Kindheit, Kultur und moralische Emotionen: Zur Sozialisation von Furcht und Wut im ländlichen Madagaskar 9783839434284

How do children in a Madagascan community learn to fear their parents, to regulate their anger, and enjoy themselves wit

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German Pages 438 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Abbildungsverzeichnis
Danksagung
Einleitung
1. Theoretische Einführung
Teil I. Kultureller Kontext, Beziehungsmuster und moralische Emotionen
2. Die Dorfgemeinschaften von Menamaty
3. Beziehungsmuster und -dynamiken
4. Die Bedeutung der Emotionen
Teil II. Vom Säuglings- zum Kleinkindalter
5. Säuglingsbetreuung in der Perspektive von Müttern und Babysittern
6. Die soziale Umwelt in den ersten drei Lebensjahren
7. Betreuungspraktiken und Interaktionsmuster in den ersten drei Lebensjahren
8. Sozio-emotionale Entwicklungspfade der ersten Lebensjahre
Teil III. Von der Kindheit zur Adoleszenz
9. Die Entwicklungsnische der Kindheit
10. Praktiken und Erfahrungsmuster der Körpersanktion
11. Zur Sozialisation von Furcht und Wut
Schlussdiskussion
Literatur
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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen: Zur Sozialisation von Furcht und Wut im ländlichen Madagaskar
 9783839434284

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Gabriel Scheidecker Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

EmotionsKulturen / EmotionCultures | Band / Volume 1

Die Reihe EmotionsKulturen / EmotionCultures versammelt Arbeiten, die sich aktuellen Fragestellungen der Emotionsforschung aus einer innovativen transdisziplinären Perspektive annähern. Im Mittelpunkt stehen vornehmlich empirische Studien aus dem Bereich der Sozial- und Kulturanthropologie, die – in jeweils enger theoretischer und/oder methodischer Verzahnung mit weiteren Disziplinen – Prozesse der sozialen und kulturellen Modellierung von Emotionen und Affekten untersuchen. Zentrale Themenspektren betreffen die Genese emotionaler Ordnungen in ihrem Wechselspiel mit sozio-kulturellen, historischen und politischen Strukturen. Die Reihe spannt dabei den Bogen von der Sozialisation von Emotionen in der Kindheit bis zu deren Transformation im Alter und schließt damit auch konfliktive Rekonfigurationen des Emotionalen vor dem Hintergrund veränderlicher Lebensbedingungen mit ein. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf den mit Migrations-, Globalisierungs- und Transnationalisierungsprozessen verbundenen emotionalen und affektiven Dynamiken.

The series EmotionCultures is a collection of works centered around current questions raised in interdisciplinary and innovative research on emotions. At the core are empirical studies from Social and Cultural Anthropology that analyze processes of social and cultural modeling of emotions – always in close theoretical as well as methodological connection to various other disciplines. Key topics concern the generation of emotional codes in interaction with sociocultural, historical, and political structures. Thus, this series ranges from the socialization of emotions in childhood to their transformation with increasing age. It incorporates reconfigurations of emotions against the backdrop of changing life conditions. Furthermore, a particular focus rests upon the emotional dynamics inherent to processes of migration, globalization, and transnationalization. Die Reihe wird herausgegeben von/is edited by Birgitt Röttger-Rössler & Anita von Poser. Editorial Board: Prof. Dr. Helene Basu, Ethnologie, Universität Münster Prof. Dr. Dr. Thomas Fuchs, Psychiatrie & Philosophie, Universität Heidelberg Prof. Dr. Douglas Hollan, Social Anthropology, UCLA Prof. Dr. Heidi Keller, Psychologie, Universität Osnabrück Prof. Dr. Christian von Scheve, Soziologie, FU Berlin Dr. Maruska Svasek, Social Anthropology, Queens University Belfast

Gabriel Scheidecker, geb. 1982, ist Postdoktorand am SFB »Affective Societies« der Freien Universität Berlin und forscht zur Sozialisation von Emotionen im transkulturellen Kontext »vietnamesisches Berlin«. Der Sozial- und Kulturanthropologe promovierte am Exzellenzcluster »Languages of Emotion« (FU Berlin).

Gabriel Scheidecker

Kindheit, Kultur und moralische Emotionen Zur Sozialisation von Furcht und Wut im ländlichen Madagaskar

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Gabriel Scheidecker, Madagaskar 2009 Satz: Francisco Bragança, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3428-0 PDF-ISBN 978-3-8394-3428-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Abbildungsverzeichnis | 9 Danksagung | 11 Einleitung | 13 1. Theoretische Einführung | 17 Die Emotionsperspektive | 18 Die Sozialisationsperspektive | 31 Die Perspektive der Emotionssozialisation | 38 Zusammenfassung und Implikationen für die Struktur der Arbeit | 44

T eil I K ultureller K ontext , B eziehungsmuster und moralische E motionen 2. Die Dorfgemeinschaften von Menamaty | 49 Kontexte der Forschungsregion | 52 Der ›Fremde mit roten Ohren‹ | 62 Aspekte der sozialen Organisation | 68

3. Beziehungsmuster und -dynamiken | 79 Hierarchische Beziehungs‑ und Interaktionsmuster | 80 Egalitäre Beziehungs‑ und Interaktionsmuster | 95 Interdependentes oder independentes Selbst? | 118

4. Die Bedeutung der Emotionen | 123 Erhebungs‑ und Analysemethoden | 123 Das Spektrum bewertender und sanktionierender Emotionen | 127 Das Emotionsvokabular der Furcht (tahotsy) | 147 Das Emotionsvokabular der Wut (seky) | 156

T eil II V om S äuglings - zum K leinkindalter 5. Säuglingsbetreuung in der Perspektive von Müttern und Babysittern | 177 Erhebung, Charakteristika und Auswertung des Interviewmaterials | 179 Erziehungsmodelle | 180 Beziehungsmodelle | 190 Zusammenfassung und Diskussion | 198

6. Die soziale Umwelt in den ersten drei Lebensjahren | 201 Beobachtungs‑ und Auswertungsmethoden | 203 Soziale Dichte des Umfeldes von Säuglingen und Kleinkindern | 208 Soziale Komposition des Umfeldes von Säuglingen und Kleinkindern | 212 Zusammenfassung und Diskussion | 222

7. Betreuungspraktiken und Interaktionsmuster in den ersten drei Lebensjahren | 225 Beobachtungs- und Auswertungsmethoden | 225 Betreuungspraktiken des Körperkontakts und der Körperstimulation | 227 Betreuungspraktiken der Primärversorgung | 244 Distale Interaktionsformen – mihisa und misoma | 259

8. Sozio-emotionale Entwicklungspfade der ersten Lebensjahre | 271 Beruhigende Erfahrungsmuster | 271 Emotionalisierende Erfahrungsmuster | 278 Beziehungs‑ und Bindungsformen | 285

T eil III V on der K indheit zur A doleszenz 9. Die Entwicklungsnische der Kindheit | 297 Kulturelle Modelle der Kindheit | 297 Soziales Umfeld und Aktivitätsmuster von Kindern | 302 Das Spektrum der Sanktionspraktiken | 310 10. Praktiken und Erfahrungsmuster der Körpersanktion | 329 Leichte Körpersanktionen in der Kleinkindphase | 330 Stockhiebe und Nahrungsentzug in der Kindheit | 335 Havoa (Ahnensanktion) ab dem Jugendalter | 352

11. Zur Sozialisation von Furcht und Wut | 365 Entwicklungspfad der Furcht als moralische Emotion | 365 Entwicklungspfad der Wutregulation und -ausdifferenzierung | 377

Schlussdiskussion | 389 Literatur | 415

Abbildungsverzeichnis A bbildungen Abbildung 1: Forschungsregion Menamaty | 50 Abbildung 2: Ronamadio, Hauptort der Feldforschung | 51 Abbildung 3: Zeburinder | 51 Abbildung 4: Reisernte | 51 Abbildung 5: Partner im Feld | 68 Abbildung 6: Amulette zum Schutz vor Schadenszauber | 109 Abbildung 7: Freundinnen und Freunde | 117 Abbildung 8: Selbstdarstellungen | 134 Abbildung 9: Ausdrucksformen der appellierenden Wut | 173 Abbildung 10: Multiple Beziehungen | 202 Abbildung 11: Praktiken des Körperkontakts | 228 Abbildung 12: Waschen | 244 Abbildung 13: Stillen | 245 Abbildung 14: Füttern | 245 Abbildung 15: Face-to-face-Interaktionen | 260 Abbildung 16: Spiel im Sand | 260 Abbildung 17: Geh spielen! | 261 Abbildung 18: Rollenspiele | 261 Abbildung 19: Lächel-Interaktion | 277 Abbildung 20: Tür-Wippe | 278 Abbildung 21: Kinderkampf | 278

D iagr amme Diagramm 1: Soziale Dichte im frühen Säuglingsalter (3-6 Monate) | 209 Diagramm 1.1: Räumliche Gliederung der sozialen Dichte | 210 Diagramm 2: Soziale Dichte in den ersten drei Lebensjahren | 211 Diagramm 2.1: Soziale Dichte nach Körperkontakt und Reichweite | 212 Diagramm 3: Das Spektrum der Bezugspersonen | 213 Diagramm 3.1: Präsenz der Mutter | 214 Diagramm 3.2: Präsenz des Vaters | 215 Diagramm 3.3: Präsenz nicht-elterlicher Erwachsener | 216 Diagramm 3.4: Präsenz von Babysittern | 217

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

Diagramm 3.5: Präsenz von Peers | 218 Diagramm 3.5.1: Präsenz von Peers (2 bis 5 Jahre) | 219 Diagramm 4: Bezugspersonen in proximaler und distaler Relation | 221 Diagramm 5: Die verschiedene Formen des Körperkontakts | 227 Diagramm 5.1: Soziale Partner beim Körperkontakt »auf dem Schoß« | 229 Diagramm 5.2: Soziale Partner beim Körperkontakt »auf dem Rücken« | 231 Diagramm 5.3: Soziale Partner beim Körperkontakt »auf der Hüfte« | 232 Diagramm 5.4: Soziale Partner beim Körperkontakt »am Körper« | 233 Diagramm 5.5: Soziale Partner der »Berührung mit den Händen« | 234 Diagramm 6: Formen in den ersten drei Lebensjahren | 255 Diagramm 7: Die Beschäftigung von Kindern mit Objekten | 263 Diagramm 8: Initiatoren und Partner der Beschäftigung mit Objekten | 264 Diagramm 9: Soziale Partner bei face-to-face-Interaktionen und Blickkontakt | 269 Diagramm 10: Jammern und Weinen in den ersten drei Lebensjahren | 273 Diagramm 11: Lächeln und Lachen in den ersten drei Lebensjahren | 280 Diagramm 12: Soziale Partner beim Lächeln oder Lachen | 280 Diagramm 13: Maximale Altersabweichung der Freunde | 303 Diagramm 14: Anteile der Kinder mit beiden Eltern | 308 Diagramm 15: Von Kindern präferierte Bezugspersonen | 310

Tabellen Tabelle 1: Das Spektrum potentieller moralischer Emotionen | 31 Tabelle 2: Das Spektrum moralischer Emotionen in der Forschungsregion | 146 Tabelle 3: Anwendung und Einschränkungen der spot observation | 205 Tabelle 4: Zusammensetzung und Charakteristika der Altersgruppen | 208

Danksagung

Die vorliegende Studie zur Sozialisation von Emotionen in einer ländlichen Region im Süden Madagaskars beruht in erster Linie auf meinen Forschungsaufenthalten von August 2009 bis Mai 2010 und von Mai bis August 2011 in der Gemeinde Me‑ namaty. An erster Stelle möchte ich all jenen Personen aus Madagaskar meinen Dank aussprechen, die mich auf unterschiedliche Weise während meiner Aufent‑ halte unterstützt haben. Zunächst möchte ich mich bei Iavitsara Randriamanana aus der Kleinstadt Ihosy bedanken. Er hat mich bei seiner Familie in einem der Dörfer von Menamaty eingeführt, mir seine Freunde als Forschungsassistenten zur Seite gestellt, mich bei allen Aufenthalten in Ihosy als Gast aufgenommen und sämtliche logistischen Aufgaben während meiner Feldforschung übernom‑ men. Zu Dank verpflichtet bin ich auch Etienne Tsiavela, der mir während des ersten Feldaufenthalts als Forschungsassistent zur Seite stand sowie Dadah Sambo und Boba Fihavana, die mich bei der zweiten Feldforschung unterstützten. Große Dankbarkeit empfinde ich auch gegenüber vielen Personen aus Menamaty, die uns bewirteten, ihren Alltag mit uns teilten und uns ihr Wissen sowie ihre emotionalen Erfahrungen anvertrauten. Sowohl die Vorbereitung der Feldforschung als auch die Auswertung und Interpretation des erhobenen Materials erfolgten in enger Zusammenarbeit mit allen Mitgliedern des Forschungsprojekts Sozialisation und Ontogenese von Emotionen im Kulturvergleich am Cluster Languages of Emotion, FU Berlin. In diesem Zusammenhang gebührt mein Dank zuallererst Prof. Dr. Birgitt Röttger-Rössler, die das Forschungsprojekt angeleitet, das Entstehen meiner Arbeit in allen Phasen begleitet und mich in meiner akademischen Lauf bahn stets gefördert hat. Prof. Dr. Manfred Holodynski danke ich herzlich für seine entwicklungspsychologische Expertise und insbesondere für seine Hilfe bei der Auswertung der quantitativen Daten. Susanne Jung und Leberecht Funk, die parallel zur Emotionssozialisation bei den Minangkabau (Indonesien) bzw. bei den Tao auf der Insel Lanyu (Taiwan) forschten, gilt mein Dank für den fortwährenden produktiven Austausch. Susann Brückner und Franziska Seise unterstützten mich als Wissenschaftliche Hilfskräf‑ te bei der Auf bereitung meiner Feldnotizen sowie bei der Auswertung des Video‑ materials tatkräftig und machten mich auf zahlreiche Aspekte aufmerksam; ihnen sei ebenfalls gedankt. Auch jenseits der FU Berlin haben einige Personen zur vorliegenden Arbeit bei‑ getragen. Bereits während meines Magisterstudiums in Freiburg ermöglichte mir Prof. Dr. Aloys Winterling einen ersten Forschungsaufenthalt in Madagaskar, in‑

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dem er mich auf die Kultur dieses Landes aufmerksam machte und mir seine dor‑ tigen Kontakte vermittelte. Auch möchte ich ihm dafür danken, dass er seit einem Besuch im Feld zur finanziellen Unterstützung unserer madagassischen Freunde und meiner Forschungsassistenten beiträgt. Mein Interesse an ›moralischen Emo‑ tionen‹ verdanke ich zuallererst Prof. Dr. Axel Paul, bei dem ich als Student zwei sehr inspirierende Seminare zu ›Scham und Schuld‹ besuchte und der mich nach meinem Studium darin bekräftigte, auf diesem Gebiet zu forschen. Herzlich dan‑ ken möchte ich auch Dr. Sebastian Kaufmann für seine minutiöse Korrektur eines ersten Typoskripts dieser Arbeit. Nicht zuletzt gilt mein Dank meiner Lebenspart‑ nerin Elena Gavrisch, die mich in den ersten sechs Wochen meiner Feldforschung begleitete und mir bei allen weiteren Schritten mit Rat und Tat zur Seite stand.

Einleitung

Matahora ray aman-dreny! – »Fürchte deine Eltern und Ahnen!« – ist ein morali‑ sches Gebot, das Erwachsene aus den Dörfern von Menamaty im Süden Mada‑ gaskars gegenüber Kindern immer wieder zum Ausdruck brachten. Ähnliche Formulierungen lauteten etwa: Ko mahasaky mamalivaly ray aman-dreny! – »Wage es nicht, deinen Eltern zu widersprechen« –, oder als Vorwurf: Tsy mahay tahotsy ianao! – »Du kennst keine Furcht!«. Kinder und Erwachsene sollen sich gemäß diesen und ähnlichen Emotionsnormen vor ihren Eltern, vor anderen Vorfahren und insbesondere vor den Ahnengeistern fürchten (matahotsy). Erst die Furcht vor dem Zorn der Eltern und Ahnen, so eine von meinen Gesprächspartnern1 häufig angeführte Begründung für dieses Emotionsgebot, macht Kinder zu moralisch ver‑ antwortlichen und verlässlichen Personen ( fagnahy soa). Die Frage, wie Kinder aus der Forschungsregion lernen, ihren Eltern sowie den Ahnengeistern gegenüber tahotsy zu fühlen und welche Rolle dabei Alltags‑ interaktionen, Erziehungspraktiken, Beziehungsdynamiken sowie Glaubensüber‑ zeugungen spielen, steht im Zentrum dieser Arbeit. Einen weiteren thematischen Schwerpunkt der vorliegenden Monografie bildet die Emotion seky (≈ Wut/Zorn) und die Frage, wie Kinder in enger Verbindung mit der Furchtsozialisation lernen, mit der eigenen Wut und dem Zorn der Eltern umzugehen. Freilich werde ich diese Emotionen nicht isoliert betrachten, sondern so weit als möglich in ein größeres emotionales Spektrum einbetten. Die spezifische Frage nach der Sozialisation von tahotsy und seky hat sich erst all‑ mählich während meiner Feldforschung herauskristallisiert, ihre Wurzeln liegen aber auch in einem emotionswissenschaftlichen Forschungsunternehmen zum Verhältnis von Emotionen und Kultur. Somit steht die generelle Forschungsfrage im Hintergrund dieser Arbeit, wie emotionales Erleben, Verhalten und Wissen von Personen im Kontext kultureller und sozialer Prozesse hervorgebracht werden und welche Rolle umgekehrt individuelle Emotionsdispositionen und -prozesse in so‑ zialen und kulturellen Dynamiken spielen. Die Bedeutung von Emotionen als Bin‑ deglieder oder Mediatoren zwischen Individuen, Personen oder Subjekten auf der einen Seite und kulturellen Modellen sowie sozialen Dynamiken auf der anderen Seite wurde bereits von zahlreichen Autoren hervorgehoben und konzeptualisiert. 1 | Mit diesem und anderen generischen Maskulina beziehe ich mich auf Personen jedweder Geschlechtsidentität. Gleiches gilt für die Verwendung generischer Feminina (z.B. ›die Bezugsperson‹) und Neutra (z.B. ›das Kind‹).

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

Unmittelbar nachvollziehbar wird diese Bedeutung, wenn man etwa an die emo‑ tionale Relevanz von religiösen Überzeugungen oder an die soziale Bedeutsamkeit der Liebe denkt. Auf den ersten Blick mögen Emotionen im Sinne von Gefühlen höchst subjek‑ tiv und damit sozialwissenschaftlicher oder gar ethnografischer Forschung schwer zugänglich erscheinen. Jedoch ist das Gefühl, wie noch zu sehen sein wird, ledig‑ lich als ein Aspekt von Emotionen anzusehen. Hinzu kommen etwa die Aspekte emotionaler Ausdrucksformen oder der Emotionskonzepte, die in sozialen Inter‑ aktionen und verbalen Kommunikationen manifest werden. Narrative zu Emo‑ tionskonzepten, also zu Begriffen wie tahotsy oder seky, erlauben nicht nur eine Bedeutungsanalyse des emotionalen Vokabulars, sondern auch einen Zugang zu alltäglichen emotionalen Erfahrungen der Gesprächspartner. Im Sinne von Geertz (1975) handelt es sich bei Emotionen durchaus um erfahrungsnahe Phänomene. Vor allem im Rahmen der US-amerikanischen Kulturanthropologie wurde das Erkenntnispotenzial der Emotionsthematik seit den 1970er Jahren dezidiert aufgegriffen und von Autoren wie Rosaldo (1980), Abu-Lughod (1999) oder Lutz (1988) in den Mittelpunkt ihrer Ethnografien gestellt. Wie Röttger-Rössler (2004: 2) bemerkt, fokussieren diese und ähnliche Arbeiten auf die sprachlich vermittelte Bedeutungsdimension des Emotionalen und begründen dies mit einer Sichtweise, der zufolge Emotionen in erster Linie im Rahmen einer »language of emotion« oder einem »talk about emotions« (Lutz 1988: 5-6) konstituiert und konstruiert würden. Über diese kulturkonstruktivistischen bzw. ethnopsychologischen Ansät‑ ze hinaus trägt eine Minderheit von Autoren stärker der Einsicht Rechnung, dass Emotionen stets in soziale Interaktionen oder Beziehungsdynamiken eingebettet sind und sich nicht in verbaler Kommunikation oder kollektiven Repräsentationen erschöpfen (z.B. Briggs 1970, 1978; Hochschild 1979; Röttger-Rössler 2004; Wikan 1990). Diesen Ansätzen folge ich, insofern ich den kulturspezifischen Interaktions‑ formen, Beziehungsdynamiken und sozialen Normen eine ebenso entscheidende Rolle bei der Konstruktion von emotionalem Erleben, Verhalten und Wissen bei‑ messe wie Emotionskonzepten und Diskursen über Emotionen. Die soziale Konstruktion von Emotionen ist nicht ohne die temporale, prozes‑ suale Dimension dieser Phänomene zu verstehen: Welche Emotionen Personen wie erleben und zeigen, hängt vom Verlauf einer konkreten Interaktion sowie von den dazugehörigen Deutungen und Normen ab, darüber hinaus von der Bezie‑ hungsgeschichte der Interaktionspartner und nicht zuletzt von sämtlichen ein‑ prägsamen Emotionserfahrungen, welche die beteiligten Personen im Laufe ihres Lebens in unterschiedlichen Beziehungen und Interaktionen gemacht haben (vgl. Boiger & Mesquita 2012). Vor diesem Hintergrund gehe ich davon aus, dass sich die Bedeutung und Relevanz von Emotionen wie tahotsy und seky für die einzelne Person nicht allein aus der Teilnahme an Diskursen über diese Emotionen ergibt, sondern auch aus ihrer impliziten oder expliziten Erinnerung an eine lange Reihe von emotionalen und sozialen Erfahrungen. In dieser Arbeit richte ich daher den Fokus auf emotional intensive Erfahrun‑ gen, die Kinder und Jugendliche in Interaktionen mit ihren Bezugspersonen und Interaktionspartnern machen. Damit nehme ich eine Sozialisationsperspektive ein, die zwar eine lange Tradition in der Kultur‑ und Sozialanthropologie hat, je‑ doch nur von wenigen Autoren, wie etwa Geertz (1959) oder Briggs (1970, 1978), dezidiert auf die Emotionsthematik bezogen wurde. Intensiver haben sich in den

Einleitung

letzten Jahrzehnten vor allem Kultur‑ und Entwicklungspsychologen dem Thema der Emotionssozialisation und ‑entwicklung in unterschiedlichen kulturellen Kon‑ texten zugewandt (z.B. Eisenberg et al. 2001; Friedlmeier & Trommsdorff 1999; Fung 1999; Keller & Otto 2009). Ein wichtiges Anliegen dieser Arbeit besteht da‑ rin, diese psychologisch geprägten Studien zur Emotionsentwicklung durch einen Ansatz zu ergänzen, der die spezifischen sozialen und kulturellen Kontexte weit stärker berücksichtigt. Die Perspektive der Sozialisation verbinde ich in dieser Arbeit mit dem erwähn‑ ten Fokus auf moralische Emotionen, da das äußerst vielgestaltige und komplexe Emotionsrepertoire der Menschen aus Menamaty hier nicht annähernd in voller Breite behandelt werden kann. Unter ›moralischen Emotionen‹ verstehe ich nicht ein im Vorhinein festgelegtes Set an Emotionen, sondern sämtliche Emotionen, denen die Gesprächspartner einen hervorragenden moralischen Wert beimessen, die in ihren Augen Menschen zu wertgeschätzten Mitgliedern der Gemeinschaft machen und deshalb auch einen zentralen Stellenwert in den Erziehungszielen und -praktiken einnehmen. Den Ergebnissen des ersten Teils dieser Arbeit vorweg‑ greifend, habe ich bereits angedeutet, dass meine Gesprächspartner tahotsy und seky als zentrale moralische Emotionen in diesem Sinne beschrieben und großen Wert auf ihre Vermittlung in der Kindererziehung legen. Obwohl sich in einigen Ethnografien Hinweise darauf finden lassen, dass der ›Furcht‹ in den jeweils dargestellten soziokulturellen Kontexten ein zentraler mo‑ ralischer Stellenwert zukommt (z.B. Briggs 1978: 65f; Levy 1973: 447; Lutz 1988: 201), findet sich kaum eine intensivere Auseinandersetzung mit dieser Emotion. Stattdessen fokussieren ethnografische und psychologische Publikationen zu mo‑ ralischen Emotionen in erster Linie auf Phänomene wie Schuld, Scham, Liebe oder Empathie, die auch in den Herkunftskulturen der meisten Emotionsforschenden einen hohen moralischen Stellenwert genießen. Das Forschungsfeld der morali‑ schen Emotionen und ihrer Sozialisation werde ich also zu erweitern suchen, in‑ dem ich tahotsy als eine kulturspezifische Form der moralischen Furcht in den Blick nehme.

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1. Theoretische Einführung

Was die folgende Exposition der heuristischen Begriffe und Modelle betrifft, so dürfte diese im disziplinären Rahmen der Ethnologie auf eine gewisse Skepsis stoßen, da theoretische Vorannahmen hier häufig weitgehend vermieden werden, um ethnozentrische Fehlschlüsse zu vermeiden und um sich stattdessen in erster Linie von den Sichtweisen der zur Darstellung kommenden Personen und ‑grup‑ pen leiten zu lassen. Mit einer solchen Begründung verzichtet etwa Lutz (1988: 54) auf eine explizite Definition des Begriffs ›Emotion‹. Zu bedenken ist jedoch, dass die Thematik der Sozialisation von Emotionen von vornherein auf Konzepten der euroamerikanischen Wissenschaftskultur fußt, womit zumindest ein gewisser epistemologischer Ethnozentrismus bei der Behandlung dieser Phänomene unver‑ meidbar ist. Darum ist es fraglich, ob die Strategie, derartige kultur‑ und wissen‑ schaftsbedingte Begriffe nach Möglichkeit zu meiden, tatsächlich zu einer weniger ethnozentrischen Darstellung beiträgt. Denn zum einen kann diese Strategie zu einer Verschleierung des Problems beitragen, indem sie eine Substituierung ex‑ pliziter durch implizite Konzepte begünstigt, die nicht weniger kulturell bedingt sind.1 Zum anderen scheint eine solche Ablehnung wissenschaftlicher Begriff‑ lichkeiten die Tendenz eines ›umgekehrten Ethnozentrismus‹ zu befördern,2 die im Rahmen der ethnologischen Emotionsforschung beispielsweise Lutz (1988) unterstellt werden kann: Sie rekonstruiert einen Emotionsbegriff der Ifaluk, den sie einem vermeintlich westlichen Begriff diametral entgegensetzt und zugleich diesem gegenüber favorisiert.3

1 | Dies macht etwa Roy D’Andrade (1994: 3) am Beispiel psychologischer Konzepte in der Sozial ‑ und Kulturanthropologie deutlich: »What has not been self-evident to socio-cultural anthropologists is that they are concerned with the particularities which affect human learning – that is, with psychology. There would be no issue if socio-cultural anthropologists were truly unconcerned and uninvolved with psychology. […] Indeed, this is what many sociocultural anthropologists believe – that their work is not psychological, and the relevance of psychology to the work that they do is minimal.« 2 | Zum Begriff des umgekehrten Ethnozentrismus bzw. reverse-ethnocentrism vgl. Spivak (1985: 245). 3 | Auch stellt sich die Frage, ob der von Lutz (1988) dekonstruierte Begriff von Emotionen als irrationale, weibliche, subjektive Phänomene überhaupt alternativlos in der westlichen Welt dasteht. Schließlich lässt sich der von Lutz favorisierte und bei den Ifaluk aufgefundene

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Die vorliegende Arbeit schließt an die von Nieke (2008: 77) im Rahmen seiner Forschung zur interkulturellen Kommunikation vorgeschlagene Strategie des auf‑ geklärten Ethno‑ bzw. Eurozentrismus an. Aufgrund der Einsicht, dass sich auch Ethnologen nicht vollständig aus ihrer spezifischen, kulturell geprägten Lebenswelt, der Wissenschafts‑ und selbst aus ihrer spezifischen Disziplinkultur herauslösen können, steht hierbei weniger die absolute Vermeidung jedweder wissenschaftlicher und damit tendenziell ethnozentrischer Begriffe im Vordergrund, sondern vielmehr der offene Umgang mit diesem Dilemma. Als wichtige Voraussetzung hierfür sehe ich die explizite Verwendung von Begriffen als Hilfskonstrukte, um sie der Kritik auszusetzen und damit bei Bedarf der Modifizierung und Erweiterung zugänglich zu machen. Einschränkend ist jedoch anzumerken, dass eine absolute Festlegung auf bestimmte Konzeptionen und eine vollständige Definition der Begriffe weder möglich noch erstrebenswert ist. In den folgenden Unterkapiteln geht es also we‑ niger darum, was Emotionssozialisation »an sich« ist, als vielmehr darum, wie ich diesen Begriff und sein semantisches Feld verstehe. Somit nähere ich mich den Be‑ griffen der Emotionssozialisation in einer pragmatischen Weise. Zum einen sollen sie so definiert werden, dass meine zentralen Perspektiven deutlich und Missver‑ ständnisse vermieden werden, zum anderen sind sie so offen und flexibel zu halten, dass sie den kulturellen und sozialen Besonderheiten gerecht werden. Erforderlich sind die folgenden theoretischen Vorüberlegungen auch deshalb, weil die Thematik der Emotionssozialisation im Rahmen der Sozial‑ und Kultur‑ anthropologie kein eigenständiges, etabliertes Forschungsgebiet darstellt – wenn‑ gleich sie in einigen Ethnografien am Rande behandelt wurde. Es besteht also die Aufgabe, mit der Emotions‑ und Sozialisationsforschung zwei Forschungsfelder zusammenzuführen, die für sich genommen immerhin jeweils klassische Gegen‑ standsbereiche der Kultur‑ und Sozialanthropologie darstellen. Im folgenden Unterkapitel werde ich zunächst die Perspektive der Emotionsforschung und an‑ schließend diejenige der Sozialisationsforschung skizzieren, um sie in einem drit‑ ten Schritt miteinander zu verbinden.

D ie E motionsperspektive Kontroversen um den Emotionsbegriff Obwohl die Ausdrücke »Emotion« oder »Gefühl« im alltäglichen Sprachgebrauch geläufig sind, besteht im Rahmen der Emotionsforschung keineswegs Einigkeit über ihre Bedeutung. Wie von einigen Autoren bereits ausführlich dargelegt, las‑ sen sich die verschiedenen Emotionsbegriffe trotz ihrer Diversität zwei epistemolo‑ gischen Grundpositionen zuordnen, die sich in ihrer diametralen Gegenläufigkeit geradezu ausschließen (z.B. Hinton 1993; Leavitt 1996; Lutz & White 1986; Lyon 1994; Milton 2005; Reddy 1997; Röttger‑Rössler 2002, 2004: 7; Williams 2001: 39). Die eine Position besagt, dass Emotionen prinzipiell biologisch determinierte, im Individuum lokalisierte, universelle Mechanismen oder Programme darstellen, die eine klare biologische Funktion erfüllen. Dieser Position entspricht etwa die Theorie Emotionsbegriff ebenso auf ›westliche‹ Denktraditionen wie etwa der des Kulturkonstruktivismus zurückführen.

1. Theoretische Einführung

der Basisemotionen (z.B. Ekman 1992; Izard 1977). Der anderen Position zufolge sind Emotionen primär als sozial und/oder kulturell bedingte und damit variable Konstrukte zu verstehen, die vornehmlich auf der Bedeutungs‑ und damit auf über‑ individueller Ebene anzusiedeln sind (z.B. Abu-Lughod 1999 [1986]; Lutz 1988). Die erste Position, die – meist seitens der Gegenposition – etwa als ›universalistisch‹, ›naturalistisch‹ oder ›essentialistisch‹ bezeichnet worden ist (Lutz 1988), wird bzw. wurde vor allem in der biologischen (z.B. de Waal 2011), neurowissenschaftlichen (z.B. Damasio 2005) und zum Teil auch in der psychologischen (z.B. Ekman 1992) Emotionsforschung propagiert – also in solchen Disziplinen, die primär auf natur‑ wissenschaftlicher Methodik basieren. Die sozial‑ oder kulturkon-struktivistische Position findet ihre Anhänger u.a. in den Geschichtswissenschaften (z.B. Stearns & Stearns 1985), der Philosophie (z.B. Solomon 1976), Soziologie (z.B. Hochschild 1979) und Ethnologie (s.o.) – also in Fächern, die traditionell den Geistes‑ oder Sozial‑ wissenschaften zugerechnet werden und vor allem auf qualitative Methoden setzen.4 Offenbar ist die Emotionsforschung also direkt von einem Kompetenzstreit zwischen Disziplinen oder Subdisziplinen betroffen, die sich primär auf jeweils einer Seite jenes anthropologischen Dualismus verorten, der als Leib-Seele-, Kör‑ per-Geist-, nature-nurture‑ oder Subjekt-Objekt-Problem eine lange, bis in die An‑ tike zurückreichende Tradition aufweist. Es liegt auf der Hand, dass monistische Definitionen, denen zufolge Emotionen entweder vorwiegend als soziokulturell konstruierte oder primär als psycho-physisch konstituierte Phänomene zu betrach‑ ten sind, einen solchen Dualismus paradoxerweise eher verschärfen als auflösen, weil sie durch ihre Vereinseitigung die jeweilige Gegenposition auf den Plan rufen. Immerhin sind die einflussreichsten Repräsentanten beider Positionen inso‑ fern als moderat anzusehen, als sie die jeweils entgegengesetzte Position meist nicht gänzlich ausschließen: »Although the value of emotion as a symbol is not dependent on some objective relationsip to the body, my aim is not to cut the body out of emotions«, konstatiert etwa Lutz (1988: 4). Auch Ekman relativiert seine universalistische Position durch die Berücksichtigung der Kultur als modifizier‑ enden Faktor: »While there may well be certain evoking stimuli which universally are associated with particular emotions, many of the stimuli which elicit emotions are learned; they are the products of and will vary with culture.« (Ekman 1970: 152). Wie Röttger-Rössler (2004: 15) am Beispiel des universalistischen Konzepts der Basisemotionen bemerkt, führt diese Sichtweise zu einem hierarchischen Zwei-Schichten-Modell, wobei die kulturelle Schicht von sekundärer Bedeutung ist. Auch aus einer kulturkonstruktivistischen Perspektive resultiert implizit ein Zwei-Schichten-Modell – allerdings mit umgekehrter hierarchischer Struktur: Die Bedeutungsebene wird gewissermaßen als essenzielle, die körperliche Dimension hingegen als zu vernachlässigende Schicht des Emotionalen betrachtet.5 4 | Diese disziplinäre Zuordnung trifft lediglich auf die jeweiligen Hauptströmungen zu. Tatsächlich finden sich auch Ausnahmen. So vertritt der Kulturpsychologe Ratner (1989) beispielsweise einen radikal konstruktivistischen Ansatz, der Kulturanthropologe Karl Heider stellt zusammen mit Ekman (Ekman & Heider 1988) hingegen auch kulturübergreifende Universalien heraus. 5 | Wie Hinton (1993: 421) ausführt, gerät die konstruktivistische Perspektive damit in einen Selbstwiderspruch: »First, by asserting that emotions are ›essentially‹ cultural constructs, constructionists usurp the very scepter of essentialism against which they inveigh.«

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Beide Positionen wurden im Einzelnen bereits durch den Aufweis von Wider‑ sprüchlichkeiten oder durch die Anführung empirischer Gegenbeispiele vielfach kritisiert und als reduktionistisch bezeichnet (Engelen et al. 2009; Hinton 1993; Leavitt 1996; Lyon 1994; Milton 2005; Reddy 1997; Röttger‑Rössler 2002, 2004: 69; Williams 2001: 39). An dieser Stelle sollen lediglich einige Überlegungen und pragmatische Argumente hinzugefügt werden, die mich dazu veranlassen, eine vermittelnde Position einzunehmen. Die Frage, ob nun die biopsychische oder doch eher die soziokulturelle Dimen‑ sion als Essenz des Emotionalen zu betrachten ist, lässt sich kaum auf der Basis empirischer Erkenntnisse beantworten, da diese für beide Positionen gleicher‑ maßen in Anschlag gebracht werden können. Ich gehe vielmehr davon aus, dass diese Frage grundsätzlich irreführend ist. Damit schließe ich mich der von dem Psychologen Donald Hebb in Bezug auf die nature-nurture-Dichotomie geäußerten Haltung an, die von Meaney folgendermaßen wiedergegeben wird: Following a public lecture, a journalist approached the renowned psychologist Donald Hebb and asked for his opinion on which factor contributed more to the development of personality, nature or nurture. Hebb responded that to pose this question was akin to asking what contributed more to the area of a rectangle, the length or the width. (Meaney 2001: 50)

Dagegen ließe sich empirisch sicherlich gut nachweisen, dass beiden Positionen in einem engen Zusammenhang mit jeweiligen ideologischen Voraussetzungen, disziplinären Denktraditionen, persönlichen Erkenntnisinteressen oder der Kon‑ kurrenz um Deutungshoheiten stehen. Vor diesem Hintergrund erscheint die Kon‑ troverse um die Frage, ob Emotionen in erster Linie als soziokulturelle Konstrukte oder aber als biopsychische Phänomene zu definieren seien, nicht zielführend.6 Die mit eindimensionalen Emotionsmodellen direkt verbundene Frage, ob Emotionen als universelle oder als variable Phänomene zu betrachten seien, lässt sich empirisch ebenfalls nicht sinnvoll beantworten. Selbst eine kulturkonstrukti‑ vistische Emotionsforschung beruht auf der Prämisse, dass Emotionen in gewisser Weise universell sind, denn andernfalls würde eine kulturübergreifende Emotions‑ forschung keinen Sinn ergeben. Umgekehrt können an Universalien interessierte Emotionsforscher kaum die kulturelle Varianz des Emotionalen bestreiten. Ich hal‑ te es darum für sinnvoll, das Emotionale im interpersonalen oder interkulturel‑ len Vergleich schlicht als ähnlich zu begreifen.7 Es hängt in erster Linie von den Erkenntnisinteressen, den Erhebungsmethoden oder den Abstraktionsgraden der Analyse ab, ob die Gemeinsamkeiten oder die Unterschiede stärker in den Fokus der Untersuchung gerückt werden. 6 | Vgl. hierzu Shweder et al. (1997: 140f), die auf einer allgemeineren Ebene ähnlich argumentieren: »Although different discourses in the social sciences and elsewhere […] often seem to be in competition for definition of a realm of experience, this is usually a sociological effect more than a logical one. It is often advantageous to have more than one discourse for interpreting a situation or solving a problem. Not only alternative solutions but multidimensional ones addressing several ›orders of reality‹ or ›orders of experience‹ may be more practical for solving complex human problems.« 7 | Vgl. hierzu Kitayama und Markus (1994: 6): »The claim should be construed more reasonably as a claim of family resemblance rather than of exact identity.«

1. Theoretische Einführung

Eindimensionale Emotionsmodelle haben zudem das Manko, dass die ent‑ sprechende Forschung gegenüber großen Teilen der Emotionsforschung nicht an‑ schlussfähig ist, da sie zu einer abgrenzenden Haltung gegenüber anderen Positio‑ nen führen. Dies hat zur Folge, dass möglicherweise auch für die eigene Forschung relevante Erkenntnisse nicht genutzt werden. So bemerken Frijda et al. (2004) im Rückblick auf das zwar multidisziplinär besetzte, aber kaum interdisziplinär ver‑ fahrende Amsterdam Symposium zum aktuellen Stand in der Emotionsforschung: It was one of our impressions during the Amsterdam Symposium that the investigators from one discipline were not always well informed about the ideas and findings current in other relevant disciplines. It is sometimes the case that the problems posed in one’s own discipline have been analyzed in detail in another discipline; or that findings in one’s own discipline could illuminate the findings in a neighboring discipline. (Frijda et al. 2004: 467)

Auch die ältere ethnologische Emotionsforschung verzichtete wohl aufgrund einer radikal kulturkonstruktivistischen Position häufig auf die Auseinandersetzung mit den Forschungsergebnissen aus anderen Disziplinen. Damit missachtete sie einen Großteil der Emotionsforschung, die vornehmlich außerhalb des Faches und jen‑ seits einer rein kulturkonstruktivistischen Perspektive vorangetrieben wird.8 Aus diesen Gründen favorisiere ich in dieser Arbeit ein mehrdimensionales, integrati‑ ves Emotionsmodell, das im Folgenden vorgestellt werden soll.

Integrative Emotionsmodelle Seit den 1990er Jahren ist von ethnologischer Seite vermehrt ein Emotionsverständ‑ nis propagiert worden, das auf der Verbindung mehrerer emotionaler Dimensionen beruht, die zuvor von den Vertretern unterschiedlichen Positionen jeweils als pri‑ märe emotionale Dimension reklamiert wurden (Engelen et al. 2009; Hinton 1993; Leavitt 1996; Lyon 1994; Milton 2005; Reddy 1997; Röttger-Rössler 2002, 2004: 69; Williams 2001: 39). Eine ähnliche Tendenz ist auch in Teilen der Psychologie, ins‑ besondere in den Subdisziplinen der Kultur‑ (vgl. Frijda et al. 2004: 465) und Ent‑ wicklungspsychologie (vgl. Holodynski & Friedlmeier 2006: 33-37) zu beobachten. Entscheidend ist hierbei die Überlegung, dass die verschiedenen emotionalen Dimensionen sowie die sie bedingenden Faktoren grundsätzlich in einer gleich‑ gewichtigen Beziehung zueinander stehen. Diese Annahme resultiert aus einem Perspektivenwechsel von einem ontologischen zu einem systemischen oder rela‑ tionalen Ansatz. Es stellt sich weniger die Frage, was eine Emotion (primär) ist, als vielmehr die Frage, wie verschiedene Emotionsdimensionen miteinander inter‑ agieren oder wie emotionale Prozesse auf soziale, kulturelle oder andere Systeme bezogen sind (vgl. Frijda et al. 2004: 465). Sofern vorausgesetzt wird, dass biopsychische und soziokulturelle Dimensionen das Emotionale gleichermaßen kons‑ tituieren, stehen sie in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis zueinander. Angesichts dieses Interdependenz-Verhältnisses ist die Frage irrelevant, welche Dimensionen zentraler oder essenzieller sind. Freilich schließt diese Sichtweise 8 | Überdies bringt eine eindimensionale Emotionsperspektive die anmaßende Tendenz mit sich, große Teile der Emotionsforschung so zu betrachten, als befänden sie sich prinzipiell auf einem Irrweg.

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die Möglichkeit nicht aus, eine der Dimensionen verstärkt zu fokussieren. Dabei werden die anderen Komponenten aber lediglich eingeklammert, anstatt deren Re‑ levanz zu bestreiten.9 Darüber hinaus rücken in einer solchen Perspektive anstelle von statischen emotionalen Entitäten dynamische Emotionsprozesse ins Zentrum der Untersu‑ chung, die sowohl die Entwicklung emotionaler Episoden in einzelnen Interaktio‑ nen oder sozialen Beziehungen als auch die Herausbildung emotionaler Dispositio‑ nen in der Ontogenese betreffen können (vgl. Boiger & Mesquita 2012; Engelen et al. 2009; Hinton 1993). Insofern in dieser Perspektive Emotionen aus dem Zusam‑ menspiel der verschiedenen Subsysteme resultieren, handelt es sich ebenfalls um einen konstruktivistischen, präziser: um einen ko-konstruktivistischen Ansatz. Auch speziell im Hinblick auf das Thema dieser Arbeit erscheint ein solches mehrdimensionales Modell angemessen. Wie bereits angedeutet, eignet es sich in besonderem Maße für die Analyse von Sozialisationsprozessen, da es erlaubt, die verschiedenen Sozialisationsbedingungen wie etwa soziale Interaktionen, verbale Kommunikationen, psychische Mechanismen und biologisch bedingte Entwick‑ lungsprozesse aufeinander zu beziehen. Diesen Vorteil hebt beispielsweise auch Hinton hervor: By focusing on process and ontogeny, a processual approach emphasizes the emergent and multifactorial origin of these phenomena. Such an orientation stands in marked contrast to the unidimensional determinism of reductive perspectives. (Hinton 1993: 423)

Überdies verfügt ein mehrdimensionales im Vergleich zu einem letztlich statischen eindimensionalen Modell über eine wesentlich offenere Struktur und ist Modifika‑ tionen zugänglicher. Dies ist insbesondere für die ethnologische Forschung rele‑ vant, weil sich damit das Emotionsmodell an die jeweiligen kulturellen Spezifika anpassen lässt. So kann es um Komponenten erweitert werden, wenn sich in der Forschung eine neue Dimension als relevant erweist. Auch im Hinblick auf die Be‑ deutungsebene eignet es sich, um kulturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu analysieren und die beiden Ausprägungen des Ethnozentrismus, der Übertra‑ gung und Kontrastierung, zu minimieren. Wie der Kulturanthropologe Richard Shweder (2004; Shweder et al. 2007; vgl. Frijda 2008) herausstellt, erlauben mehr‑ dimensionale Modelle anstelle einer »top-down«- eine »bottom-up«-Analyse von kul‑ turspezifischen Emotionen. Ein »top-down«-Verfahren würde mit dem Konzept einer diskreten Emotion aus der eigenen Kultur, wie etwa der Furcht, beginnen und mit der Aussage enden, dass etwa das madagassische Emotionswort tahotsy eine identi‑ sche oder eine gänzlich andersartige Emotion bezeichne. Eine »bottom-up«-Analyse orientiert sich hingegen an den einzelnen Bedeutungsbestandteilen, die teils mit einem Vergleichskonzept übereinstimmen und teils davon abweichen können, so‑ dass sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede berücksichtigt werden.

9 | So meint auch Hinton (1993: 421): »A focus on one level of explanation is valid if the importance of other levels is acknowledged and properly bracketed.«

1. Theoretische Einführung

Skizze eines multidimensionalen Emotionsmodells Unter den integrativen Emotionsmodellen favorisiere ich ein Multikomponenten‑ modell des Emotionalen, das zunächst vornehmlich in der Psychologie propagiert wurde (z.B. Scherer 1984), mittlerweile aber auch in der soziologischen (z.B. von Scheve 2011) sowie entwicklungs‑ (Holodynski & Friedlmeier 2006) und kulturpsy‑ chologischen (Mesquita & Markus 2004; Shweder et al. 2007) Emotionsforschung Verbreitung findet. Dieses Modell lege ich meiner Untersuchung zugrunde, weil es sich insbesondere im Hinblick auf die Erforschung der soziokulturellen Variation und der Emotionssozialisation bewährt hat.10 Obwohl in der Literatur eine gewisse Varianz hinsichtlich der dem Emotions‑ komplex zuzuordnenden Komponenten oder Subsysteme besteht, wird weitgehend einvernehmlich angenommen, dass mindestens folgende Komponenten an Emotio‑ nen beteiligt sind: (1) Einschätzung (Appraisal), (2) Körperreaktion, (3) Ausdruck, (4) Handlungstendenz bzw. ‑bereitschaft und (5) Gefühl. Gemäß dem »dynamisch-sys‑ temischen Emotionsparadigma« (vgl. Holodynski & Friedlmeier 2006: 27) beruht eine einzelne Emotionsepisode auf der synchronen Aktivierung und gegenseitigen Beeinflussung dieser Komponenten, wobei die Einschätzungskomponente eine zen‑ trale Rolle bei der Initiation dieses komplexen Prozesses spielt. Zwar werden diese Emotionskomponenten auf einer individuellen Ebene verortet, doch sind die Dyna‑ miken und Verläufe von Emotionsepisoden direkt von sozialen und kulturellen As‑ pekten abhängig. Vor allem aber bilden sich die spezifischen Konfigurationen dieser Komponenten erst aufgrund von sozialen Erfahrungen und kulturell bedingten Be‑ deutungszuschreibungen heraus. Im Folgenden sollen die einzelnen Komponenten kurz erläutert werden – insbesondere im Blick auf ihre soziokulturelle Einbettung. Appraisal: Mit dem Konzept des Appraisal, das ab den 1980er Jahren zunehmend und in Abgrenzung zur Basisemotionstheorie propagiert wurde (Frijda 1986; Sche‑ rer 1984), ist eine kognitive Einschätzung der Bedeutung eines Geschehens oder einer Situation für die Wünsche und Motive oder das Wohl der betroffenen Person gemeint. Sofern sie das Geschehen als bedeutsam für ihre Motive einschätzt, ent‑ steht eine Emotionsepisode. Je nachdem, in welcher Weise das Ereignis als relevant eingeschätzt wird, ob es etwa als bedrohlich, willkommen oder hinderlich gedeutet wird, kommt es zu einer Spezifizierung der Emotionsepisode. Der kognitive Vor‑ gang der Einschätzung kann sich auf unterschiedlichen Bewusstseins-Niveaus ab‑ spielen, d.h., er kann eine reflexhafte, eine schematische oder auch eine bewusst abwägende Einschätzung umfassen (Scherer 1984; vgl. Engelen et al. 2009: 29f). Insbesondere im Rahmen sozialer Interaktionen und Beziehungen kann der Ein‑ schätzungsprozess ein hohes Maß an Komplexität erreichen, da hierbei nicht nur 10 | Es ist erstaunlich, dass solche Mehrkomponentenmodelle bisher noch kaum im Rahmen ethnologischer Emotionsforschung Anwendung gefunden haben. Dies ist freilich nicht allein auf eine fehlende Auseinandersetzung mit psychologischen Emotionskonzepten zurückzuführen. Denn die meisten ethnologischen Beiträge zur Emotionsforschung nehmen etwa auf die Theorie der Basisemotionen nach Ekman Bezug, ohne jedoch die Mehrkomponenten ‑ oder Appraisaltheorien zu berücksichtigen (Beatty 2005, 2010; Leavitt 1996; Lutz 1988: 221; Reddy 1997; Wilce 2009). Bemerkenswert ist dies insofern, als die letztgenannten Ansätze mit dem ethnologischen Interesse an soziokultureller Varianz wesentlich besser kompatibel wären.

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die antizipierten Konsequenzen eigener Handlungen, sondern auch diejenigen von Interaktionspartnern und die Dynamiken der Interaktion eine Rolle spielen. Die Appraisal-Theorie impliziert zum einen eine prinzipiell unbegrenzte Va‑ riabilität des Emotionalen, da jedes spezifische Appraisal eine ebenso spezifische Emotion hervorbringt (Scherer 1984, 2004: 143).11 Zum anderen folgt aus ihr eine vollständige soziale und kulturelle Durchdringung des Emotionalen, die sich in kulturspezifischen Einschätzungsmustern manifestiert (vgl. Kitayama & Markus 1994: 10). Diese können sich auf unterschiedlichen Ebenen herausbilden: Zunächst hängen Einschätzungsmuster von kulturspezifischen Ereignis-, Handlungs‑, In‑ teraktions‑ und Beziehungsmustern ab (vgl. Shweder 2004: 84); man denke etwa an die unterschiedlichen Konsequenzen polygamer gegenüber monogamen Insti‑ tutionen für die Einschätzung von Untreue in der Ehe. Selbst bei vergleichbaren Ereignissen können kulturell bedingte Bedeutungszuschreibungen und Konzepte verschiedene event codings (Frijda & Mesquita 1994: 53) mit sich bringen und damit zu unterschiedlichen Einschätzungen führen. Beispielweise macht es einen emo‑ tionalen Unterschied, ob ein Unglück auf das eigene Versagen, einen unpersön‑ lichen Zufall, eine göttliche Bestrafung oder auf den Schadenszauber durch eine feindselige Person zurückgeführt wird. Auch die persönlichen Motive und Wün‑ sche, von welchen die emotionale Relevanz des Ereignisses abhängt, sind offen‑ sichtlich direkt mit dem Norm‑ und Wertesystem der jeweiligen Kultur verknüpft (vgl. Markus & Kitayama 1994). Nicht zuletzt sind auch individuelle, emotionalisie‑ rende Erfahrungen für die kulturspezifische Ausprägung von Einschätzungsmus‑ tern relevant, die sich beispielsweise durch systematische Sanktionspraktiken im Sozialisationsprozess zu kognitiven Schemata verdichten können (LeDoux 2000; Leventhal & Scherer 1987; Quinn 2005). Körperreaktion: Sofern eine Person ein Ereignis oder eine Situation als relevant im Hinblick auf seine Motive und Wünsche einschätzt und daraus eine Emotions‑ episode resultiert, kann es zu einer körperlichen Reaktion, einer physiologischen Erregung kommen, die nur schwer bewusst kontrollierbar ist und auf das auto‑ nome Nervensystem sowie endokrinologische Prozesse zurückgeführt wird (Holo‑ dynski & Friedlmeier 2006: 43). Beispielsweise kann sich die Herzschlagfrequenz oder der Puls verändern. Diese körperlichen Veränderungen lassen sich zum einen messen, zum anderen auch subjektiv wahrnehmen. Strittig ist allerdings, ob die Körperreaktion als konstitutive Komponente von Emotionen betrachtet werden kann, da diese bei weniger intensiven Emotionen nicht unbedingt messbar sind. Das Internalisierungsmodell von Holodynski und Friedlmeier (2006: 46f) geht davon aus, dass diese physiologische Erregung im Laufe der Entwicklung durch somatische Marker ersetzt werden kann, womit es möglich wird, diese analog zu Phantomschmerzen zu empfinden, obwohl sie ob‑ jektiv nicht auftritt. Dass die körperliche Dimension des Emotionalen zumindest als subjektives Phänomen eine zentrale Rolle spielt, legen Emotionskonzepte in zahlreichen Sprachen nahe, die sich metaphorisch auf Körperorgane oder körper‑ liche Prozesse beziehen, wie etwa das ›Herzklopfen‹ im Deutschen, aukhu dödö 11 | Die kaum zu bestreitende kulturübergreifende Ähnlichkeit gewisser Emotionen führt Scherer auf prototypische Individuum-Umwelt-Konstellationen wie etwa den Verlust einer geliebten Person zurück (Scherer 2004: 143). Solche Emotionen bezeichnet er in Abgrenzung zum Begriff der Basisemotionen als modal emotions.

1. Theoretische Einführung

(hot-hearted/angry) in der Sprache der Nias auf Indonesien (Beatty 2013: 419) oder may fo (heißes Herz/wutentbrannt) im Dialekt der Bara Madagaskars. Auch wenn sich die Körperreaktionen auf einer physiologischen Ebene abspie‑ len, so ist ihr Auftreten keineswegs ausschließlich genetisch bedingt oder angebo‑ ren. Allein die Tatsache, dass die Körperreaktionen durch Einschätzungsprozes‑ se ausgelöst werden, die wiederum direkt soziokulturell bedingt sind, lässt den Schluss zu, dass sie sowohl in jeder Emotionsepisode als auch im Sozialisations‑ prozess bio-kulturell ko-konstruiert wird. Darüber hinaus lässt sie sich im Zuge der Emotionsepisode indirekt auch willentlich steuern, etwa durch eine bewuss‑ te Neueinschätzung der Situation oder eine Verschiebung der Aufmerksamkeit. Nicht zuletzt dürften die jeweiligen Emotionskonzepte eine Rolle dabei spielen, wie bewusst die Körperreaktion erlebt und als was sie interpretiert wird. Ausdruck: Unter dem Emotionsausdruck fasse ich nicht allein die Gesichts‑ mimik, die von einigen Psychologen in den Vordergrund gerückt wurde (z.B. Ek‑ man 1993), sondern sämtliche Verhaltensweisen, die von Interaktionspartnern mit Emotionen in Verbindung gebracht werden. Holodynski und Friedlmeier (2006: 53) führen neben der Mimik etwa die Gestik, den Körperduktus, Berührungen, das Verhalten im Raum oder den Klang der Stimme als typische Ausdrucksmedien an. Zwar lassen sich diese körperlichen Ausdrucksweisen willentlich beeinflussen, doch unterliegen sie überdies auch unwillkürlichen Tendenzen (vgl. Engelen et al. 2009: 38). Dieses Zusammenspiel aus einer unwillkürlichen und willentlichen Steuerung wird etwa beim Versuch deutlich, Emotionen (bzw. deren Ausdruck) zu überspielen oder zu maskieren, weil hierbei dem Ausdruck willentlich etwas entgegengesetzt wird. Neben diesen körpernahen Ausdrucksformen können aber auch alle möglichen Handlungen, Sprechakte oder gar Artefakte als Emotionsaus‑ drücke fungieren, die sich leichter willentlich kontrollieren lassen. Wie Holodynski und Friedlmeier (2006: 59) hervorheben, haben Emotionsaus‑ drücke ähnlich wie sprachliche Ausdrücke einen Zeichencharakter und sind damit in kommunikative Systeme eingebettet. Welche Ausdruckszeichen Personen ver‑ wenden und welche Bedeutung ihnen von den Interaktionspartnern beigemessen wird, kann sich damit je nach soziokulturellem Milieu unterscheiden. Die Funk‑ tion des Emotionsausdrucks ist nicht ausschließlich indexikalisch, er deutet also nicht nur auf eine momentane Situation, einen aktuellen Gefühlszustand oder eine unmittelbar bevorstehende Handlung hin. Dem Emotionsausdruck kommt darüber hinaus auch häufig eine Appellfunktion zu. Ein klägliches Weinen mag eine Bezugsperson zu Mitleid oder tröstender Zuwendung auffordern und ein grimmiger Ausdruck als Drohung aufgefasst werden. Nicht zuletzt kann das emotionale Ausdrucksverhalten auch eine symbolische Funktion erfüllen, indem Personen durch ihren Ausdruck unabhängig von ihren tatsächlichen Regungen Emotionen darstellen (vgl. Röttger‑Rössler 2004: 93-96). Dies ist eine wichtige Voraussetzung für eine weitere soziokulturelle Einbettung des Emotionsausdrucks. Sie macht es Personen möglich, ihren Ausdruck mit den Erfordernissen ihrer jeweiligen sozialen Rollen sowie sozialen Ausdrucksregeln, sogenannten display rules (Ekman & Friesen 1975: 20) abzustimmen. Derartige, meist implizite Regeln geben vor, in welchen Situationen welche Emotionsaus‑ drücke gegenüber Interaktionspartnern zu zeigen sind oder von diesen erwartet werden, und können als soziale Konventionen kulturell variieren. So wird beispiels‑ weise bei einer Begrüßung im deutschen Kontext ein Lächeln erwartet, in der For‑

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schungsregion hingegen eher ein ernster Gesichtsausdruck. Geht man davon aus, dass sich emotionales Ausdrucksverhalten nicht nur auf andere Personen, sondern zugleich auch auf die eigene Person richtet und sich in Gefühlen niederschlägt (vgl. den übernächsten Abschnitt zum Gefühl), so kann die Befolgung von Aus‑ drucksregeln selbst zum Emotionsanlass werden. Ein gänzlich überzeugendes Lä‑ cheln bei einer Begrüßung dürfte auch Spuren im Emotionserleben hinterlassen. Handlungsbereitschaft: Neben dem Ausdruck geht mit Emotionen auch eine Handlungsbereitschaft oder ‑tendenz einher, also die Motivation, eine bestimmte Handlung zu vollziehen. Diese steht in einem direkten Zusammenhang mit dem kognitiven Appraisal, da sie den Impuls beinhaltet, auf die auslösende Situation ge‑ mäß ihrer Relevanz für die eigenen Motive und Wünsche einzuwirken oder darauf zu reagieren. Die Handlungsbereitschaft ist vom Handlungsvollzug zu unterschei‑ den, da Personen prinzipiell in der Lage sind, diese Bereitschaft wahrzunehmen und ihre Umsetzung in eine Handlung intentional zu kontrollieren. Insofern eine ansetzende Handlung von Interaktionspartnern oder von dem Betroffenen selbst auch als Index für die motivierende Emotion gedeutet werden kann – etwa wenn jemand drohend seine ›Faust ballt‹ – werden Ausdruck und Handlungstendenz von einigen Autoren auch zu einem emotionalen Subsystem zusammengefasst (Holo‑ dynski & Friedlmeier 2006: 41). Es liegt auf der Hand, dass Emotionen über ihre Handlungstendenzen in einem direkten Bezug zu sozialen Strukturen und Dynamiken stehen, da sie Personen in Interaktionen und Handlungszusammenhänge einbinden. Besonders offensicht‑ lich ist die soziale Einbettung im Hinblick auf Normen und Werte des jeweiligen soziokulturellen Kontextes. Einerseits können Handlungsnormen Personen dazu veranlassen, ihre konträren Handlungstendenzen zu regulieren, was wiederum auf die gesamte Entfaltung der Emotionsepisode zurückwirken kann. Beispielsweise wirken sämtliche Normen, die aggressive Handlungen untersagen, direkt auf die Regulation, die Dynamik und Qualität einer mit Ärger verbunden Emotionsepiso‑ de zurück. Andererseits begünstigen die Handlungstendenzen bestimmter Emo‑ tionen, wie etwa Scham oder Gewissensbisse, auch normkonformes Handeln, da ihre Handlungstendenzen gerade auf die Vermeidung sozialer Ausgrenzung oder die Erlangung sozialer Wertschätzung zielen. Nicht zu übersehen ist freilich auch die dynamische Rolle von emotionalen Handlungstendenzen in sozialen Konflikten. Gefühl: Dem Gefühl bzw. feeling wurden von den verschiedenen Strömungen der Emotionsforschung unterschiedliche Rollen zugeschrieben. Auf Empathie basieren‑ de methodische Ansätze in der Ethnologie (z.B. Levy 1984; R. Rosaldo 1984; Wikan 1990) haben das Gefühl als originären Zugang zum Emotionalen konzeptualisiert, und im linguistisch-kulturvergleichenden Ansatz von Wierzbicka (1994) wurde ihm ein zentraler Platz in der natural semantic metalanguage eingeräumt. Kulturkonstruk‑ tivistische Autoren haben wiederum den Versuch unternommen, es als westliches Konstrukt zu dekonstruieren (Lutz 1988: 56), und Vertreter des narrativen Ansatzes lehnen es gar als epistemologisch unzugänglich ab (Beatty 2005, 2010). Auch in der behavioristisch geprägten Psychologie wurde das Gefühl aufgrund seines subjekti‑ ven Status lange Zeit vernachlässigt, was sich inzwischen allerdings geändert hat: »Feeling itself has regained respectability.« (Frijda et al. 2004: 459) Dem hier verwendeten Emotionsmodell gemäß verstehe ich das Gefühl als eine weitere Emotionskomponente, die als subjektives Erleben aus den anderen Emo‑ tionsanteilen resultiert und Personen dazu befähigt, bewusst auf die Emotions‑

1. Theoretische Einführung

dynamik einzuwirken. Gefühle erschöpfen sich demnach nicht in der Empfindung physiologischer Erregung und körperlicher Veränderung, denn auch das Aus‑ drucksverhalten und die Intentionalität der Handlungsbereitschaft können im Ge‑ fühl präsent sein. Über diese internen, selbstbezogenen Empfindungen hinaus ist das Gefühl auch auf die Außenwelt, auf die emotionalisierende Situation oder auf Interaktionspartner gerichtet und hat damit eindeutig eine kognitive Dimension, die mit dem Appraisal korrespondiert (vgl. Holodynski & Friedlmeier 2006: 43-45). Aufgrund dieser kognitiven Dimension des Gefühls wäre es irreführend, dieses dem Denken strikt entgegenzusetzen. Insofern es neben kognitiven Repräsentatio‑ nen auch Körper‑ sowie Ausdrucks‑ und motivationale Empfindungen enthält, geht es aber über eine reine Kognition, eine cold cognition (Abelson 1979), hinaus. Die‑ sem Umstand versucht etwa auch Michelle Rosaldo durch die Konzeptualisierung von Emotionen als embodied thoughts gerecht zu werden (1984: 138).12 Eine grundlegende Funktion des Gefühls kann darin gesehen werden, dass es der fühlenden Person ermöglicht, ihre Emotionen sowie die durch sie motivier‑ ten Handlungen bewusst zu steuern und zu kommunizieren (vgl. Holodynski & Friedlmeier 2006: 43). Nach Damasio (1999: 279) beruht das Gefühl normalerwei‑ se auf einem reflexiven Bewusstseinsvorgang, den er als feeling feelings beschreibt: Man fühlt nicht nur etwas, sondern man ist sich zugleich des Fühlens bewusst.13 Geht man mit Damasio weiter davon aus, dass das Gefühl als bewusstes Erleben auf symbolischer Vermittlung beruht, so sind Ausdruckszeichen (vgl. Holodynski & Friedlmeier 2006) und Emotionswörter als wichtige Bedingungen für menschliche Gefühle anzusehen. In dieser Perspektive hängen Gefühlsqualitäten also direkt mit Ausdruckszeichen und Emotionswörtern zusammen, die wiederum kulturell varia‑ bel sind. Beispielsweise ist denkbar, dass Emotionskonzepte die Aufmerksamkeit auf Gefühle in bestimmte Richtungen lenken können – etwa auf die Körperempfindung, das Appraisal oder die Handlungstendenz – und somit die Gefühlsqualität und -in‑ tensität selbst beeinflussen.14 Überdies können Emotionskonzepte offensichtlich auch Wertungen enthalten oder instrumentelles Wissen zum Umgang mit den ak‑ 12 | Auf der Basis einer solchen facettenreichen Konzeption erscheint das Gefühl der wissenschaftlichen Analyse zugänglicher als bei Konzeptionen, die das Gefühl auf eine diffuse Körperempfindung reduzieren und in der Konsequenz als unzugänglich darstellen (Beatty 2005). 13 | Allgemeiner formuliert auch der philosophische Anthropologe Helmut Plessner (1975: 292) diesen Gedanken: »Er [der Mensch] lebt und erlebt nicht nur, sondern er erlebt sein Erleben.« 14 | Damit lässt sich auch der von Lutz angeführte Widerspruch auflösen, dem zufolge das Emotionskonzept der Ifaluk im Unterschied zum westlichen weniger als körperinterne, sondern primär als soziale Prozesse verstanden würden (1988: 81). Denn beide Aspekte können als Bestandteile des Gefühls angesehen werden, die je nach Emotionskonzept jedoch unterschiedlich gewichtet sein können. Allerdings stellt sich die Frage, ob die westlichen Emotionskonzepte überhaupt durchgängig den von Lutz unterstellten Fokus auf körperinterne Empfindungen haben. Zumindest in der deutschen Sprache scheint der Fokus je nach Konzept zu variieren. Im Konzept ›Herzklopfen‹ steht tatsächlich die eigene Körperempfindung im Fokus, das Konzept ›Liebe‹ hingegen beinhaltet die intentionale Gerichtetheit auf eine andere Person. Auch im Wutvokabular des Bara-Dialektes finden sich sowohl solche Konzepte, die sich auf die interpersonale Dimension beziehen, als auch solche, die in erster Linie eine Körperempfindung betreffen (s.u.).

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tuellen Gefühlen transportieren. Diese Funktionen von Emotionskonzepten spielen nicht nur auf intra‑, sondern auch auf interpersonaler Ebene eine Rolle, da sie es ermöglichen, Gefühle des Gegenübers zu benennen und damit zugleich auf dessen Gefühlsleben durch Aufmerksamkeitslenkung oder Wertungen Einfluss zu nehmen. Redewendungen wie »du bist ja nur neidisch« oder »du solltest dich schämen« erfül‑ len eine derartige interpersonale Funktion. Die spezifische, gefühlsmodifizierende Funktion von verbalen Emotionsausdrücken stellt Reddy (1997) unter dem Begriff emotive heraus und grenzt sie von deskriptiven oder performativen Funktionen ab.

Moralische Emotionen Wie bereits in der Einleitung angemerkt, richte ich in dieser Arbeit den Fokus auf ›moralische Emotionen‹ (vgl. Haidt 2003; Tagney et al. 2007),15 da diese von be‑ sonderer gesellschaftlicher Relevanz sind und folglich auch in der Erziehung und Sozialisation einen zentralen Stellenwert einnehmen. Zwar können prinzipiell alle Emotionen wichtige soziale Funktionen übernehmen; moralische Emotionen be‑ ziehen sich in der hier verwendeten Definition jedoch direkt auf moralische Quali‑ täten der Person bzw. ihres Verhaltens und Handelns. So beinhalten moralische Emotionen wie etwa ›Schuld‹ oder ›Empörung‹ eine Bewertung der eigenen Per‑ son oder anderer Personen nach Maßgabe geteilter Werte und Normen. Über die Bewertung hinaus veranlassen sie Personen dazu, das eigene Handeln an den ge‑ sellschaftlichen Normen und Werten auszurichten oder fremdes Handeln zu sank‑ tionieren. Damit kann ihnen eine herausgehobene Bedeutung für die Vermittlung zwischen individuellem Handeln und gesellschaftlichen Moralvorstellungen oder sozialen Normen zugeschrieben werden (vgl. Scheff 1988). Aufgrund ihrer außerordentlichen gesellschaftlichen Bedeutsamkeit erlangen moralische Emotionen häufig auch in der Perspektive der Mitglieder einer Ge‑ meinschaft einen moralischen Status, d.h., sie werden als Garanten der Moralität bzw. als ›Tugenden‹ konzipiert (vgl. Goetz & Keltner 2007: 162). In Indonesien bei‑ spielsweise gilt die Emotion malu, vergleichbar mit ›Scham‹ oder ›Verlegenheit‹, als Garant für moralisches Verhalten, und entsprechend kommt der Vorwurf, an‑ gesichts von Fehlverhalten kein malu zu empfinden bzw. zu zeigen, einer morali‑ schen Verurteilung gleich (Röttger‑Rössler et al. 2013: 6). Im Prozess der Emotionssozialisation spielen moralische Emotionen eine he‑ rausragende Rolle. Sie sind nicht nur Gegenstand der Sozialisation – dies trifft potenziell auf alle Emotionen zu –, sondern sie fungieren zugleich auch als Media‑ toren der Sozialisation, indem sie Kinder dazu veranlassen, die Normen und Werte ihrer sozialen Umwelt zu beherzigen. Sie werden Kindern also gezielt anerzogen und übernehmen damit eine sozialisierende Funktion.16 Aufgrund dieser Funktion sind moralische Emotionen prinzipiell auch auf andere Emotionen gerichtet, die 15 | Ähnliche, sich größtenteils überschneidende Emotionsklassifizierungen kursieren in der Literatur unter den Bezeichnungen complex emotions (Engelen et al. 2009), self-conscious emotions (Tracy et al. 2007), moral sentiments (Throop 2012) oder socializing emotions (Funk et al. 2012; Röttger-Rössler et al. 2013). 16 | Auch jenseits der Emotionsforschung – etwa für die Rechtsethnologie – sind moralische Emotionen von Interesse, da sie den Zusammenhang zwischen rationalen Erwägungen oder moralischen Grundsätzen und tatsächlichem Handeln erhellen können (vgl. Tangney et al.

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den situativen sozialen Erwartungen sozialer Partner widersprechen. So kann sich malu beispielsweise auf den Ausdruck von Emotionen wie marah (≈ Wut) richten und das Emotionssubjekt dazu veranlassen, diese Emotion zu regulieren. Vor dem Hintergrund dieser Funktion lassen sich moralische Emotionen auch als sozialisie‑ rende Emotionen bezeichnen (vgl. Röttger‑Rössler et al. 2013, 2015). Im disziplinären Feld der Ethnologie hat die Untersuchung von solchen mo‑ ralischen Emotionen, die in Analogie zu Scham oder Schuld verstanden werden, eine lange Tradition, die spätestens mit Ruth Benedict (1946) beginnt und bis heute anhält (Piers & Singer 1971; Fajans 1983; Schieffelin 1983; Epstein 1984; Creighton 1990; Casimir & Schnegg 2003; Bedford 2004; Hollan 2012). In der Psychologie geht die Auseinandersetzung mit der Rolle des Schuldgefühls in der Kultur noch weiter zurück (z.B. Freud 1930), und seit den 1980er Jahren nimmt auch die Zahl der Veröffentlichungen zur Scham rapide zu (vgl. Haidt 2003: 853) – vermutlich auch in Reaktion auf die ethnologische Literatur zu dieser Gruppe von Emotionen. Zum einen scheint eine derart intensive Erforschung von self-conscious emotions (Tracy et al. 2007) wie Schuld und Scham damit zusammenzuhängen, dass sie in den Ethnopsychologien vieler Kulturen auf das Engste mit moralischen Konzepten verknüpft und damit gewissermaßen moralisiert werden – etwa mit Konzepten der Ehre (Casimir & Jung 2009). Zum anderen dürfte aber auch der Umstand eine Rolle spielen, dass scham‑ oder schuldähnliche Emotionen in den Herkunftskultu‑ ren der meisten Autoren einen besonderen moralischen Stellenwert genießen bzw. historisch genossen haben. Aufgrund der direkten Verknüpfung von moralischen Emotionen mit kulturell variierenden Normen und Moralvorstellungen ist jedoch kaum davon auszugehen, dass überall dieselben Emotionsqualitäten in der Bedeu‑ tung und Funktion moralischer Emotionen auftreten: »[Moral] Emotions that are considered negative in one culture may be considered more positive and desirable in another.« (Goetz & Keltner 2007: 164). Darum erscheint es sinnvoll, zunächst ein möglichst breites Spektrum an potenziellen moralischen Emotionen in den Blick zu nehmen, anstatt von diskreten Emotionen auszugehen. Kulturanthropologen und ‑psychologen haben in den letzten Jahren Überle‑ gungen zur Erweiterung des Spektrums moralischer Emotionen angestellt, die sich weniger an konkreten Emotionen orientieren als vielmehr an verschiedenen sozio-moralischen Konstellationen und entsprechenden Einschätzungsdimensio‑ nen (vgl. Haidt 2003; Shweder et al. 1997; Tangney et al. 2007). Auch Lutz und White (1986: 427) schlagen ein solches Vorgehen vor: »Rather than using assumed universal biopsychological criteria or states […], it would be useful to begin with a set of problems of social relationship or existential meaning that cultural systems often appear to present in emotional terms […].« Emotionen wie shame, embarrassment oder guilt sind nach Tangney et al. (2007: 25) als kulturspezifische Formen moralischer Emotionen anzusehen, die auf einer negativen Selbstbewertung (negative self-evaluation) basieren. Ein solches Appraisal resultiert aus einer wirklichen vergangenen oder als möglich antizipierten Verlet‑ zung sozialer Normen oder Erwartungen und veranlasst Personen dazu, eigenes Fehlverhalten zu unterlassen oder zu korrigieren. Dies entspricht einer von Lutz und White (1986: 427) vorgeschlagenen Problemkonstellation: »ego’s own viola‑ 2007; von Scheve 2011). Die Befolgung und Aufrechterhaltung informeller Verhaltensregeln dürfte ebenfalls in einem engen Zusammenhang mit moralischen Emotionen stehen.

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tion of [cultural] codes, including social incompetence or personal inadequacy, and awareness of the possibility of such failure.« Auch auf positiver Selbstbewertung (positive self-evaluation) basierende Emotionen wie beispielsweise pride oder self-esteem können von moralischer Bedeutung sein, indem sie Individuen dazu motivie‑ ren, durch ihre Handlungen und Taten soziale Wertschätzung und Anerkennung zu erlangen. Von potenziell moralischer Bedeutung sind überdies Emotionen, die sich auf andere Personen bzw. auf deren Handeln beziehen, indem sie diesen gegenüber eine Bewertung zum Ausdruck bringen oder zu Sanktionshandlungen veranlassen. Solche fremdbewertenden (other-evaluative) Emotionen wie etwa Ver‑ ehrung oder Empörung im Deutschen lassen sich wiederum dahingehend unter‑ scheiden, ob sie positive Bewertungen (other-praising) oder negative Evaluationen (other-condemning) beinhalten und damit entweder normkonformes Verhalten bekräftigen oder Normverstößen entgegenwirken. Letzterem entspricht ebenfalls eine Problemkonstellation nach Lutz und White (1986: 427): »[…] the other’s viola‑ tion of cultural codes or of ego’s personal expectancies.« Aus diesen Überlegungen ergibt sich also ein vierdimensionales Modell potenzieller moralischer Emotionen.17 In der psychologisch-anthropologischen und kulturpsychologischen Literatur wurde zudem eine Reihe von Binnendifferenzierungen vorgeschlagen, die u.a. damit zusammenhängen, auf welchen Aspekt der Person sich die jeweilige Be‑ wertung bezieht. Demnach beruht etwa die negativ-selbstbewertende Emotion der Scham (shame) eher auf einer globalen Bewertung des Selbst und diejenige der Schuld (guilt) stärker auf einer Bewertung der konkreten Handlung (Lewis 1995: 71; Tracy et al. 2007). Andere negativ-selbstbewertende Emotionen wie etwa ›peinlich berührt‹ beziehen sich wiederum vorwiegend auf die Dimension der Körperlich‑ keit. In gleicher Weise lassen sich auch negativ-fremdbewertende Emotionen wie Verachtung (contempt), Wut (anger) und Ekel (disgust) differenzieren, die von Izard (1977: 329-354) als hostility-triad charakterisiert wurden. Eine solche triadische Dif‑ ferenzierung haben Rozin et al. (1999) veranlasst, empirisch zu prüfen, ob sie sich systematisch unterschiedlichen Ethiken zuordnen lässt. Dabei orientierten sie sich an den von Shweder et al. (1997) herausgestellten Ethiken der Gemeinschaft (community), Göttlichkeit (divinity) und Autonomie (autonomy), die je nach Gesellschaft unterschiedlich ausdifferenziert oder gewichtet sein können. Auf der Basis dieser Forschungsliteratur stellt Tabelle 1 mögliche Differenzierun‑ gen und damit das potenzielle Spektrum moralischer Emotionen zusammen, das allerdings keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit oder Allgemeingültigkeit erhebt. 17 | Die Unterscheidung nach positiver und negativer Bewertung wirft die Frage auf, ob diese kulturübergreifend sinnvoll anwendbar ist, wenn man bedenkt, dass etwa negativ-selbstbewertende Emotionen wie malu im indonesischen Raum positiv bewertet werden (Röttger-Rössler et al. 2013: 268). Diese Ambivalenzen lassen sich jedoch aufheben, wenn man zwischen der moralischen Bewertung einer Emotion auf der gesellschaftlichen Ebene und der Bewertung, welche betroffene Personen mit dieser Emotion vollziehen, unterscheidet. Auch im deutschen Kontext kann das Schamgefühl, welches offensichtlich eine negative Selbstbewertung mit sich bringt, in bestimmten Situationen sozial erwünscht sein. Dies kommt etwa in der Redewendung »du solltest dich schämen« zum Ausdruck. Stolz als Emotion mit positiver Selbstbewertung kann wiederum einer negativen gesellschaftlichen Wertung unterliegen, insbesondere dann, wenn er ungerechtfertigt oder als Charakterzug erscheint und entsprechend mit negativ konnotierten Begriffen wie Arroganz oder Eitelkeit assoziiert wird.

1. Theoretische Einführung

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Es lenkt jedoch den Blick auf die Vielfalt moralischer Emotionen und dient zugleich zur Orientierung bei der Erfassung dieser Emotionen in der Forschungsregion. Tabelle 1: Das Spektrum potenzieller moralischer Emotionen, gegliedert nach vier Emotionsfamilien (Spalten) und drei Möglichkeiten der sozio-moralischen Einbettung bzw. Bewertungsdimensionen (Zeilen). Emotionsfamilien

Soziale Einbettung Bewertungsdimensionen

negativ fremdbewertend -sanktionierend

negativ selbstbewertend -sanktionierend

positiv fremdbewertend -sanktionierend

positiv selbstbewertend -sanktionierend

other-condemning (Haidt 2003)

self-conscious (Haidt 2003)

other-praising (Haidt 2003)

self-praising (Haidt 2003)

hostility triad (Izard 1977)

community (Shweder et al. 1997) die ganze Person, das Selbst betreffend

Verachtung …

Scham …

Bewunderung Liebe admiration gratitude (Algoe & Haidt 2009)

Hochmut …

divinity (Shweder et al. 1997) Tierisch/unrein/ körperlich – göttlich/ rein/geistig

Ekel Abscheu sociomoral disgust (Rozin et al. 2008) …

Peinlich berührt Verlegenheit …

Verehrung Ehrfurcht elevation awe (Haidt 2003)

Gefühl der Erhabenheit …

autonomy (Shweder et al. 1997) individuelle Rechte und Autonomie

Empörung Entrüstung third-party morality (Rozin et al. 1999)

Schuldgefühl Reue …

Respekt Anerkennung …

Stolz …

D ie S ozialisationsperspektive Sozialisations- und Entwicklungsforschung Im Unterschied zur relativ jungen ethnologischen Emotionsforschung stellt die Untersuchung von Sozialisationsprozessen mindestens seit den 1920er Jahren ein integrales Themenfeld der Ethnologie dar, insbesondere der US-amerikanischen Cultural Anthropology.18 Die Frage, wie sich Kinder im Rahmen eines spezifischen kulturellen Kontextes entwickeln, sich dabei spezifische Verhaltensweisen und Überzeugungen ihres jeweiligen soziokulturellen Kontextes aneignen und damit ihre Kultur zugleich reproduzieren und transformieren, nahm in allen kulturan‑ thropologischen Strömungen eine Schlüsselstellung ein, die sich dem Verhältnis 18 | Einen aktuellen Überblick über die historische Entwicklung ethnologischer Sozialisations- und Entwicklungsforschung geben LeVine (2007), Montgomery (2008) sowie Munroe und Gauwain (2010).

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von Individuum und Gesellschaft bzw. Persönlichkeit und Kultur widmeten. Dazu gehören vor allem die Kultur- und Persönlichkeitsschule (z.B. Kardiner 1939; Mead 2001 [1928]) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie die in der zweiten Jahr‑ hunderthälfte gegründete Whiting-Schule (Whiting & Whiting 1975), deren Nach‑ folger weiterhin einflussreich sind (z.B. Harkness & Super 1986; LeVine et al. 1994; Shweder 1999; Weisner 2002). Die Kultur- und Persönlichkeitsschule ist berechtigter Kritik unterzogen wor‑ den und vor allem durch die späteren Nationalcharakterstudien in Misskredit ge‑ raten. Trotzdem kann ihr das Verdienst zugesprochen werden, über die eigene Disziplin hinaus und auch in der US-amerikanischen Öffentlichkeit der Einsicht nachhaltig Gehör verschafft zu haben, dass die menschliche Ontogenese und da‑ mit auch die in deren Verlauf ausgebildeten Persönlichkeitsmerkmale nicht aus‑ schließlich angeboren sind, sondern gleichermaßen durch soziokulturelle Bedin‑ gungen geprägt werden (Langness 1975: 98). In Reaktion auf die Kritik an den Nationalcharakterstudien hat die Whiting-Schule einen methodisch rigoroseren und thematisch stärker eingegrenzten Ansatz der Sozialisationsforschung entwi‑ ckelt, der etwa in der einflussreichen Six Cultures-Studie (Whiting & Whiting 1975) Anwendung fand und sich zunehmend von psychoanalytischen Theoremen distan‑ zierte (z.B. LeVine et al. 1994). Neben diesen beiden für die Sozialisationsperspektive besonders relevanten Schulen haben sich innerhalb der Kulturanthropologie weitere Paradigmen her‑ ausgebildet, welche die Verknüpfung von Psyche und Kultur zum Gegenstand ma‑ chen und folglich auch Sozialisationsprozesse berücksichtigen. Hierzu gehören die Kognitive Anthropologie (z.B. D’Andrade 1995; Quinn 2005), die Ethnopsychologie (z.B. Lutz 1988; Rosaldo 1980), und Person-Centered Ethnography (z.B. Levy & Hol‑ land 1998), die sich gegenwärtig unter dem institutionellen Dach der American Association for Psychological Anthropology zusammenfinden. In jüngster Zeit gibt es zudem Bemühungen, das insgesamt umfangreiche eth‑ nografische Material zu kindlichen Lebenswelten zu bündeln und als Anthropo‑ logie der Kindheit in einer eigenen Subdisziplin zu institutionalisieren (Hirsch‑ feld 2002; Lancy 2008; Montgomery 2008). Zwar fordern diese Autoren, auch die Kulturen der Kindheit als solche in den Blick zu nehmen, jedoch schließen sie die Sozialisationsperspektive im Unterschied zu früheren, ähnlichen Ansätzen (z.B. Hardman 1973) mit ein: »An anthropology of childhood should see children as both beings and becomings.« (Montgomery 2008: 9). Insgesamt zeichnen sich all diese Richtungen der ethnologischen Sozialisati‑ ons- und Kindheitsforschung durch eine Nähe zur Psychologie und zu anderen Nachbardisziplinen aus, sodass eine monodisziplinäre Perspektive kaum mehr Sinn ergibt: Trying to uncover a »pure« anthropology of childhood is impractical, especially in relation to North American anthropology, which was constructed as interdisciplinary from the start. Restricting the scope of this book only to social and cultural anthropology would mean ignoring the fields of psychological, biological, and linguistic anthropology, which have made such important contributions to the study of childhood. (Montgomery 2008: 3)

Die substanzielle Verschränkung mit der Psychologie mag ein Grund sein, wes‑ halb sowohl die britische als auch die deutschsprachige Ethnologie, die beide durch

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eine besonders skeptische Haltung gegenüber dieser Nachbardisziplin geprägt sind (Montgomery 2008: 34; Röttger-Rössler 2010), vergleichsweise wenig zu die‑ sen Forschungsfeldern beigetragen haben.19 Vonseiten der Psychologie nähern sich gegenwärtig vor allem die Subdiszipli‑ nen der kulturvergleichenden Psychologie und der Sozialpsychologie dem Gegen‑ standsbereich der soziokulturellen Prägung von Personen an. Diese Annäherungen an den traditionellen Gegenstand der Psychological Anthropology sind der Einsicht geschuldet, dass psychische Prozesse stets in einen spezifischen soziokulturellen Kontext eingebettet sind. Der vielbeachtete Aufsatz von Henrich et al. (2010), der kritisiert, dass die generalisierende Betrachtung der menschlichen Psyche zum Großteil auf Studien an den weirdest people, also an Vertretern aus der westlichen, akademischen Mittelschicht basieren, dürfte dieser Tendenz weiteren Schub ver‑ leihen. Auf besonders konsequente Weise – vor allem auch in methodischer und transdisziplinärer Hinsicht – versuchen neue Ansätze wie die Cultural Psychology (Ratner 2000) und Indigenous Psychology (Kim 1990) dem Umstand der wechselsei‑ tigen Bedingtheit von psychischen und soziokulturellen Dimensionen Rechnung zu tragen. Auch im Rahmen der Entwicklungspsychologie hat sich seit den 1970ern (vgl. Super & Harkness 1986: 549) eine Forschungsrichtung etabliert, die speziell inter‑ kulturelle Variation in den Blick nimmt. Als einflussreichste Vertreter einer kul‑ tursensitiven Entwicklungspsychologie nennt LeVine (2007) Keller (2007), Rogoff (2003), Super und Harkness (1986) und Tronick et al. (1992). Diese knüpfen in erster Linie an Konzeptionen der Whiting-Schule an und bauen damit zum großen Teil auf ethnologischen Ansätzen und Einsichten auf (vgl. Greenfield et al. 2003).20 Darüber hinaus gibt es aktuell weitere Bestrebungen, den Brückenschlag zwischen entwicklungspsychologischen und kulturwissenschaftlichen Ansätzen zu vertie‑ fen, wie der Sammelband von Jensen mit dem Titel Bridging Cultural and Developmental Approaches to Psychology (2011) programmatisch zum Ausdruck bringt.21

Skizze eines Sozialisationsmodells Vor dem skizzierten Hintergrund der Diversität ethnologischer und psycholo‑ gischer Ansätze stellt sich die Frage, welches Sozialisations- und Entwicklungs‑ modell dieser Arbeit zugrunde gelegt werden soll. Wie LeVine in einem Über‑ blicksartikel (2007: 249) bemerkt, besteht eine grundsätzliche Schwierigkeit der 19 | Im deutschsprachigen Raum finden sich lediglich einzelne Repräsentanten der Kognitiven oder Psychologischen Anthropologie (z.B. Bender et al. 2010; Erdheim 1988; RöttgerRössler 2004; Wassmann 1994). 20 | Ausschlaggebend für diesen Annäherungsprozess dürfte das interdisziplinäre Harvard Department for Human Relations gewesen sein, das in den 1950er und 1960er Jahren Soziologen, Ethnologen und Psychologen zusammenführte und Autoren wie Roy D’Andrade, Renato Rosaldo, Richard Shweder, Robert LeVine oder Barbara Rogoff hervorbrachte, die gegenwärtig von beiden Disziplinen zitiert werden und Anleihen bei beiden machen. 21 | Ebenfalls eine interdisziplinäre Synthese stellt die Ethnopsychoanalyse im deutschsprachigen Raum dar (Erdheim 1982; Nadig 1986; Parin et al. 1983), die allerdings aufgrund des relativ geschlossenen Theoriegebäudes der freudschen Psychoanalyse nur schwer eine Integration unterschiedlicher Perspektiven zulässt.

