT und UU sowie zwischen TU und UT bestehen keine Verbindungen und folglich kein Criss—Cross. Und genau diese beiden Extrema werden in Schaubild 5.2 als 'Klassen — ' bzw. 'kompensatorische Gesellschaft' bezeichnet, wobei Gesellschaften vom Typus des 'Wohlfahrtsstaates' zwischen diesen Extrema angesiedelt sind und sich durch einen höheren Grad an Criss—Cross auszeichnen. Nach der Criss—Cross Theorie ist zu erwarten, daß die Beziehung zwischen den Trägern der Status —Sets umso weniger assoziativ ist, je geringer die Anzahl der Verbindungen zwischen diesen Status —Sets ist, und vice versa. "If the conditions for very dissociative relations should arise, there will be nothing to impede it, which is the major point about criss—cross" (Galtung, 1966a, 138). Die Bedeutung solcher strukturellen Verbindungen zwischen einzelnen Status—Sets steigt dabei mit der Anzahl der Träger dieser Status —Sets. Die auf diesen Verbindungen beruhende 'total linkage capacity' einer Sozialstruktur läßt sich dann innerhalb jedes zur Disposition stehenden Aggregates über einen dazu entwickelten Criss—Cross —Index berechnen (Galtung, 1966a, 140; 1966b, 137): C=((a+d)(b+c))/(N 2 /4), mit Zellhäufigkeiten a + b + c + d = N , die
134
Delinquenz und Aggressivität
Subjektive Leistung
Soziale Zentralität Hoch (T) Gering (U) Hoch
(T)
TT
TU
Gering (U)
UT
UU
T 'topdog' Schaubild 5.1
U 'underdog'
Die soziale Matrix einer (Schulklassen — )Gemeinschafi
Kl assengesei 1 Schaft T U
Kompensatorische Gesellschaft T U
T
TT
TU=0
T
TT-0
TU
U
UT=0
UU
U
UT
UU=0
Schaubild 5.2
Zwei extreme (Schulklassen — )Gemeinschaflen
wie folgt über die vier Zellen der sozialen Matrix verteilt sind: TT = a, T U = b , U T = c , UU = d. Es entsteht auf diese Weise für jede Aggregateinheit ein Criss —Cross—Wert, und mithin eine Verteilung solcher Werte über alle einbezogenen Aggregateinheiten (hier: Schulklassen). Jedes Mitglied einer Aggregateinheit ist dabei durch den Wert 'seines' Aggregates charakterisiert (vgl. Engel 1988, Anmerkungen 8,11). In der vorliegenden Mehrebenenanalyse wird diese Verteilung von Criss — Cross — Werten in dichotomisierter Form einbezogen. Fehlendes bzw. mangelndes Criss —Cross ist dabei operational durch alle Werte unterhalb des Durchschnitts definiert. Criss —Cross
und schulische
Versetzungsprobleme:
Schulische Versetzungspro-
bleme sind, w i e oben gezeigt, verstärkt mit Jugenddelinquenz verbunden. Daß diese Korrelation durch Strukturmerkmale des sozialen Kontextes verstärkt (oder abgeschwächt) werden kann, ist Tabelle 5.9 zu entnehmen. Zunächst ist festzustellen, daß mit delinquenten Verhaltensweisen verstärkt im Falle schulischer Versetzungsprobleme zu rechnen ist. Darüberhinaus ist jedoch
Sozialer Hintergrund
135
zu sehen, daß die betreffenden Prozentsatzdifferenzen im Vergleich der sozialen Kontexte mit über— bzw. unterdurchschnittlichem Criss —Cross variieren. Beträgt der auf Leistungsprobleme zurückführbare Anstieg im Anteil delinquenter Jugendlicher 10,8% in strukturell kohäsiven Kontexten, so ist in Kontexten mit mangelndem bzw. fehlendem Criss —Cross ein Anstieg von 19,5% zu registrieren. Anscheinend kann daher der Effekt, den schulische Versetzungsprobleme auf die Wahrscheinlichkeit delinquenten Verhaltens ausüben, durch einen strukturellen Kontext verstärkt werden, der selbst nur bedingt kohäsive Wirkungen zu entfalten in der Lage ist.
Tabelle 5.9
Jugenddelinquenz, schulische Leistungsprobleme und Struktur der Schulklasse**
Criss-Cross Leistungsprobleme
stark nein
30,6% (340)
ja
schwach nein ja
% Delinquenz* 41,4% 32,7% (256) (315)
52,2% (226)
* 'Aggression' im Sinne Galtung's ** Ballungszentrum und ländlicher Raum
Daß es sich hierbei um einen auch im statistischen Sinne signifikanten Verstärkungseffekt handelt, zeigt eine weitergehende Analyse der in Tabelle 5.9 ausgewiesenen Häufigkeitsverteilung, bei der versucht wurde, die beobachtete Variation in den Delinquenzanteilswerten auf genau zwei explizite Determinanten zurückzuführen: 1.) auf schulische Versetzungsprobleme und 2.) darauf, daß dieser Effekt durch einen Kontext intensiviert werden kann, der im skizzierten Sinne durch einen Mangel an Criss —Cross gekennzeichnet ist. Das getestete Modell sieht entsprechend die Möglichkeit eines Effektes schulischer Versetzungsprobleme sowie von Wechselwirkungen zwischen diesen und der beschriebenen Kontextbedingung vor: p(Delinquenz) = ß0 + ß,L + ß^LCr (L Leistungsprobleme; LCr Leistungsprobleme in Kontexten mit unterdurchschnittlichem Criss-Cross) Tabelle 5.10 weist das Ergebnis der Maximum—Likelihood—Schätzungen aus. Um der Mehrstufigkeit der Auswahl Rechnung zu tragen, werden die Standardfehler der Empfehlung Davis' folgend wieder um den Faktor 1,225 korrigiert. Nach dem Befund in Tabelle 5.10 ist zu erwarten, daß schulische Versetzungsprobleme per se die Wahrscheinlichkeit delinquenten Verhaltens um 9,8% erhöhen. Treten solche Leistungsschwierigkeiten aber in einem Kontext auf, dessen Struktur durch mangelndes bzw. fehlendes Criss-Cross gekennzeichnet ist, so ist mit einem zusätzlichen Anstieg der Delinquenz Wahrscheinlichkeit um 10,8% zu rechnen. Anders herum betrachtet, liefert dieser Interaktionseffekt positive Evidenz der vermuteten 'präventiven', Konflikt und Aggression vorbeugenden Wirkung
136
Delinquenz und Aggressivität
von Kontexten, die in überdurchschnittlichem Maße durch strukturelle Verbindungen gekennzeichnet sind. Schaubild 5.3 verdeutlicht den vorliegenden ML—Koeffizientenbefund in graphischer Weise.
Tabelle 5.10
Jugenddelinquenz, schulische Versetzungsprobleme und Criss —Cross: ML—Effektschätzungen ß
Konstante Schulisehe Versetzungsprobleme Versetzungsprobleme in Kontexten mit unterdurchschnittl. Criss-Cross
ß/s.e uk* k*
ß0 ßj
.316 .098
17,36 2,75
14,17 2,24
ß2
.108
2,39
1,95
Chi 2 =0,34; d f = l ; p = . 5 6 * Standardfehler s.e: uk unkorrigiert, k korrigiert
Sicher lassen sich auf letztlich trivariate empirische Analysen keine sehr weitreichenden Schlüsse aufbauen. Unsere bislang vorgestellten Delinquenzanalysen scheinen aber trotz des dadurch gezogenen Rahmens doch deutlich dafür zu sprechen, anstreben zu sollen, zu einer möglichst differenzierten Erfassung sozialer Chancen sowie der Faktoren zu gelangen, auf denen diese beruhen. Das bedeutet, nicht nur globale Indikatoren wie etwa den sozialen Hintergrund, d.h. die Schichtzugehörigkeit, heranzuziehen, sondern auch 'direktere' Indikatoren chancenmindernder Faktoren zu berücksichtigen. Dem Analyseproblem entsprechend, reicht das Spektrum potentieller Kandidaten dabei von strukturellen Merkmalen des sozialen Kontextes bis hin zu 'subjektiven' Indikatoren auf der Ebene sozialer Erwartungen oder des sozialen Vergleiches. Auch in den folgenden Analysen werden wir uns auf solche Indikatoren stützen. Und wie bisher wird dabei das Hauptaugenmerk zunächst auf dem Versuch einer differenzierten, vor allem Wechselwirkungen berücksichtigenden Analyse liegen. Dies geht zu Lasten der Anzahl gleichzeitig einbeziehbarer Variablen, — eine potentielle Schwäche, die wir durch das unten in Kapitel 7 berichtete, umfänglichere Strukturgleichungsmodell auszugleichen hoffen.
137
Erfolgsorientierung
,et
*un* S p r o J ) I
Schaubild 5.3 Delinquenzwahrscheinlicbkeit, schulische Versetzungsprobleme und Struktur der Schulklasse
5.4
Erfolgsorientierung und das Risiko eingeschränkter Aussichten
Eine der vielleicht dominantesten Erwartungen, die heutzutage in Heranwachsende gesetzt werden, ist die, passable (schulische) Leistungen zu zeigen und auf diese Weise bildungs— und berufsbezogene Karriereziele zu verwirklichen. Akzeptable Leistungen liegen dabei nicht nur im Interesse des Jugendlichen, sondern auch in dem seiner Herkunftsfamilie. Denn 'schulisches Versagen' bedroht nicht nur die Aussichten des Jugendlichen, sondern auch das vitale Interesse der Eltern auf Sicherung und gegebenenfalls auch Ausbau des bisher Erreichten. Schulische Leistungsprobleme sind daher auch fast zwangsläufig mit sozialen Auseinandersetzungen im Elternhaus verbunden. So wie sich die elterlichen Aspirationen unterscheiden, werden daher auch die sozialen Definitionen dessen variieren, was als passable schulische Leistung des Nachwuchses anzusehen ist. Als intolerabel können und werden dabei durchaus
138
Delinquenz und Aggressivität
Leistungen gebrandmarkt werden, die an der schulischen Definition gemessen (im Sinne des Erreichen des "Klassenziels") als "ausreichend" zu beurteilen wären. Ein Leistungsstand, der sich im Lichte der elterlichen (Status—)Erwartungen als unzureichend herausstellt, muß daher auch keineswegs mit "echten" Leistungsschwierigkeiten verbunden sein. Folglich wird auch die Perzeption des Risikos, an den gestellten Leistungserwartungen zu scheitern, nicht nur an objektiven Indikatoren wie gefährdeter oder nichterfolgter Versetzung in die nächste Schulklasse orientiert sein. Denn Leistungen, die vor Nichtversetzung schützen, sind nicht notwendigerweise auch Leistungen, die den Jugendlichen in den Augen der Eltern auszeichnen. Zwar sind auch objektive Leistungsprobleme ein entscheidender Risikofaktor in der Genese sozialer Devianz, jedoch ist genauso von Bedeutung, wie der aktuelle Leistungsstand im Spiegel dieser sozial verankerten Definitionen dessen, was eine akzeptable schulische Leistung darstellt, eingeschätzt wird. Jeder Jugendliche war daher aufgefordert, die Frage zu beantworten: "Sind Deine schulischen Leistungen so, wie es Dein Vater oder Deine Mutter von Dir erwarten?" Dazu konnte sich der Befragte zwischen einer der folgenden vier Vorgaben entscheiden: (1) ja, sind genauso; (2) ja, sind sogar besser; (3) nein, sind schlechter; (4) weiß nicht. Wie stark eine solche Einschätzung im vorliegenden Sample mit 'objektiven* Leistungsproblemen verbunden ist, zeigt die folgende Tabelle. Tabelle 5.11 liefert ein einfaches, externes Validierungskriterium der Einschätzungen, die die Befragten auf der Ebene der wahrgenommenen sozialen Leistungserwartungen vorgenommen haben. Diese Einschätzungen korrelieren mit "echten" Leistungsschwierigkeiten: Während in den Kategorien, die annehmen, erwartungsgemäße oder darüber hinausgehende schulische Leistungen zu zeigen, jeweils gut ein Viertel (27% bzw. 28%) über Probleme in ihrer Leistungsbiographie berichten, steigt der betreffende Anteil auf rund drei Fünftel (61%) unter denen, deren Leistungen hinter den elterlichen Erwartungen (vermeintlich oder tatsächlich) zurückbleiben. Da es sich, wie wir im weiteren Verlauf zeigen werden, auch als Risikofaktor herausgestellt hat, sich über den eigenen Leistungsstand im Spiegel der elterlichen Erwartungen im unklaren zu sein, ist es bemerkenswert, daß in dieser ('weiß nicht' — )Kategorie auch ein vergleichsweise erhöhter Anteil von Jugendlichen mit Problemen in der Leistungsbiographie feststellbar ist. Dabei nivelliert die in Tabelle 5.11 ausgewiesene Verteilung das Bild insofern, als der beobachtete Trend bei den männlichen Jugendlichen etwas stärker und bei den weiblichen Jugendlichen etwas schwächer ausfallt.
Erfolgsorientierung
Tabelle 5.11
139
Leistungsbezogene Elternerwartungen und Probleme in der schulischen Leistungsbiographie *) Schul!eistungen und Elternerwartungen Leistungen sind... ..genauso ..besser
..schlechter
..wie/als erwartet weiß nicht Alle
%Anteile: Schulische Versetzungsprobleme*) 27% (541)
28% (135)
61% (406)
46% (623)
42% (1705)
*) Versetzung in die nächste Klasse gefährdet; ein oder mehrmals eine Schulklasse wiederholt; Schule wegen schlechter Noten gewechselt. Als Problem in der Leistungsbiographie wird gezählt, wenn bisher wenigstens eines dieser Versetzungsprobleme eingetreten ist; Schülerangaben.
Das in Tabelle 5.11 ausgewiesene Bild mag jedoch nicht nur dazu herangezogen werden, unseren Glauben in den Realitätsgehalt der Angaben zu stärken, die den eigenen Leistungsstand im Spiegel der wahrgenommenen sozialen Erwartungen lokalisieren. Im Sinne der eingangs zu diesem Abschnitt gemachten Bemerkungen zeigt die Tabelle auch, daß die Einschätzung des Leistungsstandes im Spiegel sozialer Erwartungen zwar hoch, nicht aber trivial hoch mit Schwierigkeiten in der Leistungsbiographie korreliert: Denn trotz der Angabe erwartungsgemäßer Leistungen haben immerhin noch ein Viertel echte Leistungsprobleme und trotz Leistungen, die in der subjektiven Einschätzung nicht die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen, liegen für rund zwei Fünftel keine Probleme in der Leistungsbiographie vor.