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ethnologischen Sozialisationsforschung in der Abhängigkeit von entwicklungspsy‑ chologischen Modellen, die im Laufe der Wissenschaftsgeschichte ihre Validität teilweise einbüßten. Dieser Problematik ist kaum zu entkommen, da ein Ignorie‑ ren expliziter Konstrukte zur Orientierung an impliziten Modellen führen würde, die nicht weniger kulturell bedingt sind. Allerdings ist auch hervorzuheben, dass es der ethnologischen Sozialisationsforschung in vielen Fällen schon gelungen ist, diese Modelle durch eine explizite Prüfung in spezifischen kulturellen Kontexten zu korrigieren (2007: 250) und damit eine sinnvolle Weiterentwicklung anzusto‑ ßen – die freilich kaum jemals abzuschließen ist. Aktuell sind in der Kulturanthropologie und mittlerweile auch in der kultur‑ sensitiven Entwicklungspsychologie die Sozialisationsmodelle der ecocultural niche (Weisner 1984), developmental niche (Super & Harkness 1986), cultural pathways (Greenfield et al. 2003) sowie der developmental microniche (Worthman 2010) weit verbreitet. Als Weiterentwicklungen des Modells des cultural learning environment von Whiting (1977) kommen diese Modelle darin überein, dass sie Ontogenese aus einem systemischen Ansatz heraus als einen Prozess der Wechselwirkung oder gegenseitigen Anpassung zwischen Individuen und ihrer soziokulturellen Umwelt konzeptualisieren. Nach Greenfield et al. (2003) gibt die biologische Konstitution von Individuen zwar grundsätzliche Entwicklungsaufgaben und ‑zeitfenster vor. Auf welche Wei‑ se diese gelöst und umgesetzt werden, hängt ihr zufolge jedoch wiederum von der spezifischen soziokulturellen Umwelt und individuellen Kreativität ab. Die Entwicklungsnische als Gesamtheit aller unmittelbar für die Sozialisation und Entwicklung von Kindern relevanten Aspekte der soziokulturellen Umwelt ist kei‑ neswegs als statisches Gebilde anzusehen. Vielmehr ist sie einerseits durch ihre Einbettung in übergreifende soziale und kulturelle Kontexte einem historischen Wandel unterworfen (Super & Harkness 1986: 560), andererseits passt sie sich dabei auch biologisch bedingten Entwicklungsanforderungen an. Gemäß dieser doppelten Wechselwirkung der Entwicklungsnische mit soziokulturellen Prozes‑ sen und grundsätzlichen Entwicklungsanforderungen ermöglicht sie heranwach‑ senden Kindern einen kohärenten und zugleich kulturspezifischen Entwicklungs‑ pfad (Greenfield et al. 2003). Eine solche Konzeption vermag einige Probleme zu vermeiden, die an älteren Modellen der Sozialisation und Entwicklung kritisiert wurden (vgl. Montgomery 2008: 25). Kinder werden hierbei nicht als passive Objekte eines Sozialisationsprozesses mit einem festgelegten Entwicklungsziel verstanden, vielmehr als Individuen, die sich in aktiver Auseinandersetzung mit ihrer sozialen und kulturellen Umwelt ent‑ wickeln. Durch die analytische Unterscheidung zwischen Individuen und ihrer Umwelt führen Sozialisationsprozesse diesen Modellen gemäß auch kaum zu einer uniformen Entwicklung. Entwicklungspfade geben lediglich Entwicklungsbedin‑ gungen und ‑möglichkeiten vor, die Individuen unterschiedlich erfahren bzw. er‑ greifen und aus denen sie verschiedene Schlüsse ziehen können. Es liegt auf der Hand, dass auch idiosynkratische Veranlagungen von Kindern und die stets vor‑ handene Heterogenität von Entwicklungsnischen ebenfalls zu individuellen Ent‑ wicklungsverläufen beitragen. Überdies können Entwicklungsnischen gerade auch auf soziale Diversität hin strukturiert sein (vgl. Weisner 2009). Dennoch bleibt die Sichtweise gültig, dass die Mitglieder eines soziokulturellen Milieus zahlreiche Er‑ ziehungspraktiken teilen, da diese häufig einer ausgeprägten, moralisch oder gar

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gesetzlich fundierten Normativität unterliegen und sich in gemeinsamen Erzie‑ hungszielen und Entwicklungsvorstellungen widerspiegeln (vgl. Quinn 2005: 481).22 Letztlich dürften das Erkenntnisinteresse und der thematische Fokus darüber ent‑ scheiden, ob die interindividuellen Unterschiede oder die Gemeinsamkeiten der Entwicklungsnische stärker in den Vordergrund gerückt werden. Noch in einem weiteren zentralen Punkt unterscheiden sich die hier favori‑ sierten Modelle der Entwicklungsnische von früheren Ansätzen innerhalb der Psy‑ chologischen Anthropologie. Vor allem die frühen Studien von John Whiting und seinen Mitarbeitern (z.B. Whiting & Child 1953; Whiting et al. 1958) basierten auf der Korrelation zwischen einzelnen Praktiken der frühen Kindheit wie etwa dem Abstillen oder Sauberkeitstraining und späteren Persönlichkeitsmerkmalen oder Verhaltensmustern. Die Modelle der Entwicklungsnische und des Entwicklungs‑ pfades implizieren hingegen, dass die verschiedenen Dimensionen der soziokul‑ turellen Umwelt Kindern einander ergänzende und bekräftigende Lerngelegenhei‑ ten bieten, die auch im Entwicklungsverlauf sinnvoll aufeinander auf bauen, womit der prozessuale Charakter der Sozialisation stärker in den Vordergrund tritt.23 Eine zentrale Aufgabe dieser Arbeit besteht darin, die Entwicklungsnische in ihren verschiedenen Dimensionen und ontogenetischen Veränderungen für die Kinder aus der Forschungsregion im Süden Madagaskars zu beschreiben. Es stellt sich noch die Frage, wie diese Entwicklungsnische konkreter zu fassen ist und welche Dimensionen sinnvollerweise unterschieden werden können. Auf‑ bauend auf drei gut etablierten Forschungssträngen innerhalb der ethnologischen Sozialisationsforschung, haben Super und Harkness (1986) ein dreidimensiona‑ les Modell der Entwicklungsnische herausgearbeitet. Demnach setzt sich die Ent‑ wicklungsnische aus den Dimensionen der (1) elterlichen Ethnotheorien, (2) des physisch-sozialen Umfeldes sowie (3) der Betreuungs‑ und Interaktionspraktiken zusammen. Elterliche Ethnotheorien: Mit dieser Dimension, auch geläufig unter den Bezeich‑ nungen parental belief systems (Harkness & Super 1992), cultural models of child-rearing (Quinn 2005), parental goals (LeVine 1974) oder developmental goals (Greenfield et al. 2003), sind die geteilten Vorstellungen und normativen Überzeugungen der Bezugspersonen im Hinblick auf die Kindheit, die Entwicklung und Erziehung ge‑ meint. Eingebettet sind diese elterlichen Ethnotheorien in übergreifende kulturelle Modelle oder Bedeutungssysteme, die etwa das Selbst sowie soziale Beziehungen und Interaktionen betreffen und bekanntlich in hohem Maße kulturell variieren. Das Verhältnis von elterlichen Ethnotheorien zur kindlichen Entwicklung wur‑ de in der Forschung unterschiedlich gefasst. Gemäß dem Doppelaspekt von Be‑ deutungssystemen als Modellen für und von Realität (Geertz 1973: 94) gehe ich davon aus, dass elterliche Ethnotheorien einerseits das Betreuungs‑, Erziehungs‑ und Interaktionsverhalten der Bezugspersonen leiten, andererseits aber auch 22 | Selbst in pluralistisch geprägten westlichen Industriegesellschaften dürften beispielsweise staatliche Bildungsinstitutionen von der Kleinkindbetreuung über Kindergärten und Schulen bis hin zu Universitäten sowie beratende Hebammen, Kinderärzte, Psychologen oder Erziehungsratgeber für eine gewisse Homogenität der Entwicklungsnische sorgen. 23 | Auch Quinn (2005: 484) orientiert sich mit dem Konzept der experiential constancy an einem Sozialisationsmodell, das anstelle einzelner, traumatischer Erfahrungen in der frühen Kindheit die Kontinuität des Sozialisationsprozesses in den Vordergrund stellt.

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als Beschreibungen der kindlichen Realitäten zu sehen sind und damit zugleich einen emischen Zugang zum Sozialisationsgeschehen erlauben. Überdies werden Aspekte dieser kulturellen Modelle direkt kommuniziert und formen damit die kindliche Wahrnehmung und Interpretation ihrer Sozialisationserfahrungen. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, die elterlichen Ethnotheorien durch die Perspektiven der Kinder zu ergänzen, die offensichtlich auch von denjenigen der Bezugspersonen abweichen können. In der Forschung wurde die kindliche Per‑ spektive häufig vernachlässigt, was neben methodischen Schwierigkeiten, insbe‑ sondere bei Säuglingen und Kleinkindern, auch auf ein unidirektionales Sozialisa‑ tionsmodell zurückgeführt werden kann.24 Soziales Umfeld: Diese Dimension bezieht sich auf die soziale Strukturierung der kindlichen Erfahrungswelt, betrifft also die Frage, wer die Bezugspersonen und Interaktionspartner von Kindern sind und wie diese jeweils mit ihnen inter‑ agieren. Besonders hervorgehoben wurde in der ethnologischen Forschung, dass in vielen Gesellschaften neben den leiblichen Eltern auch viele andere Personen wichtige Bezugspersonen darstellen können, was mit Termini wie polimatric‑ (Lei‑ derman & Leiderman 1974), child‑ and sibling‑ (Weisner & Gallimore 1977) oder multiple caretaking (Tronick et al. 1987) herausgestellt wurde. Eingebettet ist diese Dimension der Entwicklungsnische vor allem in ökonomi‑ sche und übergreifende soziale Systeme oder Institutionen. Das soziale Umfeld von Kindern variiert beispielsweise stark in Abhängigkeit davon, ob Eltern ihren öko‑ nomischen Aktivitäten am Wohnort oder an einem separaten Arbeitsplatz nachge‑ hen, ob spezielle Institutionen wie etwa Kindergärten oder Schulen existieren oder wie viele Mitglieder Haushalte umfassen. In der entwicklungspsychologischen Forschung liegt der Fokus allerdings häu‑ fig von vornherein auf Eltern, insbesondere auf Müttern als Bezugspersonen von Kindern (vgl. Dunn 2007; Updegraff et al. 2011; Whiteman et al. 2011). Dies kann in kulturvergleichender Perspektive jedoch zu Fehleinschätzungen führen, da we‑ sentliche soziale Erfahrungen, die Kinder mit nicht-elterlichen Bezugspersonen machen, auf diese Weise gar nicht erst in den Blick kommen. Zum Beispiel besteht die Möglichkeit, dass Kinder in einer Gruppe von Gleichaltrigen gänzlich andere emotionale Erfahrungen machen als mit ihren Eltern, was insbesondere dann ent‑ scheidend ist, wenn sich Kinder vorwiegend in solchen Gruppen aufhalten. Wie noch zu sehen sein wird, hat die spezifische Strukturierung des sozialen Umfeldes entscheidenden Einfluss auf die Ausdifferenzierung und soziale Einbettung von Emotionen. Betreuungs- und Interaktionspraktiken: Diese Dimension betrifft die beobacht‑ baren Interaktionsmuster und ‑dynamiken zwischen Kindern und ihren sozialen Partnern. In der Sozialisationsforschung werden diese unter Bezeichnungen wie 24 | Die Hinwendung zur kindlichen Perspektive in der neueren ethnografischen Kindheitsforschung (Lancy 2008; Montgomery 2008) scheint interessanterweise mit dem Aufkommen eines kindzentrierten Interaktionsstils in den postmodernen Herkunftskulturen der Ethnologen zu korrelieren, der sich durch eine weitgehende Orientierung der Bezugspersonen an den Motiven, Vorlieben und Emotionen der Kinder auszeichnet. Die älteren Modelle der Sozialisation als Transmission entsprechen hingegen eher den elternzentrierten Perspektiven in stärker hierarchisch organisierten Gesellschaften, denen zufolge sich Kinder an den Älteren orientieren und deren Werte übernehmen sollen.

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customs of child care (LeVine 1988), child-rearing practices (Quinn 2005), parenting (Keller 2007) oder socialization practices (Greenfield et al. 2003) behandelt. Da Be‑ treuungs- und Interaktionspraktiken von den Beteiligten mit Bedeutungen ver‑ sehen werden bzw. da sie aus Intentionen resultieren und zugleich Teil von sozia‑ len Strukturen und Beziehungen sind, handelt es sich hierbei um Brennpunkte der Entwicklungsnische. In der ethnologischen Sozialisationsforschung, insbesondere innerhalb der Whiting-Schule, haben diese Betreuungs- und Interaktionspraktiken breiten Raum eingenommen. Allerdings lag der Fokus, wie bereits erwähnt, häufig auf isolierten Praktiken wie toilet training oder weaning, die auf Grundlage psychoanalytischer Theoreme als besonders einflussreich für die Persönlichkeitsentwicklung betrach‑ tet wurden. Das component model of parenting von Heidi Keller (2007: 16) bietet einen offeneren und mehrdimensionalen Rahmen für die Beobachtung und Be‑ schreibung von Betreuungs- und Interaktionspraktiken. Deshalb soll es hier zur Orientierung dienen – allerdings ohne die Einschränkung auf elterliche Praktiken zu übernehmen. Im Unterschied zu Whitings (1977) model of psychocultural research, das den sozioökonomischen Bedingungen einen primären Stellenwert zuweist, oder zu kulturkonstruktivistischen Sozialisationskonzeptionen (Lutz 1983), die den kulturellen Modellen der Eltern den Vorrang geben, verstehe ich das Verhält‑ nis der drei beschriebenen Dimensionen der Entwicklungsnische als grund‑ sätzlich interdependent und gleichrangig. Es stellt sich meines Erachtens nicht die Frage, ob die Sozialisation primär auf den kulturellen Modellen der Be‑ zugspersonen, den Beziehungsstrukturen oder konkreten Praktiken beruht. Vielmehr betrachte ich diese als komplementär und einander bekräftigend.25 Dies schließt freilich die Möglichkeit nicht aus, dass diese Dimensionen in ihrer Bedeutung für Kinder divergieren, insbesondere unter den Bedingungen einer starken Transformationsdynamik. Die Einführung von Schulen verändert bei‑ spielsweise zunächst unmittelbar das soziale Umfeld, da Kinder unter solchen Umständen einen Großteil ihrer Zeit mit einer bestimmten Altersgruppe unter der Autorität einer häufig fremden Person verbringen. Auch die Situation für Vor‑ schulkinder würde sich damit ändern, da Schulkinder dann nicht mehr ganztägig als Betreuungs- oder Interaktionspartner zur Verfügung stünden. Durch die Leh‑ rer können neue Interaktionsmuster eingeführt werden, die möglicherweise den‑ jenigen der Eltern widersprechen. Die elterlichen Ethnotheorien werden durch die Schulpädagogik oder durch neu erworbenes Wissen der Schüler möglicherweise infrage gestellt, was wiederum die Betreuungsformen außerhalb der Schule be‑ einflusst. Das Modell der Entwicklungsnische eignet sich also durchaus auch zur Beschreibung von komplexen Transformationsdynamiken.

25 | Vgl. dazu auch Briggs (1978: 58), die zumindest die beiden Dimensionen der kulturellen Modelle und sozialen Erfahrungen als gleichbedeutend für die Sozialisation ansieht.

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D ie P erspektive der E motionssozialisation Nachdem die Emotions- und Sozialisationsperspektiven gesondert betrachtet wur‑ den, stellt sich nun die Frage, wie diese aufeinander bezogen werden können, wie also die Entwicklung und Sozialisation von Emotionen zu konzeptualisieren ist. Konkret gilt es die Frage zu beantworten, welche Aspekte der soziokulturellen Ent‑ wicklungsnische für die Entwicklung von Emotionen im Allgemeinen und von moralischen Emotionen im Besonderen als relevant betrachtet werden können. Die Beantwortung dieser Frage hängt wiederum von einem Entwicklungsmodell der Emotionen ab, das sich mit der aufgezeigten Sozialisationsperspektive verschrän‑ ken lässt. Von entwicklungspsychologischer Seite haben Holodynski und Friedlmeier (2006) auf der Basis aktueller empirischer Forschung ein Modell der Emotions‑ entwicklung entwickelt, das sich gut mit der Sozialisationsperspektive vereinbaren lässt, da es die Herausbildung von Emotionen konsequent auf Interaktionen zwi‑ schen Kindern und ihren Sozialisationspartnern zurückführt. Dieses Modell ziehe ich insbesondere zur Analyse der Emotionssozialisation in den ersten Lebensjah‑ ren heran. Speziell im Hinblick auf die Sozialisation moralischer Emotionen bietet die Kulturanthropologin Naomi Quinn (2005) ein sinnvolles Sozialisationsmodell, das mir ebenfalls zur Orientierung dient.

Ko-Konstruktion des Emotionalen im Säuglingsalter Eine zentrale Annahme des Entwicklungsmodells von Holodynski und Friedlmeier (2006: 87-92) besteht darin, dass emotionale Prozesse in den ersten Lebensmona‑ ten noch gänzlich auf das Neugeborene und seine Bezugspersonen aufgeteilt sind und sich somit die Ausbildung von Emotionen von Beginn an in sozialen Inter‑ aktionen vollzieht. Unmittelbar nach der Geburt verfügen Säuglinge demnach le‑ diglich über sogenannte Vorläuferemotionen, deren Ausdrucksformen Schreien, Naserümpfen, Zusammenzucken, gerichtete Aufmerksamkeit und Lächeln um‑ fassen und mit Distress, Ekel, Erschrecken, Interesse und endogenem Wohlbeha‑ gen in Verbindung gebracht werden.26 Bei Vorläuferemotionen handelt es sich den Autoren zufolge insofern nicht um vollständige Emotionen, als auf der Seite von Neugeborenen nicht alle Emo‑ tionskomponenten ausgebildet sind. Anstelle von kognitiven, auf spezifische An‑ lässe gerichteten Appraisalprozessen fungieren sensomotorische Reizschwellen als Auslöser von Vorläuferemotionen. Auch sind Neugeborene noch nicht in der Lage, gezielte Bewältigungshandlungen auszuführen. Indem Bezugspersonen das Ausdrucksverhalten des Säuglings interpretieren, es mit einem Anlass in Verbin‑ dung bringen und eine entsprechende Bewältigungshandlung vollziehen, vervoll‑ ständigen sie das emotionale Geschehen. Zudem greifen Bezugspersonen häufig 26 | Zwar muss man davon ausgehen, dass diese Ausdrucksformen angeboren sind, da – abgesehen von pränatalen Umwelteinflüssen – der soziokulturelle Einfluss mit der Geburt erst seine Wirkung zu entfalten beginnt. Jedoch ist zu bedenken, dass diese Ausdrucksformen von Interaktionspartnern gemäß ihren Emotionskonzepten interpretiert werden, und die angeführten Differenzierungen somit nicht von vornherein Allgemeingültigkeit beanspruchen können.

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den Ausdruck des Säuglings auf und geben diesen entsprechend ihrer Interpre‑ tation in einer prägnanten und markanten Art und Weise wieder, was Säuglinge wiederum zu einer nachahmenden Anpassung ihres Ausdrucks veranlassen kann. Diese Interaktionsform, von Holodynski und Friedlmeier als affektreflektierendes Spiegeln bezeichnet (2006: 100), kann eine Intensivierung und Konkretisierung des Emotionsausdrucks aufseiten des Säuglings herbeiführen. Die Autoren gehen davon aus, dass die sich wiederholenden Muster der inter‑ personalen Koregulation von Emotionsepisoden im Laufe des ersten Lebensjahres zu einer Vervollständigung, Ausdifferenzierung und Spezifikation des Emotions‑ repertoires von Säuglingen führen. Dies geschehe, indem Säuglinge allmählich lernen, die verschiedenen Konfigurationsmuster aus Anlässen, Körperempfindun‑ gen, Ausdrucksformen und Bewältigungshandlungen als Zusammenhang zu er‑ fahren und entsprechend miteinander zu verbinden. Durch konventionalisiertes Affektspiegeln entwickeln Säuglinge den Autoren zufolge darüber hinaus ein sym‑ bolisches Verständnis von Emotionsausdrücken, was sich etwa in intentionalem Schreien manifestiert oder in der Fähigkeit, den Ausdruck von Bezugspersonen als Bewertung einer Situation zu verstehen. Unter der Voraussetzung, dass das Bewusstsein grundsätzlich symbolvermittelt ist, befähigt die Symbolisierung des Ausdrucks zu einem ersten bewussten Gefühlserleben, das später durch sprachli‑ che Emotionskategorisierungen weiter konkretisiert wird. Vor diesem Hintergrund betrachten die Autoren die Symbolisierung als einen integrativen Bestandteil der Herausbildung von Emotionen einschließlich der Gefühlsdimension. Dieses Modell fokussiert zwar die individuelle Emotionsentwicklung, doch im‑ pliziert es zugleich eine zunehmende Einbettung des Emotionalen in spezifische Beziehungen. Die emotionalen Ausdrucksformen beispielsweise werden in Inter‑ aktionen nicht nur als Bestandteile personaler Emotionen herausgebildet, sondern zugleich auch als interpersonale Kommunikationsmedien formiert. Die Muster der Bewältigungshandlungen durch Bezugspersonen werden ebenso nicht nur von Kindern übernommen, sondern führen auch zu Erwartungen gegenüber den Be‑ zugspersonen und prägen damit die Bindungsformen. Es stellt sich die Frage, inwiefern dieses Entwicklungsmodell auf den Sozia‑ lisationskontext, den ich als Entwicklungsnische konzeptualisiert habe, bezogen werden kann und damit die Möglichkeit bietet, kulturspezifische Entwicklungs‑ verläufe in den ersten Lebensjahren zu erhellen. Zunächst ist klar, dass ein Modell der Emotionsentwicklung, dem zufolge sich Emotionen aus der Internalisierung anfänglich interpersonaler Prozesse herausbilden, sozialen und kulturellen Ein‑ flüssen gegenüber grundsätzlich offen ist. Zwar wird Bezugspersonen von entwicklungspsychologischer Seite teil‑ weise eine intuitive oder gar genetisch determinierte Didaktik im Umgang mit Säuglingen unterstellt (z.B. Papoušek & Papoušek 1999); zahlreiche ethnologische und kulturpsychologische Studien weisen jedoch darauf hin, dass sich die Betreu‑ ungs- und Interaktionsstile sowie entsprechende elterliche Ethnotheorien je nach soziokulturellem Milieu beträchtlich unterscheiden können. So haben etwa Robert LeVine und seine Mitarbeiter anhand einer aufwändigen Studie zu Praktiken der Säuglingsbetreuung in der US-amerikanischen Mittelschicht Bostons und in einer Gemeinschaft der Gusii aus Kenia herausgestellt, dass sich die Bezugspersonen aus den USA an einem ›pädagogischen‹ und jene aus Kenia an einem ›pädiatri‑ schen‹ kulturellen Modell orientieren (LeVine et al. 1994: 249). Auf der Basis zahl‑

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reicher Studien in unterschiedlichen kulturellen Kontexten hat Heidi Keller in ähnlicher Weise eine Differenzierung zwischen ›distalen‹ und ›proximalen‹ Inter‑ aktionsstilen vorgenommen (Keller 2007: 142). Das pädagogische Modell bzw. der distale Interaktionsstil geht u.a. mit häufigen face-to-face-Interaktionen einher und begünstigt somit etwa ein ausgeprägtes mimisches Affektspiegeln und verbale Kommunikationen. Das pädiatrische Modell bzw. der proximale Interaktionsstil bringt hingegen eine Konzentration auf das körperliche Wohl mit sich und impli‑ ziert somit stärker körperbezogene Regulationsformen des Emotionalen. Dass den Bezugspersonen bestimmte Umgangsformen intuitiv als richtig oder gar natürlich erscheinen, dürfte also weniger auf eine genetische Veranlagung als vielmehr auf normative, zumeist implizite kulturelle Modelle zurückzuführen sein. Über diese binär konstruierten Unterscheidungen für kulturell bedingte Inter‑ aktionsstile hinaus ist es naheliegend, dass sich elterliche Ethnotheorien auch im Hinblick auf einzelne Emotionsqualitäten unterscheiden. Somit bestehen vielfälti‑ ge Variationsmöglichkeiten hinsichtlich der Art und Weise, wie Bezugspersonen diesen oder jenen Emotionsausdruck von Säuglingen interpretieren, mit welchen Regulationsstrategien und wie prompt sie darauf reagieren oder mit welchen Mit‑ teln und wie stark sie das eine oder andere Ausdrucksverhalten spiegeln. Aus der jeweiligen sozialen Strukturierung der Entwicklungsnische ergeben sich weitere Differenzierungsmöglichkeiten hinsichtlich des emotionalen Reper‑ toires. Denn es ist anzunehmen, dass nicht alle Bezugspersonen in gleicher Weise mit Säuglingen umgehen. In Gesellschaften mit ausgeprägtem Senioritätsprinzip etwa dürften kindliche Interaktionspartner gänzlich andere Interaktionsstile mit Säuglingen pflegen als Erwachsene. Bedenkt man, dass sich die Emotionsent‑ wicklung nicht nur als Internalisierung vollzieht, sondern zugleich mit der Eta‑ blierung von Beziehungs- und Bindungsmustern einhergeht, so ist die Annahme naheliegend, dass die jeweilige soziale Strukturierung auch zu einer spezifischen sozialen Diversifizierung von Emotionen beiträgt. So haben Leiderman und Lei‑ derman (1974) darauf hingewiesen, dass sich Mütter und kindliche Babysitter einer Kikuyu-Gemeinschaft Kenias in der emotionalen Kommunikation mit Säuglingen beträchtlich unterscheiden. Da kulturpsychologische Studien zur Emotionsent‑ wicklung größtenteils Eltern-Kind-Interaktionen in den Blick nehmen, ist die Frage nach der sozialen Diversifizierung des Emotionalen bislang im Rahmen dieser Dis‑ ziplin kaum behandelt worden. Die sozial- und kulturanthropologische Forschung hat zwar mehrfach auf die zentrale Rolle von älteren Geschwistern, Tanten, Onkeln oder Großeltern als Betreuungspersonen hingewiesen, der Bedeutung von gleich‑ altrigen Interaktionspartnern für die Sozialisation von Kindern wurde allerdings auch in dieser Disziplin wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Ein zentrales Anliegen der vorliegenden Arbeit besteht darin, dieses Manko zu beheben und das gesamte soziale Umfeld von Kindern unter dem Gesichtspunkt der Emotionssozialisation zu untersuchen.

Sozialisation moralischer Emotionen in der Kindheit Kinder werden früher oder später mit der Anforderung konfrontiert, ihre Emo‑ tionen sowie die korrespondierenden Handlungstendenzen mit den jeweiligen Er‑ wartungen der Bezugspersonen und allmählich auch mit den Erwartungen und moralischen Standards der weiteren sozialen Umwelt abzustimmen. Dies wird

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umso dringlicher, je mehr Kinder einen eigenen Willen entwickeln und die Fähig‑ keit zu selbständigem Handeln erlangen, weil damit spezifische Konfliktpotenziale auftreten. Die Handlungsabsichten und Wünsche von Kindern können zum einen in Widerspruch mit den Interessen der Bezugspersonen oder mit sozialen Regeln treten. Zum anderen erwarten Personen aus dem sozialen Umfeld von Kindern zu‑ nehmend, dass sie bestimmte Handlungen auch dann ausführen, wenn sie ihren momentanen Gemütslagen widersprechen. Zumindest in euro-amerikanischen Kontexten können derartige Interessenkonflikte zu heftigen kindlichen Trotzan‑ fällen führen. Eine zentrale Lernaufgabe von Kindern besteht darin, ihre aktuellen Emotio‑ nen, Motive und Wünsche zurückzustellen oder zu modifizieren, sofern sie den Regeln des Miteinanders widersprechen. Beim Erlernen einer solchen sozialen Ausrichtung des Handelns und emotionalen Verhaltens dürften die oben einge‑ führten moralischen Emotionen eine entscheidende Rolle spielen (Holodynski & Friedlmeier 2006: 124). Denn moralische Emotionen bewerten und sanktionieren eigenes oder fremdes Handeln gerade nach Maßgabe von sozialen Normen und führen zugleich zu einer starken Handlungsbereitschaft, diesen zu entsprechen oder soziale Partner zu sanktionieren. In euro-amerikanischen Kontexten beginnt die Entwicklung moralischer Emotionen wie Scham oder Stolz am Ende des zwei‑ ten bzw. zu Beginn des dritten Lebensjahres, weil in diesem Alter auch erforder‑ liche kognitive Fähigkeiten, wie eine bewusste Selbstwahrnehmung oder das Ver‑ ständnis für soziale Erwartungen entstehen (Lagutta & Thompson 2007: 92). Es liegt auf der Hand, dass sich moralische Emotionen aufgrund spezifischer Interaktions- und Erziehungspraktiken herausbilden. Einen theoretischen Rah‑ men zur näheren Bestimmung solcher Sozialisationspraktiken bietet die Kulturan‑ thropologin Naomi Quinn in ihrem Artikel Universals of Child Rearing (2005). Auf der Grundlage von einschlägigen Ethnografien zur Norm- und Wertsozialisation in verschiedenen soziokulturellen Kontexten, arbeitet sie vier Sozialisationsstrategien und -mechanismen heraus, die mutmaßlich kulturübergreifend eingesetzt wer‑ den, um Kinder an die Normen und Werte der jeweiligen Kultur heranzuführen. Demnach zielen Bezugspersonen in ihren Erziehungsbemühungen auf eine emo‑ tionale Erregung (emotional arousal) seitens des Kindes und bringen zugleich eine positive oder negative Bewertung (evaluation) bezüglich des kindlichen Verhaltens zum Ausdruck. Zudem geht Quinn davon aus, dass Kinder aufgrund ihrer Interak‑ tionserfahrungen in den ersten Lebensjahren eine besondere Empfänglichkeit für die emotionalisierenden und bewertenden Praktiken ihrer Bezugspersonen entwi‑ ckeln (predisositional priming). Nicht zuletzt betont Quinn, dass das soziale Umfeld Kindern zahlreiche Gelegenheiten bietet, die zentralen Lektionen immer wieder aufs Neue und mit unterschiedlichen Partnern zu erfahren (experiential constancy). Zwar konzentriert sich Quinn auf die Norm- und Wertesozialisation, jedoch spie‑ len moralische Emotionen in ihrer Konzeption eine zentrale Rolle als Mediatoren der Sozialisationsprozesse. Im Folgenden werde ich diese Konzeption im Hinblick auf die Sozialisation moralischer Emotionen zuspitzen und dabei zunächst auf die Strategien der Emotionalisierung und Bewertung als Bestandteile von Sanktions‑ praktiken eingehen. Mit emotionalisierenden Sanktionspraktiken wie praising, teasing, frightening, beating oder shaming zielen Bezugspersonen darauf, bei ihren Kindern intensive Emotionen hervorzurufen. Quinn (2005: 481) argumentiert, dass sich derartige

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Praktiken der Emotionalisierung überall etabliert haben, weil sie starke hormonale und neuronale Aktivitäten hervorrufen, durch die sich Kinder die Erziehungsepi‑ sode besonders gut einprägen. Diese physiologische und neurologische Argumen‑ tation lässt sich durch eine emotionswissenschaftliche Perspektive ergänzen (vgl. Röttger-Rössler et al. 2013): Bezugspersonen greifen in der Regel dann auf Erzie‑ hungspraktiken der Emotionalisierung zurück, wenn Kinder den aufgestellten Re‑ geln zuwiderhandeln und es zu einem Interessenkonflikt kommt oder aber wenn sie sozialen Erwartungen besonders gut entsprechen. Indem Bezugspersonen Kinder beispielsweise ängstigen oder loben, initiieren sie Emotionen, die Kinder dazu motivieren sollen, den Erwartungen der Bezugspersonen aktuell und auch dauerhaft zu entsprechen. Eine Passage von Catherine Lutz zur Sozialisation von metagu (≈ Angst) bei den Ifaluk, die Quinn (2005: 492) zur Illustration der Emo‑ tionalisierung heranzieht, entspricht diesem Zusammenhang: Kindern, die sich etwa aggressiv gegenüber ihren Peers verhalten, wird damit gedroht, einen kinder‑ fressenden Geist herbeizurufen, woraufhin sie dieses Fehlverhalten aufgrund von metagu unterlassen. Entscheidend hierbei ist, dass die durch Erziehungspersonen hervorgerufene Emotion jene Wünsche, Emotionen oder Motive überlagert, durch die das Kind in Widerspruch zu den sozialen Erwartungen geraten war. Der Um‑ stand, dass Bezugspersonen diese Emotionen gezielt hervorrufen, verweist bereits auf ihre moralische Bedeutung. Unter evaluation versteht Quinn den Umstand, dass Bezugspersonen eine Wertschätzung oder Missbilligung gegenüber Kindern bzw. ihrem Verhalten und Handeln zum Ausdruck bringen und so deren Aufmerksamkeit auf die moralische Qualität ihrer Person oder ihres Tuns lenken. Diese Bewertungen können sowohl sprachlich als auch über verschiedene Formen des Emotionsausdrucks vermittelt werden. Ich gehe davon aus, dass insbesondere fremdbewertende Emotionen mit ihren entsprechenden Ausdrucksformen eine zentrale Rolle bei der Vermittlung dieser Bewertungen spielen. Ähnlich argumentiert auch Michael Lewis (1995: 109), dass Bezugspersonen im US-amerikanischen Kontext häufig unbewusst disgust oder contempt gegenüber kindlichem Fehlverhalten zum Ausdruck bringen, was er als einen entscheidenden Beitrag zur Sozialisation von shame betrachtet. Man kann jedoch kaum voraussetzen, dass derartige Ausdrucksformen von vornherein überzeugend und motivierend auf Kinder wirken. Ihre Überzeugungskraft dürfte vielmehr aus dem Umstand resultieren, dass Bezugspersonen solche Bewertungen zunächst in Verbindung mit emotionalisierenden Praktiken einsetzen. Mit der Emotionalisierung und Bewertung vermitteln Sanktionspraktiken zwei integrale Bestandteile von moralischen Emotionen, weshalb auch andere Autoren diesen Praktiken eine zentrale Bedeutsamkeit für die Sozialisation moralischer Emotionen beimessen (z.B. Lagattuta & Thompson 2007: 98). Es ist klar, dass die Präferenzen für bestimmte Sanktionspraktiken und die Art und Weise, wie sie ein‑ gesetzt werden, je nach soziokulturellem Milieu beträchtlich variieren können. In der vorliegenden Arbeit werde ich den favorisierten Sanktionspraktiken der Eltern sowie den entsprechenden Erfahrungen der Kinder besondere Aufmerksamkeit schenken. Vor allem in Anlehnung an Jean Briggs’ (1982, 1998) Ausführungen zur Emo‑ tionssozialisation in einer Gemeinschaft der Inuit entwickelt Quinn den Begriff des predispositional priming. Damit bezieht sie sich auf Praktiken, die in der Säug‑ lings- und frühkindlichen Phase eine emotionale Empfänglichkeit für die späteren

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Lektionen und Sanktionen durch die Bezugspersonen begünstigen. Quinn zufolge sind darunter emotionale Dispositionen wie etwa »a sense of shame« oder »fear‑ fulness on the threat of physical punishment« zu verstehen (Quinn 2005: 502). Allerdings ist fraglich, ob diese emotionalen Sensibilitäten in den ersten Lebens‑ jahren schon vorausgesetzt werden können. Wie das zweite Beispiel verdeutlicht, beruhen diese Prädispositionen bereits auf der Erfahrung von Sanktionen in der Vergangenheit, für die das Kind mit dem predispositional priming eigentlich erst sensibilisiert werden soll. Derartige Unstimmigkeiten lassen sich vermeiden, indem man das predispositional priming mit den oben beschriebenen emotionalen Regulations- und Bin‑ dungsmustern gleichsetzt, die sich in den ersten beiden Lebensjahren zwischen Kind und Bezugspersonen herausbilden (vgl. Lagattuta & Thompson 2007: 100). Die Regulations- und Bindungsmuster sind deshalb als entscheidende Vorausset‑ zungen für die kindliche Empfänglichkeit gegenüber später auftretenden Sank‑ tionspraktiken anzusehen, weil sich Bezugspersonen bei der Sanktionierung auf körperliche, soziale oder emotionale Abhängigkeiten von Kindern stützen. Die von Holodynski und Friedlmeier (2006: 127) als Beispiel für den sozialen Ausschluss angeführte Sanktionsepisode, bei der ein Vater sein schreiendes Kind in ein an‑ deres Zimmer bringt und damit vorübergehend ausgrenzt, trifft das Kind gerade deshalb schmerzlich, weil es die Erwartung entwickelt hat, dass ihm sein Vater in ›Notsituationen‹ emotionale Zuwendung schenkt. Eine derartige emotionale Zu‑ rückweisung wäre wohl weniger wirkungsvoll oder hätte gänzlich andere Folgen, wenn das Kind ohnehin ein emotional distanziertes Verhältnis zum Vater entwi‑ ckelt hätte. Mit dem vierten Entwicklungsmechanismus, der experiential constancy, bezieht sich Quinn (2005: 484) auf den Umstand, dass Kinder bestimmte Sanktionsepiso‑ den und damit verbundene Lektionen in ähnlicher Form immer wieder aufs Neue und mit unterschiedlichen sozialen Partnern erfahren. Im Rückgriff auf neurologi‑ sche Modelle argumentiert Quinn (2005: 480), dass diese Erfahrungskonstanz zu stabilen synaptischen Mustern führe. Aus einer kognitiven Perspektive betrachtet, ermöglichen wiederkehrende Sanktionen und Lektionen dem Kind, die entschei‑ denden Aspekte der erlebten Episoden, also die Bewertungen durch die Bezugs‑ person in Bezug auf allgemeine soziale Regeln und das eigene situative Handeln sowie die dabei erlebten Emotionen, in einem kognitiven Schema, einem mentalen Szenario zu kondensieren. Gemäß dem oben eingeführten Emotionsmodell fungieren solche kognitiven Schemata zu wiederkehrenden sozialen Szenarien letztlich als Appraisal für mo‑ ralische Emotionen (vgl. Engelen et al. 2009; LeDoux 2000; Leventhal & Scherer 1987). Denn sie erlauben es Kindern, die in der Vergangenheit im Rahmen von Sanktionsepisoden erlebten Fremdbewertungen und (un)angenehmen Emotionen als Konsequenzen moralisch relevanter Handlungen oder Interaktionen zu anti‑ zipieren. Erst eine solche kognitive Über- und Vorwegnahme sozialer Bewertun‑ gen und Sanktionen führt zur Herausbildung von selbstbewertenden moralischen Emotionen. Davon ist auszugehen, weil zum einen die Fremdbewertungen erst zusammen mit einer entsprechenden Selbstbewertung Wirkung entfalten, zum anderen, weil diese Emotionen nur dann ihre volle moralische Funktion erfüllen können, wenn sie nicht als Konsequenz von Bewertungen und Sanktionen, son‑ dern schon bei der Erwägung von Verhaltens- und Handlungsalternativen auftre‑

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ten. Denn erst damit wird Kindern möglich, ihr Tun und Lassen eigenständig an den sozialen Erwartungen ihrer Bezugspersonen und den Normen und Werten des weiteren sozialen Kontextes zu orientieren. Die Emotion metagu etwa kann die von Lutz beschriebene moralische Funktion, Kinder von Fehlverhalten abzuhalten, nur dann erfüllen, wenn diese anlässlich einer Aggressionstendenz gegenüber ihren Peers das bereits vorher erlebte Szena‑ rio antizipieren, dass die sanktionierende Bezugsperson androhen würde, einen kinderfressenden Geist herbeizurufen. Aus der von Holodynski und Friedlmeier beschriebenen Angst und Hilflosigkeit des vom Vater ausgeschlossenen Kindes entwickelt sich erst dann Scham, wenn sich das Kind bei einer drohenden Wieder‑ holung dieser Episode an die emotionale Zurückweisung erinnert, diese antizipiert und damit gewissermaßen virtuell wiedererlebt und vorfühlt. Im Anschluss an das Entwicklungsmodell von Holodynski und Friedlmeier (2006) und Appraisal-Theorien (Engelen et al. 2009; LeDoux 2000; Leventhal & Scherer 1987) gehe ich davon aus, dass die Sozialisation von moralischen Emotio‑ nen durch eine zunehmende Verfestigung und Ausdifferenzierung von kognitiven Schemata zu den erfahrenen Sanktions- und Bewertungsszenarien voranschreitet. Dies impliziert zugleich eine Entwicklung der Fähigkeit zur Antizipation der so‑ zialen Konsequenzen eigener Handlungen. Wie sich dieser Prozess im jeweiligen Kontext genau vollzieht, ist freilich eine auf empirischem Wege zu beantwortende Frage. Ein solches Sozialisations- und Entwicklungsmodell moralischer Emotionen schließt gleichermaßen eine Ausdifferenzierung auf individueller Ebene und eine zunehmende Einbettung in den soziokulturellen Kontext ein. Denn zum einen ermöglicht die Verinnerlichung des Sanktionsgeschehens gerade eine auch in die Zukunft ausgedehnte Ausrichtung des eigenen Handelns und Verhaltens an sozia‑ len Beziehungen, Normen und Werten. Zum anderen bleiben auch die externen Bewertungen und Sanktionen als Anlässe für moralische Emotionen im Erwach‑ senenalter bestehen und können etwa in Form von religiösen Glaubensformen oder staatlichen Rechtssystemen institutionalisiert werden. Röttger-Rössler (2014a) führt das Beispiel eines indonesischen Studenten an, der nach der Rückkehr von einem langjährigen Deutschlandaufenthalt realisierte, dass er verlernt habe, kon‑ tinuierlich malu (≈ Scham) zu zeigen. Dies unterstreicht, wie wichtig ein entspre‑ chender sozialer Kontext ist, der solche Emotionen bekräftigt.

Z usammenfassung und I mplik ationen für die S truktur der A rbeit Emotionen verstehe ich als mehrdimensionale Prozesse, die sich aus dem Zusam‑ menspiel von Einschätzungen motivrelevanter Situationen, Körperreaktionen, Ausdrucksformen, Handlungstendenzen und Gefühlen als subjektive Entspre‑ chungen ergeben. Zwar sind diese Prozesse auf der individuellen Ebene verankert, jedoch bilden sie sich erst in sozialen Interaktionen sowie durch die Vermittlung von symbolischen Systemen heraus und bleiben auch in einzelnen Episoden in spezifische soziale und kulturelle Kontexte eingebettet. Die verschiedenen Kom‑ ponenten von Emotionen sowie die biologischen, sozialen und kulturellen Entste‑ hungsbedingungen betrachte ich gleichermaßen als konstitutiv. Dagegen halte ich

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die Frage nach dem möglichen Primat einer dieser Dimensionen für obsolet. Emo‑ tionale Konfigurationen in verschiedenen soziokulturellen Kontexten betrachte ich weder als vollkommen unterschiedlich noch als genau identisch; sie sind einander schlicht ähnlich und es hängt vom Erkenntnisinteresse ab, ob die Unterschiede oder Gemeinsamkeiten in den Vordergrund gehoben werden, wobei ich im Folgen‑ den stärker auf die Spezifika abhebe. Im ersten Teil dieser Arbeit nähere ich mich dem emotionalen Repertoire, ins‑ besondere den moralischen Emotionen der Menschen aus der Forschungsregion im südlichen Madagaskar an. Da sich die Spezifika und Differenzierungen dieses Repertoires aus sozialen Interaktionsmustern und Bedeutungszuschreibungen er‑ geben, setze ich mich im ersten Teil zunächst ausführlich mit emotional bedeut‑ samen kulturellen und sozialen Aspekten der Gemeinschaften auseinander. Im Hinblick auf die Sozialisationsperspektive übernimmt der erste Teil zugleich die Aufgabe, soziale Strukturen und Bedeutungsformationen darzustellen, welche die spezifische Entwicklungsnische der Kinder umgreifen und zugleich beeinflussen. Gemäß dem hier favorisierten Modell der Emotionssozialisation und -entwick‑ lung vollzieht sich die Ontogenese von Emotionen von Anfang an als Prozess der Ko-Konstruktion in sozialen und symbolischen Interaktionen. Auf der Grundla‑ ge interpersonaler Deutung und Regulation von emotionalen Episoden entstehen im Laufe der ersten Lebensjahre differenzierte Emotionen, indem sich Kinder die Regulationsstile und Deutungsmuster der Bezugspersonen allmählich aneignen. Schon im ersten Lebensjahr gewinnen Emotionen auch eine symbolische Dimen‑ sion, da sich in der Kommunikation über das Ausdrucksverhalten vorsprachliche Ausdruckszeichen herausbilden. In dem Maße, wie Kinder die Regulationsformen ihrer Bezugspersonen übernehmen, konstituieren sich auch spezifische Bezie‑ hungs- und Bindungsmuster zwischen ihnen. Welche Emotionsqualitäten und dif‑ ferenzierungen sowie Bindungs- und Beziehungsmuster entstehen, hängt direkt vom spezifischen soziokulturellen Kontext ab, der als Entwicklungsnische fungiert und Kindern einen ebenso spezifischen Entwicklungspfad bietet. Im zweiten Teil dieser Arbeit werde ich die Dimensionen und Aspekte der Ent‑ wicklungsnische beschreiben, die für die emotionalen Erfahrungen der ein- bis dreijährigen Kinder in der Forschungsregion relevant sind. Zwar stehen morali‑ sche Emotionen in dieser Lebensphase noch nicht im Vordergrund, doch sind die entstehenden Beziehungs- und Bindungsmuster im Sinne eines predispositional priming als wichtige Voraussetzung für die später einsetzende emotionsbasierte Norm- und Wertesozialisation zu betrachten. Nach dem Modell zur Sozialisation moralischer Emotionen werden Kinder frü‑ her oder später mit der Aufgabe konfrontiert, das eigene Handeln und emotiona‑ le Verhalten mit den durch Bezugspersonen verkörperten sozialen Erwartungen und Regeln abzustimmen. Besonders virulent wird dies, sobald Kinder Fähigkei‑ ten zur selbständigen, gezielten Handlung ausbilden, also damit beginnen, ihre emotionalen Handlungsimpulse eigenständig umzusetzen, und so in Interessen‑ konflikte mit ihren Bezugspersonen geraten können. Eine zentrale Rolle bei der Abstimmung des Handelns und Verhaltens mit dem sozialen Umfeld spielen die selbstbewertenden moralischen Emotionen. Bezugspersonen initiieren und prägen diese Emotionen, indem sie bewertende und emotionalisierende Sanktionsprakti‑ ken einführen und Kindern damit Gelegenheiten bieten, entsprechende kognitive Schemata zu konstruieren. Diese Schemata fungieren als Appraisal für moralische

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Emotionen, die Kinder wiederum in die Lage versetzen, die sozialen Erwartungen, Normen und Werte ihres sozialen Kontextes zu beherzigen. Welche Emotionen diese moralische Aufgabe erfüllen und welchen Entwicklungsverlauf sie nehmen, hängt in hohem Maße von den kulturspezifisch eingesetzten Erziehungspraktiken ab. Der dritte und letzte Teil dieser Arbeit thematisiert deshalb die elterlichen Er‑ ziehungsziele und -praktiken, die für die Ontogenese der moralischen Emotionen relevant sind. Dabei werde ich den kindlichen Narrativen zu ihren emotionalen Erziehungserfahrungen besondere Aufmerksamkeit schenken. Auf dieser Basis rekonstruiere ich abschließend zwei eng miteinander verflochtene Entwicklungs‑ pfade moralischer Emotionen: einen zur Emotion tahotsy, die sich als eine körper‑ bezogene, moralische Furcht verstehen lässt, und einen zweiten zu den seky-Emo‑ tionen, die als Wutemotionen verstanden werden können und auf vielfältige Weise mit tahotsy verflochten sind. Entsprechend dem skizzierten Verständnis von Emotionen und Sozialisations‑ vorgängen als mehrdimensionalen Prozessen basiert das empirische Datenmate‑ rial auf einer Reihe unterschiedlicher, sowohl qualitativer als auch quantitativer Methoden. Damit orientiere ich mich generell an einem mixed methods-Ansatz, der seitens der Kulturanthropologie vor allem in Bezug auf das Themenfeld der Ent‑ wicklung und Sozialisation propagiert und angewandt wird (LeVine et al. 1994, 2012; Weisner 2005; Yoshikawa et al. 2008). Um einen Abgleich des methodischen Zugangs mit dem Dargestellten zu erleichtern, werden die angewandten Methoden jeweils am Beginn der entsprechenden Kapitel vorgestellt.

Teil I Kultureller Kontext, Beziehungsmuster und moralische Emotionen Ziel des ersten Teils ist es, ein Verständnis für die Bedeutung und soziale Einbet‑ tung der moralischen Emotionen in der Forschungsregion zu entwickeln. Da Emo‑ tionen zumeist in sozialen Interaktionen auftreten und dabei kulturell bedingten Deutungen durch die Beteiligten unterliegen, beginne ich im 2. Kapitel mit einer Darstellung übergreifender soziokultureller Kontexte. Diese spezifiziere ich im 3. Kapitel nach verschiedenen sozialen Beziehungsformen, um auf dieser Basis im 4. Kapitel schließlich die moralischen Emotionen selbst, insbesondere seky und tahotsy, in den Blick zu nehmen. Zugleich stellt der erste Teil die übergreifenden sozia‑ len, kulturellen und emotionalen Kontexte der kindlichen Entwicklungsnische dar, die dann im zweiten und dritten Teil dieser Arbeit zur Darstellung kommt. Bei der Beschreibung der soziokulturellen Kontexte ziehe ich neben meiner eigenen Forschung in Menamaty auch ethnografische Literatur zu Rate, die sich zwar nicht auf dieselbe Forschungsregion, jedoch auf Angehörige einer ethnischen Gruppe bezieht, mit der sich auch die Menschen aus Menamaty identifizieren – nämlich die der Bara. Die Forschung zur Kultur der Bara lässt sich wie folgt um‑ reißen: Erstmals führte der französische Linguist Jacques Faublée ab 1938 eine dreijährige Feldforschung bei den Bara Vinda im Distrikt Benenitra durch, etwa 100 km südlich von Menamaty. Faublée veröffentlichte zwei Monografien, die zum einen die umfangreiche orale Literatur (1947) und zum anderen rituelle Prakti‑ ken der Bara hinsichtlich ihrer sozialen Kohäsionskraft (1954) behandeln. Hinzu kommt eine Reihe von Artikeln, die verschiedene Aspekte vertiefen (1941, 1942, 1951, 1965). Eine weitere, frühe Monografie zu den Bara mit historischem Schwer‑ punkt stammt von dem Soziologen Louis Michel (1957), der allerdings die Region seiner Forschung nicht weiter präzisiert und ansonsten nicht als Wissenschaftler in Erscheinung getreten ist. In den letzten Jahrzehnten haben der US-amerikani‑ sche Ethnologe Huntington (1988) und der italienische Missionar Luigi Elli (1993) der Gesellschaft und Kultur der Bara jeweils eine Monografie und einige Aufsätze gewidmet. Huntington hat im Distrikt Ivohibe, etwa 120 km östlich von Menama‑ ty gearbeitet und seine Ergebnisse in englischer Sprache veröffentlicht. Obwohl Elli, der vornehmlich im ca. 150 km südlich gelegenen Distrikt Isoanala forschte, im zweiten Teil seiner Monografie Erfahrungen bei der Missionierung der Bara darstellt, ist sein erster Teil auch aus ethnologischer Sicht ergiebig und wohl fun‑

diert. Neben diesen Ethnografien existiert eine Reihe von Aufsätzen von frühen Forschungsreisenden, Missionaren und Kolonialverwaltern (Cellier 1971 [1906]; Du Bois de la Villerabel 1900; Nielsen-Lund 1888) sowie von einigen Historikern und Soziologen zur Praxis des Viehdiebstahls (Esoavelomandroso 1986; Hoerner 1982; Mamelomana 1967; Randriamarolaza 1986; Razafitsiamidy 1997). Die genannten Autoren behandeln zwar verschiedene für die Sozialisationsoder Emotionsthematik indirekt relevante Aspekte, jedoch nehmen sie diese Phä‑ nomene in keinem Fall selbst in den Blick. In der Ethnografie Madagaskars ins‑ gesamt findet sich lediglich ein Artikel, von Lambek und Solway (2001), der sich explizit mit der Emotionsthematik befasst und das Augenmerk auf just anger (siaka)1 bei den Sakalava, einer den Bara benachbarten Gruppe, richtet.

1 | Dialektale Variante des in Menamaty gebräuchlichen Emotionsterminus seky.

2. Die Dorfgemeinschaften von Menamaty

Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen die rund 350 Bewohner des Dorfes Ranoma‑ dio1, deren Alltag meine madagassischen Forschungsassistenten und ich von Au‑ gust 2009 bis Mai 2010 und von Mai bis August 2011 für insgesamt elf Monate teilten, sowie etliche Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus dem ca. 20 km süd‑ lich von Ranomadio gelegenen Dorf Soafary mit rund 500 Einwohnern, bei denen wir weitere zwei Monate lebten. Darüber hinaus sind zahlreiche Personen aus den umliegenden Dörfern, insbesondere aus Kelivohitsy und Fotora, zu unseren Gesprächspartnern zu zählen, die aufgrund verwandtschaftlicher Beziehungen regelmäßig in Ranomadio zu Besuch waren und ebenso häufig von uns besucht wurden.2 Diese Dörfer befinden sich in einer ländlichen Region im Süden Mada‑ gaskars, die von den städtischen Siedlungen Ihosy, Ranohira und Beroroha flan‑ kiert wird. Sie gehören zur politischen Gemeinde Menamaty-Iloto, die nach dem größten Fluss in der Region benannt ist und nach Auskunft ihres Bürgermeisters etwa 40 Dörfer und Weiler mit insgesamt rund 6.000 Personen umfasst. Einfach‑ heitshalber beziehe ich mich im Folgenden auf die ›Menschen von Menamaty‹, sofern sich die Darstellung nicht speziell auf eines der genannten Dörfer bezieht. Die Dörfer von Menamaty befinden sich in einer weiten, savannenähnlichen Graslandschaft, die an geschützten Stellen von Waldgebieten unterbrochen, vom Fluss Menamaty und vielen Bächen durchzogen und durch mittelhohe Gebirgszüge gegliedert wird. Trotz des semiariden Klimas mit einer achtmonatigen Trockenzeit erlauben die Flussläufe den Bewässerungsanbau von Reis und anderen Feldfrüch‑ ten wie Maniok in begrenztem Umfang und ermöglichen es den Anwohnern, sich mit Speisefischen und ausreichend Trink‑ sowie Waschwasser zu versorgen. Die ge‑ ringe Bevölkerungsdichte macht sich durch große Distanzen zwischen benachbar‑ ten Dörfern von zehn bis 20 km bemerkbar. Die weiten Grassavannen werden zur Haltung von Zeburindern genutzt, deren Besitz von meinen Gesprächspartnern als Inbegriff von Reichtum und Status angesehen wurde. Nicht zuletzt bieten un‑ bewohnte Landstriche einzelnen Familien oder größeren Verwandtschaftsgruppen die – auch immer wieder genutzte – Möglichkeit, neue Siedlungen zu gründen, um 1 | Bei sämtlichen Dorfnamen handelt es sich um Pseudonyme, die wahrheitsgetreue Bezeichnung der Gemeinde Menamaty erlaubt jedoch eine ungefähre Lokalisierung der Forschungsregion. 2 | Über 30 weitere Dörfer in einem Umkreis von etwa 60 km haben wir aus unterschiedlichen Anlässen wenigstens für einige Stunden besucht.

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besseres Ackerland und neue Weideflächen zu erschließen oder sozialen Spannun‑ gen in den Herkunftsgemeinschaften auszuweichen. Aufgrund der bergigen Topografie sind die Dörfer von Menamaty nicht an das Straßennetz Madagaskars angeschlossen. Während meines ersten Forschungsauf‑ enthaltes war noch ein 60 km langer Fußmarsch zu bewältigen, um von Ranomadio zu einem Marktort zu gelangen, an dem sich jede zweite Woche ein Händler mit seinem Fahrzeug einfand. Die Fertigstellung einer neuen Piste erlaubt inzwischen aber eine Verkehrsverbindung nach Iloto, dem Gemeindezentrum mit etwa 400 Einwohnern, das ungefähr 20 km von Ranomadio und Soafary entfernt liegt. So lässt sich Ihosy, das städtische Zentrum der Region, mittlerweile einmal wöchent‑ lich mit öffentlichen Verkehrsmitteln binnen anderthalb Tagen erreichen. Iloto fungiert somit als Bindeglied für den Kontakt der Menschen aus Mena‑ maty mit dem städtischen Leben Madagaskars. Hier befinden sich einige kleine Geschäfte, deren Angebot durch einen wöchentlichen Markt erweitert wird, zwei Grundschulen, zwei Kirchengemeinden (eine protestantische und eine katholi‑ sche), eine Krankenstation, eine Gendarmerie sowie die lokale Gemeindeverwal‑ tung mit dem erwähnten Bürgermeister. Abbildung 1: Die Forschungsregion Menamaty. Links ist das Dorf Kelivohitsy zu sehen, rechts unten das zugehörige Reisfeld, darüber der namensgebende Fluss Menamaty und dazwischen das Weideland für die Rinderhaltung.

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Abbildung 2: Ranomadio, Hauptort der Feldforschung. Die Nord-Süd-Ausrichtung der Häuser steht im Zusammenhang mit der formalen sozialen Ordnung (s. Kapitel 3).

Abbildung 3: Zeburinder (aomby) gelten als Inbegriff von Reichtum und sind von großer ökonomischer, sozialer, religiöser und emotionaler Bedeutung. Die Bewohner von Ranomadio besaßen im Zeitraum der Feldforschung zusammen etwa 2500 Rinder.

Abbildung 4: Reisernte in Kelivohitsy. Reis (vary) bildet das Grundnahrungsmittel in Menamaty. Daneben werden auch Maniok und andere Feldfrüchte angebaut.

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K onte x te der F orschungsregion Ethnisch-kultureller Kontext Die Bewohner von Ranomadio verstehen sich größtenteils ausdrücklich als An‑ gehörige der ethnischen Gruppe der Bara ( foko bara). Lediglich zwei vor einigen Jahren von der Südwestküste Madagaskars zugewanderte Brüder zählen sich zur Gruppe der Vezo, deren soziale Identität mit der Fischerei verknüpft ist (vgl. Astuti 1995), und ein weiterer Zugewanderter aus dem nördlich anschließenden Hoch‑ land identifiziert sich mit der Gruppe der vornehmlich Ackerbau betreibenden Betsileo. In Soafary lebt eine größere Verwandtschaftsgruppe der Betsileo, deren Vorfahren schon vor einigen Generationen zugewandert sind. Im Unterschied zu der relativen ethnischen Homogenität in den Dörfern von Menamaty setzt sich die Bevölkerung des Verwaltungsortes Iloto, die allerdings nicht im Fokus der Unter‑ suchung steht, aus Personen unterschiedlichster Herkunft zusammen, wobei sol‑ che mit einer Bara-Identität offensichtlich in der Minderheit sind. Dies lässt sich vor allem auf die dort vorhandenen Erwerbsmöglichkeiten als Händler, Lehrer oder Pfarrer zurückführen, die in der Regel nicht von den pastoralen Bara ergriffen wer‑ den (vgl. Faublée 1954: 136). Die Präsenz von Personen aus anderen ethnischen Gruppen in den Untersu‑ chungsdörfern zeigt, dass die ethnische Zugehörigkeit in dieser Region größten‑ teils kein soziales Ausschlusskriterium darstellt.3 Zumindest haben sich in der jün‑ geren Vergangenheit Zuwanderer immer wieder durch Eheschließungen mit den Ansässigen in die Dorfgemeinschaften integriert, und deren Nachfahren werden gegenwärtig in erster Linie als Bara angesehen.4 Die Identität als Bara hängt offen‑ bar, ähnlich wie etwa diejenige der Vezo (Astuti 1995), vorwiegend mit der – prin‑ zipiell jedem freigestellten – Befolgung gewisser Bräuche ( fomba bara), insbeson‑ dere mit der pastoralen Lebensweise zusammen und hat kaum die Funktion einer definitiven sozialen Exklusion oder Inklusion (vgl. Faublée 1954). Ausschlaggebend im Hinblick auf die soziale Zugehörigkeit und Gruppenidentität sind gegenwärtig vielmehr die tariky (patrilineare Abstammungsgruppen) und – in geringerem Aus‑ maß – die übergeordneten raza (vergleichbar mit Clans). Als einer der verschiedenen Gründe für die Mühelosigkeit, mit der sich Men‑ schen aus anderen Regionen Madagaskars in die Dorfgemeinschaften der Bara integrieren, können die zahlreichen panmadagassischen Gemeinsamkeiten ange‑ führt werden. Im Kontrast zu vielen Staaten des afrikanischen Festlandes teilen die 18 offiziell anerkannten ethnischen Gruppen Madagaskars eine gemeinsame, lediglich dialektal variierende Sprache – das Malagasy. Linguistische Vergleichs‑ studien ordnen das Malagasy einhellig der austronesischen Sprachfamilie und da‑ rin den Barito-Sprachen zu, die auch von den Dayak im Süden der Insel Borneo

3 | Faublée (1954: 3) stellte schon während seiner Feldforschung Ende der 1930er Jahre fest, dass zumindest an den Rändern des Bara-Siedlungsgebietes auch Dörfer mit gemischter ethnischer Zusammensetzung existieren. 4 | Bis heute stellen allerdings Angehörige der Merina eine Ausnahme dar, da sie aus Sicht meiner Gesprächspartner für jeden Bara als Ehepartner fady (tabu) sind, was mit dem historischen Herrschaftsanspruch der Merina begründet wird (vgl. Elli 1993: 79).

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gesprochen werden.5 Aufgrund dieser linguistischen Indizien sowie archäologi‑ scher Funde auf Madagaskar sind sich die meisten Autoren, die zur Besiedlungs‑ geschichte geforscht haben, darin einig, dass die madagassische Insel spätestens ab der Mitte des ersten nachchristlichen Jahrtausends vom südostasiatischen Raum aus besiedelt wurde (vgl. Adelaar 2005; Beaujard 2003; Dahl 1951).6 Neben diesem in der ethnografischen Literatur zu Madagaskar und auch im dominanten nationalen Diskurs betonten, südostasiatischen Erbe sind auch sozia‑ le, kulturelle und ökonomische Einflüsse vom afrikanischen Festland und durch arabische Händler nachweisbar. Bereits ab dem 10. Jahrhundert wurden offenbar an der Westküste Madagaskars arabisch-swahilische Handelsniederlassungen ge‑ gründet (Sicard 2011: 102). Ihr sprachlich-kulturelles Erbe macht sich in den Dorf‑ gemeinschaften von Menamaty wie in ganz Madagaskar etwa durch das Vokabular der zeitlich-räumlichen, astrologischen, sowie magisch-medizinischen Bedeu‑ tungssysteme bemerkbar. Als Experten dieser kulturellen Domänen fungieren die ombiasa, die überall in Madagaskar als Heiler und Wahrsager präsent sind. Vermutlich geht die Rolle des ombiasa auf arabische Handelsreisende zurück, die der madagassischen Bevölkerung ihre Dienste anboten (Sicard 2011: 105f). Vom af‑ rikanischen Festland stammen mit hoher Wahrscheinlichkeit die Praktiken und Techniken der Rinderhaltung sowie die Zeburinder selbst (Gade 1996: 105), was sich auch in der Herkunft des Wortes für Rind – aomby – aus Bantu-Sprachen wi‑ derspiegelt (Blench 2008; Kent 1968).7 Trotz dieser diversen kulturellen Einflüsse und Bevölkerungszuströme teilen die verschiedenen madagassischen Bevölkerungsgruppen gegenwärtig neben dem Malagasy auch zahlreiche kulturelle Elemente und soziale Praktiken. Dies ist ins‑ besondere im Hinblick auf die Bedeutung der Ahnen und den damit zusammen‑ hängenden symbolischen Praktiken offensichtlich (vgl. Middleton 1999: 1). Die ethnisch-kulturelle Differenzierung scheint weniger auf jeweils eigenständige kul‑ turelle Tradierungen als vielmehr auf eine sozioökonomische Anpassung und Spe‑ zialisierung je nach naturräumlicher Umwelt zurückzugehen (vgl. Kottak 1971). An den Küstenstreifen siedeln Gruppen wie die Vezo, die sich durch ihre Spezialisie‑ rung auf die Fischerei auszeichnen. Die Waldregionen des südöstlichen Madagas‑ kars stellen das traditionelle Siedlungsgebiet der Tanala dar, deren Subsistenzwirt‑ schaft primär auf Wanderfeldbau beruht.8 Auf dem relativ niederschlagsreichen Hochland sowie an der Ostküste Madagaskars dominieren Reis‑ und Ackerbau, wohingegen im relativ trockenen Süden und Westen der Insel die Viehhaltung und eine pastorale Lebensweise vorherrscht, so auch in der Forschungsregion. Jedoch betreiben auch pastorale Gruppen wie die Bara, Tsimihety oder Sakalava ein gewis‑ 5 | Darüber hinaus konnten auch Einflüsse aus dem Malaiischen nachgewiesen werden (Adelaar 1995, 2006). 6 | Die ältesten archäologischen Funde werden auf das 5. (Dahl 1951; Dewar 1994) bzw. 7. Jahrhundert (Adelaar 1989) geschätzt. 7 | Blench (2008) argumentiert für eine etymologische Herkunft der Bantu-Elemente in der madagassischen Sprache aus dem an der Ostküste Afrikas weitverbreiteten Swahili. 8 | Häufig beziehen sich die ethnischen Bezeichnungen direkt auf den vorwiegenden Lebensraum oder die Form der Subsistenzwirtschaft der jeweiligen Gruppe. ›Tanala‹ bedeutet beispielsweise ›Waldbewohner‹ und ›Vezo‹ übersetzt Astuti (1995: 1) mit der Imperativform von ›paddeln‹.

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ses Maß an Reis‑ und Ackerbau, sodass sie zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht als Agropastoralisten zu bezeichnen sind.9 In enger Verbindung mit den diversen Formen der Subsistenzwirtschaft bil‑ deten sich in den Jahrhunderten bis zur französischen Kolonialherrschaft unter‑ schiedliche politische Einheiten und Formen sozialer Organisation heraus. Im Hochland von Madagaskar und an der Westküste entwickelten sich etwa die zen‑ tralisierten und in hohem Maße stratifizierten Monarchien der Merina, Betsileo und Sakalava. Zwar wurden diese Staatsgebilde durch die Kolonialmacht formal abgelöst, jedoch schlagen sich die Zugehörigkeiten der Nachkommen zu den tra‑ ditionellen sozialen Schichten weiterhin in deutlichen sozialen und ökonomischen Ungleichheiten nieder (vgl. Evers 2002). Im Siedlungsgebiet der Bara bildeten sich demgegenüber eher temporäre Allianzen zwischen mehreren Verwandtschafts‑ gruppen unter der Führung von Angehörigen des Zafimagnely-Clans, die offenbar vor allem die Funktion hatten, sich der Vorstöße der Nachbargruppen zu erwehren oder selbst in andere Regionen vorzustoßen (Huntington 1986: 180; Kottak 1977: 140). Die Vermutung liegt nahe, dass diese kriegerischen Auseinandersetzungen mit Nachbargruppen, die vor allem auch in den oralen Geschichtserzählungen, den tantara raza, thematisiert werden (Du Bois de la Villerabel 1900), zur Her‑ ausbildung der ethnischen Identität der Bara beigetragen haben. Mit der Konsoli‑ dierung der Machtverhältnisse zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen Madagaskars seit der französischen Kolonialherrschaft dürfte diese ethnische Identität allerdings wieder in den Hintergrund gerückt sein – ohne ihre Bedeutung jedoch gänzlich einzubüßen.

Nationalstaatlicher Kontext Für die politische Eingliederung der Bevölkerung von Menamaty in den madagassi‑ schen Nationalstaat ist Iloto als Verwaltungssitz der ländlichen Gemeinde (commune rurale, kaominina) Menamaty-Iloto zuständig. Zumindest formal sind auch auf der dörflichen Ebene Organe des madagassischen Staates präsent: In Ranomadio und Soafary wird der Bürgermeister von Iloto jeweils durch einen chef du conseil local de sécurité vertreten. Jedoch war auffällig, dass diese politischen Repräsentanten innerhalb der Dorfgemeinschaft keinerlei besondere Autorität genossen und sich folglich auch kaum in die Dorfangelegenheiten einmischten. In Ranomadio hatte dieses Amt ausgerechnet einer der drei Einwohner inne, die sich nicht als Bara identifizierten. Seine einzigen ersichtlichen Amtshandlungen bestanden darin, die Rinder der Dorf bewohner zu registrieren und die von staatlicher Seite finanzierten Impfmittel gegen Rinderpest zu verteilen. Auch die Aktivitäten des Bürgermeister‑ amtes in Iloto beschränkten sich im Wesentlichen darauf, Geburtsurkunden oder Ausweispapiere auszustellen. Während Geburtsurkunden nur sporadisch angefor‑ dert wurden, erfreuten sich die Ausweispapiere zunehmender Nachfrage bei jun‑ gen Männern, da sie sich gegenüber den lokalen Gendarmen ausweisen mussten.10 9 | Es ist klar, dass diese Zuschreibungen vor allem im städtischen Kontext nicht mehr zutreffen, jedoch ist zu bedenken, dass etwa 70 Prozent der Madagassen auf dem Land leben und Subsistenzwirtschaft betreiben (CIA World Factbook). 10 | Der Grund hierfür besteht darin, dass Gendarmen junge Männer als potenzielle Viehdiebe betrachteten und sie besonders häufig kontrollierten. Die Gendarmerie Nationale von

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Tatsächlich stellten die seit einigen Jahren in Iloto stationierten Gendarmen die Hauptberührungspunkte zwischen den Dorf bewohnern und staatlichen Ins‑ titutionen dar: Während meiner Feldforschung wurden mehrmals junge Männer aus Dörfern von Menamaty verhaftet und in Iloto festgehalten. Meist wurde ihnen das Vergehen des Viehdiebstahls vorgeworfen. Teilweise stützten sich diese Fest‑ nahmen auf eine Anklage durch Nachbarn oder gar Angehörige derselben Ver‑ wandtschaftsgruppe, die in einem Konfliktverhältnis zum Angeklagten standen. In der Mehrzahl der Fälle kam es jedoch nicht zu einer Gerichtsverhandlung, da die Gendarmen ihren Häftlingen üblicherweise nahelegten, sich ›freizukaufen‹. Der für die Freilassung geforderte Geldbetrag entsprach stets dem Wert mehrerer Rinder, die zur Geldbeschaffung auf dem Rindermarkt in Iloto verkauft wurden. Ein beträchtlicher Teil der Männer aus Ranomadio ist bereits mindestens einmal von Gendarmen verhaftet und zu umfänglichen Geldzahlungen veranlasst wor‑ den. Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass Gendarmen wie Regierungsvertreter generell als vazaha – Fremde – kategorisiert werden. Den Unterschied zu Nicht-Madagassen, die ebenfalls als vazaha adressiert werden, ver‑ deutlichten die Menschen von Menamaty durch den Zusatz vazaha mana basy – ›Fremder mit Gewehr‹. Dies deutet darauf hin, dass Gendarmen keineswegs als Vertreter eines Gemeinwesens oder Hüter eines verbindlichen Rechtssystems an‑ gesehen, sondern vielmehr als mächtige Individuen gefürchtet wurden. Weshalb der madagassische Nationalstaat bzw. seine in der Region präsenten Organe gegenwärtig als externe Mächte betrachtet werden, lässt sich durch eine historische Perspektivierung erhellen. Die lokale Verwaltungsstruktur geht auf die französische Kolonialherrschaft (1886-1960) zurück, welche die Merina-Monar‑ chie mit ihrem Herrschaftsanspruch über ganz Madagaskar ablöste. Im Siedlungs‑ gebiet der Bara konnte jedoch weder die Merina-Monarchie noch die französische Kolonialverwaltung eine nachhaltige Kontrolle durchsetzen (vgl. Huntington 1986: 181). Dies lässt sich vor allem anhand der gänzlich gescheiterten Bemühungen bei‑ der Regime feststellen, Aktivitäten des Viehdiebstahls in der Forschungsregion und im südlichen Madagaskar insgesamt einzudämmen (vgl. Esoavelomandroso 1986; Chapus & Mondain 1953: 357; Faublée 1941: 122; Michel 1957: 137-42). Auch die Er‑ zählungen zweier Dorfältester von Ranomadio, wonach sich die Dorf bevölkerung stets in den Wäldern versteckt habe, sobald Abgesandte der französischen Kolonial‑ verwaltung durch die Region zogen, legen eine nur punktuelle Herrschaftsaus‑ übung nahe.11 Die äußerst geringe Bevölkerungsdichte sowie die mobile pastorale Lebensweise machte offenbar eine weitreichende Kontrolle zugleich schwierig und ökonomisch uninteressant. Der lokalen Bevölkerung ermöglichten diese Bedin‑ gungen, sich dem Zugriff der Merina oder der Franzosen durch Rückzug in ande‑ re Regionen zu entziehen. So führt Faublée (1954) die offenbar im 19. Jahrhundert

Madagaskar gehört zum nationalen Militär und übernimmt ähnliche Funktionen wie die Polizei in Deutschland. Zum Verhältnis der Gendarmerie zu den Dorfbewohnern vgl. Scheidecker (2014). 11 | Auch in Erzählungen über die omba bzw. olo-biby, kleinwüchsigen, vollständig behaarten, menschenähnlichen Wesen, die in den umliegenden Wäldern vermutet werden, wurde die Kolonialzeit thematisiert: Die omba seien Nachkommen der vor den Kolonialherren in die Wälder geflüchteten Dorfbewohner.

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einsetzende allmähliche Verlagerung des gesamten Siedlungsgebietes der Bara in nordwestlicher Richtung auf eine Rückzugsbewegung vor den Merina zurück.12 Historisch scheint es also nie zu einer weitreichenden Einbettung der lokalen sozialen Strukturen in staatliche Institutionen gekommen zu sein. Vieles spricht dafür, dass das Maß dieser Integration seit der Kolonialzeit auf etwa gleichem Niveau geblieben ist oder sogar abgenommen hat. Die Konflikte zwischen der Dorf bevölkerung und Gendarmen während meiner Feldforschung etwa, die nicht zuletzt auf einer divergierenden Rechts‑ bzw. Moralauffassung zwischen lokaler Bevölkerung und staatlichen Organen beruhen, traten bereits während Faublées (1954: 63) Feldforschung zwischen 1938 und 1941 in ganz ähnlicher Weise auf und haben nach Einschätzung einiger Autoren nach der Kolonialzeit sogar eher zuge‑ nommen (Elli 1993: 51; Hoerner 1982: 100; Huntington 1986: 34; Randrianarison 1976: 13).

Städtischer und marktwirtschaftlicher Kontext Die meisten Bewohner von Ranomadio, insbesondere Frauen, ältere Männer und Kinder, haben sich noch nie in ein urbanes Umfeld begeben. Dies lag weniger an der räumlichen Distanz zu den nächstgelegenen Städten – so besuchten sie auch Verwandte in Dörfern, die weiter entfernt waren als die nächstgelegenen Städte Ihosy und Ranohira –, sondern eher an fehlendem Interesse und wohl auch an einer gewissen Skepsis gegenüber dem städtischen Leben. Mehrere der Gesprächs‑ partner, die ich bat, mir das Emotionswort vologny (≈ unheimlich) durch eine ent‑ sprechende Emotionsepisode zu erläutern, verwiesen auf ihre Erfahrungen in der Stadt.13 Von Stadtbewohnern wiederum wurde mir mehrfach der stereotype Hin‑ weis gegeben, Dorf bewohner erkenne man daran, dass sie sich aus Sicherheits‑ gründen im Gänsemarsch durch Ihosy bewegten. Immerhin lebte Iavitsara, der mich seiner Familie in Ranomadio anvertraute, zusammen mit seinem Bruder in Ihosy. Seine Wohnung stellte einen Anlaufpunkt für sämtliche Besucher aus Mena‑ maty dar. Dies unterstreicht, wie wenige Dorf bewohner nach Ihosy migriert sind. Die Bevölkerung von Ihosy stammt denn auch zu einem großen Teil aus anderen Regionen von Madagaskar. Als wichtigsten Grund für ihre Abneigung gegenüber dem städtischen Leben führten meine Gesprächspartner an, dass es in der Stadt nicht möglich sei, als Viehhalter zu leben. Die Distanz zur urbanen Lebenswelt kam auch im Rahmen des bilo zum Ausdruck, einem auf Besessenheit basieren‑ den Heilungsritual. Um den außergewöhnlichen Status der besessenen Person zu markieren, wurde sie mit Artefakten der städtischen Welt, wie etwa einem Stuhl, Tisch, Regenschirm oder Limonadengetränken ausgestattet.

12 | Dass die Bara dabei die ansässigen Sakalava weiter Richtung Osten verdrängten, machen die zahlreichen Steingräber in der Forschungsregion deutlich, die von meinen Gesprächspartnern einhellig den Sakalava zugeschrieben wurden. 13 | Lediglich aus Notwendigkeit begaben sich einige Dorfbewohner in die Stadt: Ein Rinderhändler reiste gelegentlich nach Ihosy, um am dortigen Rindermarkt teilzunehmen. Mehrere des Viehdiebstals angeklagte junge Männer kamen für eine Zeit ins Gefängnis von Ihosy, da ein verwandter Stadtbewohner auf einer Gerichtsverhandlung bestanden hatte. Eine ältere Frau reiste in die Stadt, um sich einer ärztlichen Behandlung zu unterziehen.

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Trotz dieser von den Dorf bewohnern selbst konstruierten und akzentuierten Grenze zwischen der dörflichen und städtischen Welt bestehen freilich vielfach gegenseitige Einflüsse. Am offensichtlichsten wird dies durch die Verwendung in‑ dustriell gefertigter Güter wie Kleidung, Kochtöpfe, Essgeschirr, Taschenlampen, Radios, Batterien, Bier oder Medikamente, die auf dem Markt von Iloto und zum Teil auch in einem kleinen Dorfladen in Ranomadio erhältlich waren. Am Beispiel von industriell gefertigten Medikamenten ( fagnafody vazaha) lässt sich zeigen, dass sich Personen diese importierten Güter in erster Linie den lokalen Vorstellungen und Praktiken gemäß aneigneten. Medikamente, vor allem Antibiotika in großem Umfang, vertrieb ein in Iloto stationierter Mediziner, der offenbar ein Verkaufsinteresse hatte. Zudem erwar‑ ben Dorf bewohner aber auch selbständig Medikamente an einem der Verkaufs‑ stände Ilotos oder – sofern gerade verfügbar – in Ranomadio. Bemerkenswert ist, dass ein und dasselbe Antibiotikum für jede erdenkliche Form von körperlichen Beschwerden eingenommen wurde – nicht nur bei unterschiedlichen Infektions‑ krankheiten, sondern auch bei Rücken‑ oder Kopfschmerzen, bei Müdigkeit oder Schwindel. Diese Praxis brachte mich immer wieder in Verlegenheit, wenn ich um Medikamente gebeten wurde, aus meiner Sicht aber keine passenden Mittel zur Verfügung hatte. Meine Erläuterungen, dass jedes meiner Medikamente lediglich gegen eine bestimmte Beschwerde wirke, wurden von einigen Personen eher als Ausflüchte aufgefasst. Dieser Umgang mit fagnafody vazaha scheint einer Logik zu entsprechen, wonach ein und dasselbe fagnafody aufgrund einer unspezifischen Wirkkraft (hery) gegen alle möglichen, mit Schwäche verbundenen Beschwerden eingesetzt werden kann. Ein weiterer, deutlich sichtbarer Einfluss der städtischen Lebenswelt kam durch den gelegentlichen Konsum von madagassischen Musikvideos sowie von US-ame‑ rikanischen oder japanischen Spielfilmen zustande. Dies ermöglichte ein von der Westküste zugezogener Mann, der mit seinem Stromgenerator in den Dörfern der Region Filme gegen Entgelt oder Naturalien auf einem Fernsehgerät vorführte. Viele der mir von meinen Gastgebern und Gesprächspartnern zu meiner Lebens‑ weise gestellten Fragen waren offenbar direkt durch die Inhalte der Spielfilme in‑ spiriert, die ausschließlich dem Action‑ und Horrorgenre zuzurechnen waren. So fragte mich beispielsweise ›mein‹ Onkel Tiry, wie man es bei mir zu Hause ange‑ sichts der permanenten Gewalt und Gefahr nur aushalten könne, und ein junger Mann wollte hinter vorgehaltener Hand wissen, ob man in meiner Heimat tatsäch‑ lich Menschenfleisch verzehre. Offenbar interpretierten meine Gesprächspartner die Filme als Dokumentationen der städtischen Lebensweise, was ihre distanzierte Haltung dieser Lebenswelt gegenüber noch bekräftigt haben dürfte. Insofern die Menschen von Menamaty derartige Dienstleistungen und Waren käuflich erwerben mussten, spielte auch Geld eine gewisse Rolle, das sie durch den Verkauf von Reis oder Vieh einnahmen. Jedoch kann für den Zeitpunkt mei‑ ner Feldforschung keineswegs von einer weitreichenden Monetarisierung die Rede sein. So wurden bis auf Salz, Zucker, Kaffee und Bier sämtliche Nahrungsmittel selbst hergestellt oder im Tausch gegen andere Leistungen erworben. Lohnarbeit, die als wichtige Voraussetzung für eine weitreichende Monetarisierung angesehen

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werden kann, spielte keine Rolle, und Rinder wurden nur in der Not verkauft.14 Dass Geld entsprechend der partiellen Monetarisierung nicht als reines Tausch‑ medium angesehen wurde, sondern vielmehr als ein – freilich besonderes – Ding unter anderen Dingen, machten z.B. die mir gegenüber mehrmals vorgebrachten Bemerkungen deutlich, ich besäße deshalb so viel Geld, weil man bei mir die Her‑ stellungstechnik kenne.15 Insgesamt scheinen sich die Einflüsse durch industrielle Güter und die urba‑ ne Lebenswelt auf einem Niveau zu bewegen, auf dem diese Faktoren eher in die bestehenden Lebensformen und Deutungsmuster integriert werden, anstatt diese maßgeblich zu verändern oder gar fraglich erscheinen zu lassen. Auch im lokalen Geschichtsbewusstsein standen quantitative Veränderungen gegenüber grundle‑ genden Umstrukturierungen der Lebensweise im Vordergrund. Vieles spricht da‑ für, dass sich die Distanz zur städtischen Lebensweise seit der Kolonialzeit nicht verringert hat.

Institutionen der formalen Bildung und christlichen Religion Ein massiver, die Sozialisationsbedingungen grundsätzlich transformierender Einfluss auf lokale Gemeinschaften geht ohne Zweifel mit der Einführung von In‑ stitutionen der formalen Bildung oder von christlichen Einrichtungen einher. Die Dynamik ihrer globalen Ausbreitung macht sich auch in der Region Ihorombe be‑ merkbar, zu der auch Menamaty gehört. Hier wird die Errichtung von Schulen so‑ wohl von staatlicher Seite als auch von der katholischen Kirche vorangetrieben, die gleichzeitig das Ziel der Missionierung verfolgt.16 Jedoch scheinen beide Anliegen auf erheblichen Widerstand vonseiten der Dorf bevölkerungen zu stoßen, was be‑ reits Faublée (1954: 136), Huntington (1986) und Elli (1993: 127-174, 146) bemerkten. In Ranomadio machten sich derartige ›Entwicklungsbemühungen‹ erstmals in den 1990er Jahren bemerkbar. Wie aus den Erzählungen der Dorf bewohner her‑ vorgeht, ließ damals ein italienischer Missionar eine Grundschule in diesem Dorf gründen. Jedoch hatte die Schule nur etwa zwei Jahre Bestand, da der Lehrer, so wurde berichtet, schon kurz nach Aufnahme des Schulbetriebs seine Arbeit zu ver‑ nachlässigen begann und schließlich zugunsten der Jagd völlig einstellte. Immer‑ hin hatte diese kurze Episode eine nachhaltige Wirkung auf den Lebensweg zweier Schüler, da sie die in Ranomadio begonnene Schullauf bahn in Iloto und Ihosy fort‑ setzten und schließlich sogar ein Studium abschließen konnten. Bei ihnen handelt es sich um die bereits erwähnten Brüder Iavitsara und Solo Randriamanana, die 14 | Dies lässt sich u.a. auf die sakrale Bedeutung von Rindern zurückführen. Aufgrund ihrer Bestimmung als Opfer an die Ahnen ist eine rein profane Nutzung problematisch. So wurden während meiner Feldforschung Rinder ausschließlich im Zusammenhang mit Opferhandlungen (soro) getötet und verzehrt. 15 | Diese Sichtweise zum Geld mag naiv erscheinen – es ist jedoch davon auszugehen, dass den Menschen von Menamaty viele meiner Vorstellungen zu ihrer Lebenswelt mindestens ebenso naiv erschienen. 16 | Einen guten Einblick in die lokalen Dynamiken der christlichen Missionierung und Schuleinführung bietet der italienische Missionar Luigi Elli, der in seiner Ethnografie mit dem Untertitel »Difficultés et perspectives d’une évangélisation« (1993) seine lang jährigen Erfahrungen mit der Umsetzung seines Anliegens beschreibt.

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heute in der Stadt leben und mich in die Dorfgemeinschaft einführten. Sie stellen allerdings eine Ausnahme dar. Sämtliche anderen Dorf bewohner hatten weder die christliche Religion übernommen, noch setzten sie die begonnene Schullauf bahn fort. Gegen Ende meiner Feldforschung initiierte schließlich Iavitsara die Neu‑ gründung einer privaten Schule in Ranomadio, deren Fortbestand aufgrund von nur geringer Akzeptanz in der Dorf bevölkerung und mangelhafter Ausbildung des Lehrers jedoch unsicher ist. Auch in Soafary, einem der größeren Dörfer in der Region, gab es in den 1990er Jahren eine staatliche Schulinitiative, die zwar zum Bau eines Schulgebäudes, jedoch nicht zur Aufnahme des Unterrichts führte. Diese Beispiele können als typisch für das Schicksal von Schulprojekten in der gesamten Region gelten. Keine der mir bekannten Gründungen von Dorfschulen vor der Jahrtausendwende war von dauerhaftem Erfolg gekrönt.17 Als Gründe für ihr Scheitern wurden meist Konflikte zwischen Dorf bewohnern und dem Lehrer, der Rückzug des Initiators oder schlicht die Beschädigung des Schulgebäudes durch einen Zyklon angeführt. Huntington (1986) argumentiert, dass seit dem Ende der Kolonialzeit die Anzahl der Schulen im Siedlungsgebiet der Bara sogar rapide zurückgegangen ist. Die christlichen Missionierungsversuche waren in der gesamten Region na‑ hezu erfolglos – kein einziger Dorf bewohner aus der Forschungsregion bekannte sich zum Christentum. Meine Gesprächspartner zu diesem Thema lehnten das Christentum explizit mit der Begründung ab, dass es unvereinbar mit bestimmten Praktiken der Viehhaltung sei.18

Sozialer Wandel und Kontinuität Wenngleich die Untersuchung von Sozialisationsprozessen auf ontogenetische Ver‑ änderungen zielt, sind Dynamiken des sozialen Wandels für diese Fragestellung nicht unerheblich. Die meisten ethnografischen Sozialisationsstudien, einschließ‑ lich der vorliegenden, basieren auf Beobachtungen, Gesprächen und Interviews zu Kindern unterschiedlichen Alters, womit der Entwicklungs‑ oder Sozialisationsver‑ lauf letztlich auf der Basis von Querschnittserhebungen rekonstruiert wird.19 Pro‑ blematisch wird dieses Verfahren unter den Bedingungen eines raschen sozialen Wandels, da dann nicht mehr davon auszugehen ist, dass die älteren Kinder unter ähnlichen Bedingungen aufgewachsen sind, die zum Untersuchungszeitpunkt die Erfahrungen der jüngeren Kinder prägen. Es stellt sich also die Frage, wie sehr 17 | Dauerhafte, etablierte Schulen existieren lediglich in den lokalen Verwaltungszentren, die aufgrund der großen Entfernung der umliegenden Dörfer für die Dorfkinder allerdings nicht infrage kommen. 18 | Diese Praktiken umfassen u.a. den Gebrauch von Amuletten (aody), Schadenszauber (voriky) und eines speziell zum Schutz des Viehbesitzes verwendeten Zaubers (togny), deren zentrale Bedeutung für den Erfolg als Viehzüchter auch Faublée (1954: 84, 87) betont. Der Missionar Luigi Elli beschreibt ausführlich die Schwierigkeiten seiner Missionierungsbemühungen bei den Bara (1993: 144-171). 19 | Empirisch angemessener wäre freilich eine Längsschnittstudie über einen Zeitraum, welcher der dargestellten Entwicklungsspanne entspricht. Sofern die Sozialisationsdynamik über eine längere Entwicklungsspanne untersucht werden soll, würde ein solches Vorgehen allerdings eine lang jährige Forschung voraussetzen.

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und in welcher Hinsicht sich die Sozialisationsbedingungen für die Kinder aus der Forschungsregion in den letzten Jahrzehnten verändert haben. Auf der Hand liegt, dass zumindest das übergeordnete politische System wäh‑ rend der französischen Kolonialherrschaft eine grundlegende Transformation durch‑ laufen hat. Die präkolonialen Allianzsysteme wurden durch die Kolonialverwaltung überlagert und mit der Unabhängigkeit übernahm der madagassische Nationalstaat weitgehend dieses Verwaltungssystem. Auf der lokalen Ebene dürfte dies zu einer allmählichen Desintegration der Allianzsysteme und einer Auflösung der damit ver‑ bundenen vertikalen Strukturen geführt haben. Während der Feldforschung Fau‑ blées von 1938 bis 1941 wurden offenbar noch gewisse Rangunterschiede zwischen den Zafimagnely, die ehemals die Allianzen anführten, und anderen Bara-Clans an‑ erkannt (Faublée 1954: 119). Huntington (1988) hingegen verweist nicht mehr auf derartige Rangunterschiede, und gegenwärtig werden diese in den Dörfern von Me‑ namaty vehement abgelehnt.20 Somit stellen mindestens seit einigen Jahrzehnten patrilineare Abstammungsgruppen (tariky, raiky verara) die zentralen sozialen Seg‑ mente dar, die intern zwar hierarchisch organisiert sind, jedoch in einem gleichran‑ gigen Verhältnis zueinander stehen. Wie gezeigt, sind diese Abstammungsgruppen nur bedingt in das postkoloniale Verwaltungssystem Madagaskars eingebunden. Vieles spricht dafür, dass die sozialen Strukturen, kulturellen Bedeutungssys‑ teme und allgemeinen Lebensbedingungen nach durchgreifenden Veränderungen während der Kolonialherrschaft relativ konstant geblieben sind: Wie Gespräche mit einigen älteren Bewohnern aus Ranomadio zu ihrer Vergangenheit gezeigt ha‑ ben, sehen diese im Rückblick auf ihr Leben zwar einige Transformationen. Diese betreffen in erster Linie eine Zunahme der Dorf bevölkerung durch den Zuzug weiterer Verwandtschaftsgruppen, eine Verringerung des Viehbestandes durch Diebstahl oder eine zunehmende Bewaldung in der Umgebung. Grundsätzliche soziale oder kulturelle Veränderungen thematisierten sie jedoch nicht. Auch die Ethnografien zur Gesellschaft und Kultur der Bara (Elli 1993; Faublée 1947, 1954; Huntington 1988; Michel 1957), die sich mittlerweile als historische Quellen lesen lassen, zeugen im Hinblick auf die interne Strukturierung der Abstammungsgrup‑ pen, der rituellen Praktiken und religiösen Vorstellungen von einer erstaunlichen Kontinuität. Sogar viele der Institutionen oder Praktiken, deren Niedergang Michel (1957) und Faublée (1954) zu bezeugen meinten, waren in den Gemeinschaften von Menamaty zum Zeitpunkt meiner Feldforschung weiterhin lebendig.21 Elli, der als Missionar gerade am sozialen Wandel der Bara-Gesellschaft interessiert sein dürf‑ te, stellt mit Blick auf Faublées Ethnografie resigniert fest: Was gegenwärtig frappiert, ist die Permanenz der kollektiven Repräsentationen, welche die Gesellschaft der Bara geformt haben und formen. In fünfzig Jahren haben sich die Dinge sehr

20 | In Ranomadio leben auch Angehörige des Zafimagnely-Clans, die in keiner Weise besondere Ehrerbietung oder Privilegien genießen. 21 | Beispielweise sah Faublée (1954: 74) die Praxis, dass ein jüngerer Bruder die Ehefrau des älteren Bruders nach dessen Tod übernimmt, im Verschwinden begriffen. Michel (1957: 107) meinte wiederum, die Auflösung der institutionellen Blutsbruderschaft (vakira) zu bezeugen. Beides wurde während meiner Feldforschung allerdings weiterhin praktiziert.