Leistungsorientierung Wenn man bedenkt, wie sehr unsere Gesellschaftsverfassung auf Leistung ausgerichtet ist und wie sehr die soziale Organisation von Jugend durch die Institutionalisierung von leistungsbezogener Konkurrenz dominiert wird, dann überrascht es nicht besonders, daß nur eine kleine Minderheit der Befragten eine Wertbindung an diese herrschende Form leistungs— und erfolgsbezogener Kultur vermissen läßt. 'In der Schule gute Leistungen zu zeigen', beispielsweise, erweist sich im Spiegel unseres Datenmaterials nur für 0,2% als 'ganz
140
Delinquenz und Aggressivität
unwichtig' und nur für weitere 4,6% als 'nicht so wichtig' ('wichtig': 59,5%; 'sehr wichtig': 35,6%; n = 1.708) (vgl. Kapitel 2). Daß jedoch deviante Verhaltensweisen als Reaktion auf nicht erwartungsgemäße Leistungen nur dann zu beobachten sind, wenn diese Wertbindung besteht (vgl. Tabelle 5.12), läßt
Tabelle 5.12
Jugenddelinquenz, Schulleistungen und Leistungsorientierung Schul 1 eistungen und Elternerwartungen Leistungen sind.. ..wie/als erwartet ..genauso ..besser ..schlechter weiß Alle nicht % Anteile: Einfache Regelverletzung
Wenn nicht wichtig, in der Schule gute Leistungen zu zeigen:
50% (12)
( 4)
61% (33)
Wenn (sehr) wichtig, in der Schule gute Leistungen zu zeigen:
23% (494)
24% (126)
47% (353)
61% (28)
57% (77)
34% 33% (552) (1525)
% Anteile: Extrapunitivität (leicht) Wenn nicht wichtig, in der Schule gute Leistungen zu zeigen:
75% (12)
. ( 4)
50% (32)
Wenn (sehr) wichtig, in der Schule gute Leistungen zu zeigen:
29% (500)
32% (124)
46% (354)
55% (29)
55% (77)
34% 35% (555) (1533)
% Anteile: Extrapunitivität (stark) Wenn nicht wichtig, in der Schule gute Leistungen zu zeigen:
25% (12)
. ( 4)
28% (32)
Wenn (sehr) wichtig, in der Schule gute Leistungen zu zeigen:
9% (499)
10% (123)
19% (356)
29% (28)
26% (76)
13% 13% (551) (1529)
Erfolgsorientierung
141
erkennen, daß gerade das Streben nach Realisierung eines sehr weitgehend geteilten Wertes an der Freisetzung derjenigen Kräfte mitwirken kann, die eben diesen Wert unterminieren: Tabelle 5.12 zeigt, daß mit sozial abweichendem Verhalten als Folge schulischer Leistungen, die nicht den elterlichen Erwartungen entsprechen, im wesentlichen dann zu rechnen ist, wenn es den Befragten 'wichtig' oder 'sehr wichtig' ist, 'in der Schule gute Leistungen zu zeigen'. Besteht diese Wertorientierung hingegen nicht, dann verliert zwar der einbezogene Vergleich des Leistungsstandes mit der elterlichen Erwartung per se seinen devianzbegünstigenden Effekt, jedoch ist das Gesamtniveau, auf dem sich die Devianzwahrscheinlichkeit bewegt, deutlich erhöht. Im Sinne des oben skizzierten Bezugsrahmens Erfolg nicht per schulischer Leistung, sondern auf anderen Kanälen zu erzielen zu versuchen, scheint im vorliegenden Sample daher von vornherein mit einer erhöhten Bereitschaft des Rückgriffs auf aggressive oder sonstwie sozial abweichende Mittel verbunden zu sein. Dies ist im Lichte des oben skizzierten Bezugsrahmens nicht überraschend. Denn unterstellt, er träfe zu, würde für Schüler in der Demonstration passabler schulischer Leistungen der quasi 'legitime' Weg zum Erfolg bestehen. Wird auf die Nutzung dieses Kanals kein Wert (mehr) gelegt, bleiben eigentlich auch nur sozial deviante Mittel verfügbar, um sozialen Status zu erlangen. Wie oben beschrieben und auch aus den Absolutzahlen der vertikalen Marginalverteilung in Tabelle 5.12 ersichtlich, ist es nur eine Minderheit von knapp fünf Prozent, die diese Wertorientierung vermissen läßt. Mithin kann die empirische Analyse auch als die einer extremen Gruppe betrachtet werden.
Status — und Erfolgsorientierung Ebenfalls als Extremgruppenanalyse kann die Analyse des (konditionalen) Einflusses angesehen werden, den die Orientierung an 'Status und Erfolg' auf die Beziehung zwischen Devianz und verletzten bzw. unklaren elterlichen Leistungserwartungen ausübt: Knapp sechs Prozent der Befragten ließen spontan diese Weitorientierung erkennen, wenn als Maß die in Kapitel 2 beschriebene Ex—post —Klassifikation der Antworten auf die offen gestellte Frage nach dem 'Wichtigsten im Leben' genommen wird. Vor dem Hintergrund unseres anomietheoretischen Bezugsrahmens war es ein Anliegen der Analyse zu prüfen, ob Schwierigkeiten, Erfolg per schulischer Leistung zu realisieren, sozial abweichende Verhaltensreaktionen im beson-
Delinquenz und Aggressivität
142
Jugenddelinquenz
extrem
nicht extrem Erfolgsorientierung
Ü H wie erwartet
Schaubild 5.4
B I S schlechter
E E 3 unklar
Jugenddelinquenz, Schulleistungen und Erfolgsorientierung
deren dann begünstigen, wenn eine starke Bindung an das Ziel statusbezogenen Erfolgs besteht. Beispielsweise konnte im Rahmen von Studien zur Erklärung antisemitischer sowie positiver Haltungen gegenüber dem Krieg gezeigt werden, daß eine Determinante dieser Attitüden in der positiven Haltung gegenüber 'Status und Respektabilität' zu sehen ist (Kaufman, 1956/57; Lewis, 1975). Diese auch explizit im Zusammenhang mit den klassischen Untersuchungen zur
Statusunsicherheit und Ungerechtigkeit
143
autoritären Persönlichkeit gesehenen Forschungsbemühungen erbrachten Evidenz für die Annahme, daß die subjektive Wichtigkeit von Status und Respektabilität zumindest ein Korrelat, wenn nicht eine Determinante dieser Attitüden ist. Wie schon im Falle der Analyse zur Leistungsorientierung, orientieren wir uns wieder an der subjektiven Definition der Befragten und ihrer primären Bezugsgruppe, den Eltern: Grundlage des Vergleiches ist wieder die Einschätzung des schulischen Leistungsstandes, wie er sich im Lichte der sozialen Erwartungen darstellt. Dazu wurden die Rubriken erwartungsgemäßer und besserer Leistungen zu einer Kategorie zusammengefaßt. Schaubild 5.4 weist eine der drei multivariaten Häufigkeitsverteilungen aus. Dem Schaubild 5.4 liegt als Delinquenzindex die Rate 'einfacher Regelverletzungen' zugrunde. Es zeigt zwei Risikofaktoren jugendlicher Delinquenz: 'verletzte' und 'unklare' Leistungserwartungen. Das Schaubild zeigt außerdem, daß sich diese Faktoren dann verstärkt auswirken, wenn im definierten Sinne von einer Erfolgs— und Statusorientierung des Jugendlichen auszugehen ist. In Kapitel 9.2 stellen wir ausführliche lineare und logistische Modellrechnungen vor, die die in Schaubild 5.4 gezeigten Zusammenhänge einer weitergehenden Analyse unterziehen.
5.5
Statusunsicherheit und die Erfahrung von Ungerechtigkeit
Jede Gesellschaft benötigt Kriterien, die die Übernahme der verfügbaren sozialen Positionen in Wirtschaft und Gesellschaft durch die nachwachsende Generation regeln. Einerseits sind dies askriptive Kriterien wie die soziale Herkunft einer Person, ihr Geschlecht oder ihre ethnische Abstammung, die diese Allokation von Positionen regeln können. Andererseits sind es leistungsbezogene Kriterien und mithin solche, die aus Sicht des Individuums zumindest prinzipiell erworben werden können. Hierin liegt der entscheidende Unterschied: Werden die verfügbaren sozialen Positionen nach Kriterien vergeben, auf die der 'Bewerber' Einfluß nehmen kann, oder nach Kriterien, bei dem dies von vornherein ausgeschlossen ist. Es ist ein echter gesellschaftlicher Fortschritt, die Allokation der verfügbaren Positionen auf Kriterien zu stützen, deren Realisierung jedermann und jederfrau möglich ist. Und würden Positionen effektiv nach Leistungsgesichtspunkten vergeben und hätte zuvor jeder potentielle Kandidat die gleiche Chance gehabt, sich optimale Leistungsvoraussetzungen zu verschaffen, dann wäre dies sicher ein sehr passabler Weg, auch faire Chancengleichheit herzustellen.
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Delinquenz und Aggressivität
Leistung und Kooptation: Kriterien der gesellschaftlichen Allokation Zwar spielen Leistungsgesichtspunkte in der Tat eine bedeutende Rolle, nur scheint es doch unbegründet zu sein anzunehmen, faire Chancengleichheit sei bereits realisiert und die verfügbaren Positionen würden nicht nur in einem formalen Sinne jedem offen stehen, sondern jeder hätte bereits auch eine faire Chance, sie zu erhalten. Zwar sind günstige schulische Leistungen, und in der Folge dessen ein hoher Bildungsstatus, potentielle Ressourcen, die Chancen auf Top — Positionen im Beschäftigungssystem erhalten oder verbessern können, jedoch sind hier zwei Einschränkungen zu bedenken: Erstens ist der Erwerb dieser Ressource von einer Reihe von günstigen Umständen abhängig, vor allem günstigen Initialbedingungen im Kontext der Herkunftsfamilie sowie günstigen Bedingungen im Verlauf der weiteren Bildungsbiographie. Die Wahrscheinlichkeit, einen hohen Bildungsstatus zu erreichen, hängt damit weitgehend von Faktoren ab, die aus der Sicht der Bildungsaspiranten nur bedingt bis gar nicht kontrollierbar sind. Gerade in der ungleichen Verfügung über Ressourcen wie hoher Bildung ist aber das Kernelement sozialer Ungleichheit zu sehen. Zweitens wird die Grenze der Wirksamkeit günstiger Bildungsvoraussetzungen dadurch gezogen, daß soziale Positionen nicht nur nach Leistungsgesichtspunkten besetzt werden, und daß Leistung im allgemeinen nur die notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung für eine erfolgreiche Allokation ist. Aus soziologischer Sicht sind es im besonderen zwei Kriterien, die für die Besetzung von Positionen eine zentrale Rolle spielen: Leistung und Kooptation (Kreutz, 1974, 45,167). Während Positionen auf der Ebene des Selbstverständnisses leistungsorientierter Gesellschaften gemäß individuell erbrachter Leistung besetzt werden, spielen de facto KooptationsVorgänge eine entscheidende Rolle. Kooptation bedeutet dabei, daß die Übernahme auf eine bestimmte Position letztlich von der Anerkennung derer abhängt, die — selbst in vergleichbarer Position oder nicht — die Entscheidungsbefugnis besitzen, die Übernahme auf eine bestimmte Position zu akzeptieren oder zurückzuweisen. Als Kriterien können dabei unterschiedlichste askriptive oder erworbene Kriterien herangezogen und zur Grundlage des Ausschlusses von der weiteren Leistungskonkurrenz oder der definitiven Übernahme auf die Position gemacht werden. Aber selbst dann, wenn sich die Kooptation des Kandidaten effektiv nicht auf dessen Qualifikation, sondern auf andere Kriterien stützt, bleibt schul— und (später) berufsbezogene Leistung eine wichtige Ressource. Denn in modernen
Statusunsicherheit und Ungerechtigkeit
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wettbewerbsorientierten Gegenwartsgesellschaften bedarf die Übernahme auf eine privilegierte Position (im Beschäftigungssystem) zumindest zu ihrer Legitimation des Nachweises entsprechend gehobener Bildungsvoraussetzungen. Diese zu erwerben, liegt daher nicht nur im vitalen Interesse des Aspiranten, sondern auch in dem seiner Eltern, da mit Übernahme einer "passenden" Stellung auch der Status der Herkunftsfamilie reproduziert werden kann, während er ansonsten ernsthaft aufs Spiel gesetzt würde. Wie wir oben in Kapitel 2 zeigen konnten, wünschen Eltern und Schüler den Erwerb gehobener Bildungszertifikate, um sich (bzw. den Kindern) eine möglichst günstige Startposition für die nachschulische Bildungslaufbahn zu erschließen. (Für die Bundesrepublik hat die Arbeitsstelle Schulentwicklungsforschung vergleichendes Zahlenmaterial vorgelegt, s. Rolff, Klemm & Tillmann, 1986, 22. Danach sank der Anteil von Eltern, der für seine Schulkinder den Hauptschulabschluß wünscht, von 31% im Jahre 1979 auf 11% im Jahre 1985, während in diesem Zeitraum der Anteil, der für seine Kinder das Abitur wünscht, von 37% auf 54% anstieg. Der Hauptschulabschluß war dabei noch vor einer Generation der Standardabschluß für weit mehr als Dreiviertel der Angehörigen eines Jahrganges.) Diese Zunahme gehobener Bildungsaspirationen der Eltern für ihre Kinder ist dabei auch vor dem Hintergrund der angespannten Arbeitsmarktlage in der Bundesrepublik zu sehen, die ein Aufschaukeln der formalen Eintrittsanforderungen und in der Folge einen scharfen Wettbewerb um die Übernahme von Berufspositionen ausgelöst hat, in dessen Verlauf die jeweils relativ schlechter ausgebildeten Absolventen in unattraktivere Positionen oder ganz aus dem System in die Arbeitslosigkeit "abgedrängt" werden. Aus Gründen, soziale Deklassierung abzuwenden, sozialen Aufstieg oder Statuserhalt (in der Generationenfolge) zu realisieren, sind heutige Schülergenerationen einem beachtlichen Erwartungsdruck ausgesetzt. Zugleich werden sie von ihren Familien nicht in gleich geeigneter Weise auf die Bedingungen vorbereitet, denen sie in einer schulischen Leistungskonkurrenz ausgesetzt sind, die sich mit dem Abbau von Bildungsschranken für einzelne Teilgruppen nicht verringert, sondern im Gegenteil verschärft (Weymann, 1987, 6), vollzieht sich der individuelle Wettbewerb der Aspiranten um die begehrten Zertifikate doch nicht mehr nur innerhalb einzelner eng begrenzter Teilsegmente des Bildungssystems. Daraus folgt für Kinder aus Familien unterschiedlichen Privilegierungsgrades ein entsprechend differentielles Risiko, an den gestellten schulischen Anforderungen und in der Folge dem Entwurf eines konstruktiven eigenen Lebensplanes (Rawls, 1979) zu scheitern. Faire Chancengleichheit wäre realisiert, wenn im schulischen Wettbewerb alle auch effektiv gleiche Startbedingungen haben bzw. wenn anfangliche Nachteile effektiv ausgeglichen würden. Denn ansonsten wird sich im Großen und Ganzen in der Verteilung der unterschiedlichen Bildungszertifikate nur diese anfängliche Ungleichheit widerspiegeln.