2. Die Dor fgemeinschaf ten von Menamaty wenig verändert. Das heutige Leben auf dem Land entspricht immer noch dem, das Faublée vor einem halben Jahrhundert beschrieb. 22

Auch die beschriebenen Kontexte der Dorfgemeinschaften legen nahe, dass sich der Einfluss durch die moderne madagassische Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten mehr oder weniger auf gleichem Niveau bewegt hat: Die aktuellen Konflikte mit Gendarmen als den primären lokalen Repräsentanten des staatlichen Rechtssystems gleichen denjenigen, die bereits Michel (1957: 142) gegen Ende der Kolonialzeit beschrieb. Die Straße nach Iloto aus der Kolonialzeit wurde, wie bereits bemerkt, erst nach meiner Feldforschung wieder Instand gesetzt. Steuern auf den Viehbesitz, die während der Kolonialzeit offenbar erhoben wurden (Faublée 1941: 123), werden momentan in der Region nicht eingetrieben. Der Lebensunter‑ halt der Dorfbevölkerung beruht weiterhin ausschließlich auf einer agropastoralen Subsistenzwirtschaft, und die wenigen industriell gefertigten Gebrauchsgüter wie Kleidung, Salz oder Zucker sowie Koch‑ und Essgeschirr wurden bereits während der Feldforschung von Faublée (1954: 130) auf den Märkten der Verwaltungsorte bei dort ansässigen Merina‑ oder Betsileo-Händlern erworben. Trotz der Bemühungen von staatlicher und vor allem katholischer Seite stoßen Beschulung und christliche Missionierung weiterhin auf Widerstand und haben seit der Kolonialisierung in der Forschungsregion offenbar nicht zu einer Verbreitung der entsprechenden Institu‑ tionen geführt (vgl. Elli 1993: 127-74; Faublée 1954: 136; Huntington 1986). Angesichts des rapiden sozialen Wandels in den meisten postkolonialen Ge‑ sellschaften, wie auch in vielen madagassischen Regionen, in denen der Ackerbau vorherrscht, stellt sich die Frage, womit die relative sozioökonomische und kultu‑ relle Konstanz der letzten Jahrzehnte in der Forschungsregion zusammenhängt. Mehrere Gründe kommen hierfür in Betracht: Die Forschungsregion ist aufgrund des semiariden Klimas und der schwierigen Topografie relativ uninteressant für in‑ tensiven Ackerbau und bietet kaum Ressourcen, die eine industrielle Erschließung lohnend machen würden.23 Im Unterschied zu vielen anderen pastoral genutzten Regionen, etwa in Ostafrika (vgl. Gebre 2001), besteht in der Forschungsregion bis‑ her keinerlei Landmangel und damit auch nicht das Risiko, die Lebensgrundlage infolge einer Dürre gänzlich zu verlieren. Selbst im Fall eines kompletten Verlustes der Rinderherde – etwa durch Viehdiebstahl – besteht die Möglichkeit, durch die Er‑ schließung neuer Reisfelder nicht nur die Ernährung sicherzustellen, sondern durch den Tausch des Reisüberschusses gegen Rinder einen neuen Viehbestand zu erwer‑ ben. Im Gegensatz zum städtischen Umfeld Madagaskars mit seinen limitierten ökonomischen Perspektiven setzt das weite, dünn besiedelte Land dem Wachstum der Rinderherden bislang kaum Grenzen. Dem geringen Transformationsdruck von 22 | Von mir übersetzt aus dem Französischen: »Ce qui frappe aujourd’hui c’est la permanence des représentations collectives qui ont façonné et façonnent la société bara. En cinquante ans, les choses ont très peu évolué. La vie en brousse, aujourd’hui, est encore celle décrit par Faublée il y a un demi-siècle.« (Elli 1993: 124) 23 | Auf dem der Forschungsregion benachbarten Plateau Horombe haben sich in den letzten Jahren allerdings ein indisches sowie ein italienisches Agrarunternehmen angesiedelt, um Mais und Jatropha im großen Stil anzubauen. Sollten sich diese Unternehmen trotz des lokalen Widerstandes durchsetzen, würde sich das frei verfügbare Weideland in naher Zukunft deutlich verringern.

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außen korrespondiert ein relativ schwach ausgeprägtes Interesse der Dorfbewohner an industriellen Gütern und einem urbanen Leben. Aufgrund der Bedeutung von Rinderbesitz als ultimativem Statussymbol erscheinen andere Güter als nicht be‑ sonders erstrebenswert. Ein städtisches oder stadtnahes Leben sowie den ›Verlust‹ von kindlichen und jugendlichen Viehhirten an die Schule betrachteten viele meiner Gesprächspartner als hinderlich für eine möglichst effektive Vermehrung ihres Vieh‑ besitzes. Abgesehen von einem Ladenbesitzer, der die ›Modernisierung‹ seines Dor‑ fes beschwor, vertraten meine Gesprächspartner aus den Dörfern durchweg das An‑ liegen, dass sich die Lebensweise der Ahnen (fomban-draza) in der Zukunft fortsetze. Insgesamt ist der soziale Wandel der Dorfgemeinschaften nicht derart ausge‑ prägt, dass er die Sozialisationsbedingungen in den letzten Jahrzehnten grund‑ legend verändert hat.24 Sofern sich die neu gegründete Schule in Ranomadio lang‑ fristig durchsetzen wird, wäre allerdings in der nahen Zukunft eine weitreichende Transformation der Sozialisationsvoraussetzungen und längerfristig auch ein starker gesellschaftlicher Wandel zu erwarten. Die Auswirkungen der Beschulung waren in einigen von mir besuchten Dörfern auf dem Plateau Horombe zu beob‑ achten, die aufgrund hartnäckiger Bemühungen einer katholischen Bruderschaft schon seit einigen Jahren über Schulen verfügten. Keiner der von mir befragten Schüler, die mittlerweile eine weiterführende Schule in Ihosy besuchten, wollte wieder dauerhaft in die Dörfer der Eltern zurückkehren und deren Lebensweise fortführen. Ihre Äußerungen zur Zukunft waren vielmehr durch eine ausgeprägte Fortschrittsrhetorik geprägt.

D er ›F remde mit roten O hren ‹ Es liegt auf der Hand, dass die Darstellung der Gemeinschaften von Menamaty, der Beziehungsmuster und Emotionen ihrer Mitglieder, der Sozialisationsprozesse und kindlichen Erfahrungswelten nicht nur durch die oben skizzierten Fragestel‑ lungen und theoretischen Voreinstellungen geprägt ist, sondern auch durch meine soziale Stellung in der Dorfgemeinschaft, meine Beziehungen zu einzelnen Men‑ schen und die dynamischen Prozesse der Feldforschung. Ohne den Anspruch auf eine erschöpfende und vollkommen adäquate Aufdeckung dieser komplexen sozia‑ len Bedingungen erheben zu wollen, möchte ich zunächst doch einige Bemerkun‑ gen zu meiner Feldforschungssituation machen. Die Möglichkeit und der Verlauf meines Aufenthaltes in den Dörfern von Me‑ namaty waren maßgeblich durch mehrere junge Männer aus Ihosy bedingt, die mich während der gesamten Feldforschung als Vermittler und Assistenten unter‑ stützten. Bereits die Wahl der Forschungsregion und des Dorfes Ranomadio als Zentrum der Feldforschung sowie die Möglichkeit, in der Dorfgemeinschaft für einige Zeit zu leben und zu forschen, sind durch die Vermittlung und Unterstüt‑ zung von Iavitsara zustande gekommen. Dieser junge Mann, den ich bereits wäh‑ rend eines früheren Aufenthaltes in Madagaskar kennen gelernt hatte, erklärte sich 24 | Vgl. hierzu LeVine et al. (1994: 143), die Gelegenheit hatten, die aktuellen kulturellen Modelle der Säuglingsbetreuung von Gusii-Müttern mit den Ergebnissen einer früheren Erhebung zu vergleichen: »Their model of infant care largely replicated that of the preceding generation, whose norms and practices were recorded in the 1950s.«

2. Die Dor fgemeinschaf ten von Menamaty

nach unserer Ankunft in Ihosy bereit, mit meiner Lebenspartnerin und mir in sein Geburtsdorf Ranomadio zu reisen und mich seiner Verwandtschaft vorzustellen. Neben seinem Bruder hatte Iavitsara als einzige Person aus Ranomadio nicht nur einen Schulabschluss erworben, sondern auch ein Studium abgeschlossen und ein Anstellungsverhältnis gefunden, was in Madagaskar auch für sehr gut ausgebildete junge Männer einem Glücksfall gleichkommt. Iavitsaras Verwandtschaft in Ranomadio, die in der Vergangenheit zahlreiche Rinder für seine Ausbildung aufgewendet hatte, ihn aber nur selten zu Gesicht bekam, empfing uns mit überwältigender Offenheit und Zuwendung – obwohl sie erst wenige Stunden zuvor von unserem Besuch erfahren hatten. Bereits etwa 15 km vor dem Ziel kamen uns zwölf seiner jugendlichen Cousins entgegen, die von einem vorauseilenden Boten informiert worden waren, und nahmen uns das Ge‑ päck ab. Auf dem Weg stießen immer mehr Verwandte von Iavitsara hinzu und so erreichten wir das Dorf in Begleitung einer großen Entourage. Dort wurden wir direkt in das Haus von Iavitsaras ältestem Onkel Tiry25 geführt, das sich umgehend mit älteren Männern und Frauen füllte und von zahlreichen Kindern umlagert wurde, die durch den Eingang und die Fensteröffnung hereinblickten. Zu meiner Überraschung und Verlegenheit beschenkten uns die Älteren nacheinander mit Hühnern, Enten und Truthähnen sowie mit madagassischem Bier, Fanta, Cola und mit Geldscheinen. Die damit verbundenen mehrstündigen Begrüßungsreden boten eine erste Ge‑ legenheit, mein Anliegen vorzubringen, für eine Weile bei ihnen zu leben, um ihren Alltag sowie vor allem ihre Art der Kindererziehung kennenzulernen und da‑ rüber ein Buch zu schreiben. Die Männer brachten vor allem ihre Verwunderung darüber zum Ausdruck, dass meine Partnerin und ich eine derart lange Reise auf uns genommen hätten, um ausgerechnet das Leben in ihrem kleinen Dorf kennen‑ zulernen. Aufgrund meiner zu diesem Zeitpunkt äußerst dürftigen Kenntnisse der lokalen Sprache26 und kommunikativen Gepflogenheiten sind mir sicherlich viele Aspekte dieser von Iavitsara angeleiteten Initialkommunikation verborgen ge‑ blieben. Zumindest zeugten die darauffolgenden, zweitägigen Festlichkeiten von einem gewissen Enthusiasmus meiner Gastgeber. In den nächsten Wochen und Monaten zeigte sich allerdings auch, dass mein kulturanthropologisches Interes‑ se keineswegs allen Menschen aus der Region überzeugend erschien. Insbeson‑ dere außerhalb von Iavitsaras Verwandtschaftsgruppe und in der weiteren Region machten sich immer wieder Gerüchte breit, ich wäre insgeheim auf der Suche nach Edelsteinen oder hätte ein Landwirtschaftsprojekt im Sinn.27 Nach diesem ersten Kennenlernen und der Einwilligung seitens Iavitsaras Ver‑ wandtschaft, mich für die nächsten Monate aufzunehmen, kehrte ich nach einem kurzen Aufenthalt in der Hauptstadt und der Verabschiedung von meiner Partne‑ 25 | Im Unterschied zu den Städtern haben die Menschen von Menamaty in der Regel keine Nachnamen. 26 | Ich hatte zwar zuvor in der Hauptstadt Antananarivo einen mehrwöchigen Sprachkurs absolviert, jedoch zeigte sich, dass der Bara-Dialekt doch erheblich vom Standard-Malagasy abweicht. 27 | Diese Verdächtigungen waren insofern nachvollziehbar, als Europäer im südlichen Madagaskar nicht nur in der Funktion von Missionaren auftreten, sondern auch Saphir-Minen betreiben und, wie erwähnt, Landwirtschaftsprojekte im industriellen Stil vorantreiben.

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rin zusammen mit Etienne Tsiavela nach Ranomadio zurück. Etienne Tsiavela, der sich zu den Antesaka, einer den Bara benachbarten Gruppe, zählte und seit der ge‑ meinsamen Schulzeit mit Iavitsara in einer engen Verbindung stand, unterstütze mich während der gesamten ersten Feldforschung von August 2009 bis Mai 2010 als sozialer Vermittler und Forschungsassistent.28 Da Etienne und ich als Blutsbrüder (vakira) von Iavitsara galten,29 übernahmen wir von Anfang an seine Verwandtschaftsbeziehungen und wurden in seinen tariky, seine patrilineare Abstammungsgruppe, eingegliedert. Iavitsaras ältester, unverhei‑ rateter Onkel Tiry, der als lonaky, d.h. als Oberhaupt des tariky, fungierte, lernten wir zusammen mit seinen jüngeren Brüdern Simon, Jean-Pierre und Ferdinand als unsere lokalen ›Väter‹ (aba/ray) zu betrachten.30 In dieser Rolle waren sie hauptver‑ antwortlich für unsere Sicherheit und zugleich befugt, über unser Tun und Lassen während der Feldforschung zu wachen. Tiry führte kurz nach unserer Ankunft ein tsiporano durch, indem er uns den patrilinearen Ahnen vorstellte und mit einem Al‑ koholopfer ihren Segen und Schutz für uns erbat. Er wies Etienne und mir ein leer‑ stehendes Haus zu, das uns und einigen unserer neuen ›Brüder‹ nach einer Rund‑ erneuerung während des gesamten Feldaufenthaltes zur Verfügung stand. Unsere ›Mütter‹ (reny/neny), nämlich Tirys älteste, unverheiratete Schwester Rafaratsa sowie Nareny, Ziny und Mbasay, die Ehefrauen von Tirys Brüdern, sorgten sich um unser leibliches Wohl, indem sie uns bis zu fünfmal täglich jeweils eine Schüssel Reis mit Beilagen vorbeibrachten.31 Von unseren 18 ›Brüdern‹ (rahalahy) und ›Schwestern‹ (anabavy) spielte Lida, der mit 17 Jahren älteste in dieser Gruppe, eine besonders wichtige Rolle, da er uns bei unseren Unternehmungen und Reisen stets begleitete. Aufgrund dieser ad hoc-Integration durch die Übernahme der Verwandt‑ schaftsbeziehungen von Iavitsara fanden wir uns von Anfang an in einem dichten und äußerst komplexen Beziehungsgeflecht wieder, was schnell zu einer intensi‑ ven Teilnahme am Familienleben führte. Schon nach wenigen Tagen wurde ich kurz hintereinander von Nareny, Ziny und Mbasay darum gebeten, ihren jeweils 28 | Da Etienne nach dieser ersten Feldforschung zu studieren begann, traten bei der zweiten, dreimonatigen Feldforschung von Mai bis August 2011 Dadah Sambo und Boba Fihavana an seine Stelle, die ebenfalls in einem engen Vertrauensverhältnis zu Iavitsara standen. 29 | Vakira, das Ritual der Bluts‑ oder Schwurbruderschaft, dient in der Region dazu, zwischen nichtverwandten Personen eine vertrauensvolle, verbindliche Beziehung herzustellen. Aufgrund der katholischen Konfession von Iavitsara und Etienne Tsiavela hatten wir dieses Ritual zwar nicht ausgeführt, trotzdem wurde unsere Relation nach dem Vorbild der Blutsbruderschaft konzipiert. 30 | Zwei weitere Brüder von Tiry, darunter auch der Vater von Iavitsara, waren vor einigen Jahren in einem gewaltsamen Konflikt mit Viehdieben zu Tode gekommen. Vor diesem Hintergrund wurde uns wiederholt deutlich gemacht, dass es nötig sei, unsere Unversehrtheit durch allerlei Vorsichtsmaßnahmen sicher zu stellen. 31 | Obwohl wir damit täglich mindestens das Dreifache unseres Nahrungsbedarfs erhielten und aufgrund unterschiedlicher Kochrhythmen unserer ›Mütter‹ häufig mehr als dreimal am Tag speisten, wurde diese Praxis bis zum Ende der Feldforschung beibehalten. Wie uns Lida, der Sohn von Jean‑Pierre, deutlich machte, war dies erforderlich, um das soziale Gleichgewicht zwischen den Familien der Verwandtschaftsgruppe in der Beziehung zu uns aufrecht zu erhalten. Wie noch zu zeigen sein wird, kann die Gabe von Nahrungsmitteln als zentrale Ausdrucksform für hierarchische Beziehungen gesehen werden.

2. Die Dor fgemeinschaf ten von Menamaty

rund einjährigen Kindern Namen zu geben, die in meiner Sprache gebräuchlich sind.32 Insbesondere zwei unserer ›Mütter‹ vertrauten uns gegenüber häufig aus‑ führlich ihren Unmut über eine der anderen Parteien an, und so sahen wir uns häufig direkt mit sozialen Spannungen zwischen den Familien innerhalb der Ver‑ wandtschaftsgruppe konfrontiert. Zugleich sorgten wir offenbar auch selbst hin und wieder für ein soziales Ungleichgewicht, indem wir die einen Verwandten zu selten oder die anderen zu häufig besuchten. Die Aufgabe der Beziehungsgestaltung und -regulation, welche die ersten Mo‑ nate des Aufenthalts prägte, und bei der in erster Linie Etienne die Regie über‑ nahm, verkomplizierte sich durch unsere Bemühungen, auch mit den Familien anderer tariky vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen. Denn mit der Integration in Iavitsaras Abstammungsgruppe hatten wir offenbar zugleich die Verpflichtung übernommen, uns an dem bestehenden Beziehungsgefüge zwischen unserem und den anderen sechs tariky von Ranomadio zu orientieren. Mit den Mitgliedern von zwei weiteren tariky bestand auf der Basis affinaler Verwandtschaftsbeziehungen ein freundschaftliches, kooperatives Verhältnis, sodass uns ein weitgehend unbe‑ fangener Umgang mit Personen aus dieser Gruppe möglich war. Die sozialen Rela‑ tionen zu den anderen tariky reichten allerdings von einem kühlen Nebeneinander über eine ausgeprägte Distanz bis hin zu einer gewissen Feindschaft, die Etienne gerne als ›kalten Krieg‹ charakterisierte. Wie wir im Laufe unseres Aufenthaltes er‑ fuhren, gingen die ›kalten‹ sozialen Relationen auf eine Geschichte von Konflikten zurück, die auf gegenseitigen Beschuldigungen wegen Viehdiebstahl, Schadens‑ zauber oder Vergiftungsakten beruhten. Obwohl Rafaratsa und Tiry uns immer wieder vor Vergiftung und Schadenszau‑ ber (voriky) durch gewisse Nachbarn warnten, wollten wir unseren Wunsch nicht auf‑ geben, mit den Angehörigen aller tariky von Ranomadio Beziehungen zu knüpfen, was uns wiederum den Ärger unserer ›Eltern‹ (ray aman-dreny) und den Vorwurf einbrachte, sie nicht ausreichend zu ›fürchten‹ (matahotsy). Derartige Konfliktmus‑ ter resultierten auch aus unserem Umgang mit den Angehörigen der mütterlichen Abstammungsgruppe von Iavitsara, die in dem etwa 15 km nördlich gelegenen, rund 40 Personen umfassenden Dorf Kelivohitsy ansässig waren. Iavitsaras leibliche Mutter Korosa, die nach dem gewaltsamen Tod ihres Ehemannes nach Kelivohitsy zurückgekehrt war und ihre damals erst wenige Jahre alten Kinder in Ranomadio zurückgelassen hatte, betrachtete uns ausdrücklich als ›Ersatz‹ (solo) für ihre an die Stadt ›verlorenen‹ Söhne und besuchte uns regelmäßig. Unsere Gegenbesuche in Kelivohitsy führten jedoch häufig zu einer gewissen Missstimmung seitens unse‑ rer ray aman-dreny in Ranomadio, was vor allem Rafaratsa unmissverständlich zum Ausdruck brachte. Nach einigen Monaten pendelte sich jedoch eine Art soziales Gleichgewicht ein, indem wir den Loyalitätsanspruch unserer ray aman-dreny stär‑ ker zu berücksichtigen lernten und diese umgekehrt mein Anliegen zu akzeptieren begannen, auch mit Familien anderer tariky engen Kontakt zu pflegen. Durch die Vermittlung von Iavitsara bekamen wir in den letzten Monaten der Feldforschung sogar die Gelegenheit, mit dem Einverständnis von Tiry und Rafaratsa jeweils rund zwei Wochen in sieben Haushalten verschiedener tariky zu Gast zu sein, um unsere Einblicke in das alltägliche Familienleben zu vertiefen. 32 | Diese Praxis meiner sozialen Einbindung durch Namensgebung übernahmen mit der Zeit weitere Familien von Menamaty.

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Während die geschilderten Komplikationen vor allem unseren Umgang mit den älteren Repräsentanten anderer tariky betraf, gestaltete sich unser Verhältnis zu den Kindern, Jugendlichen und unverheirateten Erwachsenen wesentlich un‑ komplizierter, die schon bald nach unserer Ankunft in ›unserem‹ Haus nach Be‑ lieben ein‑ und ausgingen und uns auf ihren Exkursionen in die Umgebung des Dorfes mitnahmen – etwa zum Baden, Fischen oder Reisdreschen. Etienne trug erheblich dazu bei, die anfängliche Furcht einiger Kinder vor uns abzubauen, in‑ dem er in den ersten Wochen mit ihnen allabendlich Lieder sang, Gedichte einstu‑ dierte und Gruppenspiele veranstaltete. Zwar dürften derartige Aktivitäten unse‑ rem Ansehen bei den übrigen Dorf bewohnern nicht gerade zuträglich gewesen sein, da spielerische Aktivitäten mit Kindern dem lokalen männlichen Rollenideal diametral entgegenstehen – so wurden wir immer wieder damit aufgezogen, dass wir anstelle von Rindern Kinder hüteten (miarakandro aomby/anaky). Dafür erwar‑ ben wir jedoch das Zutrauen der meisten Kinder von Ranomadio und somit auch Einblicke in ihre persönlichen Erziehungs‑ und Emotionserfahrungen, von denen sie uns in zahlreichen Interviews berichteten. Nach anfänglicher Zurückhaltung entwickelten wir auch ein lockeres und freundschaftliches Verhältnis mit vielen Jugendlichen und unverheirateten Erwachsenen beiderlei Geschlechts, mit denen wir vorwiegend unsere Freizeit verbrachten. Auch wenn wir einige Jahre älter als die meisten Mitglieder diese Gruppe waren, so wurden wir ihr als unverheiratete Männer doch zugerechnet.33 Unsere nahezu vorbehaltlose und zugleich vereinnahmende Integration in die Abstammungsgruppe Iavitsaras sowie unsere informellen, freundschaftlichen Be‑ ziehungen zu den Gleichaltrigen erscheinen mir in hohem Maße durch die lokalen Organisationsformen von sozialen Beziehungen bedingt zu sein. Wie noch näher zu zeigen ist, sind die hierarchischen Beziehungen innerhalb der tariky in hohem Maß verbindlich und verpflichtend, womit Beziehungen zu den Älteren ›fremder‹ tariky leicht zu Loyalitätskonflikten führen können. Demgegenüber obliegt die Bezie‑ hungsgestaltung mit Gleichaltrigen vorwiegend den individuellen Interessen und Vorlieben. Überdies dürfte auch die mir anfangs zugeschriebene soziale Identität als vazaha mena sofy – ein Fremder mit roten Ohren – zu einem gewissen Sonderstatus geführt haben. Auch wenn keiner der Dorfbewohner je einen solchen vazaha zu Gesicht bekommen hatte, waren mit dieser sozialen Kategorie dennoch zahlreiche Erwartungen und Voreinstellungen verbunden, die meine soziale Stellung prägten. Einerseits wurde mir als vazaha eine große körperliche Unbeholfenheit und schwache Konstitution unterstellt, womit ich anfangs von vielen Aktivitäten, die als körperlich herausfordernd betrachtet wurden, wie etwa dem Umgang mit Rin‑ dern oder langen Märschen in andere Dörfer, ausgeschlossen wurde. Freilich war dieses Vorurteil teilweise auch berechtigt, und mein Handeln, Verhalten und Aus‑ sehen wurden immer wieder als Belege aufgefasst.34 Andererseits schrieben mir 33 | An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass meine soziale Einordnung in die Gruppe junger unverheirateter Männer sicherlich auch meine Wahrnehmung prägte und vor allem im ersten Teil der Arbeit die Sichtweisen meiner Alters‑ und Geschlechtsgenossen etwas dominieren mögen. 34 | Das Wissen um meine Bienenallergie etwa, die als eine vollkommen unbegründete Furcht vor Bienen (tahotsy tantely) interpretiert wurde, verbreitete sich in der gesamten Region und teilweise wurde ich von mir unbekannten Personen darauf angesprochen. Meine

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die Dorf bewohner von Anfang an außerordentliche technische und medizinische Fähigkeiten sowie schier unerschöpfliche finanzielle Kapazitäten zu. So wurden mir von allen Seiten, auch von mir unbekannten Personen, defekte Geräte wie Ta‑ schenlampen oder Radios mit der Erwartung vorbeigebracht, ich könne diese im Handumdrehen reparieren. Ebenso wurde ich nahezu täglich in der Rolle als Arzt in Anspruch genommen, wobei ich viele in mich gesetzte Hoffnungen enttäuschen musste. Aufgrund der mir zugeschriebenen finanziellen Möglichkeiten boten mir meine Gastgeber durch konkrete Anfragen zahlreiche Gelegenheiten, die mir ent‑ gegengebrachten, materiellen und immateriellen Güter zu entgelten.35 Insgesamt verfügte ich aufgrund der mir als vazaha mena sofy zugeschriebenen Attribute über einen hohen, wenn auch ambivalenten, sozialen Status. Das große In‑ teresse der meisten Menschen aus Menamaty, mit mir in Kontakt zu treten und mich in enge, gegenseitig verpflichtende Beziehungen einzubinden, dürfte vor allem mit diesem Sonderstatus in Verbindung gestanden haben, der weniger aus meinem Ver‑ halten, sondern aus einem tradierten Konzept des rotohrigen Fremden resultierte.36 Zweifellos kam dieser Status meinem Forschungsinteresse entgegen, da er letztlich auch die Bereitschaft der Menschen förderte, sich auf die vielen Interviews mit mir einzulassen. Jedoch führte dies nach meiner Einschätzung kaum zu einem gänzlich einseitigen Machtverhältnis, da ich wiederum stark von der Gunst, dem Schutz und der Versorgung durch meine Gastgeber abhängig war. Im Umgang mit mir waren diese durchaus in der Lage und gewillt, ihre eigenen, materiellen und sozialen Inter‑ essen zu verfolgen, indem sie etwa auf die Gestaltung meiner sozialen Beziehungen und die Richtung meiner materiellen Zuwendungen beträchtlichen Einfluss nah‑ men.37 Die während der Feldforschung entstandenen Interaktionen und Beziehun‑ gen erschöpften sich freilich keineswegs in der Verfolgung divergierender Zwecke. Insbesondere der Umgang mit unseren Altersgenossen war größtenteils schlicht durch das Interesse am Anderen sowie durch die Bedürfnisse nach Geselligkeit und Unterhaltung geprägt, sodass im Lauf der Feldforschung enge Freundschaften mit zahlreichen Personen aus Ranomadio, Soafary, Fotora und Kelivohitsy entstanden.

vergleichsweise helle Hautfarbe wurde darauf zurückgeführt, dass meine Haut äußerst dünn und verletzlich sei. Immer wieder wurde mir das ›Kompliment‹ gemacht, meine Beine glichen denen einer Frau. Beim Versuch, wie die Anderen mit Ästen oder Steinen Mangos von den Bäumen zu schießen, bekam ich zu hören, ich würfe wie ein Mädchen. 35 | Mit meinen finanziellen Kapazitäten konnte ich allerdings mit den wohlhabendsten Dorfbewohnern nicht mithalten, die bis zu 600 Rinder besaßen. 36 | Angesichts der kolonialen Vergangenheit stellt sich natürlich die Frage, wie ein derart positives Image des vazaha entstehen konnte. In Gesprächen zu dieser Frage wurde deutlich, dass die vazaha der Kolonialzeit in erster Linie als Kontrahenten der Merina angesehen wurden, denen gegenüber nach wie vor eine gewisse Feindschaft kultiviert wird. 37 | In einem stärker marktwirtschaftlich geprägten Feld würden sich hingegen viel geringere Abhängigkeiten der forschenden von den beforschten Personen ergeben, da dann die Möglichkeit bestünde, die Lebensgrundlagen eigenständig sicherzustellen.

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Abbildung 5: Partner im Feld. Iavitsara Randriamanana, Rafaratsa, Etienne Tsiavela

A spekte der sozialen O rganisation Im vorangegangenen Unterkapitel habe ich aus der Perspektive meiner sozialen Position in Ranomadio bereits einige Aspekte der Beziehungsdynamiken und da‑ mit auch der sozialen Organisation angeschnitten. Ohne diese Perspektive gänz‑ lich fallen zu lassen, werde ich im Folgenden die soziale Strukturierung der lokalen Gemeinschaft(en) in einer abstrakteren Form skizzieren, um einen prinzipiellen Orientierungsrahmen für die weiteren Kapitel zu schaffen.

Soziale Gruppierungen in Ranomadio Die Beschreibung meiner sozialen Einbindung und Position während der Feldfor‑ schung hat bereits deutlich gemacht, dass die Gemeinschaft von Ranomadio ver‑ wandtschaftlich klar segmentiert ist und die sozialen Beziehungen und Interaktio‑ nen in hohem Maße entlang dieser sozialen Segmente reguliert werden. Insgesamt teilen sich die rund 350 Einwohner des Dorfes auf sieben soziale Gruppierungen auf, die gemäß den lokalen Verwandtschaftskonzepten als tariky bezeichnet wer‑ den und weitgehend patrilinearen Abstammungsgruppen entsprechen. Etienne und ich wurden, wie beschrieben, in einen dieser tariky eingegliedert, der nach seinem aktuellen Oberhaupt (lonaky) Tiry benannt ist. Gemäß einer Er‑ hebung mit Tiry, der als lonaky eine beträchtliche Autorität über die Angehörigen seines tariky genoss, setzte sich diese Gruppe aus allen Nachkommen von Tirys Großvater über die väterliche Linie zusammen. Dieser Großvater sowie alle Per‑ sonen aus Tirys Elterngeneration (sein Vater, zwei Tanten, ein Onkel) und zwei

2. Die Dor fgemeinschaf ten von Menamaty

seiner Brüder waren bereits verstorben, womit sie nach den Überzeugungen ihrer Nachkommen als fahasivy, Ahnengeister, weiterhin einflussreich waren und im ge‑ meinsamen Grab (lolo) des tariky hausten. Zu den lebenden Mitgliedern des tariky zählten Tirys kinderlose Schwester Rafaratsa, seine drei Brüder Simon, Jean-Pierre und Ferdinand, deren Kinder sowie die Söhne der beiden verstorbenen Brüder. Die Ehefrauen von Tirys Brüdern, Nareny, Ziny und Mbasay, die uns während der Feld‑ forschung umsorgten, stammten allesamt aus umliegenden Dörfern und wurden von Tiry nicht als feste Mitglieder des tariky angesehen. Die patrilinearen Nachkommen von Tirys verstorbenem Onkel bildeten einen weiteren Zweig der Abstammungsgruppe, der formal ebenso unter Tirys Autori‑ tät stand. Die drei verheirateten Töchter des Onkels lebten im tariky ihrer jewei‑ ligen Ehemänner in anderen Dörfern. Tiry zählte sie, nicht jedoch deren Kinder, zu den Mitgliedern seines tariky. Ihre Zugehörigkeit zu Tirys tariky manifestierte sich etwa darin, dass während der Feldforschung eine der Töchter, Marovelo, die sich von ihrem Ehemann getrennt hatte, nach Ranomadio zurückkehrte und ihre beiden Kinder bei deren Vater zurück ließ. Insgesamt zählte Tiry zu seinem tariky etwas mehr als 40 lebende Personen, die zusammen über 100 Rinder besaßen. Obwohl sich die Mitglieder der beiden Abstammungszweige von Tirys tariky zu wichtigen Anlässen zusammenfanden, miteinander kooperierten und einen höflichen Umgang pflegten, zeigte sich sehr bald, dass ihre Beziehungen auch durch gewisse Spannungen geprägt waren. Wie wir allmählich von verschiedenen Seiten erfuhren, war Tirys Bruder Gaby vor einigen Jahren von seinem Cousin Malajamana aus dem anderen Abstammungszweig beschuldigt worden, als Kom‑ plize (pagnolotsy) von auswärtigen Viehdieben beim Diebstahl von sieben Rindern Malajamanas beteiligt gewesen zu sein. Kurz nach dieser Beschuldigung war Gaby verstorben. Malajamanas Brüder sahen darin eine Bestrafung (voaseky) durch den Geist des gemeinsamen Großvaters. Diese Sichtweise hätte ein soro, ein Rinderop‑ fer erforderlich gemacht, um den Großvater zu besänftigen und weiteres Unglück abzuwenden. Tiry, der in seiner Funktion als lonaky (Oberhaupt) bzw. pisoro (›Op‑ fernder‹) allein dieses Ritual hätte vollziehen können, führte allerdings den Tod seines Bruders auf einen Schadenszauber (voriky) durch Malajamana zurück. Trotz dieser Spannungen kam für Tiry eine Aufspaltung des tariky nicht infrage, da er meinte, der Großvater wäre damit nicht einverstanden. Die Erhebung weiter zurückreichender Genealogien der tariky von Ranoma‑ dio zeigte allerdings, dass sich die meisten tariky in der Vergangenheit spätestens dann aufgespalten hatten, sobald der gemeinsame Ahn der ältesten Mitglieder mehr als drei Generationen zurück lag und damit von ihnen nicht mehr als leib‑ haftige Person erlebt worden war. In der Regel hatte ein solches Auseinanderbre‑ chen von Lineage‑Zweigen auch eine räumliche Trennung zur Folge, da eine der beiden Gruppen in eine andere Region umsiedelte (vgl. Faublée 1954: 56). Zwar gehörten die neu gebildeten Lineages weiterhin derselben raza an, jedoch waren diese clanähnlichen, multilokalen Gruppierungen im Zeitraum der Feldforschung kaum mehr von Bedeutung. Wie meine Erhebungen mit den lonaky der anderen sechs tariky von Ranoma‑ dio ergaben, beruhte deren Zusammensetzung auf demselben patrilinearen Ab‑ stammungsprinzip wie derjenige von Tiry. Jedoch unterschieden sie sich teils be‑ trächtlich hinsichtlich der Anzahl ihrer Mitglieder – je nachdem, vor wie vielen

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Generationen der gemeinsame Ahn lebte und wie viele Nachkommen dieser her‑ vorgebracht hatte. Der größte tariky mit Rivomana als lonaky dürfte mehr als 100 Personen umfasst haben, die wiederum im Besitz von rund 1200 Rindern waren. Jedoch zeichneten sich auch hier bereits Aufspaltungstendenzen zwischen den Lineage-Zweigen von Rivomana und seinem jüngeren Cousin Tongavelo ab. Zum einen hatte sich Ri‑ vomana mit seinen rund 40 direkten Nachkommen bereits räumlich abgesondert, indem er vor einigen Jahren einen eigenen, etwa zwei Kilometer von Ranomadio entfernten Weiler bei den Maniokfeldern gegründet hatte. Öffentlich wurde diese Absonderung zwar mit den besseren Bewachungsmöglichkeiten der Maniokfelder begründet, jedoch dürften auch soziale Spannungen eine Rolle gespielt haben. Wäh‑ rend der zweiten Feldforschung kam es beispielsweise zu einem Konflikt zwischen den Söhnen von Rivomana und Tongavelo: Einige der 600 Rinder Rivomanas,38 die von seinem Sohn Tsimagniry gehütet wurden, hatten auf dem Reisfeld von Tongave‑ lo geweidet und dieses beschädigt. Als Tongavelos Sohn Babaly auf Rivomanas Sohn Tsimagniry stieß, entbrannte ein lautstarker Streit, woraufhin Babaly den Milch‑ eimer von Tsimagniry umstieß. Dies wurde als schwerwiegende moralische Verfeh‑ lung (fady loza) gewertet, da die körperliche Substanz von Rindern, einschließlich der Milch, als sakral angesehen wird. Um diesen Konflikt beizulegen und den tariky zu ›reinigen‹ (manasa) bzw. um eine Verfluchung oder ›Segensentzug‹ durch die Ahnengeister (havoa) abzuwenden, wurde daraufhin im Osten vom Haus des lonaky (tranobe) ein Rind geopfert (misoro). Nachdem sich die Mitglieder des tariky (sowie mein Forschungsassistent und ich als Zuschauer) versammelt hatten, hielt Rivoma‑ na eine Ansprache an die Ahnen, in der er den Anlass des Opfers erklärte und sie darum bat, ihren Zorn (heloky) zu begraben und den gesamten tariky zu segnen (mitahy). Dann wurde die Kehle des Rindes mit dem Opferschwert (verara) durchtrennt und mit einem Teil des Blutes ein Pfahl an der Nordostecke des Hauses (hazomanga) eingerieben, der die Einheit des tariky einschließlich der Ahnen repräsentiert. Zu‑ letzt vollzogen die älteren Männer nacheinander gegenüber Rivomana ein mifaly, eine der Verbeugung ähnliche Geste. Damit war zumindest dieser konkrete Konflikt bereinigt und die Autorität von Rivomana bekräftigt. Banambo, der lonaky eines weiteren tariky vereinte vier Generationen mit ins‑ gesamt über 80 Personen unter sich, die zusammen rund 600 Rinder besaßen und sich in drei Zweige aufgliederten. Auch hier zeigten sich soziale Spannungen, nämlich zwischen den Halbbrüdern Marojaony und Sinaotsy, die jeweils an der Spitze eines Abstammungszweiges standen. Von meinen Gesprächspartnern wur‑ den diese Spannungen als Konsequenzen der Erbschaft erklärt: Marojaony hatte als der Ältere etwa 400 und Sinaotsy ›nur‹ 200 Rinder des Vaters geerbt. Doch während Sinaotsy seine Rinderherde kontinuierlich vergrößerte, büßte Marojaony einen beträchtlichen Teil der Rinder ein, da die Aktivitäten seiner Söhne als Vieh‑ diebe wiederholt beträchtliche Kompensationszahlungen erforderlich gemacht hatten, sodass er zum Zeitpunkt der Feldforschung deutlich weniger Rinder als Sinaotsy besaß. Nun forderten Marojaonys Söhne immer wieder Rinder von Sina‑ otsy, worauf dieser allerdings nicht einging. Nichtsdestotrotz blieb die Hierarchie innerhalb dieses tariky formal bestehen und Marojaony übernahm gar das Amt des lonaky von Banambo, der nach meiner ersten Feldforschung verstarb. 38 | Dieser Name bedeutet wörtlich: der Tausend-Besitzende.

2. Die Dor fgemeinschaf ten von Menamaty

Die vier weiteren tariky mit den lonaky Fagnena, Tongamana, Kamaka und Tsangasoa an der Spitze waren deutlich kleiner als die beiden soeben beschriebe‑ nen und setzten sich jeweils aus den direkten Nachkommen der lonaky zusammen. Tsangasoas tariky umfasste mit 16 Personen am wenigsten Mitglieder, doch konnte dieser immerhin rund 400 Rinder sein Eigen nennen. Regelrecht vom Unglück verfolgt war der tariky von Tongamana, dem nach mehreren Viehdiebstählen nur noch wenige Dutzend Rinder geblieben waren. Im Unterschied zu den größeren, verzweigten tariky zeichneten sich diese vier durch ein vergleichsweise harmoni‑ sches Miteinander ihrer Mitglieder aus.

Die patrilinearen tariky Die tariky von Ranomadio sind von zentraler Bedeutung für die soziale Zugehörig‑ keit des Einzelnen auf lokaler Ebene (vgl. Huntington 1988: 55). Diese Zugehörig‑ keit basiert auf einer Reihe von moralischen Normen, Werten und Prinzipien, de‑ ren Einhaltung mittels verschiedener Sanktionsmöglichkeiten bekräftigt werden kann. Sie obliegt kaum der freien Wahl des Einzelnen, sondern ist in hohem Maße verpflichtend. Ein grundlegendes, die Zugehörigkeit konstituierendes Prinzip ist die patrilineare Abstammung. Diese These bedarf freilich einer Konkretisierung und Differenzierung, da vielen ethnischen Gruppen Madagaskars, insbesondere den Betsileo (Kottak 1971: 134) und Merina (Bloch 1981: 14) vom Hochland Madagas‑ kars eine bilaterale bzw. ambilineare Verwandtschaftsstruktur zugeschrieben wur‑ de und Bloch (1990) in einer Rezension die von Huntington (1988) herausgestellte Patrilinearität der Bara infrage stellte.39 Zunächst ist festzuhalten, dass die Mutterschaft und damit auch die mütterli‑ chen Abstammungslinien durchaus eine Rolle spielen. Die Bezeichnung troky raiky (wörtlich: ein Bauch) dient beispielsweise dazu, Kinder derselben Mutter kon‑ zeptuell von Cousins bzw. Cousinen oder Halbgeschwistern mit unterschiedlichen Müttern zu unterscheiden. Während Inzest (mahasaky fady) zwischen Cousins und Cousinen mit maternaler Parallelverwandtschaft einem absoluten Tabu (fady) unter‑ liegt, kann bei allen anderen Verwandtschaftsrelationen zwischen Cousins und Cou‑ sinen das Tabu anlässlich einer Eheschließung aufgehoben werden.40 Diese beiden Indizien sprechen u.a. dafür, dass Mütter und Kinder bei den Bara in einer engen körperlichen Verbindung zueinander gesehen werden. Nach Huntington (1988: 38), der ausführlich die Personenkonzeption der Bara beschreibt, basiert die Verwandt‑ schaft zur Mutter auf der Vorstellung, dass Kinder in ihrer körperlichen Existenz aus dem Blut und Fleisch ihrer Mütter hervorgehen. Auch die klassifikatorische Ver‑ 39 | Bloch (1990) führt Indizien für die Existenz von Verwandtschaftsbeziehungen mit der mütterlichen Seite als Beleg dafür an, dass bei den Bara keine patrilineare Verwandtschaftsorganisation vorliegt. Patrilinearität soll hier jedoch lediglich bedeuten, dass der väterlichen Abstammung ein größeres Gewicht beigemessen wird als der mütterlichen. Eine Definition wäre sinnlos, wonach Patrilinearität nur dann vorliegt, wenn die mütterliche Verwandtschaft in keiner Weise Anerkennung findet, da ein solches Extrem wohl kaum anzutreffen ist. 40 | Zwar betrifft das Inzestverbot prinzipiell alle gegengeschlechtlichen Verwandten, jedoch kann es zum Zweck der Eheschließung durch ein spezielles Rinderopfer aufgehoben werden. Von dieser Möglichkeit sind neben matrilinearen Parallelcousins und ‑cousinen auch Geschwister und Angehörige unterschiedlicher Generationen ausgeschlossen.

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wandtschaftsterminologie unterscheidet größtenteils nicht zwischen der materna‑ len und paternalen Verwandtschaftslinie. So werden die paternalen und maternalen Tanten gleichermaßen als reny (Mutter) und die Geschwister, Halbgeschwister, Cou‑ sins und Cousinen beider Linien als rahalahy und anabavy (Bruder und Schwester aus männlicher Perspektive) bzw. anadahy und rahavavy (Bruder und Schwester aus weiblicher Perspektive) angesprochen. Gleiches gilt für alle anderen Generationen. Eine bemerkenswerte Ausnahme betrifft jedoch den Mutterbruder, der als endrilahy (wörtlich: Mutter-Mann bzw. mütterlicher Mann) bezeichnet wird und nicht wie der Vater und die väterlichen Onkel als ray oder aba. Damit wird ausgerechnet jener Person keine Vaterrolle zuerkannt, der gemäß dem patriarchalen Prinzip die größte Autorität innerhalb der mütterlichen Linie zukommen würde. Zudem war die Bezie‑ hung zum maternalen Großvater im Unterschied zum paternalen Großvater häufig durch eine Spottbeziehung gekennzeichnet. Die primäre Zugehörigkeit des Einzelnen zum paternalen tariky beruht auf einem Anspruch des Vaters, der ›Besitzer der Kinder‹ (topony gn’anaky) zu sein. Die‑ ser Autoritäts‑ oder Besitzanspruch begründet sich zuallererst in der Entrichtung eines Rindes im Rahmen der Eheschließung (manambady) sowie eines weiteren Rindes nach der Geburt des ersten Kindes an die Verwandtschaft der Mutter. Denn damit erwirbt der Vater weniger ein Recht über seine Frau als vielmehr über die ge‑ meinsamen Kinder.41 Die Knabenbeschneidung (savatsy), die frühestens nach dem Abstillen und spätestens vor der Adoleszenz durchgeführt wird, trägt zu einer wei‑ teren Verfestigung der exklusiven paternalen Autorität zumindest über die männli‑ chen Kinder bei. Im Rahmen dieser Zeremonie muss nach Elli (1993: 113) der Vater der Mutter präsent sein und die Zugehörigkeit des Kindes zum väterlichen tariky bestätigen. Dass die Etablierung der Vaterschaft in erster Linie auf der Institution der Ehe beruht, wird auch im Hinblick auf die soziale Zugehörigkeit unehelicher Kinder deutlich. Nach meiner Erhebung mit 98 Kindern galt etwa jedes vierte Kind aus Ranomadio als ›vaterlos‹ (anaky mitahy oder tsy mana baba), da die Mutter zum Zeitpunkt der Geburt nicht verheiratet war (s. Kapitel 9, Diagramm 14). Diese Kin‑ der sahen ihren mütterlichen Großvater oder Onkel als primäre Vaterfigur an und waren in den entsprechenden tariky integriert (vgl. Faublée 1941: 75).42

41 | Dass mit dem »Brautpreis« kaum ein Recht über die Ehefrau erworben wird, legt auch der temporäre Charakter der meisten Ehen nahe: Wie ich miterleben konnte, kehrten im Laufe der Feldforschung mehrere Frauen aufgrund von Ehekonflikten in das jeweilige Dorf ihrer Väter heim und veranlassten damit ihren Ehemann, sie entweder mit Geschenken zur Rückkehr zu bewegen oder der von ihr gewünschten Scheidung zuzustimmen. Die Biografien älterer Männer und Frauen zeigten, dass diese größtenteils im Laufe ihres Lebens mehrmals verheiratet waren, was nicht zuletzt eine große Anzahl an Halbgeschwistern zur Folge hatte. Anlässlich der Bestattung einer während der Feldforschung verstorbenen Frau, die aus Ranomadio stammte und in einem anderen Dorf verheiratet war, wurde zudem deutlich, dass spätestens im Rahmen des Bestattungsrituals eine Scheidung vollzogen wird und das väterliche Familiengrab (lolo), zugleich der Sitz der Ahnengemeinschaft, stets als letzte Ruhestätte dient (vgl. Elli 1993: 81; Michel 1957: 126). 42 | Bloch (1990: 404) führt diese Praxis als Einwand gegen den Primat der Patrilinearität in der Bara-Gesellschaft an. Jedoch ist zu bedenken, dass der tariky der Mutter, in den ein uneheliches Kind integriert wird, wiederum patrilinear organisiert ist. Auch wachsen gerade

2. Die Dor fgemeinschaf ten von Menamaty

Auch wenn die Ehe im lokalen Kontext offenbar eine notwendige Bedingung der Vaterschaft ist, schließt dies die Bedeutung eines körperlichen Beitrags des Vaters nicht aus. So existiert ein Konzept der kumulativen Zeugung während der Schwangerschaft, die dem von der Mutter stammenden Blut allmählich eine Form verleiht. Der männliche Beitrag zum Zeugungsakt wird mit dem Verb mamboatsy bezeichnet, womit sich gleichermaßen das Bauen eines Hauses aus Lehm benen‑ nen lässt. Nach Huntington (1988: 38) werden speziell die formgebenden Knochen auf den väterlichen Beitrag zurückgeführt. Bedeutsam für den Primat der väterlichen Abstammungslinie dürfte auch die Wohnsitzregelung sein. Die virilokale Residenz, der zufolge die Ehefrau beim Ehe‑ mann und dessen väterlicher Verwandtschaft lebt, wurde in Ranomadio mit der Ausnahme von drei Personen befolgt,43 sodass die meisten Kinder im tariky ihres Vaters aufwuchsen. Zudem stammten fast alle Mütter in Ranomadio aus anderen Dörfern der Region, woraus folgte, dass ihre Kinder nur sporadischen Kontakt mit ihrer teilweise weit entfernt lebenden mütterlichen Verwandtschaft hatten und die Mütter selbst weit weniger sozialen Rückhalt genossen als die Väter. Selbst im Fall einer Scheidung oder des Todes des Vaters verblieben Kinder, sofern sie bereits ab‑ gestillt waren, im väterlichen tariky (vgl. Michel 1957: 126). Nach der oben erwähn‑ ten Erhebung lebten 22 Prozent der fünf- bis achtjährigen, 38 Prozent der neun- bis 13-jährigen und 39 Prozent der 14- bis 18-jährigen Kinder und Jugendlichen ohne ihre leiblichen Mütter in Ranomadio; die meisten ihrer Mütter waren aufgrund einer Scheidung und einige nach dem Tod der Ehemänner in ihre jeweiligen Her‑ kunftsdörfer zurückgekehrt.44 Auch Iavitsara und sein Bruder waren bei den Ge‑ schwistern ihres Vaters aufgewachsen, nachdem dieser verstorben und ihre Mutter nach Kelivohitsy zurückgekehrt war. Nach eigenem Bekunden fühlten sie sich den Geschwistern ihres Vaters wesentlich näher und in viel höherem Maße verbunden als der leiblichen Mutter und deren Geschwistern. Aus der virilokalen Residenz der Ehefrauen und Kinder folgt zugleich, dass die Väter und Großväter in erster Linie für die materielle Versorgung ihrer Kinder bei‑ derlei Geschlechts verantwortlich sind. Insbesondere bei Söhnen bezog sich dies nicht nur auf die alltägliche Sicherstellung der Ernährung und anderer Bedürfnis‑ se, sondern auch auf die Aussicht der Erbschaft. Zwar konnten auch Mütter an ihre Kinder vererben, jedoch lagen die Rinder, die bei Weitem den wertvollsten Besitz darstellten, zum großen Teil in den Händen der Männer, die auch sämtliche mit Rindern zusammenhängende Arbeiten verrichteten.45 Dieser konkreten ökonomischen Abhängigkeit von den Mitgliedern des patri‑ linearen tariky entspricht ein moralisch-religiöses System von Überzeugungen und viele der unehelichen Kinder aus Ranomadio ohne ihre Mütter auf, da diese in ein anderes Dorf verheiratet worden waren und ihr Kind bei dessen Großvater oder Onkel zurückgelassen hatten. 43 | Dies betraf bezeichnenderweise die drei zugewanderten Männer, die sich zu anderen Ethnien zählten und mit Frauen aus Ranomadio verheiratet waren. 44 | Eine entsprechend hohe Scheidungsrate bemerkte bereits Faublée in seiner Forschungsregion (1941: 74). 45 | Möglicherweise wäre dieses Ungleichgewicht schwächer ausgeprägt, wenn Reisfeldern eine größere Bedeutung als Wirtschaftsfaktor zukommen würde, da Reis sowohl von Männern als auch von Frauen angebaut wird und Frauen somit eine gewisse Kontrolle über Reisfelder ausüben.

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Praktiken, das weiter unten näher dargestellt wird. Demnach ist der Einzelne in seinem Wohlergehen, seiner Gesundheit, dem Erfolg seiner Viehzucht und dem Gedeihen seiner Kinder auf eine Art Lebenskraft (ay) angewiesen, die ihm von sei‑ nen männlichen Ahnen zufließt. Nun ist dieser Zufluss an Lebenskraft durch die Beachtung der väterlichen Autorität und moralischen Ordnung des tariky bedingt. Zur Verstärkung, Erhaltung oder Wiedererlangung der Lebenskraft sind, wie im vorangegangenen Abschnitt bereits an einem Beispiel deutlich wurde, Opferhand‑ lungen (soro) erforderlich, die ausschließlich vom lonaky (Oberhaupt) des patrili‑ nearen tariky kraft seiner Funktion als pisoro (›Opfernder‹) durchgeführt werden können (vgl. Elli 1993: 91; Huntington 1988: 33). Die eindeutige Zugehörigkeit älte‑ rer Kinder und Erwachsener zum tariky des Vaters (oder bei unehelichen Kindern des Muttervaters) machten meine Gesprächspartner durch den Verweis auf das ge‑ meinsame Opferschwert (verara) oder den Opferpfahl (hazomanga) deutlich, die jeweils die Einheit des tariky repräsentieren. Mit den väterlichen und großväterlichen Autoritäts‑ und Besitzansprüchen gegenüber ihren Kindern und Nachkommen geht ein ausgeprägtes hierarchisches Verhältnis zwischen den Mitgliedern desselben tariky einher. Aufgrund der nor‑ mativen Eingliederung des Einzelnen in den tariky und der daraus erwachsenden Gebote und Verbote sowie der weitreichenden Sanktionsmöglichkeiten kann der tariky zudem als primäre moralische Sphäre angesehen werden.

Intersegmentäre Relationen: longo und arahamba Wenngleich nahezu alle Bewohner von Ranomadio einer der sieben relativ klar abgegrenzten, patrilinear organisierten Abstammungsgruppen (tariky) angehörten und aufgrund der beschriebenen Normen, Verpflichtungen und Machtstrukturen dazu angehalten waren, sich in die hierarchische Struktur ihrer jeweiligen Gruppe einzugliedern, verfügten sie darüber hinaus über ein weitverzweigtes, multilokales Beziehungsnetz mit Nachbarn und matrilinear verwandten Personen aus der Re‑ gion. Im Folgenden stelle ich einige Aspekte dieser intersegmentären Relationen in Ranomadio heraus, die für die Sozialisation in der Kindheit ebenso relevant sein dürften wie die intrasegmentären Beziehungen. Den oralen Überlieferungen zufolge haben sich die sieben tariky in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im heutigen Ranomadio angesiedelt. Sie alle gehörten unterschiedlichen raza an, waren also nicht über eine gemeinsame Abstammung miteinander verbunden. Offenbar haben einige der tariky in dieser Anfangszeit des Dorfes jedoch affinale Beziehungen untereinander geknüpft. So war eine Groß‑ mutter Tirys gleichzeitig eine Tante des lonaky Tongamana und Tirys zweite Groß‑ mutter eine Schwägerin des lonaky Banambo. Noch entfernter (und für mich nicht mehr genau rekonstruierbar) ist die Verwandtschaftsbeziehung von Tiry zum tariky von Kamaka. Zu den drei restlichen tariky von Ranomadio bestanden hingegen keinerlei Verwandtschaftsbeziehungen. Auch die anderen tariky waren aufgrund einer Eheschließung in den ersten Generationen von Ranomadio teilweise über verwandtschaftliche Beziehungen miteinander verbunden. Zwischen den jünge‑ ren Generationen wurden innerhalb der Dorfgemeinschaft jedoch kaum neue Ver‑ wandtschaftsbeziehungen über Eheschließungen geknüpft, vielmehr stammten die Ehefrauen bis auf wenige Ausnahmen aus anderen Dörfern.

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Somit hatten im Zeitraum meiner Feldforschung alle Menschen innerhalb der Dorfgemeinschaft neben den patrilinearen Beziehungen zu den Angehörigen des eigenen tariky auch entfernte, auf früheren Eheschließungen basierende Ver‑ wandtschaftsbeziehungen zu den Mitgliedern weiterer tariky. Daneben bestand für sämtliche Dorf bewohner auch die Möglichkeit, mit nicht verwandten Personen (arahamba) aus der Nachbarschaft in Beziehung zu treten. Überdies verfügten die meisten Personen über Beziehungen zur direkten matrilinearen Verwandtschaft, die in umliegenden, zum Teil auch weit entfernten Dörfern siedelte. Wie ich im 3. Kapitel näher ausführen werde, unterscheiden sich die intersegmentären Relatio‑ nen (zwischen Mitgliedern verschiedener tariky) deutlich von den intrasegmentä‑ ren Beziehungen (zwischen Mitgliedern desselben tariky). An dieser Stelle möchte ich lediglich einige Differenzen bezüglich der sozialen Organisation skizzieren. Die Beziehungen innerhalb des tariky sind durch weitreichende ökonomische Abhängigkeiten und durch einen strengen moralischen Code geprägt, der seine Mitglieder dazu verpflichtet, miteinander zu kooperieren, sich in die alters- und geschlechtsbedingte Hierarchie des tariky einzufügen und dem Willen der Väter, Großväter und Ahnengeister Folge zu leisten. Verletzungen dieses Codes, die de facto immer wieder auftreten, unterliegen weitreichenden Sanktionierungsmög‑ lichkeiten durch die Älteren und – aus emischer Sicht – durch die Ahnengeister. Demgegenüber werden Beziehungen zwischen Personen aus verschiedenen tariky nicht durch eine gemeinsame Autorität reguliert und sind zudem viel weniger durch wirtschaftliche Dependenzen geprägt. So existierte in Ranomadio sowie in den anderen Dörfern von Menamaty weder eine einzelne Person, noch eine spiri‑ tuelle Instanz, die von Angehörigen verschiedener tariky als gemeinsame Autorität anerkannt wurde. Die lonaky von Ranomadio betrachteten und behandelten einan‑ der prinzipiell als gleichrangig, und die von mir ins Gespräch gebrachte Möglichkeit einer sozialen Ungleichheit oder Rangfolge lehnten sie entschieden ab. Das Amt des lokalen Vertreters des Bürgermeisters von Iloto und damit letztlich des Staates bekleidete ein Mann, der als Betsileo zugewandert war und keinerlei besonderen sozialen Rückhalt genoss. Die in Iloto als Gesetzeshüter stationierten Gendarmen wurden von der Dorfbevölkerung zwar gefürchtet, jedoch nicht als Exekutive einer verbindlichen Rechtsordnung betrachtet (vgl. Scheidecker 2014, im Druck). Die Kosmologie der Bara enthält zwar durchaus das Konzept eines allen Men‑ schen gemeinsamen Schöpfergotts namens Zagnahary. Jedoch wird dieser im Unterschied zu den Ahnengeistern kaum als moralische und noch weniger als sanktionierende Instanz angesprochen oder wahrgenommen. Dagegen ist die weit‑ reichende moralische Autorität der Ahnengeister wiederum auf die patrilinearen Nachkommen beschränkt und wird durch den jeweiligen lonaky kraft seiner Funk‑ tion als Bindeglied zwischen Ahnen und patrilinearen Nachkommen vermittelt. Die intersegmentären Beziehungen werden also kaum durch zentrale soziale Ins‑ tanzen oder rigide moralische Normen organisiert.46

46 | In dieser Hinsicht unterscheidet sich die soziale und moralische Organisation der ländlichen Bara von den meisten anderen madagassischen Gruppierungen, die etwa durch den gemeinsamen Bezug auf königliche Ahnengeister (vgl. Kneitz 2003), auf das Christentum oder durch die Anerkennung des staatlichen Rechts Madagaskars allgemein verbindliche Moralvorstellungen haben.

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Ökonomisch bestanden im Zeitraum der Feldforschung ebenfalls kaum Ab‑ hängigkeiten zwischen den Mitgliedern verschiedener tariky. Acker‑ und Weide‑ land stand ausreichend zur Verfügung und war zudem nicht im Besitz einzelner Personen oder Familien. Wie in vielen anderen pastoralen Gesellschaften (Salz‑ mann 2004: 68) galt Weide‑ oder Ackerland grundsätzlich als Allgemeingut, das aus Sicht der Dorf bewohner im Besitz anonymer helo-Geister war und von einzel‑ nen Individuen oder Lineages nur vorübergehend und mit Erlaubnis dieser Geis‑ ter genutzt werden konnte (vgl. Saint-Sauveur 2002: 247).47 Es bestand also keine Notwendigkeit, von den Mitgliedern anderer tariky Land zu pachten oder auf deren Feldern zu arbeiten, womit die tariky nicht nur sozio-politisch, sondern auch öko‑ nomisch in hohem Maße autonom waren. Gleichwohl war auch zwischen verwandten Personen unterschiedlicher tariky, die einander als longo bezeichnen, eine gewisse soziale Verbindlichkeit zu beobach‑ ten. Am deutlichsten zeigte sich diese im Hinblick auf das Inzesttabu, das prinzi‑ piell alle gegengeschlechtlichen longo unabhängig von Verwandtschaftsgrad und Abstammungslinie betraf. Verletzungen dieses fady traten mehrmals während der Feldforschung auf und wurden auch in den erzählten Emotionsepisoden wieder‑ holt thematisiert. Gemäß den Erläuterungen meiner Gesprächspartner können aus Inzest tödliche Konsequenzen für die beteiligte Frau resultieren – etwa durch ein Anschwellen und Platzen ihres Bauches – weil sie damit gegen das Verbot ihres tariky verstößt und ihre Ahnengeister erzürnt (mapaseky). Zur Vermeidung der Ah‑ nensanktion in Form eines Fluches bzw. ›Segensentzugs‹ (havoa) muss der lonaky der Frau diesen Konzeptionen zufolge ein Rind opfern. In der Regel fordert er das Rind vom beteiligten Mann, dem zwar keine moralische Verfehlung, aber doch eine gewisse Verantwortung zugeschrieben wird. In den meisten bezeugten und erzählten Fällen wurde das Opferrind unter der Bedingung ausgehändigt, dass die‑ ses als Brautpreis angesehen wird und damit zur Einleitung einer Eheschließung dient. Wie Huntington (1988: 96) berichtet und wie sich mir in einem Fall bestä‑ tigte, konnten sich der beteiligte Mann bzw. die Entscheidungsträger seines tariky allerdings auch weigern, das Rind auszuhändigen. Als Folge betrachteten sich die beteiligten Parteien nicht mehr als longo und brachen eventuell bestehende freund‑ schaftliche Beziehungen ab. Während sich die Relationen innerhalb der tariky durch einen obligatorischen Charakter auszeichneten, hatten die Beziehungen zwischen longo also ein aus‑ geprägtes fakultatives Moment. Die longo-Beziehungen konnten nicht nur abge‑ brochen werden – wie am Beispiel der Inzestregelungen gezeigt –, sondern auch individuell gestaltet, vertieft oder gar neu begründet werden. So hatten die An‑ gehörigen der ersten Generationen von Ranomadio durch Lineage-übergreifende Eheschließungen Verwandtschaftsbeziehungen gestiftet und an ihre jeweiligen Nachkommen weitergegeben. Die so geschaffenen Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Mitgliedern unterschiedlicher tariky waren nach meiner Erfahrung als teilnehmender Beobachter meist durch ein gewisses gegenseitiges Vertrauen (toky) geprägt. Allerdings waren die Bewohner von Ranomadio nicht verpflichtet, mit allen Personen aus ihrer jeweiligen filongoa (Gruppe der longo) gleichermaßen enge Beziehungen zu pflegen und zu kooperieren. Der gegenseitige ›Vertrauens‑ 47 | Problematisch dürfte diese Form der Regelung erst bei einer Verknappung des verfügbaren Landes werden. Dies war in der Untersuchungsregion bislang jedoch nicht der Fall.

2. Die Dor fgemeinschaf ten von Menamaty

vorschuss‹ unter longo bot indes einen Rahmen, um auf der Basis reziproker Hilfe‑ leistungen, gemeinsamen Aktionen und Aktivitäten freundschaftliche Beziehun‑ gen untereinander zu knüpfen und zu pflegen. Auf begrifflicher Ebene sowie im Hinblick auf die soziale Institution des In‑ zesttabus bestand eine relativ klare Differenzierung zwischen longo als Verwandter bzw. Freund und arahamba als Nichtverwandter bzw. ›Feind‹. Dass sich arahamba zugleich mit ›Feind‹ übersetzen lässt (vgl. Elli 1993: 59), deutet bereits auf einige Besonderheiten dieser sozialen Relationen hin. Zwar standen arahamba einander nicht grundsätzlich feindselig gegenüber, jedoch bot die sozioökonomische Orga‑ nisation in der Forschungsregion nicht nur Freiräume, sondern auch Gelegenhei‑ ten, feindschaftliche Beziehungen offen zu pflegen. Dies lässt sich an der Praxis des Viehdiebstahls (halats’aomby) verdeutlichen, die sich für das südliche und westliche Madagaskar bis zum 18. Jahrhundert zu‑ rückverfolgen lässt (vgl. Rakoto 2011) und im Laufe des 20. Jahrhunderts von zahl‑ reichen madagassischen und europäischen Autoren beschrieben wurde.48 Auch während meiner Feldforschung wurde Viehdiebstahl in Menamaty praktiziert und zahlreiche Konflikte gingen auf diese Praxis zurück (vgl. Scheidecker 2014, im Druck). Viehdiebstahl unter Nichtverwandten wurde nicht als moralisches Ver‑ gehen angesehen, vielmehr konnte er bei Erfolg sogar beträchtliches Ansehen ein‑ bringen. Dieselbe Aktion zwischen Angehörigen desselben tariky wurde von mei‑ nen Gesprächspartnern hingegen als schwere moralische Verfehlung angesehen, die eine potenziell tödliche Verfluchung durch die Ahnengeister (havoa) nach sich zieht. Während meiner Feldforschung klauten drei junge Männer aus Ranomadio Rinder bei entfernten Verwandten eines anderen tariky in einem nördlich gelege‑ nen Dorf. Nachdem dies herausgekommen war, einigten sich die lonaky der betrof‑ fenen tariky auf eine Entschädigungsleistung. Nach den Diskussionen über diesen Vorfall in der Dorfgemeinschaft zu urteilen, wurden diese jungen Männer für ihr Handeln weder eindeutig verurteilt noch gelobt.49 Die Unterscheidung zwischen longo und arahamba ist zwar von hoher Relevanz für die Organisation von Beziehungen, jedoch lassen sich arahamba auch in longo transformieren (mapilongo). Indirekt kann eine solche Transformation aus Ehen und den daraus resultierenden Kindern folgen. Für zwei arahamba, die sich mitei‑ nander verbünden wollen, besteht zudem die Möglichkeit, eine Blutsbruderschaft (vakira) zu schließen, die nicht nur auf dem Vermischen von Blut, sondern auch auf einem Schwur (titiky) gegenüber den helo-Geistern basiert, einander keinen Schaden zuzufügen. Auf diese vertrauensbildende Maßnahme griffen in der For‑ schungsregion zum einen verheiratete Frauen zurück, um im Dorf ihres Eheman‑ nes Verbündete zu finden, und zum anderen junge Männer, um verlässliche Part‑ nerschaften bei der Verteidigung oder beim Diebstahl von Rindern zu begründen. Auf der Konzeption des vakira beruhte auch die Eingliederung von Etienne und mir in die Verwandtschaftsgruppe von Tiry. 48 | U.a. von Du Bois de la Villerabel (1900), Faublée (1941), Hoerner (1982), Michel (1957: 137-142), Elli (1993: 51-56), Razafitsiamidy (1997) und Rasamoelina (2007). 49 | Während die Institution des Viehdiebstahls Beziehungen unter nichtverwandten Männern prägt, betrifft die Praxis, den Liebes‑ oder Ehepartner eines Rivalen zu ›stehlen‹ (halatsy vady) auch die Beziehungen zwischen nichtverwandten Frauen. Analog zum Viehdiebstahl unterlagen auch diese Aktivitäten kaum einem moralischen Code.

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3. Beziehungsmuster und -dynamiken

In diesem Kapitel verschiebe ich die Perspektive von der sozialen Organisation hin zu verschiedenen Beziehungsmustern und ‑dynamiken und bereite damit ein Ver‑ ständnis für das im 4. Kapitel zu thematisierende Emotionsrepertoire vor, da Emo‑ tionen größtenteils in soziale Beziehungen eingebettet sind. Bei der Beschreibung der Beziehungsmuster greife ich teilweise auf die mir von meinen Gesprächspart‑ nern erzählten Emotionsepisoden zurück, die nicht nur zur Bedeutungsanalyse der Emotionskonzepte herangezogen werden können, sondern zugleich auch Be‑ ziehungsdynamiken aus einer Erfahrungsperspektive erhellen. Wie das letzte Unterkapitel zur sozialen Organisation bereits nahelegt und wie in diesem Kapitel weiter ausgeführt werden soll, ist das Beziehungsgefüge der Dorf bewohner relativ klar gegliedert: Auf der einen Seite stehen die Beziehungen zu Mitgliedern des eigenen tariky, die durch eine normativ präfigurierte Struktur, eine strikte soziale Hierarchie und eine rigide Moral geprägt sind. Folglich ist für diese Beziehungen eine strukturalistische Beschreibung nicht unangemessen. Auf der anderen Seite verfügen alle Individuen über Beziehungen zu den Angehörigen anderer tariky, die sich viel stärker durch individuelle Gestaltungsmöglichkeiten auszeichnen und weitgehend einem egalitären Prinzip folgen. Diese lassen sich besser im Sinne der New Kinship Studies als individuell gestaltete Beziehungen auf‑ fassen (vgl. Carston 2000). Im Folgenden werde ich zunächst die hierarchischen oder vertikalen und dann die egalitären oder horizontalen Beziehungsmuster und ‑dynamiken beschreiben. Dabei möchte ich nicht behaupten, dass Beziehungen von Personen aus der For‑ schungsregion ausschließlich nach diesen beiden Dimensionen gegliedert sind. So existieren überdies Beziehungsformen wie etwa die Spottbeziehungen zum Onkel oder Großvater mütterlicherseits, die weder eindeutig hierarchisch noch egalitär ge‑ prägt sind. Auch die verschiedenen Genderrelationen, die etwa Huntington (1988) in den Vordergrund rückt, können sowohl eine egalitäre als auch hierarchische Form annehmen und stehen somit quer zu den hier gewählten Beschreibungsdi‑ mensionen. Auf der Basis meiner sozialen Erfahrungen und Beobachtungen wäh‑ rend der Feldforschung sowie im Ausgang von den erhobenen Emotionsnarrativen und Sozialisationspraktiken gehe ich allerdings davon aus, dass sich die emotio‑

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nalen Kommunikationsformen und Ausdrucksweisen besonders deutlich entlang altersbedingter hierarchischer und egalitärer Relationen differenzieren.1

H ier archische B eziehungs ‑ und I nter aktionsmuster Zunächst ist zu präzisieren, in welchem soziales Feld die hierarchischen Bezie‑ hungs‑ und Interaktionsmuster zu verorten sind. Am deutlichsten ist dieser Be‑ ziehungsmodus in tariky-internen Relationen ausgeprägt, da die älteren Mitglie‑ der dieser Gruppe in einem umfassenden Autoritätsverhältnis zu den jüngeren Mitgliedern stehen. Deshalb orientiert sich die folgende Darstellung maßgeblich an diesen Beziehungen. Einige hierarchische Interaktionsformen, insbesonde‑ re respektvolles Ausdrucksverhalten, sind jedoch prinzipiell auch in Interaktion zwischen jungen und alten Personen geboten, die nicht demselben tariky angehö‑ ren. Insofern könnte man von einem allgemeinen, die Beziehung zwischen Jung und Alt prägenden Senioritätsprinzip sprechen. Jedoch waren hierarchische Inter‑ aktionen zwischen maternal verwandten Personen vergleichsweise selten zu be‑ obachten und zudem nicht durch ein striktes Autoritätsverhältnis untermauert. Alte und Junge, die nicht in einem Verwandtschaftsverhältnis zueinander standen, interagierten in der Regel gar nicht direkt miteinander, und dies schien auch nicht erwünscht zu sein. Das zeigte sich nicht nur im Rahmen der teilnehmenden Be‑ obachtung, sondern auch durch persönliche Interaktionserfahrungen von Etienne und mir. Wie erwähnt, stieß unser Bemühen, mit den Älteren der anderen, nicht‑ verwandten tariky zu interagieren, auf beträchtlichen Widerstand der Autoritäts‑ personen unseres tariky.

Die normative Hierarchie des tariky Wie die Erhebungen mit den lonaky von Ranomadio zur Komposition und sozialen Ordnung ihrer jeweiligen tariky deutlich machen, gilt die Position eines jeden Mit‑ glieds in der Hierarchie dieser Gruppe per Geburt und Geschlecht als festgelegt. Auch die Positionen als lonaky, als Oberhaupt des tariky, hatten meine Gesprächs‑ partner nicht durch besondere individuelle Leistungen oder durch ein außeror‑ dentliches soziales Ansehen erlangt, vielmehr wurde ihnen dies als den ältesten männlichen Mitgliedern in der ältesten Generation zuerkannt. Tiry hatte wie die anderen lonakys kraft dieser Rolle und der damit verbundenen Funktion als pisoro (›Opfernder‹) beträchtlichen Einfluss auf die Geschicke der Mitglieder seines tariky, indem er als einziger beispielsweise Knabenbeschneidungen (savatsy), Ehe‑ schließungen ( fanambalia), Erst‑ ( fandevana) und Zweitbestattungen ( famadihana), Heilungs- (bilo) sowie Sühnerituale (manasa raza) vollziehen konnte und bei allen wichtigen Entscheidungen ein Vetorecht hatte. Der Umstand, dass er selbst nicht verheiratet war, keine legitimen Kinder hatte, vergleichsweise wenig Rinder 1 | Bloch (1992: 135) bemerkt entsprechend, dass bei den Zafimaniry Madagaskars das Alter bzw. damit verbundene Rollen eine dem Gender übergeordnete Rolle spielen: »Gender is not for the Zafimaniry the prime identity that it may be in some cultures. First one is a child, an adult, an elder, a parent etc., and then one is a special kind of child, a special kind of parent etc., that is female or male.«

3. Beziehungsmuster und -dynamiken

besaß, ein unstetes Leben führte und von seinen Geschwistern für sein Verhalten immer wieder kritisiert wurde, tat seiner Autorität keinen Abbruch. Dass das Amt des lonaky tatsächlich durch Geschlecht und Geburtenfolge festgelegt wird, zeig‑ te auch die Sicherheit, mit der sämtliche Gesprächspartner bestimmen konnten, in welcher Reihenfolge die männlichen Mitglieder des tariky das Amt des lonaky übernehmen würden. Als erstes Kriterium für diese Rangfolge unter den Männern dient die Generationszugehörigkeit und als zweites Kriterium das Alter. Das heißt, die älteste Person aus der ersten Generation würde selbst dann das Amt des lonaky bekleiden, wenn eine Person aus der nachfolgenden Generation, also ein Neffe, älter wäre. Es bestand Konsens zwischen den Gesprächspartnern, dass eine solche seltene Konstellation äußerst anfällig für Konflikte zwischen dem älteren, sozial aber untergeordneten Neffen und seinem Onkel wäre. Unter ganz bestimmten Bedingungen kann auch eine Frau zum lonaky werden, nämlich dann, wenn sie nicht außerhalb des tariky verheiratet ist, keine Kinder hat und die einzige Lebende der ältesten Generation ist. Wie mir die lonakys erklär‑ ten, würde eine Frau durch Ehe und insbesondere eigene Kinder eine Verbindung mit dem tariky ihrer Kinder entwickeln und könnte damit die Interessen des eige‑ nen tariky nicht mehr vorbehaltlos vertreten. Die dritte Bedingung hängt mit der formalen Position von Frauen in der Hierarchie des tariky zusammen. Innerhalb derselben Generation werden sie Männern unter‑, jenen der nachfolgenden Gene‑ ration hingegen übergeordnet. Diese drei Bedingungen trafen allerdings äußerst selten zusammen, weshalb ich in der Forschungsregion keiner Frau in der Rolle als lonaky begegnete. Allerdings hat Huntington (1988: 56) einen tariky mit einer Frau an der Spitze beschrieben. Im tariky von Tiry hatte Rafaratsa, das älteste weibliche Mitglied immerhin eine beträchtliche informelle Autorität, indem sich ihr jüngerer Bruder Tiry häufig an ihrer Meinung orientierte. Die durch Geburtenfolge und Geschlecht bedingte Hierarchie der tariky ist kei‑ nesfalls mit einer gesellschaftlichen Stratifizierung gleichzusetzen und nur bedingt mit hierarchischen Strukturen in westlichen Institutionen oder Unternehmen zu vergleichen. Im Unterschied zur erstgenannten hat im tariky jedes Individuum die‑ selbe Ausgangsposition und steigt die Stufen der Hierarchie hinauf. Anders als bei den letztgenannten hängt der Aufstieg nicht von individuellem Erfolg und Ansehen ab, sondern verläuft gleichsam zwangsläufig mit fortschreitendem Alter. In einem neugeborenen Jungen, der aktuell die niedrigste Position einnimmt, steckt gewis‑ sermaßen ein Patriarch an der Spitze der Hierarchie. Im Hinblick auf die Relation der Einzelnen zueinander bleibt die hierarchische Position allerdings gleich, d.h., der Vater, der ältere Bruder oder der paternale Onkel bleibt ein ganzes Leben lang klar übergeordnet. Aus emischer Perspektive ändert sich an dieser festgefügten individuellen Relation im Wesentlichen auch durch den Tod der älteren LineageMitglieder nichts. Diese existieren demnach als Ahnengeister ( fahasivy) fort und gewinnen durch den Übergang in die körperlose, unsichtbare Existenz weiter an Autorität. Damit bleibt jedes Individuum, auch der lonaky, anderen Person unterge‑ ordnet – allerdings wird die Gruppe der Untergeordneten mit zunehmendem Alter immer größer und die der Übergeordneten kleiner. Prinzipiell reicht die Hierarchie des tariky über die Ahnengeister hinaus bis hin zum Schöpfergott Zagnahary. So riefen die lonaky im Rahmen von Opferhand‑ lungen stets auch Zagnahary an, allerdings verhandelten sie das jeweilige Anliegen mit konkreten Ahnengeistern wie dem verstorbenen Vater, Onkel oder Großvater.

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Im Unterschied zum fernen, enthobenen Zagnahary wurde den Ahnengeistern ein starkes Interesse am Tun ihrer Nachkommen und ein direkter Einfluss auf ihr Wohlergehen zugeschrieben. Bei den verschiedenen Opferhandlungen, denen ich beiwohnte, standen je nach Anliegen unterschiedliche Ahnengeister im Vor‑ dergrund. Anlässlich eines Konfliktes zwischen Brüdern aus der ältesten Genera‑ tion beispielsweise war der Ahnengeist ihres Vaters und bei einem Streit zwischen Cousins oder Cousinen der des gemeinsamen Großvaters der primäre Ansprech‑ partner. Diesem Prinzip entsprach auch die mir von den lonaky aus Ranomadio präsentierte genealogische Tiefe ihrer jeweiligen tariky, die stets nur bis zum ge‑ meinsamen Stammvater aller lebenden Mitglieder reichte. Die älteren Ahnen wurden zwar zum Teil noch namentlich erinnert, sie fungierten aber nicht mehr als bedeutende Ansprechpartner in der symbolischen Interaktion mit der Ahnen‑ welt. Da der Stammvater in den tarikys von Ranomadio jeweils maximal der Groß‑ vater des lonaky war, war dieser von den Ältesten in der Regel noch als leibhaftiger Mensch erlebt worden. Es ist zu betonen, dass die relevanten Ahnengeister der tariky durchaus als kon‑ krete Personen wahrgenommen und mit ihrem posthumen Namen (agnara tahina) oder als Großeltern (ray-be) angesprochen werden. Ihre Lebensweise, ihr Verhalten und Handeln sowie ihre Bedürfnisse, Wünsche und Emotionen wurden analog zu denjenigen der Lebenden beschrieben. Diese Parallele betrifft selbst individuelle Charaktereigenschaften, die den Ahn zu seinen Lebzeiten auszeichneten, und so‑ mit gelten sie weder als vollkommen gut noch als vollkommen böse (vgl. Elli 1993: 151). Der Umstand, dass die entscheidenden Ahnen von den Ältesten noch als reale Väter oder Großväter erlebt worden waren, macht die Vorstellung von der Konti‑ nuität der Charaktereigenschaften im Übergang zur Welt der Ahnengeister nach‑ vollziehbar. Dieser anthropomorphen Eigenschaften der Ahnengeister und ihrer Zugehörigkeit zur Abstammungsgruppe ungeachtet, trafen meine Gesprächspart‑ ner doch auch eine deutliche Unterscheidung zwischen jenen und den Lebenden. Auch wenn die Gebeine der Verstorbenen im Familiengrab die Ahnengeister ma‑ teriell repräsentierten, galten sie prinzipiell als körperlos (tsy mana vata) und un‑ sichtbar (tsy hita maso), und gegenüber ihren Nachkommen wurde ihnen eine viel weitreichendere Autorität und Macht zugeschrieben.

Lebenskraft und Opfer im Tausch Die beschriebene vertikale Struktur des tariky entspricht einer ausgeprägten Auto‑ ritätshierarchie; d.h., die Übergeordneten sehen sich berechtigt, über das Handeln der Untergeordneten zu bestimmen und erwarten von diesen Folgsamkeit. Nun werde ich der Frage nachgehen, auf welchen Vorstellungen und Beziehungskon‑ zepten dieses Autoritätsverhältnis zwischen Älteren und Jüngeren innerhalb des tariky beruht. Einige Sprichwörter bzw. ›Beispiele‹ (ohatsy), die von Älteren gerne zur Beleh‑ rung Jüngerer angeführt wurden, bieten einen ersten Zugang zur Konzeption hier‑ archischer Beziehungen. Das Sprichwort Gny ray aman-dreny, Zagnahary hita maso – »Die Eltern sind sichtbare Gottheiten.« – bringt das intergenerationale Autoritäts‑ verhältnis nicht nur unmissverständlich zum Ausdruck, sondern liefert zugleich eine Begründung dafür: Wie der Schöpfergott Zagnahary die Welt erschaffen hat, so haben die Eltern ihre Kinder gezeugt und somit können sie diesen gegenüber

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auch Autorität beanspruchen.2 Eine weitere Redewendung macht deutlich, dass die Erzeugung der Kinder durch die Eltern nicht als einmaliger Akt, sondern viel‑ mehr als kontinuierliches Hervorbringen konzipiert wird: Tirin’akida gn’ain’olombelo – »Der Spross der Bananenstaude ist wie das Leben/die Lebenskraft (ay) des Menschen.« Bezeichnenderweise vergleicht dieses Sprichwort die menschliche Fortpflanzung nicht etwa mit dem Hervorgehen einer Pflanze aus dem Samen, der selbständig zu keimen beginnt, nachdem er sich von der Mutterpflanze gelöst hat, sondern vielmehr mit der vegetativen Fortpflanzung der Bananenstaude, aus der neue Triebe heraussprießen, ohne sich von ihr zu lösen. Dieser Metapher ent‑ sprechend können Kinder auch als Bestandteile des väterlichen Lebens (sombiny gn’ainy) bezeichnet werden. Das Hervorbringen der Nachkommen durch einen kontinuierlichen Zufluss an Lebenskraft (ay) begründet unter den Bedingungen der virilokalen Residenz der Kinder letztlich auch den Primat der patrilinearen Abstammung. Indem Kinder beim Vater und bei dessen väterlicher Verwandtschaft aufwachsen, führen in erster Linie diese über die Ernährung und Bereitstellung der lebensnotwendigen Güter ihren Kindern das ay zu. Nur solange die Mutter ihr Kind noch stillt, wird es ihr zugeordnet und folgt ihr auch im Falle einer Scheidung, bis es entwöhnt ist. Dieses hierarchische Beziehungsmodell, dem zufolge Menschen ihren Eltern und insbesondere dem Vater weniger die existenzstiftende Zeugung als einmali‑ gen Akt zu verdanken haben als vielmehr ihre fortwährende Existenz durch einen kontinuierlichen Zufluss des ay, dient zur Begründung des lebenslangen Autori‑ tätsverhältnisses. So lautet etwa ein weiteres Sprichwort: Hajao gny ray aman-dreny mba ho ela velo – »Respektiere deine Eltern und du wirst lange leben.« Das heißt, Kinder erhalten die Lebenskraft (ay) oder den ›Segen‹ (fitahia) ihrer Eltern nur unter der Bedingung, dass sie deren Autorität akzeptieren und ihre untergeordnete Posi‑ tion anerkennen. Das intergenerationale Beziehungsmodell basiert also auf einem asymmetrischen Tauschverhältnis: Die Eltern spenden ihren Kindern Lebenskraft bzw. ›Segen‹ (fitahia) und erwarten im Gegenzug Folgsamkeit und Respekt. Die‑ ses Verhältnis erschöpft sich freilich nicht in der Beziehung zwischen Eltern bzw. Vätern und ihren Kindern. Da der Vater selbst wiederum durch seinen Vater lebt, verdankt der Einzelne indirekt seine Existenz auch den älteren Generationen und letztlich gar dem ›Segen‹ der Ahnengeister. An diesen Sachverhalt erinnert etwa das Sprichwort: Gn’anaky tsy an’olo raiky – »Das Kind gehört nicht nur einer Person.« –, sondern auch seinen Vorvätern einschließlich den Ahnengeistern. In abstrakter Form kommt dieses Beziehungsmodell in der symbolischen Interaktion mit den Ahnengeistern auf der Basis von Opferhandlungen (soro) zum Ausdruck. Die verschiedenen Formen und Details dieser Opferpraktiken wurden bereits in sämtlichen Ethnografien zu den Bara beschrieben (Elli 1993: 89-100; Faublée 1954: 12-15; Huntington 1988: 58-60; Michel 1957: 52-83). Auch ich hatte während meiner Feldforschung zahlreiche Gelegenheiten, Opferhandlungen beizuwohnen. Diese dienten nicht nur dazu, sämtliche Statustransformationen einzelner Per‑ sonen durch die Ahnen ›absegnen‹ zu lassen – etwa bei Knabenbeschneidungen (savatsy), Eheschließungen (tandra), Besessenheitsritualen (bilo) oder Bestattungen 2 | Auch in einer von Faublée (1954: 81) wiedergegebenen Ansprache an den gerade verstorbenen Vater anlässlich der Verteilung des Erbes findet sich dieser Vergleich mit Zagnahary wieder: »Segne uns, lass uns nicht sterben, weil Du, Vater, unser Gott bist.«

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(havoria). Auch besondere Unternehmungen wie etwa der Bau eines Hauses oder das Anlegen neuer Reisfelder waren Anlässe für Opferhandlungen. Noch häufiger allerdings wurden Opferhandlungen durch Verstöße gegen die moralischen Nor‑ men des tariky veranlasst, bzw. durch Erkrankungen, Unfruchtbarkeit oder andere Unglücksfälle, die als Konsequenzen von Normverstößen gedeutet wurden. Bei allen Besonderheiten vollzogen sich die von mir erlebten Opferrituale stets in drei gleichförmigen Etappen. Zu Beginn hält der lonaky vor den versammelten Mitgliedern seines tariky eine Ansprache, in der er Zagnahary (Schöpfergott) und die fahasivy (Ahnengeister) anruft, ihnen den Anlass darlegt, das Opfer ankündigt und um ihren ›Segen‹ bittet (tata). Daraufhin wird das Rind getötet (soro). Abschlie‑ ßend verspritzt der lonaky (bzw. pitata, pisoro) mit dem Blut des Rindes vermischtes Wasser (rano ay, wörtlich: Lebenswasser) über die Mitglieder seines tariky und gibt damit die Lebenskraft der Ahnen an sie weiter (tsiporano). Das soro anlässlich des im vorigen, 3. Kapitel beschriebenen Normverstoßes macht die Bedeutung des Opfers besonders deutlich: Der lonaky Rivomana bat sei‑ nen verstorbenen Großvater ausdrücklich darum, nicht mehr zornig (meloky) zu sein, das Leben von Babaly zu verschonen und stattdessen das Leben des Rindes zu nehmen.3 Elli (1993: 95) gibt einen Auszug aus der wörtlichen Rede eines tata, der sich speziell auf die Bedeutung des Opfers bezieht, folgendermaßen wieder: »Hier ist das Rind. Seine Arme [Vorderbeine] tauschen wir gegen unsere Arme ein. Sei‑ ne Beine [Hinterbeine] tauschen wir gegen unsere Beine ein«.4 Dieser Tausch der tierischen gegen die menschlichen Gliedmaßen, die als Sinnbild der Lebenskraft fungieren, dürfte den Teilnehmern vor Augen führen, dass sie ihr ay (Lebenskraft) dem fitahia (Segen) der Ahnengeister zu verdanken haben. Auch wenn nicht jedes Opfer unmittelbar auf einen konkreten Normverstoß und daraus resultierende Krankheiten oder Unglücksfälle bezogen wird, so bleibt das Grundanliegen der Opferhandlung stets dasselbe: die eigene Lebenskraft und die der Gruppe durch den ›Segen‹ der Ahnen wieder zu erlangen, zu erhalten oder zu steigern. Gemäß dem in solchen Opferhandlungen manifesten Beziehungs‑ und Interaktionsmodell zwischen Lebenden und Ahnengeistern (sowie Kindern und Eltern) erlangen die Nachkommen die Lebenskraft ihrer Vorfahren keines‑ wegs bedingungslos. Vielmehr ist der Zufluss davon abhängig, inwieweit sich der Einzelne in die Autoritätshierarchie einfügt und die gesamte Gruppe dem Willen der Ahnengeister Folge leistet. Jede Form von Missachtung der väterlichen, vorvä‑ terlichen oder anzestralen Autorität, jede Abweichung von den fomban-draza, den »Bräuchen der Ahnen« kann diese erzürnen (mahameloky), die Lebenskraft ver‑ siegen lassen und damit das Leben der Respektlosen sowie ihrer Nachkommen ge‑ fährden. Auch im Rahmen von Statustransformationen oder anlässlich wichtiger, für den tariky relevanter Unternehmungen entsprechen Opferhandlungen dieser Logik: Sie dienen der Erlangung der anzestralen Zustimmung und beugen damit ebenso dem Ahnenzorn als der Folge eigenmächtigen Handelns vor.5 3 | Die wörtliche Rede kann ich nicht wiedergeben, da mir die Benutzung des Diktiergeräts in dieser Situation unpassend erschien. 4 | Ka gn’aomby io. Gny tagnany havilinay gny tagnanay, gny tombony havalinay gny tombokay. 5 | Bemerkenswert ist, wie eng diese moralische Ökonomie mit der Viehhaltung verschränkt ist. Abgesehen von Rindern, die in der Not oder als Diebesgut verkauft werden und zum Teil

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Zusammenfassend lässt sich das kulturelle Modell für hierarchische Bezie‑ hungen innerhalb des tariky wie folgt skizzieren: Die Mitglieder des tariky sind – gleich einer austreibenden Bananenstaude – durch eine gemeinsame Lebens‑ kraft (ay) miteinander verbunden, die von den Vorfahren ausgeht und den Nach‑ kommen permanent zufließt und so ihr Leben erhält. Dies erfolgt allerdings unter der Bedingung, dass die Nachkommen dem situativen Willen der Vorfahren und den durch sie auferlegten moralischen Geboten und Verboten entsprechen. Dieses asymmetrische Tauschverhältnis begründet die Autorität der Väter und Vorväter über ihre Nachkommen.

Ernährung, Erbe und Folgsamkeit Die übergreifende Konzeption hierarchischer Beziehungen als Tausch von Lebens‑ kraft und Segen gegen Gehorsam und Unterordnung findet in der Weitergabe von Nahrungs‑ und Produktionsmitteln eine konkrete, materielle Entsprechung. Vor allem die Ernährung wird ausdrücklich als Akt der Segnung ( fitahia) konzipiert. Besonders offensichtlich ist dies im Fall von Rindfleisch, das während der Feld‑ forschung nahezu ausschließlich im Rahmen von Opferhandlungen zum Verzehr zur Verfügung stand und unter diesem Vorzeichen gewissermaßen als materiel‑ les Substrat des Ahnensegens aufgenommen wurde.6 Wie das Ritual der ›ersten Frucht‹ (loha voly) veranschaulicht, steht grundsätzlich auch der Konsum von Reis als Hauptnahrungsmittel unter dem Vorzeichen des Segens durch die Vorfahren. Zwar bebauen die Mitglieder der jeweiligen Kernfamilien selbständig ihre Reisfel‑ der; bevor die Ernte jedoch zum Verzehr freigegeben wird, sind alle Mitglieder des tariky verpflichtet, dem Vater oder, sofern dieser verstorben ist, dem älteren Bruder einen symbolischen Anteil darzubieten. Der lonaky als letzter Empfänger unter den Lebenden holt daraufhin den Segen der Ahnen ein, isst selbst davon und gibt dann den Rest der Ernte frei (vgl. Elli 1993: 86; Faublée 1954: 14; Huntington 1988: 57). Diese Symbolik, wonach die Ernte aller Mitglieder des tariky eigentlich dem Segen des lonaky zu verdanken ist, wird bei jeder Mahlzeit im Kleinen unterstrichen, in‑ dem die Teilnehmer stets in der Reihenfolge ihres alters‑ und geschlechtsbeding‑ ten Ranges zu speisen beginnen (s.u.). Dass nicht zuletzt auch die Muttermilch als Träger von autoritätsstiftender Le‑ benskraft wahrgenommen wurde, machten mehrere damit verbundene Praktiken und Vorstellungen deutlich: Unabhängig von der Menge und sichtbaren Quali‑ tät von Muttermilch führten meine Gesprächspartner ein besonders schnelles Körperwachstum von Kindern auf ›heiße Milch‹ (ronono mafana), ein langsames Wachstum hingegen auf ›kalte Milch‹ (ronono manitsy) zurück. Sie versicherten mir, dass damit nicht die tatsächliche Temperatur, sondern die ›Potenz‹ (hery) der Muttermilch gemeint war. Solange Kinder an der Mutterbrust tranken, wurden sie als Schlachtrinder in die Städte gelangen, werden Rinder ausschließlich zum Zweck des Opfers getötet und lediglich unter dieser Voraussetzung dem Verzehr zugeführt. 6 | Aus dieser sakralen Bedeutung von Rindfleisch erklärt sich auch das Verbot (fady), Rinder außerhalb einer Opferhandlung zu schlachten. Während meiner Feldforschung kam ich nur einmal in den Genuss von Rindfleisch, das nicht aufgrund von Opferhandlungen angefallen war. Vier Rinder waren vom Blitz erschlagen worden, wobei der lonaky Rivomana auch in diesem Fall den Segen der Ahnen einholte, bevor die Rinder verzehrt wurden.

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noch als ›Erweiterung‹ der Mutter betrachtet und im Todesfall nicht im väterlichen Familiengrab bestattet. Die Möglichkeit, dass Kinder von anderen Frauen des Dor‑ fes gestillt werden, wiesen Mütter entschieden als fady (≈ Tabu/Verbot) zurück. Die väterlichen Autoritätsansprüche kamen erst nach dem Abstillen voll zum Tragen und wurden bei Jungen durch die Beschneidung (savatsy) öffentlich bekräftigt, die keinesfalls vor dem Abstillen durchgeführt werden durfte. Eine weitreichende materielle Dependenz von Personen gegenüber den Mit‑ gliedern der ältesten Generation ergibt sich auch aus dem Umstand, dass letztere bis zu ihrem Tod über die entscheidenden materiellen Ressourcen verfügen. Diese Abhängigkeit besteht vor allem im Hinblick auf Viehbesitz. Zwar bleiben auch die Reisfelder im Besitz der Ältesten, doch überlassen sie deren Bewirtschaftung zum Teil ihren Söhnen und Enkeln, sodass diese – nachdem das loha voly vollzogen ist – frei über die Ernte verfügen können.7 Solange ihre Väter oder Großväter noch leben, verfügen die Frauen und Männer aus Menamaty in keiner Weise über de‑ ren Rinder. Zwar besteht für einige junge Männer die Möglichkeit, bei besonders reichen Verwandten (pagnarivo) Rinder zu hüten und als Lohn dafür ein Rind zu erhalten. Da sich Rinder jedoch sehr langsam vermehren, können diese jungen Männer ihren Bedarf an Rindern damit kaum selbständig decken, geschweige denn eine eigene Rinderherde erwerben.8 In Bezug auf die älteste Generation ist die soziale Kontrolle durch Erbschaft offensichtlich nur noch eingeschränkt wirksam, da diese bereits das Erbe erhalten haben. Jedoch beabsichtigten die lonaky von Ranomadio, auch nach ihrem Tod die hierarchische Relation zwischen ihren Kindern durch eine ungleiche Vererbung aufrecht zu erhalten. Das heißt, dass der älteste Sohn die meisten Rinder erhalten sollte, während für Töchter in jedem Fall weniger als für den jüngsten Sohn vor‑ gesehen war. Nur wenige der Gesprächspartner wollten ihren Töchtern überhaupt Rinder vererben und wenn doch, so sollten diese in die Rinderherde des ältesten Sohnes integriert werden.9 Da Rinder ausschließlich an die eigenen Kinder vererbt wurden, hatten Väter damit allerdings keinen direkten posthumen Einfluss auf das Machtverhältnis zwischen Cousins oder Cousinen der ersten Generation. Die konfliktreichen Beziehungen zwischen den männlichen Mitgliedern der äl‑ testen Generation, die auch Huntington (1988: 64-70) beschreibt, machen deutlich, wie zentral die Autorität direkter Vorfahren, die nicht zuletzt auf der Vererbung lebenswichtiger Güter beruht, für die Regulation der Beziehungen zwischen Brü‑ dern oder Cousins ist. Auf diesen Aspekt verweist auch ein prominentes Sprich‑ wort: Tany misy olo be tsy miady zaza – »Wo es Alte gibt, streiten sich die Kinder nicht.« Dass in Ranomadio selbst Konflikte zwischen den Ältesten Mitgliedern eines tariky meist unterschwellig blieben und teilweise beigelegt werden konnten, 7 | Damit dürfte auch die Praxis zusammenhängen, den individuellen Bedarf an Konsumgütern durch den Verkauf von Reis zu decken, obwohl dies teilweise zu einer Nahrungsknappheit vor der nächsten Reisernte führte. 8 | Die vor allem von jungen Männern geübte Praxis des Viehdiebstahls führt, wie mir versichert wurde, kaum zu einer nachhaltigen Erweiterung des Viehbesitzes, da häufig Kompensationszahlungen geleistet werden müssen, sofern das Opfer den Rinderdieb identifizieren kann (vgl. Scheidecker 2014). 9 | Ehefrauen, die ohnehin im Rahmen der Bestattung von ihren verstobenen Männern geschieden wurden, waren grundsätzlich vom Erbe ihrer Männer ausgeschlossen.

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dürfte nicht zuletzt mit den oben beschriebenen Glaubensvorstellungen und Op‑ ferpraktiken zusammenhängen. Die soziale Hierarchie setzt sich mit den Ahnen‑ geistern so weit fort, dass letztlich allen Mitgliedern eines tariky, auch den ältesten, ein gemeinsamer, unparteiischer und übermächtiger Stammvater zur Verfügung stand.

Körperliche Performanz hierarchischer Beziehungen Die Konzeption hierarchischer Beziehungen durch einen stetigen Fluss von Le‑ benskraft und Lebensmitteln an die Nachkommen, die im Gegenzug zu Gehorsam und Unterordnung verpflichtet sind, impliziert eine enge Verbindung zwischen den Mitgliedern eines tariky, die in der Metapher der Bananenstaude besonders prägnant zum Ausdruck kommt. Gleichwohl sind die hierarchischen Interaktio‑ nen durch eine Vielzahl von fady (≈ Tabu/Verbot) geprägt, die die Wahrung einer gewissen körperlichen Distanz und Differenz als Zeichen von fiasia (≈  Respekt) implizieren. Das gebotene Körperverhalten, das ich größtenteils im Laufe der Feld‑ forschung erlernen konnte (und musste), basiert auf einer alle raum-zeitlichen Di‑ mensionen umfassenden Symbolik: In der vertikalen Raumdimension entspricht ›oben‹ einer übergeordneten und ›unten‹ einer untergeordneten sozialen Position, die auch auf den menschlichen Körper übertragen wird. Der Kopf (loha), genauer: das Haupt (ambony), repräsentiert Autorität, Ordnung und Reinheit – und Hände sowie Füße stehen für Folgsamkeit, Lebendigkeit und Schmutz.10 Überdies sind die vier Himmelsrichtungen der sozialen Hierarchie des tariky zugeordnet. Der Osten wird mit den Ahnengeistern bzw. deren Autorität assoziiert und der Westen mit den jüngsten Nachkommen. Auch der Norden repräsentiert eine übergeord‑ nete soziale Position gegenüber dem Süden (vgl. Huntington 1988: 49). Auf der zeitlichen Dimension entspricht ›früher‹ einer höheren und ›später‹ einer niederen sozialen Position, was sich offensichtlich gut mit dem Senioritätsprinzip deckt und wiederum mit der Körpersymbolik verbunden ist: Das von loha (Kopf) abgeleitete Verb miloha bedeutet »beginnen« und das Adjektiv taloha »früher«. Im Folgenden werde ich einige der auf dieser Raum-Zeit-Symbolik basierenden Ausdrucksfor‑ men ausführlicher beschreiben, weil sie die hierarchischen Interaktionen durch‑ dringen und damit auch für die Emotionssozialisation von hoher Relevanz sind. Schon die Anordnung und Größe der Häuser in den Dörfern von Menamaty entsprach größtenteils dieser Raumsymbolik. Das Haus der jeweiligen lonaky (trano-donaky oder tranobe) hatte im Unterschied zu allen anderen Häusern stets zwei Etagen und befand sich östlich und häufig auch nördlich der weiteren Häuser des‑ selben tariky. Diese Anordnung war durch das fady zustande gekommen, wonach 10 | Diese Oben-Unten-Symbolik durchdringt freilich auch die deutsche Sprache (und wohl viele andere) derart, dass es kaum möglich erscheint, hierarchische soziale Verhältnisse ohne Bezug auf diese Symbolik zu verbalisieren. Beispielsweise ist jemand unter‑ oder übergeordnet, über‑ oder unterlegen, unter wirft sich oder begeht einen Aufstand, steigt auf, fällt, wird erniedrigt usw. Auch die Übertragung auf den Körper findet sich in der deutschen Sprache: Man spricht von Häuptlingen, Hauptbahnhöfen (oder Kopfbahnhöfen), von der Hauptsache, vom Kopf einer Gruppe usw. Die Verbindung der Körpersymbolik mit Reinheit findet sich ebenfalls in der deutschen Sprache wieder, wenn etwa vom »Glanz« einer Person bzw. Tat oder davon, jemanden »durch den Dreck zu ziehen«, die Rede ist.

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Söhne ihre Häuser keinesfalls östlich des väterlichen Hauses errichten dürfen.11 Der Dachfirst bzw. die Längsseite der rechteckigen Häuser verlief stets in NordSüd-Richtung (s.  Abb.  2).12 Sofern das Haus zwei Zimmer hatte, befand sich im nördlichen der repräsentative Versammlungsraum und im südlichen die Küche. Die räumliche Ausrichtung der Häuser ermöglicht es, im Innenraum die Rang‑ folge der Anwesenden durch eine entsprechende Sitzordnung räumlich abzubilden (vgl. Huntington 1988: 49). Besonders bei wichtigen Anlässen nahmen die erwach‑ senen Männer an der türlosen Ostwand Platz, wobei dem Ältesten die nördlichste Position zustand und die anderen Männer sich nach abnehmendem Alter weiter südlich niederließen. Die Frauen verteilten sich zusammen mit den Kindern in der südwestlichen Hälfte des Innenraumes. Sofern es sich um das tranobe handelte, waren in der Nordostecke unter dem Dach stets die sakralen Utensilien für das Rinderopfer u.a. das Opferschwert (verara), zu finden. An der Ostseite außerhalb des tranobe befand sich die Opferstätte und der Dachpfosten an der nordöstlichen Hausecke fungierte als hazomanga (wörtlich: blaues Holz), das die Ahnen bzw. deren Autorität repräsentiert. Ritualisierte Interaktionen wie Begrüßungen, Verabschiedungen, Dankesbe‑ kundungen oder wichtige Besprechungen finden in der Regel im tranobe statt und machen sich dabei dessen Raumsymbolik zunutze. Besonders gewöhnungsbedürf‑ tig war für mich, dass man sich nicht unbedingt beim ersten Zusammentreffen begrüßte. Vielmehr begaben sich die Beteiligten zuerst in das tranobe ohne einan‑ der zu beachten, nahmen dort einen ihrer hierarchischen Position entsprechenden Platz ein und begannen erst nach dieser sozialen Positionierung mit dem Aus‑ tausch der Begrüßungsformeln.13 Die sitzende Körperhaltung mit möglichst an‑ gewinkelten Beinen, die Vermeidung von Blickkontakt und die stets mit leiser und monotoner Stimme gesprochenen Begrüßungsworte erweckten in mir stets den Eindruck äußerster körperlicher und emotionaler Zurückhaltung. Hinzu kommt die räumliche Distanz zwischen Alt und Jung, Mann und Frau aufgrund der be‑ schriebenen Sitzordnung. Die langen, monologischen Begrüßungsreden boten weitere Ausdrucksmöglichkeiten für soziale Differenz, da der Ranghöchste stets zuerst und deutlich am längsten sprach und sich die jüngeren Männer und Frau‑ en durch immer kürzer werdende Monologe anschlossen, während Kinder gänz‑ lich schwiegen.14 Wie mir Dadah, mein Forschungsassistent während der zweiten Feldforschung, erklärte, hat die statusbedingte Reihenfolge der Redebeiträge bei

11 | Die Häuser verschiedener tariky waren hingegen nicht nach dieser hierarchischen Raumsymbolik geordnet, was dem egalitären Verhältnis der intersegmentären Relationen entspricht. 12 | Während in den Dörfern von Menamaty sämtliche Häuser dieser Norm entsprachen, war dies im urbanen Umfeld und selbst in Iloto nicht der Fall. 13 | Sofern der Besucher aus einer anderen Lineage stammte, erhielt er in der Regel einen Ehrenplatz direkt neben dem Hausherrn. 14 | Dies steht in einem deutlichen Gegensatz zu westlichen Begrüßungspraktiken, die mit körperlicher Aufrichtung und Zuwendung, der symmetrischen Aufnahme von Körperkontakt (z.B. Händeschütteln, Wangenkuss, Umarmung) sowie dem Austausch kurzer Grußformeln einhergehen und damit Reziprozität, Spontanität und eine gewisse soziale Nähe zum Ausdruck bringen.

3. Beziehungsmuster und -dynamiken

tariky-internen Besprechungen auch die Funktion, dass sich die Jüngeren an den Meinungen der Älteren orientieren können. Bei besonderen Anlässen, etwa wenn erwachsene Töchter oder Söhne nach län‑ gerer Abwesenheit in ihr Dorf zurückkehren, vollziehen Eltern bzw. Großeltern und Kinder im Rahmen der Begrüßung einen Austausch ritualisierter Gesten. Die stehenden Eltern oder Großeltern berühren mit ihrer Hand den Kopf des zu be‑ grüßenden Nachkommen und sprechen einen Segen aus. Der kniende Empfänger des Segens verbeugt sich daraufhin in Richtung der Füße der segnenden Person und führt gleichzeitig seine Hände von unten nach oben, als würde er Wasser (oder Lebenskraft) schöpfen und über seinen Kopf gießen. Diese als mifaly bezeichnete Geste vollzogen Personen nicht nur im Rahmen einer Begrüßung, sondern auch, wenn sie von Angehörigen der älteren Generation eine Gabe erhielten15 oder sich bei ihnen für ein Fehlverhalten entschuldigen (mifona) wollten. Aus Berichten ist mir eine weitere Variante dieser Gestik bekannt, welche die ihr inhärente vertikale Körperasymmetrie gewissermaßen auf die Spitze treibt. Ein Fehlverhalten, das die Autorität der Älteren unmittelbar infrage stellt, etwa ein direktes Sich-Widerset‑ zen gegen den Willen der Eltern (mamalivaly ray aman-dreny), macht nicht nur ein Rinderopfer erforderlich, sondern auch ein mifaly des Widerspenstigen gegenüber den Älteren. Dabei stellt der Vater oder ein anderer Älterer, dessen Autorität miss‑ achtet wurde, seinen Fuß auf den Kopf des Missetäters, während dieser das mifaly ausführt. Die direkte Infragestellung der Autorität macht – so könnte man diese Gestik deuten – eine radikale symbolische Bekräftigung des hierarchischen Ver‑ hältnisses erforderlich. Auch jenseits ritualisierter Interaktionen bleibt die Wahrung der Oben-UntenDifferenz sowie einer gewissen körperlichen Distanz zwischen Mitgliedern unter‑ schiedlicher Generationen von Bedeutung. Ist es beispielsweise erforderlich, in der Nähe von sitzenden Personen aus der älteren Generation vorüberzugehen, so ge‑ bietet es der Respekt ( fiasia), den Schritt zu verlangsamen und mit der Formel aza fady (wörtlich: kein Verbot) um Erlaubnis zu bitten, den eigentlich gebotenen Min‑ destabstand zu unterschreiten. Nachdem die sitzenden Personen mit dem Ausruf eka (ja) oder ndao (geh!) ihre Erlaubnis erteilt haben, geht man mit gebeugter Kör‑ perhaltung (milokoloko) vorbei und rückt damit gewissermaßen das widersprüch‑ liche Körperverhältnis symbolisch zurecht. Mit einer ähnlichen Ambivalenz dürfte auch die Norm zusammenhängen, der zufolge Frauen, Mädchen oder Jungen, die Männern eine Mahlzeit ankündigen oder die Speisen bringen, in die Hocke gehen. Eine derartige Bescheidenheitsgeste im Kontext der Nahrungsgabe an Höherran‑ gige lässt sich verstehen, wenn man bedenkt, dass eine Nahrungsgabe mit einer Segnung assoziiert wird und damit dem Geber eigentlich einen höheren Status verleiht. Die hockende bzw. kniende Körperhaltung des niederrangigen Gebers gleicht diese Bedeutung gewissermaßen aus. Die Normen des Speisens bringen das Rangverhältnis wie in der verbalen Kommunikation durch eine zeitliche Reihenfolge zum Ausdruck. Die Nahrungs‑ aufnahme erfolgte grundsätzlich nach Geschlechtern getrennt – abgesehen von männlichen Säuglingen und Kleinkindern, die bei der Mutter aßen. Die männ‑ 15 | In diesem sozialen Kontext entspricht der mifaly-Geste der Ausspruch mahavelo, der wörtlich ›macht lebendig‹ bedeutet und ein besonders respektvolles Synonym für misaotsy (Dank) ist.

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lichen und weiblichen Mitglieder des Haushaltes aßen jeweils von gemeinsamem Essgeschirr, wobei sich Frauen und Mädchen dazu meist in der Küche und die Männer und Jungen im Aufenthaltsraum niederließen. Letztere begannen stets vor den Frauen und Mädchen zu essen und befolgten untereinander gemäß ihrer Rangverhältnisse eine strikte Reihenfolge. Jede Schüssel mit Nahrungsmitteln sowie das Trinkgefäß durften erst angerührt werden, nachdem der jeweils Ältere davon mindestens einen Löffel genommen oder einen Schluck getrunken hatte.16 Auch das Ende der Mahlzeit folgte dieser zeitlichen Regel, indem der Älteste zuerst und der Jüngste zuletzt aufhörte. Wollten Jüngere ausnahmsweise vor den Älteren ihre Mahlzeit beenden, entschuldigten sie sich durch ein beidhändiges Anheben des gemeinsamen Essgeschirrs. Die sequenzielle Nahrungsaufnahme erlaubt zum einen dem Ältesten, die besten Nahrungsstücke auszuwählen, zum anderen be‑ stärkt es symbolisch das Konzept, wonach Lebensmittel als Inbegriff der Lebens‑ kraft von den Älteren an die Jüngeren weitergegeben werden. Zahlreiche fady legen eine Übertragung der Raumsymbolik auf den individuel‑ len menschlichen Körper und die soziale Körperschaft des tariky nahe. So gilt für alle Lebenden das Verbot, die Füße gen Osten als der mit Ahnengeistern, Autori‑ tät und Reinheit assoziierten Himmelsrichtung auszustrecken. Soweit ich sehe, beachteten alle dieses fady und schliefen mit dem Kopf in Richtung Osten oder Norden.17 In Übereinstimmung damit achteten Jüngere darauf, im Sitzen ihre Bei‑ ne anzuwinkeln, um sie Älteren nicht entgegenzustrecken. Direkt in die Augen Älterer zu blicken oder gar deren Kopf zu berühren, widersprach in hohem Maße den Regeln des Respekts – wohlgemerkt galt dies nicht in umgekehrter sozialer Richtung, wie das Beispiel der Segnungsgeste zeigt. In der verbalen Kommunika‑ tion wird diese gebotene körperliche Zurückhaltung durch die Verwendung spe‑ zieller Respektstermini (tsara fiasia) zum Ausdruck gebracht.18 Beispielsweise wird das Wort loha als gewöhnliche Bezeichnung für ›Kopf‹ Älteren gegenüber durch gny ambony (›das Obere‹) ersetzt; an die Stelle von maso für Auge tritt fizery (›das Sehende‹). Die indirekte Bezeichnung von Körperteilen in Bezugnahme auf de‑ ren Lage oder Funktion erlaubt es, von der Leiblichkeit Älterer abzusehen und die‑ se somit geradezu in die Nähe von Ahnengeistern zu rücken. Bei Interviews mit Kindern wurde zudem deutlich, dass diese teilweise den Namen ihrer Väter nicht wussten oder nicht aussprechen wollten. Im Rahmen einer Kindern gestellten Auf‑ gabe, ihre Verwandtschaft zu zeichnen, stellte sich heraus, dass sie den Körper ihres Vaters nicht darstellen wollten. Dem Umstand, dass die Leiblichkeit Älterer insgesamt und besonders ihr Haupt für Jüngere fady ist und damit gewissermaßen einen sakralen Charakter hat, ent‑ spricht umgekehrt eine Betonung der körperhaften, mithin als unrein geltenden 16 | Zu Beginn meiner Feldforschung war mir mehrmals der Fehler unterlaufen, bestimmte Nahrungsmittel nicht oder nur zögerlich anzurühren, womit ich die Jüngeren unwillentlich hinderte, davon zu essen. 17 | Auf diese Norm wurde ich erstmals aufmerksam, als ich bei meinem ersten Aufenthalt in Madagaskar mit Iavitsara in einem Hotelzimmer übernachtete und sich dieser umgekehrt auf das Bett legte und die Leselampe entsprechend am anderen Bettende aufstellte, da das vorgesehene Kopfende im Westen lag. 18 | Eine 82 Wörter umfassende Liste solcher Respektstermini findet sich bei Elli (1988: 207f).

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Beschaffenheit Jüngerer. Dies manifestierte sich etwa in der Namensgebung Neu‑ geborener. Diese erhielten häufig einen Rufnamen, der sich auf körperliche Un‑ reinheit bezieht. Beispielsweise waren unter den Kindern aus Menamaty Namen wie Loto (›Schmutz‹), Betay (›viel Kot‹) oder Pelatay (›Kot-Frau‹) verbreitet.19 Spä‑ testens ab der Pubertät werden diese Namen dann durch solche mit neutraler oder positiver Konnotation ersetzt, z.B. wurde Pelatay im Alter von etwa 13 Jahren in Pelavao (›nur Frau‹) umbenannt. Die Assoziation von Kindern mit Schmutz wurde von Männern auch als Begründung dafür angeführt, weshalb sie sich nur ungern länger in der Nähe von Müttern mit Säuglingen aufhielten und Körperkontakt zu ihren Kleinsten eher scheuten. Das im Umgang zwischen Alt und Jung, Mann und Frau manifeste Körper‑ modell schreibt dem Kopf und seinen Organen also tendenziell eine sakrale Bedeu‑ tung zu, wohingegen Hände, Füße und Gesäß mit Unreinheit assoziiert werden.20 Übertragen auf die soziale Körperschaft des tariky repräsentiert der lonaky den Kopf (loha) und die Jüngsten die Arme, Beine und Ausscheidungsorgane. Aus der Übertragung der Körpersymbolik auf die hierarchisch strukturierte Gruppe folgt das Gebot einer grundsätzlichen körperlichen Distanz zwischen Alt und Jung, Mann und Frau. Eine Verschärfung erfährt dieses Distanzgebot noch im Hinblick auf die unreinen Körperpartien der Jüngeren und das Haupt der Älteren. Allzu gro‑ ße Nähe oder gar Kontakt zwischen diesen Körperpartien mit entgegengesetzter sozialer Wertung käme einer Missachtung der Autorität oder ihre Beschmutzung gleich. In diesem Sinn werden Opferhandlungen zur Bereinigung einer Autoritäts‑ missachtung auch als manasa raza, als Reinwaschen der Ahnen, bezeichnet. Viele der auf zeitlich-räumlichen und körperlichen Dimensionen beruhenden Ausdrucksformen für soziale Differenz finden sich zwar in ähnlichen Formen auch in westlichen Kontexten wieder. Gerade in der Relation zwischen Eltern und Kindern, für die in der Forschungsregion besonders ausgeprägte Distanzgebote gelten, scheinen in der euro-amerikanischen Mittelschicht jedoch Interaktions‑ modelle der Nähe, Gleicheit und Reziprozität vorzuherrschen (vgl. Keller 2007: 111). Die Praxis, Kindern etwa bei der Meinungsäußerung, beim Eintreten in einen Raum oder beim Essen den Vortritt zu lassen, mutet fast wie eine Umkehrung der Statusdifferenz an. Eine solche symbolische Umkehrung der hierarchischen Relation würde in der Forschungsregion hingegen selbst dann als moralisch ver‑ werflich angesehen werden, wenn sie die sozial höher eingestufte Person initiiert. Dies wurde etwa deutlich, als ich zu Beginn der Feldforschung Kinder begrüßte, mich bei ihnen bedankte, entschuldigte oder ihnen mein Gepäck nicht zum Tra‑ gen überlassen wollte. In diesen Fällen wurde ich sehr deutlich darauf hingewie‑ sen, dass mein Verhalten fady sei.

19 | Huntington (1988: 55) bezieht diese Praxis der Namensgebung hingegen auf das Anliegen, das Kind vor der Aufmerksamkeit böser Geister zu beschützen. Dass die Namensgebung jedoch eng mit sozialem Rang assoziiert wird, macht etwa ein von Elli (1993: 195) angeführtes Sprichwort deutlich: Gny agnara tandroky, ka sady fanognoa no fagnaja – »Der Name ist wie das Gehörn [der Rinder], er dient der Bezeichnung und dem Respekt«. Wohlgemerkt orientiert sich die Bezeichnung individueller Rinder u.a. an der Größe und Form ihrer Hörner. 20 | Somit steht das Wort fory nicht nur für die Ausscheidungsorgane, sondern im übertragenen Sinn auch für die Extremitäten, Füße oder den Boden.

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Die vielzähligen, das Interaktionsverhalten zwischen Jung und Alt prägenden Normen der sozialen Distanz und Differenz und das entsprechende asymmetri‑ schen Körperverhalten weisen bereits auf einige emotionale Aspekte hin, die an dieser Stelle jedoch vorerst nur angedeutet werden sollen. Auf der einen Seite bringen diese Normen ein hohes Maß an Formalität in die hierarchischen Inter‑ aktionen, das dem individuellen und spontanen Ausdruck von Emotionen gera‑ dezu entgegensteht und eine umfassende Emotionsregulation erforderlich macht. Auf der anderen Seite fungieren diese Gesten aber gerade auch als Ausdruck von fiasia und haja, Respekt und Ehrerbietung. Da es sich hierbei um normative Aus‑ drucksformen handelt, kann man zwar nicht davon ausgehen, dass diese stets aus entsprechenden Emotionen resultieren. Jedoch impliziert das eingangs angeführte Emotionsverständnis, dass ein Ausdrucksverhalten subjektive Gefühle mit hervor‑ bringen kann. Vor diesem Hintergrund dürften die beschriebenen körperlichen Verhaltenspraktiken nicht nur ein Bewusstsein für das jeweilige soziale Verhält‑ nis schaffen, sondern auch Gefühle oder Affekte reproduzieren, die der jeweiligen Über‑ oder Unterordnung entsprechen.

Alltägliche Kontakträume und Interaktionsmuster Bislang habe ich symbolische und ritualisierte Interaktionsformen zwischen den Mitgliedern unterschiedlicher Generationen beschrieben. Diese treten lediglich bei besonderen sozialen Anlässen, welche die verschiedenen Generationen zusam‑ menführen, in den Vordergrund und betreffen keineswegs den gesamten Alltag der Menschen aus Menamaty. Vielmehr haben sie einen punktuellen Charakter, da Töchter und Söhne die meiste Zeit des Tages in einer von den Eltern, Tanten, Onkeln und Großeltern räumlich getrennten sozialen Sphäre zubringen. Im Fol‑ genden möchte ich die hierarchischen Interaktionen sowie die Tendenz zur Alters‑ segregation anhand der Lebensbereiche des gemeinsamen Haushalts, der ökono‑ mischen Kooperation und der ›Freizeitgestaltung‹ konkretisieren. Haushalt: Der Haushalt stellt wohl den wichtigsten alltäglichen Kontaktraum für Angehörige unterschiedlicher Generationen dar, weil hier die Familienmitglie‑ der gemeinsam den Bedürfnissen nach Nahrung oder Schlaf nachgehen und das Haus der präferierte Ort für formale Interaktionen ist. Die Mitglieder der tariky von Ranomadio verteilen sich auf eine Reihe benachbarter Häuser, die meist zwei Zimmer mit gesonderten Eingängen umfassen, wobei der südliche Raum als Kü‑ che dient. Die Häuser der lonaky enthalten zudem noch einen weiteren Raum in der oberen Etage, der über eine Außentreppe zugänglich ist. Bewohnt werden die jeweiligen Häuser in der Regel von einem Ehepaar und ihren Kindern, sofern diese noch nicht verheiratet sind. Da die Großeltern normalerweise in einem eigenen, meist benachbarten Haus wohnen, stellt der Haushalt also vor allem einen Kon‑ taktraum für Eltern und deren unverheiratete Kinder dar. Diese speisen nach der beschriebenen Raum‑ und Zeitordnung miteinander, also nach Geschlechtern ge‑ trennt und in einer festen, statusbedingten Reihenfolge. Nur die jüngsten Kinder schlafen im selben Raum mit den Eltern. Wie eine systematische Erhebung ergab, nächtigten Kinder ab einem Alter zwischen fünf und acht Jahren in der Küche oder einer weiteren, ansonsten leerstehenden Hütte. Viele der jugendlichen, un‑ verheirateten Frauen in Ranomadio besaßen ein eigenes, kleines Haus, in dem sie nächtlichen Besuch empfangen konnten. Abgesehen von den morgendlichen und

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abendlichen Mahlzeiten oder von besonderen Anlässen hielten sich die Mitglieder des Haushalts tagsüber äußerst selten gemeinsam im Haus auf. Somit stellen die Mahlzeiten die wichtigsten Gelegenheiten dar, bei denen sich die Haushaltsmit‑ glieder im Alltag zusammenfinden. Wie oben bereits erwähnt, waren Etienne und ich über mehrere Monate hinweg bei verschiedenen Familien zu Gast, um diese besser kennenlernen zu können und vor allem, um nähere Einblicke in den alltäglichen Umgang zwischen Eltern und ihren Kindern zu erhalten, da sich diese ansonsten eher zu meiden schienen. Aller‑ dings zeigte sich, dass auch bei den Mahlzeiten intergenerationale Interaktion und Kommunikation auf ein Minimum reduziert und in der beschriebenen Weise for‑ malisiert waren. Zwar aßen Väter und Söhne bzw. Mütter und Töchter jeweils vom selben Geschirr, doch beschränkte sich die verbale Kommunikation zwischen ihnen meist auf sporadische Anweisungen vonseiten der Erwachsenen. Sofern mehrere Er‑ wachsene präsent waren, unterhielten sich diese teilweise miteinander. Auch Kinder zeigten zwar zuweilen die Tendenz, sich beim Essen untereinander über dies und jenes auszutauschen, allerdings wurden sie in einem solchen Fall von ihren Vätern auf das Gebot verwiesen, sich in Gegenwart von Erwachsenen ruhig zu verhalten. Wirtschaftliche Kooperation: Obwohl die Nachkommen wirtschaftlich in hohem Maße von ihren Vätern und Großvätern abhängen und die einzelnen Lineages oder Sub-Lineages geradezu ökonomische Einheiten darstellen, finden die meisten wirtschaftlichen Aktivitäten nach Generations‑ und Geschlechtszugehörigkeit ge‑ trennt statt. Dies trifft insbesondere auf die männlich dominierte Viehhaltung zu: Rinder sind zwar zum größten Teil im Besitz der Ältesten, jedoch übernehmen die Knaben und jungen Männer die meisten Aufgaben der Viehhaltung, während ältere Männer diese Aktivitäten gelegentlich überwachen, die Rinderherde hin und wieder kontrollieren und die wichtigen Entscheidungen treffen. Anspruchsvolle Aufgaben wie das Einfangen und Kastrieren der Rinder oder das Einbringen der Schnittmuster in die Ohren als Zugehörigkeitsmarker erledigen junge Männer unter der Aufsicht des väterlichen oder großväterlichen Besitzers. Der Hauptaufga‑ be des täglichen Viehhütens gehen die Jungen jedoch alleine nach, sodass sie sich über lange Perioden fernab des Dorfes und jenseits der direkten Kontrolle durch Ältere bewegen. Besonders in der Trockenzeit, wenn nahrhaftes Gras rar wird und die Rinder zu weit entfernten Weiden geführt werden müssen, bleiben die Jugend‑ lichen und jungen Männer mehrere Tage am Stück fern, bevor sie von anderen abgelöst werden. Beim Ackerbau hingegen ist diese intergenerationale Arbeitstei‑ lung etwas weniger stark ausgeprägt, da hier in einem relativ kurzen Zeitraum während der Regenzeit viel Arbeit am selben Ort anfällt und damit mehr Bedarf zur direkten Zusammenarbeit besteht. Jedoch zeigte sich auch hier eine Tendenz zur Alterssegregation, da bereits Jugendliche Felder zur selbstverantwortlichen Be‑ wirtschaftung zugewiesen bekamen und dann in der Regel auf Arbeitskräfte aus der gleichen Generation zurückgriffen. Die Arbeiten von Mädchen und Frauen gehen indessen mit einer etwas schwä‑ cher ausgeprägten Alterssegregation einher. Aufgaben von Frauen sind deutlich stärker auf die häuslich-dörfliche Sphäre bezogen, in der sich häufiger Personen unterschiedlichen Alters aufhalten. Die Betreuung von Säuglingen und Kleinkin‑ dern verbunden mit der Haushaltsführung erfordert eine relativ enge Zusammen‑ arbeit zwischen Müttern und ihren Töchtern, da letztere entweder die Säuglinge hüten, während die Mutter beispielsweise Wasser am Fluss holt, oder etwa den

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Reistopf überwachen, während die Mutter das Kind stillt. Diese Formen der Ko‑ operation bringen zum einen wesentlich mehr Kontakt zwischen den Generatio‑ nen mit sich; zum anderen hat die Arbeitsteilung im Haushalt im Vergleich zu derjenigen bei der Viehzucht einen stärker reziproken Charakter. Dies entspricht dem Umstand, dass meinen Beobachtungen zufolge die Hierarchie zwischen den weiblichen Verwandten weniger stark ausgeprägt war und auch nicht derart sorg‑ fältig in den sozialen Interaktionen beachtet wurde wie unter den männlichen Verwandten. Im Hinblick auf die Relation zwischen Müttern und ihren Töchtern dürfte zudem der sozio-strukturelle Aspekt eine Rolle spielen, dass diese formal unterschiedlichen tariky angehören und das Autoritätsverhältnis damit nicht in der Ideologie der patrilinearen Abstammung verankert ist. Freizeit: Am deutlichsten zeigte sich die Tendenz zur Alterssegregation in der Freizeit, also dann, wenn keine Notwendigkeit der Interaktion zwischen Alt und Jung besteht. Männer verschiedener Generationen waren äußerst selten ohne er‑ sichtlichen Grund beieinandersitzend oder gar miteinander plaudernd anzutref‑ fen. Frauen und Mädchen saßen zwar hin und wieder auch in der Freizeit in einer Gruppe beisammen, jedoch war auch hier die Kommunikation in aller Regel auf Angehörige derselben Generation gerichtet. Die gesellige, zeitintensive Aktivität des gegenseitigen Haarflechtens (mitaly) konnte ich beispielsweise nicht zwischen Frauen oder Mädchen aus unterschiedlichen Generationen beobachten. Kinder, die vergleichsweise wenige Verpflichtungen hatten und deren Aktivitäten durch das Spiel ( fisa) bestimmt waren, verbrachten ab dem Alter von fünf oder sechs Jahren den Großteil des Tages außerhalb des Dorfes zusammen mit Gleichaltrigen, in der Regel nach Geschlechtern getrennt. Die weitgehende Trennung der Lebenssphären von Angehörigen unterschiedli‑ cher Generationen (und unterschiedlichen Geschlechts) im Alltag lässt sich auf die bislang beschriebenen Dimensionen vertikaler Relationen beziehen. Im vorange‑ gangenen Abschnitt zur symbolischen Performanz der Autoritätshierarchie wurde gezeigt, dass soziale Distanz und Respekt auf der Basis einer körperlichen Distanz oder zeitlichen Differenz zum Ausdruck gebracht wird und dass die zahlreichen fady mit einer ausgeprägten Formalisierung des intergenerationalen Umgangs ein‑ hergehen. Die Alters‑ und Geschlechtssegregation im Alltag und insbesondere in der Freizeit kann folglich als Erweiterung dieser symbolisch distanzierenden Inter‑ aktionsregeln betrachtet werden. Da diese fady nun nicht für Gleichaltrige und An‑ gehörige desselben Geschlechts gelten, spricht hingegen nichts gegen einen un‑ distanzierten und informellen Umgang in diesen Relationen. Das beschriebene hierarchische Beziehungsmodell, dem zufolge die Älteren als Autoritätspersonen berechtigt sind, das Handeln der Jüngeren zu kontrollieren und nötigenfalls zu sanktionieren, verweist auf einen weiteren, pragmatischen Grund, aus dem Jüngere im Alltag dazu tendierten, die Gesellschaft der Älteren zu mei‑ den: Ein solcher Kontakt erhöht für Jüngere die Wahrscheinlichkeit, eine Aufgabe zu erhalten bzw. für das Verhalten oder die Ausführung einer Aufgabe kritisiert oder gar sanktioniert zu werden. Tatsächlich begründeten Kinder ihr Meidungs‑ verhalten immer wieder damit, dass ihre Tante, ihr Vater oder Großvater seky oder heloky sei, also zu Wut oder Zorn tendiere, und unterstellten ihren Erziehungsbe‑ rechtigten damit eine gewisse Strenge. Auch aus der Perspektive der Älteren schien eine angemessene Distanz der Jüngeren ihnen gegenüber wünschenswert zu sein. Insbesondere die Gegenwart laut spielender Kinder galt als Ärgernis (mahasosotsy)

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und konnte Ältere dazu veranlassen, diese zu verscheuchen. Allerdings beschrie‑ ben die Älteren eher die Einhaltung eines respektvollen Mindestabstands durch die Jüngeren als wünschenswert, denn ihre gänzliche Abwesenheit. Ein immer wieder beschriebener Anlass für sosotsy (Ärger) oder mivoto tenda (wörtlich: geschwollener Hals) bestand beispielsweise darin, dass Jüngere nicht kamen, wenn sie zum Essen oder zur Verrichtung einer Aufgabe gerufen wurden. Die intergenerationale Meidungstendenz bestimmt auch die Einstellung und das alltägliche Verhalten bezüglich der leicht erzürnenden fahasivy (Ahnengeister): Im Alltag wurden die weit außerhalb der Dörfer in Höhlen gelegenen Gräber der Ahnen nach Möglichkeit gemieden, und kaum jemand sprach ohne besonderen Anlass über die Ahnengeister.21 Das christliche Gebet meiner Forschungsassis‑ tenten vor jeder Mahlzeit schien bei den Dorf bewohnern stets ein gewisses Un‑ behagen oder zumindest Verwunderung (tseriky) hervorzurufen. Ein wichtiger Grund, Verstorbenen posthume Namen zu verleihen, liegt in der Vermeidung ihres eigentlichen Namens im Alltag, da andernfalls die Gefahr bestünde, sie versehent‑ lich herbeizurufen (vgl. Michel 1957: 123).22 Auch bei Bestattungen werden einige Vorkehrungen getroffen, um zu verhindern, dass die Verstorbenen die Lebenden grundlos heimsuchen.23 Die Menschen von Menamaty nahmen nur im Rahmen von Opferhandlungen Kontakt zu den Ahnen auf, also dann, wenn ein Bedarf be‑ stand, deren Segen einzuholen oder wiederzuerlangen.

E galitäre B eziehungs ‑ und I nter aktionsmuster Die im vorigen Unterkapitel beschriebene Autoritätshierarchie des tariky und die formalen Interaktionsformen bestimmen keineswegs das gesamte soziale Leben der Menschen von Menamaty. Wie oben bereits angedeutet, halten sich die Jün‑ geren im Alltag von den Älteren eher fern und verbringen stattdessen die meiste Zeit mit Personen aus derselben Altersgruppe. Dies trifft in besonderem Maße auf die männlichen Dorf bewohner zu, da die weiblichen aufgrund ihrer Aktivitäts‑ muster etwas mehr intergenerationalen Kontakt haben. Darüber hinaus liegen, wie im Folgenden konkretisiert wird, viele Lebens‑ und Handlungsbereiche außerhalb der Kontrolle durch Ältere, da diese Bereiche entweder für die Interessen des tariky nicht von Belang sind oder weil sich die Jüngeren der Kontrolle entziehen. Das Verhältnis zwischen Gleichaltrigen lässt sich grundsätzlich als egalitär oder horizontal beschreiben. Zum einen ist die altersbedingte soziale Hierarchie des tariky zwischen Gleichaltrigen gegenstandslos. Zum anderen gibt es keine 21 | Im Gegensatz dazu befinden sich die Ahnengräber bei den Merina meist in den Dörfern oder in unmittelbarer Nähe (vgl. Bloch 1971: 105). Diese sozio-räumliche Differenz deutet auf ein anderes Verhältnis zu den Ahnengeistern hin. 22 | Dies wurde gleich zu Beginn meiner Feldforschung deutlich, als ich ein Haushaltssurvey durchführen wollte und auf das Problem stieß, dass kaum jemand die Namen der Verstorbenen nennen wollte. 23 | Beispielsweise wurde während der von mir miterlebten Bestattungsrituale dem Geist der Verstorbenen nahegelegt, sich nicht unter die Lebenden zu mischen. Zudem wurde einer Verstorbenen die Scheidung von ihrem Ehemann vergegenwärtigt, indem dieser auf halber Strecke zum Grab mit einer als neue Gattin ausgegebenen Frau demonstrativ umkehrte.

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soziale Stratifizierung oder übergeordnete Machtsysteme, die Gleichaltrige in ein ungleiches Verhältnis zueinander setzen würden. Vielmehr sind die Beziehungen zwischen Gleichaltrigen durch ein hohes Maß an ökonomischer, soziopolitischer und auch moralisch-religiöser Unabhängigkeit geprägt. Als Partner egalitärer oder horizontaler Beziehungen standen sich in Mena‑ maty vor allem longo, also entfernte Verwandte aus unterschiedlichen tariky, und arahamba, nichtverwandte Personen gegenüber. Auch longo oder arahamba unter‑ schiedlichen Geschlechts befanden sich, sofern sie nicht verheiratet waren, grund‑ sätzlich in einem egalitären Verhältnis. Die Relation zwischen mehr oder weniger gleichaltrigen Geschwistern oder Cousins aus demselben tariky hatte hingegen häufig einen ambivalenten Charakter, da sie sich einerseits derselben Altersgruppe zurechnen konnten, andererseits in die durchgängig hierarchische Struktur des tariky eingebettet waren. In den folgenden Abschnitten zu den egalitären Beziehungs- und Interaktions‑ mustern werde ich zunächst das sie bestimmende egalitäre Ethos beschreiben, um anschließend verschiedene egalitäre Beziehungsmodi zu skizzieren. Da die horizontalen Beziehungen kaum durch explizite soziale Normen und moralische Codes bestimmt sind, greife ich bei der Beschreibung vor allem auf erzählte Emo‑ tionsepisoden zurück, die einen guten Einblick in die jeweiligen Beziehungsdyna‑ miken vermitteln.

Das egalitäre Ethos Der Umstand, dass der Viehbesitz in den Dörfern von Menamaty nicht gleichmäßig auf die verschiedenen tariky verteilt ist, scheint auf den ersten Blick nicht gerade dafür zu sprechen, dass diese sozialen Gruppierungen und ihre jeweiligen Mitglie‑ der in einem egalitären Verhältnis zueinanderstehen. Eine derartige materielle Un‑ gleichverteilung ist auch nicht untypisch für andere pastorale Gesellschaften, die in der Ethnologie häufig als egalitär charakterisiert wurden. Dies hat in jüngerer Zeit einige Autoren dazu bewogen, den egalitären Charakter solcher Gesellschaf‑ ten infrage zu stellen (z.B. Borgerhoff Mulder et al. 1994, 2010). Wie Salzmann (2004: 71) jedoch zu Recht betont, beruht diese Kritik auf einem begrifflichen Miss‑ verständnis, dem zufolge Beziehungen nur unter der Bedingung als egalitär zu bezeichnen wären, dass die Partner in jeder Hinsicht absolut gleich sind. Jedoch bezieht sich ›egalitär‹ offenbar nicht auf einen Zustand der Gleichheit, sondern vielmehr auf eine Tendenz, Unterschiede auszugleichen bzw. auf ein Ethos, nach dem Unterschiede prinzipiell inakzeptabel und nicht als essenziell anzusehen sind.24 Immerhin bemerken Borgerhoff Mulder et al. (2010: 46) abschließend, dass zumindest eine egalitäre Ideologie in vielen pastoralen Gesellschaften verbreitet ist: »[t]he pastoral system with its ideology of egalitarianism persists, even as the populations shed people who chose or are forced to adopt other ways of life.« Aber genau auf eine solche Ideologie, oder besser: auf eine solche emotionale Haltung – die freilich auch Handlungskonsequenzen hat –, lässt sich der Begriffe ›egalitär‹ sinnvoll beziehen.

24 | Im Französischen, aus dem sich der Begriff ›egalitär‹ herleitet (égalitaire), bezeichnet das Wort égal(e) eine tatsächliche Gleichheit.

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Die egalitäre Haltung der Menschen aus Menamaty, die wohlgemerkt lediglich in intersegmentären sozialen Relationen im Vordergrund steht, werde ich im Fol‑ genden auf drei Ebenen rekonstruieren: (1) hinsichtlich der Inakzeptanz gegenüber sozioökonomischen Differenzen, (2) den daraus erwachsenden Tendenzen, aktiv gegen Ungleichheit vorzugehen und (3) mit Blick auf die Konzeptualisierung von faktischen Unterschieden als unbedeutend. Die ausgeprägte Inakzeptanz gegenüber sozioökonomischen Differenzen wur‑ de mir zuallererst im Zuge unserer Bemühungen vor Augen geführt, während der Feldforschung mit Personen jenseits unseres tariky Beziehungen aufzunehmen. Von einer derartigen Erweiterung des sozialen Feldes versuchten uns die Ältesten unseres tariky mittels Warnungen vor tödlicher Gefahr durch Vergiftung, Schadens‑ zauber, Raubüberfall oder Waffengebrauch abzuhalten. Unabhängig davon, ob diese Warnungen einen instrumentellen Charakter hatten oder einer tatsächlichen Sorge um unser Wohlergehen entsprangen – wahrscheinlich handelte es sich um eine Kombination aus beidem –, waren die in diesem Zusammenhang gegebenen Erläu‑ terungen immer wieder aufschlussreich. Als vazaha mena sofy, der im Gegensatz zu den anderen mutmaßlich über große finanzielle Kapazitäten verfüge, würde ich alle Bemühungen vonseiten der anderen Dorfbewohner auf mich ziehen, mir etwas von meinem Wohlstand zu nehmen.25 Da ich auf weitere Erklärungen pochte, bekam ich mehrmals die Formel zu hören: Olo malay nama manan-draha – »Die Menschen akzeptieren den Besitz ihrer Mitmenschen/Gefährten/Kameraden nicht«. Noch deutlicher wurde die grundsätzliche Inakzeptanz gegenüber bevorteilten, nichtverwandten Menschen in Gesprächen zur Bedeutung von Emotionswörtern. Auf der Suche nach einer in der Region gebräuchlichen Emotionsvokabel, die dem deutschen Ausdruck »Neid« vergleichbar ist, fragte ich mehrere Personen, was in ihrem ›Bauch‹ oder ›Herzen‹ geschehe,26 wenn sie mit einer gleichaltrigen Per‑ son zu tun hätten, die wesentlich mehr Rinder besäße als sie. Die Antworten be‑ standen stets darin, dass man den Wunsch verspüre, dieser Person die Rinder zu stehlen oder ihr auf eine andere Art und Weise zu schaden. Erst nach vielen An‑ läufen brachte diese Fragestellung das Emotionswort maimay (wörtlich: ein biss‑

25 | Die Ernsthaftigkeit dieser Bedrohung wurde auch dadurch deutlich, dass es meine Schutzbefohlenen für notwendig erachteten, mich in der Nacht oder auf Reisen stets mit einem Gewehr oder zumindest einem Speer zu beschützen. Die Tatsache, dass mir nichts zugestoßen ist und nicht einmal etwas gestohlen wurde, erschien meinen Gesprächspartnern immer wieder erstaunlich. Sie führten folgende Erklärungen an: Außenstehende hielten mein Kamerastativ für eine besonders effektive Waffe, ähnlich derer, die in den erwähnten Actionfilmen zu sehen waren. Eine Ethnologin, die etwa 50 km weiter südlich geforscht haben soll, sei vor einigen Jahren zu Tode gekommen, und die Täter säßen bis heute im Gefängnis. Überdies seien einige Jugendliche, die im Norden am Mangogy-Fluss das Lager einer Gruppe von vazaha geplündert hätten, dabei mit versteckten Kameras gefilmt und daraufhin überführt worden. 26 | Mit Emotionen vergleichbare Prozesse wurden in der Untersuchungsregion im Bauch (troky) oder Herzen (fo) lokalisiert.

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chen heiß)27 zum Vorschein, das darauf hin von jeder befragten Person problemlos durch ein präzises Beispiel illustriert werden konnte:28 Was macht dich oder einen anderen Menschen maimay? Kannst du ein Beispiel erzählen? Ein anderer hat mehr Rinder als ich, und so werde ich maimay. Ich frage mich, warum dieser viel mehr Rinder hat als ich, obwohl er derselben Generation angehört. Dann suche ich mir einen Freund und zusammen klauen wir alle seine Rinder. Danach bin ich fröhlich (falifaly). (Rihira, m 20) Beispielsweise gibt es jemanden, der viel reicher ist als ich. Wenn ich ihn sehe, macht mich das maimay und deshalb versammle ich einige Männer, um diesen Reichen zu töten. Vielleicht versuche ich auch, ihm durch einen starken Zauber (aody mahery) zu schaden oder ihn bei den Gendarmen anzuklagen. So ist maimay, maimay auf den Besitz eines anderen. (Lahivao, m 30) Wenn mein Reisfeld voller Schädlinge ist, dasjenige eines anderen aber nicht, werde ich maimay. Was würdest du dann machen? Ich würde die Rinder für den Ochsenkarren losbinden, die sich in der Nähe seiner Reisfelder befinden, sodass sie den Reis dieser Person fressen und dieser dann wütend (maseky) auf den Besitzer der Ochsen wird. Ich selbst bin daraufhin froh (faly). (Miejaky, m 18) Wenn ein anderes Mädchen schöne Kleidung trägt, die ich mir selbst nicht leisten kann, bin ich maimay und werde sie bei Gelegenheit verprügeln. Da ich sonst nichts dagegen machen kann, bin ich einfach nur verärgert (sosotsy). (Pelatay, w 11) Als ich noch nicht verheiratet war und noch mit Männern ›umzugehen‹ lernte (mianatsy lehilahy), bat ich meinen Vater darum, mir eine eigene Hütte zu bauen, da es mir den anderen gegenüber peinlich war (megnatsy), weiterhin im Haus meines Vaters zu schlafen. Die anderen Mädchen warfen mir daraufhin vor, prahlerisch (mibohaboha) zu sein, und damit wusste ich, dass diese bloß maimay waren. Ich war wirklich stolz (mirehareha) auf die Hütte, da die anderen Mädchen noch keine eigene hatten. (Nay, w 18)

Neid-Emotionen scheinen kulturell weit verbreitet zu sein (vgl. Foster 1972), weshalb das bloße Vorhandensein dieser Emotionen freilich noch nicht für eine besonders ausgeprägte egalitäre Haltung gegenüber Gleichrangigen in der Forschungsregion spricht. Bemerkenswert ist jedoch, dass maimay, sofern es auf Personen außer‑ 27 | Maimay ist die Reduplikation des Wortes may (heiß). Im Malagasy drückt die Reduplikation von Adjektiven oder Verben eine Abschwächung des Bezeichneten aus. 28 | Eine Darstellung der Interviewmethode zur Erhebung der mit den lokalen Emotionswörtern verknüpften Bedeutungen und Erfahrungen findet sich im 4. Kapitel. In den nachfolgend repräsentierten Übersetzungen von Emotionsnarrativen behalte ich das jeweils erfragte Emotionswort im Original bei. Sofern meine Gesprächspartner weitere Emotionswörter benutzten, werden diese in Klammern hinter der deutschen Übersetzung angeführt. Bei den Angaben zum Alter der Gesprächspartner handelt es sich stets um Schätzwerte, die ich mit ihnen zusammen ermittelte.

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halb des eigenen tariky gerichtet ist, offenbar keiner strengen moralischen Ver‑ urteilung unterliegt.29 Die moralisch neutrale Einstellung zu maimay machte sich etwa dadurch bemerkbar, dass fast alle Befragten spontan ein persönliches Beispiel erzählten, obwohl ich meinen Gesprächspartnern stets die Wahl ließ, ob sie die Emotionsepisode auf sich oder auf eine andere Person beziehen wollten. Dass maimay in hohem Maße handlungsrelevant war, wurde während der Feldforschung nicht nur durch zahlreiche Vorfälle von Sabotage oder Viehdiebstahl deutlich, die auf maimay zurückgeführt wurden, sondern auch durch meine Schwierigkeiten, dieses Emotionskonzept ausfindig zu machen: Meinen Gesprächspartnern schien die ausgleichende Aktion gegenüber einem bevorteilten Gleichrangigen offenbar derart selbstverständlich, dass sie die Emotion nicht in den Vordergrund stellten. Neben maimay veranschaulicht noch eine ganze Reihe anderer Emotionen bzw. emotionaler Ausdrucksweisen die Tendenz vonseiten Benachteiligter, direkt gegen Bevorteilte vorzugehen. Die Einschätzung, dass das Gegenüber mirehareha (≈ stolz), sevotsy (≈ überheblich) oder matsamatsa (≈ demonstrativ fröhlich) sei, sich mibohaboha, mitregna oder mirengirengy (≈ angeberisch bzw. prahlerisch) verhalte, wurde besonders häufig als Anlass für ausgleichende Aktionen und entsprechende Emotionen beschrieben: Lolom-po (≈ tiefsitzender Groll) führt meist zu Viehdiebstahl. Der Grund für lolom-po besteht darin, dass man es nicht mag, wenn einer reich, überheblich (sevotsy) oder ›demonstrativ fröhlich‹ (matsamatsa) ist. (Resa, m 19) Wenn der Sohn eines Reichen gerne seinen Besitz zeigt oder besonders schöne Kleidung trägt, verhält er sich mibohaboha. Man schätzt ihn nicht. Jemand schlägt dann vielleicht vor, ihm alle Rinder zu stehlen, um zu sehen, ob er sich danach immer noch mibohaboha verhalten wird. (Tsara, w 35) Ein Sohn eines Reichen ist sevotsy (≈ überheblich) und spricht gerne von seinen vielen Rindern. Andere planen daraufhin, seine Rinder zu stehlen. (Rapaly, w 50) Ein Bekannter erzählt, er habe eine Freundin, die nur mit ihm verkehrt und sich auf keinen anderen Mann einlässt. Ich sage also zu mir: »Das werden wir ja noch sehen.« Ich umwerbe also die Freundin meines Bekannten und schließlich verbringe ich eine Nacht mit ihr. Am nächsten Tag erzähle ich meinem Bekannten davon und bin mirehareha (≈ stolz). Daraufhin wird dieser wütend (maseky), entwickelt einen ›tiefsitzenden Groll‹ (lolom-po) mir gegenüber und plant Vergeltung. (Fresa, m 18)

Diese Beispiele zeigen, dass die Erzähler besonders eine ostentative Erfolgsdarstel‑ lung mittels Ausdrucksformen, die zugleich eine überhebliche Selbsteinschätzung signalisieren, als Aufforderung ansehen, ausgleichende Maßnahmen zu ergreifen. Dem ›Kind eines Reichen‹ (anaky pagnarivo), das in den Emotionsnarrativen zu maimay und Emotionen wie lolom-po, kinia oder magnapoko (≈ verschiedene For‑ 29 | In der christlichen Tradition hingegen zählt Neid zu den sieben Todsünden. Auch in deutschen medialen Diskursen kann die Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit durch die Feststellung disqualifiziert werden, dass sie durch Neid motiviert sei, dass es sich lediglich um eine »Neiddebatte« handle.

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men des Grolls) wiederholt als Beispiel auftaucht, unterstellen die Erzähler eine ausgeprägte Neigung zur Überheblichkeit. Die überhebliche Selbstdarstellung eines erfolgreichen oder wohlhabenden Akteurs war für die Gesprächspartner also nicht nur inakzeptabel, auch diente sie als Rechtfertigungsgrund, gegen diesen nötigenfalls gewaltsam vorzugehen. Bemerkenswert ist indes, dass die egalitäre Haltung und die entsprechenden egalisierenden Aktivitäten in erster Linie von Akteuren ausgehen, die sich durch die Überheblichkeit eines Gleichgesetzten herabgesetzt fühlen. Denn, wie die Nar‑ rative zu stolzem oder prahlerischem Verhalten und zahlreiche Beobachtungen na‑ helegen, streben Personen durchaus danach, sich selbst von der Gruppe der Gleich‑ altrigen durch besondere Leistungen oder Besitz abzuheben: Jemand, der mirehareha ist, spricht gerne über seine vielen Rinder, seine großartigen Taten, seine Stärke. Zum Beispiel sagt einer, wenn er betrunken ist: »Ich bin der größte Rinderdieb und niemand kann mir etwas anhaben.« (Maragnitsy, m 30) Wenn mir ein Durchreisender viel Geld für eine Liebesnacht gibt, bin ich mirehareha und erzähle es den anderen Mädchen. Wenn ein Mädchen 30.000 oder 20.000 Ariary bekommt, ist sie sehr mirehareha. Ich habe selbst einmal 37.000 von M. in Soafary bekommen. (Katsavo, w 18)30

Angemerkt sei, dass die Verbindung aus dem Streben nach eigenem Prestige und der Tendenz, gegen Bevorteilte aktiv vorzugehen, ein ausgeprägtes Rivalitäts‑ und Konkurrenzverhalten mit sich bringt, da sich die Bestrebungen hierbei nicht allein auf den eigenen Erfolg, sondern zugleich auf den Misserfolg der arahamba richten. Die in zahlreichen erzählten Emotionsepisoden anklingende Tendenz, das Missfallen an der Überlegenheit oder am Erfolg ›Gleicher‹ in egalisierende Ak‑ tionen umzusetzen, wurde durch eine Reihe von Institutionen und Praktiken unterstützt. Zahlreiche Vorkommnisse während der Feldforschung zeugten von der vollkommen legitimen Praxis, sich gegenseitig den Liebes‑ oder Ehepartner zu ›stehlen‹. Wer dabei nicht erfolgreich ist, kann auf verschiedene Formen von Schadenszauber (voriky) zurückgreifen, die den Kontrahenten oder die Rivalin un‑ attraktiv machen oder den Geschlechtsakt unterbinden sollen. Die Institution des Viehdiebstahls bietet speziell Männern einen legitimen sozialen Rahmen, um etwa gegen den arroganten Sohn eines Reichen vorzugehen, sobald dieser eine große Viehherde von seinem Vater geerbt hat. Dabei besteht die Wahl, entweder selbst als Rinderdieb tätig zu werden oder aber als Informant (pagnolotsy) auswärtige Vieh‑ diebe (oder Gendarmen) heranzuziehen. Auch im Rahmen der Rivalität um Rinder kann die Institution des Schadenszaubers als egalisierendes Moment fungieren, da sie zumindest aus einer emischen Perspektive physisch Schwächeren ein kompen‑ sierendes Machtmittel an die Hand gibt.31 Es ist darauf aufmerksam zu machen, 30 | Wie weiter unten im Abschnitt zu den Liebesbeziehungen deutlich wird, ist die materielle ›Vergütung‹ für eine ›Liebesnacht‹ im lokalen Kontext üblich. 31 | Unabhängig von der direkten Wirksamkeit des Schadenszaubers ist von einer indirekten, psycho-sozialen Wirkung auszugehen. Denn allein ein fester Glaube an dieses Machtmittel dürfte dazu führen, dass der physisch Stärkeren mit der Möglichkeit einer Vergeltungsaktion durch den Schwächeren rechnet und entsprechend vorsichtig vorgeht.

3. Beziehungsmuster und -dynamiken

dass derartige Aktionen und Praktiken mit schädigender Absicht nur im Rahmen spezifischer sozialer Relationen legitim werden – nämlich zwischen arahamba und allenfalls entfernt verwandten Personen, die nicht über einen gemeinsamen mo‑ ralischen Code und hierarchische Machtstrukturen verbunden sind. Dies zeigen auch die Narrative zu Emotionen wie maimay (≈ Neid) oder lolom-po (≈ tiefsitzender Groll), da der Adressat dieser Episoden nie demselben tariky angehört.32 Es liegt auf der Hand, dass solche intersegmentären Emotions‑ und Aktivitäts‑ muster keine materielle Gleichheit herstellen, da sie auch ein Streben nach indivi‑ duellem Prestige einschließen. Die Geschichte von Ranomadio in der Darstellung meiner Gesprächspartner weist jedoch darauf hin, dass es in der Vergangenheit immer wieder zu einer sozialen Umverteilung des Reichtums gekommen ist. Der Titel des Dorfreichsten war in den letzten Jahrzehnten wiederholt von einer Per‑ son zur anderen gewandert. Zu Beginn meiner Feldforschung wurde uns fast je‑ der ältere Mann als aktueller oder ehemaliger pagnarivo (Reicher) vorgestellt. Den Wohlstandsverlust führten die Gesprächspartner meist auf eine Serie von erlitte‑ nen Viehdiebstählen oder Komplikationen mit den Gendarmen zurück. Während meiner Feldforschung wurden tatsächlich über 80 Rinder von Rivomana, dem aktuellen Dorfreichsten, entwendet. Zudem war die Praxis zu beobachten, reiche Nachbarn bei der Gendarmerie von Iloto anzuklagen, womit pagnarivo bevorzug‑ te Zielpersonen von Gendarmen waren und von diesen festgesetzt wurden. Dies machte die Zahlung beträchtlicher Lösegelder erforderlich. Auch ließen sich pagnarivo aus der Region immer wieder auf äußerst verlustreiche Gerichtsverhandlun‑ gen ein. So berichtete etwa Iavitsara von zwei Männern, die sich zum Zeitpunkt der zweiten Feldforschung seit vielen Monaten vor dem Gericht von Ihosy stritten, wobei der etwas Ärmere bereits rund 1.000 und der Reichere 1.500 Rinder als ›Ge‑ richtsgebühren‹ aufgewendet hatte. Das egalitäre Ethos führte also zwar nicht zu einem materiellen Gleichgewicht zu einem gegebenen Zeitpunkt, immerhin aber zur fortwährenden Umverteilung des Viehbestandes über die Generationsfolge hinweg, da ein Reicher mit besonders hartnäckigen egalisierenden Aktionen seiner arahamba rechnen musste. Unabhängig davon, wie sich diese Umverteilungsprozesse in Ranomadio tat‑ sächlich abgespielt haben mögen, erlaubt das Konzept der Unbeständigkeit des Viehbesitzes den Bewohnern, aktuelle soziale Differenzen als akzidentell zu be‑ greifen. Zum einen lässt sich dank der Institution des Viehdiebstahls einem pagnarivo vorwerfen, sein übermäßiger Erfolg gehe in erster Linie auf diebische Aktivi‑ täten zurück und könne zudem nicht von langer Dauer sein. Zum anderen ließ sich auch der eigene Misserfolg, wie die Narrative der ehemaligen pagnarivo zeigen, auf Viehdiebstahl zurückführen. Die alltägliche Selbstdarstellung und das Konsum‑ verhalten waren zudem in hohem Maße durch eine tatsächliche Gleichheit geprägt, was die Performanz eines egalitären Ethos in der Öffentlichkeit ermöglichte. We‑ der seinem Kleidungsstil, seinem Haus oder seiner Einrichtung noch seiner Er‑ nährungsweise war zu entnehmen, ob ein Mann 600 oder lediglich 60 Rinder be‑ saß. Die Häuser des reichsten tariky von Ranomadio befanden sich sogar in einem vergleichsweise vernachlässigten Zustand. Ein Mann, der über 400 Rinder besaß,

32 | Damit kann freilich nicht ausgeschlossen werden, dass Personen diese Emotionen auch gegenüber Verwandten hegten.

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trug stets einen alten Hut, dessen Deckel bereits herausgefallen war.33 Dieser Be‑ scheidenheitsgestus steht wohlgemerkt in einem Entsprechungsverhältnis zu den beschriebenen Empfindlichkeiten gegenüber prahlerischem Verhalten. Es stellt sich noch die Frage, welche Rolle das egalitäre Ethos in Beziehungen zwischen longo bzw. nama (≈ Freunden) spielt, da diese sozialen Relationen durch Normen reguliert werden, die ein direktes schädigendes Vorgehen gegen Besser‑ gestellte problematisch werden lassen. Wie einige Emotionsepisoden nahelegen, pflegten Erfolgreiche ihren Besitz mit ihren longo zu teilen, was zugleich eine legi‑ time Gelegenheit für den Ausdruck von rehareha (≈ Stolz) bot: Wenn ich eine gute Reisernte hatte und diese gegen einen Kasten Bier eingetauscht habe, um mit meinen Freunden zu trinken, bin ich mirehareha und sage zu ihnen: »Das habe ich mit meiner Arbeit verdient, ich bin ein richtiger Mann.« Dies geschah letztes Jahr. (Langa, m 22)

Auch kann ein longo relativ direkt Unterstützung von einem anderen longo einfor‑ dern. Erzählte Emotionsepisoden zu hegnatsy (≈ Scham/Peinlichkeitsgefühl) zeu‑ gen von einer gewissen Verpflichtung, derartigen Forderungen nachzukommen: Ich besitze etwas Besonderes, das mir sehr viel wert ist, z.B. eine neue Axt. Ein Freund/Verwandter (nama) bittet mich darum und aufgrund von hegnatsy gebe ich sie ihm schließlich. (Manatsoa, m 25) Ein guter Freund von mir bittet meine Frau um etwas, während ich abwesend bin. Sie gibt es ihm aber nicht, und deshalb empfinde ich gegenüber meinem Freund hegnatsy. (Miejaky, m 18) Einer deiner Freunde nimmt ohne zu fragen etwas von dir in die Hand, z.B. deine Kamera. Du bist eigentlich nicht damit einverstanden, doch aufgrund von hegnatsy sagst du nichts. (Rejefaky, m 45)

Entsprechende Erfahrungen gehörten auch zum Forschungsalltag. So sahen sich unsere besonders engen Freunde etwa dazu berechtigt, meine Taschenlampen zu verwenden und diese nach einer Weile bei sich zu behalten, sodass mein Vorrat schon bald aufgebraucht war. Eine zentrale Form der materiell ausgleichenden Praktiken stellt die Verteilung von Rindfleisch in der Folge von Opferhandlungen dar. Insbesondere im Rahmen bedeutender Veranstaltungen, wie etwa dem Bestat‑ tungsritual eines lonaky, wurde eine beträchtliche Anzahl an Rindern geschlachtet und deren Fleisch nicht nur an die Mitglieder des tariky, sondern an alle präsenten longo verteilt. Eine Weigerung, den Verteilungserwartungen der longo nachzukom‑ men, konnte eine Abkühlung oder gar einen Bruch bestehender Beziehungen zur Folge haben und die longo letztlich in arahamba transformieren.

33 | Bemerkenswert ist, dass sich junge, unverheiratete Frauen, die sich untereinander eigentlich viel weniger im Wohlstand unterschieden, noch eher ihren Besitz zur Schau stellten. Dies betraf nicht allein ihre Kleidung, sondern auch ihre Häuser und deren Einrichtung oder Gegenstände wie Radios, womit sie meist deutlich besser ausgestattet waren als ihre männlichen Altersgenossen.

3. Beziehungsmuster und -dynamiken

Während sich das egalitäre Ethos in arahamba-Relationen also in gewaltsamen Ausgleichshandlungen niederschlägt, manifestiert es sich in longo‑ bzw. nama-Be‑ ziehungen durch eine gewisse Verteilungspflicht bzw. ein Forderungsrecht, deren Missachtung zu einer Transformation von freund- in feindschaftliche Beziehun‑ gen münden kann. In den folgenden Abschnitten werde ich drei egalitäre Bezie‑ hungsformen, nämlich feindschaftliche, freundschaftliche und Liebesbeziehun‑ gen weiter vertiefen.

Feindschaftsbeziehungen (arahamba) Das egalitäre Ethos gegenüber arahamba und den sich daraus ergebenden Dyna‑ miken der Rivalität und Konkurrenz prägt offenbar auch feindschaftliche Bezie‑ hungen. In Gesprächen zum Begriff arahamba, der, wie erwähnt, zugleich ›Nicht‑ verwandter‹ und ›Feind‹ bedeuten kann, wurde immer wieder betont, dass jeder Mensch, ob Frau, Mann oder Kind, seine persönlichen arahamba im Sinne von Feinden habe. Emotionsnarrative, die diese feindseligen Relationen thematisieren, sowie zahlreiche beobachtete Episoden während der Feldforschung legen nahe, dass piarahamba (miteinander Befeindete) nicht etwa fernab voneinander, sondern vielmehr meist im selben Dorf oder in benachbarten Dörfern leben. Piarahamba können ihre feindseligen Beziehungen also im Alltag ›kultivieren‹. Es ist zu beto‑ nen, dass die Interaktionen zwischen arahamba keineswegs nur als Quelle von Leid und Übel zu betrachten sind, sondern durchaus auch Möglichkeiten bieten, zen‑ trale Werte wie individuelle Kraft (tanjaky, hery), Mut (herim-po, wörtlich: starkes Herz) oder das egalitäre Ethos zum Ausdruck zu bringen. Die Episoden zu einer Reihe von Wutemotionen, die meine Gesprächspartner besonders gerne und detailreich erzählten, gewähren Einblick in das Erleben und die Dynamiken dieser Feindschaftsbeziehungen. Die Emotion, die am stärksten mit akuten Gewaltakten assoziiert wurde, lautet may fo bzw. mafana fo und lässt sich wörtlich mit ›heißes Herz‹ und sinngemäß mit ›wutentbrannt‹ übersetzen: Wenn eine andere Frau mit mir kämpfen möchte, werde ich sehr wütend (maseky be). Ich nehme dann einen Stock und schlage damit so fest ich kann auf ihren Kopf, weil mein Herz heiß ist (may gny foko). Das nennt man mafana fo. (Rapaly, w 50) Eine Frau aus dem Süden des Dorfes schickte ihren Sohn zu Fagnomena, um bei ihm Fische zu erstehen. Dort traf er jedoch eine Frau an, die ihm sagte, bei ihr gäbe es keine Fische, sondern lediglich ihre Vagina zu kaufen. Dies erzählte der Junge seiner Mutter, woraufhin diese may fo (≈ wutentbrannt) wurde, einen Stock nahm und zu der Frau ging, um sie zu schlagen. Es kam allerdings nicht zu einem Kampf, weil ihn Leute verhinderten. (Velosoa, w 30) Beispielsweise besitzt ein Mann etwas Besonderes, das ihm sehr wichtig ist. Er weiß auch, dass ein Freund diese Sache begehrt. Als eines Tages sowohl die Sache als auch der Freund verschwunden ist, wird er may fo, sucht seinen Freund überall, und wenn er ihn findet, tötet er ihn. (Traka, w 28). 34

34 | In diesem Beispiel deutet sich offenbar eine Transformation einer freundschaftlichen Beziehung in eine feindschaftliche an.

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Den in der Forschungsregion herrschenden Geschlechtsstereotypen gemäß traten derartige Handgreiflichkeiten häufiger zwischen befeindeten Frauen als zwischen Männern auf. Auch die entsprechenden Vorfälle während meiner Feldforschung fanden meist zwischen Frauen statt. Ein typischer Kontext für die gewalttätige Konfliktaustragung zwischen Frauen war das alltägliche Wasserholen am Fluss, wohingegen für Männer mit Alkoholgenuss verbundene Feierlichkeiten wieder‑ kehrende Gelegenheiten hierfür boten. Wie eine Antwort von Traka auf meine Frage nach allgemeinen Geschlechtsunterschieden deutlich machte, galten die Auseinandersetzungen zwischen Männern als ernster: »Männer sind stärker (mahery) als Frauen, sie wollen den anderen gleich töten, wenn es einen Streit gibt. Die Frauen beschimpfen oder prügeln sich stattdessen nur.« Eine unmittelbar miterlebte Episode verdeutlicht die Intensität solcher Hand‑ greiflichkeiten zwischen Männern: Bei einem Trinkgelage fragte Fresa, ein junger Mann, in die Runde, wer es wagen würde, ihm zu sagen: hany tainao (»friss deinen Kot«). Justin, der ohnehin als Intimfeind von Fresa bekannt war, wagte dies tat‑ sächlich, und darauf griff Fresa nach einem Knüppel mit der klar zum Ausdruck gebrachten Absicht, seinen Beleidiger zu erschlagen. Seine Freunde Lida und Mo‑ ray hielten ihn jedoch zurück, nahmen ihn in seine Mitte und führten ihn davon. Während Fresa auf sein Recht pochte, Vergeltung (valy, wörtlich: Antwort) zu üben, wurde er von seinen Freunden über viele Stunden an beiden Armen festgehalten. Dabei bewegten sie sich im öffentlichen Raum des Dorfes, was Fresa wohl auch die Gelegenheit bot, seine Vergeltungsbereitschaft zum Ausdruck zu bringen. Der provokante Ausdruck hany tainao – in einer anderen Variante hany amany (wörtlich: trink Urin) – verkehrt die oben beschriebene Körpersymbolik für hie‑ rarchische Beziehungen, der zufolge der Kopf und die Ausscheidungsorgane auf Distanz gehalten werden müssen, in ihr Gegenteil. Auch andere zu beobachtende oder mir beschriebene Provokationsgesten basierten auf dieser Symbolik. Männer provozierten sich etwa durch einen leichten Klaps auf den Kopf im Rahmen einer hitzigen Diskussion, und Frauen stiegen beim Wasserholen oder Waschen ober‑ halb einer arahamba in den Fluss, um deren Wasser symbolisch zu verunreinigen. Die vor allem von Frauen praktizierte Geste namens kobelaky bestand darin, einer arahamba in einer speziellen Weise die Zunge und darauf das Gesäß zu präsentie‑ ren, was als Aufforderung verstanden werden konnte, in eine körperliche Ausein‑ andersetzung überzugehen. Solche Provokationen, die ein »heißes Herz« und in der Folge Gewalthandlun‑ gen verursachen können, ereigneten sich normalerweise zwischen arahamba, die bereits auf eine gemeinsame Geschichte von Konflikten zurückblicken konnten. Wie zahlreiche Emotions-narrative nahelegen, waren diese temporären Gewaltaus‑ brüche in spezifische Sentiments wie lolom-po, kakay, magnapoko oder kinia ein‑ gebunden, die sich als Vergeltungsemotionen bezeichnen lassen. Einige Episoden und Erläuterungen deuten darauf hin, dass die Unterbindung eines Gewaltaktes durch Anwesende zur Umwandlung von may fo in lolom-po (wörtlich: im Herzen begraben), magnapoko (wörtlich: ins Herz legen), kakay oder kinia führen kann: Kakay entsteht, wenn sich zwei streiten, aber von Verwandten oder Freunden abgehalten werden, einander zu schlagen. Sie sagen sich dann: »Wir werden uns eines Tages wieder sehen, nur wir beide.« Das nennt man kakay. (Tirimana, m 23)

3. Beziehungsmuster und -dynamiken Im Laufe eines Streites wurde ich heftig von Dada geschlagen und konnte nicht zurückschlagen, da Lida mich festhielt. Daraufhin wurde ich magnapoko und nahm mir vor, Dada eines Tages zu ›antworten‹. (Moray, m 14)

Auch die Erfahrung, bestohlen worden zu sein, stellt einen häufig angeführten Anlass für die Entwicklung dieser Sentiments dar. Bei Weitem am häufigsten be‑ ziehen sich die Emotionsnarrative auf Viehdiebstahl oder auf den ›Diebstahl‹ von Liebespartnern. Da bei diesen Anlässen der Verlust in der Regel in Abwesenheit des arahamba entdeckt wird, ist eine umgehende Vergeltungsaktion genauso un‑ möglich wie im Fall der Unterbindung durch Dritte. Zum Beispiel stiehlt (mangalatsy) Fandora häufig meine Freundin, wenn die beiden einander auf dem Markt von Iloto begegnen. So beginne ich wütend (maseky) auf ihn zu werden und sage mir: »Wenn ich seine Freundin sehe, werde ich sie ihm auch stehlen«. Eines Tages begegne ich also seiner Freundin, werbe um sie und schließlich ist sie einverstanden. Sobald Fandora davon erfährt, entwickelt er auch kinia mir gegenüber. Wir sind also gegenseitig kinia und sagen zueinander: »Wenn ich dich alleine an einer ruhigen Stelle antreffe, wirst du sehen, wozu ich imstande bin.« Das nennt man kinia. (Miejaky, m 18) Beispielsweise war ich einst reich, doch jemand hat all meine Rinder gestohlen. Sobald ich herausgefunden habe, wer der Dieb ist, entsteht lolom-po und ich hecke einen Plan aus, wie ich ihn töten könnte. Gelingt es mir nicht, töte ich ein Familienmitglied des Diebes. (Tanja, m 25)

Die aus diesen Vergeltungsemotionen resultierende Intention, sich bei dem Ad‑ ressaten zu revanchieren bzw. die infrage gestellte Gleichrangigkeit wiederherzu‑ stellen, sobald sich eine gute Gelegenheit dafür bietet, kann letztlich wieder zu einer mit akuter Wut verbundenen, gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen den arahamba führen: Zum Beispiel hat mich Safy angegriffen, als wir uns am Fluss getroffen haben und holte so hervor, was in ihrem Herzen begraben war. Sie schlug mich heftig, und dann rangen wir. Ich warf sie auf den Boden und setzte mich auf sie, holte ebenfalls meinen Groll hervor und schlug sie genauso heftig. Ich schlug sie auf die Augen und auf den Mund. Das ist lolom-po. (Merasoa, w 25). Jemand hat z.B. mit der Freundin von Soandro geschlafen, obwohl er wusste, dass sie seine Freundin ist. Daraufhin ist Soandro magnapoko und plant nun seinerseits, mit der Freundin des Rivalen zu schlafen. Oder er veranstaltet ein Saufgelage, um sich dann mit dieser Person zu prügeln. (Safy, w 35) Während eines bilo (Besessenheitsritual) vereinbart jemand für 5.000 Ariary eine Liebesnacht mit einer Frau. Doch ich biete ihr das Doppelte, und so weist sie den ersten Bewerber zurück. Dieser ist nun lolom-po, betrinkt sich und prügelt sich dann mit mir. Nun bin auch ich lolom-po. Bei einem weiteren Fest betrinke ich mich ebenfalls und töte ihn schließlich. Warum muss man sich betrinken? Es ist schwer, ohne Alkohol wieder richtig wütend (maseky be) zu werden. (Tanja, m 25)

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Bemerkenswert ist allerdings ein gewisses Missverhältnis zwischen den von mei‑ nen Gesprächspartnern im Rahmen der Emotionsnarrative erzählten Tötungsab‑ sichten und tatsächlichen Gewaltakten. Die meisten zu lolom-po befragten Männer schilderten spontan eine Situation, in der sie diesen tiefsitzenden Groll erlebten und versicherten, dass sie dabei eine Tötungsabsicht hegten. In Ranomadio mit seinen rund 350 Einwohnern sind in den letzten Jahrzehnten drei Männer gewalt‑ sam zu Tode gekommen, und einige sollen an Tötungen beteiligt gewesen sein. Diese Vorfälle ereigneten sich im Zusammenhang mit Viehdiebstahl oder der Ver‑ folgung von Viehdieben, das primäre Ziel war also weniger die Tötung als viel‑ mehr, die Viehdiebe auf diese Weise aufzuhalten bzw. die Verfolger abzuschütteln. Während der zweiten Feldforschung, als wir uns im Verwaltungszentrum Iloto aufhielten, wurde zudem ein Mann im Schutz der Dunkelheit angeschossen. Zwar konnte der Täter nicht zweifelsfrei identifiziert werden, doch besagten die Gerüch‑ te, dass es sich um einen Mann handle, der Vergeltung dafür übte, dass sein Opfer immer wieder von einer gewissen Frau bevorzugt worden war.35 Dass derartige Gewaltakte trotzdem seltener vorkamen als es die entsprechen‑ den Emotionsnarrative zu lolom-po vermuten lassen, wird mit Blick auf die bereits erwähnten Praktiken des voriky (≈ Schadenszauber) verständlich. Von meinen Ge‑ sprächspartnern geschilderte voriky- und Emotionsepisoden machen deutlich, dass voriky vor allem mit den Emotionen lolom-po und maimay verknüpft ist. Aus emo‑ tionstheoretischer Perspektive kann voriky als eine Form der Emotionsregulation verstanden werden. Die Ausführung eines Schadenszaubers (mamoriky) erlaubt es, den Wunsch nach Vergeltung ohne direkte Auseinandersetzung mit dem arahamba zu befriedigen und damit das veranlassende Sentiment zu bewältigen. Während in emischer Perspektive damit die Vergeltungsabsicht realisiert ist, bleibt von einem etischen Standpunkt aus betrachtet die intendierte Wirkung, also in der Regel die Tö‑ tung, aus.36 Auch eine direkte emotionale Auswirkung des Zaubers auf den Adressa‑ ten ist unwahrscheinlich, da voriky dem Adressaten gegenüber geheim gehalten wird. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass die Praxis des voriky die Relationen zwischen arahamba indirekt prägt. In den Interviews und alltäglichen Narrativen wurde voriky meist anderen Personen unterstellt, so etwa in Emotionsepisoden zu miahiahy bzw. marikariky (verdächtigen/misstrauen/besorgt sein): Jemand, mit dem ich einst einen Streit hatte, bietet mir etwas zu trinken oder zu essen an, beispielsweise ein Reisbrötchen (mofo gasy). Ich bin miahiahy, weil es mit einem Zaubermittel (voriky) behandelt sein könnte. Aus Verlegenheit (hegnatsy) nehme ich es trotzdem an, werfe es aber später weg. (Resa, m 19) 35 | Der Aussage von Iavitsara zufolge sind in Iloto, wo sich an Marktagen viele Menschen der umliegenden Dörfer versammeln, im Zeitraum von 2012 bis 2014 fünf Männer von ihren arahamba erschossen worden. Im September 2014 kam zudem Soavy, ein junger Mann aus Ranomadio, auf diese Weise zu Tode. 36 | Dies wirft die Frage auf, ob die ausbleibende Wirkung dem Ausführenden nicht auffallen und er damit letztlich doch zu anderen Mitteln greifen müsse. Dem steht die Konzeption entgegen, dass die Wirkung des Zaubers auch verzögert einsetzen kann, womit eine früher oder später einsetzende Krankheit als Auswirkung des Zaubers gedeutet werden kann. Zudem kann auch die Verwendung eines Abwehr‑ oder Gegenzaubers (aody) als Grund für das Ausbleiben einer Wirkung in Erwägung gezogen werden.

3. Beziehungsmuster und -dynamiken Wenn dich eine Person, mit der du einmal einen Streit hattest, am Samstag, Montag und Donnerstag besucht, bist du marikariky dieser Person gegenüber, weil sie vielleicht einen Schadenszauber beabsichtigt. (Donne, m 25) 37 Ich habe einen Streit mit Traka. Allerdings beenden wir diesen schnell wieder, da wir miteinander verwandt sind und man mit Verwandten nicht streiten darf. Wenn ich nun mit Traka gemeinsam esse, bin ich miahiahy, weil sie Zaubermittel ins Essen gemischt haben könnte. (Rapesa, w 19)

Die hier zum Ausdruck gebrachte Vorsicht gegenüber Konfliktpartnern, die mittels voriky Vergeltung üben könnten, dürfte auch bei der Erwägung eine Rolle spie‑ len, anderen Personen überhaupt einen Schaden zuzufügen oder diese auch nur zu verärgern, da sie selbst bei physischer Unterlegenheit oder räumlicher Distanz zum Mittel des Schadenszaubers greifen könnten. Die während der Feldforschung immer wieder zum Ausdruck gebrachte Furcht (tahotsy) davor, selbst Fremde zu verärgern, die mir anfangs übertrieben und unbegründet vorkam, erklärte sich schließlich durch die in den Augen der Bara bestehende Gefahr von voriky. Die generelle Vorsicht gegenüber Fremden spiegelt sich auch in einer Redewendung wider, die angebracht ist, wenn jemand auf eine unvertraute Person mit einem An‑ liegen zugeht. Nach der Begrüßung versichert jener dem Gesprächspartner, dass es nichts zu befürchten gebe (tsy misy raha atahora) und bittet ihn um Vertrau‑ en (atokisako).38 Einen gewissen Schutz vor der Gefahr durch voriky versprachen sich vor allem junge Männer, die besonders heftig mit ihren Altersgenossen kon‑ kurrierten, von Abwehrzaubern bzw. Amuletten (aody), die sie in großer Zahl am Oberkörper trugen. Wie sich im Rahmen von Kompensationsverhandlungen infol‑ ge eines aufgedeckten Viehdiebstahls, an dem zwei junge Männer aus Ranomadio beteiligt gewesen waren, herausstellte, war das – durch die Möglichkeit von voriky verschärfte – Bedrohungsszenario einer Vergeltung Anlass genug, sich auf solche Verhandlungen überhaupt einzulassen. Derartige Feindschaftsbeziehungen, die durch den Wunsch nach Vergeltung für einen erlittenen Akt des Diebstahls oder durch ausgleichende Aktionen gegen‑ über überheblichen arahamba geprägt waren, legen einen Vergleich mit den in vie‑ len Weltregionen verbreiteten Werte‑ und Normsystemen der Ehre (vgl. Casimir & Jung 2009; Nisbett 1996) und damit verbundenen Institutionen der Fehde (vgl. Boehm 1984) nahe. Zwar ließen sich die Emotionen und Interaktionen zwischen arahamba als eine Bemühung umschreiben, so etwas wie individuelle Ehre zu ver‑ teidigen. Dennoch sprechen einige Aspekte dafür, dass diese Bestrebungen nicht in einen übergreifenden, kollektiven Ehrenkodex eingebettet waren oder aus einem solchen resultierten.39 Zunächst konnte ich kein Konzept identifizieren, das dem der Ehre entspricht, und auch in den Ethnografien zu Gesellschaft und Kultur der Bara wird ein solches 37 | Durch die Wahl spezieller Wochentage, die eigentlich für den Besuch eines Kranken fady (tabu) sind, kann ebenfalls Unheil über den Kranken gebracht werden. 38 | Im Rahmen der Forschungspraxis war diese Redewendung folglich auch ein fester Bestandteil jeder Kontaktaufnahme mit neuen Interviewpartnern. 39 | Vgl. Moritz (2008), der argumentiert, dass sich keineswegs alle pastoralen Gesellschaften Afrikas sinnvoll als ›honor cultures‹ beschreiben lassen.

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Konzept nicht behandelt. Die beschriebenen Provokationen bezogen sich nicht auf die Gruppenzuge-hörigkeit, etwa durch eine Beleidigung der Eltern wie bei den Ful‑ be (vgl. Moritz 2008: 108), sondern ausschließlich auf das Individuum. Immerhin ergab sich das Feld potenzieller arahamba auch aus der jeweiligen Verwandtschafts‑ zugehörigkeit, und die Älteren des eigenen tariky billigten Vergeltungsakte durch‑ aus. Eine wie auch immer geartete Gruppen-ehre stand dabei allerdings kaum zur Disposition, und folglich ging vom eigenen tariky auch kein ausgeprägter sozialer Druck aus, Vergeltung zu üben. Viele der erzählten Emotionsepisoden legen sogar nahe, dass erzürnte und nach Vergeltung dürstende Personen von ihren longo zu‑ rückgehalten wurden. Dem Viehdiebstahl gingen junge Männer während meiner Feldforschung gewissermaßen auf eigene Rechnung, gemeinsam mit ihren Peers nach, und sie dienten offenbar dem Erwerb individuellen Prestiges gegenüber den Gleichaltrigen. Die Praktiken des voriky werden ohnehin von einzelnen Individuen im Verborgenen angewandt. Wie im folgenden Abschnitt noch genauer zu sehen sein wird, unterliegen auch die vor- und außerehelichen Liebesbeziehungen nicht einem Kodex der Keuschheit, was hingegen für viele ›honor cultures‹ charakteris‑ tisch zu sein scheint (vgl. Casimir & Jung 2009; Moritz 2008). Ebenso wie Viehdieb‑ stahl liegen außereheliche Liebesaffären und das gegenseitige ›Stehlen‹ der Partner gewissermaßen jenseits des Zuständigkeitsbereiches und des moralischen Kodexes der Lineage und damit im Verantwortungsbereich von Einzelpersonen. Zusammenfassend lassen sich die arahamba-Beziehungen als eine soziale Kon‑ figuration beschreiben, die es Frauen und insbesondere Männern ermöglicht, ihre individuelle Stärke, Aggressions‑ und Vergeltungsbereitschaft zu demonstrieren. Angesichts schwach ausgeprägter vertikaler Machtstrukturen in intersegmentären Beziehungen ist eine solche Performanz der Stärke von erheblicher Bedeutung für die Sicherung eigener Interessen, da sie potenziellen Angreifern die Gefahr der Vergeltung vor Augen führt. Dass dies kaum auf ein ›Recht des Stärkeren‹ hinaus‑ läuft, lässt sich u.a. auf die Praxis des Schadenszaubers zurückführen, die phy‑ sische Benachteiligung ausgleicht. Diese Formen der Beziehungsgestaltung zwi‑ schen arahamba bringen ein hohes Maß an Autonomie und Individualität mit sich, das den hierarchischen Beziehungen innerhalb der tariky scharf entgegengesetzt ist.