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Delinquenz und Aggressivität
Für die Heranwachsenden, die sich noch innerhalb dieser schulischen (Leistungs—)Konkurrenz um attraktive Zukunftsaussichten und Lebenschancen befinden, ergeben sich mit Blick auf die Explananda der Analyse (Jugenddelinquenz) im wesentlichen zwei Konsequenzen: 1. In einer Kultur, die ein vorrangiges Ziel darin sieht, Erfolg per individueller Leistung zu erzielen, sind Heranwachsende einem starken Druck ausgesetzt, leistungsbezogenen Rollenerwartungen zu entsprechen, wollen sie sich nicht einem echten Risiko sozialer Deklassierung aussetzen. Es ist in starkem Maße dieses Risiko abwärtsgerichteter sozialer Mobilität (in der Generationenfolge), aber auch die Chance sozialen Aufstiegs, welche Statusunsicherheit zu einem grundlegenden Kennzeichen der Jugendphase machen. Die soziale Organisation von Jugend und Schule schafft den institutionellen Rahmen, innerhalb dessen sich die Leistungskonkurrenz vollzieht. Sie erzeugt Optionen und zum Teil echte Chancen, soziale Privilegien zu halten, zu erwerben oder auszubauen. Sie impliziert im allgemeinen aber auch das Risiko, an den gestellten Anforderungen zu scheitern und dadurch unter Umständen soziale Deklassierung in Kauf nehmen zu müssen. 2. Kooptationsvorgänge spielen nicht erst nach Abschluß der Schulzeit eine Rolle, sondern bereits vor diesem Zeitpunkt. Denn auch wenn ausschließlich 'Leistung' das Kriterium ist, in weitere Positionen vorzurücken, liegt es in der Logik des Leistungsprinzips, daß stets Dritte, nie der Leistungsträger selbst über die Adäquatheit der Leistung zu befinden haben. Zudem ist nicht auszuschließen, daß in den schulischen Bewertungsprozeß, dem sich jeder Heranwachsende in der Konkurrenz zu unterwerfen hat, (tatsächlich oder vermeintlich) auch leistungsfremde Elemente einfließen. Aus jugendsoziologischer Sicht ist daher zu erwarten, daß die Wahrscheinlichkeit devianten Verhaltens (auch) eine Funktion der wahrgenommenen Fairneß der schulischen Leistungsbewertung ist. Leistungsstatus Im vorangehenden Abschnitt standen der wahrgenommene Leistungsstand im Spiegel der elterlichen Leistungserwartungen im Mittelpunkt der Erörterungen. Im folgenden werden wir diese Darstellung um zwei weitere Indikatoren ergänzen: der Wirkungen von 'objektiven' Schwierigkeiten in der schulischen Leistungsbiographie und der Antizipation ungünstiger Chancen, die Schule erfolgreich zu passieren. Ein grundsätzliches Risiko, an den gestellten schulischen Leistungen zu scheitern, besteht für alle Heranwachsenden zunächst in gleicher Weise. Dieses
Statusunsicherheit und
Ungerechtigkeit
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Risiko wird sich jedoch erhöhen und dann auch subjektiv deutliche Konturen annehmen, wenn schulische Versetzungsprobleme auftauchen, wenn also 1. die Versetzung in die nächste Schulklasse gefährdet ist, 2. eine Schulklasse ein— oder mehrmals wiederholt werden muß, oder 3. die Schule wegen schlechter Noten gewechselt werden muß. Von einem erhöhten "Risiko abwärtsgerichteter Mobilität" (in der Bildungsdimension) bzw. einem ungünstigen (niedrigen) objektiven Bildungsstatus wollen wir entsprechend dann sprechen, wenn wenigstens eine dieser drei Bedingungen erfüllt ist, es also in der bisherigen Schulbiographie des Jugendlichen zu einem oder mehreren dieser Ereignisse gekommen ist. In diesem Fall ist in der Tat mit einer signifikant erhöhten Wahrscheinlichkeit extrapunitiver Verhaltensweisen zu rechnen. Für Delinquenz im Sinne von Galtung's Aggressionsdefinition (vgl. Kapitel 5.2) belegen dies die Tabellen 5.9 und 5.10 sowie unter einem erweiterten Set statistisch kontrollierter Bedingungen auch Analysen, über die wir an anderer Stelle berichtet haben (Engel, 1988a, 89; Engel, 1988b, 291). Zu der Schlußfolgerung, daß schulische Versetzungsprobleme mit einer signifikant in etwa demselben Umfang erhöhten Delinquenzwahrscheinlichkeit verbunden sind, führt die Analyse auch dann, wenn nicht der zusammenfassende Aggressionsindex herangezogen wird, sondern zwischen schwacher und starker Extrapunitivität unterschieden wird. Und die Rate einfacher Regelverletzungen, die dritte der oben unterschiedenen Formen jugendlicher Devianz, beträgt bei schulischen Versetzungsproblemen ziemlich genau das 2fache derjenigen der Vergleichskategorie.
Chancen im Spiegel der subjektiven Antizipation Die Antizipation ungünstiger (Mobilitäts — )Chancen ist ein weiterer Faktor, der extrapunitive Reaktionen begünstigt. Wenn Jugend als Statuspassage aufgefaßt wird, entsteht die Frage, wie wahrscheinlich es (aus Sicht des Jugendlichen) ist, den nächsten Schritt in der Abfolge von Statusübergängen zu realisieren. Zu den grundlegenderen Übergängen zählt dabei der Übergang von der Schule (bzw. dem Studium) in Arbeit und Beruf. Denn ein mißglückter Wechsel wird für den Heranwachsenden in den meisten Fällen mit einer Minderung seiner Aussichten und Lebenschancen verbunden sein. Aus der Sicht der Schülerinnen und Schüler liegt dieser zu realisierende Mobilitätsvorgang als künftiges Ereignis noch vor ihnen, wird aber dennoch ihr aktuelles Verhalten beeinflussen. Denn Handlungsrelevanz besitzt nicht nur die Gegenwart, sondern auch die antizipierte Zukunft. Nicht nur die Wahrnehmung
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Delinquenz und Aggressivität
akut ungünstiger Chancen, sondern auch die Vorstellung, künftig ungünstige Aussichten zu haben, wird z.B. seine Wirkungen nicht verfehlen. Wir prüften daher, wie sich ungünstige (Mobilitäts—)Chancen in der subjektiven Antizipation der Schülerschaft auf die Wahrscheinlichkeit devianten, d.h. im besonderen extrapunitiven, Verhaltens "auswirkt", und zogen dazu zwei Indikatoren heran: 1. Die subjektive Wahrscheinlichkeit, den gewünschten Schulabschluß zu bekommen, und 2. die subjektive Wahrscheinlichkeit, daß die beruflichen Wünsche in Erfüllung gehen werden. Das Resultat, das wir im Rahmen multivariater Analysen an anderer Stelle detailliert berichtet haben (Engel, 1988a, 91; Engel & Hurrelmann, 1988), bestätigte die Erwartung, daß die Antizipation ungünstiger Mobilitätschancen (in Abhängigkeit vom herangezogenen Indikator) in der Tat mit einem um den Faktor 2,4 bzw. 1,5 erhöhten Risiko extrapunitiver Reaktionen (im Sinne der Galtung — Definition) verbunden ist; ein keineswegs überraschender Befund, wenn man bedenkt, daß ungünstige Mobilitätschancen für den Heranwachsenden die Antizipation einer nachteiligen sozialen Gelegenheitsstruktur bedeutet. Blokkierte Mobilitätschancen repräsentieren aber eine soziale Bedingung, die die individuellen Chancen auf Entwurf und Realisierung eines konstruktiven und emotional attraktiven Lebensplanes (Rawls, 1979) mindert. Daß jedoch dadurch, daß konstruktive Impulse nicht in sozial akzeptiertes Verhalten einmünden können, im Resultat die Wahrscheinlichkeit destruktiver Handlungen erhöht wird, ist eine keineswegs neue Erkenntnis (Russell, 1916; Galtung, 1973).
Fairneß der Leistungsbewertung Das Kooptationsprinzip spielt im Rahmen der schulischen Leistungsbewertung in zweifacher Hinsicht eine Rolle. Einerseits ist auch eine ausschließliche Bewertung nach Leistungsgesichtspunkten ein Vorgang, der von Dritten durch Anlegung entsprechender Kriterien vorgenommen wird; und die Entscheidung darüber, ob die so ermittelte 'Leistung' die Voraussetzung zur Übernahme in die nächste Stufe der Schullaufbahn bietet oder zur Anerkennung des Schulerfolgs führt oder nicht, ist durchaus als Kooptationsvorgang einzustufen. Auch in modernen Leistungsgesellschaften wird Kooptation als Verfahrensprinzip nicht wirklich auszuschalten sein. Sie verliert jedoch zumindest ihre immanente Unberechenbarkeit in dem Maße, in dem sie als "leere" Verfahrensregel durch ex ante festgelegte inhaltliche Kriterien, Leistungsgesichtspunkte etwa,
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ersetzt wird. Im Falle einer Bewertung nach Leistungsgesichtspunkten wäre beispielsweise die geforderte Leistung hinreichend klar und präzise zu definieren, jedermann und jederfrau müßte die Gelegenheit haben, die geforderte Leistung unter effektiv gleichen Verfahrensbedingungen zu erbringen und auch der Kriterienkatalog per se müßte klar sein und seine Anlegung dürfte sich im Vergleich der Kandidaten nicht wandeln. Die Kooptation eines Kandidaten kann im allgemeinen jedoch, und wird vielfach auch, auf leistungsfremden Kriterien beruhen und so im Kontext einer auf Chancengleichheit bedachten Gesellschaft zu ungerechtfertigten Bevorzugungen führen, zumindest aber zu diesen beitragen. Auch für die Bewertungen, die im Rahmen organisierter Bildungsprozesse vorgenommen werden, ist diese Eventualität nicht auszuschließen. Abweichungen vom Prinzip effektiv chancengleicher Bewertung werden im Rahmen der Schulklasse aufgrund der dort gegebenen hohen sozialen Sichtbarkeit des Geschehens nicht unbemerkt bleiben. Jede Abweichung vom Prinzip fairer Chancengleichheit wird dabei in den Augen der Schülerinnen und Schüler auch ein sehr hohes Gewicht beigemessen werden, bedenkt man, welche Konsequenzen sich für den Einzelnen aus einer ungünstigen schulischen Leistungsposition ergeben. Vor allem werden die Schülerinnen und Schüler sehr genau darauf achten, ob es denn wirklich ihre ganz individuellen schulischen Leistungen sind und nicht etwa persönliche Voreingenommenheiten oder Sympathien, auf denen ihr schulischer Erfolg oder Mißerfolg beruht. Wir baten die Jugendlichen daher um eine Reihe von Kausalattributionen. Eine von sieben, inhaltlich systematisch variierten Attributionen war: "Daß Du den Schulabschluß bekommst, den Du haben willst, hängt davon ab, wie sehr Dich die Lehrer mögen" (Antwortformat: sehr stark/stark/ein wenig/gar nicht). Diesem Kooptationsindikator folgte die Frage: "Wenn Du bedenkst, wie stark Dein Schulabschluß davon abhängt, ob Dich die Lehrer mögen oder nicht mögen: Findest Du das.. (l)..sehr fair/(2)..ziemlich fair/(3)..ziemlich unfair/ (4)..sehr unfair". Die Wahrscheinlichkeit extrapunitiver Verhaltensreaktionen erweist sich, wie zu erwarten, als Funktion der wahrgenommenen Fairneß der Leistungsbewertung, wenn dazu die Antworten auf die oben beschriebene Gerechtigkeitsfrage herangezogen werden. Mit entsprechenden Verhaltensweisen ist dabei zu rechnen, wenn sich der Jugendliche sehr unfair behandelt fühlt. Nach unseren Berechnungen kann unter dieser Voraussetzung von einem um den Faktor 1,3 erhöhten Extrapunitivitätsrisiko ausgegangen werden (vgl. Engel & Hurrelmann, 1988, Tabelle 1; Engel, 1988a, 89).
150
5.6
Delinquenz und Aggressivität
Stalusdeprivation
In einer durch erfolgs— und wettbewerbsbezogene Werte dominierten Kultur ist die Idee des sozialen Ranges keineswegs auf die im Intergenerationenvergleich zu sehende Allokation von Positionen in der umfassenderen Sozialstruktur beschränkt. Es zählt nicht nur, welche Position der Nachwuchs in Wirtschaft und Gesellschaft später einmal erreicht haben wird und wie diese Position im Vergleich zur Herkunftsfamilie rangiert: Die Chancen und Risiken langfristiger sozialer Mobilität sind nur ein Thema, das individuelles wie kollektives Handeln zu beeinflussen vermag. Die Idee des sozialen Ranges ist jedoch sehr viel durchdringender in der Weise, daß entsprechende Werte in nahezu jeden Bereich des sozialen Lebens vordringen. 'Sozialer Status' beherrscht das Verhalten von Individuen kraft der Positionen, die in der umfassenderen Sozialstruktur eingenommen werden und kraft der stärker informellen Positionen, die das Individuum innerhalb seiner signifikanten Bezugsgruppen hält. In dieser zuletzt genannten Perspektive betrachtet, beruht der soziale Status einer Person zu einem großen Teil auf demonstrativem Verhalten. Ob eine Person einen hohen oder weniger hohen sozialen Status behauptet, hängt danach von allen ihren Merkmalen ab, die von den Mitgliedern ihres sozialen Kreises beobachtet werden können (Homans, 1972, 127). Status ist nicht einfach nur eine Angelegenheit sozialer Wertschätzung durch signifikante Andere, denn wertgeschätzt zu werden kann eine völlig private Erfahrung bleiben. Wertschätzung wird jedoch in dem Maße zum sozialen Status einer Person beitragen, in dem sie eine kollektive, hinreichend unter den Mitgliedern des sozialen Kreises geteilte Erfahrung wird. Entscheidend ist dabei, daß eine Person Status allein aufgrund der Tatsache gewinnen oder verlieren kann, daß Andere ihre Aufmerksamkeit auf beobachtbare Aspekte ihres Verhaltens richten. Dies ist ein weitgehend bekannter Sachverhalt im täglichen Leben, mit der Folge, daß (in gewisser Weise) die meisten Leute versuchen, den Eindruck zu kontrollieren, den sie bei ihren Bezugspersonen hinterlassen. Um Status durch kontrollierte Formen der Eindrucksbildung (impression management) zu erwerben, sind im täglichen Leben eine Vielzahl von sozialen Techniken beobachtbar. Sie alle als kontrollierte Formen der Eindrucksbildung zu bezeichnen, mag jedoch irreführend in dem Sinne sein, daß diese Begriffsverwendung suggeriert, rationale und selbstinitiierte, d.h. geplante, Aktivitäten zu umspannen. Die Fähigkeit zu rationalen Handlungsweisen ist jedoch keineswegs
Statusdeprivation
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gleich über die ganze Gesellschaft verteilt, und entsprechend erscheinen eine ganze Reihe von Versuchen, einen bestimmten sozialen Eindruck zu produzieren, als höchst reaktive Verhaltensweisen, d.h.: als Rollenverhalten, welches primär durch eine sehr wörtliche und rigide Lesart der zugrundeliegenden kulturellen Normen beherrscht ist. Obwohl als allgemeinere Proposition gedacht, ist sie im besonderen auf die Geschlechtsrollen und den sozialen Prozeß anwendbar, durch den diese Rollen von der nachwachsenden Generation übernommen werden. Geschlechtsrollen zu übernehmen bedeutet dabei nicht nur, einen Status im Sinne einer Position einzunehmen, auf die spezifische Rollenerwartungen gerichtet sind. Wird die starke Betonung von Erfolg und Wettbewerb in unserer Kultur in Rechnung gestellt, repräsentieren sie zugleich Positionen, die im Sinne sozialer Ränge in ein System sozialer Schichtung eingebettet sind. Pointiert mag es vielleicht so formuliert werden: Die Kultur legt nicht nur nahe, ein Mann oder eine Frau zu werden, sondern auch, ein attrakiver Mann oder eine attraktive Frau zu werden. Der Sozialisationsprozeß in die Geschlechtsrollen formt nicht nur ein Bewußtsein in Form von Differenzen zwischen den Geschlechtern, sondern auch in Form von Über — und Unterlegenheit innerhalb jeder der beiden Geschlechtergruppen. In diesem Prozeß spielen demonstrativer Konsum (Veblen) und sichtbare Zeichen des Lebensstils (Lipset & Zetterberg, 1966) eine zentrale Rolle. Denn um in der Gleichaltrigengruppe soziale Anerkennung zu finden, werden gewöhnlich nachdrückliche Versuche unternommen, bestimmten durch Werbung und Massenmedien suggerierten sozialen Bildern und Stereotypen zu entsprechen. Diese Bilder und Stereotype implizieren gewöhnlich eine Menge von Gütern, d.h. (kommerziellen) Waren, die auf diese Weise eng an die betreffende soziale Rolle geknüpft werden (Kreutz & Wuggenig, 1977, 94). Die Güter werden so zu (vermeindich) unverzichtbaren Requisiten dieser Rolle; und die Tatsache, daß nicht jeder Jugendliche in der Lage ist, in den Besitz dieser begehrten Güter bzw. in den der begehrteren unter diesen Gütern zu gelangen, schafft die Voraussetzung dafür, ein auf die demonstrative Verfügbarkeit knapper Güter basiertes System sozialer Ränge zu etablieren. Der demonstrative Konsum von Gütern, denen ihr Tauschwert, ihre relative Knappheit in den betreffenden sozialen Zirkeln und ihre enge, durch Medien und Werbung forcierte Bindung an soziale Rollen echten Statuswert verleiht, kann so zur effektiven Grundlage eines Systems werden, sozialen Rang in der Gleichaltrigengruppe "auszuhandeln". Zumindest in wettbewerbsorientierten sozialen (Sub — )Systemen wird die primäre Funktion demonstrativen Konsums (und Müßigganges) darin zu sehen sein, sozialen Status zu zeigen und sich im Wettbewerb um die Gunst der 'peers' durchzusetzen.