3. Beziehungsmuster und -dynamiken

Abbildung 6: Ein junger Mann präsentiert seine Amulette (aody) zum Schutz gegen Schadenszauber (voriky) und Gewehrkugeln.

Liebesbeziehungen (amato) Voreheliche und außereheliche Liebes‑ und Sexualbeziehungen zwischen Nichtver‑ wandten konstituieren eine weitere soziale Sphäre egalitärer Relationen, die nicht direkt dem moralischen Code und der Kontrolle der Älteren unterworfen sind. Zwar besteht ein generelles Distanzgebot für Frauen und Männer in der Öffent‑ lichkeit des Dorfes, da die erweiterten Inzesttabus nicht nur jede körperliche Nähe zwischen Verwandten unterschiedlichen Geschlechts betreffen, sondern auch den Anblick einer verwandten Person des anderen Geschlechts, die sich einem poten‑ ziellen Geschlechtspartner nähert, problematisch machen. Sofern jedoch keine Blicke Verwandter zu befürchten sind, etwa im Schutz der Dunkelheit, können sich lehilahy (Mann) und apela (Frau) unbekümmert begegnen und Liebes- bzw. Sexualbeziehungen (amato) miteinander eingehen. So versammelten sich in Ranomadio nach Einbruch der Dunkelheit regelmä‑ ßig Gruppen von unverheirateten, befreundeten Frauen in ihren eigenen Häusern, während die Jugendlichen und jungen Männer auf der Suche nach Frauen (mila apela) in kleinen Gruppen durch das Dorf spazierten (mitsangatsanga hariva), hier und dort einkehrten oder eine Frau herausbaten, um sich mit ihr unter vier Augen in einer ruhigen Ecke zu unterhalten. Dabei verhüllten sich die Männer mit ihren siky, speziellen, auch als Schlaf bedeckung fungierenden Tüchern, um ihre Identi‑ tät vor Verwandten des anderen Geschlechts oder vor den arahamba zu verbergen. Wie einige der oben präsentierten Emotionsnarrative bereits nahelegen, beruht die Anbahnung eines Liebesverhältnisses in aller Regel auf einem vom Mann an die Frau zu entrichtenden Werbungsgeschenk namens tangy, das zur Zeit der Feldfor‑

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schung in einem Geldbetrag und früher angeblich aus Rinderfett als Haarpflege‑ mittel bestand. Jeder konnte in mehreren Anläufen versuchen, eine nichtverwand‑ te Frau mit verbalen und materiellen Argumenten von sich zu überzeugen. Hatten sich auf diese Weise Paare gefunden, zogen sich diese zu später Stunde in einen leerstehenden Raum zurück. Diese Werbungspraxis, die nicht nur auf persönlicher Sympathie oder Liebe ( fitiava), sondern auch auf einer offen angebotenen materiellen Leistung des männ‑ lichen Aspiranten an die Begehrte basierte, mag vor dem Hintergrund westlicher Werte als eine Entwertung der Frau erscheinen. Die Emotionsnarrative zu rehareha (≈ Stolz) oder hegnatsy (≈ Scham) legen jedoch nahe, dass diese Praktiken in der Forschungsregion keineswegs mit einer Entwürdigung des weiblichen Parts asso‑ ziiert wurden: Man ist mirehareha, wenn man eine große Summe von einem Jungen bekommen hat. Man erzählt es den anderen Mädchen und prahlt damit. (Pelamety, w 16) Zum Beispiel verbringe ich mit einem Mann eine Nacht, doch dieser gibt mir am nächsten Morgen nicht die versprochene Summe (tangy). Wegen hegnatsy sage ich meinen Freundinnen, dass ich 5.000 Ariary erhalten hätte. Doch der Junge erzählt seinen Freunden, dass er kostenlos mit einer Frau geschlafen hat. Weil sich auch die Mädchen bei den Jungen erkundigen, wissen es am Ende alle. Damit habe ich mich meinen Freundinnen gegenüber blamiert (afa-baraky). (Katsavo, w 18) Ich verspreche einer Frau, mit der ich eine Nacht verbringen möchte, ihr den Liebespreis (tangy) am nächsten Morgen zu geben. Nach der Liebesnacht mache ich mich unter dem Vorwand, austreten zu müssen, davon. Besteht eines Tages die Möglichkeit, ihr wieder zu begegnen, gehe ich ihr wegen megna-maso (eine Form der antizipierten Verlegenheit/Scham) aus dem Weg. (Marolahy, m 16)

Anlass für hegnatsy auf der Seite der Frau ist also nicht die Bezahlung für ein Liebes‑ verhältnis, sondern vielmehr der unfreiwillige Verzicht darauf. Entsprechend hatten Männer, die wie in der letzten Erzählung das tangy zu umgehen suchten, einen schlechten Ruf bei den Frauen und wurden als »Dieb der Vagina« (pangalatsy lely) gescholten. Wie das erste und ein weiter oben zitiertes Narrativ exemplarisch zeigen, konnte ein besonders hohes tangy Frauen mit Stolz erfüllen. Indem unverheiratete (oder geschiedene) Frauen ihre auf diese Weise generierten Mittel vor allem in Klei‑ dung, Tücher, Koffer, Geschirr, Radios, ein Bett oder gar ein eigenes Haus investie‑ ren, bringen sie ihren Erfolg beim anderen Geschlecht indirekt zum Ausdruckund steigern dadurch zugleich ihre Attraktivität. Ein erläuterndes Beispiel für das Wort mijaly (≈ leiden) zeigt, dass dieser expressive Zusammenhang auch zu einer gewis‑ sen Ungleichheit zwischen unverheirateten Frauen führen kann: Man ist mijaly, wenn man als Frau kein Geld für die Liebe bekommt und deshalb bei einem bilo (Besessenheitsritual) keine neue Kleidung präsentieren kann. (Safy, w 35)

Das ›Spiel‹ mit der Liebe bzw. mit Männern (mihisa fitiava/lehilahy) nannten einige junge Frauen als Grund, weshalb sie sich den Verheiratungsabsichten ihrer Väter für einige Jahre widersetzten. In Ranomadio lebten zudem mehrere geschiedene,

3. Beziehungsmuster und -dynamiken

als attraktiv angesehene Frauen mittleren Alters (apela tovo), die das ungebundene Leben vorerst einer weiteren Ehe vorzogen. Auch die Möglichkeit einer Schwanger‑ schaft fungierte nicht als gesellschaftliches Druckmittel zur Keuschheit, da unehe‑ liche, ›vaterlose‹ Kinder (tsy mana baba) in den tariky der Mutter integriert wurden und eine voreheliche Schwangerschaft keineswegs Nachteile für eine spätere Ehe‑ schließung hatte. Im Unterschied zu den ehelichen Beziehungen sind die vorehelichen Verhält‑ nisse kaum durch eine Norm der zwischengeschlechtlichen Treue geprägt: Solange man nicht verheiratet ist, ist es nicht Brauch (tsy fomba), dass man einander treu ist/vertraut (toky). Geht der Liebhaber einmal länger weg, sagt er ihr z.B.: »Du kannst ruhig mit anderen verkehren, tu es aber verborgen. Ich will nicht wissen, wer mit dir während meiner Abwesenheit geschlafen hat. (Traka, w 28)

Mamarahy (≈ zwischengeschlechtliche Eifersucht) als Reaktion auf Untreue wurde in entsprechenden Emotionsnarrative denn auch vornehmlich in Ehebeziehungen verortet. Die Verantwortung für den Partnerwechsel in vorehelichen Liebesbe‑ ziehungen schrieben sowohl Frauen als auch Männer in der Regel dem gleichge‑ schlechtlichen Rivalen zu: Ich hatte schon zwei Nächte bei einer Frau geschlafen, und wir hatten uns schon für die dritte Nacht bei ihr verabredet. Doch während ich etwas mit meinen Freunden trank, kam ein anderer Mann in ihr Haus und überredete sie, bei ihm zu schlafen, indem er ihr ein doppelt so hohes tangy von 10.000 Ariary bot. Nachdem ich zurückgekommen war und sie nicht vorfand, erzählten mir die anderen Männer davon. Ich war sehr maseky (≈ wütend) auf den arahamba und ging zu seinem Haus, um mich mit ihm zu schlagen. (Justin, m 19) Ich verspüre kakay (≈ Groll), wenn ich an die Menschen denke, die etwas gestohlen haben, das mir gehört. Das macht mich schließlich auch wütend (maseky). Zum Beispiel denke ich an die Frau, die meinen Geliebten (amato) gestohlen hat. Ich habe Lust, sie mit der Faust zu schlagen, weil sie mein Fleisch geklaut hat. Deshalb will ich ihr mit meiner Faust einen Schlag versetzen. (Batsiandy, w 16)

Liebesbeziehungen wurden von den Beteiligten also eher als eine Art temporäres Besitzverhältnis konzipiert – was die arahamba freilich nicht davon abhielt und sie sogar dazu anspornen konnte, den Partner eines Rivalen zu ›stehlen‹ (mangalatsy). Letzteres wurde etwa auch durch den Ausdruck begründet: Kolonga apela/lehilahy tsy any olo raiky – »jugendliche/unverheiratete Frauen/Männer gehören nicht einer einzigen Person«. Wie Erläuterungen und Narrative zu den Konzepten loza/môla/sagnagna fitiavan-draha (unheilvolle/unvernünftige/verrückte Liebe) und aody apela/lehilahy (Frauen-/Männermittel) zeigen, kann allerdings auch die interpersonale Bindung in den Vordergrund treten: Ein wahre Geschichte über sagnagna fitiavan-draha: Der Onkel meiner Mutter war mit Nay, der Schwester von Ndrenomes Mutter, verheiratet. Doch er wurde verrückt nach einem Mädchen, das noch jünger war, als Nay [weniger als 16 Jahre]. Er hingegen war schon ein alter Mann. Sie war zunächst nicht mit ihm einverstanden, doch er nahm sie mit nach Ihosy und

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen kaufte ihr und ihrem Vater jeweils eine Matratze, ihr und ihrer Mutter jeweils eine komplette Ausstattung für die Küche. Danach verlangte sie von ihm, sich von seiner Frau zu trennen, und er war sofort einverstanden. Er konnte nun also mit ihr schlafen und kurz darauf heirateten sie. Inzwischen ist er schon ein Greis, und wenn er mit ihr schlafen möchte, weigert sie sich zunächst, da er nicht gut riecht. Er muss sich also erst waschen und Duftseife (savony magnitsy) verwenden. Mittlerweile benutzt er nur noch Duftseife. Wenn ihr seine Haare zu lang erscheinen, beklagt sie sich und er lässt sie sich sofort schneiden. (Nareny, w 35) Môla fitiavan-draha: Im Alter von ungefähr 20 Jahren habe ich eine Liebesnacht mit einer Frau in Soafary verbracht. Bevor wir miteinander schliefen, gab sie mir ein Bonbon zu essen. Das schmeckte unvergleichlich gut, und danach fühlte sich mein Bauch sehr rein an. Wir verbrachten eine ebenso unvergleichliche Liebesnacht miteinander, und am nächsten Morgen wollte ich nicht nach Hause gehen. Doch die Frau schickte mich fort; ich sollte aber am nächsten Tag wiederkommen. Auf dem Heimweg dachte ich unaufhörlich an sie und wollte jeden Moment umkehren. Wie vereinbart, machte ich mich am nächsten Tag wieder auf den Weg nach Soafary, rannte die ganze Strecke, ohne müde zu werden. Doch als ich an ihre Tür klopfte, antwortete sie nicht, und ich dachte, ein Anderer sei bereits bei ihr. Ich ging nicht hinein, sondern wartete die ganze Nacht vor ihrem Haus. Am nächsten Morgen stellte sich heraus, dass kein Liebhaber bei ihr gewesen war und sie mich nur prüfen wollte. Daraufhin wurde mir langsam bewusst, dass es ein Liebeszauber (aody lehilahy) war, und deshalb ließ ich mich vom ombiasa (Wahrsager/Heiler) heilen. Danach interessierte ich mich überhaupt nicht mehr für sie. (Gasy, m 40) Aody apela: Als ich vielleicht 16 Jahre alt war und mit Männern ›spielte‹, machte ein Junge den Liebeszauber (aody apela) mit mir. Als er weg war und ein Kleidungsstück zurückließ, roch ich die ganze Zeit daran, schlief mit dem Kleidungsstück an meiner Seite und träumte jede Nacht von ihm. Tagsüber während seiner Abwesenheit war ich traurig und erzählte die ganze Zeit meinen Freundinnen von ihm. Wenn er jedoch bei mir war, war ich sehr glücklich und wollte ihn immer berühren. Ich interessierte mich überhaupt nicht mehr für andere Männer, war mir nicht einmal bewusst, dass es andere Menschen mit männlichem Geschlecht gibt. Als ich mir des Liebeszaubers (aody apela) bewusst wurde, half mir meine Mutter dabei, ihn aufzuheben, und seither betrachte ich den Mann als hätte ich nie etwas mit ihm gehabt. (Rapesa, w 19)

Diese und weitere Erzählungen einer exklusiven, bedingungslosen und stark emotionalisierten Beziehung zum anderen Geschlecht kommen dem westlichen Modell intensiver Verliebtheit recht nahe. Allerdings präsentieren die Narrative diese Beziehungsphänomene als Anzeichen einer unheilvollen, einseitigen Ab‑ hängigkeit, die der Partner auszunutzen weiß.40 Die Konzeption des Liebeszaubers unterstützt diese negative Konnotation, da sie die intensive Anziehung auf eine instrumentelle und letztlich eigennützige Handlung des Geliebten zurückführt und impliziert, das Opfer verfalle allmählich dem Wahnsinn. Zugleich zeigt diese Konzeption auch einen Weg auf, wie Betroffene wieder Herr der Lage werden kön‑ nen – durch eine Praxis der Entzauberung. Während die vor- und außerehelichen Liebesbeziehungen also weitgehend indi‑ vidueller Natur sind und dem Ideal der Unabhängigkeit sowie Egalität entsprechen, 40 | Vgl. Hierzu Röttger-Rössler (2002: 155-157), die vergleichbare Konzeptionen für die Makassar beschreibt.

3. Beziehungsmuster und -dynamiken

unterstehen Ehebeziehungen wiederum der direkten Kontrolle durch ältere Ver‑ wandte und haben einen stärker hierarchischen Charakter. Ehen werden meist von den Eltern arrangiert und können allein vom lonaky des Mannes im Rahmen des tandra rituell geschlossen werden. Zwar haben Ehefrauen jederzeit die Möglichkeit, in ihren Herkunfts-tariky zurückzukehren, womit sie einen gewissen Druck auf den Ehemann ausüben können; formal sind sie jedoch der Autorität ihrer Ehemänner untergeordnet. Der ambivalente Grenzbereich zwischen den informellen, egalitären außerehelichen und den formalen, hierarchischen Ehebeziehungen wird nicht zu‑ letzt durch das Konzept des Liebeszaubers und eine Praxis namens tako maso deut‑ lich. Das Konzept des Liebeszaubers richtet sich gegen die unkontrollierte Entste‑ hung fester zwischengeschlechtlicher Bindungen und kommt damit dem Anliegen der Eltern entgegen, solche Bindungen im Rahmen von Eheschließungen selbst zu steuern. Gleichzeitig erlaubt es den jungen Männern und Frauen aber ein relativ freies ›Spiel‹ mit der Liebe. Bleibt ein Liebespaar für eine Weile zusammen, sodass sich dies im Dorf herumsprechen droht, kann der Mann ein tako maso durchführen, indem er die Beziehung gegenüber den Eltern der Partnerin offenlegt und zugleich um ihr Einverständnis wirbt. Bemerkenswert ist, dass mit einem erfolgreichen tako maso die Eltern – der wörtlichen Bedeutung gemäß – ihre »Augen verschließen«, womit eine informelle Fortsetzung der Beziehung möglich wird.

Freundschaftsbeziehungen (nama) Die meiste Zeit des Tages verbrachten die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen von Menamaty in Gesellschaft ihrer nama. Mit diesem Begriff bezeichnen sich ver‑ wandte, gleichgeschlechtliche Personen aus derselben Altersgruppe, die in einem freundschaftlichen Verhältnis zueinanderstehen, ihre Freizeit miteinander ver‑ bringen, sich gegenseitig unterstützen und gemeinsame Aktionen durchführen. Die bisher beschriebenen Beziehungsmuster legen bereits nahe, weshalb andere Sozialrelationen kaum als Kontext für solche freundschaftlichen Beziehungen in‑ frage kommen: Die hierarchischen Beziehungen innerhalb des tariky sind durch Meidungsgebote und hochgradig formale Interaktionsstile geprägt, die einem un‑ gezwungenen, intimen Umgang entgegenstehen. Den Nichtverwandten gegen‑ über besteht wiederum ein grundsätzliches Misstrauen, das häufig durch Konflikte und Ressentiments verstärkt wird. Freilich haben Erwachsene aus der Forschungs‑ region auch die Möglichkeit, über das vertrauensbildende Ritual der Blutsbruder‑ schaft (vakira) mit Nichtverwandten freundschaftliche Beziehung aufzubauen. Während die hierarchischen Beziehungen – einschließlich solcher zwischen Kindern und Eltern – durch eine ausgeprägte sozio-physische Distanz geprägt sind, pflegen pinama untereinander in der Regel ein körperlich enges Verhältnis. Im Unterschied zu Liebesbeziehungen, können Freunde ihre Zuneigung auch in der Dorföffentlichkeit über körperliche Nähe zum Ausdruck bringen. So zeigten und pflegten Freundinnen ihr intimes Verhältnis etwa durch die ausgiebige, gegensei‑ tige Haarpflege oder durch den Tausch von Kleidungsstücken. Befreundete Mäd‑ chen vertrieben sich gerne die Zeit, indem sie sich in spielerischer Weise gegen‑ seitig Kopfnüsse verpassten. Jugendliche und junge Männer schlenderten abends häufig Händchen haltend oder Arm in Arm durch das Dorf. Die körperliche Inti‑ mität zwischen Freunden war nicht nur alltäglich zu beobachten, sie wurde auch in zahlreichen Narrativen thematisiert, etwa zum Lachen:

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen Ich spaziere mit einem Freund durchs Dorf und wir spielen miteinander, indem wir uns kitzeln (mikilikiliky). Dann mache ich mikakaky (schallendes Lachen), weil ich dem nicht widerstehen kann. (Tory, m 19) Ich mache mikakaky, wenn mich etwas kitzelt. Zum Beispiel macht ein Freund das ›Kitzelspiel‹ (kilikiliky) mit mir und dann mache ich: »ka, ka, ka, he Kumpel, ka, ka, ka«. Wenn mich mein Freund kitzelt, muss ich einfach lachen. (Maragnitsy, m 30) Zum Beispiel kitzelt mich eine gute Freundin und ich mache mihehy (lachen/lächeln). Ich mache das nicht wie gewöhnlich, sondern mit einer sehr lauten Stimme (mikakaky). Ich kann einfach nicht widerstehen, wenn mich eine Freundin kitzelt. Das bringt mich dann zum Lachen. (Tsimangoa, w 15)

In deutlichem Kontrast zum distanzierten, asymmetrischen Körperverhältnis in hierarchischen Beziehungen hatte der körperliche Umgang zwischen gleichaltri‑ gen, gleichgeschlechtlichen Freunden nicht nur eine intime, sondern auch eine symmetrische und reziproke Anmutung, was als Ausdruck sozialer Egalität ge‑ deutet werden kann. Wie die Interviews zu Emotionen der Freude, des Glücks und der Zufriedenheit ( faly, tretriky, sambatsy, ravo, miada fo, mazoto fo, mazava fo, matsamatsa, mangoa, madio fo, be fo, afa-po) nahelegen, sind Freundschaften der primäre soziale Kontext für das Erleben und Teilen solch positiver Emotionen.41 Wenn meine Freundinnen aus dem Norden zu Besuch kommen, bin ich andauernd matsamatsa (≈ demonstrativ fröhlich), auch wenn Georgetty und Pelamety kommen, bin ich froh (faly), sie zu sehen, weil die beiden meine besten Freundinnen sind. Dann gibt es nichts, was mein Herz schmutzig macht (tsy misy raha mapaloto gny foko), ich bin nur glücklich (ravo). (Tody, w 15) Zum Beispiel kommen meine Freundinnen, die lange weg waren, zurück. Ich bin ravoravo (≈ glücklich) und bereite ihnen etwas zum Essen zu. Wenn wir uns dann unterhalten, sind wir fröhlich (falifaly) und lachen zusammen. (Rajy, w 13) Die Anwesenheit eines sehr guten Freundes macht mazoto fo (≈ beschwingtes Herz). Wenn ich dann mit ihm spazieren gehe und es auch von seiner Seite keinen Zweifel an unserer Freundschaft gibt, ist mein Herz beschwingt (mazoto gny foko). Er betrachtet mich wie einen Bruder und auch ich betrachte ihn so. Es gibt keinen Unterschied zwischen uns, wenn wir zusammen Hand in Hand spazieren gehen. Das ist alles. (Tsianara, m 26)

Zwar legen mehrere Narrative nahe, dass Freude-Emotionen nicht ausschließlich durch Freunde hervorgerufen werden, so können auch Geliebte, Ehepartner, Kin‑ der, Eltern oder materielle Dinge für Freude sorgen. Gerade in diesen Narrativen

41 | Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Scherer et al. (1986: 52) in einer kulturvergleichenden Befragungsstudie mit Studierenden aus sieben europäischen Ländern: »On average, the most frequent antecedents of joy/happiness were situations in which ›relationships with friends‹ were important, indicating that friends, not relatives or strangers, are the social partners who are most often a source of happiness or joy.«

3. Beziehungsmuster und -dynamiken

machen die Gesprächspartner aber deutlich, dass sie auch anderweitig veranlasste Freude mit ihren Freunden ausleben und teilen: Dieses Jahr habe ich Reis angebaut und viel geerntet. Viele haben mich gefragt, ob sie meinen Reis nicht gegen ein Rind eintauschen könnten: »Wo ist dein Reis, den ich gegen mein Rind eintauschen möchte?« »Willst du Reis kaufen?« »Ja, ich gebe dir ein Kälbchen für fünf  daba 42 Reis.« Ich sage »ja« und gebe ihm den Reis. Jetzt bin ich permanent sambatsy (≈ fröhlich), weil ich für meinen Reis ein Rind erstanden habe. Ich plaudere dann viel mit meinen Freunden und bin währenddessen stets gut gelaunt (mangoa) und fröhlich (falifaly). (Marolahy, m 16) Zum Beispiel habe ich etwas von meinem Mann geschenkt bekommen, ein schönes Kleid, das mir sehr gefällt. Da bin ich mangoa (≈ gut gelaunt) und fröhlich (falifaly). Wenn ich dann mit meinen Freundinnen plaudere, lache ich (mihehihehy) die ganze Zeit, mein Bauch ist sehr klar (mangoa soa gny trokiko), meine Lebenskraft ist glücklich (ravoravo gn’aiko), weil ich das Kleid erhalten habe. (Rapaly, w 50) Zum Beispiel gibt es eine sehr schöne Frau, die ich begehre. Meine Eltern arrangieren eine Ehe und auch sie ist einverstanden. Sobald ich erfahre, dass sie einverstanden ist, wird mein Herz mazava (≈ klar), ich bin glücklich (ravoravo) und gut gelaunt (mangoa), und wenn ich dann mit meinen Freunden plaudere, bin ich zum Lachen aufgelegt (mazoto mihehy). Denn ich habe eine schöne Ehefrau bekommen und deshalb ist mein Herz klar (mangoa gny foko). So etwas macht mein Herz klar (Miejaky, m 18) Zum Beispiel sehe ich meinen Geliebten Zakely und mein Herz ist mazoto (≈ beschwingt). Es gibt keinen Zorn in meinem Herzen (tsy misy heloky gny foko), wenn ich meinen Geliebten sehe. Dann lache/lächle (mihehy) ich die ganze Zeit mit meinen Freundinnen, lache schallend (mikakaky): »ka, ka, ka«. Manchmal töte ich dann ein Huhn, um es mit meinen Freundinnen zu essen, weil mein Herz so beschwingt (mazoto) und klar (mangoa) ist. Es gibt dann keine Wut (seky). So ist mazoto fo. (Merasoa, w 25)

In gleicher Weise wie die Emotionen der Freude lokalisierten meine Gesprächs‑ partner auch die verschiedenen Formen des Lachens (mikakaky, migeageaky, mitsikikiky, mitohaky) und ›kleinen Lachens‹ (mihehy kely) bzw. Lächelns (misomibosibo, misominda, mangita), die unter dem Begriff mihehy zusammengefasst werden kön‑ nen, vorwiegend in Freundschaftsbeziehungen: Ich mache migegeaky (≈ röhrendes Lachen), wenn ich meine Freunde sehe, die auf komische Weise miteinander spielen (soma silasila). Dann lache/lächle (mihehy) ich so: »gea, gea, gea«. Das Komische bringt einen dazu, röhrend zu lachen. (Marsialy, m 14) Zum Beispiel will ich mit Gabriel in der Nacht fischen gehen, in dem wir dem Flusslauf des Ranomadio folgen.43 Irgendwann sehen wir zwei gleich große Steine. Gabriel ist überrascht 42 | Maßeinheit nach genormten Ölkanistern aus der Kolonialzeit. 43 | Das Dorf Ranomadio ist nach dem nahegelegenen Fluss benannt. Beim nächtlichen Fischen (magnilo) werden die Fische mit Lampen angelockt, sodass sie sich mit bloßer Hand greifen lassen.

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen (tseriky) und macht mihehy (lachen/lächeln). Ich frage ihn: »Warum lachst du, Kumpel?« Er antwortet: »Nichts Besonderes, ich habe mich nur gefragt, wer wohl der Ältere von diesen beiden Steinen ist.« Dann lachen wir zusammen wegen dieser komischen Frage. Sowas bringt mich zum Lachen/Lächeln (mapihehy). (Samba, m 25)

Das verbindende Moment des gemeinsamen Lachens kommt besonders deutlich in der Form des mitohaky zum Ausdruck. Ein spezieller, vorgegebener Rhythmus erlaubt es dabei mehreren Personen, gemeinsam im selben Rhythmus zu lachen. Lediglich jugendliche und unverheiratete Frauen praktizierten diese Form des syn‑ chronisierten Lachens: Wenn ich mit meinen Freundinnen über unsere Liebhaber plaudere, machen wir das mitohaky. Wir sind glücklich (ravo) uns zu unterhalten, und deshalb machen wir das mitohaky: »ha, ha, ha, o, o, iii«. (Todiny, w 16) Junge Frauen machen das mitohaky, wenn sie ihre Liebhaber in der Ferne sehen, über diese sprechen und glücklich (ravo) sind. Sie können dann nicht widerstehen und machen gemeinsam das mitohaky, auch um die Aufmerksamkeit der Männer auf sich zu ziehen. Deshalb machen Frauen das mitohaky. (Miejaky, m 18) Beispielsweise wollte ich gestern mit meinen Freundinnen fischen gehen, allerdings hinderte uns etwas daran. Eine von uns wurde deshalb wütend (maseky) und dann machten wir das mitohaky, während wir sie anblickten. So etwas lässt uns manchmal das mitohaky machen. (Tody, w 15)

Wie die letzten beiden Narrative zeigen, kann mitohaky nicht nur Freundinnen miteinander vereinen, sondern zugleich Außenstehenden ein preisendes oder ver‑ spottendes Signal senden. Derartige Ausdrucksformen positiver Emotionen machten mir auch im Rah‑ men der teilnehmenden Beobachtung die Differenzierungen der Beziehungsfor‑ men möglich. Die informellen, ausgelassenen und durch das gemeinsame Aus‑ drücken positiver Emotionen geprägten Beziehungen zwischen gleichrangigen Freunden oder Freundinnen setzten sich sehr deutlich von allen anderen Bezie‑ hungsformen ab. Die Beziehungen zu den arahamba waren, wie beschrieben, viel‑ mehr durch Emotionen wie Wut, Groll oder Neid geprägt, sodass selbst das Lachen eines arahamba als Provokation aufgefasst werden konnte: Wenn du hörst, wie eine Feindin mikakaky (≈ schallend Lachen) macht, wirst du vielleicht verärgert (sosotsy) und wütend (maseky) und du sagst ihr: »Glaubst du, ich sehe nicht, dass du hinter meinem Rücken über mich lachst (mikakaky), obwohl es gar keinen Grund dafür gibt.« Da kommt die Wut (seky), weil das ein Lachen/Lächeln (hehy) des Verspottens (mikoraky) ist. Sie verspottet mich, indem sie lacht/lächelt (mihehy). Ein solches Lachen (kakaky) ist respektlos (tsy fagnaja). (Janga, w 20)

Die erweiterten Inzesttabus machten wiederum das Lachen unter Liebespaaren pro‑ blematisch, weshalb dies allenfalls in gedämpfter oder verborgener Form geschah:

3. Beziehungsmuster und -dynamiken Wenn man beispielsweise mit einem Mädchen die Nacht verbringt und stark lachen würde (mihehy mafy), könnten es die Verwandten hören, und aus Furcht (tahotsy) vor ihnen macht man nur mitsikikiky (≈ kichern). (Moray, m 14)

Wie bereits dargestellt, hatten die hierarchischen Beziehungen innerhalb der Li‑ neage einen formalen Charakter und basierten nicht nur auf körperlicher, sondern auch auf emotionaler Distanz. Ein lautes Lachen und selbst ein Lächeln gegenüber Älteren konnte ich kaum beobachten; es widersprach offenbar den Normen des Respekts.44 Abbildung 7: Die Freundinnen Georgetty und Pelamety sowie die Freunde Marolahy und Manjo posieren für ein Erinnerungsfoto. Auch im Alltag pflegen Kinder, Jugendliche und Erwachsene ein körperlich und emotional enges Verhältnis zu ihren Freunden und Freundinnen (nama). Dies steht im Kontrast zu den hierarchischen Beziehungen zwischen Jung und Alt, die durch eine gewisse körperliche und emotionale Distanz als Ausdruck von Respekt (fiasia) geprägt sind.

44 | Eine ähnliche soziale Einbettung positiver Emotionen sieht Morton (1996: 246) bei von ihr interviewten Jugendlichen auf Tonga: »In response to the question ›What makes you happy?‹ 30 percent (sixty-three) of 209 teenagers indicated being with friends as most important, and a further 17,2 percent (thirty-six) gave various forms of entertainment that involved friends. By comparison, only 9 percent (nineteen) included being with their family in their replies. Same-sex friends are physically affectionate with one another, often holding hands or walking with arms around each other’s shoulder.«

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

I nterdependentes oder independentes S elbst ? Die Auseinandersetzung mit der Frage, wie das Verhältnis der Person, des Selbst oder Individuums zu seiner sozialen Umwelt auf kulturspezifische Weise geprägt oder konstruiert wird, spielt spätestens seit Dumont (1965) eine zentrale Rolle inner‑ halb der ethnopsychologischen Forschung (z.B. Dumont 1980; Geertz 1974; Shwe‑ der & Bourne 1982). Wie etwa Ewing (1990: 255), Spiro (1993: 115) oder Bloch (2012: 121) im Rückblick auf dieses Forschungsfeld bemerken, wird darin in der Regel einem autonomen, egozentrischen, abgegrenzten, dekontextualisierten oder indi‑ vidualistischen Selbstkonstrukt der westlichen Welt ein interdependentes, sozio‑ zentrisches, fließendes, relationales oder kollektivistisches Selbstverständnis der jeweils beschriebenen nicht-westlichen Gruppe gegenübergestellt.45 Im direkten Anschluss an Geertz (1974) und andere Ethnologen greifen auch Kulturpsycho‑ logen wie Hofstede (1980), Markus und Kitayama (1991) oder Triandis (1995) diese dichotomen Begrifflichkeiten auf und helfen damit, das Begriffspaar ›Interdepen‑ denz‹ bzw. ›kollektivistisch‹ und ›Independenz‹ bzw. ›individualistisch‹ als zent‑ rales heuristisches Konstrukt der kulturvergleichenden Psychologie zu etablieren. In diesem Kapitel habe ich nicht explizit das Selbst‑ oder Personenkonzept der Menschen aus Menamaty beschrieben, weil mir dieses als solches nur schwer greif bar erscheint. Jedoch lassen sich aus den dargestellten Beziehungsmustern und ‑dynamiken zumindest einige Rückschlüsse für die Frage nach dem Selbst ziehen. Geht man davon aus, dass sich Selbstkonzepte in sozialen Interaktionen manifestieren, durch diese geprägt werden und sie zugleich prägen, dann spricht die Diversität der beschriebenen Beziehungs‑ und Interaktionsmuster eigentlich gegen die Existenz eines einheitlichen Selbstkonzeptes in der Forschungsregion, das sich sinnvoll mit einem westlichen Modell kontrastieren ließe. Die ausgeprägte Differenzierung in hierarchische und egalitäre Beziehungsformen lässt vielmehr den Schluss zu, dass die Menschen aus Menamaty je nach sozialem Kontext min‑ destens zwischen zwei verschiedenen Modi der Selbstauffassung, ‑erfahrung und ‑darstellung wechseln können. Die hierarchischen Beziehungen zwischen den Angehörigen des jeweiligen tariky sind durch eine rigide Moral, die Verpflichtung zur Eingliederung in die Au‑ toritätshierarchie und durch formale Interaktionsstile charakterisiert. Das macht es für den Einzelnen erforderlich, sich in diesen sozialen Relationen primär an den zahlreichen Geboten und Verboten sowie dem situativen Willen der Älteren zu orientieren und dabei etwaige widersprechende Wünsche, Neigungen oder Emo‑ tionen hintanzustellen. Die Vorstellung von einer die Mitglieder des tariky durch‑ fließenden und sie miteinander verbindenden Lebenskraft, das Opferschwert (verara) und der Opferpfahl (hazomanga) als Symbole der untrennbaren Einheit des 45 | Der Umstand, dass diese Beschreibungen der Selbstkonzepte in verschiedenen, nichtwestlichen soziokulturellen Gemeinschaften einander sehr ähnlich sind, ist angesichts eines durch die Beschreibenden propagierten Kulturrelativismus schon erstaunlich. Diese Inkonsistenzen zwischen theoretischem Ansatz und empirischen Ergebnissen legen zwei verschiedene Erklärungsmöglichkeiten nahe. Entweder variieren Selbstkonzepte einfach nicht in dem Maße, wie dies eine kulturdeterministische Position erwarten lässt. Oder aber die Beschreibungen basieren weniger auf Empirie als vielmehr in erster Linie auf einer einfachen Negation des westlichen Selbstkonzepts.

3. Beziehungsmuster und -dynamiken

tariky, die Metapher einer austreibenden Bananenstaude oder der Vergleich mit einem hierarchisch gegliederten Bienenstock deuten auf ein soziozentrisches oder interdependentes Selbstkonzept in hierarchischen Relationen hin. Hätte ich mich auf diese Relationen und die Symbolik der Rituale oder auf Äußerungen der lonaky allein verlassen, wäre ich womöglich zu dem Schluss gekommen, dass in dieser Kultur ein relationales Personenkonzept vorherrscht. Indes zeigte sich im Laufe meiner zunehmenden Integration in die Gruppe der Gleichaltrigen und vor allem auch durch Emotionsnarrative, dass sich die sozioemotionalen Erfahrungen und Interaktionen der Dorf bewohner keineswegs auf einen solchen hierarchischen, interdependenten Modus beschränkten, da Perso‑ nen die meiste Zeit des Tages mit ihren Peers zubrachten. Sie bewegten sich also auch in einer sozialen Sphäre, die sich durch eine prinzipielle moralische und öko‑ nomische Unabhängigkeit, ein egalitäres Ethos sowie durch Werte der Stärke aus‑ zeichnet und somit Gelegenheiten bietet, individuellen Interessen gemäß zu han‑ deln und nach eigenem Ermessen persönliche Feindschaften und Freundschaften zu pflegen. Auch die außerehelichen Liebes‑ und Sexualbeziehungen, die in vielen Gesellschaften einer strengen sozialen Kontrolle unterworfen sind, spielen sich in der Forschungsregion weitgehend außerhalb des Zugriffs von Autoritätspersonen ab. Feindschaftsbeziehungen, die sich größtenteils jenseits einer moralisch ver‑ bindlichen Sphäre entfalten, bieten Frauen, Männern und Kindern wiederkehrende Selbsterfahrungen, in denen sie sich als autonome, durchsetzungsfähige und sich dabei von den arahamba scharf abgrenzende Individuen erleben können. Emotio‑ nen der Wut oder des Stolzes, die Markus und Kitayama (1991: 225) als unvereinbar mit einem interdependenten Selbstkonzept darstellen, können in diesen Relatio‑ nen nicht nur offen gezeigt werden, sondern dienen auch der Selbstdarstellung als starkes Individuum. Freundschaftsbeziehungen beruhen zwar auf gewissen Ver‑ bindlichkeiten, doch können auch diese Beziehungen individuell gestaltet werden, und sie grenzen sich durch körperliche Nähe, direkte, zwanglose Kommunikation und das Teilen positiver Emotionen stark von den hierarchischen Beziehungen ab. Diese verschiedenen Formen egalitärer Beziehungen dürften eine autonome, ab‑ gegrenzte, individuelle Selbstdarstellung und ‑erfahrung begünstigen. Die ethnografische Literatur zu den Bara bestätigt eine solche Koexistenz von interdependenten und independenten Beziehungsformen und entsprechenden Personenkonzepten allerdings nicht. Vielmehr kommen die Autoren teilweise zu gänzlich entgegengesetzten Einschätzungen im Hinblick auf diese Frage: »The va‑ lues [of the Bara] emphasize a passive attitude of the individual toward the wider world«, bemerkt etwa Richard Huntington (1988: 54f). Und die personenbezoge‑ nen Werte der Bara beschreibt er folgendermaßen: Troublesome people are [seen as] dangerous people. Cleverness and entrepreneurship are looked down on as undignified und ultimately self-defeating. When the Bara voice their approval of a person, the highest praise is that the person is ›no trouble‹ (tsy magnay). (Huntington 1988: 55)

Zu einer prinzipiell ähnlichen, im Detail allerdings etwas anders gelagerten Ein‑ schätzung kommt der Ethnologe Jacques Faublée:

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen Das Individuum unterscheidet sich allein durch seinen Körper von anderen. Vatako, ›mein Körper‹ ist die einzige Art und Weise, ausdrücklich ›Ich‹ zu sagen. Es gibt keine Individuen im strengen Sinne des Wortes, sondern nur Personen in der Eigenschaft als Mitglieder ihrer Gruppe von Lebenden und Toten – der raza 46 – und in einer Rolle, die durch den Platz in der Gesellschaft definiert ist, der wiederum mit dem Schicksal der Geburt verbunden ist. (Faublée 1954: 82) 47

Die Determiniertheit des Einzelnen durch die Gruppe veranschaulicht Faublée fol‑ gendermaßen: »Das Verhältnis zwischen den Mitgliedern der raza ist identisch mit demjenigen zwischen den Teilen eines Objektes.«48 Huntington und Faublée ge‑ langen also eindeutig zur Annahme eines soziozentrierten oder kollektivistischen Personenkonzepts. Louis Michel (1957) hingegen betrachtet die Bara als ein »kriegerisches Hirten‑ volk mit stolzem und unabhängigem Temperament«49, als »ein Volk, das hartnä‑ ckig an persönlicher und tribaler Unabhängigkeit festhält«50, das »zu stolz ist, den Zustand der Knechtschaft zu akzeptieren«51 und »einen Anführer nur unter Bei‑ behaltung seiner stolzen Würde und vollständigen Freiheit akzeptiert«52 . Während der Kolonialisierung leistete somit »dieses intelligente, stolze und wilde Volk lange Zeit Widerstand, bevor es einverstanden war, vor uns die Waffen niederzulegen«53. Diese beiden, scheinbar gegensätzlichen Positionen lassen sich durch die von mir vertretene These vereinbaren, der zufolge in der Forschungsregion indepen‑ dente und interdependente Modi des Selbst koexistieren, indem sie an unter‑ schiedliche Sozialrelationen geknüpft sind. Es liegt auf der Hand, dass die zitierten Autoren schlicht unterschiedliche soziale Relationen im Blick hatten, ihre Schluss‑ folgerungen dann aber losgelöst davon formulierten. Michel legt in seiner – deut‑ lich tendenziösen – Charakterisierung einer vermeintlichen Bara-Mentalität den Fokus auf die intersegmentären und Außenbeziehungen, ohne die intrasegmentä‑ ren Relationen zu berücksichtigen, was zu einer einseitigen und zudem pauscha‑ lisierenden Darstellung führt. Dieser Fokus dürfte damit zusammenhängen, dass der Autor die Perspektive der französischen Kolonialregierung übernimmt und

46 | Faublée versteht hier unter raza die lokale, patrilineare Abstammungsgruppe. 47 | Eigene Übersetzung aus dem Französischen: »L’individu se distingue uniquement par son corps. Vataku ›mon corps‹ est la seule façon emphatique de dire ›moi‹. Il n’y a pas d’individu au sens strict du mot, mais un personnage qui existe en tant qu’il participe à son groupe de vivants et de morts – raza – avec un rôle déterminé par sa place dans la société, lié à celui donné par le destin de sa naissance.« (1954: 82). 48 | »Il y a le même rapport entre les membres de la raza qu’entre un objet et ses parties.« (1954: 83). 49 | »[…] people pasteur et guerrier au tempérament fier et indépendant […].« (1957: 35). 50 | »[…] un people farouchement attaché à son indépendance personnelle et tribal […].« (1957: 51). 51 | »[…] trop fier pour accepter la condition servile.« (1957: 22). 52 | »[…] le Bara-madio accepte le commandement d’un chef tout en conservant sa fière dignité et sa liberté complète.« (1957: 22). 53 | »[C]e people intelligent, fier et sauvage, a résisté longuement avant de consentir à nous remettre ses armes.« (1957: 30).

3. Beziehungsmuster und -dynamiken

deshalb die im Vergleich mit den Ackerbauern Madagaskars schwierigere Unter‑ werfung und Kontrolle der pastoralen Bara vor Augen hat. Die Ethnologen Huntington und Faublée konzentrieren sich hingegen vor al‑ lem auf die intrasegmentären, formalen Beziehungen; diese bilden den Ausgangs‑ und Schwerpunkt ihrer Darstellungen. In diesem sozialen Kontext steht auch nach meiner Einschätzung die möglichst bruchlose Eingliederung des Einzelnen in die Gruppe und damit eine passive Haltung zumindest den älteren Mitgliedern der Gemeinschaft gegenüber im Vordergrund. Allerdings berücksichtigen die beiden Autoren in ihrer Darstellung nicht, dass gegenüber Gleichaltrigen weder Passivi‑ tät noch soziale Unterordnung erwünscht ist. Zwar bleibt Huntington darin zu‑ zustimmen, dass eine Person als »no trouble« (tsy magnahy) gelobt werden kann, jedoch trifft dies vornehmlich auf ein hierarchisch untergeordnetes Gegenüber zu. In anderen Sozialrelationen – nämlich zwischen Gleichaltrigen und insbesondere zwischen arahamba – kann hingegen die entgegengesetzte Bezeichnung einer Per‑ son als ›starker/harter Charakter/Kopf‹ (henja/mahery fagnahy/loha) ein Lob zum Ausdruck bringen. Wie ist nun diese These, wonach die Menschen aus Menamaty über verschie‑ dene Selbstkonstrukte und ‑darstellungen verfügen, näher zu fassen? Einen ähn‑ lichen Sachverhalt bringt Katherine Ewing in einem vielbeachteten Artikel (1990) zur Darstellung, indem sie ein Gespräch mit einer pakistanischen Frau analysiert: Shamim displays a tension, for instance, between two self-images that are based on inconsistent premises. At some moments she presents an image of herself as a good, obedient daughter who will, hopefully, become a good wife. At other times her self-representation is that of a »politician« who can employ various strategies to meet her personal needs and wishes. (Ewing 1990: 259).

Aufgrund derartiger Beobachtungen kommt Ewing letztlich zu der weitreichenden und titelgebenden Aussage, dass das Selbst prinzipiell eine »illusion of wholeness« sei und stattdessen eher als »experience of inconstancy« beschrieben werden müs‑ se. Diese Allgemeingültigkeit beanspruchende Schlussfolgerung mag vielleicht auf Shamims Selbst in Ewings Interpretation zutreffen, doch spricht wenig dafür, dass sie auch auf das Selbstkonstrukt der Menschen aus Menamaty übertragbar ist. An dieser Stelle sei lediglich eines von vielen erhellenden Emotionsnarrativen angeführt: Jemand hat meine Rinder geklaut. Ich empfinde lolom-po (≈ tiefsitzender Groll) und nehme mir vor, den Dieb zu töten, sobald ich ihn ausfindig gemacht habe. Als ich den Dieb identifiziert habe, muss ich allerdings feststellen, dass es sich um einen Verwandten handelt und aufgrund von Furcht (tahotsy) spreche ich lediglich laut mit ihm. (Magnamora, m 30)

Indem der Erzähler diese Episode in der Ich-Form reflektiert, macht er bereits deut‑ lich, dass er den Wechsel von einem Beziehungs‑, Emotions‑ oder Selbstmodus in den anderen durchaus mit der Kontinuität oder Einheitlichkeit seines Selbst ver‑ einbart und offenbar keine Inkonsistenz damit verbindet. Wie etwa Quinn (2006) oder Bloch (2012: 117-142) deutlich machen, ist es sinnvoll, zwischen verschiede‑ nen Ebenen des Selbst zu unterscheiden, etwa zwischen einem Selbst und ver‑ schiedenen Modi der Selbstrepräsentation. Es ist also durchaus möglich, sich als

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ein gleichbleibendes Selbst zu erleben und gleichzeitig, je nach sozialem Kontext, zwischen verschiedenen Selbstpräsentationen zu wechseln. Nur unter der voraus‑ gesetzten Festlegung, das Selbst ausschließlich als Selbstrepräsentation zu unter‑ suchen, kommt Ewing zu ihrer Aussage, dass das Selbst fragmentiert und die Ein‑ heit des Selbst eine Illusion sei. Meine These, dass die Menschen aus Menamaty in verschiedenen sozialen Kontexten zwar nicht ihr Selbst austauschen, immerhin aber zwischen den Modi einer interdependenten und einer independenten Selbstdarstellung wechseln kön‑ nen, wirft die Frage auf, ob dies für alle soziokulturellen Kontexte gleichermaßen vorstellbar ist. Tatsächlich sind einige Kulturpsychologen und ‑anthropologen dazu übergegangen, anstatt interdependente mit independenten ›Kulturen‹ zu kontras‑ tieren, die komplexe und jeweils spezifische Verwobenheit von interdependenten und independenten Selbstrepräsentationen innerhalb eines soziokulturellen Kon‑ textes in den Blick zu nehmen (z.B. Hollan 1992; Killen & Wainryb 2000).54 Je‑ doch ist auch denkbar, dass ein soziokultureller Kontext, wie der von Ewing (1990) beschriebene, der independenten Selbstrepräsentation nur wenig ›Freiraum‹ lässt, sie als unmoralisch deklariert, wohingegen in einem anderen Kontext, wie etwa dem der deutschen Mittelschicht, die independente Selbstrepräsentation sozial er‑ wünscht ist und auch institutionell unterstützt wird. Demgegenüber begünstigen die sozial, religiös und moralisch hochgradig segmentierten Gemeinschaften von Menamaty, wie gezeigt, ein Nebeneinander von jeweils deutlich ausgeprägten hier‑ archisch-interdependenten und egalitär-independenten Selbstmodi. Möglicherwei‑ se trifft eine solche Konfiguration auch auf andere pastorale Gesellschaften zu; so bemerken etwa LeVine et al. zu den agropastoralen Gusii Kenias: Thus the apparently rigid hierarchy of the domestic group, subordinating wives to husbands and elders and children to adults, is mitigated by operating rules that often permit subordinates considerable autonomy, distance from regulation, and relative freedom in unsupervised situations. (LeVine et al. 1994: 34)

Wie sich weiter unten zeigen wird, ist die in diesem Kapitel dargestellte Differen‑ zierung zwischen verschiedenen Beziehungs‑, Emotions‑ und Selbstmodi von zen‑ traler Bedeutung für das Verständnis der Emotionssozialisation in der Forschungs‑ region.

54 | So fassen Killen und Wainryb (2000: 16) ihre Position wie folgt zusammen: »In sum, these findings illustrated how concerns with autonomy are not absent from traditional societies but are played out differently for individuals in different roles and positions, resulting in a complex interweaving of independence and interdependence. Furthermore, the perspectives and judgments of those in subordinate positions reflect the struggles and conflicts characteristic of the interplay between opposing orientations in cultures. This is especially noteworthy given that collectivistic societies are presumed to be characterized by coherence and harmony.«

4. Die Bedeutung der Emotionen

Dem im 1. Kapitel dargestellten Emotionsmodell zufolge sind Emotionen gleicher‑ maßen in soziale Interaktionen und kulturelle Bedeutungssysteme eingebunden. Einerseits entfalten sich Emotionen in aktuellen oder vorgestellten Beziehungen und prägen diese zugleich. Andererseits werden emotionale Erfahrungen durch kulturelle Bedeutungen und symbolische Repräsentationen vermittelt, da diese so‑ wohl die Kategorisierung von Gefühlen als der subjektiven Seite von Emotionen als auch die Interpretation emotionsrelevanter Situationen bestimmen. Nachdem sich das vorangehende, 3. Kapitel über die sozialen Beziehungen den Emotionen angenähert hat, wendet sich dieses Kapitel der Emotionsthematik über die Bedeu‑ tungsebene zu – wobei die soziale Dimension weiterhin präsent bleibt. Die Bedeu‑ tung moralischer Emotionen für die Menschen aus Menamaty steht dabei im Fokus. Nach einem methodischen Abschnitt werde ich zunächst das Spektrum potenziell moralischer Emotionen in ihrer sozialen Einbettung abstecken, um mich sodann ausführlicher den Emotionsfamilien von tahotsy (≈ Furcht) und seky (≈ Wut) zuzu‑ wenden, da diese als zentrale moralische Emotionen in der Forschungsregion zu betrachten sind.

E rhebungs ‑ und A nalyseme thoden Inter views zu Emotionswörtern und ‑konzepten Eine erste Aufgabe bei der Untersuchung der Emotionsbedeutung bestand darin, Emotionswörter zu identifizieren und ein Emotionslexikon zu erstellen. Da für den Dialekt der Bara lediglich ein Sprachwörterbuch existiert, das vom Bara-Dialekt ins Italienische übersetzt (Elli 1988), habe ich im Vorfeld der ersten Feldforschung alle erhältlichen Sprachwörterbücher konsultiert, die vom Standard-Malagasy ins Deutsche (Bergenholtz & Rajaonarivo 1994), Französische (Abinal & Malzac 2000 [1899]; Sims & Kingzett 1969) sowie Englische (Vaovao 1970) und in umgekehrter Richtung übersetzen. Mit ihrer Hilfe erstellte ich ein provisorisches Emotionslexi‑ kon. Dabei zielte ich besonders, jedoch nicht ausschließlich, auf die im 1. Kapitel dargelegten selbst‑ oder fremdbewertenden moralischen Emotionen ab. Im Rah‑ men der Interviews und mit Hilfe meiner Assistenten, die aufgrund ihrer Schulbil‑ dung sowohl des Standard-Malagasy mächtig als auch mit den südmadagassischen Dialekten vertraut waren, habe ich auf der Grundlage dieser Liste bedeutungsähn‑

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liche Wörter im lokalen Dialekt identifiziert. In den Interviews zur Bedeutung die‑ ser Emotionswörter dienten folgende Fragen als Leitfaden: 1. Was macht dich oder einen anderen Menschen … wütend …? Kannst du ein Beispiel erzählen?1 Mit dieser Frage ließ ich absichtlich offen, auf wen sich die Episode beziehen wür‑ de, um Rückschlüsse auf die mit den Emotionen assoziierten Bewertungen und die soziale Einbettung ziehen zu können. Die auf diese Frage hin jeweils erzählten Emotionsnarrative machen den Hauptanteil meines Datenmaterials zur Emotions‑ bedeutung aus. Da meine Gesprächspartner in ihren Emotionsnarrativen das Aus‑ drucksverhalten meist nicht direkt thematisierten, stellte ich gegebenenfalls eine zweite Frage: 2. Wie lässt sich erkennen, ob jemand … wütend … ist?2 Nach einigen Monaten der Feldforschung ergänzte ich diese Fragestellung mit einer weiteren Methode: Ich bat meine Gesprächspartner, die Emotionen vor lau‑ fender Kamera zu inszenieren, um das im Rahmen der Feldforschung beobachtete emotionale Verhalten besser interpretieren zu können. Dabei zeigte sich, dass dies den meisten Gesprächspartnern großen Spaß bereitete. Um weitere Emotionswörter ausfindig zu machen, die in der provisorischen Emotionsliste nicht enthalten waren, und um die Emotionskonzepte zugleich in einem Feld ähnlicher Konzepte situieren zu können, bat ich meine Gesprächs‑ partner stets darum, mir zu jedem erfragten Emotionswort ähnliche Wörter zu nennen: 3. Gibt es noch andere Wörter, die der … Wut … ähnlich sind? Wodurch unterscheidet sich die … Wut … vom … Ärger …?3 Dieses Leitfadeninterview führte ich zu jedem der rund 100 identifizierten Emo‑ tionswörter mit jeweils 10 bis 50 Personen unterschiedlichen Geschlechts und Al‑ ters. Die variierende Anzahl der zum jeweiligen Emotionswort befragten Personen ergab sich aus dem pragmatischen Vorgehen, ein Emotionswort nur solange zu erheben, bis ich ein ausreichendes Verständnis für seine Bedeutung entwickelt zu hatte. Auch bei der Dokumentation der erzählten Emotionsepisoden ging ich nicht ein‑ heitlich vor, da hierbei die Orientierung an der Interviewsituation im Vordergrund stand. Während der ersten Feldforschung verzichtete ich auf eine Audio-Aufzeich‑ nung der Interviews, weil ich die für meine Gesprächspartner ohnehin vollkommen ungewohnte Interviewsituation nicht durch ein auf die wörtliche Rede fixierendes

1 | Ino gny raha mahaseky anao, na ino mahaseky gn’olo? Afaky hazavainao ve ohatsy? 2 | Akory gny ahafatara fa maseky gn’olo? 3 | Misy teny hafa koa mitovotovy amin’ny seky? Ino gny mahasamby hafa gny seky sy gny sosotsy?

4. Die Bedeutung der Emotionen

Diktiergerät verschärfen wollte.4 Stattdessen notierte ich die Antworten in deut‑ scher Sprache (inklusive der wichtigen Ausdrücke in Malagasy) direkt in der Inter‑ viewsituation, wobei mich mein Forschungsassistent Etienne bei der Übersetzung und Interpretation des Gesagten unterstützte. Mit der Übersetzung im Rahmen der Interviews führte einerseits sicherlich zu einer Verringerung der sprachlichen Präzision, andererseits hatte dies aber den Vorteil, dass ich die letztlich ohnehin notwendige Übersetzung und Deutung in der Gesprächssituation und nicht erst in einer späteren, dekontextualisierten Situation vornehmen konnte. Während der zweiten Feldforschung setzte ich die Interviews zu den für die Forschungsfragen besonders relevanten Konzepten fort, zeichnete sämtliche Interviews auditiv auf und transkribierte und übersetzte sie mit der Hilfe meiner Forschungsassistenten Dadah Sambo und Boba Fihavana. Das zunehmende Vertrauen und der Umstand, dass sich für meine Interviewpartner seit der ersten Feldforschung keine negativen Konsequenzen ergeben hatten, verringerte offenbar auch die Skepsis gegenüber dem Diktiergerät.

Analyse und Interpretation der Emotionsnarrative Zur Analyse der erhobenen Emotionsnarrative benutzte ich die Software MAX‑ QDA, die es erlaubt, in einem qualitativen, induktiv-deduktiven Verfahren ein Ka‑ tegoriensystem zu entwickeln und Passagen aus dem Textmaterial entsprechenden Kategorien zuzuordnen, ohne das Ursprungsmaterial und die Schritte der allmäh‑ lichen Abstrahierung aus dem Blick zu verlieren. Aus dem eingangs vorgestellten Komponentenmodell der Emotionen leitete ich folgende Oberkategorien bzw. Fra‑ gestellungen für die Analyse ab: 1. Appraisal (Was wird als Anlass der Emotion beschrieben?) 2. Körperreaktion/‑empfindung (Welche Körperempfindungen/‑metaphern werden genannt?) 3. Ausdruck (Wie manifestiert sich die Emotion?) 4. Handlungstendenz (Welche Absichten/Handlungen werden beschrieben?) 5. Emotionsbewertung (Ist es sozial erwünscht oder nicht, diese Emotion zu zei gen?) 6. assoziierte Emotionswörter (Welche Emotionswörter werden noch genannt, wie werden diese differenziert?) 7. deutschsprachige Äquivalente (Gibt es deutschsprachige Wörter mit ähnlicher Bedeutung?) Da sich die spezifische Bedeutung von Emotionswörtern auch durch die Relation zu ähnlichen Konzepten ergibt, habe ich vor der eigentlichen Analyse Emotions‑ familien auf der Basis miteinander assoziierter Konzepte gebildet. Dabei zeigte sich, dass eine Reihe von Emotionswörtern stets mit einem bestimmten, relativ generellen Emotionswort assoziiert wurde, das somit als Schlüsselkonzept einer jeweiligen Emotionsfamilie angesehen werden kann. So brachten meine Interview‑ 4 | Hierbei ist zu bedenken, dass der Kommunikationsmodus des Interviews eng mit Institutionen der formalen Bildung oder der Medien verbunden ist, die in der Forschungsregion kaum verbreitet waren.

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partner rund 20 Emotionswörter durchgehend mit dem Wort seky (≈  Wut) in Ver‑ bindung, womit ich diese als seky-Familie zusammenfasste. Nach diesem ersten Schritt analysierte ich die Konzepte einer Emotionsfami‑ lie gemeinsam, indem ich auf induktive Weise für jede Oberkategorie Subkatego‑ rien bildete, welche die einzelnen Konzepte spezifizieren. Für das Appraisal der seky-Konzepte stellte sich beispielsweise heraus, dass sich dieses u.a. aufgrund der jeweils beschriebenen sozialen Relation zwischen den Beteiligten differenziert, weshalb ich eine Subkategorie »soziale Relation« einfügte. Einige seky-Emotio‑ nen beispielsweise waren den Narrativen zufolge auf gleichrangige und gleichge‑ schlechtliche, einige auf höherrangige und wiederum andere auf niederrangige Personen gerichtet, woraus sich weitere Subkategorien ergaben. Letztlich entwi‑ ckelte ich für das Appraisal der seky-Konzepte folgende Subcodes: 1. Appraisal a. soziale Relation zwischen betroffener und auslösender Person aa. Status‑/Altersrelation 1. gleich 2. absteigend 3. aufsteigend ab. Soziale Nähe 1. tariky (nah verwandt, selbe Lineage) 2. longo/nama (entfernt verwandt, befreundet) 3. arahamba (nicht verwandt, verfeindet) ac. Geschlechtsrelation 1. gleichgeschlechtlich 2. gegengeschlechtlich 3. unbestimmt b. Art des auslösenden Verhaltens … Nach diesem analytischen Auswertungsprozess machte ich es mir zur Aufgabe, diese gegliederten Bedeutungselemente wieder zusammenzufügen und für jedes Konzept eine Bedeutungsbeschreibung als Fließtext vorzunehmen. Auf die so ent‑ standenen Texte sowie einzelne Dimensionen der Konzepte griff ich dann in der vorliegenden Arbeit zurück. Zu bemerken ist, dass ein solches Auswertungsverfah‑ ren nicht nur die Bedeutung der Emotionskonzepte erhellt, sondern zugleich auch eine Einordnung der entsprechenden Emotionen in spezifische soziale Kontexte ermöglicht.

Qualifizierung der Konzepte als Emotionskonzepte Es stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage ich zu dem Schluss gekommen bin, dass sich die so erhobenen und interpretierten Konzepte überhaupt auf Emo‑ tionen beziehen. Im Standard-Malagasy existieren Wörter wie fihetseham-po (wört‑ lich: Bewegung des Herzens), fientanam-po (wörtlich: Gepäck des Herzens) oder fivadiham-po (wörtlich: Antwort des Herzens), die in den besagten Wörterbüchern mit ›Emotion‹ übersetzt werden. Diese Termini sind jedoch in der Forschungs‑ region nicht bekannt und ich konnte auch kein anderes Wort identifizieren, das

4. Die Bedeutung der Emotionen

dem Ausdruck ›Emotion‹ entspricht. Es war also nicht möglich, direkt zu fragen, ob das jeweilige Wort eine Emotion bezeichnet. Als Kriterien zog ich deshalb die Emotionskomponenten des eingangs vorgestellten Emotionsmodells heran. Wenn die Schilderungen nicht nur Anlässe bzw. Appraisal, sondern auch Körperempfin‑ dungen und Handlungsabsichten enthielten, erlaubte ich mir, das entsprechende Konzept als Emotionskonzept einzustufen.5 Zahlreiche Metaphern mit wörtlicher Bedeutung wie ›schmutziger Bauch‹ (maloto troky), ›klares Herz‹ (mazava fo), ›großes Herz‹ (be fo), ›tanzendes Herz‹ (mitsinjaky fo) oder ›verdorbener Bauch‹ (lo troky) bezeichnen körperliche Empfin‑ dungen, die meine Gesprächspartner auf einen meist sozialen Anlass und eine Handlungstendenz bezogen. Auch die nicht-metaphorischen Emotionswörter qua‑ lifizierten meine Gesprächspartner durch Körperempfindungen, indem sie diese in ihren Schilderungen direkt in einem der genannten Organe verorteten – etwa: ravo gny trokiko mahita gn’anako sady managn’aomby (›mein Bauch ist glücklich, meine Kinder zu sehen oder Rinder zu besitzen‹). Bemerkenswert hierbei ist auch, dass die Körperorgane nicht nur als Ort eines inneren Geschehens, sondern meist sogar als Subjekte der Emotionen zur Sprache kamen. Sofern meine Gesprächspartner in ihren Emotionsnarrativen nicht direkt auf körperliche Prozesse oder Gefühle eingingen, schaffte die Frage fast immer Klarheit, ob das Wort etwas bezeichne, das den Bauch (troky) oder das Herz ( fo) betreffe. Damit ließen sich die Emotions‑ konzepte einerseits von solchen Begriffen abgrenzen, die sich etwa ausschließlich auf ein Handeln oder Verhalten (manao) bezogen. Vorgänge wie mierieritsy (Den‑ ken), die auch ein Appraisal umfassen und Handlungen nach sich ziehen können, wurden ebenfalls nicht dem Herzen oder Bauch, sondern dem say (Geist/Verstand) zugeschrieben, der wiederum im Kopf lokalisiert wurde. Schließlich gab es aber auch einige Wörter, die offenbar Grenzphänomene bezeichnen, indem sie – wie etwa mikenjy (Trotz/Schmollen) – ein emotional ausgelöstes Verhalten oder – wie miahiahy (verdächtigen/sich Sorgen machen) – ein eher kognitives, aber dennoch emotional relevantes Phänomen beschreiben.

D as S pektrum be wertender und sanktionierender E motionen Dieses Unterkapitel stellt das Spektrum der selbst‑ und fremdbewertenden Emo‑ tionen als potenziell moralische Emotionen vor, um auf dieser Basis zeigen zu können, inwiefern sich seky und tahotsy als primäre moralische Emotionen in der Forschungsregion betrachten lassen. Dabei werde ich besonders die spezifische soziale Einbettung der jeweiligen Emotionen berücksichtigen, da sich das emotio‑ nale Erleben und Verhalten in hohem Maße nach den beschriebenen Beziehungs‑ dimensionen differenziert. Diese soziale Einbettung des Emotionalen ist nochmals

5 | Dieses Vorgehen könnte man vielleicht als ethnozentrisch kritisieren, weil man damit durch das westliche Emotionsmodell vorgibt, was man als Emotionen auffasst. Wer allerdings Begriffe einer Sprache als Emotionsbegriffe beschreibt, obwohl das Wort ›Emotion‹ in dieser Sprache nicht vorkommt, muss auf ein Emotionsmodell zurückgreifen, wenn nicht explizit, dann zumindest implizit oder intuitiv.

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herauszustellen, bevor in den folgenden Abschnitten diskrete Emotionen zur Dar‑ stellung kommen. Die soziale Einbettung und Differenzierung des Emotionalen wurde mir nicht nur im Zuge der Analyse der Emotionsnarrative deutlich, sondern bereits im Rah‑ men der teilnehmenden Beobachtung. Zu Beginn der ersten Feldforschung ge‑ langte ich zunächst zu der Einschätzung, dass der zwischenmenschliche Umgang in meinem neuen Umfeld von außerordentlicher Formalität geprägt sei, die jedem Akt spontaner Emotionsäußerung entgegensteht. Im Rückblick ist dies darauf zu‑ rückzuführen, dass Etienne und ich uns in den ersten Wochen der Feldforschung vor allem in hierarchisch‑interdependenten Beziehungskontexten bewegten. Bei den Bestrebungen nach Kontaktaufnahme sowie bei den Haushaltssurveys hatten wir vor allem mit älteren Männern und Frauen zu tun. Die vielen anderen Perso‑ nen, die sich während dieser Initialgespräche einfanden, waren in aller Regel Fa‑ milienangehörige und Nachkommen unserer älteren Gesprächspartner und posi‑ tionierten sich somit in einer hierarchischen Relation zu ihnen. Je mehr Zeit wir aber mit Angehörigen der uns zugeordneten Generation, also mit unverheirateten Jugendlichen und jungen Erwachsenen alleine zubrachten, desto mehr entwickel‑ te ich die Einschätzung, dass der alltägliche Umgang von einer hohen emotiona‑ len Expressivität geprägt sei. Eine eintägige Exkursion zum Fischen entlang des Ranomadio-Flusses mit älteren Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen war dabei eine Schlüsselerfahrung. Entgegen meiner anfänglichen Einschätzung äußerster emotionaler Zurückhaltung, zeigten sich die Exkursionsteilnehmer sehr emotional, indem sie etwa ihrer Freude über einen Fang durch lautes Jubeln und Tanzen Ausdruck verliehen oder anlässlich einer misslungenen Aktion heftig fluchten. Möglicherweise aufgrund einer gewissen Voreingenommenheit durch die Erwartung genereller Normen für den emotionalen Ausdruck schwankte ich eine Weile zwischen diesen beiden Einschätzungen hin und her, bis mir deutlich wurde, dass das emotionale Verhalten in hohem Maße davon abhängt, in welchem sozialen Verhältnis die Interaktionspartner zueinanderstehen. Die dargelegten Beziehungsformen erlauben es, diese scheinbaren Ambivalen‑ zen des Emotionalen aufzulösen. Hierarchische Beziehungen sind durch Distanz‑ gebote und Förmlichkeit geprägt, die individuellen, spontanen Gefühlsäußerun‑ gen der Traurigkeit (alahelo), Freude ( faly), Wut (seky) oder des Stolzes (rehareha) zuwiderlaufen. Im Vordergrund steht stattdessen der Ausdruck von Respekt (haja, fiasia) gegenüber Älteren mittels hochgradig stilisierter Körperperformanzen und Kommunikationsformen. Damit ist freilich nicht gesagt, dass diese Relationen emotionsarm sind. Wie die Emotionsnarrative noch zeigen werden, können auch diese Beziehungen Anlass intensiver Emotionen sein, die in der Regel aber kontrol‑ liert und lediglich in Konfliktsituationen deutlich sichtbar werden. Die egalitären Beziehungen zwischen Personen derselben Altersgruppe unterliegen hingegen kaum einem derart rigiden Regime der emotionalen Kontrolle, vielmehr dient hier der Ausdruck und die Realisierung solcher Emotionen, die den hierarchischen Beziehungen widersprechen, geradezu der individuellen Gestaltung von Freund‑ schafts‑, Feindschafts‑ und Liebesbeziehungen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch der Umstand, dass meine anfängliche Interviewfrage, ob diese oder jene Emotion generell sozial erwünscht oder unerwünscht sei, kaum zu Ergebnissen führte.

4. Die Bedeutung der Emotionen

Emotionen der positiven Fremdbewertung und -sanktionierung In diesem Abschnitt beziehe ich mich auf solche Emotionen, die auf einer positiven Evaluation eines sozialen Partners beruhen und damit dessen Verhalten und Han‑ deln oder seine übergeordnete soziale Position bekräftigen. In den Interviews mit meinen Gesprächspartnern aus Menamaty konnte ich vier Konzepte identifizieren, die dieser Form entsprechen: magnasy, magnaja, magnambony und magnandratsy. Das Präfix magna‑ bedeutet ›machen‹, ›verursachen‹ und deutet bereits darauf hin, dass sich diese Konzepte in erster Linie auf die Verhaltensebene beziehen und nicht notwendig Körperempfindungen einschließen. Auch die Narrative zu magnasy und magnaja, die keine Bedeutungsdifferenzierung zwischen ihnen zulassen, beinhalten durchweg Beschreibungen von Verhaltensweisen und beziehen sich in keinem Fall auf den Bauch oder das Herz als Empfindungsorgane: Magnaja bedeutet, sich bei Älteren zu entschuldigen, wenn man an ihnen vorbeigehen muss, wenn man etwas holt, was sich oberhalb von ihnen befindet oder, dass man beide Hände ausstreckt, wenn man etwas von ihnen entgegennimmt. (Maragnitsy, m 30) Es findet eine Versammlung der alten Männer meines tariky statt. Nun benötige ich dringend einen Gegenstand aus dem Versammlungsraum, doch ich wage es nicht (tsy mahasaky), einzutreten. Ich frage eine andere Person, ob sie mir die Sache holen könne. Doch die Älteren hören meine Frage und fordern mich auf, einzutreten. Dabei laufe ich gebückt und langsam an den Älteren vorbei und entschuldige mich. Damit mache ich magnasy gegenüber den Älteren. (Manatsoa, m 25)

Diese und andere beschriebenen Verhaltensweisen entsprechen exakt den im 3. Ka‑ pitel beschriebenen Regeln der Körperperformanz in hierarchischen Relationen. Andere Beispiele deuten darauf hin, dass magnaja oder magnasy auch in der Folg‑ samkeit gegenüber Älteren oder in einer Opferhandlung zum Ausdruck kommt: Meine Mutter trägt mir auf, Kaffee zu kochen. Weil wir gerade keinen Kaffee in Kelivohitsy haben, laufe ich nach Ranomadio [dreistündiger Fußmarsch], um dort Kaffeebohnen zu kaufen. Damit mache ich magnasy meiner Mutter gegenüber. (Rapesa, w 19) Beim soro (Opferhandlung) macht man magnasy oder magnaja den Ahnen und Gott gegenüber. (Marojaony, m 70)

Magnasy und magnaja werden also vor allem in altersbedingten hierarchischen Be‑ ziehungen innerhalb der Verwandtschaftsgruppe lokalisiert. Insofern diese Aus‑ drucksformen selbst normativ sind und die formalen sozialen Relationen bestäti‑ gen, ist es offenkundig nachrangig, ob sie direkt aus einem Gefühl resultieren oder nicht. Dies macht das Fehlen entsprechender Empfindungstermini verständlich. Mit Röttger-Rössler (2004: 99) könnte man magnasy und magnaja als symbolische Emotionen bezeichnen. Wie bereits erwähnt, gehe ich allerdings davon aus, dass sich die alltägliche Performanz dieser Ausdrucksformen in einer Gefühlshaltung oder einer Art ›Hintergrundgefühl‹ (vgl. Slaby 2011) niederschlagen kann. Dass diesen normativen Ausdrucksformen überhaupt entsprochen wird, führt etwa Ma‑ natsoa in der oben zitierten Erzählung auf eine weitere Emotion zurück: Er wagt

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es nicht (tsy mahasaky), zu der Versammlung hinzuzutreten. Diese zur tahotsy-Fa‑ milie zu rechnende Emotion werde ich weiter unten näher darstellen. Im weitesten Sinne können magnasy und magnaja als Formen des normativen Respektverhal‑ tens gegenüber Älteren, sozial höheren Personen umschrieben werden. Die Termini magnambony und magnandratsy haben die wörtliche Bedeutung, etwas hochzuheben bzw. zu erhöhen. Bezogen auf ein soziales Verhältnis können sie auch den Akt bezeichnen, eine Person in ihrer sozialen Position zu erhöhen. Jedoch machen die Erläuterungen der Gesprächspartner klar, dass ein solcher Akt aktuell nur in einer besonderen Situation vorkommt: Wenn jemand die Ausbildung zum ombiasa (Wahrsager und Heiler) zu Ende gebracht hat, wird ein bilo (Besessenheitsritual) für ihn veranstaltet, um ihn zu einem ombiasa zu machen. Das Ende der Zeremonie besteht darin, dass der ombiasa auf einem Stuhl oder auf dem Dach tanzt. Diese Schlusszeremonie bezeichnet man als magnandratsy. (Safy, w 35)

Dass eine solche Ehrung offenbar nur einem ombiasa zuteil werden kann, ergibt sich aus der sozialen Strukturierung: Innerhalb der Lineage ist die soziale Hierar‑ chie durch die Geburtenfolge und das Geschlecht festgelegt, d.h., ein Akt der Er‑ höhung der Älteren ist hier nicht erforderlich. Intersegmentäre Beziehungen sind durch ein egalitäres Ethos geprägt, womit eine Erhöhung des anderen problema‑ tisch wäre. In den Interviews zu diesen beiden Konzepten zeigte sich auch, dass die meisten Gesprächspartner ihr lediglich eine räumliche, nicht aber eine soziale Bedeutung unterlegten.6 Zu bemerken ist auch, dass die Narrative zu diesen vier Konzepten in keinem Fall ein Ausdrucksverhalten gegenüber jüngeren Personen beschreiben. Auch konn‑ te ich keine anderen Konzepte identifizieren oder Formen emotionalen Ausdrucks‑ verhalten beobachten, die wünschenswerte Verhaltensweisen oder Leistungen jün‑ gerer Personen positiv hervorheben und somit bekräftigten.7 Allerdings ist die Gabe von Nahrung oder Segen an die Jüngeren als legitimer Ausdruck der Wertschätzung anzusehen. Im Unterschied zum direkten emotionalen oder verbalen Ausdruck der Wertschätzung signalisiert dies aber weniger eine soziale Erhöhung als vielmehr ein asymmetrisches Geber-Empfänger-Verhältnis. Die schon beschriebene Geste des mifaly, eine Art Verbeugung als Antwort auf eine Segnung, verdeutlicht dies. Für die egalitären Beziehungen sind diese vier Konzepte ebenfalls nicht von Re‑ levanz. Allerdings können befreundete Personen mittels der oben beschriebenen Freude-Emotionen ( faly) gegenseitige Wertschätzung und Zuneigung (tia) zum Ausdruck bringen. Eine Gabe oder Unterstützung durch einen Freund kann den Empfänger zudem zu mankasitraky (≈ Dankbarkeit) veranlassen:

6 | Denkbar ist, dass diese Konzepte in vorkolonialen Zeiten, als die Gesellschaft der Bara noch durch eine gewisse Stratifizierung geprägt war, eine Beförderung oder Inauguration bezeichnen konnten. 7 | Im Gegensatz dazu sind lobende, bewundernde oder explizit wertschätzende Ausdrucksformen gegenüber Jüngeren oder Personen in einer untergeordneten sozialen Position, z.B. Schülern oder Angestellten, in westlichen Kontexten sozial erwünscht und werden von Pädagogen propagiert (vgl. Orth & Fritz 2013: 139-153).

4. Die Bedeutung der Emotionen Wenn ich ein Geschenk von einer Freundin bekomme, werde ich mankasitraky. Mein Herz ist dann klar (mazava gny foko), ich bin glücklich (ravoravo) und schlachte dann vielleicht ein Huhn, um es mit der Freundin zu essen. (Nareny, w 35) Wenn ich einen Freund darum bitte, mir beim Anlegen eines Reisfeldes zu helfen und er damit einverstanden ist, werde ich mankasitraky. Vielleicht schenke ich ihm danach ein Rind. (Manatsoa, m 25)

Bemerkenswert ist, dass diese der Dankbarkeit vergleichbare Emotion von meinen Gesprächspartnern nicht in hierarchischen Beziehungen verortet wurde, obwohl ja gerade diese Beziehungen durch ein Austauschverhältnis geprägt waren. Ein mög‑ licher Erklärungsansatz hierfür besteht darin, dass Unterordnung und Folgsam‑ keit als Antwort auf die lebensnotwendigen Gaben der Älteren nicht auf Freiwillig‑ keit beruht, sondern einen verpflichtenden Charakter hat und unmittelbar durch das mifaly (Verbeugung) erwidert wird. Im Hinblick auf Liebesbeziehungen machen insbesondere die bereits vorge‑ stellten Konzepte der loza fitiavan-draha, der ›unheilvollen Liebe‹, deutlich, dass eine einseitig positive Bewertung des Partners in einem gewissen Spannungsver‑ hältnis zum egalitären Ethos steht. Die entsprechenden Narrative zeugen zwar von einem einseitigen ›Anhimmeln‹ des Partners, zugleich betonen sie aber die negativen Konsequenzen dieses Verhaltens, besonders indem Liebeszauber dafür verantwortlich gemacht wird. Im Umgang mit nichtverwandten Personen rückt das Missfallen an sozialer Ungleichheit am deutlichsten in den Vordergrund, was Emotionen positiver Fremdbewertung problematisch werden lässt.

Emotionen der positiven Selbstbewertung und ‑sanktionierung Im Folgenden werden solche Emotionen betrachtet, die das Selbst bzw. eine sei‑ ner Eigen­schaften positiv bewerten und damit zugleich Ansporn sein können, aus der Gruppe von Referenzpersonen hervorzutreten. Die Erhebung des Emotions­ vokabulars mit den Menschen aus Menamaty brachte folgende Konzepte in diesem Sinn zum Vorschein, die bereits weiter oben erwähnt wurden: mirehareha, be-fo, sevotsy, mibohaboha, mitregna, mirengirengy, matsamatsa, miangatsy und miavognavo. Unter diesen Konzepten bildet rehareha (mirehareha als Adjektiv) offenbar ein Schlüsselkonzept und die Narrative hierzu zeigen, dass es im Unterschied zu den anderen mit Körperempfindungen verknüpft wird. Eindeutig beruht rehareha auf einer positiven Selbstbewertung und auf dem Bedürfnis, diese gegenüber anderen zum Ausdruck zu bringen: Ich habe mir ein neues, sehr schönes und modernes Gewehr gekauft. Wenn ich ins Dorf heimkehre, wünsche ich mir, dass mich alle Freunde (nama) mit dem Gewehr sehen. Ich bin also mirehareha. (Fresa, m 18) Wenn jemand bei einem bilo (Besessenheitsritual) seiner Schwiegermutter mit seinem Gewehr in die Luft schießt, um zu zeigen, dass er ein Gewehr besitzt, dann tut er dies aufgrund von rehareha. (Kamaka, m 60)

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen Ich war mirehareha, als ich mir auf dem Markt von Iloto ein neues Kleidungsstück kaufte und mich darin dann meinen Freundinnen zeigte. (Tararay, w 20) Merasoa [ältere Schwester der Erzählerin] bewohnt jetzt ein neues Haus in Ranomadio. Weil sie nun geschieden ist, richtet sie ihr Haus besonders schön her und zeigt gerne ihren Freundinnen, was sich darin befindet. Sie ist mirehareha. (Katsavo, w 18) Als mir Merasoa [Tante der Erzählerin] ein neues Kleidungsstück kaufte, war ich mirehareha. Ich zeigte es Vizy [gleichaltrige Cousine der Erzählerin] und sagte zu ihr: »Du hast nicht so ein schönes Kleidungsstück.« (Vana, w 8) Nachdem ich einmal als Kind Zucker für meine Großmutter gekauft hatte, bekam ich etwas davon auf die Hand. Ich war mirehareha und zeigte es meinen Freunden, gab ihnen aber nichts davon. Ich sagte zu ihnen: »Geht doch auch Zucker für eure Eltern kaufen.« (Tovonely, m 18)

Die geschilderten Anlässe für rehareha unterscheiden sich zumindest bei Erwach‑ senen deutlich nach Geschlecht. Männer nannten am häufigsten den Besitz oder Erwerb vieler Rinder, eines Gewehres oder eine gute Reisernte. Darüber hinaus beschrieben junge Männer häufig eine Liebesnacht mit einer allseits begehrten Frau als Anlass für rehareha. Diese Anlässe stellten Männer zudem häufig in den Kontext ihrer individuellen Stärke oder Durchsetzungsfähigkeit. Frauen nannten häufig Anlässe wie besonders schöne, neue Kleidung, einen Koffer, Geschirr sowie anderen Hausrat oder ein besonders hohes tangy (Liebespreis). Zumindest bei den jüngeren Frauen bezieht sich rehareha indirekt zumeist auch auf ihren Erfolg beim anderen Geschlecht, da sie die genannten Gegenstände in der Regel durch die er‑ haltenen tangy finanzierten. Kinder beschrieben vor allem Dinge wie Kleidungs‑ stücke oder Süßigkeiten als Anlass. Obwohl sie diese von den Älteren erhielten, situierten sie rehareha stets in der Interaktion mit anderen Kindern. Auch spezielle Erfolge, etwa beim spielerischen Zweikampf (kimitolo), beschrieben Kinder beider‑ lei Geschlechts wiederholt als Anlässe für rehareha. Die Körperempfindung von rehareha wurde stets im Herzen lokalisiert. Zur Beschreibung der Empfindungsseite verwiesen meine Gesprächspartner auf den Ausdruck be fo (wörtlich: großes Herz), den sie zugleich mit faly (≈ freudig) in Ver‑ bindung brachten: Zum Beispiel gibt es etwas, das ich begehre, eine schöne Frau. Wenn ich sie erobert habe, wird mein Herz glücklich (ravo) und groß (be). Oder jemand gibt mir ein Rind für meine Arbeit oder eine große Geldsumme, dann wird mein Herz sehr klar (mazava be gny foko), und ich komme mir groß vor. Mein Herz ist in diesem Moment sehr groß (tena be gny foko). (Rihira, m 20)

Das zu rehareha beschriebene Ausdrucksverhalten bzw. die entsprechenden Hand‑ lungstendenzen bestehen stets darin, sich oder den Anlass für rehareha den Ande‑ ren zu präsentieren, darüber zu sprechen oder für Freunde ein Fest zu veranstal‑ ten. Insgesamt lässt sich rehareha annäherungsweise mit ›Stolz‹ übersetzen. Was die Anlässe und das Ausdrucksverhalten betrifft, entsprechen die Konzep‑ te mibohaboha, mirengirengy, sevotsy und mitregna weitgehend rehareha. Im Unter‑ schied zu rehareha dienen sie aber in erster Linie zur Fremdbeschreibung und ha‑ ben zudem eindeutig eine negative Konnotation:

4. Die Bedeutung der Emotionen Ein Mann aus Maroboly, der besonders mibohaboha war, schlief mit der Freundin eines anderen Mannes, weil er ihr viel Geld bot. Irgendwann wartete ihr eigentlicher Freund vor dem Haus, in dem sich die beiden befanden und warf dem Mann, als er herauskam, einen Stein an den Kopf. Das hat sich vor kurzem ereignet. (Tsara, w 35)

Wie die schauspielerischen Darstellungen dieser Konzepte zeigten, werden sie mit dem Ausdrucksverhalten eines federnden Gangs mit gespreizten, schwingenden Armen oder eines breitbeinigen Stehens mit in die Hüfte gestemmten Armen as‑ soziiert. Bemerkenswert ist, dass auch die Art und Weise, wie sich Frauen, Män‑ ner und Kinder auf Fotografien darstellen, diesem Ausdrucksverhalten entspricht. Die meisten Menschen aus Menamaty hatten bei einem durch die Region ziehen‑ den Auftragsfotografen Selbstporträts erstanden, die sie an ihren Zimmerwänden präsentierten. Diese Selbstbildnisse zeigten (und meine eigenen Erfahrungen als ›Dorffotograf‹ bestätigten)8 folgende Formen der Selbstdarstellung: Männer prä‑ sentierten sich gerne mit Rindern, Waffen oder Bierflaschen, Frauen in besonders schöner Kleidung und mit Geldscheinen oder einem Koffer in der Hand. Beide Ge‑ schlechter legten Wert darauf, mit ganzem Körper und vor allem in stehender, ge‑ rader Haltung, mit gespreizten Beinen und Armen sowie mit einem ernsten Blick abgebildet zu werden. Mit Vorliebe ließen sich die meisten einzeln oder mit einem Freund bzw. einer Freundin fotografieren.9 Auch gezeichnete Selbstporträts, die Kinder auf meine Bitte hin anfertigten, entsprachen größtenteils diesen Formen der Selbstpräsentation (s. Abb. 8). Nun scheinen diese präferierten Formen der Selbstdarstellung zwar in einem Widerspruch zur negativen Konnotation von Konzepten wie mibohaboha zu ste‑ hen. Beachtet man allerdings die jeweiligen sozialen Kontexte, so lässt sich dieser Widerspruch auflösen. Zunächst ist zu bemerken, dass meine Gesprächspartner Konzepte wie mirehareha oder mibohaboha ausschließlich in egalitären Beziehun‑ gen verorteten. Zumindest in der Selbstbeschreibung stellten die Erzähler rehareha gegenüber Gleichaltrigen als vollkommen legitim dar. Ob die Adressaten des ent‑ sprechenden Ausdrucksverhaltens dies ebenfalls für legitim erachten, hängt aller‑ dings davon ab, in welcher Relation sie zum Emotionssubjekt stehen: Der Sohn eines Reichen, der in einen Laden geht und für alle Freunde (nama) viele Getränke kauft, ist mirehareha. Er spricht gerne über seine Rinder, zeigt seine Reis- oder Maniokfelder. Dies veranlasst seine Feinde (arahamba), seine Rinder zu stehlen oder einen Schadenszauber (voriky) zu machen, der das Reiswachstum verhindert. (Tovonely, m 18)

Für Freunde ist eine solche rehareha-Performanz, die die Verteilung von Gütern beinhaltet und damit zugleich Großzügigkeit zum Ausdruck bringt, durchaus ak‑ zeptabel. Nicht befreundete Peers hingegen tendieren dazu, ein solches Verhalten 8 | Das Aufnehmen von Porträts war neben medizinischer Versorgung die am häufigsten an mich gerichtete Bitte. Insbesondere bei Besuchen in einem der Nachbardörfer wurde ich in den ersten Tagen von den Bewohnern fortwährend gebeten, sie zu fotografieren. 9 | Diese Form der Selbstdarstellung auf Fotografien steht in einem deutlichen Kontrast zu derjenigen bei den Minangkabau, Sumatra, wie sie von Susanne Jung dokumentiert wurden (persönliche Mitteilung). Die abgebildeten Personen präsentieren sich dort eher in Gruppen, häufig mit leicht zur Seite geneigten Kopf, entspannter Körperhaltung oder mit einem Lächeln.

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als mibohaboha oder sevotsy, d.h. als eine ungerechtfertigte Prahlerei und Über‑ heblichkeit, zu bewerten und gegen die Person vorzugehen. Die Bewertung von Stolz und entsprechenden Ausdrucksformen durch egalitäre Partner hängt also davon ab, ob sie in einem freundschaftlichen oder feindseligen Verhältnis zum Emotionssubjekt stehen. Aus der Perspektive des Emotionssubjekts bieten sich egalitäre Beziehungen jedoch prinzipiell als legitimer Kontext für den Ausdruck von Stolz-Emotionen an. Abbildung 8: Selbstdarstellungen von Traka (w 28), Fresa (m 18) und Nestor (m 9) auf Erinnerungsfotos, sowie von Serliny (w 11) in einem von ihr gezeichneten Selbstporträt. Die breitbeinige Pose mit in die Hüfte gestemmten Armen entspricht dem Ausdruck von rehareha (≈ Stolz).

4. Die Bedeutung der Emotionen

Dass derartige Emotionen oder Ausdrucksformen im Kontext hierarchisch-interde‑ pendenter Beziehungen hingegen als grundsätzlich unangebracht angesehen wer‑ den, zeigen die Narrative zu miangatsy und miavognavo, die ebenfalls Ausdrucks‑ formen des Stolzes bezeichnen: Ich bitte meinen jüngeren Bruder darum, etwas zu erledigen, doch dieser weigert sich und sagt: »Warum soll gerade ich das tun?« Ich werfe ihm also vor, dass er miangatsy sei. (Ndrenome, m 22) Mein Vater ruft mich zu sich, ich höre es auch, aber reagiere nicht darauf. Später treffe ich meinen Vater und dieser stellt mich zur Rede. Ich sage, dass ich seinen Ruf schon gehört hätte aber gerade etwas anderes tun wollte. Deshalb sagt er zu mir: »Du bist miangatsy«. (Lida, m 17) Wenn ich an älteren Menschen vorbeilaufe und mich nicht entschuldige, denken diese, ich sei miavognavo. (Gneva, w 25)

Diese und andere Beispiele legen nahe, dass bereits eine Missachtung der gegen‑ über Älteren gebotenen respektvollen Unterordnung oder Ungehorsam ihnen gegenüber als eine Art der Überheblichkeit angesehen und strikt verurteilt wird. Als Synonym für miangatsy nannten meine Gesprächspartner auch die Konzepte tsy magnaja und tsy magnasy (≈ Respektlosigkeit), was deutlich macht, dass miangatsy und miavognavo Antonyme für magnasy und magnaja darstellen, die, wie ge‑ zeigt, ein erwünschtes Ausdrucksverhalten bezeichnen.

Emotionen der negativen Fremdbewertung und ‑sanktionierung In diesem Abschnitt setze ich mich mit solchen Emotionen auseinander, die eine negative Bewertung einer anderen Person mit sich bringen und/oder zur negati‑ ven Sanktionierung eines Interaktionspartners führen. Meine anfängliche Wörter‑ buchrecherche zum Emotionsvokabular im Standard-Malagasy brachte zunächst eine Reihe von Konzepten wie vingavinga, maneso, tebaka, manamavo oder tsinontsinona hervor, die mit mépris, contempt oder ›Verachtung‹ bzw. ›Geringschätzung‹ übersetzt werden. Dieses ›Verachtungs‹-Vokabular war meinen Interviewpartnern aus Menamaty allerdings nicht bekannt. Stattdessen konnte ich eine Reihe ähn‑ licher Konzepte identifizieren, die sich allerdings eher auf ein Verhalten beziehen: Magnambany: Ich gehe zum ombiasa und frage ihn nach einem Mittel (aody), das die anderen Mädchen unattraktiv macht, so dass ich von den Männern am stärksten begehrt werde. (Bernadine, w 19) Manindritindry: Wenn ich [meinem Freund] Fresa die Gitarre aus der Hand reiße und dabei sage, dass er nicht spielen könne, mache ich manindritindry. Fresa sagt dann zwar nichts, aber er ist wütend im Bauch (maseky amin’ny troky). (Resa, m 19) Magnetaky: Wenn ich mich mit jemandem schlagen will, um mich mit ihm zu messen, sage ich ihm, er solle seinen Kot fressen (hany tainao). Damit mache ich das magnetaky, bis er wütend (maseky) wird und mit mir kämpfen möchte. (Tombohary, m 17)

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen Magnaboka: Ich machte magnaboka, als ich während eines savatsy (Beschneidungsritual) eine Frau meines Alters sah, die sehr gut tanzen konnte und mibohaboha war. In meinem Bauch war ich deshalb verdrießlich (botsy). Ich sagte daraufhin zu den anderen Frauen, dass diese Frau nicht gut tanzen könne und überhaupt viel zu alt dafür sei. (Rapaly, w 50)

Diese und andere Narrative legen nahe, dass magnambany, manindritindry, magnetaky und magnaboka Handlungen und Verhaltensweisen des Herabsetzens, Ernied‑ rigens oder Beleidigens betreffen. Die drei ersten Termini bedeuten denn auch wörtlich ›nach unten machen‹ (magnambany), ›niedrig machen‹ (magnetaky) und ›herunterdrücken‹ (manindritindry); magnaboka lässt sich in etwa mit ›Schlechtma‑ chen‹ übersetzen. Die Narrative beziehen sich stets auf gleichgeschlechtliche Per‑ sonen aus derselben Altersgruppe und betreffen somit egalitäre Relationen. Bemer‑ kenswert erscheint, dass mit den bezeichneten Verhaltensweisen das Gegenüber häufig in einer offensiven Weise herabgewürdigt wird, was seky (≈ Wut) oder lolompo (≈ Groll) und damit eine ebenso offensive Gegenreaktion provozieren kann. Damit setzen sich diese Konzepte recht deutlich von solchen der ›Verachtung‹ oder ›Geringschätzung‹ bzw. von comtempt ab, da letztere wohl eher mit kogniti‑ ven Prozessen des Ignorierens, Missachtens oder Herabblickens einhergehen und letztlich zu verschiedenen Formen der sozio-kognitiven Ausgrenzung führen (vgl. Haidt 2003: 858). Auch im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung konnte ich kein der Verachtung entsprechendes Verhalten wahrnehmen. Unter den Einwoh‑ nern von Ranomadio wurde nach meiner Erfahrung niemand in demonstrativer Weise gemieden und damit sozial ausgegrenzt.10 In der Forschung wird Ekel, Abscheu bzw. sozio-moral disgust (vgl. Rozin et al. 1999) häufig in Verbindung mit Verachtung gebracht, weshalb ich auch Konzepte wie marikoriko, mangaroharo und malikiliky erfragte, die mit Ekel oder Abscheu vergleichbar sind. Die Beispiele zu diesen Konzepten bezogen sich allesamt auf den Anblick bzw. Geruch von oder auf den Kontakt mit bestimmten Substanzen wie Schmutz, Schlamm, Kot, tierischen Kadavern, verdorbenem Essen, sauren Speisen, eitrigen oder blutenden Wunden oder bestimmten Tieren wie Raupen, Schlangen oder Aalen. Die beschriebenen Handlungstendenzen bestanden darin, sich von diesen Dingen abzuwenden, zu entfernen oder sie von vornherein zu mei‑ den. Von den über 40 beschriebenen Anlässen zu diesen Emotionen bezogen sich allerdings keine auf sozio-moralische Kontexte. Auch meine gezielten Nachfragen, ob man auf bestimmte Menschen, die sich moralisch verwerflich verhalten, mit marikoriko, mangaroharo oder malikiliky reagieren würde, beantworteten meine Ge‑ sprächspartner einhellig negativ. Immerhin wurden die Emotionen etsaky und keo, die einige Gesprächspartner mit den genannten Ekel-Emotionen assoziierten, auch 10 | Der Umstand, dass ich kein der Verachtung entsprechendes Konzept identifizieren konnte, belegt freilich nicht dessen Inexistenz. Ich könnte es schlicht übersehen haben. Dass mir solche Konzepte trotz beharrlicher Suche nicht aufgefallen sind, kann aber zumindest als Hinweis gelten, dass sie kulturell nicht akzentuiert werden und allenfalls in hypokognisierter (Levy 1973) Form eine Rolle spielen. Da die offizielle madagassische Sprache, die an den Dialekt der deutlich stratifizierten Merina-Gesellschaft angelehnt ist, über ein reichhaltiges Verachtungs-Vokabular verfügt, liegt die Vermutung nahe, dass solche Emotionen mit sozialer Stratifizierung an Bedeutung gewinnen und dem egalitären Ethos in der Forschungsregion eher zuwiderlaufen.

4. Die Bedeutung der Emotionen

auf soziale Kontexte bezogen. Etsaky und keo konnten sowohl durch einen übermä‑ ßigen Genuss einer Speise veranlasst als auch gegenüber einem Liebes‑ oder Ehe‑ partner empfunden werden und lassen sich in etwa mit ›Überdruss‹ übersetzen. Sanktionsformen der sozialen Ausgrenzung, Meidung oder Distanzierung und entsprechende mit Verachtung, Geringschätzung oder moralischem Ekel ver‑ gleichbare Emotionen spielen in den sozialen Interaktionen der Menschen aus Me‑ namaty meinen Erhebungen zufolge keine zentrale Rolle. Meine wiederholt gestell‑ te Frage, ob man bestimmte Personen prinzipiell als weniger wertvoll betrachten könne, beantworteten meine Gesprächspartner immer wieder mit dem Hinweis, dass alle Menschen gleich seien (mitovy gn’olo aby). Das damit angesprochene ega‑ litäre Ethos scheint vielmehr ein offensives Vorgehen gegen Personen zu verlangen, die sich mibohaboha oder sevotsy verhalten und damit dieses Ethos durch ein SichHervorheben aus der Gruppe der Gleichaltrigen verletzten. In hierarchischen Be‑ ziehungen innerhalb der tariky ist die Zugehörigkeit per Abstammung und die soziale Position per Alter und Geschlecht festgelegt, weshalb hier Emotionen der sozialen Ausgrenzung oder Herabsetzung kaum von Bedeutung sind. Aufgrund meiner teilnehmenden Beobachtung und auf der Basis alltäglicher Diskurse sowie verschiedener Interviews vertrete ich die These, dass in der For‑ schungsregion verschiedene Formen von seky (≈ Wut) eine herausragende Rolle als Emotionen der negativen Bewertung und Sanktionierung von Interaktionspartnern spielen. Dies entspricht der mehrfach beschriebenen Tendenz, auf unerwünschtes Verhalten weniger durch soziale Ausgrenzung, sondern vielmehr in einer offensi‑ ven Weise zu reagieren. Aufgrund ihrer zentralen sozio-moralischen Bedeutung werde ich die seky-Emotionen weiter unten ausführlich darstellen; an dieser Stelle genügt eine knappe Charakterisierung: Die seky-Familie lässt sich in drei Subgrup‑ pen untergliedern. Die seky-Emotionen maimay, may fo, lolom-po, magnapoko, kakay und kinia, die bereits im Unterkapitel zu den egalitären Beziehungen (Kapitel 4) eingeführt wurden, lassen sich als Vergeltungsemotionen zusammenfassen. Eine Reihe weiterer seky-Emotionen (z.B. mimotso und maloto troky) zeichnet sich durch ein stark zurückgenommenes Ausdrucksverhalten sowie durch ausgeprägte Kör‑ perempfindungen aus. Diese Emotionen beziehen sich innerhalb hierarchischer Beziehungen auf statushöhere Personen. Zur Gruppe der Sanktionsemotionen las‑ sen sich heloky, sosotsy und mivoto tenda zusammenfassen, die eine zentrale Rolle in hierarchischen Beziehungen spielen und auf statusniedere Personen gerichtet sind. Die Emotionen dieser Gruppe sind, wie sich noch zeigen wird, von heraus‑ ragender moralischer Relevanz.

Emotionen der negativen Selbstbewertung und ‑sanktionierung Negativ-selbstbewertenden und ‑sanktionierenden Emotionen wie Scham- und Schuldgefühle wurden, wie im 1. Kapitel dargelegt, in der kulturanthropologi‑ schen und kulturpsychologischen Forschung lange Zeit primär als moralische Emotionen thematisiert. Auch in der Forschungsregion ist mit hegnatsy (megnatsy als Adjektiv) ein Wort gebräuchlich, das eindeutig eine negativ-selbstbewertende Emotion bezeichnet. Überdies existieren mit megna-maso und saro-kegnatsy Spezi‑ fikationen von hegnatsy. Zur Beschreibung des Ansehensverlusts einer Person in den Augen Dritter dienen die Wörter afa-baraky und salatsy, die mit der ›Blamage‹ und ›Peinlichkeit‹ vergleichbar sind. Aufgrund der zentralen Bedeutung, welche

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die Forschung den negativ-selbstbewertenden Emotionen für die normkonforme Verhaltensregulation in verschiedenen kulturellen Kontexten beigemessen hat, sol‑ len die entsprechenden Konzepte des Bara-Dialekts eingehend dargestellt werden. Den 36 Narrativen zu hegnatsy zufolge basiert diese Emotion auf folgender Grundsituation: Eine Person befindet sich in Gegenwart mehrerer Menschen und nimmt wahr oder stellt sich vor, dass ihr Handeln, Verhalten oder eine ihrer Eigen‑ schaften von diesen Menschen negativ bewertet wird. Insofern lässt sich hegnatsy mit dem Schamgefühl vergleichen. Der Gegenstand der Bewertung bezieht sich in der Mehrzahl der Beispiele auf körperliche Aspekte des Emotionssubjekts. Sowohl Frauen als auch Männer beschrieben mehrheitlich verschiedene Formen man‑ gelnder Körperbeherrschung oder eine ungünstige Körpererscheinung als Anlass für hegnatsy. Was die misslungene Körperbeherrschung betrifft, so wurde ein ver‑ sehentliches Hinfallen am häufigsten thematisiert: Auf dem famadihana (Bestattungsritual) meiner Mutter Tsimifaly wurde ich von den Anderen gerufen, mit ihnen den Sarg zu begleiten, da ich sehr gut singen kann. Da die Anderen schon unterwegs waren, rannte ich hinterher. Dabei fiel ich hin, so dass es alle sehen konnten. Ich war so megnatsy, dass ich glaubte, es bis zu meinem Tod nicht mehr vergessen zu können. Ich ging deshalb sogar zum ombiasa, und dieser fand heraus, dass ich wegen eines Schadenszaubers (voriky) gestolpert sei. Er heilte mich von hegnatsy und seitdem bin ich nie wieder hingefallen. (Traka, w 28)

Auch mangelnde Beherrschung körperlicher Bedürfnisse beschrieben meine Ge‑ sprächspartner wiederholt als Anlass für hegnatsy: Alle Bewohner von Kelivohitsy arbeiten auf dem Reisfeld. Doch einer begibt sich heimlich in das Dorf und macht sich dort über das für den Feierabend bereitstehende Essen her. Die anderen kommen früher als erwartet ins Dorf zurück, entdecken ihn beim Essen und machen ihn damit megnatsy. (Rejefaky, m 45)

Die ungünstige Körpererscheinung als Anlass für hegnatsy betrifft am häufigsten versehentliches Entblähen – was zugleich auch mangelnde Körperbeherrschung bedeutet –, die Entblößung der Geschlechtsorgane, vor allem gegenüber dem ande‑ ren Geschlecht, oder ein als unattraktiv eingeschätztes Äußeres bei jungen Frauen: Julvin war z.B. megnatsy, als er während des Rinderringens (mitolo aomby)11 seine Hose verlor und viele Reis pflanzenden Frauen zusahen. Seitdem hat er nicht wieder mit einem Rind gerungen. (Maragnitsy, m 30) Vor einem Jahr bearbeitete ich mit den Rindern das Reisfeld und entledigte mich dabei meiner Kleidung. Die Rinder brachen jedoch aus und ich verfolgte sie ins Dorf, wo mich die Mädchen sahen. (Tsabira, m 14)

11 | Bei diesem von jungen Männer praktizierten Ringen (mitolo) mit Rindern (aomby) klammert sich der Wagemutige an der Schulter eines Rindes möglichst lange fest, während das Rind wütet (maseky) und versucht, die Person abzuwerfen.

4. Die Bedeutung der Emotionen Ich war megnatsy gegenüber den jungen Männern (kolonga lehilahy), als hier letztens ein bilo (Besessenheitsritual) stattfand und ich keine schönen Kleider hatte. Aus hegnatsy nahm ich nicht an der Feier teil. (Pelamety, w 16) Regna [Jugendliche aus Kelivohitsy] war vor kurzem krank und glaubt nun, dass sie mager geworden sei. Nun ist sie megnatsy, sich hier in Ranomadio den anderen Jungen und Mädchen zu zeigen. (Rapesa, w 19, Cousine von Regna)

Auch die Erläuterungen zu den Wörtern afa-baraky und salatsy, die weniger die Gefühlsseite von Scham als vielmehr den damit einhergehenden Ansehensverlust bezeichnen, beziehen sich bis auf wenige Ausnahmen auf einen Verlust der Kör‑ perkontrolle oder eine versehentliche Körperentblößung: Nach einem bilo schlafe ich gemeinsam mit vielen jungen Männern und Frauen in einer Hütte. Als ich am nächsten Morgen ernüchtert aufwache, bemerke ich, dass ich mir in der Nacht in die Hose gemacht habe. Ich bin nun afa-baraky und renne davon. (Manatsoa, m 25) Mbasay fürchtet sich (matahotsy) vor Raupen. Nun bewirft sie jemand aus Spaß mit einer Raupe. Bei dem Versuch, die Raupe abzuwehren, verrutscht ihr Kleid. Sie bemerkt dies erst nach einer Weile, weil sie sich zuerst vor dem Tier fürchtet (matahotsy). Dann ist sie salatsy. (Sinaotsy, m 50)

Die prominente Thematisierung missglückter Körperbeherrschung oder ver‑ sehentlicher Entblößung als Anlass für hegnatsy lässt sich auf die im 3. Kapitel ausgeführte Verschränkung der sozialen Position mit einer spezifischen Körperund Raumsymbolik beziehen. Insbesondere das Hinfallen, der körperliche Kontakt mit der Erde, Selbstbeschmutzung oder das Entblößen von Ausscheidungs- bzw. Geschlechtsorganen bedeuten vor dem Hintergrund dieser Symbolik einen An‑ sehensverlust. Darüber hinaus stellen eine gute Körperbeherrschung, die sowohl im Umgang mit Rindern als auch bei der Durchsetzung gegenüber arahamba von herausragender Bedeutung sind, wichtige Werte insbesondere für Männer dar. Da‑ mit stehen hegnatsy sowie die damit assoziierten Konzepte offenbar in einer engen Verbindung mit der Performanz körperlicher Souveränität und Stärke. Sofern meine Gesprächspartner die Identität der Referenzpersonen konkreti‑ sierten, handelte es sich stets um Menschen aus derselben Altersgruppe. Keines der Beispiele deutet darauf hin, dass Personen auch gegenüber Eltern, Großeltern, Onkeln und Tanten oder ihren Kindern megnatsy empfinden können. Somit lässt sich diese Emotion der negativen Selbstbewertung eindeutig den egalitären Bezie‑ hungen zuordnen, was sich auch mit dem hohen Stellenwert körperlicher Souve‑ ränität, Stärke und Attraktivität innerhalb egalitärer Beziehungen deckt. Sowohl gegenüber Befreundeten und Verfeindeten als auch gegenüber Personen des ande‑ ren Geschlechts spielt hegnatsy eine Rolle. Den Narrativen zufolge besteht das Verhalten der von dieser Emotion Betrof‑ fenen meist darin, sich nichts anmerken zu lassen und möglichst schnell den sozialen Kontext, in dem diese Emotion auftritt, zu verlassen. Entsprechend war hegnatsy im Alltag kaum zu beobachten. Eine Ausnahme stellt ein demonstrativ ›schamhaftes‹ Verhalten von Mädchen und jungen Frauen gegenüber begehrens‑ werten Männern dar, das mit dem Wort mihamihamy bezeichnet wird. Es lässt sich

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als ein betont verlegenes, sich zierendes Verhalten beschreiben, das vom Adressa‑ ten als Kompliment gedeutet werden kann. Bemerkenswert ist, dass die Narrative zu den hegnatsy-Emotionen stets harm‑ los erscheinende Missgeschicke als Anlässe beschreiben und in keinem Fall einen nachhaltigen Status‑ oder Gesichtsverlust thematisieren, was mir auch nicht im Laufe der Feldforschung zu Ohren gekommen ist.12 Als maßgeblichen Grund hier‑ für sehe ich die oben beschriebenen egalisierenden Institutionen und Interpreta‑ tionsmöglichkeiten an. Eines der zitierten Beispiele zeigt, dass das Konzept des Schadenszaubers (voriky) die Möglichkeit bietet, selbst für ein Stolpern eine andere Person verantwortlich zu machen und damit das Vertrauen in die eigene Körper‑ beherrschung zurückzugewinnen. Ebenso kann Misserfolg bei der Werbung um Liebespartner oder eine schlechte Reisernte auf Schadenszauber durch Neider zurückgeführt werden. Die verbreitete Praxis des Viehdiebstahls erlaubt es, den Verlust der eigenen Rinder mit den Machenschaften von Viehdieben zu erklären. Die Auseinandersetzung mit erniedrigenden Verhaltensweisen wie manindritindry zeigt, dass Betroffene darauf häufig mit seky (Wut) anstatt mit hegnatsy reagieren. Im 3. Kapitel habe ich zudem die Tendenz aufgezeigt, auf den Erfolg von Rivalen mit maimay (Neid) oder lolom-po (›Vergeltungswut‹) zu reagieren. Aus einer kul‑ turpsychologischen Perspektive ließe sich folgern, dass diese egalisierenden Ins‑ titutionen den Menschen von Menamaty zahlreiche und effektive Möglichkeiten der externalization of blame (vgl. Stuewig et al. 2010) anbieten. Dies erlaubt es, auf Ereignisse, die den eigenen Status nachhaltig bedrohen, mit Emotionen der Wut anstatt mit solchen der Scham zu reagieren. Welchen Stellenwert hat nun hegnatsy als moralische Emotion in den Gemein‑ schaften der Forschungsregion? Eine Reihe von Gründen spricht dafür, dass hegnatsy eher von geringer moralischer Relevanz ist: Mit der sozialen Einbettung in egalitäre Beziehungen betrifft diese Emotion solche sozialen Relationen, die im Vergleich zu den interdependent-hierarchischen weniger durch eine rigide Moral als vielmehr durch ein relativ hohes Maß an Autonomie und durch Werte der indi‑ viduellen physischen Stärke und Egalität geprägt sind. Jemand, der stolpert, beim Rinderringen versagt, beim anderen Geschlecht geringen Erfolg hat oder einen Teil seiner Rinder einbüßt, wird keinesfalls als ratsy fagnahy, als schlechter Cha‑ rakter moralisch verurteilt. Umgekehrt gilt ein mahery loha (ein harter/starker Kopf), der sich gegen seine Peers zu behaupten weiß und damit Ansehen unter ih‑ nen gewinnen kann, weder als ratsy fagnahy noch soa fagnahy (als moralisch guter Mensch). Lediglich ein Bruchteil aller Narrative zu hegnatsy, salatsy, afa-baraky und hegna-maso lässt sich auf moralische Kontexte beziehen: Das Reisfeld eines Mannes wird durch die Rinder eines anderen Mannes beschädigt. Der Besitzer des Reisfeldes wird wütend (maseky) und will den Rinderbesitzer töten. Doch als dieser zu ihm kommt, um sich zu entschuldigen, stellt sich heraus, dass er ein Verwandter ist. Wegen megna-maso hört der Reisfeldbesitzer auf, wütend (maseky) zu sein und besteht nicht mehr auf Vergeltung. (Lida, m 17) 12 | In Erwägung zu ziehen ist auch die Möglichkeit, dass mir meine Gesprächspartner gravierende Fälle schlicht vorenthielten. Allerdings hatten sie auch die Möglichkeit, über andere oder unbestimmte Personen zu erzählen und damit eine negative Selbstdarstellung zu vermeiden.

4. Die Bedeutung der Emotionen Ein Junge möchte um eine schöne Frau werben. Doch er tut es nicht, weil sie die Geliebte eines Freundes und er megnatsy ihm gegenüber ist. (Traka, w 28)

In Beziehungen zwischen befreundeten oder verwandten Personen aus derselben Altersgruppe scheint hegnatsy also immerhin ein prosoziales Verhalten zu begüns‑ tigen. Keines der Narrative bezieht sich jedoch direkt auf die rigide Moral der fady (Tabus), der Respektsregeln ( fiasia) oder des Gehorsams gegenüber Älteren des eigenen tariky. Nur zwei Narrative erscheinen auf den ersten Blick als Grenzfälle: Ich habe etwas im Haus meines Vaters beschädigt und verstecke mich nun aus Furcht (tahotsy) vor dem Zorn (heloky) meines Vaters. Später findet mich mein Vater unter meinen Freunden (nama) und schimpft mit mir vor ihren Augen. Dies macht mich megnatsy meinen Freunden gegenüber. (Resa, m 19) Mein Vater beauftragt mich, Feuerholz zu sammeln, doch ich habe keine Lust darauf und befolge seiner Anweisung nicht. Später werde ich vor den Augen einiger Mädchen von meinem Vater geschlagen (mamofoky) und deshalb bin ich megnatsy diesen Mädchen gegenüber. (Moray, m 14)

Die Erzähler verletzen hier zunächst die moralische Norm, das Eigentum des Va‑ ters zu respektieren bzw. ihm gegenüber folgsam zu sein. Hegnatsy tritt nun aber nicht direkt als Folge des unmoralischen Verhaltens auf, sondern vielmehr durch die väterliche Sanktionierung vor den Augen der Freunde oder potenzieller Freun‑ dinnen. Erst im Rahmen dieser egalitären Kontexte wird die Erziehungsmaßnahme des Vaters zu einem Akt der Erniedrigung, da die Betroffenen vor den Augen der Gleichrangigen in einer Situation der Schwäche erscheinen. Wie ich im 9. Kapitel ausführen werde, legen Eltern eigentlich Wert darauf, ihre Kinder im Haus zu maß‑ regeln, um gerade eine Beschämung (mahamegnatsy) vor den Altersgenossen zu ver‑ meiden. Die Erfahrungsberichte von Kindern zeigen wiederum, dass sie elterliche Sanktionen als solche nicht als Anlass für hegnatsy sehen. In kulturellen Kontexten, in denen Scham-Emotionen wie malu bei den Minang‑ kabau in Indonesien (Röttger-Rössler et al. 2013), lajya in Orissa, Indien (Menon & Shweder 1994) oder hasham bei Beduinen in Libyen (Abu-Lughod 1999 [1986]: 103117) als moralische Emotionen par excellence gelten, wird häufig ein schamhaftes Verhalten gegenüber statushöheren Personen als Ausdruck des Respekts erwartet und geschätzt. Eine solche ›Statusscham‹ konnte ich in den hierarchischen Rela‑ tionen der Menschen aus Menamaty nicht beobachten; auch wurden keine ent‑ sprechenden Beispiele erzählt. Die gebotene körperliche Distanz und emotionale Zurückhaltung in der Interaktion mit Älteren mag zwar eine gewisse Ähnlichkeit mit Schamverhalten haben, sie wurde allerdings in keiner Weise mit hegnatsy in Verbindung gebracht, sondern vielmehr mit fiasia (Respekt) und tahotsy (Furcht).13 13 | Frijda und Mesquita bringen die Statusscham oder social shyness mit sozialer Stratifizierung in Verbindung (1994: 77): »Social shyness appears to be valued positively in societies that value social distinctions, and negatively where social distinctions are frowned upon.« Die sozialen Relationen innerhalb des tariky beruhen zwar auf sozialer Distinktion; da sie altersbedingt sind, haben sie allerdings keinen dauerhaften oder essenziellen Charakter.

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Wie im 1. Kapitel angemerkt, ist ein weiterer Aspekt moralischer Emotionen darin zu sehen, dass sie die Tugendhaftigkeit, die moralische Qualität einer Per‑ son verbürgen. So hängt bei den Minangkabau die moralische Beurteilung einer Person nicht zuletzt davon ab, ob sie über eine gewisse Schambereitschaft verfügt, weil diese als Voraussetzung für ihr moralisches Verhalten angesehen wird (Rött‑ ger-Rössler et al. 2013: 268). In der Forschungsregion finden sich mit silasila und tsy mahalala hegnatsy (wörtlich: keine Scham kennen) sowohl Konzepte zur Beschrei‑ bung von Personen mit einer schwach ausgebildeten Schamsensibilität, als auch solche wie saro-kegnatsy oder olo-kololy für besonders schamhafte bzw. schüchterne Personen. Die Charaktereigenschaften silasila und tsy mahalala hegnatsy wurden nun aber von meinen Gesprächspartnern auch solchen Personen zugeschrieben, die durchaus allgemeine Anerkennung genossen. So etwa galt eine ältere, vollkom‑ men respektierte Frau als silasila, weil sie auf Festen die Versammelten gerne durch ihren individuellen und als komisch empfundenen Tanzstil unterhielt und belus‑ tigte. Umgekehrt wurden andere, ebenso respektable Personen als saro-kegnatsy oder olo-kololy bezeichnet. Ihr entsprechendes Verhalten war dadurch bestimmt, dass sie in Gesellschaft einer Gruppe still blieben, auf andere nicht mit einem An‑ liegen zugingen oder nur schwer wütend (maseky) wurden. Eine Frau, bei der wir für zwei Wochen zu Gast waren, entschuldigte sich für ihre Schweigsamkeit sogar mit dem Hinweis, dass sie eine olo-kololy sei. Auch meine persönliche Erfahrung während der Feldforschung legt nahe, dass weder starke Schüchternheit noch ein überaus ›schamloses‹ Auftreten einer generellen moralischen Verurteilung unter‑ worfen waren. Aufgrund ihrer geringen moralischen Relevanz lassen sich die hegnatsy-Emo‑ tionen präziser mit den deutschsprachigen Konzepten ›etwas peinlich finden‹, ›sich blamieren‹ oder dem englischsprachigen embarrassment als mit ›Scham‹ bzw. shame in einem moralischen Sinn übersetzen.14 Die Suche nach Emotionskonzepten, die mit dem ›Schuldgefühl‹, einem ›schlechten Gewissen‹ oder ›Gewissensbissen‹ vergleichbar sind, erbrachte zu‑ nächst keine Ergebnisse. Deshalb ging ich dazu über, soziale Situationen zu konstruieren und meinen Gesprächspartnern zu präsentieren, die in meinem Herkunftskontext solche Emotionen hervorrufen würden. Meine Frage, wie der ›Bauch‹ oder das ›Herz‹ reagiere, wenn man sämtliche Rinder einer anderen Per‑ son gestohlen habe und diese daraufhin an Armut leide (mijaly), beantworteten meine Gesprächspartner überraschenderweise mit dem Verweis auf faly (≈ freudig) und afa-po (≈ Zufriedenheit). Mit angemesseneren Beispielen stieß ich schließlich jedoch auf die Konzepte negny und bebaky: Bebaky: Ich habe von einem Verwandten ein Reisfeld geliehen und bepflanze es seit mehreren Jahren. Irgendwann kommt der Verwandte und fordert es zurück. Doch da ich mich schon lange daran gewöhnt habe, will ich es nicht hergeben und schimpfe mit ihm. Später werde ich mibebaky und gebe dem Mann z.B. 2.000 Ariary, um mich zu entschuldigen (mifona). (Langa, m 22)

14 | Damit folge ich Haidts These (2003), dass embarrassment auf nonmoral social conventions und shame auf moral norms bezogen sei.

4. Die Bedeutung der Emotionen Bebaky: Während ich Rinder hüte, spiele ich mit den anderen Jungen im Wald und bemerke nicht, dass sie vom Feld eines Nachbarn fressen. Ich fürchte mich (matahotsy) vor dem Nachbarn und gehe dann zu ihm und mache das mibekaky. Ich nehme mir vor, das nächste Mal besser zu hüten. (Kody, m 11) Negny: Wenn ein Vater ein eigenwilliges Kind so sehr schlägt, dass es später stirbt, ist dieser manegny. Er denkt: »Hätte ich es nicht geschlagen, würde es noch leben.« (Maragnitsy, m 30) Negny: Ich habe ein Reisfeld mit zwei Terrassen angelegt, obwohl ich mit etwas mehr Arbeit auch ein einziges Reisfeld daraus hätte machen können. Als der Reis gepflanzt ist, trocknet die höher gelegene Terrasse aus; deshalb bin ich nun manegny. (Magnamora, m 30) Negny: Ich kaufe ein Kleidungsstück und finde dann ein schöneres, deshalb bin ich manegny. (Bernadine, w 19)

Diesen und anderen Erläuterungen zufolge werden negny und bebaky im Unter‑ schied zu hegnatsy durch Handlungen veranlasst, die direkte negative Konsequen‑ zen für einen sozialen Partner oder für das Subjekt selbst zeitigen. Entsprechend resultiert aus diesen Emotionen die Handlungstendenz, die negativen Konsequen‑ zen des eigenen Handelns zu kompensieren oder zukünftig zu vermeiden. Die Prä‑ senz einer bewertenden Referenzgruppe, die für hegnatsy entscheidend ist, spielt in den Beispielen für negny und bebaky keine Rolle. In Übereinstimmung mit ›Bereu‑ en‹ oder ›Bedauern‹ und im Unterschied zu ›Schuldgefühlen‹ oder ›Gewissensbis‑ sen‹ sind negny und bebaky jedoch nicht notwendig auf einen moralischen Kontext bezogen. So beinhalten die beiden zuletzt zitierten Beispiele keinerlei Schädigung einer anderen Person oder Verletzung einer sozialen Norm. Negny und bebaky sind den Narrativen zufolge mehr oder weniger in dieselben sozialen Kontexte eingebettet wie hegnatsy, in egalitäre Beziehungen. Abweichun‑ gen zu hegnatsy bestanden lediglich darin, dass negny und bebaky offenbar nicht gegenüber gänzlich fremden oder unbeteiligten Personen empfunden wird, wie das Beispiel zum Viehdiebstahl nahelegt. Das Narrativ zur fatalen Prügelstrafe zeigt, dass sich negny zwar auch auf hierarchische Sozialrelationen beziehen kann, jedoch nur auf Personen mit niedrigerem Status. Auch wenn negny und bebaky von gewisser moralischer Relevanz zu sein scheinen, schrieben meine Gesprächspart‑ ner diesen Emotionen genauso wie hegnatsy keine bedeutende moralische Rolle zu.

Tahotsy (≈ Furcht) als moralisierte Emotion An der Stelle von hegnatsy oder bebaky hat in den Gemeinschaften von Menamaty die Emotion tahotsy (sowie den verschiedenen Subformen) einen zentralen Stel‑ lenwert als moralische Emotion inne. Zu dieser Einschätzung bin ich aufgrund einer Reihe unterschiedlicher Interviews sowie meiner Erfahrungen und Beob‑ achtungen während der Feldforschung gekommen. Da ich das Datenmaterial zu tahotsy an verschiedenen Stellen noch ausführlich darlegen werde, möchte ich hier lediglich eine knappe Vorschau geben, um meine Einschätzung nachvollziehbar zu machen. Einen ersten Hinweis auf die moralische Bedeutsamkeit von tahotsy bietet die Bara-Ethnografie von Elli (1993): »Die Wörter, die in Bezug auf Ahnen am häu‑

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

figsten wiederkehren, scheinen mir magnaja (respektieren) und matahotsy (etwas fürchten) zu sein.«15 Dass tahotsy hier als eine typische emotionale Haltung gegen‑ über den Ahnen als den Wächtern und Repräsentanten der normativen Ordnung des tariky ist, spricht für die moralische Relevanz dieser Emotion. Wohlgemerkt ist dies die einzige Stelle in Ellis Ethnografie, die überhaupt Emotionskonzepte the‑ matisiert. Das Wörterbuch zum Bara-Dialekt (Elli 1988) bietet als Übersetzung für tahotsy die italienischen Begriffe paura (Furcht, Angst), timore (Furcht, Ehrfurcht) und rispetto reverenziale (ehrfurchtsvoller Respekt) an. Den erhobenen Emotionsnarrativen zufolge unterscheidet sich tahotsy deut‑ lich von hegnatsy. Tahotsy wird nicht durch eine soziale Ausgrenzung oder einen drohenden Statusverlust, sondern durch eine Bedrohung der körperlichen Unver‑ sehrtheit oder gar des Lebens veranlasst. Aus diesem Grund übersetze ich tahotsy annäherungsweise mit Furcht. Auch bestätigen die Narrative Ellis Beobachtung, dass tahotsy häufig auf Ahnengeister (oder andere Autoritätspersonen) gerichtet ist. In diesem Kontext veranlasst tahotsy das Emotionssubjekt dazu, dem Willen der Autoritätspersonen, den fady und den moralischen Normen im Allgemeinen Folge zu leisten. Die Moralisierung von tahotsy wurde im Alltag u.a. durch ein häufig von Älte‑ ren gegenüber Jüngeren zum Ausdruck gebrachtes Gebot deutlich: matahora gny ray aman-dreny – »Fürchte deine Eltern/deine Vorfahren«. Die Bezugnahme auf tahotsy als moralisch gebotene Emotion erfolgte auch in der Form einer Warnung: Ko mahasaky gny ray aman-dreny – »Wage es nicht, dich deinen Eltern/deinen Vorfah‑ ren zu widersetzten«. Mahasaky an-drainy – »es wagen, sich dem Vater zu wider‑ setzen«, war wiederum ein feststehender Ausdruck der moralischen Verurteilung, der sich auch im Wörterbuch von Elli als Beispiel wiederfindet (Elli 1988: 252). Tsy mahasaky, »nicht wagen«, wird in den entsprechenden Narrativen eindeutig als eine Form von tahotsy dargestellt, die sich durch die Antizipation der Konsequen‑ zen eines Normverstoßes auszeichnet. Auch der Begriff des fagnahy ist aufschlussreich. Er steht für eine individuelle moralische Instanz oder soziale Intelligenz, die es Personen erlaubt, ihr Handeln mit dem sozialen Kontext abzustimmen. Eine Person mit starkem oder gutem fagnahy (soa fagnahy) ist folgsam und rücksichtsvoll und damit moralisch gut, jemand mit schlechtem oder schwachem fagnahy (ratsy fagnahy) ist eine unmoralische Per‑ son. Bemerkenswert ist, dass das Wort fagnahy eine Substantivierung des Verbs magnahy darstellt, das eine Emotion der tahotsy-Familie bezeichnet. Wörtlich ließe sich fagnahy also mit ›das Furchtgebietende‹ übersetzen. Einerseits ermöglicht es, sich vor Autoritätspersonen zu fürchten; andererseits bezeichnet es jenen Bestand‑ teil der Person, der aus emischer Perspektive über den Tod hinaus bestehen bleibt, sich in einen fahasivy (Ahnengeist) verwandelt und in dieser Form den lebenden Nachkommen Furcht einflößt. So schlägt Elli in seinem Wörterbuch etwa folgen‑ den Beispielsatz zur Illustrierung von tahotsy vor: Gny fagnahiko hiakatsy agny amin’ny nanao azy ka hazary raha mahatahotsy gn’olo. – »Mein fagnahy wird zu dem

15 | Von mir übersetzt aus dem Original (Elli 1993: 153): »Les verbes qui revienne le plus souvent à propos des ancêtre me semble être mañaza (respecter) et matahotsy (avoir peur de).« Wohlgemerkt hat Elli nach eigenen Angaben (1993: 6) über zehn Jahre bei den Bara Marovola und Zafindrendriko gelebt und geforscht.

4. Die Bedeutung der Emotionen

aufsteigen, der die Menschen gemacht hat und zu einer Sache werden, die ihnen Furcht einflößt.« Nicht zuletzt wurde tahotsy in Interviews zur Sozialisation vielfach als mora‑ lische Emotion thematisiert: Eltern beschrieben die Fähigkeit, sich zu fürchten (mahay tahotsy, wörtlich: Furcht können/wissen), als zentrales Erziehungsziel. Kin‑ der wiederum beschrieben ihre emotionalen Erziehungserfahrungen meist mit tahotsy. Narrative von Jugendlichen und Erwachsenen zu mahasaky fady (Tabu-/ Normverstoß) und zu havoa (Ahnenfluch oder ›Segensentzug‹ als Sanktion für Normverstöße) machen deutlich, dass tahotsy gegenüber den Ahnengeistern als entscheidender Beweggrund für moralisches Verhalten angesehen wird. Das im 3. Kapitel beschriebene Modell einer von den Vorfahren auf die Nachfahren stetig übertragenen Lebenskraft macht wiederum die körperliche Dimension von tahotsy deutlich: Normverstöße erzürnen (mahaseky) demnach die Ahnen und haben ein Versiegen der Lebenskraft zur Folge, womit unmittelbar die physische Existenz oder Gesundheit bedroht wird. All dies legt nahe, dass Emotionen der Furcht in Menamaty einen ähnlichen moralischen Stellenwert einnehmen wie Emotionen der Scham in vielen südostasiatischen Kontexten.

Zusammenfassung Das dargestellte Spektrum bewertender bzw. sanktionierender Emotionen in den Gemeinschaften von Menamaty findet sich in verkürzter und vereinfachter Form in Tabelle 2 wieder. Vergleicht man diese Zusammenstellung mit der in Tabelle 1, die ich im ersten Kapitel auf der Basis der Forschungsliteratur konstruiert habe, so zeigen sich einige Verschiebungen: Während sich die erhobenen Emotionskon‑ zepte den verschiedenen Emotionsgruppen (Spalten) durchaus zuordnen lassen, ergeben sich aus den spezifischen sozio-moralischen Beziehungsstrukturen in der Forschungsregion teilweise andere soziale Einbettungen dieser Emotionen. Scham‑ oder schuldähnliche Emotionen, die in der Forschungsliteratur häu‑ fig als moralische Emotionen par excellence gehandelt werden, verorteten meine Gesprächspartner vornehmlich in egalitär-independenten Beziehungen, also aus‑ gerechnet in einer sozialen Sphäre, die durch Werte der Stärke oder des Erfolgs, der Befolgung individueller Interessen und einer vergleichsweise geringen Mora‑ lisierung geprägt ist. Aus dieser sozialen Einbettung ergibt sich auch der geringe moralische Stellenwert von Emotionen wie hegnatsy, die in erster Linie aus Miss‑ geschicken, Erniedrigungen oder Misserfolgen bei der Performanz physischer Souveränität, kaum hingegen aus Verstößen gegen moralische Normen resultie‑ ren. Verschiedene egalitäre Institutionen und Deutungspraktiken begünstigen es, hegnatsy-Erfahrungen zu externalisieren und in fremdsanktionierende Emotionen wie may fo (≈ wutentbrannt), maimay (≈ Neid) oder lolom-po (≈ Groll) zu transfor‑ mieren. Die letztgenannten Emotionen waren in Alltagsinteraktion und ‑diskursen in hohem Maße präsent und ausdifferenziert. Ihnen kann eine wichtige Rolle bei der Regulation egalitärer Beziehungen zugesprochen werden, da sie Personen dazu veranlassen, sozialer Ungleichheit aktiv entgegenzuwirken.

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Tabelle 2: Das Spektrum moralischer Emotionen in den Gemeinschaften von Menamaty, gegliedert nach vier Emotionsgruppen (Spalten) und den verschiedenen Möglichkeiten der sozialen Einbettung (Zeilen). Die fett markierten Emotionen sind von zentraler moralischer Relevanz. Emotionsgruppen soziale Einbettung Bewertungsdimensionen Feindschaft Stärke/ Erfolg

egalitär independent

positiv fremdbewertend ‑sanktionierend



positiv selbstbewertend ‑sanktionierend

negativ fremdbewertend ‑sanktionierend

negativ selbstbewertend ‑sanktionierend

bohaboha sevotsy (prahlerisch/ überheblich)

lolom-po (Groll) may fo (wutentbrannt) maimay (Neid) manindritindry (erniedrigen)

hegnatsy (Verlegenheit) afa-baraky (Blamage)

Liebschaft Attraktivi‑ tät

loza fitiavandraha (unheilvolle Liebe)

rehareha (Stolz)

keo etsaky (Überdruss)

salatsy (Peinlichkeit) mihamihamy (sich zieren)

Freundschaft reziproke Unterstüt‑ zung

faly (freudig) mankasitraky (Dankbarkeit)

rehareha (Stolz) be fo (großes Herz)

kakay (leichter Groll)

hegnatsy (Verlegenheit) negny/bebaky (Reue/Bedau‑ ern)

heloky (Zorn) sosotsy (Verärgerung) mivoto tenda (dicker Hals)

negny/bebaky (Reue/Bedau‑ ern)

mimotso (schmollen) maloto troky (schmutziger Bauch)

tahotsy mivadim-po (Furcht)

sozial absteigend





magnaja magnasy (respektvolles Ausdrucksver‑ halten)

miangatsy miavognavo (respektlos/ überheblich)

hierarchisch interdependent sozial aufsteigend

Die Moral der hierarchisch-interdependenten Relationen lässt sich im Anschluss an die Überlegungen von Shweder et al. (1997) als eine Verbindung der Ethiken der community und divinity auffassen. Wie im 3. Kapitel gezeigt, stehen die Ahnen‑ geister an der Spitze der Autoritätshierarchie des tariky, und den lokalen Überzeu‑ gungen zufolge sanktionieren sie Verstöße gegen die Gebote und Verbote der Ab‑ stammungsgruppe durch einen Entzug der Lebenskraft, woraus Krankheiten und körperliches Unheil folgen. Als entsprechende fremdsanktionierende Emotionen konnte ich heloky und andere Formen sanktionierender Wut identifizieren, die sich auf Normverstöße der Nachkommen richten. Damit spielen in den hierarchischinterdependenten Relationen solche Emotionen eine bedeutende Rolle, die in der Kulturpsychologie häufig als unvereinbar mit interdependenten Beziehungen cha‑ rakterisiert werden (vgl. Markus & Kitayama 1994). In einem komplementären Verhältnis zu fremdsanktionierenden Emotion wie heloky steht die selbstsanktio‑ nierende Emotion tahotsy, die von meinen Gesprächspartnern in vielerlei Hinsicht

4. Die Bedeutung der Emotionen

als primäre moralische Emotion charakterisiert wurde. Sie veranlasst Menschen dazu, sich an den moralischen Geboten und Verboten oder am situativen Willen der Älteren zu orientieren und macht sie damit zu moralisch guten Personen. Auch magnaja und magnasy als Ausdrucksformen des Respekts gegenüber Älteren sowie umgekehrt miangatsy und miavognavo als Ausdrucksformen der Respektlosigkeit wurden mit einer ausgebildeten bzw. mangelhaften Furchtsamkeit in Verbindung gebracht. Aufgrund der ausgeprägten Moralisierung und herausragenden moralischen Funktion der seky‑ und tahotsy-Emotionen in der Forschungsregion werde ich diese in den beiden folgenden Unterkapiteln eingehender darstellen.

D as E motionsvok abul ar der F urcht (tahotsy ) Das Emotionsvokabular der Furcht setzt sich mindestens aus zwölf Emotions‑ wörtern zusammen. Als Ausgangspunkt der Erhebung fungierte das Emotions‑ wort tahotsy, das in Alltagsgesprächen am häufigsten Verwendung fand. Die Interviewfrage nach vergleichbaren Emotionen brachte elf weitere Vokabeln zum Vorschein, die wiederum untereinander assoziiert wurden. Bei weitem am häu‑ figsten wurden die Emotionswörter allerdings mit tahotsy assoziiert. Aus diesen Gründen lässt sich tahotsy als allgemeines Schlüsselkonzept begreifen (ähnlich der Angst im Deutschen), das die anderen, spezifischeren Konzepte unter sich zu einer tahotsy-Familie vereint.16 Die Bedeutungsanalyse der tahotsy-Familie basiert auf rund 200 Emotionsnarrativen von jugendlichen und erwachsenen Gesprächs‑ partnern. Davon beziehen sich über 50 Narrative auf das tahotsy-Konzept selbst und jeweils 10-20 Narrative auf die übrigen Konzepte. Zusätzlich ziehe ich die Interviews zu unterschiedlichen Sozialisationskontexten, in denen tahotsy-Emo‑ tionen ebenfalls thematisiert werden, sowie Alltagsgespräche als Datenmaterial hinzu. Im Folgenden werde ich zunächst die Gemeinsamkeiten der tahotsy-Fa‑ milie vorstellen, um dann auf die Differenzen und Besonderheiten der einzelnen Konzepte einzugehen.

Die tahotsy-Familie Den Emotionsnarrativen zufolge werden sämtliche tahotsy-Emotionen durch die Wahrnehmung einer Bedrohung, bzw. einer aktuellen oder zukünftigen Gefahr ver‑ anlasst. Bis auf wenige Ausnahmen ist der Körper des Emotionssubjekts bedroht. Soziale Kontexte wie etwa drohende Ausgrenzung oder Statusverlust, die im deutsch‑ sprachigen Begriff der (sozialen) Angst durchaus präsent sind, spielen in den tahotsy-Konzepten hingegen keine Rolle. Damit lässt sich die tahotsy-Familie deutlich von den negativ-selbstbewertenden Emotionen wie etwa hegnatsy abgrenzen.

16 | Auch Heider hat in seiner semantischen Analyse des indonesischen Emotionsvokabulars eine Struktur entdeckt, der zufolge sich eine Reihe von Emotionswörtern durch den Bezug auf ein Schlüsselwort (key word) zu Bedeutungs-Clustern verbinden (Heider 2006 [1991]: 29f).

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

Im Unterschied zu den geläufigen sozialen oder moralischen Emotionen kön‑ nen sämtliche tahotsy-Emotionen auch durch Tiere oder die unbelebte Umwelt ver‑ anlasst werden. Unter den Tieren, die etwa ein Viertel aller beschriebenen Anlässe ausmachen, werden besonders häufig wütende Rinder (aomby seky), Schlangen, Krokodile, Chamäleons und Raupen genannt. Gestern beim Wasserholen rutschte ich auf einem Stein aus, fiel ins Wasser und war matahotsy. Zwei junge Männer beobachteten es und wurden auch matahotsy, weil sie glaubten, ich sei von einem Krokodil gebissen worden. Sie rannten ins Dorf, um Hilfe zu holen. (Ziny, w 35) Ich bin matahotsy gegenüber Schlangen. Wenn ich plötzlich eine Schlange sehe, dann erschrecke ich mich (taitsy). (Ndrenome, m 22)

Bemerkenswert hierbei ist, dass einige dieser Tiere aus etischer Perspektive für Menschen nicht gefährlich erscheinen. Insbesondere die häufige Nennung von Schlangen ist insofern erstaunlich, als in Madagaskar keine giftigen Schlangen heimisch sind. Als Grund hierfür kommt die beobachtete und beschriebene Pra‑ xis infrage, einnässenden Kleinkindern im Rahmen der Erziehung damit zu dro‑ hen, eine Schlange herbeizuholen und sie ihnen um den Bauch zu legen.17 Tahotsy gegenüber Chamäleons dürfte mit dem Ruf dieser Reptilien als Unglücksboten zusammenhängen. Dafür, dass eine gewisse kulturelle Akzentuierung von tahotsy in Bezug auf bestimmte, nichtmenschliche Wesen am Werk ist, sprechen auch die Beschreibungen des kinoly (kleine, menschenähnliche Gestalt vergleichbar einem Zwerg oder Troll), biby aomby (rindähnliches Geschöpf mit nur einem Horn) oder des fagnany (Riesenschlange mit vielen Augen) als Auslöser von tahotsy. Den Er‑ zählungen zufolge sind diese als real beschriebenen Wesen (biby) vor allem dann zu fürchten, wenn man des Nachts alleine im Wald unterwegs ist. Wenn man in der Nacht im Wald einem biby begegnet und dieses plötzlich wieder verschwunden ist, so ist man manitsy (wörtlich: kalt). (Rafaratsa, w 50)

Im Vergleich zu anderen kulturellen Kontexten, wie etwa dem der Tao (RöttgerRössler et al. 2015), hält sich allerdings die Bedeutung von Tieren und übernatür‑ lichen Wesen als Gegenstand von tahotsy in Grenzen. So hatten die Kinder, Ju‑ gendlichen und Erwachsenen aus Menamaty kaum Hemmungen, sich tagsüber weit abseits der Dörfer alleine im Wald aufzuhalten, was insbesondere auch beim Hüten der Rinder erforderlich ist. Nächtliche Exkursionen werden zwar als Anlass für tahotsy beschrieben, doch machen einige Beispiele deutlich, dass diese Emotion dabei zu überwinden ist.

17 | Dass Bezugspersonen allerdings gerade die Drohung mit Schlangen als Erziehungsmittel einsetzen, könnte mit einer genetischen Prädisposition für die Furcht vor Schlangen zusammenhängen (vgl. Öhman 2008: 712). Bemerkenswert ist allerdings, dass giftige Skorpione, Spinnen oder andere Tiere wie Mäuse oder Insekten, die in der psychologischen Literatur als typische Furchtauslöser gelten (Arrindell et al. 1991), von meinen Gesprächspartnern nicht als Anlass für tahotsy erwähnt wurden.

4. Die Bedeutung der Emotionen

Etwa ein weiteres Viertel der beschriebenen Anlässe für tahotsy-Emotionen be‑ trifft die Bedrohungen von Leib und Leben durch allerlei Krankheiten (arety) sowie Gefahren aus der ›unbelebten‹ Umwelt. Hierzu wurden zum einen Wetterphäno‑ mene wie etwa heftige Gewitter, Zyklone oder ausbleibender Regen sowie drohende Unglücksfälle, z.B. das Ertrinken beim Überqueren eines Flusses oder der Sturz von einem Baum beschrieben: Wenn ich zu Beginn der Regenzeit Reis anpflanze, bin ich miahiahy und mitebiteby, da ich nicht weiß, ob der Regen genügen und die Ernte später ausreichen wird. (Nareny, w 35) Gestern war ich midebadeba, weil ich meine Hand beim Fischen zwischen zwei Steinen eingeklemmt hatte. (Ziny, w 35) Ich habe im Radio gehört, dass demnächst ein weiterer Zyklon über das Dorf hinwegziehen soll. Da mein Haus nicht sehr stabil ist, bin ich mivadim-po. (Fandio, w 20)

Bei diesen vordergründig ›natürlichen‹ Anlässen ist allerdings zu bedenken, dass diese in der Regel in letzter Instanz auf soziale Akteure zurückgeführt werden: ent‑ weder auf voriky (≈ Schadenszauber) durch grollende oder neidische arahamba (≈ Nichtverwandte/Feinde) oder auf havoa (≈ Ahnenfluch/,Segensentzug‹) infolge der Verletzung moralischer Normen ( fady loza). Diese Anlässe können somit in den Augen der Gesprächspartner einen sozialen oder gar moralischen Hintergrund haben. Etwa die Hälfte aller zu den tahotsy-Emotionen erzählten Episoden bezieht sich direkt auf menschliche Interaktionspartner, wobei diese sowohl in höherrangigen als auch gleichrangigen Relationen zu dem Emotionssubjekt stehen können. Als gleichrangige furchtauslösende Personen wurden meist Konfliktpartner bzw. arahamba beschrieben, die wütend (seky) auf das Emotionssubjekt sind oder einen Groll hegen (lolom-po) und mittels direkter körperlicher Gewalt oder durch voriky Vergeltung üben möchten. Wenn ich mich mit einem Mann geprügelt habe und ich dann von einem Freund gewarnt werde, dass dieser Mann einen Groll hegt (lolom-po) und mich töten möchte, bin ich midebadeba. (Langa, m 22)

Zudem beschrieben meine Gesprächspartner wiederholt Gendarmen und Viehdie‑ be als Personen, denen man grundsätzlich mit tahotsy begegne. Wir fürchten uns besonders vor Gendarmen und Viehdieben. Alle Menschen fürchten sich vor diesen beiden. Anders verhält es sich beispielsweise mit Raupen, vor ihnen fürchten sich nur bestimmte Personen. (Rivomana, m 60)

Auch die Begegnung mit fremden Besuchern (vahiny), deren Absichten unbekannt sind, oder mit Wahnsinnigen (olo môla) sowie Betrunkenen (olo mamo), die als un‑ berechenbar bzw. leicht reizbar gelten, wurde wiederholt als Anlass für tahotsyEmotionen beschrieben.

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen Während eines bilo (Besessenheitsritual) war ich aufgrund der Betrunkenen matahotsy und schloss mich deshalb in meine Hütte ein. (Gneva, w 25)

Als höherrangige, tahotsy veranlassende Personen beschrieben meine Interview‑ partner vor allem wütende (maseky, meloky) Väter, Mütter, Brüder, Großväter oder Onkel, denen man nach einer Normverletzung oder infolge von Ungehorsam be‑ gegnen könnte oder die einem mit einer Sanktion drohen. Einmal stritt ich mich mit einer Cousine und verletzte sie. Als ihr Vater meinen Vater darüber informierte, wurde ich sehr matahotsy, meinem Vater wieder zu begegnen. (Georgetty, w 12) Ich wurde einst von meinem großen Bruder nach Fotora geschickt, um dort etwas zu kaufen. Er drohte mir, mich zu schlagen, falls ich nicht gehen würde. Aus tahotsy vor meinem Bruder war ich dann folgsam, obwohl ich auch matahotsy war, alleine nach Fotora zu gehen. Ich war matahotsy, weil ich Menschen begegnen könnte, die mich ausrauben und töten wollen, und auf dem Rückweg, als es schon dunkel wurde, war ich matahotsy wegen der biby. (Tsabira, m 14)

Bemerkenswert ist, dass Autoritätspersonen (wie im letzten und anderen Beispie‑ len) auch eine intensive tahotsy-Episode veranlassen können, die das Emotionssub‑ jekt dazu veranlasst, tahotsy gegenüber anderen Personen oder biby zu überwinden. Darüber hinaus kann einigen Beispielen zufolge allein der Umstand eine Person zu tahotsy veranlassen, dass sie von einer Autoritätsperson ohne ersichtlichen Grund herbeigerufen wird. Ich bin mitofotsy-fo, wenn mich Rivomana [lonaky des Erzählers] zu sich ruft, obwohl ich das gar nicht erwartet habe. (Rihira, m 20)

Nicht zuletzt werden tahotsy-Emotionen zahlreichen Narrativen zufolge durch Normverstöße oder Tabuverletzungen (mahasaky fady) veranlasst, da diese in der Vorstellung der Gesprächspartner die Ahnengeister erzürnen (mahaseky gny fahasivy) lässt und in der Folge zu lebensbedrohlichen Krankheiten oder anderen Formen von Unheil führen können. Wohlgemerkt enthält der Begriff mahasaky fady bereits ein Emotionswort (mahasaky), das in negierter Form (tsy mahasaky) von meinen Gesprächspartnern eindeutig der tahotsy-Familie zugeordnet wurde. Dieser mora‑ lische Kontext als Auslöser für tahotsy kommt weiter unten noch ausführlich zur Darstellung. Was die körperliche Dimension betrifft, so verorteten die Gesprächspartner tahotsy in erster Linie im Herzen ( fo). Wie die Metaphern mikopaky fo (wörtlich: klop‑ fendes Herz), mitofotsy fo (wörtlich: Herzstoß) und mivadim-po (wörtliche: umge‑ drehtes Herz) nahelegen, machen sich diese Emotionen auf der körperlichen Ebene durch die Empfindung einer veränderten oder erhöhten Herzaktivität bemerkbar. Darüber hinaus berichteten die Interviewpartner wiederholt, dass sie am ganzen Körper zitterten (mangitikitiky): Als ich mich mit meiner Freundin in ihrem Haus aufhielt, kam ein Gendarm vorbei, hämmerte an die Tür, schoss dann in die Luft und drohte schließlich, das Dach anzuzünden [wenn die Tür nicht geöffnet werde]. Wegen tahotsy zitterte ich heftig. (Ndrenome, m 22)

4. Die Bedeutung der Emotionen Gestern während des heftigen Gewitters fürchtete (matahotsy) ich mich und machte mangitikitiky, bis ich das Mittel zum Schutz gegen den Donner (aody varatsy) eingenommen hatte. (Traka, w 28)

Die beschriebenen Handlungstendenzen infolge von tahotsy-Emotionen unter‑ scheiden sich je nach auslösendem Kontext. Ihnen allen ist jedoch gemein, dass die betroffene Person in irgendeiner Weise versucht, die Gefahr zu vermeiden oder sich ihr zu entziehen. Das mit tahotsy assoziierte Wort mifify bezeichnet ein solches Verhalten, speziell in Reaktion auf erzürnte Autoritätspersonen: Wenn die Eltern zornig (meloky) sind, fürchtet (matahotsy) sich das Kind und macht mifify. Es meidet sie. (Marojaony, m 70) Ich habe von meiner Mutter die Aufgabe erhalten, ein Reisfeld für die Bepflanzung vorzubereiten. Doch ich bringe die Aufgabe nicht zu Ende und mache deshalb mifify, indem ich ihr aus dem Weg gehe. Meine Mutter ist wütend (maseky) auf mich, wenn sie es erfährt. (Langa, m 22)

Auf der Basis der beschriebenen Szenarien konkreter physischer Bedrohung als auslösende Kontexte bzw. Appraisals, aufgrund der erhöhten Herzaktivität und des Zitterns als Körperreaktionen bzw. Körperempfindungen und aufgrund der Handlungstendenzen des Meidens übersetze ich tahotsy mit ›Furcht‹ – freilich ohne eine exakte Bedeutungsäquivalenz zu unterstellen. Zu bemerken ist, dass im Deutschen eher ›Angst‹ denn ›Furcht‹ als Schlüsselkonzept für eine Reihe spezi‑ fischer Emotionen zu fungieren scheint. Dieser Unterschied könnte dahingehend gedeutet werden, dass für die Menschen aus Menamaty die Erfahrung einer kon‑ kreten physischen Bedrohung prägender ist als etwa die Angst angesichts einer diffusen, sozialen oder existenziellen Bedrohung, die mehr den Erfahrungen west‑ licher Mittelschichtsangehöriger entsprechen mag. Obwohl ich tahotsy als moralische Emotion eingeführt habe und auch weiter in diesem Sinne behandeln werde, machen die auslösenden Kontexte doch deutlich, dass diese Emotion keineswegs auf moralisch bedeutsame Situationen beschränkt ist, sondern etwa auch durch gefährliche Tiere oder Feinde veranlasst werden kann. Damit unterscheidet sich tahotsy deutlich von moralischen Emotionen wie Schuld oder Scham, die sich durch einen exklusiven Bezug auf soziale Kontexte auszeich‑ nen. Dies widerspricht jedoch nicht der Beobachtung, dass tahotsy gegenüber Au‑ toritätspersonen und Ahnengeistern und damit bei der Befolgung von moralischen Normen eine zentrale Rolle spielt und in dieser Rolle von meinen Gesprächspart‑ nern moralisiert wurde. Es verweist vielmehr auf den Umstand, dass die drohende Sanktion durch eine leibliche oder geistige Autorität emotional in ähnlicher Weise erlebt wird, wie etwa die Gefahr, von einem Baum zu fallen. In beiden Fällen erlebt die betroffene Person eine Bedrohung ihrer körperlichen Unversehrtheit. Tahotsy im moralischen Sinne lässt sich am ehesten mit den – freilich im Deutschen mitt‑ lerweile auf spezifische religiöse Kontexte beschränkten – Wörtern der ›Ehrfurcht‹ und ›Gottesfurcht‹ übersetzen, zumal die Menschen aus Menamaty auch ihre le‑ benden Vorfahren als sichtbare Götter bezeichneten.

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

Interne Differenzierung der tahotsy-Familie Nachdem ich die Gemeinsamkeiten der tahotsy-Familie beschrieben habe, werde ich nun der Frage nachgehen, wodurch sich die elf Konzepte dieser Familie von‑ einander unterscheiden und inwiefern sie sich spezifizieren lassen. Zunächst legt das Assoziationsmuster innerhalb der tahotsy-Familie eine Aufgliederung in vier Subgruppen nahe. Wie die induktive Inhaltsanalyse der einzelnen Konzepte zeigt, unterscheiden sich die Subgruppen vor allem darin, wie akut und wie gewiss ein Bedrohungsszenario erscheint. Die vier Emotionen taitsy, manitsy, mitofotsy fo und mikopaky fo zeichnen sich durch die Wahrnehmung einer unerwarteten, akuten Bedrohung, eine starke Körper‑ reaktion und eine reflexhafte Handlungstendenz aus. Taitsy wird meist durch eine schnelle Bewegung, ein lautes Geräusch oder eine plötzliche Berührung ausgelöst: Man ist taitsy, wenn man durch den Wald läuft und ein Vogel vor einem auffliegt, der sich im Gebüsch versteckt hatte. Man zuckt zusammen. (Ndrenome, m 22) Als ich in meiner Jugend vom Markt in Iloto heimkehrte, hörte ich einen Gewehrschuss aus meinem Dorf. Ich war so sehr taitsy, dass ich mich eine ganze Weile nicht bewegen konnte. (Gneva, w 25)

Typischerweise geht taitsy mit einer reflexhaften Reaktion wie etwa einem Zu‑ sammenzucken, Aufspringen, Aufschreien, dem Einnehmen einer Schutzhaltung oder auch einem Erstarren einher. Diese Reaktionen wurden auch auf meine Auf‑ forderung hin demonstriert, taitsy schauspielerisch darzustellen. Dabei zeigten meine Interaktionspartner zudem die Reaktion, sich selbst auf die Brust zu spu‑ cken. Dies, so wurde mir erklärt, soll das heftig klopfende Herz beruhigen, was zugleich auf eine starke Körperreaktion und ‑empfindung hindeutet. Wie in den Interviews betont wird, verspüre man die Körperempfindung allerdings erst am Ende der Emotionsepisode. Taitsy lässt sich also annähernd mit dem deutschspra‑ chigen Emotionskonzept ›Schreck‹ übersetzen. Manitsy wird wie taitsy durch die Wahrnehmung eines unerwarteten, poten‑ ziell gefährlichen Ereignisses von kurzer Dauer ausgelöst. Im Unterschied zu taitsy ist das Emotionssubjekt bis auf eine Ausnahme aber nicht selbst bedroht, vielmehr eine von ihm beobachtete Person. In einem Drittel der Fälle hat das Emotionssub‑ jekt das gefährliche Ereignis selbst ausgelöst: Ich möchte ein Huhn zum Schlachten fangen und werfe mit Steinen nach ihm. In dem Moment, in dem ich einen Stein geworfen habe und sehe, dass Kinder in der Wurfrichtung herumstehen, werde ich manitsy. Ich könnte eines der Kinder getroffen haben. (Ratoby, w 50)

Die Gefahr besteht darin, dass ein Dritter verletzt werden könnte – meist durch ein Geschoss wie im zitierten Beispiel. Auch wenn eine Person etwa beim Kampf mit Rindern auf den Boden geschleudert wird, empfindet das beobachtende Emotions‑ subjekt manitsy. Auf die Komponente der Empathie sowie auf die Möglichkeit der Verletzung ist zurückzuführen, dass manitsy von den Interviewpartnern auch mit hotsoky oder ferignay (≈ Mitleid) und rikoriko (≈  Ekel) assoziiert wurde. Im Unter‑ schied zu taitsy steht bei manitsy nicht die Handlungstendenz, sondern vielmehr

4. Die Bedeutung der Emotionen

eine Körperempfindung im Vordergrund, was damit zusammenhängen dürfte, dass das Emotionssubjekt nicht selbst bedroht ist. So berichten einige Gesprächspartner, dass sie gezittert und eine Gänsehaut bekommen hätten. Zudem handelt es sich bei manitsy um ein metaphorisches Emotionskonzept, das zugleich ›Kälte‹ bedeutet. Dieser metaphorische Bezug auf eine Kälteempfindung ist auch in dem deutschspra‑ chigen Konzept des Schauderns präsent, das sich ebenfalls auf die Wahrnehmung eines gefährdeten Dritten beziehen kann, etwa beim Lesen eines Schauerromans. Mitofotsy fo wird ebenfalls durch ein unerwartetes Ereignis ausgelöst. Im Unter‑ schied zu taitsy und manitsy ist dieses aber weniger durch die Wahrnehmung einer schnellen Bewegung charakterisiert. Vielmehr reagiert das Emotionssubjekt typi‑ scherweise mit mitofotsy fo, wenn es unerwartet von einem für es wichtigen Vorfall Kenntnis erlangt: Ich war vor einigen Jahren mit meinem Ehemann zu Besuch in Kelivohitsy und traf dort die Schwester von Traka an; sie erfreute sich bester Gesundheit. Nachdem ich wieder in das Dorf meines Ehemannes zurückgekehrt war, erreichte mich die Nachricht, dass Trakas Schwester an einer Krankheit gestorben sei. Ich war daraufhin mitofotsy fo. Mein Herz schien stillzustehen, ich konnte nicht denken, nicht sprechen und wäre beinahe verrückt geworden. (Rapesa, w 19)

Zwar ist häufig eine andere Person von einem Unglück betroffen, im Unterschied zu manitsy kann mitofotsy fo aber auch entstehen, wenn sich das Emotionssubjekt selbst einer Gefahr ausgesetzt wähnt, etwa, wenn es unerwartet Gendarmen oder Viehdiebe in der Ferne sieht. In beiden Fällen ist das Emotionssubjekt nicht unmit‑ telbar gefährdet, vielmehr resultiert aus der neuen Information ein Einschätzungs‑ bedarf der Tragweite des Ereignisses. Im Unterschied zu taitsy steht bei mitofotsy fo folglich auch keine schreckhafte Reaktion im Vordergrund, sondern ein Erstarren oder ein Zustand der Verwirrtheit. Mitofotsy fo ist wie manitsy ein metaphorisches Emotionskonzept, das sich mit ›Herzstoß‹ übersetzen lässt und mit Ausdrücken wie ›schockierend‹ oder ›geschockt‹ vergleichbar ist. Mikopaky fo wird typischerweise durch die unerwartete Begegnung mit einem Vertreter des anderen Geschlechts verursacht: Ich werde mikopaky fo, wenn ich zufällig ein Mädchen treffe, mit dem ich schon seit langer Zeit schlafen möchte. Mein Herz klopft dann schneller als gewöhnlich. (Tanja, m 25)

Jedoch kann sich mikopaky fo auch auf ein nichtsoziales Ereignis beziehen: Gestern gewitterte es heftig. Beim ersten Donnerschlag war ich taitsy. Dies hielt nur kurz an und dann wurde ich mikopaky fo. (Rapesa, w 19).

Der Zusammenhang dieser unterschiedlichen Kontexte wird nachvollziehbar, wenn man die wörtliche Bedeutung dieser Emotionsmetapher (Herzklopfen) be‑ rücksichtigt. Der Zusammenhang mit taitsy lässt sich dadurch erklären, dass auch taitsy aufgrund seiner Intensität mit beschleunigtem Herzschlag einhergeht. Al‑ lerdings wird dies dem Emotionssubjekt erst bewusst, wenn das potenziell gefähr‑ liche Ereignis vergangen ist und somit nicht mehr die volle Aufmerksamkeit auf sich zieht, die Körperreaktion aber noch anhält. Dies wird auch durch das folgende Beispiel deutlich:

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen Ich kletterte auf einem Baum herum und fiel beinahe herunter, als ein Ast brach. Danach war ich mikopaky fo. (Ndrenome, m 22).

Damit stellt mikopaky fo ein auf die Körperreaktion des ›Herzklopfens‹ bezogenes Gefühlskonzept dar, das im Zusammenhang mit verschiedenen tahotsy-Emotionen auftreten kann, jedoch nur in spezifischen Situationen in den Vordergrund rückt. Vologny wurde nahezu ausschließlich mit tahotsy assoziiert und steht somit für sich. Diese Emotion erleben Personen, wenn sie aufgrund eines unübersichtlichen oder schwer einschätzbaren Kontextes damit rechnen müssen, von einem bedroh‑ lichen Ereignis überrascht zu werden. Vier unterschiedliche Kontexte können zur Wahrnehmung eines erhöhten Gefahrenpotenzials führen. In einer mehrmals in ähnlicher Weise geschilderten Situation löst die Unübersichtlichkeit des Waldes in der Nacht vologny aus: Eine wahre Geschichte: Eine verstorbene Verwandte von mir musste in der Nacht alleine einen Wald durchqueren und war deshalb vologny. Tatsächlich begegnete ihr ein omba (wilder Mensch), der ihr den Weg versperrte. Sie entschuldigte sich, machte das mifaly (ein Art Verbeugung) und sagte, dass sie matahotsy sei. Der omba folgte ihr bis zum Dorf und verschwand dann. Bis zu ihrem Tod verließ diese Frau bei Dunkelheit nicht mehr ihr Haus. (Rafaratsa, w 50)

Mehreren Beispielen zufolge kann vologny durch einen Ort ausgelöst werden, der durch ein früheres Erlebnis gewissermaßen mit tahotsy besetzt ist: Auf dem Weg nach Bemelo bin ich einmal zusammen mit Tiry, Ferdinand und Resa auf Viehdiebe gestoßen, die uns Furcht einflößten (mapatahotsy) und drohten, uns etwas anzutun. Als ich dieselbe Strecke später nochmals gehen musste, war ich vologny. (Fresa, m 18)

Wie das folgende Beispiel zeigt, kann vologny auch durch fehlendes Wissen über die Absichten einer anderen Person entstehen. Man ist vologny, wenn Unbekannte ins Dorf kommen und man nicht weiß, was sie im Schilde führen (Bernary, m 25).

Auch eigenes Fehlverhalten kann vologny auslösen, womit diese tahotsy-Emotion ebenfalls im moralischen Kontext eine Rolle spielt: Wenn man etwas geklaut hat, ist man vologny, weil man nicht weiß, ob der Beklaute davon erfahren hat oder nicht. (Ziny, w 35)

Die mit vologny einhergehende Körperreaktion wird mit beschleunigtem Herzschlag sowie mit Haarsträuben beschrieben. Die Handlungstendenz besteht in einer er‑ höhten Aufmerksamkeit sowie in einer dauerhaften Meidung der für vologny kons‑ titutiven Situationen. Unter den deutschsprachigen Furchtkonzepten entspricht vologny am ehesten dem Gefühl des Unheimlichen oder einem alarmierten Zustand. Die tahotsy-Emotionen tebiteby/debadeba, mivadim-po, magnahy/miahiahy und marikariky werden durch die Erwartung eines zukünftigen Ereignisses veranlasst, das ein Gefahrenpotenzial in sich birgt. Die Gefahr ist relativ ungewiss, sie kann

4. Die Bedeutung der Emotionen

sowohl das Emotionssubjekt als auch eine ihm nahestehende Person betreffen. Die vier Emotionskonzepte lassen sich, auf Basis der dazu erzählten Emotionsepiso‑ den, nicht scharf voneinander abgrenzen. Einiges spricht jedoch dafür, dass die Be‑ drohung im Fall von tebiteby und mivadim-po (wörtlich: umgedrehtes Herz) etwas näherliegt als bei den beiden anderen. Tebiteby und mivadim-po beziehen sich in den meisten Beispielen auf ein unmittelbar bevorstehendes Ereignis, dessen Aus‑ gang oder Konsequenzen für das Emotionssubjekt jedoch ungewiss sind. Kurz bevor eine Frau ein Kind gebären wird, ist man mitebiteby, da es nicht sicher ist, ob die Frau oder das Kind überleben werden. (Älterer Mann) Als Dede heute nach Soafary lief, um seine entflohene Frau zurückzuholen, war er mivadimpo, weil er nicht sicher war, ob ihr Vater einverstanden sein würde. (Ndrenome, m 22)

Diese beiden tahotsy-Emotionen lassen sich am besten mit dem deutschen Aus‑ druck ›Bangen‹ übersetzen. Magnahy bzw. miahiahy und marikariky beziehen sich hingegen weniger auf den ungewissen Ausgang eines bevorstehenden oder aktuellen Ereignisses als viel‑ mehr auf die Möglichkeit, dass ein negatives Ereignis eintritt: Wenn die Reisernte beginnt, bin ich miahiahy, weil es stark regnen und die Ernte dann zerstört werden könnte. (Nareny, w 35) Ich deponiere meinen Spaten normalerweise bei meinem Reisfeld. Doch seitdem ich einen Streit mit meinem Reisfeldnachbarn habe, nehme ich den Spaten immer mit nach Hause, da ich marikariky bin, dass dieser Nachbar ihn verwenden könnte, um mir einen Schadenszauber (voriky) beizubringen. (Langa, m 22)

Zudem ist diesen beiden Emotionskonzepten im Unterschied zu den vorherigen gemein, dass sie auch den kognitiven Akt des Verdächtigens bezeichnen können. Sie haben somit große Ähnlichkeiten mit den deutschen Konzepten der Besorg‑ nis und der Beunruhigung. Aufgrund des ungewissen Gefahrenpotenzials bei al‑ len vier Emotionen dieser Gruppe, gehen sie mit einer vergleichsweise schwachen affektiven Erregung einher. Auf der anderen Seite können diese Emotionen aber lange anhalten, da sie auf die Zukunft gerichtet sind. Zudem sind die Möglichkei‑ ten der Emotionsbewältigung beschränkt, weil das Emotionssubjekt, anders als bei den anderen tahotsy-Emotionen, nicht durch Flucht oder Meidung reagieren kann. Die Emotionen malea/malia und tsy mahasaky beziehen sich weniger auf ein vom Emotionssubjekt losgelöstes bedrohliches Ereignis als vielmehr auf dessen eigene Handlung, die negative Konsequenzen nach sich ziehen kann. Diese Emo‑ tionen veranlassen dazu, die entsprechende Handlung zu unterlassen und damit die Gefahr von vornherein zu vermeiden. Obwohl sich die Narrative zu malia und tsy mahasaky in dieser Hinsicht kaum voneinander unterscheiden, unterliegen sie doch einer gegensätzlichen sozialen Wertung. Diese wurde zum einen direkt in den Interviews zum Ausdruck gebracht, zum anderen zeigen auch die angeführten Beispiele, dass malia zu unerwünschtem, tsy mahasaky hingegen zu erwünschtem Handeln und Verhalten führt:

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen Ich bin malia, wenn ich alleine nach Maroboly laufen soll, da ich den biby, Hunden oder gefährlichen Menschen begegnen könnte. Deshalb verweigere ich den Auftrag meiner Mutter. (Rapesa, w 19) Gerade hat mein Vater Rinder aus Fotora ausgeliehen, um von ihnen seine Reisfelder weichstampfen zu lassen. Da die Rinder sehr wütend (maseky) sind, werden die Kinder malia und helfen deshalb nicht bei der Arbeit. (Lida, m 17) Wenn zwei Männer miteinander kämpfen und der eine zu einer Waffe greift, ist der andere malia und rennt davon. (Tanjaky, m 19)

Malia lässt sich am ehesten mit ›sich nicht getrauen‹ oder – im Hinblick auf die negative Konnotation – mit ›feige‹ übersetzen. Während malia keinesfalls auf moralische Autoritäten bezogen ist, trifft dies andererseits auf die Emotion tsy mahasaky zu, die zudem ein sozial erwünschtes Verhalten mit sich bringt: Ich möchte einen Bekannten besuchen, den Rafaratsa [ihre Tante] nicht mag. Da Rafaratsa wütend (maseky) werden könnte, bin ich tsy mahasaky und besuche den Bekannten doch nicht. (Rapesa, w 19) Zum Beispiel ist mein Vater wütend (maseky) auf mich, weil ich seinen Anweisungen nicht folgen wollte. Deshalb ist mein Bauch bedrückt (mangenge gny trokiko). Ich werde aber selbst nicht wütend auf ihn, weil ich es nicht wage, ihm zu widersprechen (tsy mahasaky mamalivaly azy). (Tombohary, m 17)

Im deutschen Sprachgebrach kommt der Ausdruck ›etwas nicht wagen‹ tsy mahasaky am nächsten. Obwohl tsy mahasaky mittels einer Negation zum Ausdruck gebracht wird, assoziierten sie meine Gesprächspartner doch eindeutig mit tahotsy. Offenbar handelt es sich dabei um eine hochgradig antizipierte Form von tahotsy, da sie schon im Vorfeld von Handlungen oder Verhaltensweisen auftritt, die eine Autoritätsperson erzürnen könnte. Damit ermöglicht sie Personen, ihre Handlun‑ gen oder Verhaltensintentionen hinsichtlich ihrer moralischen Relevanz abzuwä‑ gen, und bietet zugleich eine Motivation, normwidrige oder sozial unerwünschte Handlungen zu unterlassen. Aufgrund dieser besonderen moralischen Relevanz findet sich tsy mahasaky – wie bereits in mehreren Beispielen angeführt – in zahl‑ reichen Redewendungen und Ausdrücken zu moralischem oder unmoralischem Verhalten und Handeln.

D as E motionsvok abul ar der W ut (sek y ) In Alltagsgesprächen war das Wort seky derart präsent, dass es zu den ersten Emo‑ tionswörtern gehörte, die ich im Feld erlernte und in Gesprächen heraushören konnte. Die Frage nach mit seky assoziierten Emotionswörtern ergab 21 weitere Kon‑

4. Die Bedeutung der Emotionen

zepte, die ihrerseits wieder mit seky verknüpft wurden.18 Auf diese Weise stellte sich heraus, dass seky analog zu tahotsy als Schlüsselkonzept angesehen werden kann, als Oberkategorie der anderen, spezifischeren Konzepte. Zur Bedeutungsanalyse wurden 46 Narrative zu seky und zwischen 10 und 20 Episodenbeispiele zu jedem der anderen damit assoziierten Emotionskonzepte erhoben. Beim Erzählen ihrer Beispiele zeigten sich die Gesprächspartner in hohem Maße motiviert und fast allen fiel es sehr leicht, spontan eine Episode zu dem jeweiligen Konzept zu erzählen.

Die seky-Familie Auch wenn die verschiedenen seky-Konzepte sehr divers sind, haben sie doch eini‑ ge Grundzüge gemein. Fast alle insgesamt rund 400 Narrative machen deutlich, dass die seky-Emotionen durch Verhaltensweisen oder Handlungen eines Interak‑ tionspartners veranlasst werden, die das Emotionssubjekt in irgendeiner Weise für inakzeptabel hält oder die seinen Motiven zuwiderlaufen. Sämtliche Emotionen der seky-Familie beziehen sich auf Personen und nicht etwa auf Tiere oder unbelebte Dinge, womit sie im Unterschied zur tahotsy-Familie per se als soziale Emotionen gelten können. Ein Grund für diese exklusive Ausrichtung von seky-Emotionen auf personale Interaktionspartner könnte darin liegen, dass die Unterstellung einer Intentionalität oder Verantwortlichkeit des Gegenübers entscheidend ist. Generell decken sich diese Appraisalmuster mit denjenigen, die für die Emotion anger vor‑ geschlagen wurden: According to Appraisal theorists […] people typically feel angry when they appraise an event as personally relevant, inconsistent with their goals, and when the event appears to be caused (often intentionally) by a responsible other. (Tangney et al. 2007: 361).

Die seky-Emotionen werden wie tahotsy im Körper verortet, allerdings nicht aus‑ schließlich im Herzen. Je nach spezifischer Form wird eine seky-Emotion entweder vorwiegend im Bauch (troky), im ›Mund des Herzens‹ (vavafo, entspricht in etwa dem Solarplexus), im Herzen ( fo), im Hals (tenda) oder in den Armen und Händen (tagna) empfunden. Seky-Metaphern wie etwa may fo (wörtlich: heißes Herz) und entsprechende Beschreibungen machen deutlich, dass seky-Emotionen mit Hitze assoziiert werden, die in der Forschungsregion generell für Aktivität steht. So be‑ schreibt der junge Mann Tsianara die Emotion may fo folgendermaßen: Was mein Herz may (≈ heiß) macht? Zum Beispiel schlägt mich ein Feind (arahamba), und sofort bemerke ich eine Hitze in meinem Herzen, mein Inneres beginnt zu brennen, und ohne zu zögern schlage ich zurück. Nachdem ich zurückgeschlagen habe, kühle ich wieder ab und beginne, darüber nachzudenken. Ich mache so etwas eigentlich nicht gerne, aber wenn mir jemand etwas Schlimmes antut, dann wird mein Herz heiß und es drängt mich, ihn noch 18 | Da während der gesamten Feldforschung immer wieder neue seky-Konzepte hinzukamen, kann nicht davon ausgegangen werden, dass die hier präsentierte Liste vollständig ist. Das Wörterbuch von Elli (1988), das vom Bara-Dialekt ins Italienische übersetzt und keine systematische Erhebung zulässt, enthält zudem noch weitere seky-Wörter, wie sich durch Zufallsfunde herausstellte. Die genaue Bedeutung dieser Vokabeln konnte jedoch nicht mehr erhoben werden, weshalb sie nicht weiter berücksichtigt werden.

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen fester zurückzuschlagen. Ich glaube, dass ich im Recht bin. Aber wegen der Gendarmen kann man kein Recht kriegen. Derjenige, der verletzt ist, hat für sie immer Recht und derjenige, der geschlagen hat, muss ihnen Geld zahlen.19 Weil mein Herz heiß war, habe ich es trotzdem getan und erst wenn ich wieder kühl bin, beginne ich, ein wenig zu bereuen (manegny) und sage mir: »Ah, was ist mir nur passiert. Ich war wütend (maseky) in diesem Moment und ich habe ihn geschlagen, weil ich überhaupt nicht mochte, was er mir angetan hat.« Das passiert, wenn das Herz heiß ist und sich dann langsam abkühlt. Dann fängt man an, über die Konsequenzen dieser Tat nachzudenken. Das ist alles. (Tsianara, m 26)

Hier und in vielen anderen Narrativen wird deutlich, dass die seky-Emotionen als eine Art autonome Kraft oder Energie konzipiert und erlebt werden, die gewisser‑ maßen in die Gliedmaßen, in die physische Aktion strebt und dem Verstand (say) oder Denken (mierieritsy) ein Stück weit entgegengesetzt ist. Während sich may fo gerade durch eine unkontrollierte Entladung auszeichnet, sind die anderen Wut‑ konzepte durch eine gewisse Unterdrückung oder Zurückdrängung dieser Kraft gekennzeichnet. Als Ausgangspunkt dieser Kontrolle wurden das im Kopf verorte‑ te say, äußere Umstände und Emotionen wie tahotsy beschrieben. Je nach Art und Grad der Regulation kommt es zu verschiedenen Körperempfindungen, die etwa als maloto troky (›fauliger Bauch‹), mivoto tenda (›geschwollener Hals‹) oder lolom-po (›im Herzen begraben‹) verbildlicht werden. Die Beschreibungen der körperlichen Dynamiken von seky-Emotionen sind dem ›hydraulic model‹ von Emotionen bzw. der Metapher des unter Druck gesetz‑ ten oder erhitzten Containers nicht unähnlich (Lakoff & Kövecses 1987; Lutz 1988: 179f; Lutz & White 1986: 419). Während Solomon (1976: 86) solche Emotionsmeta‑ phern als eurozentrischen Mythos dekonstruiert und Lutz (1988: 207) ihm darin weitgehend folgt, hat Kövecses (1995, 2003: 155f) später allerdings nachgewiesen, dass derartige ›Mythen‹ auch in nichtwestlichen Kontexten weit verbreitet sind.20 Meiner Forschung zufolge trifft dies auch auf die Menschen von Menamaty zu. Die Handlungstendenzen von seky zielen fast allen Narrativen zufolge auf ein handgreifliches, gewaltsames Vorgehen gegen den Adressaten: Die Sache, die mich maseky macht, besteht darin, dass mich jemand fälschlich beschuldigt, etwas getan oder gesagt zu haben. Mich macht es auch wütend, wenn meine Tochter Boty nicht folgsam ist. Wenn ich ihr auftrage, etwas im Haus zu holen und sie es dann nicht tut, macht es mich maseky. Deshalb bekommt sie Schläge von mir. (Traka, w 28)

19 | Hiermit verweist Tsianara auf die Praxis der Gendarmen in der Region, Personen, die von ihren Rivalen eines Gewaltakts beschuldigt werden, ohne Prüfung des Vorfalls festzunehmen und gegen Entrichtung eines Lösegeldes wieder freizulassen. 20 | Auch Helen Morton (1996: 222) argumentiert in Bezug auf die Bewohner Tongas, deren Wut-Vokabular in vielerlei Hinsicht mit dem der Bara vergleichbar ist, in diese Richtung: »The Western model of emotion has been described as hydraulic, with ›emotions as forces and pressures‹ within the person that can be contained, channeled, dispersed, redirected, and so on […]. Tongans share this model to some extent, as seen in the notions of restraint and of emotions ›falling out‹. Anger is described as being redirected, as slamming doors and breaking or throwing objects, and people will talk of ›long-term grudges‹ that cause anger to ›explode‹.«

4. Die Bedeutung der Emotionen Zum Beispiel nimmt ein anderes Kind meinen Spielochsenkarren (kalesako) und ich sage zu ihm: »He, lass das, ich habe ihn nicht für dich gebaut.« Ich bin maseky auf den Jungen und schlage ihn. (Leonardo, m 10) Meine Freunde haben meinen Hut heimlich versteckt und erst nach einiger Zeit gestehen sie es mir. Das macht mich maseky, weil ich lange vergebens nach dem Hut gesucht habe. Ich habe Lust, sie mit dem Hirtenstock zu schlagen. So ist das seky. (Manjo, m 18)

Die Tendenz zu einer offensiven körperlichen Handlung kommt auch in den Nebenbedeutungen von seky wie ›scharf‹, ›spitz‹, ›wild‹ oder ›heftig‹ zum Aus‑ druck, und entsprechend können auch Tiere, insbesondere gereizte Rinder, oder körperliche Eigenschaften wie etwa ein Dreitagebart als maseky bezeichnet werden. Jene seky-Konzepte, die eine Kontrolle der handgreiflichen Tendenz implizieren, können mit seky im Bauch oder Herzen (seky amin’ny troky/fo) umschrieben wer‑ den. Dass Personen seky und entsprechend Handlungstendenzen auch im Rahmen zurückgenommener und gedämpfter seky-Emotionen noch wahrnehmen, machen zahlreiche Narrative deutlich, darunter auch die weiter unten zitierten. Aufgrund dieser ausgeprägten Tendenz zur Handgreiflichkeit übersetze ich seky annäherungsweise mit Wut und das gesamte entsprechende Emotionsclus‑ ter als Wutfamilie. Im deutschen Sprachgebrauch kommt zwar eher der Ärger als Oberkategorie für eine Reihe von unterschiedlichen Emotionskonzepten infrage; jedoch scheint bei diesem Konzept die Handlungstendenz weniger direkt in eine gewalttätige Handlung zu münden als bei seky, was der Alltagserfahrung in der deutschen Gesellschaft näherkommen mag.

Interne Differenzierung der seky-Familie Die vergleichende Bedeutungsanalyse der seky-Konzepte zeigt, dass sie sich hin‑ sichtlich einer Vielzahl an Aspekten voneinander unterscheiden. So unterscheiden sie sich durch unterschiedliche Appraisalmuster; der Fokus liegt je nach Konzept auf verschiedenen Emotionskomponenten, wie etwa auf einem Bauchgefühl, einem appellierenden Ausdrucksverhalten oder einer Vergeltungsaktion. Am deutlichsten differenzieren sich die seky-Konzepte jedoch hinsichtlich der sozialen Relation zwi‑ schen dem Emotionssubjekt und der auslösenden Person sowie durch kovariieren‑ de Handlungstendenzen. Dies geht nicht nur aus der vergleichenden Analyse der Narrative hervor, sondern wird auch in einzelnen Narrativen deutlich gemacht: Mein Bauch ist mihotokotoky (≈ schmerzhaft), und ich werde wütend (seky) in meinem Körper, wenn ich einen Streit innerhalb meiner Familie habe. Zum Beispiel gibt es ein Wortgefecht zwischen meiner Schwester und mir, und so entsteht ein Schmerz in meinem Körper/ meiner Lebenskraft (mihotokotoky gn’aiko). Ich möchte wütend (maseky) auf sie werden und mich mit ihr schlagen. Das geht aber nicht, weil sie meine große Schwester ist und ich mich nicht mit ihr schlagen darf; deshalb fühle ich lediglich einen fauligen Bauch (lo troky), und wir sprechen nur laut miteinander. (Mahadigny, w 35) Mein Bauch ist korotaky (≈ aufgewühlt), wenn mich etwas wütend macht (mapaseky). Zum Beispiel benutzt jemand etwas, das mir gehört, beispielsweise meine Angel, ohne mich zu fragen. Er nimmt sie ohne meine Zustimmung und bringt sie irgendwann wieder zurück. Ich

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen kann ihm nichts antun, weil er zu meiner Familie gehört, und deshalb bleibt nur eine Unruhe in meinem Bauch. (Maragnitsy, m 30) Wenn mir meine Eltern etwas verbieten und ich es trotzdem tue, oder wenn sie sagen, dass ich etwas tun soll und ich »nein« sage, wenn ich mich z.B. weigere, Reis zu kochen und sie mich dann schlagen, macht mich das wütend (maseky). Weil es aber meine Eltern sind, ist nur mein Bauch motamotaky (≈ schmutzig). (Razaminy, w 13) Man ist/macht mihindrotsy, wenn einem etwas geklaut wurde und man dann den Dieb trifft. Wenn es sich bei dem Dieb allerdings um einen Fremden handelt, ist man nicht mihindrotsy, sondern dann brennt das Herz (may gny fo) und man schlägt ihn. Wenn es sich bei ihm um einen Freund oder Verwandten handelt, kann man ihn nicht schlagen und ist deshalb mihindrotsy und nur im Bauch wütend (maseky amin’ny troky). (Ziny, w 35)

Wie aus diesen Episoden ersichtlich wird, spielt die Sozialrelation zwischen dem Emotionssubjekt und der auslösenden Person eine zentrale Rolle für die Entwick‑ lung und Regulation einer seky-Episode. Ob eine aufkommende seky-Emotion ›im Bauch gehalten‹ wird oder in eine gewaltsame Aktion mündet, hängt beispielsweise stark davon ab, ob das Emotionssubjekt mit dem Gegenüber verwandt ist oder nicht. Von emotionswissenschaftlichem Interesse ist hierbei, dass diese sozial-relationale Wutregulierung mit einer Ausdifferenzierung des Wutvokabulars zusammenfällt. Die zitierten Narrative machen zudem deutlich, dass die Regulierung nicht nur die Handlungstendenz, sondern auch das Ausdrucksverhalten sowie die Körperreaktion bzw. deren Wahrnehmung als subjektives Gefühl betrifft. Damit erscheint der Regu‑ lationsmodus als integraler Bestandteil des jeweiligen seky-Konzeptes. Wie bereits im 3. Kapitel zu den Beziehungsmustern deutlich wurde, orientie‑ ren sich die durch fehlende oder entfernte Verwandtschaft definierten Relationen an einem egalitären Ethos und die Relationen innerhalb des tariky an einem hierar‑ chisch-interdependenten Interaktionsstil. Die seky-Emotionen differenzieren sich deutlich nach diesen egalitären und hierarchischen Beziehungsmustern, wobei sich die für hierarchische Beziehungen charakteristischen seky-Emotionen durch eine gewisse Kontrolliertheit von den anderen seky-Emotionen unterscheiden. Unter den in hierarchische Beziehungen eingebetteten seky-Emotionen tritt eine weitere Differenzierung auf, die wiederum mit den moralischen Normen zusam‑ menhängt. Während innerhalb des tariky körperliche Gewalt gegenüber jüngeren, insbesondere direkten Nachkommen unter gewissen Umständen durchaus zuläs‑ sig ist, sind jüngere gegenüber älteren Verwandten zur Vermeidung jeder offensi‑ ven Form von seky angehalten. Die diesen sozialen Einbettungen entsprechenden Subgruppen der seky-Familie bezeichne ich nach ihren typischen Handlungsten‑ denzen als Vergeltungs-, Sanktions- und appellierende Wut.