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Delinquenz und Aggressivität
Wir nehmen an, daß das so etablierte System sozialer Schichtung das Verhalten im Jugendalter (aber nicht nur in dieser Phase) generell beeinflussen wird. Geschlechtsrollenbezogenes Verhalten dürfte aber wohl eines der prominenteren Handlungsfelder sein, in der die Funktionen und Wirkungen demonstrativen Konsums sinnfällig in den Vordergrund treten. Demonstrativer Konsum und Mode liegen naturgemäß eng beieinander, ist die Mode doch ein Mittel par excellence, sozialen Status sinnfällig werden zu lassen. Nicht nur für die Mode im speziellen, sondern auch für die Strategie demonstrativen Konsums im allgemeinen ist daher deren immanente Dynamik zu berücksichtigen. Es liegt in der Natur der Mode, einen hohen Status nur so lange auf die Präsentation entsprechend "hochwertiger" Statusgüter gründen zu können, wie diese Güter ihre Wertschätzung nicht verlieren. Der Wert solcher Modegüter bestimmt sich jedoch weitgehend nach deren relativer Knappheit in den sozialen Bezügen, in denen sich das Individuum bewegt. Ein Gut, das aufhört selten zu sein, verliert eben genau die Exklusivität, die ihm in den Augen der Aspiranten den hohen Wert verleiht und zu Erwerb und Nachahmung animiert. Da aber zur Schau getragene Exklusivität enorm zur Nachahmung anregt, ist das entsprechend exponierte Individuum stets dem Risiko ausgesetzt, seine vorrangige Position zu verlieren. Will es seine (vemeintliche oder tatsächliche) Vorrangstellung behalten, muß diese auf eine neue Basis, also neue Statusgüter, gestellt werden. Es entsteht so eine Dynamik, die gerade am Fall des phasenbezogenen, vielfach zyklischen Modegeschehens gut beobachtet werden kann. Für Jugendliche, die in eine entsprechende Kultur integriert auf Wegen demonstrativen Konsums soziale Anerkennung unter den peers zu erlangen suchen, hat dies die Konsequenz, einem relativ kontinuierlichen Druck ausgesetzt zu sein, in diesem dynamischen Schichtungsgefüge eine feste Position zu behaupten oder zu erlangen. Da es unter diesen Voraussetzungen im allgemeinen gerade "das Neue" bzw. der zeitliche Vorsprung gegenüber den übrigen Aspiranten ist, der Gütern ihren Statuswert verleiht (Heintz, 1968, 62 — 64; Davis, 1949, 76f.), ist es zumindest in solchen Kontexten riskant, nicht auf dem neuesten Stand zu sein, in denen die potentiellen Mitkonkurrenten um die Gunst der peers einen entsprechenden Wettbewerb am Leben erhalten. Sicher können und werden viele Jugendliche gegenüber einem solchen System ablehnende Haltungen entwickeln und dazu neigen, sich nicht an diesem Wettbewerb zu beteiliegen. Sich diesem System effektiv zu entziehen, ohne Nachteile etwa in Form eines inferioren Status in Kauf zu nehmen, ist aber wahrscheinlich solange schwierig, wie ein entsprechendes Wertsystem, etwa in den (zunächst) nicht auf freiwilliger Gruppenbildung beruhenden Schulklassen-
Statusdeprivation
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gemeinschaften, am Leben erhalten wird. Zwar kann sich der Einzelne "für sich" gegen eine aktive Partizipation an dem durch das Wertsystem nahegelegten sozialen Wettbewerb entscheiden. Als Mitglied des betreffenden sozialen Systems ist er jedoch ein integraler Teil desselben und wird daher in diesem Bezugsrahmen nolens volens zum 'Mitspieler' auch dann, wenn er die soziale Konkurrenz und das dieser zugrundeliegende Wertsystem eigentlich ablehnt. Im Prinzip bleiben der einzelnen Person zwar immer auch Möglichkeiten, konstruktive Alternativen zu nicht attraktiv erscheinenden Formen sozialen Umgangs zu entwickeln; jedoch werden sich diese alternativen Vorstellungen realiter nur dann entfalten können, wenn sich, um im Bild zu bleiben, in dem betreffenden sozialen Rahmen auch dafür 'Mitspieler' finden lassen — ein aus individueller Sicht wohl nur selten steuerbarer 'Vorgang'. Welche Werte in einer Gruppe effektiv zum Tragen kommen, ist ein genuin sozialer Vorgang. Ist dann erst einmal ein bestimmtes Wertsystem etabliert, ist dies eine 'soziale Tatsache', der sich das einzelne Gruppenmitglied kaum entziehen kann, ohne dafür entsprechende Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Wird also einerseits von einer relativ beständigen Kultur im oben skizzierten Sinne und andererseits davon ausgegangen, daß sich der Heranwachsende diesen kulturellen Einflüssen im allgemeinen nur schwer wird entziehen können, ohne mit Nachteilen etwa in Form eines in der Gleichaltrigengruppe inferiorisierten Status rechnen zu müssen, dann erscheint es vor diesem Hintergrund durchaus realistisch, mit (Verhaltens — )Reaktionen auf die Chancen in dieser Konkurrenz um die Gunst der peers zu rechnen. Diese Chancen werden faktisch umso ungünstiger sein, je schlechter die Ausstattung mit den dafür als erforderliche Requisiten eingestuften 'Statusgütern' ist. Wird diese (Hilfs — )Hypothese akzeptiert, so läßt sich indirekt über den Grad, in dem sich der Jugendliche hinsichtlich solcher (materiellen) Rollenattribute depriviert fühlt, auch auf diese Chancen schließen. Der sich auf das Ausmaß empfundener Deprivation stützende Test würde dann unter dieser Voraussetzung auch partiell Rückschlüsse auf die empirische Haltbarkeit der aus der Konfliktsoziologie (Coser, 1967, 78f.) stammenden Hypothese erlauben, daß mit destruktiven Aktivitäten vor allem dann zu rechnen ist, wenn dem Jugendlichen keine konstruktiven und sozial akzeptierten Wege (mehr) offen stehen, sozialen Status zu erwerben, so daß er versucht ist, Status durch den demonstrativen Gebrauch von physischer Stärke und auch Gewalt zu erzielen. Schaubild 5.5 zeigt, daß mit Devianz im definierten Sinne als Folge statusbezogener Deprivation in der Tat zu rechnen ist. Sowohl für die weiblichen als
Delinquenz und Aggressivität
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Jugenddelinquenz
maennlich H l 1
gleich null 1 stark
weiblich Deprivation
^ ^
Hfl
gering
Hü
sehr stark
Schaubild 5.5 Jugenddelinquenz* und Statusdeprivation, 1986** * 'Aggression' im Sinne der Galtung—Definition (vgl. Kapitel 5.2) ** Gefragt war: "Wenn Du an die Dinge denkst, die man sich als Mädchen bzw. als Junge gerne kaufen möchte, um bei anderen gut anzukommen (zum Beispiel modische Kleidung, die neuesten Schallplatten usw.): Hast Du da alles, was Du Dir wünschst? Oder fehlt Dir einiges?" Antwortkategorien (in Klammern: Bezeichnung der Kategorie im Schaubild): Du hast alles, was Du Dir wünschst ('gleich Null'); Du hast nicht alles, aber doch schon sehr viel ('gering'); Dir fehlt einiges ('stark'); Dir fehlt sehr viel ('sehr stark'). Prozentuierungsbasen: 36%(177), 48%(456), 55%(164), 80%(25); 18%(161), 25%(453), 33%(135), 48%(23).
Zusammenfassung
155
auch die männlichen Befragten ist mit wachsendem Deprivationsgrad eine streng monoton steigende Devianzwahrscheinlichkeit zu registrieren. Daß dabei die Devianzwahrscheinlichkeit bei den Jungen generell auf einem höheren Niveau angesiedelt ist als bei den Mädchen, ist eine bereits aus den oben dargestellten Ergebnissen bekannte Erkenntnis. Der in Schaubild 5.5 ausgewiesene Befund beruht auf Angaben der Ersterhebung aus dem Herbst 1986. Wir haben dieses Ergebnis zum Ausgangspunkt einer Längsschnittanalyse gemacht und geprüft, wie sich das Verhältnis von Deprivationserfahrungen und Devianzverhalten im Zeitablauf darstellt. Gestützt auf ein formales Modell des zugrundeliegenden zeitbezogenen Prozesses, geht es dabei auch um die partielle Prüfung von Kausalitätsannahmen, die implizit in das Strukturgleichungsmodell eingegangen sind, auf das wir in Kapitel 7 zu sprechen kommen werden (vgl. die stochastische Modellrechnung in Kapitel 9.3).
5.7
Zusammenfassung
In der vorliegenden Analyse abweichenden Verhaltens im Jugendalter konnte gezeigt werden, daß mit einem erhöhten Delinquenz— bzw. Devianzrisiko zu rechnen ist, wenn die Verwirklichung zentraler Werte aufgrund ungünstiger Chancen gefährdet erscheint. Das Risiko, an den gestellten schul— und berufsbezogenen Anforderungen zu scheitern, und die damit verbundene Verunsicherung des Jugendlichen sind bedeutsame Faktoren in der Genese jugendlicher Devianz. Vor allem bei ausgeprägter Leistungs— und Erfolgsorientierung des Jugendlichen erweisen sich eingeschränkte Aussichten diesbezüglich als Risikofaktor. Von Bedeutung ist dabei jedoch keinesfalls nur, ob der Jugendliche an schulischen Standards gemessen passable Leistungen zu zeigen in der Lage ist, sondern auch, ob seine Schulleistungen die in sie gesetzten sozialen Erwartungen erfüllen. Gerade in dieser Hinsicht erweisen sich die Eltern als zentrale Bezugsgruppe des Jugendlichen. Darüberhinaus sind Deprivationserfahrungen in der Gleichaltrigengruppe ein Faktor von ausschlaggebender Bedeutung. Einerseits spielen Statusdeprivationen eine eigenständige Rolle in der Genese jugendlicher Delinquenz, wie unter anderem unsere Modellrechnungen in Kapitel 9.2 belegen, die wir unter Berücksichtigung der in der Spanne eines Jahres beobachteten zeiüichen Entwicklungen angestellt haben. Deprivationserfahrungen sind zugleich aber auch ein mögliches Glied in der Kette von Faktoren, über die sich nachteilige 'Anfangsbedingungen' delinquenzfördernd auswirken können. Der Bildungshintergrund des Jugendlichen ist dafür ein Beispiel.
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Delinquenz und Aggressivität
Jugenddelinquenz entsteht jedoch nicht nur daraus, daß zentrale Wertvorstellungen nicht mit allgemein gebilligten Mitteln verwirklicht werden können. In Betracht zu ziehen sind ebenfalls die Möglichkeiten, gegebenenfalls auch auf nicht gebilligte, 'illegitime' Mittel zurückgreifen zu können. Indirekt wird diese Behauptung dadurch erhärtet, daß sich die Wahrscheinlichkeit devianter Verhaltensweisen unter Bedingungen starker Peer—group —Integration als deutlich erhöht zeigt — ein Sachverhalt, auf den wir in der Erörterung des Strukturgleichungsmodells (in Kapitel 7) erneut zu sprechen kommen werden. Die Wahrscheinlichkeit jugenddelinquenten Verhaltens ist jedoch nicht nur eine Funktion der spezifischen 'Gelegenheiten', die in einem gegebenen sozialen Rahmen existieren. Deviantes Verhalten kann im allgemeinen auch durch eine soziale Struktur begünstigt werden, die nicht oder nur eingeschränkt die Eigenschaft besitzt, sozialem Konflikt und Aggression vorzubeugen. Daß soziale Kontexte aufgrund ihrer strukturellen Zusammensetzung mehr oder minder präventive Wirkungen entfalten können, versuchten wir im vorliegenden Kapitel am Beispiel einer 'Criss —Cross Analyse' von Schulklassengemeinschaften zu verdeutlichen.
6.
Alkohol — , Tabak— und Drogenkonsum
6.1
Drogenkonsum in der Jugendphase
In allen Lebensphasen, auch im Jugendalter, haben in den letzten Jahrzehnten die "Suchtkrankheiten" stark zugenommen. Zu den Substanzen, die über das zentrale Nervensystem die subjektive Befindlichkeit des Konsumenten direkt beeinflussen und ein hohes physisches oder psychisches Abhängigkeitsrisiko in sich bergen, gehören Alkohol, Nikotin, sedierende und schmerzlindernde Arzneimittel sowie illegale Drogen wie Haschisch, Opiumderivate und Kokain. Auch befindlichkeitsbeeinflussende Arzneimittel wie etwa Psychopharmaka müssen hierunter gerechnet werden (Vogt 1985). Der Einstieg in das stoffgebundene Suchtverhalten beginnt im Kindes— und Jugendalter, und zwar über legale Drogen, insbesondere die Genußmittel Alkohol und Tabak. Nach den vorliegenden Erfahrungen beschränkt die Mehrzahl aller Jugendlichen ihren Drogenkonsum auf solche legal erwerbbaren Substanzen. Eine Minderheit experimentiert zusätzlich über einen Zeitraum von einigen Jahren mit leichten illegalen Drogen, wobei an erster Stelle Haschisch steht. Ein kleiner Teil derjenigen, die Haschisch konsumieren, geht vorübergehend oder dauerhaft auf den Konsum von harten illegalen Drogen wie etwa Heroin ein. Es ist demnach von einer typischen Abfolge des Gebrauchs verschiedener Drogen im Jugendalter auszugehen, wobei die scheinbar harmlosen legalen Drogen Alkohol und Nikotin als eine Art Vorläufer der illegalen Drogen wie Haschisch, Schnüffelstoffen, Halluzinogenen, Amphetaminen, Opiaten, Beruhigungsmitteln und Kokain fungieren (Silbereisen & Kastner, 1984). Es ist anzunehmen, daß der Konsum von Drogen zur Bewältigung vielfältiger entwicklungs — und lebenslagenspezifischer Belastungen im Kindes — , Jugend — und Erwachsenenalter beiträgt, — ein Thema, das wir im folgenden mit Blick auf den Konsum von Tabak und Alkohol im Jugendalter näher beleuchten wollen. Der Konsum dieser legalen Drogen ist nicht nur im Erwachsenenalter, sondern auch im Jugendalter als ein gesellschaftlich weitgehend "normales" Verhalten anzusehen. Das Erlernen des Umgangs mit dem gesellschaftlich bereitgestellten Drogenrepertoire gehört geradezu zum jugendspezifischen "Lernprogramm" und wird aus sozialisationstheoretischer Sicht auch als eigenständige Entwicklungsaufgabe im Jugendalter aufgefaßt. Drogenkonsum ist eine gesellschaftlich und kulturell verankerte Verhaltensweise, die vor allem als Kompensation von Konflikt- und Belastungssituationen sehr weitgehend akzeptiert zu sein scheint.
158
Alkohol—, Tabak— und Drogenkonsum
Aus sozialisationstheoretischer Sicht ist der Drogenkonsum als ein Mittel und Medium der Lebensbewältigung anzusehen. Der Konsum von Drogen ist jedoch insofern problematisch, als damit ein Weg der Manipulation der psychischen und körperlichen Befindlichkeit einschlagen wird, der mittel— und langfristig zu erheblichen Schädigungen der Gesundheit führen kann. Die Gebrauchsmuster von Drogen sind bereits in der Jugendphase in das alltägliche Verhaltensrepertoire fest verwoben. Wir können von der Annahme ausgehen, daß in der Jugendphase mit verstärktem Alkohol— und Tabakkonsum als Reaktion auf Belastungsmomente zu rechnen ist, die sich ihrerseits aus Spezifika eben dieser Jugendphase ergeben. Wie im Falle der Jugenddelinquenz wird auch in verstärktem (oder besonders früh einsetzendem) Alkohol— und Tabakkonsum eine Reaktion auf Schwierigkeiten in der schulischen Leistungsbiographie zu sehen sein. Dabei wird sich auch der Leistungsstand im Spiegel der elterlichen Erwartungen als wichtige Determinante jugendlichen Drogenkonsums herausstellen. Einer solchen Erwartungshaltung massiv ausgesetzt zu sein, ist dabei für den Jugendlichen nicht nur wegen des sozialen Drucks, die entsprechenden schulischen Leistungen realiter zu erbringen, sondern auch aus dem Grund belastend, daß es dieser Leistungsdruck sehr erschwert, auch die anderen, nicht bildungs— und berufsbezogenen Entwicklungsaufgaben in der Jugendphase zu meistern, so zum Beispiel die Entwicklung eines eigenen Lebensentwurfes. Da letztlich jedoch die Eltern als hauptsächliche Repräsentanten der an den Nachwuchs gerichteten Qualifikationsanforderungen in Erscheinung treten, werden es in der Perzeption des Jugendlichen vielfach auch die Eltern sein, die die Entwicklung eines eigenständigen Lebensentwurfes behindern und unter Umständen sogar blockieren. Vor diesem Hintergrund kann verstärkter oder früh einsetzender Drogenkonsum auch eine Form des Protestes gegenüber der herrschenden, auf soziale Anpassung und Leistung ausgerichteten Kultur sein und als Begleiterscheinung eines verkrampften Ablösungsprozesses von der Herkunftsfamilie in Erscheinung treten. Der Griff zur Zigarette, zu weichen und harten Alkoholika gehört zum Standardrepertoire unserer durch Werbung und Massenmedien forcierten Kultur: Sie "gehören dazu" wie auch alle anderen Attribute und Ingredienzien der sozialen Rollen, die zu spielen einen Großteil des täglichen Lebens ausmachen, dazugehören. Um soziale Anerkennung in den Augen der Gleichaltrigen zu erhalten, wird daher versucht, den suggerierten sozialen Stereotypen zu entsprechen. Der Konsum von Drogen und Rauschmitteln ist eine höchst kulturelle Angelegenheit; er wäre ohne diesen Hintergrund genauso zum Scheitern verurteilt wie ohne den Glauben an ein Publikum, das es wertschätzt, diesen Stereotypen entsprechend zu leben. Die Jugend ist auch eine Phase des allmählichen Hineinwachsens in eine Kultur, wie sie von deren Repräsentanten vorgelebt, durch die Medien
Die Verbreituag des Drogenkonsums
159
geformt und am Leben erhalten wird. Es verwundert daher auch nicht, daß Drogenkonsum viel stärker als die übrigen Formen jugendlichen Verhaltens, mit denen wir uns in der vorliegenden Studie befassen, während der Jugendphase mit dem Alter rapide anwächst. Dieses Hineinwachsen in die Drogenkultur der Gesellschaft ist in dem Sinne eine kollektive Entwicklungsaufgabe, daß sie von allen Heranwachsenden irgendwie zu lösen ist — sie ist nicht zu umgehen. Drogenkonsum ist nicht ohne ein soziales Kollektiv vorstellbar: Wir nehmen an, daß in vielen Fällen der Griff zur Zigarette, zum Alkohol oder zu anderen Rauschdrogen (wenigstens zu Beginn der "Drogenkarriere") auch eine Art Botschaft an die soziale Umwelt desjenigen enthält, der solche Rausch— und Genußmittel zu sich nimmt, sei es beispielsweise, um Protest zu signalisieren oder gleich einem Initiationsritus sich und anderen zu beweisen, eine bestimmte Stufe auf dem Weg zum Erwachsenensein erfolgreich gemeistert zu haben. Bei alledem spielen die Repräsentanten der Kultur, an die sich die nachwachsende Generation auf diese Weise annähert, also etwa die Eltern, eine wichtige Rolle. Mindestens genauso wichtig und wahrscheinlich noch wichtiger sind jedoch die aktiven und passiven Mitspieler bei dieser Aktion, die Gleichaltrigen in Schule und Freizeit. Nicht nur, daß sie diesbezüglich alle dieselbe Entwicklungsaufgabe zu bewältigen haben; sie stellen nolens volens das Publikum, das aktiv partizipiert oder nur den sozialen Rahmen abgibt, in dem der Konsum von Drogen seine soziale Bedeutung gewinnt. Vor allem aktive Partizipation der Gleichaltrigen am sozialen Geschehen, in das der Drogenkonsum integriert ist und unter Umständen sogar dessen integrierende Kraft wird, wird dabei den vollen Einstieg in die (legale) Drogenkultur der Erwachsenengesellschaft fördern.
6.2
Die Verbreitung des Konsums von Alkoholika, Tabak und anderen Rauschmitteln
Zur Ermittlung des Drogenkonsums orientierten wir uns einerseits an der Legalität der Substanz und andererseits an der Schwere ihrer Wirkung. Auf Seiten der Drogen, deren Konsum in unserer Gesellschaft im allgemeinen gestattet ist, wurden entsprechend Fragen zum Konsum weicher und harter Alkoholika sowie zum Tabakgenuß gestellt. Dazu erfolgte zunächst die Frage: "Hast Du schon mal Wein, Sekt oder Bier getrunken?", gefolgt von vier Antwortvorgaben: (1) "nein, noch nie", (2) "ja, aber nur mal einen Schluck", (3) "ja, gelegentlich" und (4) "ja, regelmäßig". Die 'gelegentlichen' und 'regelmäßigen' Konsumenten wurden zudem gleich im Anschluß noch um genauere Angaben zur Häufigkeit ihres Alkoholkonsums in den zurückliegenden drei Monaten gebeten. Dieser Fragesequenz folgten dann unmittelbar analoge Sequenzen zum Konsum harter Alkoholika ("Schnaps, Likör oder Weinbrand") und zum Zigarettenrauchen.
160
Alkohol—,
Tabak— und Drogenkonsum
Daneben fragten wir an anderer Stelle nach illegalen Rauschmitteln. Es erschien am günstigsten, dieses etwas heiklere Thema separat anzusprechen und im Erhebungsinstrument durch eine eigene Fragevorgabe klar vom übrigen Fragekontext abzugrenzen. Gefragt war: "Wie oft hast Du in den letzten 12 Monaten diese Mittel genommen?" Es folgte die Vorgabe von drei Arten von Mitteln, und zwar in der Reihenfolge "Schnüffelstoffe", "Rauschmittel wie Haschisch, Marihuana" und "Andere Rauschmittel". Zu jedem dieser drei Vorgaben war der Jugendliche aufgefordert, die Häufigkeit seines Rauschmittelkonsums auf einer 5 —stufigen, von "nie" bis "praktisch täglich" reichenden Skala anzugeben. Dabei waren die in der dritten Vorgabe angesprochenen 'anderen Rauschmittel' inhaltlich nicht durch Beispiele spezifiziert. Durch den Fragekontext und die relative Anordnung der Vorgaben war jedoch beabsichtigt, mit dieser dritten und letzten Vorgabe zum Thema verstärkt auch die Konsumenten harter illegaler Drogen wie etwa Heroin etc. zu erfassen, ohne (aus Akzeptanzgründen) diese Drogen beim Namen nennen zu müssen. Ob mit dieser dritten Vorgabe die Konsumenten härterer illegaler Drogen realiter angesprochen werden konnten, ist allerdings auf der Basis der verfügbaren Informationen nicht definitiv zu beurteilen. Im Sinne einer einfachen PlausibiliTabelle 6.1
Konsum alkoholischer Getränke und Zigarettenrauchen Wein, Sekt Bier
Schnaps, Likör Weinbrand
Zigaretten
9,8 %
37,5 %
39,5 %
j a , aber nur mal einen Schluck ( A l k o h o l ) / nur mal p r o b i e r t ( Z i g a retten) (II)
40,6 %
38,4 %
29,8 %
ja,
gelegentlich
46,1 %
23,5 %
14,4 %
ja,
regelmäßig
%
0,7 %
16,3 %
100,0 % (n=1669)
100,0 % (n=1640)
100,0 % (n=1677)
n • •>. e i• n• •, y noch n i e
(I)
(III)
(IV)
3,5
Die Verbreitung des Drogenkonsums
Tabelle 6.2
161
Konsum alkoholischer Getränke und Zigarettenrauchen (in Prozent), nach Region Konsum von Alkoholika und Zigaretten* nie regelmäßig Region** I II III IV Wein, Sekt, 43,2 43,4 36,5 50,1 43,1 43,8
BZ LR SV
11,5 9,3 8,8
BZ LR SV
39,4 34,8 38,9
Schnaps, 38,0 37,7 39,5
BZ LR SV
37,1 40,3 40,5
32,8 26,6 31,0
Bier 1,9 4,1 4,3
100% (477) 100% (635) 100% (557)
Likör, Weinbrand 100% (469) 21,7 0,9 0,8 100% (629) 26,7 100% (542) 0,4 21,2
Zigaretten 12,4 17,6 16,6 16,6 15,0 13,5
100% (482) 100% (640) 100% (555)
* Antwortkategorien: römische Ziffern, s. Tab. 6.1 ** BZ Ballungszentrum, LR Ländlicher Raum, SV Solitäres Verdichtungsgebiet
tätsprüfung mögen die Ergebnisse, über die wir unten im Abschnitt über 'Rauschmittelkonsum und Diebstahlsdelinquenz' berichten werden, dafür sprechen, zumindest die teureren Drogen miterfaßt zu haben, dagegen vielleicht die relative Häufigkeit des Konsums im Vergleich zu dem von Rauschmitteln wie Haschisch und Marihuana. Aber letztlich muß es im vorliegenden Kontext reine Spekulation bleiben, wenn hinter den Antworten auf die Frage zum Konsum 'anderer Rauschmittel' Substanzen spezifischer Härte und Gefährlichkeit vermutet werden.
Häufigkeit des Konsums von Alkohol, Tabak und anderer Rauschmittel Wie verbreitet ist der Konsum von Alkohol und Tabak bei den im wesentlichen 12 —16jährigen? Tabelle 6.1 gibt eine Übersicht. Nach diesen Angaben gehören etwa 50 Prozent aller n=1669 befragten Schülerinnen und Schüler, die hier geantwortet haben, zu den gelegentlichen oder regelmäßigen Konsumen-
162
Alkohol—, Tabak— und Drogenkonsum
ten von Wein, Sekt oder Bier. Auch der Konsum von Schnaps, Likör oder Weinbrand ist beachtlich: Diese "harten" Getränke werden immerhin von ungefähr 24 Prozent gelegentlich oder regelmäßig eingenommen; und auch der Zigarettenkonsum ist nach den vorliegenden Zahlen sehr verbreitet: ungefähr 31 Prozent aller Befragten gaben an, zu den gelegentlichen oder regelmäßigen Konsumenten zu gehören. Dabei sind im regionalen Vergleich kaum größere Unterschiede in der Verbreitung jugendlichen Drogenkonsums festzustellen. Zu erkennen ist allerdings der Trend eines leicht verstärkten Drogenkonsums im ländlichen Raum, der jedoch nur im Falle leichter Alkoholika im Vergleich zum Ballungszentrum (mit z = 2,4 und korrigierten s.e's) klar zu einem signifikant höheren Anteil gelegentlicher bzw. regelmäßiger Konsumenten führt (Tabelle 6.2).
Jugendliche, die von sich selbst berichteten, in den letzten 12 Monaten 'gelegentlich' bzw. 'regelmäßig' (die erfragten) Alkoholika und Zigaretten zu konsumieren, waren in einer Anschlußfrage um Präzisierung der Häufigkeit gebeten worden, mit der sie solche Drogen im zurückliegenden Bezugszeitraum von drei Monaten zu sich genommen hatten. Tabelle 6.3 gibt eine Übersicht über die faktische Frequenz, die sich bei den befragten Jugendlichen hinter 'gelegentlichem' und 'regelmäßigem' Drogenkonsum verbirgt: Bedeutet danach der regelmäßige Genuß von leichten und harten Alkoholika überwiegend eine Einnahme von ein— bis mehrmals pro Woche, ist der gelegentliche Konsum de facto seltener und liegt bei mindestens einem Mal pro Monat oder darunter. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß die große Mehrheit der Konsumenten nicht regelmäßig, sondern nur gelegentlich Alkoholika zu sich nimmt, wie den Marginal Verteilungen in Tabelle 6.3 zu entnehmen ist. Anders verhält es sich beim Zigarettenrauchen: Hier überwiegen unter den jugendlichen Rauchern die regelmäßigen Konsumenten, gelegentliche Raucher sind in der relativen Minderheit (wenn wie hier die Gesamtgruppe global, ohne Berücksichtigung der internen Alterstruktur betrachtet wird). Regelmäßiger Konsum bedeutet dabei im wesentlichen, praktisch täglich zu rauchen, gelegendicher Konsum erfolgt in deutlich größeren Abständen, wobei jedoch auch hier schon gut ein Viertel der gelegentlichen Konsumenten mehrmals pro Woche zur Zigarette greift.
163
Die Verbreitung des Drogenkonsums
Tabelle 6.3
Häufigkeit gelegentlichen und regelmäßigen Konsums von Alkoholika und Zigaretten in den letzten drei Monaten Wein, Sekt Bier* gelegent1 ich
regel mäßig
Schnaps, L i k ö r Weinbrand** gelegent1 ich
regel mäßig
Zigaretten***
gelegent1 ich
regel mäßig
p r a k t i sch t ä g l i c h .. ..
0,0
16,9
0,0
27,3
5,3
89,0
mehrmals pro Woche ..
7,5
44,1
3,9
36,4
22,0
8,5
einmal pro Woche ..
18,5
32,2
15,8
18,2
16,7
0,4
seltener, aber mind. 1 mal pro Monat
36,2
3,4
37,8
18,2
17,2
0,0
s e l t e n e r . .. 37,9
3,4
42,5
0,0
38,8
2,2
100,1 (758)
100,0 ( 59)
100,0 (381)
100,1 ( 11)
100,0 (227)
100,1 (272)
* n=828—11 (k.A) ** n = 396 - 4 (k.A) ***n=515 —16 (k.A) Damit verglichen ist der Konsum illegaler Rauschmittel ein deutlich selteneres Ereignis, wie den Zahlen in Tabelle 6.4 entnommen werden kann: Es bekennen sich danach zum Gebrauch von Schnüffelstoffen 3,8 Prozent der Jugendlichen, zum Konsum von Haschisch und Marihuana 2,6 Prozent und dazu, andere Rauschmittel zu nehmen, 6 Prozent. Für den Gebrauch von Schnüffelstoffen und Haschisch/Marihuana ist dabei eine leichte Konzentration im Ballungszentrum zu verzeichnen; bei den anderen Rauschmitteln ist kein Trend erkennbar.
164
Alkohol — , Tabak— und Drogeakonsum
Tabelle 6.4
Konsum illegaler Rauschmittel (in Prozent) SchnüffelStoffe
Haschisch Marihuana
Andere Rauschmittel
praktisch täglich
0,1
0,1
0,7
mehrmals pro Woche
0,3
0,1
0,4
pro Woche
0,6
0,9
1,2
seltener
2,7
1,6
3,7
96,2
97,4
94,0
IM. (1605)
1ÖÖ% (1607)
1ÖÖ% (1606)
1-2 mal
nie
6.3 Alkoholika und Tabak: Wegbereiter illegaler Drogen? Wir erwähnten eingangs zu diesem Kapitel, daß es eine typische Abfolge im Gebrauch verschiedener Drogen im Jugendalter gibt und daß dabei die scheinbar harmlosen legalen Drogen als eine Art Vorläufer der illegalen Drogen fungieren: Insbesondere den Genußmitteln Alkohol und Tabak wird diese Wegbereiterfunktion zugeschrieben. Daß Alkohol und Tabak in der Tat günstige Voraussetzungen für den Einstieg in den Gebrauch illegaler Drogen darstellen, können wir auch in der vorliegenden Studie am Falle des Haschisch/Marihuana —Konsums zeigen. Wir stützen uns dazu auf die Antworten, die wir 1986 und genau ein Jahr später auf die Frage nach dem Gebrauch von Haschisch/Marihuana erhalten haben. Die meisten der befragten Jugendlichen waren weder bei der Erst— noch bei der Wiederholungsbefragung Konsumenten dieser Drogen, eine Minderheit nahm Haschisch/Marihuana über die ganze Zeit, einige hatten in dem Zeitraum von einem Jahr damit begonnen und einige wieder aufgehört, Haschisch oder Marihuana zu nehmen. Im Sinne der oben aufgestellten Behauptung über Alko-
Alkoholika und Tabak als Wegbereiter?