Vergeltungswut Zu den durch eine Vergeltungsabsicht charakterisierten Wutemotionen gehören may fo, lolom-po, kinia, magnapoko und kakay. Diese Emotionen können insofern als Formen der Vergeltungswut bezeichnet werden, als sie durch einen Akt absicht‑ licher Schädigung bzw. Erniedrigung ausgelöst werden und die Absicht zur Folge haben, der auslösenden Person in gleicher oder ähnlicher Weise zu schaden. Am

4. Die Bedeutung der Emotionen

häufigsten handelt es sich bei den diese Emotionen veranlassenden und aus ihnen resultierenden Akten um ›Diebstahl‹ von Rindern, Liebes- oder Ehepartnern, womit die Vergeltungsemotionen eine zentrale Rolle bei der Rivalität um Besitz und daran geknüpften sozialen Status spielen. Weniger häufig, aber ebenfalls in konsistenter Weise werden diese Emotionen durch herabsetzende Beleidigungen oder unberech‑ tigte Vorhaltungen ausgelöst, die in den Augen des Emotionssubjekts einer Vergel‑ tung bedürfen. Die Relationen zwischen dem Emotionssubjekt und der auslösenden bzw. adressierten Person sind durchgängig durch ein fehlendes oder weites Ver‑ wandtschaftsverhältnis, ein ähnliches Alter und dasselbe Geschlecht gekennzeich‑ net, womit diese Emotionen eindeutig in egalitäre Beziehungen eingebettet sind. Die Emotion may fo (bzw. mafana fo) tritt meist im Rahmen einer aktuellen tätlichen Auseinandersetzung auf. Jemand, der may fo ist, verspürt den Drang, auf einen tätlichen Angriff unverzüglich mit einem Gegenangriff zu reagieren. Wie in einigen Narrativen, so auch in dem eingangs zitierten, expliziert wird, zeich‑ net sich diese Emotion gerade durch eine gänzlich fehlende Kontrolle aus, sodass das Emotionssubjekt häufig erst im Nachhinein eine Bewertung dessen vornimmt, was es getan hat. Die wörtliche Bedeutung des heißen, brennenden, glühenden oder kochenden (may) Herzens ( fo) weist auf den starken Drang zu körperlicher Aktion hin – so bedeutet may (ohne fo) auch ›eilig‹ oder ›ungeduldig‹ – und kann zugleich als Metapher für die Gefühlsdimension dieser Emotion interpretiert wer‑ den. Als deutschsprachige Entsprechung für may fo kommt am ehesten der Aus‑ druck ›wutentbrannt‹ infrage. Ein Emotionskonzept mit sehr ähnlicher Metapho‑ rik findet sich in der auf Papua-Neuguinea gesprochenen Sprache Mangap-Mbula: kete- (i) bayou bedeutet nach Bugenhagen (1990: 205) wörtlich »liver hot« und wird von ihm mit »very angry« übersetzt. Lolom-po, kinia, magnapoko und kakay ziehen wie may fo die Handlungstendenz nach sich, dem Gegenüber aus Vergeltungsgründen zu schaden, jedoch erfolgt die Realisierung dieser Handlung nicht unmittelbar, sondern wird vielmehr in eine unbestimmte Zukunft verschoben. Da diese Emotionen einigen Erzählungen zu‑ folge so lange anhalten, bis die intendierte Vergeltung realisiert ist, können sie über Monate oder gar Jahre fortbestehen. Es liegt daher nahe, sie als Sentiments zu fas‑ sen (vgl. Frijda et al. 1991). Mit der Ausnahme von kakay kommt die Verschiebung der Handlungsrealisierung meist durch äußere Umstände zustande, die einen un‑ mittelbaren Vergeltungsakt vereiteln: Zum Beispiel wirbt jemand um meine Freundin, und sie ist einverstanden. Ich behalte das in meinem Herzen und versuche ebenfalls, die Freundin meines Kontrahenten zu erobern. Wenn mir das auch gelingt, sind wir beide wütend (maseky) und wollen uns prügeln. Jedoch gibt es keine Schläge, weil jemand dazwischen geht. Ich sage nur zu dem Rivalen: »Wir werden uns wiedersehen, mein Freund.« So entsteht kinia. (Kabo, m 18) Als ich von einer längeren Reise nach Hause komme, vernehme ich das Gerücht, dass meine Frau einen Liebhaber habe. Sobald ich herausgefunden habe, wer dieser Liebhaber ist, entsteht lolom-po diesem gegenüber. Ich gebe also vor, ein weiteres Mal zu verreisen, kehre jedoch in der Nacht zurück, und wenn ich den Mann bei meiner Frau antreffe, töte ich ihn sofort. (Tanja, m 25)

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen Wenn jemand z.B. meine Rinder geklaut hat und ich weiß, wer es war, werde ich kinia und sage zu mir: »Es gibt noch etwas zu klären zwischen uns beiden, wenn wir uns eines Tages alleine treffen. Ich kann den Dieb im Moment nicht finden aber wir werden uns wiedersehen.« Wenn wir Frauen kinia haben, dann regeln wir das am Fluss, indem wir dort miteinander kämpfen. Das ist kinia. (Doara, w 35) Zum Beispiel pflücke ich mit einer Gruppe Mädchen Mangos. Eine Rivalin lässt vom Baum einen Mango auf meinen Kopf herunterfallen, und da beginnen wir zu streiten: »Wenn ich dich alleine am Fluss treffe, werden wir beide kämpfen.« »Einverstanden«, sagt sie zu mir und beginnt, magnapoko mir gegenüber zu hegen. Auch ich habe magnapoko ihr gegenüber: »Wenn ich dich alleine treffe, wirst du Schmerzen erleben«, sage ich in Gedanken zu mir. Das ist magnapoko. (Tsimangoa, w 15)

Wie diese Beispiele zeigen, wird das Emotionssubjekt entweder durch beistehende und eventuell eingreifende Personen von einer unmittelbaren Vergeltungsaktion ab‑ gehalten. Oder die Zielperson ist zu dem Zeitpunkt, in der das Emotionssubjekt von der Emotionsauslösenden Handlung erfährt, nicht präsent, was insbesondere bei Diebstahl von Rindern oder Geschlechtspartnern der Fall ist. Auch die Unfähigkeit des Emotionssubjekts, umgehend Vergeltung zu üben, etwa aufgrund einer Ver‑ letzung oder Krankheit, kann die Transformation von akuter Wut in ein dauerhaftes Sentiment bedingen. Wörtlich bedeutet magnapoko ›ins Herz legen‹ und lolom-po ›im Herzen begraben‹, was die Verschiebung und Aufbewahrung der Vergeltungs‑ tendenz metaphorisiert. Einiges spricht dafür, dass die Vergeltung nicht einfach nur auf eine zukünftige Gelegenheit verschoben wird, sondern dass der reale Akt auch durch Fantasien und symbolische Akte ersetzt werden kann. So ist einerseits von einem anhaltenden Grübeln über die Vergeltung die Rede; zum anderen wird häufig betont, dass die Vergeltungsabsicht dem Adressaten verkündet wird. Die Praxis des Schadenszaubers (voriky), die neben maimay (Neid) besonders mit diesen Vergel‑ tungsemotionen assoziiert ist, erlaubt es, den Vergeltungswunsch auszuleben und symbolisch umzusetzen, ohne direkt gegen den Adressaten vorzugehen. Nach Narrativen handelt es sich bei lolom-po um die intensivste Form der Ver‑ geltungsemotion, typischerweise mündet sie in eine Tötungsabsicht oder ‑fantasie. Die wörtliche Übersetzung ›im Herzen begraben‹ spricht zudem für ein beson‑ ders tiefsitzendes und hartnäckiges Gefühl. Kinia und magnapoko führen nach den meisten Beispielen zu der Absicht, dem Adressaten exakt dasselbe zuzufügen, was das Emotionssubjekt durch ihn erlitten hat. Lolom-po, magnapoko und kinia lassen sich annähernd mit ›Rachsucht‹ oder ›Rachgier‹ übersetzen. Allerdings sind die‑ se deutschsprachigen Konzepte im Alltag offenbar kaum noch gebräuchlich und transportieren im Unterschied zu denjenigen der Bara durch die Bezugnahme auf Gier oder Sucht eine deutlich negative Konnotation. Kakay unterscheidet sich insofern von den anderen Vergeltungsemotionen, als ihr zumeist ein freundschaftliches oder entfernt verwandtschaftliches Verhältnis vorausgeht, das durch das Gegenüber verletzt wird: Zum Beispiel habe ich jemandem Geld, Reis oder ein Rind geliehen, doch er will die Schuld nicht begleichen. Er sagt immer »morgen, morgen«, wenn ich ihn danach frage. Schließlich sage ich ihm: »Kumpel, zahl mir jetzt zurück, was du mir seit langem schuldest. Ich will nicht, dass das zu einem Grund für Streit zwischen uns wird, oder willst du, dass unsere Freund-

4. Die Bedeutung der Emotionen schaft wegen dieser Sache zerbricht? Du verstehst wohl nicht, dass ich dir aus Freundschaft geholfen habe. Ich verlange, dass du die Schuld so bald wie möglich begleichst.« Er antwortet: »Einverstanden, ich will sehen, was sich machen lässt, vertrau mir.« Die Zeit vergeht, doch er tut nichts und deshalb sage ich ihm: »Sieh, die Vergangenheit ist vorbei aber die Zukunft hält noch viel bereit. Du hast die Wahl: Du kannst deine Schulden begleichen oder du lässt es sein, ich werde jedenfalls nicht mehr danach fragen.« In diesem Moment beginnt das kakay gegen ihn, es wird von meinem Herzen geboren, ich kann die Sache nicht vergessen. Eines Tages kommt er zu mir und sagt: »Hilf mir, meine Freund Voavy, ich stecke in Schwierigkeiten; mein Schwiegervater ist zu Besuch, und wir wollen unserem Gast Reis anbieten, haben aber im Moment keinen da.« Wie ich schon sagte, hege ich kakay ihm gegenüber und sage deshalb: »Gut, dass du gekommen bist, mich zu sehen. Leider gibt es ein Problem – erinnerst du dich an früher? Du wolltest mir nicht die Schulden zurückzahlen und jetzt wagst du es, dich mir zu zeigen und wieder um Hilfe zu bitten? Was werden wir also machen? Glaubst du, ich werde dir den Reis geben? Ich kann die Art und Weise nicht leiden (hala), wie du mich behandelt hast, und kann dir diesmal nicht helfen, es tut mir leid, mein Freund.« Aus kakay wollte ich ihm nicht ein zweites Mal helfen. Das nennt man kakay. (Voavy, m 19)

Wie dieses Narrativ und auch viele weitere Beispiele zeigen, führt kakay im Unter‑ schied zu den anderen Vergeltungsemotionen nicht zu einem physischen Rache‑ akt, sondern zur Aufkündigung des freundschaftlichen Verhältnisses durch die Verweigerung von Hilfe. Als deutschsprachiges Äquivalent bietet sich der Groll an, der ebenfalls aus der Verletzung eines Reziprozitätsverhältnisses resultieren und den Beziehungsabbruch nach sich ziehen kann. Diese fünf Vergeltungsemotionen wurden weder eindeutig als sozial erwünscht noch als sozial unerwünscht dargestellt, doch sprechen viele Narrative dafür, dass sie von den Erzählern durchaus als legitim betrachtet wurden. Sie dienen nicht nur dazu, erfahrene Provokationen durch arahamba (Nichtverwandte/Feinde) oder Verletzungen der Reziprozität durch longo (Verwandte/Freunde) auszugleichen, sondern signalisieren einem arahamba oder longo schon im Vorfeld, dass solche Akte entsprechende Vergeltungsmaßnahmen zur Folge haben würden. Zudem kann die Unterstellung dieser Emotionen Ansporn sein, Kompensationsverhand‑ lungen aufzunehmen, um drohende Vergeltungsakte zu verhindern. Somit kommt diesen Emotionen und ihren Vergeltungstendenzen eine zentrale Rolle bei der Regulierung und Aufrechterhaltung egalitärer Beziehungen zu, die nicht durch hierarchische Machtstrukturen oder zentrale Autoritäten eingehegt sind.21 In Ge‑ sellschaften mit zentralisierten Macht‑ und Rechtsstrukturen mögen derartige Emotionen und Vergeltungshandlungen unerwünscht sein, wie etwa die Begriffe der Rachsucht oder Selbstjustiz nahelegen. An ihre Stelle treten positiv bewertete Emotionen wie Empörung oder Entrüstung, die ebenfalls aus erfahrener oder be‑ obachteter Ungerechtigkeit resultieren, jedoch weniger zu einem direkten Eingrei‑ fen als vielmehr zu einer Verlautbarung des Unrechts gegenüber der Öffentlichkeit

21 | So schreibt etwa auch Frijda zur sozialen Funktion der Vergeltung (1994: 270): »Vengeance serves power equalization. When individuals or groups endeavour to impose their will upon others, vengeance serves to correct them. Revenge is the social power regulator in a society without central justice. Vengeance is ›a system of defining and controlling conflict by avoiding any recourse to a third party, i.e., the state.‹«

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oder Rechtsinstanzen führen. Entsprechende Emotionskonzepte konnte ich in der Forschungsregion nicht identifizieren.

Sanktionswut Als Emotionen der Sanktionswut lassen sich im weiteren Sinn seky und im engeren Sinn heloky, mivoto tenda, sosotsy und botsy bezeichnen. Sie können wie die Vergel‑ tungsemotionen zwar auch zu einer tätlichen Handlung führen, jedoch zielt die Handlungsintention nicht auf eine Schädigung des Gegenübers, sondern vielmehr auf eine verhaltenskorrigierende Erziehungsmaßnahme mittels verbaler oder kör‑ perlicher Sanktionen. Entsprechend besteht das auslösende Verhalten in der Regel in fehlender Rücksichtnahme, Pflichtvergessenheit, Ungehorsam oder Normver‑ stößen. Die soziale Relation zwischen dem Emotionssubjekt und dem Adressaten ist stets durch ein Verwandtschaftsverhältnis und meist durch ein Statusgefälle ge‑ kennzeichnet. Typischerweise reagieren Eltern mit diesen Emotionen auf das Fehl‑ verhalten ihrer Kinder. Insofern diese Sanktionsemotionen in verwandtschaftliche Verhältnisse eingebettet sind und eine Schädigung vermieden werden soll, handelt es sich um Formen der zurückgenommenen, kontrollierten Wut. Seky habe ich zwar oben als Schlüsselkonzept der Wutemotionen eingeführt, jedoch wird es in den Narrativen häufig im Kontext einer Sanktionshandlung dar‑ gestellt – insbesondere von Kindern, welche die Reaktion der Autoritätsfiguren auf ihr Fehlverhalten beschreiben: Mein Großvater wird sehr maseky und schlägt mich, wenn ich mich vor der Arbeit drücke und mich verstecke oder den ganzen Tag nicht blicken lasse. (Nestor, m 9)

Erwachsene stellen seky ebenso häufig in einen Sanktionskontext: Ich werde maseky, wenn ich meinen Kindern etwas auftrage und sie es nicht tun. Zum Beispiel sage ich ihnen: »Sammelt den Reis ein, der zum Trocknen in der Sonne liegt.« Doch sie tun es nicht und drücken sich. Das macht mich sehr maseky. Am Ende hole ich selbst den Reis und bringe ihn ins Haus. Wenn sie abends wieder nach Hause kommen, schlage ich sie, und mein seky lässt dadurch nach. Wenn mein seky weg ist, habe ich vielleicht auch ein wenig Mitleid (ferignay) mit ihnen. (Pelany, w 35)

Der Einsatz von Körpersanktionen erscheint insofern nicht verwunderlich, als seky vor allem durch eine körperliche Handlungstendenz definiert ist und die Körper‑ strafe von den erwachsenen Gesprächspartnern durchgängig als Inbegriff einer Sanktion angesehen wurde. Voaseky, das Wort für Bestrafung, bedeutet wörtlich ›von Wut getroffen‹. Auch havoa, ein Konzept der übernatürlichen Bestrafung durch Ah‑ nengeister wird in erster Linie mit der Emotion seky verknüpft. Ahnengeister reagie‑ ren demnach nicht nur mit seky auf moralisches Fehlverhalten ihrer Nachkommen, sondern gelten auch als maseky im Sinne einer Charaktereigenschaft. Heloky ist im Unterschied zu seky in allen erzählten Episoden auf verwandt‑ schaftliche, hierarchische Beziehungen beschränkt. Bis auf wenige Ausnahmen ist diese Emotion auf jüngere bzw. statusniedere Personen gerichtet. Häufig wird die‑ se Emotion durch Fehlverhalten von kindlichen oder erwachsenen Nachkommen ausgelöst, womit heloky als Sanktionswut per se bezeichnet werden kann:

4. Die Bedeutung der Emotionen Jetzt gerade ist der Vater meines Ehemannes meloky uns gegenüber, weil mein Mann und ich unseren Reis nicht verkaufen wollen. Er sagt zu uns: »Ihr habt viel Reis geerntet und ihr solltet von einem Teil des Reises Rinder kaufen.« Mein Ehemann weigert sich aber, dies zu tun, und so sagt er zu seinem Vater: »Nein Vater, wir werden keinen Reis verkaufen, wir sind nicht einverstanden.« »Aha«, antwortet der Vater und wird meloky: »Es ist schwierig euch zu helfen, ihr denkt nur an die Gegenwart.« Sein Vater ist meloky auf uns, weil wir seinem Rat nicht folgen und unseren Reis einfach aufessen, ohne Rinder davon zu kaufen. Wenn man der Anweisung des Vaters nicht folgt, wird er meloky. (Nay, w 18) Mich macht es meloky, wenn sich unsere Kinder hier im Haus schlecht verhalten. Zum Beispiel treiben sie Unfug, hauen sich gegenseitig. Wenn sie nicht damit aufhören, obwohl ich es ihnen verbiete, sage ich: »He, lasst das sein, setzt euch ruhig hin, es bereitet mit Kopfschmerzen.« Sie hören aber nicht auf, sich zu schlagen, und so werde ich meloky und möchte ihnen eine Tracht Prügel verpassen. (Masy, w 25)

Wie die Beispiele zeigen, kann die aus heloky resultierende Handlung von einer ver‑ balen Ermahnung oder Zurechtweisung bis hin zu einer Körpersanktion reichen. Dies hängt zum einen vom Schweregrad des Fehlverhaltens und zum anderen auch vom Alter des Adressaten ab, da Erwachsene von ihren Eltern nicht körperlich sanktioniert werden. Einige Erläuterungen legen nahe, dass heloky als eine Schwel‑ lung oder ein Druck im Oberbauch (mivoto gn’ambava fo) empfunden wird, was auf eine gewisse Kontrolliertheit hindeutet. Mivoto tenda resultiert wie heloky meist aus einer Normverletzung durch einen Nachkommen. Im Unterschied zu heloky ist der Adressat jedoch nicht präsent, wenn das Emotionssubjekt den Normverstoß bemerkt, sodass die intendierte Sanktionshandlung durch äußere Umstände unterbunden wird. Typisch sind Si‑ tuationen, in denen das Emotionssubjekt entdeckt, dass Kinder oder Jugendliche unerlaubt einen Gegenstand mitgenommen, Nahrungsmittel verzehrt oder eine Aufgabe nicht oder nachlässig ausgeführt haben: Mivoto tenda gehört zur Familie der Wut (seky) und ist ähnlich wie meloky. Folgendes macht uns mivoto tenda: Die Jungen passen nicht gut auf die Rinder auf, sodass diese dann auf den bebauten Feldern fressen. Wenn ich dann die Felder begutachte, werde ich wütend (maseky) und mivoto tenda und sage zu mir: »Was soll das? Warum hüten sie die Rinder nicht sorgfältig, sodass diese auf dem Reisfeld fressen? Ich werde sie jetzt suchen, um ihnen das zu sagen.« Wenn ich sie schließlich antreffe, schimpfe ich mit ihnen: »Warum lasst ihr die Rinder überall herumlaufen und die Felder verwüsten, seht, wie sie zerstört sind.« Sie antworten: »Wir wissen nicht, wie das geschehen konnte, wir haben versucht, die Rinder von den Feldern fernzuhalten, aber die Tiere wissen nicht, was sie tun.« Ich sage dann: »Passt in Zukunft besser auf die Rinder auf, sonst werde ich gereizt (botsy) oder sogar wütend (seky) und es gibt Prügel.« (Magnamora, m 30)

Wörtlich lässt sich mivoto tenda mit ›angeschwollener‹ oder ›dicker Hals‹ über‑ setzen und ruft damit ein ähnliches Bild auf wie der deutschsprachige Ausdruck ›einen (dicken) Hals haben‹. Es liegt nahe, dass sich beide Ausdrücke auf das Ge‑ fühl eines durch äußere Umstände blockierten Dranges beziehen, jemanden zu sanktionieren.

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Sosotsy und botsy unterscheiden sich von den anderen Formen der Sanktionswut vor allem durch eine geringere Intensität. Dies wurde von den Gesprächspartnern teils direkt zum Ausdruck gebracht, zudem beschrieben sie wesentlich geringfü‑ gigere Anlässe. Sie beziehen sich weniger auf einen ausgewachsenen Normverstoß als vielmehr auf ein Verhalten, das vom Emotionssubjekt als störend oder belästi‑ gend empfunden wird: Donne fragt mich, ob ich ihm meine Axt verkaufen würde, da ich mir ja jederzeit eine neue bei meinem Bruder bestellen könne [welcher Äxte herstellt]. Doch ich bin nicht einverstanden, da ich die Axt für das tägliche Leben brauche und nicht warten kann, bis eine neue Axt fertig ist. Trotzdem bittet Donne mich immer wieder, und so werde ich schließlich sosotsy und sage ihm deutlich, dass ich sie ihm nicht geben werde. Als ich mich auf den Nachhauseweg mache und Donne mir folgt, um mich ein letztes Mal um die Axt zu bitten, werde ich maseky und schimpfe laut mit ihm. (Magnamora, m 30)

Sosotsy kann zu einem verbalen und gestischen oder mimischen Ausdruck des Missfallens führen und sich, sofern diese Warnung missachtet wird, zu seky oder heloky steigern. Als deutschsprachiges Äquivalent kommt ›verärgert sein‹ infrage. Botsy lässt sich aufgrund der Narrative kaum von sosotsy unterscheiden. Die Handlungstendenz von botsy zielt jedoch eher darauf, die auslösende Situation zu vermeiden: Wenn ich Todiny und Katsavo etwas auftrage, doch diese ihre Aufgabe schlecht erfüllen, bin ich botsy. Ich sage ihnen dann, dass ich nicht zufrieden (afa-po) mit ihnen bin, und ich werde sie nicht ein weiteres Mal um einen Gefallen bitten. (Lejo, m 30)

Andere Beispiele beziehen sich auf andauerndes, geräuschvolles Spiel der Kinder, was das Emotionssubjekt dazu bewegt, sich entweder selbst zu entfernen oder die Kinder wegzuschicken. Botsy hat also Gemeinsamkeiten mit den Konzepten des Überdrusses oder der Gereiztheit und dürfte in der Untersuchungskultur eine Rol‑ le dabei spielen, die weitgehende Trennung zwischen kindlicher und erwachsener Sphäre im Alltag aufrechtzuerhalten.22

Appellierende Wut Als appellierende Wut lässt sich eine Gruppe von mindestens zehn Emotionskonzep‑ ten zusammenfassen. Diese Emotionskonzepte unterscheiden sich von denen der vergeltenden und sanktionierenden Wut durch das gänzliche Ausbleiben einer offen‑ 22 | Mit Blick auf die Sakalava, einer benachbarten Gruppe, bestätigt Michael Lambek die Rolle von seky und heloky als Formen sanktionierender Wut bzw. als »just anger« (Lambek & Solway 2001: 60): »Someone who is mashiaka [entspricht maseky im Bara-Dialekt] is quick to anger, malaiky meloko [entspricht meloky] and retaliates without hesitation. A person who loudly or caustically berates their spouse or children is described as mashiaka. Mashiaka is not an entirely negative concept, however, and it is met with respect and fear. It is an attribute of power that may be viewed ambivalently, but it is not without certain legitimacy; in precolonial times monarchs were mashiaka with respect to their subjects and violent in their relation with one another. [I]t is equally clear that the appropriate direction runs from senior to junior.«

4. Die Bedeutung der Emotionen

siven Handlungstendenz. Sie äußern sich stattdessen in einem ausgeprägten Körper‑ gefühl sowie in verschiedenen Ausdrucksformen, mit denen das Emotionssubjekt an das Gegenüber appelliert, auf seinen Zustand oder Standpunkt einzugehen. An der Stelle einer dominierenden, forcierenden Handlungstendenz steht hierbei also ein appellierendes Ausdrucksverhalten. Zwar unterscheiden sich die Konzepte je nach‑ dem, ob ihr Fokus auf einem Körpergefühl oder dem Ausdruckverhalten liegt; jedoch werden beide Aspekte häufig in derselben Episode thematisiert. Offenbar sind beide Aspekte für dieselbe emotionale Reaktion gleichermaßen charakteristisch. Typischerweise entstehen diese Emotionen als Reaktionen auf die Autori‑ tätsausübung durch Eltern oder andere Autoritätspersonen, die den Motiven des Emotionssubjekts zuwiderlaufen. Das Ausbleiben offensiver Handlungen als Spe‑ zifikum der appellierenden Wut erklärt sich aus dieser sozialen Einbettung, da jegliche Form von Aggressivität gegenüber Autoritätspersonen fady ist. Mein Bauch ist motramotraky (≈ verdorben), wenn meine Eltern wütend (maseky) auf mich sind, weil ich nicht folgsam war. Dann bin ich in meinem Bauch wütend (maseky amin’ny troky) auf meine Eltern und sage zu mir: »Was habe ich Schlimmes getan, dass sie so zornig (heloky) sind?« Mein Bauch ist faulig (lo gny trokiko) und schmerzt (mihotokotoky gny trokiko). Ich schmolle (mimotso), möchte weinen und fühle mich krank. (Batsiandy, w 16) Zum Beispiel habe ich meinen Vater um etwas Geld gebeten, doch er wollte mir nichts geben. Mein Bruder allerdings hat etwas bekommen. Überhaupt haben meine Brüder immer wieder etwas erhalten und ich nicht, deshalb wird mein Bauch schmutzig. Ich bin wütend (maseky) auf ihn und ich spreche nicht mit ihm, sondern schmolle (mimotso) nur. Wenn er mich etwas holen schickt, weigere ich mich. Das nennt man maloto troky (schmutziger Bauch). (Tombohary, m 17) Zum Beispiel hat mich mein Vater mit einer Frau verheiratet, die ich überhaupt nicht mag. Deshalb ist mein Herz nicht klar (tsy mazava gny foko) und mein Bauch wird mihotokotoky (≈ schmerzvoll). (Ndrenome, m 22) Wenn meine Eltern ohne triftigen Grund wütend auf mich sind, wird mein Bauch mangenge (≈ bedrückt). Ich will weinen, und mein Herz ist zugleich traurig (malahelo gny foko), weil man grundlos wütend (seky) auf mich ist. (Serliny, w 11) Die Sache, die meinen Bauch mangenge (≈ bedrückt) macht, besteht darin, dass mich meine Eltern bitten, etwas für sie zu tun, ich es erledige und sie dann nicht zufrieden (tsy afa-po) sind. Ich frage mich: »Wie genau soll ich es denn machen, damit sie zufrieden sind?« Die Sache ist ja schon fertig und ich bin müde davon, aber ihnen ist das egal. Das bedrückt meine Lebenskraft (mangenge gn’aiko). Ich bin wütend (maseky) und mache die Sache ein weiteres Mal, weil sie nicht zufrieden waren. Das führt zu mangenge gny troky (bedrückter Bauch). (Pelany, w 35)

Häufig beziehen sich die von Frauen erzählten Episoden auch auf den Ehemann, der seine Ehepflichten verletzt, indem er beispielsweise auf eine indezente Weise untreu wird oder seine Ehefrau nicht tatkräftig unterstützt: Der Umstand, der meinen Bauch motramotraky (≈ verdorben) werden lässt, ist der, dass mein Ehemann mich hier ganz alleine schlafen lässt, weil er zu seiner Geliebten in ein an-

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen deres Haus gegangen ist. Das bereitet mir ein verdorbenes Herz (motramotraky fo) und ich werde wütend (maseky), weil ich es nicht mag, wie er mich behandelt. Er bemerkt es, wenn wir uns anschauen und ich nicht mit ihm rede, keine Lust habe zu lachen/lächeln (mihehy), wenn er einen Witz macht. Ich lächle (misominda) dann nicht einmal. (Fanjara, w 20) Mein Bauch wird maloto (≈ schmutzig), wenn mein Mann etwas tut, das mir nicht gefällt. Zum Beispiel verkauft er unseren Reis, ohne nach meiner Meinung zu fragen. Er verkauft ihn heimlich und versteckt das Geld, und deshalb frage ich ihn: »Wo ist das Geld, das du für den Reis bekommen hast, mein Mann?« Er leugnet: »Nein, ich habe keinen Reis verkauft.« Jemand erzählt mir jedoch: »Er belügt dich, er hat Reis verkauft, will aber nicht, dass du davon weißt.« Seit dieser Sache gibt es nichts Sauberes in meinem Bauch (tsy misy raha madio gny trokiko), ich bin wütend (maseky) auf ihn. Das ruft weiteren Streit hervor und mein Bauch bleibt maloto wegen meinem Ehemann, weil es für mich nicht klar ist (tsy mazava agnamiko). Das sind die Dinge, die zu einem moloto troky führen. (Radiny, w 20)

Es ist klar, dass die passiven Wutreaktionen von Ehefrauen gegenüber der Pflicht‑ vergessenheit ihrer Männer aus ihrer untergeordneten sozialen Position resultie‑ ren, die es ihnen versagt, offensiv gegen sie aufzutreten. Entgegen der oben konstatierten Regel ist die appellierende Wut in einigen we‑ nigen Episoden auch auf – erwachsene – Nachkommen gerichtet: Mein Herz wird lo (≈ faulig), wenn eines meiner Kinder nicht folgsam ist, nicht meinen Anweisungen folgt. Wenn ich meinen Kindern den richtigen Weg zeige und sie immer »nein!« erwidern, macht das mein Herz zornig (mampeloky gny foko). Sie hören nicht auf das, was ich ihnen sage und machen einfach das, was sie für richtig halten; sie verstehen aber nicht, was gut für sie ist. Ich kann sie nicht schlagen und sie auch nicht verstoßen, weil sie selbst schon Kinder haben. Ich kann also nichts machen, und das bereitet mir ein fauliges Herz (lo gny foko). (Marojaony, m 70)

Wie aus dieser Episode hervorgeht, sind dem alten Mann die üblichen Formen der direkten Autoritätsausübung verwehrt, da er seine bereits erwachsenen Kinder we‑ der körperlich züchtigen noch verstoßen kann, da dies seine unschuldigen Enkel treffen würde. Die These, dass die appellierende Wut in erster Linie durch die Hemmung einer aggressiven Handlungstendenz zustande kommt, lässt sich dem Vokabular sowie den erzählten Episoden entnehmen: In vielen Episoden ist davon die Rede, dass das Emotionssubjekt zugleich maseky ist bzw. dazu tendiert (tahaseky), diese Tendenz aber unterdrückt, weil es sich bei dem Adressaten um einen älteren Ver‑ wandten wie etwa den Vater handelt: Zum Beispiel ist mein Vater wütend (maseky) auf mich, und er sagt zu mir: »He, mach das jetzt sofort, du bist ungezogen.« Ich würde aber lieber spielen, und deshalb möchte ich wütend werden (tahaseky). Aber mein Bauch ist nur mangenge (≈ bedrückt), während ich die Sache für meinen Vater erledige. Zum Beispiel will ich nicht aufs Feld gehen, um Reis zu dreschen, und schmolle (mimotso) dann die ganze Zeit, weil mein Bauch mangenge ist. Ich kann nicht anders reagieren, weil er mein Vater ist. Das ist mangenge troky. (Tsimangoa, w 15)

4. Die Bedeutung der Emotionen Ich hatte eine Freundin, die ich mehr liebte als sie mich. Mein Vater wollte mir die Beziehung verbieten, doch ich schlief trotzdem bei ihr. Als mein Vater davon hörte, schlug er mich heftig, und ich wollte wütend werden (tahaseky) und hätte meinen Vater am liebsten umgebracht. Weil er aber mein Vater war, zügelte ich mich, nur mein Bauch war lo (≈ faulig). (Kabo, m 18) Mein Vater erteilt mir eine Aufgabe, doch ich habe gerade viel zu tun und weigere mich deshalb zunächst. Er wird wütend (maseky) und schimpft mit mir. Da ich gegenüber meinem Vater zu Respekt verpflichtet bin, kann ich nicht wütend werden (maseky) und widersprechen. Stattdessen bin/mache ich nur mimotso (≈ schmollen). (Magnamora, m 30)

Wie einige Narrative deutlich machen (und wie im 11. Kapitel ausführlich dargelegt wird), spielen die tahotsy-Emotionen eine zentrale Rolle bei der Regulation von seky, womit sie auch in diesem Kontext als moralische Emotionen in Erscheinung treten: Zum Beispiel haben meine Eltern eine Ehefrau für mich ausgesucht, die ich nicht mag. Aus Furcht vor meinen Eltern (matahotsy amin’ny ray aman-dreny) sträube ich mich zwar nicht dagegen, jedoch wird mein Bauch motramotraky (≈ verdorben). So etwas macht bei uns also einen fauligen Bauch (lo troky). Während der Hochzeit ist man die ganze Zeit ärgerlich (sosotsy), man kann nicht froh (faly) werden und spricht kaum mit den anderen. Das ist motramotraky troky. (Tomasy, m 40) Mein Vater war einmal wütend (maseky) auf mich, und mein Bauch wurde mangenge (≈ bedrückt). Egal wo ich hinging, mein Bauch blieb mangenge. Tränen liefen aus meinen Augen, mein Körper/meine Lebenskraft (ay) war bedrückt, weil ich es nicht wagte, meinem Vater zu widersprechen (tsy mahasaky mamalivaly). So etwas bedrückt meinen Bauch (mangenge gny trokiko). (Tombohary, m 17)

Die Körperempfindungen der appellierenden Wut werden im Bauch (troky), im Her‑ zen (fo), in der Lebenskraft (ay) oder allgemein im Körper (vata) verortet, wobei bei weitem am häufigsten auf den Bauch Bezug genommen wird. Dabei wird die Kör‑ permitte als unrein (tsy madio), unklar (tsy mazava, tsy mangoa), schmutzig (maloto, motamotaky), faulig (lo), verdorben (motramotraky), aufgewühlt (mikorotakorotaky), aufgebläht (miboboky), schmerzend (mihotokotoky) oder als bedrückt (mangenge) be‑ zeichnet. Diese metaphorischen Ausdrucksweisen sind insofern nachvollziehbar, als die nach außen drängende Kraft im Körperinneren zurückgehalten wird, sich dort ausbreitet und darin gewissermaßen ihr Unwesen treibt. So werden diese Ge‑ fühlsmetaphern in einigen Narrativen ebenfalls mit Wut im Bauch oder Herzen (seky amin’ny troky/fo) umschrieben. Einige dieser Wörter können wohlgemerkt auch zur Bezeichnung einer nahrungsbedingten Magenverstimmung benutzt werden: Jemand kocht etwas für mich, was ich nicht mag. Obwohl es mein Bauch nicht verträgt, esse ich davon, weil ich mich dazu verpflichtet fühle. Mein Bauch schätzt das Essen nicht und er wird unsauber (tsy madio), etwas schmutzig (motamotaky) und faulig (lo). Ich muss mich später übergeben. Das führt also zu lo troky: eine Sache, die er nicht mag. (Sezy, w 25)

Auch wenn die Gesprächspartner ausdrücklich erklärten, dass eine solche nah‑ rungsbedingte Magenverstimmung nicht dasselbe ist, wie eine konfliktbedingte Bauchempfindung, so deuten diese homonymen Begriffsverwendungen doch auf

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eine gewisse Parallele hin. Im Deutschen finden sich Metaphern wie ›den Ärger runterschlucken‹ oder ›etwas satt haben‹, die sich ebenfalls auf die Nahrungsauf‑ nahme beziehen, dabei aber andere Aspekte betonen. Im Hinblick auf die Unterdrückung einer offensiven Handlungstendenz ist die appellierende Wut mit den Vergeltungsemotionen vergleichbar, die ebenfalls auf einer Hemmung der akuten Handlungstendenz basieren. Ein entscheidender Unterschied besteht jedoch darin, dass bei diesen Emotionen die aggressive Hand‑ lungstendenz nicht aufgegeben, sondern lediglich in die Zukunft verschoben wird. Entsprechend stellt hier das Herz, in dem diese Emotionen ausschließlich loka‑ lisiert werden, weniger ein der Verunreinigung ausgesetztes Körperinneres dar, vielmehr dient es als Metapher für einen Ort der Erinnerung an das Erlittene bzw. der Auf bewahrung der Vergeltungsabsicht. Die meisten der Narrative zu den Bauchmetaphern beinhalten die Beschrei‑ bung eines Ausdrucksverhaltens: Was mir einen fauligen Bauch bereitet, hängt mit dem Familienleben zusammen. Zum Beispiel ist mein Ehemann nicht treu oder verhält sich in anderer Weise schlecht. Ich bitte meinen Ehemann: »Hacke bitte Holz für mich, damit ich unser Essen zubereiten kann.« Und er antwortet: »Warte mal kurz, ich muss noch ein paar Dinge erledigen.« Er macht aber nichts, er hält sich einfach nur in einem benachbarten Haus auf und macht irgendwas mit irgendwem. Deshalb wird mein Bauch lo (≈ faulig), und es schmerzt in meinem Körper (Mihotokotoky an-tegna), sodass ich in Gedanken zu ihm sage: »Du wirst kein gutes Essen bekommen, weil dein Geist mich nicht mag.« Wenn er nach Hause kommt, fragt er mich: »Was macht dein Herz faulig?« Und ich sage ihm: »Du machst es faulig, weil du kein Feuerholz vorbereitet hast.« Ich zeige ihm dabei auch ein aufgewühltes Gesicht (mikorotakorotaky gny tareha) und lege die Stirn etwas in Falten (mihindrotsindrotsy). (Masy, w 25) Mein Herz wird maloto, wenn ich eine Arbeit zu Ende bringen muss, aber mein Kind weinerlich ist und keiner meiner Verwandten sich bereit erklärt, es zu hüten. Ich werde wütend im Herzen (maseky am-po) und lasse meine Arbeit liegen. Wenn sie dann wieder zu mir kommen, schmolle (mimotso) ich nur, und wenn sie sich mit mir unterhalten wollen, antworte ich nicht. »Aus welchem Grund sprichst du nicht mit uns?« Ich antworte schließlich: »Das Kind ist die ganze Zeit weinerlich und ihr kommt mir nicht zur Hilfe, ihr sitzt nur herum, und ich habe so viel zu tun. Das bereitet mir einen schmutzigen Bauch.« (Jojy, w 19)

Offenbar korrespondiert die ausgeprägte Körperempfindung also mit einem spe‑ zifischen Ausdrucksverhalten, das zugleich eine zentrale Bedeutungskomponente der Konzepte mimotso, mihindrotsy, mitrembo und mikenjy darstellt. In den entspre‑ chenden Narrativen ist am häufigsten davon die Rede, dass das Emotionssubjekt die Kommunikation verweigert, indem es nicht spricht und keine positiven Emo‑ tionen zeigt, demonstrativ Nahrung verweigert oder die von ihm geforderten Auf‑ gaben unterlässt. Fast alle Beispiele für mikenjy und mitrembo beziehen sich auf das Ausdrucksverhalten der Nahrungsverweigerung. Auch wurden diese beiden Emo‑ tionen als besonders typisch für Kinder, als eine ›Kinderkrankheit‹ beschrieben. Mimotso und mihindrotsy beziehen sich hingegen in erster Linie auf bestimmte Ge‑ sichtsausdrücke. Dies machen nicht nur einige der erzählten Episoden deutlich, sondern auch schauspielerische Darstellungen dieser Emotionen durch mehrere Interaktionspartner. Mimotso wurde von allen Personen spontan durch ein Herab‑

4. Die Bedeutung der Emotionen

senken des Blicks sowie durch ein Vorstülpen der Lippen (somy lava, wörtlich: lan‑ ge Lippen) zum Ausdruck gebracht, was im Deutschen weitgehend dem ›Schmoll‑ mund‹ bzw. der ›Schnute‹ entspricht. Mihindrotsy wurde ebenso spontan durch das Zusammenziehen sowie Anheben der Augenbraueninnenseite demonstriert. Dem facial action coding system (FACS) zufolge wäre diese Mimik als Ausdruck der Traurigkeit zu interpretieren (s. Abb. 9). Aus den Interviews geht jedoch klar her‑ vor, und in Ellis Wörterbuch (1988: 117) findet sich bestätigt, dass mihindrotsy und mimotso als Formen der Wut (seky) konzipiert sind. Dass es allen Personen leichtfiel, unmittelbar einen spezifischen Gesichts‑ ausdruck zu mimotso und mihindrotsy vorzuspielen, weist auf die zentrale Rolle hin, welche die Ausdruckskomponente in diesen Emotionskonzepten spielt. Ihre Prominenz dürfte damit zusammenhängen, dass bei der appellierenden Wut das Ausdrucksverhalten an die Stelle einer offensiven Handlung tritt und damit selbst zu einer instrumentell einsetzbaren Handlung wird. Tatsächlich lässt sich einigen erzählten Episoden die Wirkung des Ausdrucksverhaltens entnehmen: Ich mache mimotso, wenn ich wütend (maseky) auf meine Großmutter bin. Daraufhin tröstet (mitambitamby) sie mich, und so beruhige ich mich wieder. (Mbatiany, w 17) Ich habe für meine Familie Reis aus einem entfernten Dorf herbeigetragen und komme müde und mit großem Hunger zu Hause an. Obwohl die Familie von meiner Rückkehr wusste, hat niemand für mich gekocht, und deshalb mache ich mihindrotsy. Während ich zu Hause warte, kommt eine Person vorbei und fragt mich nach dem Grund für mein mihindrotsy. Als später Familienmitglieder heimkommen fragen sie auch, und ich beschwere mich schließlich, woraufhin sie mir schnell etwas zubereiten. (Kabo, m 18)

Je nach Kontext und Ausprägung der Statusdifferenz kann das Emotionssubjekt mit dem Ausdrucksverhalten von mihindrotsy oder mimotso also einen Interaktions‑ partner auf seinen emotionalen Zustand aufmerksam machen und ihn zugleich dazu bewegen, darauf einzugehen, ihn etwa zu besänftigen oder seinen Wünschen entgegenzukommen. Der Appellcharakter dürfte auf einer Verbindung aus Mit‑ leidserregung (mahaferignay) und der Ausübung eines gewissen sozialen Drucks durch die Verweigerungshaltung basieren. Im Fall von mihindrotsy, das im Übrigen auch auf statusgleiche Freunde gerichtet sein kann, ist die Komponente der Dro‑ hung stärker ausgeprägt als bei mimotso, und in mehreren Beispielen wird betont, dass das Emotionssubjekt in diesem Zustand besonders reizbar sei und man daher behutsam mit ihm umgehen müsse. In einigen erzählten Episoden wird das Gefühl der appellierenden Wut mit alahelo (≈ Traurigkeit) in Verbindung gebracht: Mein Mann mag mich, meine Schwiegermutter verabscheut mich jedoch. Also ist mein Bauch häufig motramotraky (≈ verdorben) in ihrer Gegenwart. Ich mag meinen Mann sehr, aber meine Schwiegermutter behandelt mich schlecht, also ist mein Bauch in ihrer Gegenwart faulig (lo) und ich bin nicht freudig (falifaly), schmolle (mimotso) und bin auch traurig (malahelo). Das ist der faulige Bauch. (Nareny, w 35)

Insbesondere das Konzept mangenge troky (wörtlich: bedrückter Bauch), das eine typische emotionale Reaktion auf Körpersanktionen bei Kindern darstellt, scheint

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

eine Mischung aus seky und alahelo zu sein, da mangenge troky etwa gleich häufig mit beiden Emotionen in Verbindung gebracht wird. Die Nähe der appellierenden Wutemotionen zu Emotionen der Traurigkeit ist insofern verständlich, als sich das Emotionssubjekt aufgrund seiner niedrigeren Position in der Autoritätshierarchie mit der Situation abfinden muss, die seine emotionale Reaktion veranlasst hat. An‑ dererseits ist das Emotionssubjekt aber auch nicht gänzlich hilflos und ausgeliefert, da es versuchen kann, durch ein appellierendes Ausdrucksverhalten indirekt auf die auslösende Person einzuwirken – womit sich die appellierende Wut wiederum von reiner Traurigkeit unterscheidet.23 Bemerkenswert ist, dass die im Bauch verorteten Gefühle der appellierenden Wut sowie seky im Allgemeinen häufig den faly-Emotionen (≈ Freude) entgegen‑ gesetzt wurden. Die zwölf erhobenen faly-Konzepte, die in der vorliegenden Arbeit nicht eigens dargestellt werden können, wurden häufig auf die Abwesenheit von Wutemotionen zurückgeführt: Was mich mangoa macht? Wenn wir zum Markt gehen und mir mein Mann Stoff, ein Kleidungsstück oder einen Eimer kauft, macht das unser Herz mangoangoa. Meine Lebenskraft ist freudig (faly), es gibt keinen Grund für Wut (seky). (Meny, w 28) Mein Herz wird madio (≈ sauber), wenn meine große Schwester ein Kind bekommen hat. Wenn mein Herz nicht madio ist, bedeutet dies, dass mich etwas wütend (seky) macht. (Vagnosoa, w 30) Mein Herz wird mazava (≈ klar), wenn ich mich angeregt mit meinen Freundinnen unterhalte und es nichts gibt, was mich wütend (maseky) macht. (Tatiany, w 17) Zum Beispiel bin ich müde von der Arbeit, und nachdem ich gegessen habe und gesättigt bin, wird mein Herz ravo (≈ glücklich). Ich treibe Späße mit meinen Freunden und lache die ganze Zeit. Mein Herz ist klar (mangoa gny foko), und es gibt nichts, was es schmutzig (motamotaky) macht. (Fidely, m 11)

23 | Leff (1973: 31) bemerkt, dass auch in einigen afrikanischen, nicht näher spezifizierten Sprachen Emotionswörter existieren, die als eine Verbindung von Traurigkeit und Wut betrachtet werden können: »For example, in a number of African languages a single word stands for both being angry and being sad. This does not mean that anger and sadness are not experienced by Africans, but only that these two emotions are not clearly distinguished linguistically.« Allerdings ist zu bedenken, dass die Existenz solcher Emotionskonzepte nicht das Vorhandensein differenzierender Termini ausschließt. So könnten etwa die deutschsprachigen Wörter ›frustriert‹, ›missmutig‹, ›übellaunig‹, ›verdrießlich‹, ›griesgrämig‹, ›miesepetrig‹ etc. ebenfalls ein Mischung aus Ärger und Traurigkeit beinhalten. Auch das präsentierte Emotionsvokabular der Menschen von Menamaty macht deutlich, dass neben den appellierenden, zur Traurigkeit tendierenden seky-Konzepten auch solche gebräuchlich waren, die sich eindeutig der Wut (seky) und der Traurigkeit (alahelo) zuordnen lassen. Zudem ist jede Aussage über die Nichtexistenz eines Konzeptes oder über fehlende Differenzierungen problematisch, solange nicht exzellente Sprachkenntnisse und eine systematische Suche vorausgesetzt werden können.

4. Die Bedeutung der Emotionen

Eine Reihe von metaphorischen Freudekonzepten wie mazava troky (klarer Bauch) oder madio troky (sauberer Bauch) können zudem in negierter Form (z.B. tsy mazava troky) als seky-Konzepte fungieren. Emotionen der Traurigkeit, die in der deut‑ schen Sprache solchen der Freude als entgegengesetzt erscheinen, wurden in der Untersuchungsgruppe hingegen kaum als Gegensatz der Freude angeführt. Abbildung 9: Ausdrucksformen der ›appellierenden Wut‹: Kabo (m 18) spielt mihindrotsy, Gory (w 9) und Moray (m 14) demonstrieren mimotso. Sämtliche Personen, die ich bat, mir diese Emotionen zu demonstrieren, konnten auf Anhieb die entsprechende Mimik darstellen.

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Teil II Vom Säuglings- zum Kleinkindalter

Die folgenden Kapitel wenden sich der Emotionssozialisation während der ersten Lebensjahre der Kinder von Menamaty zu. Zunächst werde ich verschiedene Di‑ mensionen der Entwicklungsnische und ihre Veränderungen vom Säuglings- zum Kleinkindalter beschreiben, um dann auf dieser Basis sozio-emotionale Entwick‑ lungspfade des Säuglings- und Kleinkindalters zu rekonstruieren. Zwar steht die Sozialisation der moralischen Emotionen in den ersten Lebensjahren noch nicht im Vordergrund, jedoch betrachte ich, wie im 1. Kapitel dargelegt, die sozialen und emotionalen Erfahrungen in dieser Lebensphase als entscheidende Vorbereitung für die anschließend einsetzende tahotsy- und seky-Sozialisation. Denn es ist davon auszugehen, dass die Kinder in Interaktionen mit ihren Bezugspersonen und Peers Beziehungsformen sowie emotionale Orientierungen entwickeln, aufgrund derer sie die später einsetzenden Sanktionspraktiken in spezifischer Weise erfahren, be‑ werten und interpretieren. Obwohl ich aus heuristischen Gründen die Begriffe der Säuglings- und Klein‑ kindphase verwende, unterstelle ich damit keineswegs, dass die Kindheit in der Forschungsregion in derselben Weise konzeptualisiert wird wie im deutschspra‑ chigen Raum. Ich verwende diese Begriffe vielmehr lediglich als Hilfsmittel zur Bezeichnung entsprechender Altersphasen, deren kulturspezifische Ausprägun‑ gen sich erst in den folgenden Kapiteln zeigen werden. Zur Bezeichnung einer Per‑ son in der Lebensphase von der Geburt bis zum Beginn sexueller Aktivität findet der Begriff zaza Verwendung. Im Unterschied zum Wort ›Kind‹, das nicht nur eine Lebensphase, sondern auch einen Nachkommen im Sinne von ›das Kind von X‹ bezeichnen kann, bezieht sich zaza ausschließlich auf jene Lebensphase; Nach‑ kommen werden hingegen als anaky bezeichnet. Abgesehen von der feststehenden Bezeichnung zaza mena (wörtlich: rotes Kind) für Kinder in den ersten drei Le‑ bensmonaten, sind in der Forschungsregion keine begrifflichen Einteilungen im Sinne von ›Säugling‹ oder ›Kleinkind‹ gebräuchlich. Wie noch zu sehen sein wird, zeichnen sich die ersten beiden Lebensjahre in besonderem Maße durch die Be‑ treuungspraxis des Stillens (mapinono) aus, womit die wörtliche Bedeutung der Säuglingsphase vielleicht sogar treffender in Bezug auf den madagassischen als auf den westlichen Kontext ist. Der darauffolgende Lebensabschnitt bis etwa zum Alter von vier oder fünf Jahren, den ich hier als Kleinkindphase bezeichne, konzeptuali‑ sierten meine Gesprächspartner u.a. durch das Fehlen eines vernunftartigen Ver‑ mögens (tsy mana fagnahy), das erst bei älteren Kindern zur Ausprägung kommt und dann eine gezielte Erziehung ermöglicht.

Die teilnehmende Beobachtung, die während meiner ersten zehnmonatigen Feldforschung im Vordergrund stand, bildet die methodische Basis dieser Darstel‑ lung. Speziell zur Erforschung der Säuglings- und Kleinkindphase kamen während der zweiten Feldforschung zusätzlich systematische Methoden zum Einsatz. Diese umfassen sowohl Leitfadeninterviews mit Müttern und kindlichen Babysittern als auch die Beobachtungsmethode der spot observation. Mit diesen Methoden, die in den jeweiligen Kapiteln näher zu spezifizieren sind, wurden zum einen die Alltagserfah‑ rungen von 45 Kindern aus Ranomadio und Soafary und zum anderen die entspre‑ chenden Modelle, Intentionen und Vorstellungen ihrer Bezugspersonen erhoben. Die systematische Beobachtungsmethode der spot observation, die im Rahmen ethnografischer Forschung insgesamt eher selten zur Anwendung kommt, jedoch gerade in vielen Ethnografien zum Säuglings- oder Kleinkindalter eine prominente Rolle spielt (z.B. LeVine et al. 1994), versprach eine wichtige Erweiterung der For‑ schungsperspektive. Die teilnehmende Beobachtung ermöglicht in erster Linie die Beantwortung der Frage, wie sich das Verhalten, die Entwicklung von und der Um‑ gang mit Säuglingen bzw. Kleinkindern aus der Perspektive von Bezugspersonen darstellt. Da sich die Perspektiven der Säuglinge und Kleinkinder aus nachvollzieh‑ baren Gründen weder in Gesprächen mit ihnen eruieren noch ohne Weiteres durch eine Teilnahme am Säuglingsdasein nachvollziehen lässt, stößt hier die Methode der teilnehmenden Beobachtung auf Grenzen. Umso bedeutender sind systema‑ tische Beobachtungsmethoden, die zwar nicht einen direkten Zugang zur subjek‑ tiven Welt der Kinder, immerhin aber eine vergleichsweise präzise Untersuchung ihrer Erfahrungswelt sowie ihrer nonverbalen Ausdrucks- und Kommunikations‑ formen ermöglicht. Das systematische Vorgehen bei der Beobachtung einer festge‑ legten Gruppe von Kindern über einen bestimmten Zeitraum hinweg half zudem, einige Schwierigkeiten zu lösen, die sich potenziell aus meiner Geschlechtsidenti‑ tät ergaben. Aufgrund der normativen Geschlechtersegregation wäre für mich als unverheiratetem Mann das informelle und dauerhafte Verweilen bei Müttern mit Säuglingen problematisch gewesen. Die systematische Beobachtung einer bestimm‑ ten Gruppe von Kindern ermöglichte es nun aber, mein Vorgehen mit den jeweili‑ gen Eltern im Vorfeld genau abzusprechen und den forschungsbezogenen Zweck meiner regelmäßigen Besuche auf diese Weise in den Vordergrund zu rücken. Der Auf bau des zweiten Teils dieser Arbeit orientiert sich an dem im ersten Kapitel vorgestellten dreidimensionalen Modell der Entwicklungsnische von Hark‑ ness und Super (1986). Im 5. Kapitel werde ich zunächst die Säuglings- und Klein‑ kindbetreuung aus der Perspektive von Müttern und Babysittern vorstellen, um eine grundlegende Orientierung bezüglich der emischen Standpunkte zu gewähr‑ leisten. Das 6. Kapitel wendet sich der sozialen Umwelt der Kinder zu, um einen Überblick darüber zu gewinnen, welche Bezugspersonen und Interaktionspartner überhaupt relevant sind und welche sozialen Rollen diese gegenüber den Kindern einnehmen. Im 7. Kapitel kommen Muster konkreter Betreuungspraktiken und Interaktionsformen zur Darstellung, die für die emotionale Entwicklung von be‑ sonderer Relevanz sind. Auf der Basis der Beschreibung dieser drei Dimensionen der Entwicklungsnische geht das 8. Kapitel schließlich der Frage nach, welche Rückschlüsse sich daraus für die Sozialisation von Emotionen in den ersten Le‑ bensjahren ziehen lassen.

5. Säuglingsbetreuung in der Perspektive von Müttern und Babysittern

Die Auseinandersetzung mit dem Wissen, den Wertvorstellungen und Intentionen oder Motiven der unmittelbar an der Sozialisation von Kindern beteiligten Akteure ist ein traditioneller Gegenstandsbereich der kulturanthropologischen Sozialisa‑ tionsforschung und kommt bereits in Margaret Meads klassischen Werken (1930, 2001 [1928]) zur Geltung – allerdings eher implizit. Ab den 1970er Jahren wurden die sogenannten elterlichen Ethnotheorien dann zunehmend als eigenständige Be‑ schreibungsdimension in den Blick genommen und systematisch auf ihr Verhältnis zu anderen Dimensionen der kindlichen Umwelt hin untersucht. Während Ethno‑ theorien innerhalb des ethnopsychologischen Ansatzes vor allem als Bestandteile übergreifender kultureller Modelle des Selbst- und Weltverständnisses untersucht wurden (z.B. Gottlieb 2004, 2005; Poole 1985), konzentrierte sich die Forschung im Rahmen der Whiting-Schule stärker auf das Verhältnis der Ethnotheorien zum beobachtbaren Elternverhalten sowie zur kindlichen Entwicklung (LeVine 1974, 1977; LeVine et al. 1994: 143). Im Rahmen dieser Schule haben sich Charles Super und Sara Harkness als ethnologisch-psychologisches Forschertandem besonders intensiv und systematisch mit elterlichen Ethnotheorien in verschiedenen Kultu‑ ren auseinandergesetzt und einen Sammelband zum Thema (Harkness & Super 1996) sowie eine Vielzahl an Studien veröffentlicht (z.B. Harkness & Super 1983, 1992, 2005; Harkness et al. 2007, 2010, 2011; Super 1983). Abgesehen von wenigen Ausnahmen scheint die kulturanthropologische Dis‑ ziplin dieses Forschungsfeld mittlerweile jedoch an die Entwicklungspsychologie übergeben zu haben. Die entwicklungspsychologische Forschung ist bereits in den 1980er Jahren in die Untersuchung der kulturellen Modelle von Eltern eingestie‑ gen und hat diesen seither zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt. Während die Anthologie Parental Belief Systems von Sigel et al. (1985) lediglich drei entwicklungs‑ psychologische Artikel mit kultursensitiver Perspektive enthält, sind solche Beiträ‑ ge im Sammelband Parents’ Cultural Belief Systems von Harkness und Super (1996) bereits in der Überzahl. Im 21. Jahrhundert wurde gleich eine Reihe von Bänden (z.B. Parker et al. 2012; Rubin & Chung 2006; Yovsi 2003) und eine entsprechend große Anzahl von Artikeln psychologischer Provenienz zu elterlichen Ethnotheo‑ rien veröffentlicht. Dass es sich hierbei um einen disziplinüberschreitenden Trans‑ fer kulturanthropologischer Ansätze und Sichtweisen hin zur Entwicklungspsy‑ chologie handelt, wird beispielsweise in den einschlägigen Veröffentlichungen von

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

Keller (2007: 30, 2010) deutlich, die sich in ihrer theoretischen Konzeptualisierung explizit auf Autoren wie Whiting oder LeVine bezieht. Es stellt sich die Frage, welche Bedeutung den elterlichen Ethnotheorien für die Sozialisation zugeschrieben werden kann, konkreter: inwiefern sie die Erfah‑ rungswelt von Säuglingen und Kleinkindern mitbestimmen. Das laut Edwards und Bloch (2010) zeitweise einflussreiche Modell psychokultureller Sozialisations‑ forschung von Whiting (1977) positionierte kulturelle Modelle unter der Bezeich‑ nung projective-expressive systems eher als Konsequenzen denn als Bedingungen der Sozialisation, womit sozioökonomische Strukturen (maintenance systems) als primäre Sozialisationsbedingungen angesehen wurden. Auch viele Vertreter der psychoanalytischen Anthropologie wie etwa Kardiner betrachteten Bedeutungssys‑ teme primär als Folge oder Ausdruck des Sozialisationsprozesses, was in der Kon‑ zeptualisierung von kulturellen Modellen als secondary institutions deutlich wird (Kardiner 1939: 471). In der jüngeren kulturanthropologischen (z.B. Gottlieb 2004), bidisziplinären (z.B. LeVine et al. 1994: 143-147) und kulturpsychologischen (z.B. Keller 2007: 31) Sozialisationsforschung steht hingegen meist die normative bzw. direktive Funktion von kulturellen Modellen im Fokus. Sie erscheint besonders vielversprechend, weil sie ein Kausalverhältnis voraussetzt, das von der kulturellen Ebene über das Handeln der Bezugspersonen bis hin zur Erfahrung von Kindern reicht. Studien, die gezielt der Frage nachgehen, ob elterliche Ethnotheorien tat‑ sächlich das Elternverhalten und letztlich auch die kindliche Entwicklung beein‑ flussen, ergeben allerdings ein gemischtes Bild (Harkness & Super 2002: 254). Inwieweit kulturelle Modelle tatsächlich eine directive force (D’Andrade 1992) entwi‑ ckeln, kann wohl nicht im Allgemeinen beantwortet werden, da sich die einzelnen Modelle in ihrer Handlungsrelevanz stark unterscheiden können. Zur Beurteilung der Handlungsrelevanz von Ethnotheorien greifen Harkness und Super (1999) den von Quinn und Holland (1987: 10) entwickelten Begriff der temacity auf. Durch Thematizität zeichnen sich solche Konzepte aus, die von den Gesprächspartnern in unterschiedlichen Gesprächskontexten wiederholt angeführt und auf mehrere Funktionen bezogen werden. Diese Multi-Kontextualität bestimmter Konzepte macht es wahrscheinlich, dass sie sich tatsächlich auf das Betreuungsverhalten und damit auch auf die kindlichen Erfahrungen auswirken. In den Interviews mit Eltern aus Menamaty erwies sich etwa das Konzept des Stillens (mapinono) als in hohem Maße ›thematisch‹. Ich gehe davon aus, dass derart ›thematische‹ Konzepte in einer engen wechselseitigen Beziehung zum Betreuungsverhalten der Bezugspersonen und der Er‑ fahrungen ihrer Kinder stehen. Beispielsweise kann die Vorstellung, dass Kinder hauptsächlich aus Hunger weinen, eine Mutter dazu veranlassen, ihrem weinen‑ den Kind stets zuerst die Brust anzubieten. Somit wirkt sich deskriptives Wissen direkt auf mütterliches Handeln aus. Eine solche Betreuungspraxis bietet Säug‑ lingen wiederum die Lerngelegenheit, dass es sich besonders lohnt, aus Hunger zu weinen, womit sich ihr Verhalten tatsächlich der mütterlichen Interpretation annähert. Zudem gehe ich davon aus, dass sich elterliche Ethnotheorien nicht nur über das elterliche Handeln, sondern mit zunehmendem Kindesalter auch über eine direkte Kommunikation auf die Erfahrungen von Kindern auswirken. Denn sobald letztere in der Lage sind, die Ethnotheorien ihrer Eltern zu verstehen, kön‑ nen sie diese als Interpretationsmöglichkeiten ihrer eigenen Sozialisationserfah‑ rungen heranziehen.

5. Säuglingsbetreuung in der Perspektive von Müttern und Babysittern

E rhebung , C har akteristik a und A uswertung des I ntervie wmaterials Auf der Basis von Gelegenheitsgesprächen und ‑beobachtungen während meiner ersten Feldforschung habe ich für die zweite Feldforschung ein Leitfadeninterview mit Fragen zur frühkindlichen Entwicklung, zu Praktiken, Normen und Werten des Umgangs mit Kindern, zu den diesen Umgang prägenden Motiven und Zielen sowie zur Eltern-Kind-Beziehung entwickelt. Unterstützt durch meine madagassi‑ schen Forschungsassistenten Dadah Sambo und Boba Fihavana führte ich dieses Leitfadeninterview mit 42 Müttern durch und ergänzte es um weitere Fragen, so‑ fern sich neue relevante Aspekte ergaben. Zudem stellten wir die zentralen und vergleichsweise einfach zu beantwortenden Fragen des Interviews auch 29 prä‑ adoleszenten Babysittern der Kinder. Die Wahl der Interviewpartner fiel auf Mütter und Babysitter, weil diese unter den Betreuungspersonen den engsten Kontakt mit Säuglingen pflegen. Die Audioaufzeichnungen der Interviews wurden im Feld von meinen For‑ schungsassistenten transkribiert, woraufhin ich sie mit ihrer Hilfe vom Bara-Dia‑ lekt ins Deutsche übersetzte. Die Analyse und Interpretation des Interviewmaterials erfolgte unmittelbar nach der Feldforschung mit Hilfe der Software MAXQDA. Die verschiedenen Fragen der Interviews fungierten dabei als Oberkategorien, und die Antworten aller Interviewpartner wurden darunter codiert und nach verschiede‑ nen Aspekten weiter analysiert. Bei der Auswertung und Interpretation bestätigte sich der bereits während der Interviewführung gewonnene Eindruck, dass die verbalisierten Vorstellungen der Mütter einander in hohem Maße gleichen. Selbst zwischen den Modellen der Müt‑ ter und Babysitter zeigten sich entgegen meiner anfänglichen Erwartung keine grundlegenden Unterschiede. Schon nach einigen Interviews in Ranomadio hatte dieser Umstand meine madagassischen Forschungsassistenten zu der Meinung veranlasst, dass weitere Interviews eigentlich nicht nötig seien, da man die Antwor‑ ten bereits antizipieren könne. Nicht zuletzt aus Gründen der Gleichbehandlung setzten wir die Gespräche allerdings mit allen Müttern und Babysittern fort. Gele‑ gentliche Ausführungen von Vätern oder Großmüttern, die bei einigen Interviews mit Müttern präsent waren, gaben Anlass zu der Einschätzung, dass auch deren Perspektive nicht grundlegend von der mütterlichen abweicht, im Fall der Väter allerdings weniger differenziert ist. Dies ist insofern plausibel, als Mütter eindeutig die Hauptverantwortlichen für die Betreuung der Jüngsten waren und somit ge‑ wissermaßen über ein mit Autorität versehenes Expertenwissen in diesem Bereich verfügten, während andere Personen lediglich vertretungsweise die Betreuungsrol‑ le übernahmen und sich dabei an den Müttern orientierten. Diese geringe Diversi‑ tät in individuellen Ansichten zur frühen Kindheit rechtfertigt es, sie als Ausdruck eines weitgehend geteilten, relativ homogenen und wenig hinterfragten kulturellen Modells zu verstehen.1

1 | Wie noch zu sehen sein wird, unterscheidet sich der Umgang von Peers mit Säuglingen und Kleinkindern deutlich von dem der älteren Betreuungspersonen. Deshalb ist davon auszugehen, dass auch die impliziten Modelle der Peers, die sich freilich nur schwer erheben lassen, deutlich von denen der Betreuungspersonen abweichen.

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

Angesichts der heterogenen Sichtweisen und Debatten in westlichen Gesell‑ schaften zur Frage, wie mit Kindern am besten umzugehen sei, was ihnen schade und was ihre Entwicklung fördere, sowie eines Trends in der Kulturanthropolo‑ gie, intrakulturelle Varianz zu betonen,2 mag die von mir konstatierte Homogeni‑ tät fraglich oder gar reduktionistisch erscheinen. Allerdings sprechen neben dem Interviewmaterial einige weitere Aspekte dafür, dass die elterlichen Ethnotheorien zur Kindheit in der Forschungsregion tatsächlich vergleichsweise homogenen sind: Die Beobachtung, dass die Menschen von Menamaty im Alltag kaum über den richtigen Umgang mit Kindern diskutierten, verweist darauf, dass sich die Bezugspersonen in dieser Hinsicht weitgehend einig waren und dass diese Vorstel‑ lungen für selbstverständlich oder natürlich und deshalb nicht diskussionswürdig erachtet wurden. Als zentraler Grund für den weitreichenden Konsens zwischen meinen Gesprächspartnern kommt die bruchlose Tradierung der Erziehungsmo‑ delle infrage: Mädchen helfen von klein an ihren Müttern, Tanten oder Cousinen bei der Kinderbetreuung, womit die Übergänge von der Erfahrung, betreut zu wer‑ den, über die Betreuung verwandter Kinder bis hin zur Betreuung eigener Kinder nahezu nahtlos sind. Dies begünstigt eine unhinterfragte Übernahme der entspre‑ chenden Praktiken sowie der damit verbundenen Wert‑ und Normvorstellungen. Die ausgeprägte Autoritätshierarchie dürfte zudem die Weitergabe der Erziehungs‑ modelle von den Älteren an die Jüngeren begünstigen. Da Mütter gemäß der patri‑ lokalen Wohnsitzregelung ihre Kinder meist innerhalb der Verwandtschaftsgrup‑ pe des Ehemannes aufziehen, tradieren sie ihr Betreuungsmodell auch an affinal verwandte Mädchen. Somit kommt es zu einer Verflechtung und gegenseitigen Angleichung der Betreuungsmodelle unterschiedlicher Verwandtschaftsgruppen. Der Umstand eines geringen sozialen Wandels in den letzten Jahrzehnten, gepaart mit einer recht dichten Generationsfolge, könnte ebenfalls erklären, weshalb sich auch Eltern und Großeltern nicht prinzipiell in ihren Ansichten unterschieden. Es liegt auf der Hand, dass ein rascher sozialer Wandel, ein von ökonomischer Spezialisierung geprägtes urbanes Umfeld sowie die Einführung neuer Bildungs‑ institutionen ein weit heterogeneres Bild ergeben würde.

E rziehungsmodelle In diesem Unterkapitel werde ich drei Aspekte in den Fokus rücken: die mütter‑ lichen Konzeptionen und Ziele im Hinblick auf die Säuglingsentwicklung, die pragmatischen Intentionen im alltäglichen Umgang mit Säuglingen sowie die Sichtweisen auf Betreuungspraktiken. Um zunächst einen allgemeinen Eindruck über die Darstellungsweisen der Mütter zu vermitteln, gebe ich exemplarisch drei Antworten in voller Länge wieder, die zahlreiche Aspekte vorwegnehmen, die auch andere Mütter in ihren Antworten auf spezifischere Fragen thematisierten:

2 | Es liegt nahe, dass dieser Forschungstrend eng mit Veränderungen der elterlichen Ethnotheorien in westlichen Mittelschichten verknüpft ist, da hier die Besonderheit des jeweiligen Kindes zunehmend betont wird.

5. Säuglingsbetreuung in der Perspektive von Müttern und Babysittern Wie entwickelt sich das Kind im Bauch? Wie sich das Kind im Bauch entwickelt? Durch Zagnahary (Schöpfergott). Zagnahary legt es in den Bauch, meiner Meinung nach. Also ist es darin und lebt. Am Anfang weiß man noch nicht, dass es im Bauch ist. Wenn es drinnen bleibt, dann setzt die Regel aus und ich sage mir: »Ich bin schwanger«. Die Regel kommt nach einem Monat nicht mehr und auch nicht nach zweien und auch nicht nach dreien. »Ah, ich bin wohl schwanger!« sage ich dann. Es bewegt sich zu diesem Zeitpunkt aber noch nichts. Nach vier Monaten fängt es dann an, sich zu bewegen. Weil es sich drinnen bewegt, beginne ich, über diese Sache (raha) in meinem Bauch nachzudenken: »Ist das wohl etwas Lebendes oder nur eine Krankheit?« Nach dem fünften Monat sage ich mir dann: »Was soll ich tun? Sollte ich vielleicht zum Arzt gehen?« Also gehe ich zum Arzt. Der Arzt untersucht mich und sagt: »Da ist ein Mensch (olo) drinnen«, und ich sage, »Ein Mensch? Ja, es ist wohl ein Mensch«. Er ist gut eingepackt da drinnen. Zagnahary lässt ihn dann weiterwachsen; ich esse und er erhält die Nahrung, das geschieht etwa mit sechs oder sieben Monaten. Aber letztlich ist es Zagnahary, der bewirkt, dass es groß wird und sich entwickelt. Nach neun Monaten kommt es auf die Welt, und ein neuer Mensch ist da. (Ramety, w 40, 6 Kinder, verheiratet) Wie und wodurch entwickelt sich ein Kind bezüglich des Körpers und des Charakters/ Geistes? Nach der Geburt entwickelt es sich aufgrund der Brust. Wenn die Milch nicht ausreicht, dann wächst das Kind nicht gut heran. Wenn die Milch unregelmäßig fließt, dann ist das sehr schlecht für das Kind, und es stirbt vielleicht. Auch die Nahrung ist wichtig. Wie entwickelt sich sein Geist? Solange das Nabelende noch nicht abgefallen ist, muss man genau aufpassen, dass man es nicht anfasst. Wenn man es versehentlich abreißt, dann wird das Kind sterben. Man wartet also, bis es von selbst abfällt. Nachdem es abgefallen ist, kann man das Kind noch nicht hinsetzen, sondern lässt es die meiste Zeit auf dem Schoß schlafen. Im Alter von meinem hier [zweimonatiges Mädchen] hält man es stets auf dem Schoß, und wenn es weint, dann gibt man ihm die Brust und wiegt es. Wenn es müde ist, bringt man es zum Einschlafen. Sobald es etwa drei Monate alt ist, kann man es auch auf den Boden setzen, wenn es jünger ist, darf man das nicht tun, weil dadurch sein Rücken schwach werden und es erst spät laufen lernen würde. Wenn man das Kind dann ab drei Monaten auf den Boden setzt, stützt es sich zunächst mit den Händen ab und lernt dann nach und nach frei zu sitzen. Allerdings kippt es immer wieder um, wenn man sich auf etwas anderes konzentriert und es nicht auffängt, und ich sage dann: »Ich sterbe (maty iaho) 3, mein Kind ist umgekippt.« Ich nehme es dann schnell zu mir, schlage auf den Boden und sage: »Auf dieser Erde sollst du groß werden« und gebe ihm dann die Brust. Wenn dies mehrmals geschieht, dann lernt es, auf seinen Körper aufzupassen und nicht wieder umzukippen, weil es schmerzhaft war und es sich fürchtet (matahotsy), wieder umzukippen. Wenn es dann gut sitzen kann, legt man einen Gegenstand vor ihm auf den Boden und so lernt es zu krabbeln, weil es danach greifen möchte. Es unterscheidet sich stark von Kind zu Kind, ab welchem Alter es zu krabbeln lernt, manche schon mit vier Monaten, andere erst mit sieben Monaten. Das Gleiche trifft auch auf das Laufen zu, manche lernen es schon mit acht Monaten und andere erst mit einem Jahr. Eine Ausnahme ist T.: Alle sind erstaunt (magaga), dass er immer noch nicht laufen kann, obwohl er schon fast zwei Jahre alt ist. (Traka, w 28, 4 Kinder, geschieden) 3 | »Ich sterbe – maty iaho« ist eine Metapher für eine starke Überraschung über ein negatives Ereignis.

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen Was muss die Mutter beachten, damit sich das Kind gut entwickelt? Folgendes muss die Mutter beachten: Manche Mütter lassen ihr Kind im Dorf zurück, wenn sie im Garten außerhalb des Dorfes arbeiten müssen, und sie kehren erst spät abends zurück. Während die Mutter weg ist, weint das Kind viel. Wenn man sich so als Mutter verhält, dann entwickelt sich das Kind nicht gut. Wenn sich die Mutter hingegen sorgfältig um ihr Kind kümmert, ihm häufig die Brust gibt oder etwas zu essen zubereitet, es regelmäßig badet und häufig den tabaky4 auf die Stirn aufträgt, dann zittert sein Herz nicht (tsy mihetihetiky gny fony), dann weint es selten und sein Herz ist einfach nur ›klar‹ (miada). Wenn die Mutter stets in seiner Nähe ist, dann entwickelt sich sein Körper/seine Lebenskraft (ay) gut. Wenn man es häufig alleine lässt, dann weint es viel, seine Lebenskraft/sein Körper zittert (mihetiketiky avao gn’ainy) und ist schwach, und es wächst kaum heran. Jemand sagt dann vielleicht: »Dieses Kind ist sehr mager, weil es häufig von seiner Mutter alleine gelassen wird.« (Soamana, w 60, Großmutter)

Entwicklungsziele Wie diese Interviewpartnerinnen rückten auch alle anderen Mütter die körperliche Entwicklung ihrer Kinder, insbesondere ein schnelles Körperwachstum, in den Vordergrund: Das Kind entwickelt sich, indem es wächst und wächst und wächst. Manchmal wird es krank und dann wieder gesund. Man stillt es möglichst häufig, weil es durch die Milch der Mutter am schnellsten wächst – vor allem, wenn die Brust der Mutter heiß ist (mafana nono). Wenn das der Fall ist, wächst es wirklich schnell und ohne Probleme. (Velosoa, w 30, 6 Kinder, verheiratet) Ich weiß nicht genau, weshalb das Kind sich entwickelt, aber wenn man es häufig stillt und ihm zu essen gibt, dann wächst es schnell heran. (Miarisoa, w 22, 2 Kinder, geschieden)

Obwohl die Frage »Wie und wodurch entwickelt sich ein Kind bezüglich des Kör‑ pers und des Charakters/Geistes?«5 explizit sowohl auf die physische als auch auf die psychische Entwicklung zielte, beziehen sich über 80 Prozent aller beschriebe‑ nen Entwicklungsschritte auf Aspekte des körperlichen Heranwachsens; die restli‑ chen Ausführungen betreffen das kindliche Wohlverhalten, insbesondere seltener werdendes Weinen. Interessanterweise führten sämtliche Mütter, die auf unsere dezidierten Nach‑ fragen zur geistigen Entwicklung reagierten, diese auf das Wirken von Zagnahary (Schöpfergott) zurück. Daraus lässt sich folgern, dass Mütter diese Dimension der Säuglingsentwicklung nicht in ihrem Verantwortungsbereich ansiedeln, was erklären würde, weshalb diese Dimension keine zentrale Rolle in ihren Ausfüh‑ rungen spielt. Auch ein prominentes Sprichwort deutet in diese Richtung: Ny ray aman-dreny tsy niteraky fagnahy fa nitera-bata – »Die Eltern bringen nicht den Geist/ 4 | Paste aus Wasser und geriebenem Holz, die auf die Stirn von Säuglingen aufgetragen wird, um den Verschluss der Fontanelle bzw. das Aushärten des Kopfes zu unterstützen und das Kind vor Krankheiten zu beschützen. Zugleich dient der tabaky auch als Schönheitsmaske für Frauen. 5 | Manao akory gny mampitombo gny zaza: gny vatany amam-pagnahiny?

5. Säuglingsbetreuung in der Perspektive von Müttern und Babysittern

Charakter, sondern den Körper des Kindes hervor«. Auch die gebräuchlichen Be‑ zeichnungen kleiner Kinder als Sache (raha), als verrückt bzw. unverständig (môla, sagnagna), unwissend (tsy mahay raha) oder unvernünftig (mbo tsy mana fagnahy) legen nahe, dass die geistige Entwicklung in den ersten Lebensjahren kein zen‑ trales Entwicklungsziel darstellt. Beliebte Rufnamen für kleine Kinder wie Loto (Schmutz), Betay (großer Kot), Rahamety (schwarze Sache) oder Ranovao (nur Wasser) heben ebenfalls den körperlichen Aspekt hervor.6 An dieser Stelle sei be‑ reits darauf hingewiesen, dass den Peers eine zentrale Rolle bei der kognitiven und emotionalen Stimulierung zukommt und Kinder in dieser Hinsicht keineswegs vernachlässigt werden. Das Entwicklungsziel eines raschen Körperwachstums steht in enger Verbin‑ dung mit mütterlichen Sorgen um die Gesundheit ihrer Kinder. Dies machen die Antworten der Gesprächspartnerinnen auf die beiden Fragen nach den Sorgen (tebiteby) und der Zufriedenheit (afa-po) bezüglich ihrer Kinder deutlich: Ich sorge (mitebiteby) mich die ganze Zeit, dass es krank wird, dass es sich verletzt, indem es z.B. von einem Stein, den jemand geworfen hat, getroffen wird. Das bereitet uns Müttern die größten Sorgen (mapitebiteby), die Krankheiten lehren uns das Fürchten (mapatahotsy). (Soamana, w 60, Großmutter) Wenn das Kind nicht kränklich ist, wenn es schnell heranwächst, weil die Krankheit ›fern‹ ist, dann ist man froh (falifaly). Wenn es selten krank ist, wird es schnell groß und man ist glücklich (ravo) darüber und zufrieden (afa-po). (Ziny, w 35, 5 Kinder, verheiratet)

Nahezu alle Mütter hoben Kinderkrankheiten oder Verletzungen als ihre größte und häufig auch einzige Sorge sowie eine robuste Gesundheit als den wichtigs‑ ten Anlass für Zufriedenheit hervor. Es liegt auf der Hand und wurde auch (wie im zweiten Zitat) immer wieder betont, dass Gesundheit ein schnelles Wachstum fördern und umgekehrt, ein kräftiger Körper Krankheiten besser überstehen lässt. Dass für die Mütter aus Menamaty die Gesundheit ihrer Kinder ein derart zentrales Anliegen war, ist insofern nachvollziehbar, als Krankheiten, insbesondere MagenDarm-Infekte (marary troky), eine ernsthafte Lebensbedrohung für kleine Kinder in der Forschungsregion darstellen. Ein weiterer Aspekt der körperlichen Entwicklung, den Mütter ebenfalls als wichtiges Entwicklungsziel darstellten, betrifft die Erlangung motorischer Fähig‑ keiten. Die Antworten auf die Fragen nach der allgemeinen Entwicklung sowie nach den Fähigkeiten, die Mütter ihren Säuglingen beibringen sollten,7 bezogen 6 | Der Umstand, dass die Unterscheidung zwischen Körper/Leib/Lebenskraft (vata/ay) und Geist/Charakter/Denken (fagnahy/say/mierieritsy) einem in westlichen Kontexten verbreiteten Dualismus entspricht, könnte den Verdacht einer eurozentrischen Interpretation erwecken. Allerdings betonten meine Gesprächspartner aus Menamaty selbst immer wieder eine solche Differenzierung. Auch Astuti und Harris (2008: 719) kommen auf Basis einer Studie zu Personenkonzepten bei den Vezo (einer den Bara benachbarten Gruppe) zu dem Schluss, dass die Unterscheidung zwischen vata und fanahy grundsätzlich mit der zwischen body und spirit übereinstimmt. 7 | Ino aby ireo raha tokony hampianary gn’anaky? (Was bringt man als Mutter dem Kind alles bei?).

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sich in der Mehrheit auf die Kompetenzen des freien Sitzens (mitoboky), Krabbelns (mandady), Stehens (mitsanga) und Laufens (mandeha). Mit drei Monaten kann das Kind noch nicht selbständig sitzen. In diesem Alter setzt man es aber immer wieder auf den Boden, sodass es mit vier oder fünf Monaten selbständig sitzen kann. Mit sechs Monaten beginnt es dann selbständig mit Gegenständen zu spielen (mihisa raha) und lernt gleichzeitig zu krabbeln, was es mit sieben Monaten gut kann. Mit ungefähr acht Monaten kann es dann laufen. (Velosoa, w 30, 6 Kinder, verheiratet)

Als weitere motorische Fähigkeiten wurden das selbständige Essen mit einem Löf‑ fel sowie das eigenständige Ankleiden wiederholt genannt: Man bringt dem Kind bei, sich anzukleiden, und erinnert es daran, auch die Hose nicht zu vergessen: »Zieh deine Hose an«, sage ich dann zu ihm und: »steh auf«, und zeige ihm, wie es zuerst mit dem einen und dann mit dem anderen Bein in die Hose steigen kann. Wenn wir essen, dann gebe ich ihm einen kleinen Teller und sage ihm: »nimm deinen Löffel in die Hand, iss mit ihm«. Wenn es dann isst, fällt viel vom Reis auf den Boden und nur ein Teil gelangt in seinen Mund. Ich sage dann wieder: »Iss mit dem Löffel, damit du vernünftig (mahitsy) wirst.« So gewöhnt es sich nach und nach an alles Neue. (Soamana, w 60, Großmutter)

Die motorischen Entwicklungsziele führten Mütter vor allem auf pragmatische Gründe zurück: Sie erhöhen die körperliche Selbständigkeit von Säuglingen und verringern damit den Betreuungsaufwand der Mütter: Das Verhalten des Kindes ist gut, wenn es sitzen kann und selbständig spielt, sodass ich es nicht halten muss und stattdessen meine Arbeiten erledigen kann. (Regna, w 16, 1 Kind, unverheiratet)

Auch die Fähigkeit des Laufens verringert den Betreuungsbedarf deutlich, da sich das Kind dann einer Spielgruppe aus etwas älteren Kindern anschließen kann, die sich in hohem Maße autonom im Dorf bewegt. Das Laufenlernen betrachteten Mütter als wichtigsten Meilenstein in der kindlichen Entwicklung, der das Ende der intensiven Betreuungsphase markiert und ein freudiges Ereignis ist, wie etwa eine junge Mutter betonte: Ich sorge mich nicht mehr, wenn mein Kind gut laufen kann. Manchmal tanzt man dann, weil es schon laufen kann. (Vagnoteza, w 40, 6 Kinder, verheiratet)

Pragmatische Intentionen und erwünschtes Säuglingsverhalten Der Umgang mit Säuglingen ist freilich nicht nur von übergreifenden Entwick‑ lungszielen, sondern auch von solchen Intentionen geprägt, die im Zusammen‑ hang mit der Alltagsbewältigung stehen und einen pragmatischen Hintergrund haben. Ein zentrales Anliegen von Müttern und Babysittern besteht darin, weinen‑ de (mitomagny) Säuglinge möglichst umgehend zu beruhigen (mapangina) bzw. zu trösten (mitambitamby) oder mögliche Anlässe für Unbehagen und negative Emotionen von vornherein zu vermeiden. Unter den von Müttern beschriebenen Aufgaben und Pflichten gegenüber Säuglingen beziehen sich mehr als 80 Prozent

5. Säuglingsbetreuung in der Perspektive von Müttern und Babysittern

explizit auf das Beruhigen.8 Selbst die Aufgabe, Säuglinge zum eigenständigen Spiel mit Gegenständen (mihisa raha) anzuregen, begründeten Mütter stets durch die Funktion des Ruhigstellens. Freilich ist davon auszugehen, dass das Beruhigen von Säuglingen in vielen kulturellen Kontexten ein wichtiges Anliegen der Betreu‑ ung ist, für die Mütter und Babysitter aus Menamaty jedoch war dieses Anliegen offenbar von größter Bedeutsamkeit und darüber hinaus mit einem emotionalen Ideal für Säuglinge verknüpft. Dies legen u.a. die Antworten auf die Fragen nach erwünschtem und un‑ erwünschtem Säuglingsverhalten nahe.9 Mehr als drei Viertel der 71 genannten guten Eigenschaften oder Verhaltensweisen von Säuglingen beziehen sich auf ein ruhiges Verhalten. In abnehmender Häufigkeit sagten Mütter konkret, dass ein ›guter Säugling‹ ruhig und selbständig mit einem Gegenstand spiele (mihisa soa avao), nicht weine (tsy mitomagny), einen ruhigen Charakter (mora fagnahy) habe und gerne schlafe (tia tory): Sie verhält sich gut, indem sie sitzen bleibt, wenn man sie irgendwo absetzt, und dann friedlich vor sich hin spielt und niemanden stört. (Tsidare, w 18, 1 Kind, verheiratet) Folgendermaßen verhält sich ein gutes Kind: Es hat einen ruhigen Charakter, es wird von den Menschen gemocht, es schläft gerne und ist in der Lage, ruhig dazusitzen. (Doara, w 35, 5 Kinder, verheiratet)

Auch die Frage nach unerwünschtem Säuglingsverhalten bestätigt den zentralen Stellenwert eines ruhigen Säuglings. Bis auf wenige Ausnahmen beziehen sich die 60 entsprechenden Beschreibungen auf ein unruhiges Verhalten, insbesondere häufiges Weinen: Wenn sich das Kind schlecht verhält, komme ich kaum dazu, etwas zu erledigen. Es weint dann sehr häufig. Selbst wenn man es gerade gefüttert oder gestillt hat, weint es gleich wieder und man kommt zu nichts. (Velosoa, w 25, 4 Kinder, geschieden)

Während sämtliche Mütter ein ruhiges, ausgeglichenes, selbständiges Verhalten und seltenes Weinen als wichtigste Eigenschaften eines ›guten Säuglings‹ be‑ schrieben, verwiesen immerhin 6 der 42 interviewten Mütter auch auf eine posi‑ tive Emotionalität. Die dabei stets verwendeten Emotionsvokabeln tahihehy, mangoa- und miada fo lassen sich mit ›bereit zu lachen‹ und ›klares‹ bzw. ›friedliches/ ruhiges Herz‹ übersetzen. Die Mütter beschrieben also keine intensiven positiven Emotionen wie etwa faly (≈ freudig) oder ravo (≈ glücklich), sondern vielmehr eine friedliche, ins Positive tendierende Stimmung, die mit dem Ideal des ruhigen Ver‑ haltens durchaus kompatibel ist:

8 | Die entsprechende Frage lautete: Ino gn’adidy tsy maintsy ataon gny reny/pitan-jaza amin’ny anakiny? (Was sind die Pflichten/Aufgaben einer Mutter oder eines Babysitter gegenüber einem Säugling?). 9 | Manaokory gny zaza laha tsy midisy? (Was ist ein gutes Säuglingsverhalten?). Manaokory koa gny zaza laha midisy? (Was ist ein schlechtes Säuglingsverhalten?).