165
hol und Tabak als 'Einstiegsdrogen' ist daher zu erwarten, daß sich deren Wegbereiterfunktion auch in diesen über den Zeitraum eines Jahres beobachtbaren Entwicklungen im Konsum von Haschisch/Marihuana niederschlägt. Wie in Tabelle 6.5 ausgewiesen, ergeben sich Anhaltspunkte auf die Haltbarkeit der Behauptung dadurch, daß diese Entwicklungen getrennt für die Jugendlichen ermittelt werden, die zum Zeitpunkt der Ersterhebung 1986 Konsumenten bzw. Nichtkonsumenten von Alkohol und Tabak waren. Im Vergleich dieser beiden Kategorien von Jugendlichen wollen wir dabei als Bestätigung dieser Wegbereiterfunktion werten, wenn Konsumenten von Alkoholika und Tabak (im Vergleich zu Nichtkonsumenten) charakterisiert sind 1. entweder durch einen geringeren Anteil an Jugendlichen, die weder zur Ersterhebung 1986 noch ein Jahr später Haschisch/Marihuana zu sich nahmen, oder 2. durch einen höheren Anteil an Jugendlichen, die sowohl 1986 als auch ein Jahr später zu den Konsumenten von Haschisch/Marihuana zählten, sowie 3. durch eine verstärkte Tendenz, mit dem Gebrauch von Haschisch/Marihuana zu beginnen, absolut und relativ zu der entgegengesetzten Tendenz, mit diesen Drogen aufzuhören. Der Tabelle 6.5 ist zu entnehmen, daß die ersten beiden Kriterien bei allen drei dort ausgewiesenen Indikatoren legaler Drogen erfüllt sind: Unter der Voraussetzung des Konsums von Zigaretten sowie weicher und harter Alkoholika ist verstärkt mit Jugendlichen zu rechnen, die 1986 und ein Jahr später über Haschisch/Marihuana — Konsum berichten; zugleich ist unter den Konsumenten der erfaßten legalen Drogen der Anteil von Jugendlichen, die weder zur Erst — noch zur Wiederholungsbefragung Haschisch/Marihuana genommen haben, wie erwartet deuüich geringer als in der Vergleichsgruppe der Nichtkonsumenten von Alkohol und Tabak. Mit Blick auf die Jugendlichen, die im Bezugszeitraum mit Haschisch/Marihuana begonnen oder aufgehört haben, ergibt sich ein differenziertes Bild. Zwar ist für sich betrachtet die Tendenz eines Einstiegs in den Gebrauch dieser Drogen wie erwartet bei denen stärker, die bereits Alkohol trinken und Tabak rauchen; nur unter der Voraussetzung des Genusses weicher Alkoholika erweist sich jedoch diese Tendenz eines Einstiegs bei den Alkohol— und Tabakkonsumenten auch dann als verstärkt, wenn zugleich berücksichtigt wird, daß Jugendliche im erfaßten Berichtszeitraum nicht nur mit Haschisch/Marihuana beginnen, sondern damit auch aufhören können. So beträgt unter den Nichtkonsumenten weicher Alkoholika der Anteil der "Beginner" knapp das l,5fache desjenigen der "Aufhörer" (1,9:1,3); in der Vergleichsgruppe derer, die weiche
Alkohol—, Tabak— und Drogenkonsum
166
Tabelle 6.5
Alkoholika und Zigaretten: Wegbereiter illegaler Drogen? Das Beispiel 'Haschisch/Marihuana' (absolut und in Prozent der Konsumenten bzw. Nichtkonsumenten von Alkohol und Tabak)
Konsum von . ..weichen Alkoholika* 1986 Nein**
Ja
..Haschisch, Marihuana Nein Nein
1987
Ja
657 96,8% 13
670
Alle
1,3%
666 98,1%
9
13
0
1,9% Alle
1986 Ja
0,0%
1,9%
1,3%
679 100%
9
98,7%
Nein 597 91,0%
1986 Ja
Alle
1,4%
606 92,4%
9
39 11 6,0% 1,7% 636 20 97,0% 3,0%
..harten Alkoholika* 1986 Nein*r *
50 7,6% 656 100%
Ja
..Haschisch, Marihuana 1986 Nein Nein
980
Ja
30
1,0% 2
2,9% Alle
1010
990
10
95,9% 1987
1986 Alle
Ja
12
98,8%
86,6%
32
22
1022 1,2%
253
96,9%
3,1%
0,2%
Nein
100%
Ja 8
275 94,2%
261 2,7%
9
7,5%
Alle
89,4% 31
3,1% 17 5,8%
10,6% 292 100%
..Zigaretten 1986 Nein**
Ja
..Haschisch, Marihuana 1986 Nein Nein
934
Ja 5
97,2% 1987
Ja
20
Alle
954 99,3%
0,5%
939 97,7%
0,2%
22 2,3%
2
2,1%
1986 Alle
7
961 0,7%
100%
Nein
Ja
322 13 85,9% 3,5% 31
9
8,3% 353 94,1%
Alle 335 89,3% 40
2,4% 22 5,9%
10,7% 375 100%
* weiche Alkoholika: "Wein, Sekt, Bier" harte Alkoholika: "Schnaps, Likör, Weinbrand" ** Nein = "nein,noch nie" oder "ja, aber nur mal einen Schluck" (Alkohol) bzw. "ja, aber nur mal probiert" (Zigaretten); Ja = "ja,gelegentlich" oder "ja,regelmäßig"
Alkoholika und Tabak als Wegbereiter?
167
Alkoholika gelegentlich oder regelmäßig zu sich nehmen, haben hingegen im Verlauf von einem Jahr 4,3 mal mehr mit dem Genuß von Haschisch/Marihuana begonnen als aufgehört (6,0:1,4). Werden jedoch harte Alkoholika als Maßstab herangezogen, begannen im Spiegel der Zahlen unabhängig vom Alkoholkonsum ca. 2,8 bis 2,9 mal mehr Jugendliche mit Haschisch/Marihuana als in dieser Zeit damit aufhörten, und beim Zigarettenrauchen erweist sich die relative Tendenz eines Einstiegs in den Genuß von Haschisch/Marihuana mit 4,2:2,4 gerade dann stärker, wenn zur Zeit der Ersterhebung noch keine Zigaretten geraucht wurden. Offensichtlich scheint daher gerade weichen Alkoholika eine besondere Wegbereiterfunktion zuzukommen. Dieser Befund erscheint auch plausibel vor dem Hintergrund, daß im vorliegenden Sample unter den jüngeren Jugendlichen weiche Alkoholika weitaus höhere Verbreitung finden als Zigarettenrauchen oder der Konsum härterer Alkoholika. So gaben bei der Ersterhebung 30 Prozent aller Schülerinnen des 7. Schuljahrganges an, gelegentlich bzw. regelmäßig Wein, Sekt oder Bier zu konsumieren, 19,2 Prozent dieses Jahrganges bekannten sich zum gelegendichen bzw. regelmäßigen Zigarettenrauchen und 11,3 Prozent zum gelegentlichen bzw. regelmäßigen Konsum von Schnaps, Likör oder Weinbrand (Die Vergleichszahlen für den 9. Jahrgang belaufen sich auf 65,9% (Wein, etc), 40,2% (Zigaretten) und 34,5% (Schnaps, etc». Große Bedeutung als legale 'Einstiegsdroge' scheinen daher gerade auch die weit akzeptierten weichen Alkoholika zu besitzen. Das wird auch dadurch deudich, daß einerseits 16,6 Prozent aller Schülerinnen und Schüler der befragten 7. Klassen gelegentlich bzw. regelmäßig Wein, Sekt oder Bier trinken, aber nicht Zigarettenrauchen (30%), wohingegen es andererseits nur 6 Prozent des 7. Jahrganges sind, die angeben, keine weichen Alkoholika zu trinken, aber gelegentlich bzw. regelmäßig zu rauchen (3,9%) (In Klammern: Vergleichszahlen im 9. Jahrgang). Dies alles unterstreicht die Vorreiterrolle weicher Alkoholika als Einstiegsdroge im Jugendalter — für eine Minderheit führt sie in den Konsum von illegalen Substanzen wie Haschisch und Marihuana. Wie der deskriptive Vergleich in Tabelle 6.6 zeigt, bleibt der für 1986 global aus Tabelle 6.5 ablesbare Zusammenhang zwischen dem Konsum von Haschisch/Marihuana und den legalen Substanzen Alkohol und Tabak auch dann bestehen, wenn das Alter des Jugendlichen (über die besuchte Jahrgangsstufe) statistisch kontrolliert wird. Werden die in Tabelle 6.6 für 1986 ausgewiesenen jahrgangsspezifischen Haschisch/ Marihuana—Anteile auf die Gesamtgruppe umgerechnet, ergeben sich im Vergleich zu den entsprechenden in Tabelle 6.5 ausgewiesenen Zahlen geringfügig höhere Prävalenzwerte, da hier alle Befragten mit inhaltlichen Angaben bei der Ersterhebung, dort jedoch nur Befragte berücksichtigt sind, die zugleich
Alkohol—, Tabak— und Drogenkoasum
168
Tabelle 6.6
Gebrauch von Haschisch/Marihuana in Prozent der Konsumenten bzw. Nichtkonsumenten von Alkohol und Tabak, nach Jahrgangsstufe (Spätherbst 1986) % Haschisch/Marihuana Konsum v o n . . im 7 . J a h r g a n g nein ja ..weichen
1,5% (479)
Alkoholika*
2,9% (206) ..harten
1,2% (595)
im 9 . J a h r g a n g nein ja
1,9% (310)
3,9% (594)
AIkoholika*
7,9% ( 76)
1,7% (587)
6,3% (304)
0,9% (545)
(358)
..Zigaretten
1,3% (554)
4,4% (138)
6,7%
* Weiche Alkoholika: "Wein, Sekt, Bier" Harte Alkoholika: "Schnaps, Likör, Weinbrand" ** Nein = "nein, noch nie" oder "ja, aber nur mal einen Schluck" (Alkohol) bzw. "ja, aber nur mal probiert" (Zigaretten); Ja="ja, gelegentlich" oder "ja, regelmäßig"
auch bei der Wiederholungsbefragung erreicht werden konnten und inhaltliche Angaben machten; unter den im Spätherbst 1987 wegen Nichtversetzung oder anderer Gründe nicht wieder Erreichten befand sich demnach ein leicht überproportionaler Anteil von Haschisch/Marihuana —Konsumenten.
Alkoholika und Tabak als Wegbereiter?
169
Rauschmittelkonsum und Diebstahlsdelinquenz In der Diskussion zum Thema Rauschmittel— bzw. Drogenkonsum spielt gerade mit Blick auf Jugendliche die im öffentlichen Bewußtsein oft mit dem Gebrauch solcher Rauschdrogen verbundene Diebstahlsdelinquenz eine prominente Rolle: Drogen zu nehmen wird auch deshalb als gefahrlich angesehen, weil es die Betroffenen dazu führt, sich das dafür erforderliche Geld gegebenenfalls auch regelmäßig auf illegale Weise, etwa durch Einbruchdiebstähle, zu beschaffen. Nicht selten wird zudem der Konsum harter illegaler Drogen wie etwa Heroin auf dem Wege der Prostitution finanziert. Der Zusammenhang von Rauschmittel und Diebstahlsdelinquenz, auf den wir uns hier beschränken wollen, ist im Jugendalter jedoch nicht nur unter dem engeren Vorzeichen von "Beschaffungskriminalität" zu sehen, auch wenn dieser Aspekt die vielleicht größere öffentliche Aufmerksamkeit findet. Weichere illegale Drogen wie etwa Haschisch oder Marihuana sind billiger zu bekommen, begründen als solche keine körperliche Sucht wie Heroin und werden für den Konsumenten daher auch als solche mit einem ungleich geringeren Risiko verbunden sein, sich den Konsum der Droge per Diebstahl zu finanzieren. Rauschmittelkonsum ist als Risikofaktor jugendlicher Diebstahlsdelinquenz im allgemeinen auch und vielleicht sogar in erster Linie deshalb von Bedeutung, da der Konsum solcher Drogen vielfach in einem wertdevianten sozialen Kontext stattfinden wird, der unter den peers abweichendes Verhalten im allgemeinen wie Diebstahl im besonderen begünstigt. So zeigt Tabelle 6.7, daß im vorliegenden Sample vor allem der Konsum von Haschisch und Marihuana verstärkt mit der Integration des Jugendlichen in eine "Clique" verbunden ist. Im ersten Falle sind dort der Anteil der Jugendlichen, die "in der Freizeit ... in keinem Verein, aber in einer Clique ... mitmachen", ausgewiesen; der zweite Indikator bezieht sich nicht auf "alle Bekannte" des Befragten, sondern nur auf den engeren Kreis der "wirklich guten Freunde und Freundinnen". Jeder Befragte mit einem solchen Freundeskreis war gefragt: "Seid Ihr eine feste Gruppe ("Clique"), in der "jeder jeden gut kennt" und in der so manche gemeinsame Aktion läuft?" Dem unteren Teil von Tabelle 6.7 ist zu entnehmen, daß der Anteil von Jugendlichen in 'stark' integrierten Cliquen mit der Häufigkeit des Haschisch/Marihuana—Konsums steigt. Entsprechend sind Jugendliche in Freundeskreisen, die eher aus separaten Dyaden gebildet werden, umso seltener zu finden, je stärker illegale Rauschdrogen genommen werden (Tabelle 6.7). Dies gilt auch für Schnüffelstoffe, — mit der Ausnahme des ersten Indikators, der eine kurvilineare Beziehung zwischen der Häufigkeit des Gebrauchs von Schnüffelstoffen und Integration in eine Clique von Gleichaltrigen erkennen läßt.
Alkohol—, Tabak— und Drogenkonsum
170
Tabelle 6.7
Integration in jugendliche Cliquen (in Prozent) und Rauschmittelkonsum* Schnüffei stoffe Woche
seit,
nie
Haschisch, Marihuana Woche
seit,
nie
Andere Rauschmittel Woche
seit.
nie
% Integration in Clique (Indikator I) Ja
Stark Schwach Nein
35,3
36,0 (1544)
64,7
52,0 (25)
35,5 (1565)
61,1 (36)
53,3 (60)
34,8 (1510)
(17)
43,2 (44)
64,3 14,3 21,4
% Integration in Clique** (Indikator II) 50,0 45,8 37,8 50,0 43,9 37,7 42,9 25,0 22,0 19,5 22,3 31,3 25,0 19,6 18,8 29,2 40,1 25,0 36,6 40,0 37,5
37,5 22,1 40,3
100% (14)
100% (41)
100% (24)
100% (1445)
100% (1481)
(17)
100% (16)
100% (1497)
100% (36)
100% (56)
** Stark = "Ja, Ihr macht viel gemeinsam", schwach = "Ja, Ihr macht aber nur wenig gemeinsam", nein="Nein, Du triffst Dich mal mit dem einen oder anderen Freund/mit der einen oder anderen Freundin"; zum Frageformat, s. im Text * Kategorien: Mindestens 1—2 mal pro Woche, seltener, nie
Vor dem skizzierten Hintergrund ist Tabelle 6.8 zu sehen. Ihr ist zu entnehmen, daß der Konsum von Haschisch und Marihuana sowie anderer Rauschmittel stärker als der Gebrauch von Schnüffelstoffen verstärkt mit Diebstahlsdelinquenz verbunden ist. Entweder dieser Drogenkonsum als solcher oder der damit unter Umständen verbundene spezifische soziale Kontext können demnach als Risikofaktor sowohl einfacher als auch schwererer Formen von Diebstahlsdelinquenz gewertet werden. Alle Prozentsatzdifferenzen sind im statistischen Sinne (auf dem 5% Niveau) signifikant (z > 1,65, einseitiger Test) oder annähernd signifikant ( z > 1,60). Für den Gebrauch von Haschisch und Marihuana und der anderen (inhaltlich nicht spezifizierten) Rauschmittel sind mit 21 bis 24 Punkten im Falle leichter und ca. 11 Punkten im Falle schwererer Diebstahlsdelinquenz auch in substantieller Hinsicht nennenswerte Prozentsatzdifferenzen zu verzeichnen. Dabei ist
Alkoholika und Tabak als Wegbereiter?
Tabelle 6.8
171
Rauschmittelkonsum und Diebstahlsdelinquenz, 1986
SchnüffelStoffe Nein Ja
Haschisch, Marihuana Nein Ja
Andere Rauschmittel Nein Ja
% Irgendwo fremde Sachen mitgenommen** 16,2% (1532)
32,8% ( 61)
d%=16,6 z=2,23*
16,1% (1553)
40,5% ( 42)
d%=24,4 z=2,61*
15,7% (1501)
(
36,6% 93)
d%=20,9 z=3,36*
% Irgendwo eingebrochen** 3,5% (1535)
11,7% ( 60)
d%= 8,2 z=l,60*
3,6% (1555)
(
14,6% 41)
d%=ll,0 z-1,62*
3,3% (1502)
(
13,8% 94)
d%=10,5 z=2,39*
* Anteilswertdifferenz d, dividiert durch zugehörigen, um den Faktor 1,225 korrigierten SRS — Standardfehler ** Genaue Frageformulierung, s. Kapitel 5.2
jedoch zu beachten, daß der Konsum dieser illegalen Drogen in der untersuchten Population von Jugendlichen ein vergleichsweise seltenes Ereignis ist. Es erscheint daher sinnvoll, über eine Modellrechnung zu prüfen, wie sehr sich der Risikofaktor 'Rauschmittelkonsum' auf die Diebstahlsdelinquenzrate in der Gesamtpopulation auswirkt, wenn dabei genau die relative Seltenheit des Risikofaktors in Rechnung gestellt wird. Es soll mithin darum gehen zu bestimmen, welcher Anteil am (Diebstahl—)Delinquenzrisiko in der Gesamtpopulation dem Rauschmittelkonsum zuzuschreiben ist. Eine Möglichkeit, denjenigen Teil des Risikos zu schätzen, der einem spezifischen Risikofaktor ceteris paribus zuschreibbar ist, bietet Levin's "attributable risk", RA, welches auf die vorliegende Fragestellung bezogen angibt, um welchen Anteil das Diebstahlsdelinquenz-
172
Alkohol —, Tabak — und Drogenkonsum
risiko in der Gesamtpopulation reduziert werden könnte, wenn es gelänge, den Risikofaktor 'Rauschmittelkonsum' auszuschalten. Wir haben dieses attribuierbare Risiko separat für die beiden einbezogenen Delinquenzindikatoren und den Konsum von Haschisch/Marihuana und anderen Rauschmitteln berechnet und dazu die von Fleiss (1981, 75 — 77) für diese Risikoschätzung und deren Standardfehler gegebenen Formeln herangezogen. Das Ergebnis dieser Berechnungen ist in Tabelle 6.9 ausgewiesen. Danach hätten 3,8 bzw. 7,2 Prozent der einfachen Diebstähle und 7,4 bzw. 15,6 Prozent der Einbrüche verhindert werden können, wäre der Rauschmittelkonsum ausschaltbar gewesen. (Da alle Berechnungen separat durchgeführt wurden, die einbezogenen Indikatoren aber korreliert sind, sind die prozentualen Reduktionen der Delinquenzrate nicht addierbar oder sonstwie verrechenbar). Die geschätzten prozentualen Reduktionen des Diebstahlsdelinquenzrisikos beziehen sich auf die Ebene der Stichprobe, bewegen sich in der Grundgesamtheit in den angegebenen Grenzwerten, und würden sich realiter allerdings nur dann einstellen, wenn der Rauschmittelkonsum in der Tat den relevanten Risikofaktor darstellt. Wir hätten dann zudem nicht nur die engen Grenzen zu beachten, denen eine wirksame Drogenprophylaxe unterworfen ist, sondern auch die oben angestellten Überlegungen zur Relevanz des über den Drogenkonsum implizit erfaßten sozialen Kontextes: Denn sind letztlich Spezifika dieses Kontextes und nicht der eigentliche Drogenkonsum als relevanter Risikofaktor anzusehen, müßten primär diese Kontextbedingungen verändert werden, um präventiv Diebstahlsdelinquenz vorbeugen zu können. Da wir jedoch weder eine konkomitante Variation des explizit erfaßten Rauschmittelkonsums mit unter Umständen relevanten antecedenten Ursachefaktoren delinquenten Verhaltens noch eine Fehlspezifikation des Modells ausschließen können, sind die errechneten prozentualen Reduktionen rein hypothetischer Natur. Die Grenzen ihrer Aussagekraft als Schätzwerte der tatsächlichen prozentualen Reduktionen auf der Ebene aller Schülerinnen und Schüler in 7. und 9. Klassen werden dabei in erster Linie durch die Spannbreite ihres jeweiligen Vertrauensintervalls gezogen.
6.4
Kulturelle Integration: Alter und Geschlechtsrolle
Der Griff zur Zigarette oder das Trinken alkoholischer Getränke zählt bei vielen sozialen Anlässen zum Standardrepertoire kulturell definierten Verhaltens. Aufmerksamkeit erregt weniger, zu trinken oder zu rauchen, sondern im Gegenteil, auf den Konsum alkoholischer Getränke und Tabak zu verzichten. Die nachwachsende Generation wird bereits früh mit der Frage des Alkohol — und Tabakkonsums konfrontiert, sei es durch Werbung oder Massenmedien, sei
Kulturelle
173
Integration
Tabelle 6.9
Modellrechnung (Levin's Attribuierbares Risiko, R a * ) : Verringerung der Diebstahlsdelinquenz (in Prozent) bei Ausschaltung des Risikofaktors 'Rauschmittelkonsum'
95% K o n f i d e n z i n t e r v a l l * * : uG < R A < oG r
A
Attribuierbares Risikofaktor Risiko
ohne.. mit.. .. Designeffekt von 1,5*** uG oG uG oG
a) Irgendwo fremde Sachen m i t g e n o m m e n * * * * Haschi sch, Marihuana
3,8
1,2
6,4
0,6 7,0
Andere Rauschmittel
7,2
3,5
10,8
2,6 11,6
b) Irgendwo e i n g e b r o c h e n * * * * Haschi sch, Marihuana Andere Rauschmittel
7,4
-0,2 14,5
15,6
4,6 25,2
-2,0
16,0
1,9 27,3
* (Diebstahls —)Delinquenz, das dem betreffenden Risikofaktor zuzuschreiben ist; R a bezeichnet dieses attribuierbare Risiko in der Grundgesamtheit, r A dessen Schätzung in der Stichprobe. * * uG untere Grenze, o G obere Grenze des Intervalls, in dem R A mit 95% —iger Sicherheit in der Grundgesamtheit liegen wird. * * * D.h. mit (bzw. ohne) Berücksichtigung der Mehrstufigkeit der Auswahl (1,96 x (1,225 x SRS-Standardfehler) bzw. 1,96 x S R S - Standardfehler) * * * * Genaue Frageformulierung, siehe Kapitel 5.2 Alle Berechnungen auf mindestens vier Stellen nach dem Komma; hier gerundet und als Anteil zu Einhundert, nicht zu Eins ausgewiesen.
174
Alkohol—, Tabak— und Drogenkonsum
es durch Beobachtungen im alltäglichen Leben, bei Familienfeiern oder ähnlichen Anlässen, in denen Alkohol und Zigaretten oft nicht nur wie selbstverständlich "dazugehören", sondern sich sogar als scheinbar probates (und unumgängliches) Mittel erweisen, sich im sozialen Geschehen vorteilhaft in Szene zu setzen. In diese im Grunde weithin akzeptierte Kultur des Genusses von Alkohol und Tabak wächst das Kind allmählich hinein, es lernt sukzessive die Anlässe kennen, welche "passende" Gelegenheiten zum Konsum von Alkohol und Zigaretten schaffen, und das alles gestützt durch die suggestive Wirkung von Werbung und Medien, welche die Leitbilder produzieren oder geschickt am Leben erhalten, in denen die Vorstellung eines akzeptablen, eleganten, luxuriösen oder sonstwie ansprechenden Lebensstils von Frauen und Männern, Jugendlichen und Erwachsenen, eng mit der Vorstellung des dazugehörigen Genusses entsprechender Zigaretten oder Alkoholika gekoppelt wird. Wird der Umstand in Rechnung gestellt, daß das Kind, später als Jugendlicher, nach und nach in diese Kultur hineinwächst, auch erst nach und nach die sozialen Rollen ausprobieren und erlernen kann, deren marktvermitteltes Stereotyp auch den demonstrativen Genuß von Alkoholika und Zigaretten einschließt, dann erscheint es nicht unplausibel, daß der Alkohol— und Zigarettenkonsum während der Kindes— und Jugendphase drastisch mit dem Lebensalter ansteigt. Wird zudem der umfassende Charakter dessen in Betracht gezogen, was wir als marktvermittelte Drogenkultur der Gesellschaft bezeichnen möchten, dann ist es nicht sehr überraschend, daß heute schon sehr frühzeitig zu Alkohol und Zigaretten gegriffen wird — ein Sachverhalt, der unter Umständen auch dadurch begünstigt wird, daß erwachsene Bezugspersonen ihre moralische Autorität und Glaubwürdigkeit in dieser Frage dann schnell verlieren werden, wenn sie ihren Kindern untersagen wollen, was sie selbst praktizieren: den vielleicht sogar exessiven Genuß von Alkoholika und Tabak. Diese Annahmen werden nicht nur durch die starke Altersabhängigkeit des Drogenkonsums, sondern auch dadurch erhärtet, daß sich weibliche und männliche Jugendliche heutzutage kaum in ihrem Alkohol— und Tabakkonsum unterscheiden. Gleichwohl sind subkulturspezifische Variationen im Drogenkonsum zu beachten, wie sie etwa in vergleichsweise geringen Anteilen jugendlicher Konsumenten von Alkohol und Tabak an Gymnasien ihren Ausdruck finden. Die Zahlen im einzelnen: Tabelle 6.10 ist zu entnehmen, daß der Konsum der genannten Substanzen ein stark altersabhängiges Verhalten ist. Es zeigt sich, daß bereits in der Gruppe der 12 — 13jährigen ein Viertel der Jugendlichen zu den regelmäßigen oder gelegentlichen Konsumenten niedrigprozentiger Alkoholika gehört, 15 Prozent
175
Kulturelle Integration
dieser Altersgruppe sind Raucher. Im Verlauf der von uns erfaßten Altersspanne steigt die Konsumhäufigkeit aller Substanzen erheblich an, so daß das Rauchen sowie der Konsum niedrigprozentiger Alkoholika in der Altersgruppe der 16 — 17jährigen zum Mehrheitsverhalten geworden ist: Rund 80 Prozent dieser Altersgruppe sind Konsumenten niedrigprozentiger Alkoholika, 67 Prozent sind Raucher, annähernd die Hälfte konsumiert hochprozentige alkoholische Getränke. Auch der Konsum der illegalen Drogen erweist sich als altersabhängig: Es konsumierten Haschisch/Marihuana jeweils 2 Prozent der 12/13— und 14/15—jährigen, aber 9 Prozent der 16/17—jährigen; Schnüffelstoffe gebrauchten 3 Prozent der jüngsten hier ausgewiesenen Altersgruppe, 4 Prozent der mittleren und 9 Prozent der ältesten hier erfaßten Alterskategorie.
Tabelle 6.10
12/13
Gelegentlicher oder regelmäßiger Alkohol— und Tabakkonsum (in Prozent), nach Alter 14/15
16/17
12/13
14/15
16/17
12/13
14/15
16/17
% Konsum Alkohol ika weiche
% Konsum Alkoholika harte
% Zigarettenrauchen
26% (639)
9% (625)
15% (646)
61% (864)
81% (164)
31% (849)
46% (164)
36% (865)
67% (164)
Dieser altersbezogene Konsumanstieg macht nicht nur deutlich, daß der Gebrauch der legalen Drogen Alkohol und Tabak zum alltäglichen Verhaltensmuster dieser Jugendlichen geworden ist, sondern signalisiert auch, daß der Gebrauch von Drogen bereits vor dem hier erfaßten 12. Lebensjahr eingesetzt hat. Ein leichter geschlechtsspezifischer Trend ist am ehesten noch beim Tabakkonsum festzustellen. Der Anteil der Zigarettenkonsumenten unter den männlichen Jugendlichen liegt bei 34 Prozent gegenüber 28 Prozent bei den weiblichen Jugendlichen. Die Angaben für niedrigprozentige Alkoholika liegen für Jungen bei 51 Prozent, für Mädchen bei 48 Prozent; für hochprozentige Alkoholika für Jungen bei 26 Prozent, für Mädchen bei 22 Prozent. Ein ähnliches Bild erhalten wir für den Konsum illegaler Drogen: Es konsumierten Haschisch/Marihuana 3 Prozent der männlichen und 2,2 Prozent der weiblichen Jugendlichen; Schnüffelstoffe gebrauchten 4,1 Prozent der Jungen und 3,4 Prozent der Mädchen. Anders als bei Jugenddelinquenz und psychosomatischen
176
Alkohol—, Tabak— und Drogenkonsum
Streßreaktionen unterscheiden sich männliche und weibliche Jugendliche in ihrem Drogen verhalten kaum voneinander (Tabelle 6.11).
Tabelle 6.11
Gelegentlicher oder regelmäßiger Drogenkonsum (in Prozent), nach Geschlecht
w
m
w
m
% Konsum Alkoholika* weiche harte 48% (814)
51% (855)
22% (797)
26% (843)
w
m
% Zigarettenrauchen
28% (820)
34% (857)
* w weiblich, m männlich; ** Weiche A.: "Wein, Sekt, Bier", Harte A.: "Schnaps, Likör, Weinbrand"
Wird der Alkoholkonsum im einfachen Schulformvergleich betrachtet, so fallt als durchgängige Tendenz auf, daß sich die Werte bei den Gymnasialschülern unter denen der übrigen Schultypen bewegen, während zwischen diesen selbst nur geringere Unterschiede zu verzeichnen sind. Beim Zigarettenkonsum ergibt sich ein ähnliches Bild, mit dem Unterschied, daß hier die Hauptschüler klarer als beim Alkoholkonsum den Spitzenplatz einnehmen. Bei Schnüffelstoffen und Haschisch/Marihuana erweisen sich Hauptschüler und Gesamtschüler verstärkt als Drogenkonsumenten. Der Vergleich ist rein deskriptiver Natur: In der beobachteten Variation werden sich weniger schulformspezifische Effekte als vielmehr Unterschiede im Klientel der verschiedenen Schulformen widerspiegeln (Tabelle 6.12). Wie die Überblicksuntersuchung von Reuband (1988) zeigt, gaben 1972 12 Prozent aller 14— bis 17jährigen Jugendlichen an, schon einmal illegale Drogen, meist in Form von Marihuana/Haschisch, ausprobiert zu haben. Bis 1982 ist dieser Anteil auf 5 Prozent gesunken. Unter den 18— bis 20jährigen liegt der Anteil 1987 bei 12 Prozent, unter den 21 — bis 24jährigen bei etwa 16 Prozent. Die meisten Befragten geben allerdings nur einige wenige Probierhandlungen an und sind nicht zu den Dauerkonsumenten zu rechnen. Für viele der älteren jugendlichen Befragten liegt die letzte Drogenerfahrung schon weit zurück und bildet eine abgeschlossene Episode in ihrem Leben. Im Vergleich zu den USA kann für die Bundesrepublik Deutschland von einer moderaten Erfahrung mit "leichten" illegalen Drogen unter Jugendlichen gesprochen werden (in den USA
177
Kulturelle Integration
ist der Gebrauch von Marihuana etwa dreimal, der anderer illegaler Drogen doppelt so hoch, siehe Kandel 1980; Bachman, O'Malley & Johnston 1982).
Tabelle 6.12
Gelegentlicher oder regelmäßiger Drogenkonsum (in Prozent), nach Schulform* HS
RS
GY
GS
% Konsum von.. ..Wein/Sekt/Bier
57% (512)
52% (467)
41% (545)
48% (145)
.. .Schnaps/Likör Weinbrand
28% (507)
27% (462)
18% (534)
25% (137)
.. .Zigaretten
47% (518)
32% (467)
15% (548)
39% (144)
.. .SchnüffelStoffen
6% (507)
3% (456)
2% (501)
4% (141)
4% (507)
2% (457)
1% (502)
5% (141)
.. .Haschisch/ Marihuana
* HS Hauptschule, RS Realschule, GY Gymnasium, GS Gesamtschule
Die Langzeitvergleiche zeigen, daß es gegen Ende der 60er Jahre zu einer starken Erstausbreitung des illegalen Drogengebrauchs in allen Altersgruppen von Jugendlichen kam, wobei der Höhepunkt der Ausbreitung in der Bundesrepublik Deutschland etwa in den Jahren 1970 bis 1971 anzusetzen ist. In den folgenden Jahren sank der Wert dann in allen Altersgruppen ab und stabilisierte sich auf einem in etwa konstanten Niveau. Damit hat der Konsum leichter illegaler Drogen seinen "Modecharakter" verloren, zugleich hat sich aber ein harter Kern von Abhängigen gegenüber den "schweren" illegalen Drogen Heroin, Kokain und neuartigen Synthetikdrogen herausgebildet.
178
6.5
Alkohol—, Tabak— und Drogenkonsum
Drogenkonsum als Alltagsbewältigung: das Beispiel Schulleistungen
Tabak- und Alkoholkonsum unter Jugendlichen ist eine häufige Begleiterscheinung schulischer Versetzungsprobleme. Tabelle 6.13 zeigt, daß unter diesen Umständen eine deutlich verstärkte Neigung des Griffs zur Zigarette und zu weichen und harten Alkoholika zu erkennen ist. Unter den Jugendlichen, die über solche Schwierigkeiten in ihrer Schullaufbahn berichten, gehören 64 Prozent zu den Konsumenten niedrigprozentiger Alkoholika, knapp die Hälfte (49%) zu den Rauchern, und 34 Prozent dieser Gruppe nimmt hochprozentige alkoholische Getränke zu sich. Die entsprechenden Werte der Vergleichsgruppe liegen bei allen Substanzen deutlich niedriger (Tabelle 6.13).
Tabelle 6.13
Gelegentlicher oder regelmäßiger Alkohol— und Tabakkonsum (in Prozent) und schulische Versetzungsprobleme
nein
Schulische Versetzungsprobleme** ja nein ja nein
% Konsum Alkoholika* weiche harte 40% (970)
64% (699)
17% (953)
34% (687)
ja
% Zigarettenrauchen
18% (972)
49% (705)
* Weiche A.: "Wein, Sekt, Bier"; harte A.: "Schnaps, Likör, Weinbrand ** Versetzung gefährdet, ein— oder mehrmals nicht erfolgt oder Schulwechsel wegen schlechter Noten; als Versetzungs—problem zählt, wenn wenigstens eines dieser Ereignisse eingetreten ist.
In etwa gleiche Werte sind auch dann zu verzeichnen, wenn die Schulleistungen hinter den elterlichen Erwartungen zurückbleiben. In diesem Fall konsumieren knapp zwei Drittel (gelegentlich oder regelmäßig) weiche Alkoholika (65%), knapp die Hälfte (47%) greift zur Zigarette und etwas über ein Drittel (37%) zu harten Alkoholika. Diese Werte betragen dabei circa das 1,5 bis l,8fache des Alkoholkonsums in der Vergleichsgruppe mit erwartungsgemäßem Leistungsstand; daneben beträgt der Anteil der Raucher unter den Jugendlichen, deren Leistungen nicht die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen, das
Drogenkonswn als Alltagsbewältigung
179
circa 2,3fache des entsprechenden Anteils gelegentlicher oder regelmäßiger Raucher in der Vergleichsgruppe. Es stellen mit Blick auf den Konsum von Alkohol und Tabak jedoch nicht nur die Eltern eine relevante Bezugsgruppe des Jugendlichen dar. Von Bedeutung ist auch die Gleichaltrigengruppe als Rahmen, in dem soziale Vergleiche angestellt werden. Schneidet der Jugendliche bei solchen Vergleichen ungünstig ab, ist verstärkt mit Tabak— und Alkoholkonsum zu rechnen. Eine relevante Ebene des Vergleichs sind die Schulleistungen: Dabei zählen Schüler mit aus ihrer Sicht schwachen Leistungen häufiger zu den Drogenkonsumenten als durchschnittliche und gute Schüler. Am stärksten fallen die Unterschiede beim Zigarettenrauchen aus: Es rauchen gelegentlich oder regelmäßig 47 Prozent der nach eigenem Bekunden (n=146) schwachen Schüler, gegenüber 33 Prozent der (n=1026) Schüler mit durchschnittlichen Leistungen und 22 Prozent der (n=491) Schüler mit darüberliegenden Leistungen. Alkohol und Zigaretten werden im Jugendalter oft in Gesellschaft von Gleichaltrigen konsumiert. Zumindest erlauben die Zahlen der vorliegenden Studie zu sagen, daß Jugendliche, die ihre Freizeit nach eigenem Bekunden in "Cliquen" von Gleichaltrigen verbringen, eher zu Zigarette und Alkohol greifen, als solche, die ihre Freizeit in anderem sozialen Rahmen verbringen (Tabelle 6.14). Anhaltspunkte liefern dazu auch die Antworten auf Fragen zur Struktur des engeren Freundeskreises: Freundeskreise in der Form von Cliquen mit hohem wechselseitigen Bekanntheitsgrad und hohem Anteil an kollektiven Aktionen stellen einen günstigeren Rahmen für Alkohol— und Tabakkonsum dar als Freundeskreise mit weniger geschlossener Interaktionsstruktur: Trifft sich der Jugendliche weniger in der Gruppe als vielmehr "mal mit dem einen oder anderen (gleichgeschlechtlichen) Freund/der einen oder anderen Freundin", zerfallt der Freundeskreis also eher in eine Reihe ansonsten nicht verbundener Freundschaftsdyaden, dann beträgt nach den Zahlen der vorliegenden Studie der Anteil gelegentlicher bzw. regelmäßiger Konsumenten weicher Alkoholika drei Viertel, der Anteil von Konsumenten harter Alkoholika gut drei Fünftel und der Anteil Zigarettenraucher knapp zwei Drittel des jeweiligen Anteils unter den Jugendlichen, deren engerer Freundeskreis einer "festen Gruppe ("Clique")" gleicht, "in der 'jeder jeden gut kennt' und in der so manche gemeinsame Aktion läuft" (Frageformat). Wahrscheinlich schafft daher gerade eine hohe Integration des Freundeskreises einen Rahmen, der den Alkohol— und Tabakkonsum erleichtert. Das deutet schließlich auch die Verteilung der Antworten auf eine dritte Frage an, die wir den Jugendlichen an ganz anderer Stelle vorlegten. Im Rahmen
Alkohol—, Tabak— und Drogenkonsum
180
Tabelle 6.14
Gelegentlicher oder regelmäßiger Alkohol— und Tabakkonsum (in Prozent) und Integration in Clique von Gleichaltrigen F r e i z e i t a k t i v i t ä t e n in Clique* nein ja nein ja nein % Konsum Alkoholika** weiche harte 40% (1024)
67% (603)
17% (1009)
37% (592)
ja
% Zigarettenrauchen
22% (1027)
46% (607)
* Gefragt war: "In welchen der folgenden Vereine oder Organisationen machst Du in der Freizeit mit?" Es folgte erst eine Liste mit möglichen Vereinen etc, dann als letzte Vorgabe "in keinem Verein, aber in einer Clique" (Ja/Nein). **weiche A.: "Wein, Sekt, Bier"; harte A.: "Schnaps, Likör, Weinbrand"
einer längeren Sequenz von Fragen zum besten Freund bzw. zur besten Freundin erbaten wir auch Angaben zu dem Grad, in dem sich die Freundeskreise des Jugendlichen und seines besten Freundes überlappen. Gefragt war: "Habt Ihr beide den gleichen, nur teilweise den gleichen oder jeder einen anderen Freundeskreis?", gefolgt von einer dreistufigen Skala, die jede der drei angesprochenen Möglichkeiten auswies. Es zeigte sich, daß der Anteil der Tabak — bzw. Alkoholkonsumenten bei denen, die von ganz verschiedenen Freundeskreisen berichteten, um ein bis zwei Fünftel deutlich unter den entsprechenden Anteilen in der Vergleichskategorie mit gleichem oder teilweise gleichem Freundeskreis lag. Der Anteil der Zigarettenkonsumenten stieg dabei monoton mit dem Überschneidungsgrad der Freundeskreise an. Alkohol— und Tabakkonsum variiert danach mit der Struktur des Freundes — und Bekanntenkreises und ist vor allem bei starker sozialer Integration dieser Gleichaltrigengruppen zu erwarten. Dies ist nicht überraschend, wenn bedacht wird, welche sozialen und symbolischen Funktionen der demonstrative Konsum von Alkohol und Tabak gerade in jugendlichen Gruppen haben kann; allen voran vielleicht die Funktion, seinen Status in der Gruppe zu halten und auszubauen oder soziale Inferiorität in anderer Hinsicht durch Einnahme einer Art
Zusammenfassung
181
'Vorrangstellung' beim Drogenkonsum auszugleichen. Alkoholkonsum kann zum kollektiven Symbol der Zugehörigkeit zur Gruppe werden, die Fähigkeit zu exessivem Alkoholgenuß sogar zum vielleicht entscheidenden Einstiegsritual avancieren. Ähnliches ist über den Tabakkonsum zu sagen: Auch demonstratives Rauchen kann dazu dienen, seinen Status in der Gruppe aufzubessern, etwa um sich eine Vorrangstellung zu sichern oder um einfach mit anderen in der Gruppe gleichzuziehen. Wird hier in Betracht gezogen, daß mit Drogenkonsum dann verstärkt zu rechnen ist, wenn beispielsweise Schwierigkeiten in der Schullaufbahn auftreten, so kann dies unter Umständen als Hinweis auf die kompensierende Funktion des Drogenkonsums gewertet werden, sich Anerkennung und sozialem Ansehen in den Augen wichtiger Bezugspersonen auf andere Weise zu versichern.
6.6
Zusammenfassung
Der Konsum von legalen und illegalen Drogen wird in diesem Kapitel als eine Form der Bewältigung von entwicklungs — und lebenslagenspezifischen Belastungen im Jugendalter analysiert. Wie die empirischen Untersuchungen zeigen, ist mit verstärktem Alkohol— und Tabakkonsum in Situationen und Konstellationen vor allem der schulischen Belastung und der ungesicherten Integration in die Gleichaltrigengruppe zu rechnen. Der Drogenkonsum erweist sich als ein stark altersabhängiges Verhalten, das ganz offensichtlich schon zu Beginn des zweiten Lebensjahrzehnts einsetzt und kontinuierlich mit steigendem Alter anwächst. Geschlechtsspezifische Unterschiede sind hingegen nur in wenigen Teilbereichen erkennbar. Sowohl Tabak als auch Alkoholika, also die legalen Drogen, erweisen sich in unserer Analyse eindeutig als Wegbereiter für den Konsum von illegalen Drogen. Die deutlichste Vorreiterfunktion spielen dabei die leichten Alkoholika. Illegale Drogen werden besonders häufig von Jugendlichen konsumiert, die in eine festgefügte soziale Clique integriert sind. Die Untersuchung hat ferner gezeigt, daß die Gruppe der Konsumenten illegaler Drogen durch eine überproportional hohe Quote von Diebstahlsdelinquenz gekennzeichnet ist — ein Hinweis auf die "Beschaffungskriminalität", die häufig mit dem Drogenkonsum verbunden ist.
7.
Belastungspotential, Statusunsicherheit und Konflikte im Elternhaus: Eine zusammenfassende Analyse
7.1
Einleitung
Psychosoziale Belastungen können im Jugendalter in vielfaltigen Formen in Erscheinung treten. Das zeigen die Ergebnisse der vorangehenden Kapitel genauso wie die Vielfältigkeit der Risiken, die in der Genese problematischer Reaktions— bzw. Verhaltensweisen eine Rolle spielen. Nachdem der Akzent bisher auf der differenzierten Einzelbetrachtung lag, soll im vorliegenden Kapitel der Versuch unternommen werden, die einzelnen Formen psychosozialer Belastung im Jugendalter einer zusammenfassenden Analyse zu unterziehen, in die ein Großteil der Faktoren eingehen wird, die nach den vorliegenden Erkenntnissen als Risikofaktoren in Betracht zu ziehen sind. Darüberhinaus wird das Erkenntnisinteresse im Rahmen dieses Kapitels darauf gerichtet sein, die Rolle sozialen Konfliktes im Prozeß der Entstehung der einzelnen psychosozialen Reaktionsweisen zu beleuchten. Nach dem im ersten Kapitel skizzierten theoretischen Bezugsrahmen ist zu erwarten, daß soziale Konflikte ein erhebliches Belastungspotential in sich bergen können. Es wird daher im besonderen zu prüfen sein, wie sehr die Risiken, mit denen sich der Jugendliche konfrontiert sieht, ihre Wirkung dadurch entfalten, daß sie Konflikte auch im engsten sozialen Kreis hervorrufen. Wir nehmen an, daß der Rekurs auf Konflikt im Mikrokontext der Familie zumindest eine partielle Erklärung dieser Wirkungen liefern wird.
7.2
Reaktionen und Risiken im Zusammenhang
Um ein möglichst umfängliches Bild der Determinanten jugendlicher Problembelastung zu erhalten, entwickelten wir ein Strukturgleichungsmodell, das eine Reihe dieser potentiellen Risiken berücksichtigt und prüft, wie sich diese Faktoren auf die vier in der vorliegenden Arbeit behandelten Formen psychosozialer Belastung auswirken. Das Modell unterscheidet dabei zwei Arten von Wegen, auf denen die Risiken ihre Wirkungen entfalten: direkte und indirekte, über Konflikt und Verunsicherung vermittelte Effekte. Diese Struktur wird für jeden der einbezogenen Risiko— bzw. Belastungsfaktoren mit Blick auf jede der vier Formen psychosozialer Belastung angenommen. Das resultierende Modell ist aufgrund der immanenten Vielfältigkeit möglicher
Beiastungspotential,
184
Statusunsicherheit
und Konflikte
im
Elternhaus
Antizipationsunsicherheit (v2) (Exogener)
Belastungs (£^
und Risikofaktor in F a m i l i e ,
o TG = 2 q10 = c0 + b2 + b12 Qoi = t>o + b1 T G = 3 qio = Co + b1 + b12 qoi=b 0 + b2 TG = 4 q10 = c0 qoi = b0 -(- bj + b2 + b12
(9.16)
Da unter der Annahme, daß sich das System im Aggregatgleichgewicht befindet, die Restriktion q0i/(qoi +
P ; j (Population)
negatives A: p^ (Stichprobe)