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen Wenn das Kind sich gut verhält, sieht man ihm gerne zu. Sein Herz ist dann klar (mangoa gny fony), es weint nicht und spielt ruhig vor sich hin. (Ziny, w 35, 5 Kinder, verheiratet)

Der Umstand, dass Mütter das Beruhigen oder Ruhighalten als Hauptmotiv im Umgang mit Säuglingen beschrieben, einen ausgeglichenen, ruhigen Gemüts‑ zustand und entsprechendes Verhalten als Ideal charakterisierten und nur aus‑ nahmsweise eine leicht positive Gestimmtheit thematisierten, deutet darauf hin, dass die Vermeidung und Regulation negativer Emotionen und nicht etwa die Er‑ regung positiver Emotionen im Vordergrund des Betreuungsmodells der Mütter von Menamaty steht.10 Begründet wurde dieses Ideal eines ruhigen, ausgeglichenen Kindes vor allem in einer pragmatischen Argumentation: Wenn sich das Kind ruhig verhält, dann kann ich für eine lange Zeit meiner Arbeit nachgehen. Ein sich gut verhaltendes Kind weint nur, wenn es wirklich Hunger hat oder müde ist. (Velosoa, w 30, 6 Kinder, verheiratet) Ein gutes Kind lacht gerne (tia hehy) und verhält sich ruhig, so dass sich die Mutter mit den anderen Frauen unterhalten kann. (Roza, w 30, 4 Kinder, verheiratet) Wenn sich das Kind gut verhält, indem es sich auf das Spiel konzentriert, z.B. mit einer Plastikflasche, kann die Mutter all ihre Arbeiten erledigen. (Ratsiamby, w 16, 1 Kind, verheiratet) Es verhält sich gut, indem es friedlich mit den Dingen spielt, die es umgeben, und sich gut darauf konzentriert. (Sinoa, m 20, Ehemann von Ratsiamby)

Ein solches Verhalten erlaubt es Müttern also schlicht, sich den alltäglichen, neben der Säuglingsbetreuung anfallenden, Aufgaben oder der Muße zu widmen.

Betreuungspraktiken Um Einblicke in die mütterlichen Vorstellungen über den alltäglichen Umgang mit ihren Kleinsten zu gewinnen, stellte ich die Fragen »Wie gehst du im Alltag mit deinem Kind um?«11 und »Was sind die Pflichten/Aufgaben einer Mutter gegen‑ über ihrem Kind?«.12 Mein Umgang mit dem Kind besteht darin, dass ich es seit seiner Geburt mit meiner Brust ernähre, damit es schnell wächst. Außerdem bade ich es nach dem Essen, beruhige es hin und wieder, indem ich ihm die Brust gebe oder ihm etwas zum Spielen hinlege. Zwischendurch widme ich mich meiner Arbeit. (Pascaline, w 30, 6 Kinder, verheiratet) 10 | Die Kulturpsychologin Heidi Keller beschreibt auf der Basis mehrerer Studien einen ähnlichen Fokus für die Nso im ländlichen Kamerun und die Rajputen im indischen Bundesstaat Rajasthan und führt dies auf ein interdependentes Beziehungsmodell zurück (2007: 131). Ihr zufolge fokussieren Mütter aus westlichen Bildungsschichten hingegen stärker auf das Evozieren und Teilen positiver Emotionen. 11 | Manaokory gny fifandraisanareo morognanaky? 12 | Ino gn’adidy tsy maintsy ataon gny reny amin’ny anakiny?

5. Säuglingsbetreuung in der Perspektive von Müttern und Babysittern Die Pflichten der Mutter bestehen darin, das Kind nicht zu schlagen. Wenn es weint, muss sie ihm die Brust oder etwas zu essen geben. Wenn es unruhig ist, dann bindet sie es auf den Rücken, damit es einschläft, wenn es dann schläft, kann sie es auf den Boden legen und sich ihrer Arbeit widmen. Wenn mein Kind nicht gesund ist, besorge ich Medizin um es zu heilen. Diese Dinge tue ich jeden Tag. (Ramety, w 40, 6 Kinder, verheiratet) Wenn das Kind weint, gibt man ihm die Brust, danach trägt man es auf dem Rücken herum, sodass es einschläft. Wenn es nach dem Schlafen schreckhaft ist, trägt man es eine Weile auf dem Arm. Wenn es ruhig ist, dann setzt man es neben sich auf den Boden. Manchmal muss es vielleicht kacken und dann sage ich zu mir: »Ach so, dieses Kind weint, weil sein Bauch schmerzt, da es kacken muss«, danach bade ich es dann. (Soamana, w 60, Großmutter)

Diesen und anderen Beschreibungen zufolge kommt in den Augen der Mütter dem Stillen (mapinono) ein zentraler Stellenwert im Umgang mit ihren Säuglingen zu. Sie nannten diese Form der Zuwendung häufig zuerst und bei Weitem am häu‑ figsten. Wie eng das Stillen mit der Mutterrolle verknüpft wird, machten meine Gesprächspartner auch in den Antworten auf die Frage nach den Unterschieden zwischen Müttern und Babysittern deutlich: Folgendes unterscheidet die beiden: Die Mutter hat eine Brust, das Kind verhält sich also ruhig bei ihr, weil sie es stillen kann. In der Obhut eines Babysitters verhält sich ein Kind hingegen häufig schlecht, weil er keine Brust besitzt, mit der er es stillen kann . (Demily, m 50, 5 Kinder, verheiratet)

Die besondere Bedeutung des Stillens hängt mit der Ansicht zusammen, dass die‑ se Form der Zuwendung den verschiedenen mütterlichen Entwicklungszielen und Anliegen am besten dient. Auf die Frage, wodurch sich ein Kind entwickelt, ant‑ wortete eine Mutter etwa: »Nur durch die Brust«, und sie fuhr fort: Von der Geburt an gibt man dem Kind die Brust, und sobald es etwas größer ist, gibt man ihm zusätzlich Reis. Das ist das Einzige, wodurch es heranwächst. Sein Geist entwickelt sich durch Zagnahary. Ich, die Mutter, gebe ihm nur die Brust. Zagnahary hilft mir bei allem anderen. (Rapoliny, w 35, 4 Kinder, verheiratet)

Nicht nur die Muttermilch als solche, sondern auch eine ›heiße Brust‹ wird für die erwünschte Entwicklung der Säuglinge verantwortlich gemacht, wie u.a. diese Mutter von vier Kindern am Beispiel ihres jüngsten Sohnes Motso erklärt: Dies [die Entwicklung] geschieht nicht aufgrund des Essens, sondern aufgrund der Muttermilch allein. Nach drei Monaten war er [Motso] schon ziemlich groß und die Leute sagten: »Sie hat eine heiße Brust« – weil mein Kind schon sehr feist war. Wenn die Mutterbrust nicht heiß ist, magert das Kind ab, selbst wenn es direkt nach der Geburt noch wohlgenährt war. (Mbasay, w 30, 4 Kinder, verheiratet)

Auch im Hinblick auf die oben dargestellten pragmatischen Intentionen im Um‑ gang mit Säuglingen beschrieben Mütter das Stillen als Mittel der Wahl. Die Frage nach den Gründen, aus denen Säuglinge weinen, wurde stets mit dem Verlangen nach Muttermilch beantwortet:

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen Wenn ich beschäftigt bin und ihm nicht die Brust geben kann, dann weint es am stärksten. (Lazy, w 25, 3 Kinder, verheiratet) Die Gründe, die Davida zum Weinen bringen, sind am häufigsten diese: Er wird nicht gestillt oder er sieht seine Mutter, aber diese gibt ihm keine Milch, weil sie gerade beschäftigt ist. (Kalo, w 35, 4 Kinder, verheiratet)

In den Augen der Babysitter weinen Säuglinge ebenfalls vor allem aus dem Ver‑ langen nach Muttermilch: Das Kind weint nur, wenn es gestillt werden möchte, seine Mutter aber etwas zu tun hat und es alleine lässt. Wenn es dann gestillt wird, hört es sofort auf zu weinen und beginnt dann, mit der Flasche zu spielen. (Zafisoa, w 12, Schwester des Kindes)

Gemäß der Vorstellung, dass Säuglinge in erster Linie aus Hunger nach Mutter‑ milch weinen, skizzierten Mütter das Stillen als wichtigste und effektivste Beruhi‑ gungspraxis (mapangina): Wie beruhigt die Mutter ihr Kind? (Ino gnatao hapangina azy?) Man gibt ihm die Brust, weil es das ist, was es haben möchte und danach trage ich das Kind auf dem Arm herum. (Datera, w 20, 1 Kind, verheiratet) Wenn das Kind weint, lässt mich das mitleidig werden (mapaferignay) und ich gebe ihm sofort die Brust. Ich nehme mir dann vor, es nie mehr alleine sitzen zu lassen, sondern es immer mit mir herumzutragen, um es jederzeit stillen zu können. (Tsidare, w 18, 1 Kind, verheiratet) Wenn ich sehe, dass es weint, während es von einem Babysitter gehütet wird, sage ich: »Oh Freund, was hast du mit dem Kind gemacht, dass es so stark weint?« Er sagt dann: »Es lässt sich einfach nicht beruhigen.« »Gib mir das Kind, bei mir wird es sich beruhigen«, dann gebe ich ihm die Brust und es ist sofort wieder ruhig. (Noliny, w 18, 1 Kind, geschieden)

Die interviewten Mütter sahen die buchstäbliche Bedeutung des deutschen Wor‑ tes »Stillen« folglich als einen zentralen Aspekt dieser Praxis an. Das Stillen war in den Augen der Mütter also nicht nur von hervorragender Bedeutung für die primären Entwicklungsziele der schnellen Körperentwicklung und einer robusten Konstitution, sondern wurde zugleich als wichtigstes Mittel der Regulation nega‑ tiver Emotionen thematisiert, womit es nicht zuletzt mit dem Ideal des ruhigen, ausgeglichenen Säuglingsverhaltens in Verbindung steht. Die multikontextuelle Thematisierung des Stillens in den Interviews spricht für ein hohes Maß an themacity im Sinne von Quinn und Holland (1987: 10) und legt nahe, dass das Modell des Stillens auch den tatsächlichen Umgang zwischen Müttern und Säuglingen prägt. Wie einige der Zitate bereits zeigen, zählten Mütter durchaus noch andere Praktiken zu ihren Aufgaben im Umgang mit Säuglingen. In abnehmender Häu‑ figkeit sagten Mütter, dass es wichtig sei, Säuglinge mit feuchtem Reis zu füttern, sie regelmäßig zu baden, mit sauberer Kleidung zu versorgen bzw. anzukleiden und sie vor Krankheiten zu beschützen bzw. im Falle einer Erkrankung zu heilen. Diese mütterlichen Praktiken, die zusammen mit dem Stillen über 80 Prozent der

5. Säuglingsbetreuung in der Perspektive von Müttern und Babysittern

176 beschriebenen Aufgaben und Umgangsformen ausmachen, können mit Keller (2007: 15) der Primärversorgung (primary care) zugerechnet werden, die von un‑ mittelbarer Relevanz für das körperliche Wohl des Kindes ist. Jedoch ist zu beden‑ ken, dass Mütter das Stillen, Füttern und Baden zugleich als Mittel der Emotions‑ regulation thematisierten. Neben Praktiken der Primärversorgung beschrieben Mütter auch mibaby und mitrotro als Formen des Körperkontakts: Bei mibaby wird der Säugling mit einem Tuch fest auf den Rücken gebunden, wobei seine Gliedmaßen an der Körperseite der Mutter fixiert werden, sodass seine Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt ist. Diese Form des Körperkontakts setzten Mütter nicht nur zum Transport über län‑ gere Strecken ein, sondern auch als Mittel, um das Kind zum Schlafen zu bringen. Mitrotro bezeichnet eine Form des Tragens, bei dem der Säugling seitlich auf der Hüfte sitzt und mit einem Arm gehalten wird, diese Praktik diente sowohl dem Transport über kurze Strecken als auch zur Beruhigung. Bezüglich des Stellenwerts von Körperkontakt im mütterlichen Selbstverständnis ist zu bedenken, dass sämt‑ liche Formen der primären Versorgung, in besonderem Maße das Stillen, ebenfalls mit Körperkontakt einhergehen. Neben den Praktiken der Primärversorgung und des Körperkontakts nannten Mütter und insbesondere Babysitter mikorokoro als Be‑ ruhigungsstrategie. Mikorokoro bezeichnet ein schnelles gleichmäßiges Wippen auf dem Arm und lässt sich somit als eine Form der Körperstimulation kategorisieren. Sieben von 176 genannten Umgangsformen betreffen mihisa, was ein Spiel mit Gegenständen bezeichnet. Einige der Mütter sowie Beobachtungen machten deut‑ lich, dass damit weniger ein gemeinsames Spielen gemeint ist als vielmehr ein Bemühen, das Kind zum selbständigen Spielen anzuregen: Ich gebe einem weinenden Kind zu essen, damit es sich beruhigt. Wenn es sich so nicht beruhigen lässt, dann werfe ich ihm ein Spielzeug hin, auf das es sich konzentrieren kann. Ansonsten gebe ich ihm die Brust, trage es auf dem Arm herum und lasse es dann draußen etwas herumkrabbeln. Dann spielt es dort vor sich hin. (Pascaline, w 30, 6 Kinder, verheiratet)

Lediglich zwei von 176 Nennungen betreffen die Interaktionsform misoma: Der Umgang zwischen Mutter und Kind ist normalerweise so: Wenn es weint, dann beruhigt es die Mutter oder spielt (misoma) mit ihm. (Rapoliny, w 35, 4 Kinder, verheiratet) Die Pflichten der Mutter bestehen darin, dem Kind die Brust und Essen zu geben, es anzuziehen, mit ihm zu spielen (misoma) und ihm beizubringen, wie man mit Dingen spielt (mihisa). (Ziny, w 35, 5 Kinder, verheiratet)

Wie die Interviews mit Babysittern sowie spezifische misoma-Interviews zeigen, handelt es sich dabei um spielerische Interaktionen wie etwa kilikiliky (Kitzeln), kiviny (Interaktion ähnlich dem Kuckuck-Spiel) oder mapitsinjaky (Vorsingen und Klatschen, um das Kind zum »Tanzen« zu bringen). Im Gegensatz zu mihisa be‑ inhaltet misoma eine volle Aufmerksamkeitszuwendung, geht mit face-to-face-Kon‑ takt einher und zielt darauf, den kindlichen Interaktionspartner zum Lächeln (misomibosibo) oder Lachen (mikakaky) zu bewegen. Bezüglich der Gewichtung der misoma-Interaktionen unterscheiden sich die Babysitter insofern recht deutlich von

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den Müttern, als immerhin 11 von 29 eine solche Interaktionsform als typischen Umgang beschrieben: Wie wir miteinander umgehen? Ich mache so: »itia! itia!« und dann lacht es. Oder ich kitzle das Kind. (Pelatay, w 11, Tante des Kindes) Man singt ihm etwas vor und klatscht dazu. Zum Beispiel so: »oh Viny, oh Viny«. Dann tanzt und lacht Viny. (Hamariny, w 15, Schwester von Viny)

Einige Mütter explizieren, dass misoma in den Aufgabenbereich kindlicher Inter‑ aktionspartner fallen, so etwa Pelany: Als Mutter trägt man es so auf der Hüfte (mitrotro), wie jetzt gerade. Wenn es weint, dann beruhige ich es mit der Brust, und wenn ein Geschwister da ist, spielt dieses mit ihm (misoma), sodass es lacht/lächelt (mihehy). (Pelany, w 35, 5 Kinder, verheiratet)

Insgesamt favorisierten die Mütter von Menamaty eindeutig einen proximalen Be‑ treuungs‑ und Interaktionsstil, der sich durch einen hohen Stellenwert von körper‑ licher Zuwendung, Nähe und Beruhigung auszeichnet und einem distalen Inter‑ aktionsstil mit Betonung auf face-to-face-Kontakt, emotionaler Stimulation oder verbaler Kommunikation entgegengesetzt ist (vgl. Keller 2007: 142).

B eziehungsmodelle Den sich in den ersten Lebensjahren entwickelnden Beziehungsdynamiken und Bindungsformen zwischen Bezugspersonen und Kindern messe ich, wie im 1. Ka‑ pitel dargelegt, eine besondere Bedeutung für die in den folgenden Lebensjahren einsetzende Sozialisation moralischer Emotionen bei. Im Folgenden werde ich des‑ halb verschiedene Beziehungsaspekte aus den Perspektiven der Mütter und Baby‑ sitter darlegen.

Die Mutter als primäre Betreuungsperson von Säuglingen Wie in den vorangegangenen Ausführungen schon mehrfach angeklungen ist, wird der leiblichen Mutter (reny niteraky) ein zentraler Stellenwert bei der Betreu‑ ung von Säuglingen zugewiesen. Darüber hinaus übernehmen aber auch Babysit‑ ter (pitan-jaza, wörtlich: Haltender des Kindes), meist Schwestern oder Cousinen zwischen zehn und 13 Jahren, vertretungsweise diese Aufgabe. Hinsichtlich der Stellung der Mutter als Bezugsperson ist somit die Frage nach den Unterschieden zwischen ihr und den Babysittern aufschlussreich: Was sind die Unterschiede zwischen Müttern und Babysittern in der Beziehung zu Säuglingen? (Ino gny raha magnavaky gny reny niteraky sy gny pitan-jaza amin’ny fitezana gny zaza?) Es existiert kaum ein Unterschied, man gibt das Kind in die Obhut des Babysitters, wenn man etwas zu tun hat. Wenn der Babysitter müde ist, sagt er zu mir: »Da, nimm dein Kind«. Der ein-

5. Säuglingsbetreuung in der Perspektive von Müttern und Babysittern zige Unterschied zwischen uns beiden besteht darin, dass nur ich ihm die Brust geben kann. (Saforozy, w 30, 4 Kinder, geschieden) Wenn dieses kleine Kind hier bei mir ist, kann ich mich kaum um etwas anderes kümmern, und ich sage dann zu meiner älteren Tochter: »Trage das Kind weg von mir, damit ich meine Arbeit beenden kann und wenn ich damit fertig bin, dann komme wieder.« Nachdem das Kind gestillt wurde, gibt es kein Problem, während es beim Babysitter ist; es spielt dann ruhig vor sich hin. Wenn es jedoch gestillt werden möchte, dann weint es die ganze Zeit, und deshalb stille ich es kurz und gebe es danach wieder dem Babysitter, damit er mit ihm spielt. (Pelany, w 35, 5 Kinder, verheiratet) Allein die Möglichkeit zu stillen unterscheidet die beiden. Wenn es von einem Babysitter gehütet wird und dann weint, lässt es sich nicht wirklich beruhigen, indem dieser ihm etwas zu essen gibt oder es auf dem Arm herumträgt und sagt: »sei ruhig, Kleine«; denn es will allein die Brust. Letztlich ruft der Babysitter der Mutter zu: »Kümmere dich um dein Kind, es lässt sich von mir nicht beruhigen.« Dann kommt die Mutter und stillt es, und dann beruhigt es sich schnell. So unterscheiden sich die beiden. (Fela, w 21, 2 Kinder, verheiratet)

Babysitter beantworteten dieselbe Frage u.a. folgendermaßen: Wenn die Mutter weit weggegangen ist, weint das Kind, da es gestillt werden möchte. Das ist alles. (Namea, w 13, Tante des Kindes) Wenn das Kind schlecht gelaunt ist, dann lässt es sich von mir nicht beruhigen. Egal was man versucht, um es zu beruhigen, es funktioniert nicht. Dann gebe ich es zur Mutter, damit sie es stillt. (Hamariny, w 15, Schwester des Kindes)

Mit einer Ausnahme verwiesen alle Interviewpartner auf die exklusive mütterli‑ che Fähigkeit des Stillens als Unterscheidungsmerkmal. Allein die Mutter sei in der Lage, Säuglingen jene Zuwendung zukommen zu lassen, die als Inbegriff der Säuglingsbetreuung und als effektivstes Mittel zur Erlangung sämtlicher Entwick‑ lungsziele angesehen wird. Insofern kann die Mutter als primäre Betreuungsper‑ son für Säuglinge angesehen werden.13 Neben dem Stillen wurde gelegentlich auch die körperliche Nähe, das mög‑ lichst permanente Beieinandersein von Mutter und Säugling hervorgehoben:

13 | Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um ein Argument für eine kulturübergreifende Verbreitung des Konzeptes der Mutter als primärer Betreuungsperson – schließlich besteht auch die Möglichkeit, dass andere Frauen die Mutter beim Stillen ablösen oder gar ersetzen. So war etwa das Ammenwesen schon im Altertum und noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts im gesamten europäischen Raum verbreitet (Alt 2002: 282). Auch in einigen zeitgenössischen Gruppen wie etwa bei den Makassar auf Sulawesi/Indonesien (RöttgerRössler 2014b: 146) oder den Beng der Elfenbeinküste (Gottlieb 2004: 202) werden Säuglinge auf informeller, aber regelmäßiger Basis von unterschiedlichen Frauen gestillt. Geteiltes Stillen kam für die Mütter von Menamaty hingegen nicht infrage.

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen Folgendes unterscheidet die Mutter vom Babysitter bezüglich der Beziehung zu den Kindern. Das Kind lebt zuallererst mit seiner Mutter, damit sie es immer stillen kann. Mit dem Babysitter ist es nur vorübergehend zusammen. (Doara, w 35, 5 Kinder, verheiratet) Es ist brav und spielt friedlich, sowohl wenn es sich in meiner, als auch, wenn es sich in der Obhut des Babysitters befindet. Da es aber von mir noch gestillt wird, schläft es noch bei mir und nicht beim Babysitter. (Zimeny, w 20, 1 Kind, verheiratet)

Wie diese und andere Darstellungen deutlich machen, begründen die Mütter das dauerhafte Beieinandersein wiederum mit dem Stillen. Angesichts der Bedeutung des Stillens als primäre Beruhigungsmethode liegt es nahe, dass sich Säuglinge bei ihren Müttern vergleichsweise ruhig verhalten: Der Babysitter kann das Kind nicht stillen, und deshalb weint es, sobald es mich, die Mutter sieht, die auf es zukommt. Wenn es bei mir ist, verhält es sich ruhig, wenn es jedoch beim Babysitter ist, weint es häufig. (Zesoa, w 18, 1 Kind, verheiratet) Wenn es von einem Babysitter gehütet wird, beginnt es vielleicht bald zu weinen und deshalb bringt dieser es zu mir. Ich nehme es dann zu mir, beruhige es mit der Brust und wenn ich wieder etwas zu tun habe, gebe ich es erneut dem Babysitter. (Velosoa, w 30, 6 Kinder, verheiratet) Bei mir, der Mutter, spielt das Kind friedlich mit Gegenständen, mit seinen Freunden spielt es jedoch wild im Sand herum. (Lazy, w 25, 3 Kinder, verheiratet)14

Obwohl ich mit der oben angeführten Interviewfrage eigentlich auf die jeweilige Beziehung zwischen Müttern bzw. Babysittern zu ihren Kleinsten abzielte, thema‑ tisierten nur zwei von 42 Müttern explizit emotionale Zuneigung (tia ≈ mögen/ lieben): Es gibt keinen Unterschied, weil ihn beide beruhigen können. Wenn ich etwas zu tun habe, gebe ich mein Kind in die Obhut eines Babysitters. Aber vielleicht mag (tia) dieses Kind den Babysitter nicht so sehr wie mich, die Mutter. (Lamina, w 20, 1 Kind, geschieden) Sein Babysitter Fola [m 11] kann meinem Sohn Herno [ca. 18 Monate] im Unterschied zu mir nicht die Brust geben, aber Herno mag (tia) uns trotzdem beide gerne. Wenn Herno bei mir ist und Fola sieht, weint er, weil er gerne von Fola getragen werden möchte. Wenn er bei Fola ist und dann mich sieht, mag (tia) er nicht mehr bei Fola bleiben, sondern möchte von mir aufgenommen werden. (Fagnomoa, w 22, 2 Kinder, verheiratet)

14 | Diese Mutter bezieht sich im Unterschied zu den anderen Müttern auf die Peers ihres etwa einjährigen Kindes. Aufgrund der systematischen Beobachtungen lässt sich sagen, dass sich der Interaktionsstil von Peers im Vergleich zu Babysittern wesentlich deutlicher von dem der Mütter unterscheidet. Da mir dies zum Zeitpunkt der Interviews noch nicht bewusst war, habe ich es versäumt, eine entsprechende Frage zu stellen.

5. Säuglingsbetreuung in der Perspektive von Müttern und Babysittern

Demnach scheint emotionale Zuneigung keine zentrale ­– oder zumindest keine explizite ­– Dimension des kulturellen Modells der Mutter-Kind-Beziehung dazu‑ stellen.

Die emotionale Dimension der Mutter-Kind-Beziehung Während sich Mütter aufgrund ihrer exklusiven Fähigkeit des Stillens als zentrale Betreuungsperson ihrer Kleinsten darstellten, beschrieben sie kaum in einer ex‑ pliziten Weise die Beziehungsqualität zu ihren Kindern. Wie die Ausführungen zu den mütterlichen Entwicklungszielen, Intentionen und zur Praxis der Säuglings‑ betreuung gezeigt haben, steht vielmehr die körperliche Entwicklung der Kinder und ein ruhiges, emotional sowie physisch selbständiges Verhalten, das den Be‑ treuungsaufwand reduziert, im Vordergrund. Bei Müttern der deutschen Mittel‑ schicht verbreitete Werte, wonach es wichtig sei, einem Baby gegenüber emotiona‑ le Wärme auszudrücken, ihm volle Aufmerksamkeit zu schenken sowie positive Emotionen hervorzurufen und diese miteinander zu teilen (Keller 2007: 110-131), spielten für die Mütter aus Menamaty zumindest auf der expliziten, verbalisierten Ebene keine zentrale Rolle. Gleichwohl bemühte ich mich, solche Aspekte der Mutter-Kind-Beziehung in einem Interviewabschnitt anzusprechen, die durch eine positive Emotionalität ge‑ kennzeichnet sind. Die anfangs gestellte Frage »Wie merkt dein Kind, dass du es liebst?« beantworteten einige Mütter allerdings durch den Verweis auf negative Emotionen. »Wenn die Mutter nicht wütend (meloky) ist, weiß das Kind, dass die Mutter es liebt«, erklärte beispielsweise eine 30-jährige Mutter von vier Kindern. Als nach einigen Interviews klar wurde, dass die meisten Mütter Mühe hatten, eine Antwort auf diese Frage zu formulieren, schlug mein madagassischer Forschungs‑ assistent Dadah eine alternative Frage vor: »Wie reagierst du, wenn dein Kind nicht bei dir ist und wie reagiert dieses, wenn du nicht in seiner Nähe bist?«15 Alle Mütter beantworteten diese Frage mühelos, beispielsweise folgendermaßen: Wenn ich es nicht sehe, dann vermisse (many) ich es, die Milch ist dann im Überfluss vorhanden. Man erledigt also so schnell wie möglich seine Arbeit, weil man befürchtet, dass das Kind vielleicht gerade weint und einen sucht. Wenn ich dann zurück bin, gebe ich ihm gleich die Brust, und es ist ruhig. (Rapoliny, w 35, 4 Kinder, verheiratet) Wenn mich das Kind nicht sieht, dann weint es und wenn ich es nicht sehe, denke ich folgendes: »Vielleicht weint mein Kind gerade oder vielleicht will es gestillt werden.« Wenn ich weit von meinem Kind entfernt bin, dann denke ich die ganze Zeit an es. (Radiny, w 20, 2 Kinder, verheiratet) Wenn ich es nicht sehe, dann suche ich es und wenn es von den Kindern zum Spielen mitgenommen wurde, dann frage ich sie: »Wohin habt ihr mein Kind getragen? Bringt es zu mir, weil ich ihm etwas zu essen geben möchte.« Mein Kind ist noch verrückt (gnagna) und kann deshalb nicht fragen: »Wo ist meine Mutter?« Deshalb muss ich es suchen, und wenn es mich dann sieht, freut es sich (falifaly), weil es mich erkennt. (Saforozy, w 30, 4 Kinder, geschieden) 15 | Manaokory gnataonao raha tsy mahita gnanakinao ary gnanakinao raha tsy mahita anao?

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Zunächst ist festzuhalten, dass sämtliche Mütter die Trennungssituation für beide Seiten klar als negativen Zustand beurteilten, indem sie negative Emotionen als Folge der Trennung anführten oder die Motivation, einander zu suchen. Über die Hälfte der Mütter charakterisierten ihre emotionale Reaktion auf die Trennung als ein Vermissen (many). Einige Mütter nannten zudem Traurigkeit (alahelo), eine innere Unruhe (mivadim-po) oder Langeweile (kamo) als emotionale Antwort sowie anhaltende Gedanken über das Befinden des Kindes als kognitive Reaktion auf die Trennung. Als Reaktion der Säuglinge auf die Trennungssituation nannten die meisten Mütter (80 Prozent) den Ausdruck des Weinens und nur einige die Emo‑ tion des Vermissens (5 Prozent) oder den Handlungsimpuls des Suchens. Was die emotionale Reaktion anbelangt, so machen diese Antworten einen Unterschied zwischen Mutter und Säugling deutlich: Während Mütter sich selber meist die Emotion des Vermissens zuschrieben, die direkt auf ein Bedürfnis nach Nähe hindeutet, beschrieben sie die Reaktionen ihrer Kinder vor allem mit dem Ausdrucksverhalten des Weinens. Viele Mütter führten an, dass ihre abwesenden Säuglinge deshalb weinen, weil sie gestillt werden möchten, oder dass sie ihre Kin‑ der nach dem Wiedersehen als erstes stillen. Wie oben dargestellt, wird das Weinen den mütterlichen Vorstellungen zufolge vor allem durch körperliche Bedürfnisse veranlasst. Lediglich drei der 42 Mütter merkten an, dass sich ihre Kinder oder sie selbst beim Wiedersehen freuen ( falifaly). Dieses Interviewmaterial zeigt, dass das säuglingsbezogene Beziehungskon‑ zept der Mütter aus Menamaty durchaus den Aspekt einer emotionalen Beziehung enthält. Jedoch unterscheidet sich die Rolle der Emotionen mindestens bezüglich zweier Momente deutlich von jener in der westlichen Mittelschicht, die den Akzent auf einen reziproken Austausch positiver Emotionen als Ausdruck gegenseitiger Liebe setzt. Zum einen legt das Interviewmaterial eine deutlich asymmetrische Konzeptuali‑ sierung der Mutter-Kind-Beziehung nahe: Während Mütter aus einem emotionalen Bedürfnis heraus die Nähe ihrer Säuglinge suchen, tun dies Säuglinge ihres Erach‑ tens vor allem aufgrund des körperlichen Bedürfnisses nach der Muttermilch. Die Praxis des Stillens unterstreicht diese Asymmetrie, da hierbei die Mutter klar die ge‑ bende und der Säugling die empfangende Rolle übernimmt. Dasselbe trifft auch auf die anderen körperbezogenen Umgangsformen zu, die zusammen mit dem Stillen das Rollenbild der Mütter aus Menamaty prägen. Denn im Unterschied zur emotio‑ nalen Zuwendung im Kontext von face-to-face-Interaktionen können Säuglinge die körperliche Zuwendung nicht in derselben Form erwidern. Selbstverständlich räu‑ men auch Mütter der westlichen Mittelschicht dem Stillen oder Körperkontakt einen wichtigen Stellenwert ein. Wie Keller (2007: 128) jedoch am Beispiel von Müttern aus Los Angeles herausstellt, werden diese Formen der Zuwendung nicht allein durch die Ernährungs‑ oder Beruhigungsfunktion begründet, sondern gerade auch als Ge‑ legenheit geschätzt, durch Blickkontakt und den Austausch positiver Emotionssig‑ nale die interpersonale Bindung zu erleben, auszudrücken oder zu vertiefen. Damit, so lässt sich argumentieren, wird die asymmetrische Dimension des Stillens und Tragens durch ein symmetrisches, reziprokes Beziehungsmodell überlagert. Zum anderen zeichnet sich das Modell der Mutter-Kind-Beziehung in der Forschungsregion weniger durch intensiv positive, auf den Beziehungspartner gerichtete und kommunizierte Emotionen aus, sondern vielmehr durch die Be‑ ruhigung negativer Emotionen und die Herbeiführung dauerhafter emotionaler

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Ausgeglichenheit. Mehrfach ist deutlich geworden, dass sich stillende Mütter für besonders befähigt halten, ihr Kind zu beruhigen und damit negative Emotionen jeder Art effektiv zu regulieren oder ihnen vorzubeugen. Insofern den Berichten zufolge negative Emotionen der Säuglinge meist dann entstehen, wenn sie von an‑ deren Personen gehütet werden und von der Mutter bzw. der Mutterbrust getrennt sind, steht in der aktualisierten Beziehung zur Mutter gerade eine Reduzierung der Emotionalität oder eben eine ruhige, ausgeglichene Gemütslage im Vordergrund, die wiederum ein selbständiges Spielen ermöglichen soll. In dieser Gewichtung lässt sich auch ein Grund dafür finden, weshalb Mütter die Beziehungsqualität zu ihren Babys – sofern sie nicht gezielt darauf angesprochen werden – kaum the‑ matisieren: Indem der Ausnahmezustand negativer Emotionen im Fokus des Be‑ ziehungskonzeptes steht, bleibt der Normalzustand einer intakten, ungefährdeten Beziehung zwischen Mutter und Säugling emotional unmarkiert. Damit lässt sich die emotionale Bindung gewissermaßen als Hintergrundphänomen oder implizi‑ ter Bestandteil des Beziehungskonzeptes beschreiben.16

Das Beziehungsmodell in der Ontogenese Bislang habe ich das Modell der Mutter-Kind-Beziehung unabhängig von altersbe‑ dingten Veränderungen beschrieben. Der Umstand, dass Mütter die Beziehung zu ihren Säuglingen vor allem über körperzentrierte Betreuungspraktiken beschrei‑ ben, legt allerdings nahe, dass die Beziehungskonzeption eine ontogenetische Ver‑ änderung vorsieht. Denn mit zunehmendem Alter lässt der Betreuungsbedarf des Kindes nach. In den ersten drei Lebensmonaten werden Kinder, wie erwähnt, als zaza mena bezeichnet und damit konzeptuell von älteren Kindern abgehoben. Wörtlich be‑ deutet der Begriff zaza mena ›rotes Kind‹, womit er sich auf die hellere, rötliche Hautfarbe Neugeborener bezieht. Diese Hautfarbe sowie die pulsierende, offene Fontanelle betrachteten Mütter als Indiz, dass der Körper von Neugeborenen noch überaus empfindlich, geradezu durchlässig sei. Einige Mütter betonten, dass be‑ sonders ein zaza mena der Nähe der Mutter bedürfe: Wenn es noch rot ist, dann trennt sich die Mutter kaum von ihm. Man traut sich nicht, es alleine zu lassen. Es würde weinen, wenn es die Mutter nicht sähe, weil es ständig gestillt werden möchte. Auch ich suche es dann. (Nareny, w 35, 5 Kinder, verheiratet) Drei Monate nach der Geburt kann die Mutter wieder kaltes Wasser trinken. Bis zu diesem Alter kann das Kind noch nicht alleine sitzen, deshalb sitzt es stets auf meinem Schoß. Nach vier Monaten kann es alleine auf dem Boden sitzen, man muss dann aber noch aufpassen, dass es nicht umkippt. Später lernt es laufen, am Anfang läuft es wie ein Betrunkener. (Pelany, w 35, 5 Kinder, verheiratet)

16 | Zu einem ähnlichen Schluss kommen auch LeVine et al. bezüglich der Gusii in Kenia (1994: 271): »Gusii adults nonetheless report that they knew as children that their mothers were attached and devoted to them, even so their mothers never said so. Thus positive emotional attachement is not marked by words but is understood as an unspoken background phenomenon.«

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Dass Säuglinge in den ersten drei Lebensmonaten möglichst permanent auf dem Schoß gehalten oder getragen werden sollten, begründeten Mütter nicht nur mit der besonderen Empfindlichkeit sowie den unausgebildeten motorischen Fähigkei‑ ten des zaza mena, sondern auch mit einem Gebot der ›Wärme‹ oder ›Hitze‹, das sowohl für die Mutter als auch für Neugeborene von Bedeutung ist. Das für Mütter geltende Gebot, lediglich mit heißen Substanzen in Kontakt zu kommen und jede Form von Kälte zu meiden, erklärte eine Gesprächspartnerin folgendermaßen: Man tut dies, weil man für neun Monate schwanger war und dann während der Geburt viel gepresst hat und deshalb die Organe ausgeleiert sind. Nach der Geburt sind alle Organe verschoben. Damit sich alles wieder zurückbildet und das Blut gestoppt wird, nimmt man nur Heißes zu sich und wäscht sich mit heißem Wasser. Man darf nichts Kaltes zu sich nehmen, weil der Ort, wo das Kind herauskam, durcheinandergebracht worden ist. Dieser Ort benötigt Heißes, um wieder so zu werden wie vor der Schwangerschaft. Wenn man in kaltem Wasser baden würde oder kalte Nahrung zu sich nehmen würde und kaltes Wasser trinken würde, dann würde der Körper nach der Geburt nicht mehr funktionieren. Auch das Kind darf nicht in Kontakt mit Kaltem kommen, weil es sonst nicht wächst. Das sind die Gründe, nach denen ihr gefragt habt. (Meny, w 28, 3 Kinder, verheiratet)

Die Einnahme ausschließlich heißer Nahrung und Getränke sowie das Baden in heißem Wasser, dient also zunächst der Schwangerschaftsrückbildung der Wöch‑ nerin ( jabely). Jedoch ist auch für das zaza mena Hitze von besonderer Bedeutung, weshalb nicht nur permanenter Körperkontakt zwischen Mutter und Kind als un‑ erlässlich dargestellt wurde, sondern auch dauerhaftes gemeinsames Verweilen unter einer dicken Decke – selbst bei hohen Außentemperaturen. Wie oben bereits angemerkt, erachteten Mütter zudem eine warme oder heiße Brust (nono mafana) als besonders relevant für ein schnelles Heranwachsen des Kindes. Es sei daran er‑ innert, dass die Eigenschaft der Hitze zudem Emotionen wie may fo (heißes Herz/ wutentbrannt) kennzeichnet, die in besonderem Maße aktivierend sind. Offenbar wird auch in anderen Regionen Madagaskars Hitze als Träger oder Manifestation einer Art Vitalität oder ›Lebenskraft‹ verstanden (vgl. Bloch 1986). Unabhängig von der semantischen Dimension einer die Rückbildung bzw. das Säuglingswachstum aktivierenden Hitze, prägen die entsprechenden Gebote auch den Umgang zwischen Mutter und Kind in den ersten Monaten. Da die weiblichen Verwandten das Trink‑ und Badewasser vom Fluss herbeischaffen und auf dem Feuer erhitzen, während sich die Mutter in der jabely-Phase möglichst wenig be‑ wegen soll, erfährt sie ein außergewöhnliches Maß an Zuwendung und Unterstüt‑ zung durch ihr soziales Umfeld, sodass sie kaum von der Seite des Neugeborenen weichen muss. Insbesondere erstgebärende Mütter verbringen ihre jabely-Phase im Kreis der eigenen, väterlichen Abstammungsgruppe, deren Mitglieder im Unter‑ schied zu den angeheirateten Verwandten in einem moralisch fundierten Unter‑ stützungs‑ und Vertrauensverhältnis zur Wöchnerin stehen. Da die väterliche Ver‑ wandtschaft in der Regel in einem anderen Dorf lebt, verbringen viele Säuglinge die ersten drei Lebensmonate räumlich getrennt von ihren Vätern, die zudem zu sexueller Enthaltsamkeit verpflichtet sind. Die Gebote und Regelungen der ersten

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drei Lebensmonate unterstützen also eine weitgehend exklusive körperliche Nähe zwischen Mutter und Neugeborenem.17 Dass Säuglinge in dieser Phase geradezu als körperliche Extension ihrer Mütter betrachtet werden, legt zum einen die Vorstellung des noch nicht abgegrenzten kindlichen Körpers und zum anderen die Art und Weise nahe, wie sie bezeichnet werden. Bei den Eingangsgesprächen mit den Müttern der 45 Kinder zeigte sich, dass die Jüngeren unter ihnen meist noch keinen eigenen Namen hatten. Selbst wenn dies der Fall war, nannten Mütter in den Interviews ihre Kinder äußerst sel‑ ten beim Namen. Wie bereits angemerkt, bezog sich die wörtliche Bedeutung vieler Rufnamen auf körperliche Aspekte und einige Mütter sprachen mit Blick auf ihr Kind von einer Sache (raha). Wie mir erklärt wurde, wird für ein zaza mena im Todesfall kein Bestattungsritual veranstaltet, weil es noch keinen fagnahy (Geist, Charakter) besitze. Vor diesem Hintergrund lassen sich die ersten drei Monate als eine Phase verstehen, in der dem Säugling noch keine ausgeprägte soziale oder personale Existenz zugeschrieben wird18 und der Fokus der mütterlichen Fürsorge in besonderem Maße auf seinem körperlichen Wohl liegt. Das Ende der ›postuterinen‹ Phase ist durch einige Umstellungen geprägt, die eine Auflockerung der bis dahin nahezu exklusiven körperlichen Synthese zwi‑ schen Mutter und Kind nach sich ziehen. Sofern die Mutter verheiratet ist, kehrt sie nach Ablauf der drei Monate mit ihrem Kind zu ihrem Ehemann und in des‑ sen Abstammungsgruppe zurück, womit sie auch ihre eheliche Beziehung und Pflichten im Haushalt allmählich wiederaufnimmt und ihrem Kind entsprechend weniger Zuwendung bieten kann. Wie aus den Darstellungen der Mütter klar her‑ vorgeht, erlauben ihnen die motorischen Entwicklungsschritte des selbständigen Sitzens, Spielens, Krabbelns, Essens und Laufens eine zunehmende Hinwendung zur täglichen Arbeit, weil Kinder damit sukzessive körperliche Unabhängigkeit er‑ langen. Die Entwicklung dieser motorischen Fähigkeiten impliziert zugleich eine zunehmende Integration der Säuglinge in die weitere soziale Gemeinschaft, wobei zunächst kindliche Babysitter als Betreuungspersonen und dann Peers als Inter‑ aktionspartner an Bedeutung gewinnen. Gemäß dem zentralen Stellenwert des Stillens für das Selbstverständnis der Mütter skizzierten diese allerdings erst das Abstillen im Alter von etwa zwei Jahren als entscheidende Zäsur für die Mutter-Kind-Beziehung: Unsere Beziehung verändert sich sehr stark, wenn ich aufhöre, das Kind zu stillen. Es möchte dann auch nicht mehr gestillt werden. Es wird meiner überdrüssig (mahaleon-zegna) und trennt sich [räumlich] von mir, seiner Mutter. (Nareny, w 35, 5 Kinder, verheiratet) Es gibt nur noch wenig Umgang zwischen uns beiden, wenn das Kind nicht mehr von mir gestillt wird. Vielleicht werden dann meine anderen Kinder eine enge Beziehung zu ihm haben, 17 | Eine solche Abgrenzung der ersten drei Lebensmonate als besondere, mit speziellen Verboten oder Tabus verknüpfte Entwicklungsphase wird auch in anderen Kulturen vorgenommen, so etwa bei den Chewa in Malawi (Kaspin 1996: 572). 18 | Dies steht in einem deutlichen Gegensatz zu Gottliebs (2004) Darstellung der säuglingsbezogenen Kultur der Beng der Elfenbeinküste, wonach Säuglinge aufgrund ihres vorgeburtlichen Lebens bereits bei der Geburt als ausgereifte Persönlichkeiten angesehen werden. Lancy zeigt allerdings, dass Konzepte von »delayed personhood« (2014: Titel) weit verbreitet sind.

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen weil es dann schon groß ist. Es spielt dann viel mit seinen Freunden. (Mbasay, w 30, 4 Kinder, verheiratet)

Entgegen meiner, sicherlich durch westeuropäische Bindungsmodelle geprägten, Anfangsvermutung, dass diese relativ abrupt anmutende Distanzierung nach dem Stillen emotionale Brüche nach sich ziehen würde, bestätigten die Mütter nicht. Vielmehr beschrieben sie den durch diese physische Trennung markierten Über‑ gang in die Kleinkindphase geradezu als natürlichen Vorgang ohne emotionale Verwerfungen, der eher auf die Initiative der Kinder zurückgeht. Diese Sichtweise lässt sich insofern auf das erörterte Modell der Mutter-KindBeziehung zurückführen, als die Bindung des Säuglings an die Mutter vor allem an der Befriedigung seiner körperlichen Bedürfnisse, insbesondere am Bedarf nach Muttermilch festgemacht wird. Mit der Entwöhnung von der Mutterbrust und der Fähigkeit der selbständigen Nahrungsaufnahme fällt diesem Modell zufolge für das Kind auch der Grund weg, die Nähe der Mutter zu suchen. Immerhin thematisierte eine Mutter eines zweieinhalbjährigen Kindes, dass zumindest von ihrer Seite der Wunsch bestehe, die Nähe zu ihrem Kind über das übliche Alter hinaus aufrecht zu halten: »Ich vermisse es, wenn ich es nicht sehe. Das ist der Grund, warum ich ihm immer noch die Brust gebe und in seiner Nähe bleiben möchte.«19 Nicht zuletzt be‑ stätigt sie damit die Bedeutung des Stillens als ›Bindemittel‹ in der Beziehung zwi‑ schen Mutter und Kind. Sofern sich die Mutter von ihrem Ehemann trennt, kommt es tatsächlich zu einer dauerhaften Trennung, da das Kind nach dem Abstillen meist in den tariky des Vaters gegeben wird, die Mutter aber in ihr Herkunftsdorf zurück‑ kehrt oder sich einem neuen Ehemann anschließt. In der Regel allerdings bedeutet das Abstillen zuallererst eine körperliche Distanzierung und weniger ein gänzliches Beziehungsende. Aus Gesprächen geht hervor, dass sich Mütter auch gegenüber älteren Kindern als wichtige, allerdings nicht mehr exklusive, Ernährerinnen sehen.

Z usammenfassung und D iskussion Zusammenfassend stellen sich die mütterlichen Entwicklungsziele, ihre Pragma‑ tik und Praktiken wie folgt dar: Die Interviews zeugen von einer ausgeprägten müt‑ terlichen Sorge um die Gesundheit des Kindes und ein entsprechend sorgfältiges Bemühen um eine rasche Gewichtszunahme und robuste Konstitution, was dem Überstehen von Erkrankungen zugutekommt. Angesichts der realen Lebensbedro‑ hung durch Krankheiten ist die zentrale Bedeutung dieses primären Entwicklungs‑ ziels in hohem Maße nachvollziehbar. Ein weiteres, ebenfalls auf die körperliche Entwicklung bezogenes Anliegen von Müttern ist ein möglichst schnelles Erlangen motorischer Fähigkeiten wie selbständiges Sitzen, Krabbeln, Stehen, Laufen, Essen oder Spielen mit Gegenständen. Diese Entwicklungsziele begründeten Mütter in

19 | Auch ein Jugendlicher und ein erwachsener Mann erzählten, dass sie bis zum sechsten Lebensjahr von ihren Müttern gestillt wurden. Dabei handelt es sich um letztgeborene Söhne. Sie betonten, dass sie schließlich auf eigene Initiative hin das Trinken an der Mutterbrust aufgaben. Dass die Mehrzahl der Kinder jedoch gegen Ende des zweiten Lebensjahres abgestillt wurde, hängt meist mit einer erneuten Schwangerschaft der Mutter zusammen.

5. Säuglingsbetreuung in der Perspektive von Müttern und Babysittern

erster Linie mit einer Reduzierung des Betreuungsaufwands, die ihnen die Erledi‑ gung anderer Aufgaben erleichtert. Die Pragmatik im alltäglichen Umgang mit Säuglingen zielt auf ein möglichst schnelles Beruhigen und effektives Ruhighalten von Säuglingen und trifft sich mit dem Ideal eines emotional ausgeglichenen Säuglings, dessen Weinen sich leicht durch körperliche Zuwendung beruhigen lässt. Damit liegt der Fokus von Müttern auf der Regulation negativer Emotionen und nicht auf dem Hervorbringen und Teilen positiver Emotionen. Ein ruhiger Gemütszustand bzw. das Ausbleiben stark positiver, auf die Mutter gerichteter und Aufmerksamkeit heischender Emotionen ermöglicht ihnen die Bewältigung der zahlreichen Alltagspflichten. Diese pragma‑ tischen Intentionen stehen aber auch in einem Ergänzungsverhältnis zu den über‑ geordneten Entwicklungszielen, da in den Augen der Mütter negative Emotionen Kinder in ihrer körperlichen Entwicklung hemmen oder krankmachen. Die von Müttern hervorgehobenen Betreuungspraktiken, in deren Zentrum das Stillen steht, sind in erster Linie auf das körperliche Wohl und die emotio‑ nale Ausgeglichenheit des Säuglings gerichtet und lassen sich einem proximalen Interaktionsmodell zuordnen. Emotional stimulierenden oder explizit Zuneigung ausdrückenden Umgangsformen etwa durch face-to-face-Interaktionen räumten Mütter hingegen keinen hohen Stellenwert ein. Wie bereits angedeutet und wie sich weiter unten noch auf der Beobachtungsebene zeigen wird, überlassen Mütter diese Aufgabe teilweise Babysittern, vor allem aber Peers, womit Säuglinge und Kleinkinder in dieser Hinsicht keineswegs unter einem Mangel leiden. Die Mütter präsentierten sich als primäre Betreuungspersonen, insofern sie al‑ leine ihre Kinder stillen und ihnen damit jene Zuwendung zukommen lassen, die aus ihrer Sicht allen Entwicklungszielen am besten dient. Dennoch (oder gerade des‑ wegen) thematisierten Mütter die Beziehung zu ihren Kindern kaum im Sinne einer durch intensive positive Emotionen gekennzeichneten Bindung. Ihren Darstellun‑ gen zufolge ist in erster Linie eine Beziehungsunterbrechung und weniger die aktua‑ lisierte Beziehung emotional markiert, da Kinder vor allem aufgrund einer Trennung von der Mutter weinen und sich im Kontakt mit der Mutter umgehend beruhigen. Dieses körperzentrierte Beziehungsmodell impliziert eine starke Transforma‑ tion der Mutter-Kind-Beziehung in der Ontogenese, da die zunehmende physische Autonomie eine Reduzierung der Körperbetreuung nach sich zieht. Ausgehend von einem möglichst permanenten Zustrom an mütterlicher Körperwärme in den ers‑ ten drei Lebensmonaten führen die motorischen Entwicklungsschritte zu einer suk‑ zessiven Entwöhnung vom Körper der Mutter, womit die anfänglich nahezu exklusi‑ ve Verbindung zwischen Mutter und Kind aufgelockert wird. Das Abstillen markiert den Beginn einer zunehmenden körperlichen Distanz. Ein zentraler Aspekt der Mutter-Kind-Beziehung bleibt jedoch bestehen: die Weitergabe von Nahrung. Insgesamt weist das Entwicklungs‑ und Betreuungsmodell der Mütter aus Me‑ namaty zahlreiche Gemeinsamkeiten mit dem pediatric model auf, das LeVine et al. (1994: 249) auf der Basis einer Studie bei den ebenfalls agropastoralen Gusii aus Kenia entwickelt haben und dem pedagogic model westlicher Mittelschichten gegen‑ über stellen. Allerdings ist zu bedenken, dass das skizzierte Modell der Mütter und Babysitter keineswegs allein ausschlaggebend für die Entwicklungsnische der Kinder von Menamaty ist. Vielmehr betrifft es lediglich die hierarchisch-interde‑ pendenten Beziehungen. Wie zu sehen sein wird, ist der Alltag von Säuglingen und

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Kleinkindern mit zunehmendem Alter stark durch Peer-Interaktionen geprägt, die einem egalitär-autonomen Interaktionsmodus entsprechen.

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Wie Weisner und Gallimore im Jahr 1977 in einem Überblicksartikel zum Thema child and sibling caretaking bemerkten, hat die Sozialisationsforschung lange Zeit fast ausschließlich Mütter und Väter als Bezugspersonen für Kinder berücksich‑ tigt. Dies ist nach ihnen zum einen auf das Vorherrschen der Kleinfamilie in den Herkunftsgesellschaften der Wissenschaftler und zum anderen auf den Einfluss der Psychoanalyse zurückzuführen. Auch viele der zur Kindheit und Sozialisation forschenden Ethnologen konnten sich den Autoren zufolge diesem Einfluss des Herkunftskontextes nicht immer entziehen: Sie legten ihren Fokus vorwiegend auf Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern, obwohl in vielen der von ihnen untersuchten Gesellschaften auch andere Bezugspersonen und Interaktionspart‑ ner eine zentrale Rolle im Umgang mit Säuglingen spielten. Eingebettet in zahlrei‑ che Monografien finden die Autoren jedoch eine Reihe von Darstellungen der Kin‑ derbetreuung vor, welche die Rolle nicht-elterlicher Bezugspersonen hervorheben (z.B. Geertz 1961; Mead 2001 [1928]; Read 1968; Williams 1969). Darüber hinaus können sie auf einige kurz zuvor veröffentlichte Studien zurückgreifen, welche die Frage nach den Bezugspersonen von Kindern gezielt und systematisch untersu‑ chen (z.B. Konner 1975; Leiderman & Leiderman 1974; Minturn & Lambert 1964; Munroe & Munroe 1971; Whiting 1961). Nicht zuletzt dank des Artikels von Weisner und Gallimore wurde die Rolle von Geschwistern, Peers, Tanten, Onkeln oder Großmüttern als Bezugspersonen in der kulturanthropologischen Forschung der letzten Jahrzehnte verstärkt in den Blick genommen. Zunächst folgten in den 1980er Jahren und Anfang der 1990er Jahre einige ethnologische Studien zum Thema des multiple caretaking (Nuckolls 1993; Richman et al. 1988; Tronick et al. 1987; Watson-Gegeo & Gegeo 1989; Weis‑ ner 1993; Wenger 1989; Whiting & Edwards 1988; Whittemore & Beverly 1989). Im letzten Jahrzehnt sind zu dieser Thematik jedoch nur noch einzelne ethnologische Abhandlungen erschienen (Ivey 2000; Maynard 2002; Rabain-Jamin et al. 2003; Reynolds et al. 2011; Seymour 2004). Diese Belege für die Bedeutung nicht-elterlicher Bezugspersonen in unter‑ schiedlichen Gesellschaften wurden offenbar auch in der Entwicklungspsycholo‑ gie wahrgenommen. Denn seit Beginn der 1990er Jahre haben sich im Rahmen dieser Disziplin einige Forschungsaktivitäten zum Einfluss von Geschwistern und Peers auf die Entwicklung von Kindern unterschiedlichen Alters entwickelt (z.B.

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Cicirelli 1994; Lamb 1998; New 1988; Nsamenang 2010; Mejía-Arauz et al. 2007; Rogoff 1981; Zukow 1989, 2002). Da sich die kulturvergleichende Entwicklungs‑ psychologie allerdings weiterhin zum großen Teil auf Eltern-Kind-Beziehungen konzentriert, rufen einige Autoren in jüngster Zeit zu Recht dazu auf, neben den Eltern auch andere Bezugspersonen stärker zu berücksichtigen (Dunn 2007; Up‑ degraff et al. 2011; Whiteman et al. 2011). So schreibt auch der Kulturpsychologe Wolfgang Friedlmeier (2013: 233): »Die meisten Studien haben Eltern und vor allem Mütter untersucht. Eine Ausweitung der Perspektive auf andere Sozialisationspart‑ ner des Kindes ist ebenfalls ein wichtiges Thema zukünftiger Forschung.« Abgesehen davon, dass die Erforschung kulturspezifischer Ausprägungen von multiple caretaking nach wie vor ein Desiderat darstellt, ist sie auch für die Emo‑ tionssozialisation von zentraler Wichtigkeit. Denn wie im ersten Teil deutlich wurde, unterscheiden sich die Interaktionsmuster und damit auch die emotiona‑ len Verhaltensweisen der Menschen aus Menamaty je nachdem, ob sie gerade in hierarchischen oder egalitären Relationen interagieren. Ich gehe davon aus, dass diese sozio-emotionalen Konfigurationen schon in der frühen Kindheit sozialisiert werden – und zwar aufgrund von Interaktionserfahrungen, die sich systematisch je nach sozialer Identität der Interaktionspartner differenzieren. In diesem Kapitel untersuche ich darum systematisch die Frage, wie sich das soziale Umfeld in den ersten drei Lebensjahren strukturiert und ausdifferenziert. Abbildung 10: Multiple Beziehungen. Maharo (m 1) befindet sich gleichzeitig im Kontakt mit mehreren Personen. Während er mit seiner Babysitterin Körperkontakt hat, nimmt er Blickkontakt mit zwei etwas älteren Mädchen auf.

6. Die soziale Umwelt in den ersten drei Lebensjahren

B eobachtungs ‑ und A uswertungsme thoden Die Frage nach dem sozialen Umfeld von Säuglingen und Kleinkindern lässt sich kaum allein auf Grundlage der teilnehmenden Beobachtungen beantworten, da die Kinder von Menamaty im Tagesverlauf mit einer unübersichtlichen Anzahl unter‑ schiedlicher Personen Kontakt hatten. Die folgenden Ausführungen basieren des‑ halb vor allem auf dem systematischen Beobachtungs‑ und Analyseverfahren der time-allocation (Bernard 2013: 425) bzw. des Zeitbudgets (Beer 2008: 180). Mit diesem Verfahren bezwecke ich die Erhebung der Zeitanteile, welche die Kinder in der For‑ schungsregion mit ihren verschiedenen Bezugspersonen und Interaktionspartnern im Alltag verbringen, und der Interaktionsformen, die dabei jeweils im Vordergrund stehen. In der Sozial‑ und Kulturanthropologie wurden bisher zwei unterschiedli‑ che Strategien zur Erhebung des Zeitbudgets erprobt, die des continuous monitoring und die des instantaneous spot sampling bzw. der spot observation (Bernard 2013: 415). Da die jüngsten Kinder vor allem von Frauen und Mädchen betreut wurden, hätte ich bei einer kontinuierlichen Beobachtung Personen weiblichen Geschlechts über lange Zeiträume begleiten müssen, womit ich in Konflikt mit den Normen der Ge‑ schlechtersegregation geraten wäre. Zudem hätte die dauerhafte Präsenz eines Man‑ nes das soziale Umfeld des jeweiligen Kindes ohne Zweifel beträchtlich beeinflusst. Aus diesen Gründen habe ich mich für die Methode der spot observation entschieden, die in der Sozialisationsforschung bereits vielfach angewandt wurde – so etwa von Munroe et al. (1971, 1983) in Peru, Kenia und den USA, von den Whitings (1975), von Hewlett bei den Aka-Pygmäen (1992) oder von LeVine et al. (1994: 155) in einer um‑ fänglichen Studie zur Säuglingsbetreuung bei den Gusii in Kenia.

Anwendung der spot observation Wie jede systematische Beobachtung erfordert auch die Methode der spot observation im Vorfeld der Anwendung eine Reihe von Festlegungen. Bei ihrer Darstellung orientiere ich mich an den Dimensionen, die nach Bernard (2013: 427) für die spot observation besonders relevant sind: Fokuspersonen: Im Fokus der spot observation standen 45 Kinder im Alter von drei Monaten bis drei Jahren. In Ranomadio nahmen alle Kinder dieser Altersgrup‑ pe teil, insgesamt 27 Kinder. Aus Soafary erklärten sich die Eltern von 18 Kindern zur Teilnahme bereit, etwa die Hälfte aller Kinder der entsprechenden Altersgrup‑ pe. Der Umstand, dass diese Teilnehmer mit Boba verwandt waren, der meine For‑ schung in Soafary unterstützte, gewährleistete trotz meines kurzen Aufenthaltes in diesem Dorf ein gutes Vertrauensverhältnis. Zeitrahmen der Beobachtung: Das wichtigste Prinzip der spot observation ist die Orientierung an einem Zeitplan, sodass die Beobachtung unabhängig von Akti‑ vitäten ist. Mein Zeitplan bestand darin, jedes Kind mindestens einmal zu jeder Tagesstunde (6 bis 17 Uhr) zu besuchen. An einem Tag wurden maximal zwei Be‑ obachtungen pro Kind durchgeführt, sodass sich der Beobachtungszeitraum für jedes Kind über ein bis zwei Wochen erstreckte. Die Aktivitäten nach Anbruch der Nacht konnten aufgrund der Dunkelheit nicht erfasst werden. Neben der Systema‑ tik führte die Orientierung an einem Zeitplan zu zahlreichen neuen Beobachtun‑ gen, die mir während der ersten, zehnmonatigen Phase der teilnehmenden Beob‑ achtung völlig entgangen waren. Aufgrund des Zeitplans durchbrach ich offenbar

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meine Arbeitsrhythmen und Besuchsmuster, die sich während der Feldforschung unwillkürlich eingestellt hatten. Ort der Beobachtung: Idealerweise werden die Einzelbeobachtungen dort durch‑ geführt, wo sich das Kind gerade aufhält, da der Zeitpunkt die Beobachtung defi‑ niert. Allerdings zeigte sich nach einigen Probedurchgängen, dass dies nicht voll‑ ständig zu realisieren war: Sobald sich Kinder mit ihren Bezugspersonen außerhalb des Dorfes aufhielten, waren sie teilweise schwierig, manchmal überhaupt nicht aufzufinden. Aus diesem Grund entschied ich mich schließlich dazu, die Beobach‑ tung nur dann durchzuführen, wenn sich die Kinder im Dorf aufhielten. Sofern die Kinder nicht im Dorf anzutreffen waren, was etwa auf ein Fünftel der Beobach‑ tungsversuche zutraf, wurde die Beobachtung am folgenden Tag zur selben Zeit wiederholt. Es ist klar, dass dies zu einer gewissen Verzerrung führen kann, weil so alles ausgeblendet wurde, was sich außerhalb des Dorfes abspielte. Sofern sich die Kinder innerhalb des Dorfes aufhielten, war es hingegen unproblematisch, sie aufzufinden, weil sie sich tagsüber meist im Freien befanden und ihr ungefäh‑ rer Aufenthaltsort bekannt war. Befanden sie sich zum Beobachtungszeitpunkt in einem Haus, blieb die Tür stets offen. Da das Hausinnere in den Dörfern keine Privatsphäre darstellt, konnte es jederzeit ohne Ankündigung betreten werden. Dauer der Einzelbeobachtungen: In der Literatur wird die Einzelbeobachtung häufig mit der Aufnahme eines Schnappschusses verglichen (z.B. LeVine et al. 1994: 155), die schon erfolgt ist, noch bevor sich die Aufmerksamkeit der beobach‑ teten Personen auf den Beobachter richtet. Das Prinzip der Momentaufnahme soll die Reaktivität der beobachteten Personen auf ein Minimum reduzieren. Um auch die zeitliche Dynamik von Interaktionen berücksichtigen zu können, wurde die Beobachtungsdauer auf ein Minimum von 10 Sekunden festgelegt. Dies schloss freilich ein längeres Verweilen beim jeweiligen Kind, um das Geschehen zum Be‑ obachtungszeitpunkt einordnen zu können, nicht aus. Anzahl der Einzelbeobachtungen: Von der Anzahl der Beobachtungen hängt die Reliabilität der Ergebnisse ab. Angestrebt waren 20 Beobachtungen pro Kind, doch konnte diese Anzahl nicht für alle Individuen erreicht werden, da einige von ihnen während der Durchführung verreisten. Insgesamt wurden 830 Einzelbeobachtun‑ gen durchgeführt, d.h. durchschnittlich etwas über 18 Beobachtungen pro Kind. Beobachtungstechnik und Dokumentationsform: Üblicherweise werden die Be‑ obachtungen vor Ort in vorgefertigten Erhebungsbögen mit festgelegten Beob‑ achtungskategorien eingetragen. Dies bringt aber mindestens zwei Nachteile mit sich: Im Laufe der Beobachtungen können sich neue Aspekte als relevant erweisen, die im Erhebungsbogen nicht vorgesehen waren. Darüber hinaus ist es überaus schwierig, sich gleichzeitig auf verschiedene Verhaltensdimensionen zu konzen‑ trieren. Um diese Probleme zu lösen, setzte ich nach einigen Probedurchgängen eine Videokamera als Dokumentationsmittel ein. Die Vorteile der videogestützten Beobachtung liegen auf der Hand: Die Beobachtungskategorien müssen nicht im Vorhinein festgelegt werden, vielmehr können sie bei der Analyse und somit stär‑ ker induktiv entwickelt werden. Das Interaktionsverhalten kann zudem exakter analysiert werden, da es aufgrund der Reproduzierbarkeit möglich wird, bei jedem Analysedurchgang auf neue Verhaltensdimensionen zu achten. Nicht zuletzt lässt sich damit die Analyse in einem Team durchführen. Auf diese Weise kann der Interpretation des Feldforschers eine alternative Sichtweise gegenübergestellt wer‑ den, wodurch dessen ansonsten geradezu unumschränkte Interpretationshoheit

6. Die soziale Umwelt in den ersten drei Lebensjahren

eingeschränkt wird. Von dieser Möglichkeit habe ich Gebrauch gemacht und Teile des Filmmaterials mit zwei Kolleginnen codiert. Freilich hat diese Dokumentation auch Nachteile: Ähnlich wie die Audiodokumentation von Gesprächen führt die Videodokumentation zu einer Potenzierung der sozialen Exponiertheit, weil das Beobachtete reproduziert und mit unbeteiligten Personen geteilt werden kann. Die Dorf bewohner und auch meine madagassischen Forschungsassistenten sahen da‑ rin allerdings kein Problem, weil das aufgezeichnete Verhalten ohnehin für alle sichtbar sei. Im Unterschied zur teilnehmenden Beobachtung und zur schriftli‑ chen Dokumentation lässt sich die videogestützte Beobachtung als eine besonders offene Erhebungsform einstufen, weil die Videokamera den Beobachtungsfokus deutlich anzeigt und sich die beobachteten Personen das Festgehaltene unmittel‑ bar im Anschluss ansehen können. Tabelle 3: Anwendung und Einschränkungen der spot observation Anwendung

Einschränkungen

Personen

45 Kinder im Alter von 3 Monaten bis 3 Jahren aus Ranomadio und Soafary

Alter beruht auf Schätzung; Auswahl der Kinder aus Soafary beruht auf Ver‑ wandtschaftsbeziehungen

Zeitpunkte der Beobachtung

zu jeder Stunde des Tages mindes‑ tens eine Beobachtung, verteilt über den Zeitraum von mindestens einer Woche

nächtliche Aktivitäten und jahreszeit‑ liche Schwankungen bleiben unberück‑ sichtigt

Ort der Beobachtung

innerhalb der Dörfer Ranomadio und Soafary

Aktivitäten außerhalb des Dorfes blei‑ ben unberücksichtigt

Dauer der Beobachtung

10 Sekunden

Reaktion auf die Beobachtung setzt häu‑ fig vor Ablauf der 10 Sekunden ein

Anzahl der Beobachtungen

15 bis 22 pro Kind, 830 insgesamt

Anzahl der Beobachtung für einzelnes Kind kaum aussagekräftig

Ethische Aspekte der spot observation Wie jede Form der Beobachtung von Personen ist auch die Methode der spot observation von ethischer Relevanz. Ein zentrales ethisches Kriterium ist die Unter‑ scheidung zwischen offener und verdeckter Beobachtung. Die offene Beobachtung kann als ethisch weniger problematisch angesehen werden, weil dabei den beob‑ achteten Personen die Möglichkeit gegeben ist, frei darüber zu entscheiden, ob sie sich beobachten lassen oder nicht. Dieser Bevorzugung der offenen Beobachtung aufgrund von ethischen Überlegungen stehen prinzipiell Erwägungen der Wissen‑ schaftlichkeit gegenüber: Je offener die Beobachtung, desto stärker ist tendenziell die Reaktion auf die Tatsache der Beobachtung – und desto geringer die Authen‑ tizität des Beobachteten. Aufgrund dieser Gegenläufigkeit ethischer und wissen‑ schaftlicher Interessen sind die meisten Beobachtungsmethoden weder eindeutig offen noch eindeutig verdeckt. Freilich macht dies die ethische Beurteilung von Beobachtungsmethoden schwierig und birgt die Gefahr der Beeinflussung durch wissenschaftspolitische Interessen oder disziplinäre Zugehörigkeiten.

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

Die Frage etwa, ob es sich bei der teilnehmenden Beobachtung um eine gänz‑ lich offene Beobachtungsform handelt, ist nicht leicht zu beantworten. Einerseits scheint sie offen zu sein, da das Forschungsvorhaben zu Beginn der Feldforschung dargelegt wird und die Präsenz des Feldforschers stets sichtbar ist. Andererseits ist diese Offenheit aber auch mehrfach eingeschränkt: Aufgrund des holistischen Ansatzes ist den Beobachteten nicht immer klar, was gerade im Fokus der Beob‑ achtung steht. Da das sample nicht festgelegt wird, ist auch nicht jederzeit deutlich, wer gerade beobachtet wird. Es ist kaum vorauszusetzen, dass jede Person der be‑ forschten Gemeinschaft gleichermaßen die Präsenz eines teilnehmenden Beob‑ achters begrüßt. Aufgrund der langfristigen Anwesenheit des Feldforschers ist es für Personen aus der Dorfgemeinschaft nur schwer möglich, sich der Beobachtung dauerhaft zu entziehen. Die videogestützte Methode der spot observation erscheint bezogen auf die Ein‑ zelbeobachtung zunächst als eine relativ verdeckte Form der Beobachtung, da sie ja die Strategie verfolgt, das Verhalten zu beobachten, noch bevor der Beobachtete dessen gewahr wird. In dieser Situation hat der Betroffene also nicht die Möglich‑ keit, sich der Beobachtung zu entziehen. Das systematische Vorgehen machte es allerdings erforderlich und möglich, im Vorfeld der Beobachtung die Teilnahme‑ bereitschaft der Familien aller Kinder einzuholen und das Vorgehen mit den Teil‑ nehmern genau abzusprechen. Somit bestand für die Familien von Menamaty Ge‑ legenheit, sich für oder gegen die Teilnahme zu entscheiden oder diese im Verlauf der spot observation abzusagen – was allerdings in keinem Fall geschah. Darüber hinaus ist im Unterschied zur teilnehmenden Beobachtung der Zeitraum jeder einzelnen sowie der gesamten Beobachtung begrenzt. Nicht zuletzt ermöglichte die Videodokumentation den Teilnehmern, sich die Aufnahme unmittelbar im An‑ schluss anzusehen, sodass sie ein genaueres Bild davon gewinnen konnten, was von ihrem Verhalten festgehalten wurde. Tatsächlich haben einige Personen von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Aus der Sicht einer kultursensitiven Ethik ist es erforderlich, die ethischen Im‑ plikationen der angewandten Methoden nicht nur nach westlichen Moralvorstel‑ lungen zu reflektieren, sondern auch – oder vielleicht sogar vor allem – die Verein‑ barkeit mit den lokalen Normen zu beachten. Freilich kann es schwierig sein, in abstrakter Weise zu beurteilen, ob die Methode in der jeweiligen Forschungsregion ethisch vertretbar ist, wenn dort forschungsethische Fragen bisher keine Rolle ge‑ spielt haben. Deshalb orientierte ich mich in der Praxis vor allem an der Einschät‑ zung meiner Forschungsassistenten Dadah und Boba, wobei Boba selbst mit den Teilnehmern aus Soafary verwandt war. Aus deren Sicht stellte die Anwendung dieser Methode kein ethisches Problem dar; vielmehr zählten sie die täglichen Kurzbesuche bei den verschiedenen Familien zu den willkommensten Tätigkeiten während der Feldforschung.

Codierung und Analyse des sozialen Umfeldes der Fokuskinder Die Analyse des im Rahmen der spot observation generierten Videomaterials er‑ folgte mittels der Software INTERACT, die es erlaubt, das jeweilige Video nach Auswertungskategorien zu codieren und den entsprechenden Ausschnitt zu mar‑ kieren. Zur Analyse des sozialen Umfeldes der Kinder wurden die während der

6. Die soziale Umwelt in den ersten drei Lebensjahren

jeweiligen Einzelbeobachtung präsenten Personen in Anlehnung an vergleichbare Studien (Keller 2007: 59) nach drei Distanzmaßen codiert: 1. Personen in Körperkontakt mit dem Fokuskind. Dabei wird das Kind von einer Bezugsperson getragen, befindet sich auf ihrem Schoß bzw. steht, sitzt oder liegt an der Seite ihres Körpers. 2. Personen in Reichweite des Fokuskindes. Dabei handelt es sich um Personen, die keinen Körperkontakt mit dem Fokuskind haben, aber maximal in Armes‑ länge von ihm entfernt sind. 3. Personen in Sichtweite des Fokuskindes. Hierbei wurden alle Personen regist‑ riert, die sich nicht in Reichweite, aber immer noch in Sichtweite des Fokuskin‑ des befanden. Um diese zu erfassen, wurde die Kamera nach der Ankunft beim Kind und nach Ablauf von 10 Sekunden stets um 360 Grad gedreht. Auch die soziale Identität der Personen im Umfeld des Fokuskindes wurde codiert. Alle Personen mindestens in Reichweite wurden nach Name, Verwandtschaftsrela‑ tion (z.B. Vater), geschätztem Alter und Geschlecht identifiziert. Da mir nicht alle Personen aus Soafary näher bekannt waren, registrierte ich die Identitätsmerkmale mithilfe meines Forschungsassistenten Boba. Die Personen in Sichtweite wurden lediglich nach Geschlecht und den Altersstufen ›Kind‹ (0-17) und ›Erwachsener‹ (18+) codiert. Die Analyse der Daten erfolgte mittels der Software SPSS. Da die Einzelbeobach‑ tungen, bei denen das Fokuskind schläft, kaum relevant für die sozialen Erfahrun‑ gen sind, wurden diese von der Analyse ausgenommen, sodass 727 Beobachtungen übrigblieben. Um die Veränderung des sozialen Umfeldes in der Ontogenese re‑ konstruieren zu können, war es erforderlich, die 45 Fokuskinder in Altersgruppen einzuteilen. Das Alter der Kinder wurde im Vorfeld der spot observation im Rah‑ men von Haushaltsurveys ermittelt. Die Eltern kannten das chronologische Alter ihrer jüngsten Kinder in Monaten. Bei älteren Kindern musste das Alter hingegen geschätzt werden, wobei Ereignisse wie etwa der Beginn der Reisernte sowie das ebenfalls bekannte relative Alter als Anhaltspunkte dienten. Die Bezugspersonen orientierten sich in ihrem Umgang mit Kindern allerdings weniger am chronolo‑ gischen Alter als vielmehr an den oben beschriebenen Entwicklungsschritten. Des‑ halb wurde für jedes Kind der Entwicklungsstand anhand der emischen Kriterien Sitzen, Krabbeln, Laufen, Abstillen und Geburt eines Geschwisterkindes ermittelt und bei der Zusammenstellung der Altersgruppen berücksichtigt. Zudem war es erforderlich, dass jede Altersgruppe eine Mindestanzahl an Kindern umfasst. Die so zusammengestellten Altersgruppen werden in Tabelle 4 dargestellt. Im letzten Arbeitsschritt wurden die Daten zunächst für jedes Kind und daraufhin für jede Altersgruppe gemittelt. Es ist zu betonen, dass die präsentierten Daten ausschließlich deskriptiver Na‑ tur sind und keinen Aufschluss über kausale Zusammenhänge geben. Auch erhebe ich mit der Darstellung des quantitativen Materials keinen Objektivitätsanspruch. Dennoch bringt die quantitative Erhebung eine weitere Perspektive mit sich, die jene der qualitativen Erhebungen gewinnbringend ergänzt.

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

Tabelle 4: Zusammensetzung und Charakteristika der Altersgruppen Altersgruppen

1

2

3

4

5

1-5

Alter in Monaten

3-6

6-12

12-16

24-32

34-41

3-41

Entwicklungsstand und andere Marker

angelehn‑ tes, freies Sitzen

Krabbeln, unterstütz‑ tes Stehen

Laufen und Ren‑ nen

abgestillt

jüngeres Geschwis‑ ter

Anzahl der Kinder

10

10

10

8

7

45

w 7, m 3

w 4, m 6

w 5, m 5

w 3, m 5

w 2, m 5

w 21, m 24

131

153

179

142

122

727

Merkmale

Geschlecht Anzahl der Beobachtungen

S oziale D ichte des U mfeldes von S äuglingen und K leinkindern Dieses Unterkapitel geht der Frage nach, wie viele Personen sich im Umfeld von Kindern aufhalten und somit als potenzielle Betreuungspersonen und Interak‑ tionspartner zur Verfügung stehen. Ob Kinder relativ viel Zeit allein verbringen, typischerweise in dyadischen Relationen interagieren oder sich meist in eine Grup‑ pe von Menschen aufhalten, hat zweifellos auch Folgen für die Qualität und Inten‑ sität sozialer Erfahrungen. Die Dimension der sozialen Dichte wurde bereits von anderen Kulturanthropologen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten unter‑ sucht (z.B. LeVine et al. 1994: 156-159).

Soziale Dichte im frühen Säuglingsalter (drei bis sechs Monate) Zunächst betrachte ich lediglich das soziale Umfeld der zehn Kinder im Alter zwi‑ schen drei und sechs Monaten. Im Durchschnitt waren diese Kinder von vier Per‑ sonen umgeben. Diese Zahl ist freilich sehr abstrakt, da die Anzahl der Personen im Umkreis von Säuglingen zeitlich stark variieren kann. Morgens und abends befanden sich wesentlich mehr Personen im Dorf als tagsüber, da sich ein Teil der Dorf bewohner nach dem Frühstück zwecks Arbeit oder Spiel in die Umgebung des Dorfes begab und sich erst in den späten Nachmittagsstunden wieder dort ein‑ fand. Auch konnte sich das soziale Umfeld über mehrere Tage hinweg verdichten, etwa aufgrund einer Zeremonie mit vielen Besuchern. Aufschlussreicher ist also die Frage, wie die soziale Dichte zeitlich variiert. Diagramm 1 zeigt, welche Zeitan‑ teile die Kinder durchschnittlich in Gesellschaft wie vieler Personen verbrachten:

6. Die soziale Umwelt in den ersten drei Lebensjahren

Diagramm 1: Soziale Dichte im frühen Säuglingsalter (3-6 Monate) 1%

Kind ist alleine

9% 5%

18%

9%

mit einer Person mit 2-3 Personen mit 4-5 Personen mit 6-7 Personen

22% 36%

mit 8-9 Personen mit 10+ Personen

Lediglich in einem Prozent der Beobachtungen (oder bei einer von 131) waren Säug‑ linge gänzlich allein, also ohne Körperkontakt und außerhalb der Reichweite oder Sichtweite anderer Personen anzutreffen. Das Alleinsein stellte also keine alltäg‑ liche Erfahrung für die Säuglinge aus Menamaty dar. Ebenfalls relativ selten zu beobachten waren Säuglinge in Gesellschaft nur einer einzigen Person. In einer solchen dyadischen Situation, die als typisch für westliche Kontexte anzusehen ist, verbrachten die Säuglinge der Forschungsregion rechnerisch lediglich knapp 20 Prozent des Tages. Die meiste Zeit, nämlich über 80 Prozent befanden sie sich in Gesellschaft von zwei oder mehr Personen. Schon in den ersten Monaten leben Kinder aus Menamaty folglich in einem sozialen Kontext, der anstelle von Allein‑ situationen oder dyadischen Relationen multiple soziale Beziehungen mit sich bringt. Die Präsenz einer Reihe von Individuen im Umfeld des Kindes bedeutet freilich nicht, dass all diese Personen in gleicher Weise mit Säuglingen interagieren und gleichermaßen bedeutend für sie sind. Diagramm 1.1 differenziert die Dichte des sozialen Umfeldes nach den Distanzmaßen Körperkontakt, Reichweite und Sicht‑ weite. Wie im inneren, den Körperkontakt repräsentierenden Kreis der linken Grafik zu sehen ist, erlebten die zehn Säuglinge durchschnittlich immerhin bei knapp 80 Prozent der Beobachtungen Körperkontakt mit einer Betreuungsperson. Dieser Wert dürfte für die ersten drei Lebensmonate, die nicht systematisch erfasst wur‑ den, noch höher liegen: Mütter betonten, dass man ein zaza mena ununterbrochen auf dem Schoß halten müsse und es erst ab dem Alter von drei oder vier Monaten gelegentlich absetzen dürfe. Was den Körperkontakt (und die körperzentrierte Be‑ treuung) anbelangt, so befinden sich Säuglinge damit zwar in einer dyadischen Relation. Jedoch zeigen die äußeren Ringe der linken Grafik, dass sich in der Regel weitere Personen um diese Dyade herumgruppierten und damit als zusätzliche Interaktionspartner zur Verfügung standen. Die Grafik auf der rechten Seite reprä‑ sentiert lediglich solche Beobachtungen, bei denen die Säuglinge Körperkontakt erlebten. Sie macht deutlich, dass den Kindern fast permanent weitere Personen in Reich‑ oder Sichtweite zur Seite standen. Eine solche soziale Konstellation ermög‑ licht es sowohl dem Säugling als auch der sie haltenden oder tragenden Bezugsper‑ son, parallel mit Dritten zu interagieren oder diese zu beobachten.

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen Diagramm 1.1: Räumliche Gliederung der sozialen Dichte (Körperkontakt, Reichweite und Sichtweite) Personen in Körperkontakt, Reich- und Sichtweite

Personen in Reich- oder Sichtweite bei Körperkontakt 11%

28% 11%

39%

77%

56%

Körperkontakt 55% 24%

Reichweite Sichtweite

22%

Körperkontakt

33%

Reich- oder Sichtweite

Kind ist alleine

mit einer Person

mit 2-3 Personen

mit 6-7 Personen

mit 8-9 Personen

mit 10+ Personen

mit 4-5 Personen

Die Dichte und räumliche Gliederung des sozialen Umfeldes sagt zwar nicht di‑ rekt etwas über die konkreten Interaktionserfahrungen von Säuglingen aus; sie strukturiert aber eine wichtige Interaktionsdimension: die Aufmerksamkeitszu‑ wendung. Einer Studie von Keller et al. (2005) zufolge verbringen Säuglinge aus deutschen Mittelschichtsfamilien durchschnittlich etwa 50 Prozent des Tages in exklusiver Gesellschaft mit der Mutter und weitere 40 Prozent sogar gänzlich al‑ lein.1 Dem entspricht, dass laut Keller (2007: 24f) Interaktionsepisoden in west‑ lichen Mittelschichtsfamilien typischerweise durch eine episodische, aber dafür exklusive Aufmerksamkeit gegenüber dem Säugling geprägt sind. Dieses Muster episodisch-exklusiver Aufmerksamkeitszuwendung kontrastiert Keller (2007: 24f) mit einem Muster geteilter Aufmerksamkeit (shared/co-occurring attention), das etwa für Mütter der Nso Kameruns im Umgang mit ihren Säuglingen typisch sei. Diese bieten ihren Säuglingen einerseits über lange Perioden Körperkontakt, wen‑ den ihre Aufmerksamkeit andererseits aber den täglichen Haushaltsaktivitäten zu. Soweit lässt sich dieses Muster geteilter Aufmerksamkeitszuwendung auch für die Betreuungspersonen aus Menamaty bestätigen. Die Schlussfolgerung von Keller, dass sich Säuglinge aufgrund der geteilten Aufmerksamkeit ihrer Betreuungspersonen nur selten als Zentrum exklusiver Aufmerksamkeit erfahren, ist allerdings nicht zwingend. Berücksichtigt man über die Mutter-Kind-Beziehung hinaus das gesamte soziale Umfeld, so zeigt sich zu‑ mindest für die Säuglinge aus Menamaty, dass in der Regel mehrere Personen gleichzeitig präsent sind. Diese Kopräsenz ermöglicht verschiedene Formen mul‑ tipler Zuwendung: Während die Aufmerksamkeit der den Säugling haltenden Be‑ treuungsperson auf Haushaltsaktivitäten oder andere Interaktionspartner gerichtet sein mag, erfährt der Säugling möglicherweise volle Aufmerksamkeit durch wei‑ tere, ebenfalls präsente Personen. Die Aufmerksamkeit des Säuglings wiederum 1 | Vgl. Minturn und Lambert (1964: 100), die für Familien aus Orchard Town, USA, ähnliche Daten ermittelten.

6. Die soziale Umwelt in den ersten drei Lebensjahren

mag sich auf die Personen und das Geschehen um ihn herum richten, während er Körperkontakt mit seiner momentanen Betreuungsperson erlebt. Im Vergleich zu den von Keller et al. (2005) untersuchten Säuglingen aus westlichen Mittelschichts‑ familien erleben die Kinder aus Menamaty insgesamt also nicht unbedingt weni‑ ger Aufmerksamkeit, allerdings legt die Kopräsenz mehrerer Interaktionspartner eine soziale Verteilung der Aufmerksamkeitszuwendung nahe. Zudem deuten die präsentierten Daten auf eine »Arbeitsteilung« unter den sozialen Partnern von Säuglingen hin. Typischerweise bietet eine Person dem Säugling kontinuierliche körperliche Zuwendung, während ihm weitere Personen in Reichweite episodische Aufmerksamkeit schenken. Wie im Folgenden noch deutlicher wird, ist diese so‑ ziale Konstellation eine wichtige Voraussetzung für die Ausbildung von sozial stark diversifizierten Beziehungs-, Verhaltens- und Emotionsmustern.

Soziale Dichte in den ersten drei Lebensjahren Im Folgenden soll die Dichte und räumliche Strukturierung der sozialen Umwelt in einer ontogenetischen Perspektive betrachtet werden, um ein Bild davon zu ge‑ winnen, welche der beschriebenen Muster stabil bleiben und welche sich verän‑ dern. Diagramm 2 zeigt die soziale Dichte über die Altersgruppen hinweg, einmal in Bezug auf das gesamte Umfeld (maximal in Sichtweite), einmal im Hinblick auf die Personen in Reichweite oder Körperkontakt.

Diagramm 2 macht deutlich, dass sich die soziale Dichte mit zunehmendem Al‑ ter der Kinder nicht gravierend verändert. Auch ältere Säuglinge und Kleinkinder verbrachten im Durchschnitt über 80 Prozent des Tages in sozialen Gruppen und hielten sich ebenso oft mindestens in Reichweite einer oder mehrerer Personen auf. Unterscheidet man allerdings zwischen Personen nur im Körperkontakt und nur in Reichweite, wie in Diagramm 2.1, so zeigen sich deutliche Verschiebungen in der Ontogenese.

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

Diagramm 2.1: Soziale Dichte nach Körperkontakt und Reichweite nur Körperkontakt

nur Reichweite 100% 90% keine Person 80% 70% 60% 50% eine Person 40% 30% 20% zwei Personen 10% 0%

100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% 3-6 Mon

6-12 Mon

12-16 Mon

24-31 Mon

34-41 Mon

3-6 Mon

6-12 Mon

12-16 Mon

24-31 Mon

34-41 Mon

Sehr deutlich zeigt die Grafik auf der linken Seite, dass der Zeitanteil, den Kinder im Körperkontakt mit einer Betreuungsperson verbringen, mit zunehmendem Al‑ ter rasch zurückgeht. Während die Kinder im frühen Säuglingsalter fast perma‑ nent Körperkontakt erlebten, stellte diese Erfahrung für Kleinkinder eine große Ausnahme dar. Viele Kleinkinder waren sogar überhaupt nicht mehr im Körper‑ kontakt mit einer Bezugsperson zu beobachten. Komplementär dazu steigt die Per‑ sonendichte in Reichweite etwas an, allerdings nicht im selben Maß, in dem der Körperkontakt abnimmt. Wie sich diese Veränderungen im unmittelbaren Umfeld von Säuglingen im Einzelnen gestalten und was sie für die Erfahrung von Kindern bedeuten, werde ich im Folgenden schrittweise beantworten.

S oziale K omposition des U mfeldes von S äuglingen und K leinkindern Um das soziale Umfeld der Kinder weiter zu konkretisieren, gehe ich in diesem Unterkapitel der sozialen Komposition ihrer Umwelt nach. Im 3. Kapitel wurde be‑ reits deutlich, dass sich die Beziehungs‑ und Interaktionsformen sowie die emotio‑ nalen Verhaltensweisen deutlich nach hierarchischen und egalitären Sozialrelatio‑ nen differenzieren, womit das relative Alter der sozialen Partner entscheidend ist. Wie im 5. Kapitel gezeigt, betrachten sich Mütter als primäre Betreuungspersonen von Säuglingen. Aus diesen Gründen differenziere ich die soziale Umwelt nach dem Alter der Bezugspersonen und berücksichtige dabei die Mütter und Väter ge‑ sondert. Um für den Anfang einen Überblick zu bieten, erfasse ich zunächst ausschließ‑ lich jene Personen, die zum jeweiligen Beobachtungszeitpunkt dem Kind am nächsten waren und sich mindesten in seiner Reichweite befanden. Diagramm 3 zeigt die relativen Anteile von Bezugspersonen in diesem Sinn. Demnach treten Personen aus fast allen Altersgruppen als Bezugspersonen in Erscheinung, jedoch in unterschiedlicher Gewichtung. Drei Personengruppen tre‑ ten besonders hervor: (1) Erwachsene mit Müttern als wichtigste Bezugspersonen im ersten Lebensjahr der Fokuskinder (grün), (2) Kinder im Alter von zehn bis 13 Jahren in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres (gelb), die sich aufgrund der oben vorgestellten Interviews und weiterer Beobachtungen als Babysitter bezeich‑

6. Die soziale Umwelt in den ersten drei Lebensjahren

nen lassen, und (3) zwei‑ bis fünfjährige Kinder (rot), die mit zunehmendem Alter der Fokuskinder beträchlich an Bedeutung gewinnen und als Peers kategorisiert werden können. Nun werde ich diese drei Gruppen ausführlicher betrachten. Diagramm 3: Das Spektrum der Bezugspersonen in den ersten drei Lebensjahren 100%

0-1 Jahre

90%

2-3 Jahre (Peers)

80%

4-5 Jahre (Peers)

70%

6-7 Jahre 8-9 Jahre

60%

10-11 Jahre (Babysitter)

50%

12-13 Jahre (Babysitter)

40%

14-15 Jahre

30%

16-17 Jahre

20%

18+ (Erwachsene)

10%

Vater

0% 3-6 Mon

Mutter 6-12 Mon

12-16 Mon

24-31 Mon

34-41 Mon

Mütter, Väter und andere er wachsene Betreuungspersonen Um die Bedeutung der Mütter für ihre Kinder genauer beurteilen zu können, schlüsselt Diagramm 3.1 ihre Präsenz nach den Distanzen des Körperkontakts, der Reichweite und Sichtweite auf. Die Prozentwerte repräsentieren die durchschnitt‑ liche Präsenz der Mütter in Relation zu allen Einzelbeobachtungen und können somit als Zeitanteile interpretiert werden. Diesen Daten zufolge kommt den Müttern im ersten Lebensjahr der Fokuskin‑ der eine herausragende Rolle als Bezugspersonen zu: Bei fast der Hälfte aller Beob‑ achtungen erlebten die drei bis sechs Monate alten Kinder Körperkontakt mit ihren Müttern. Selbst wenn kein Körperkontakt bestand, waren die Mütter noch häufig in Reichweite oder zumindest in Sichtweite, womit diese Säuglinge insgesamt fast 80 Prozent ihrer Zeit mit ihren Müttern verbrachten. Sie erlebten keine andere Person auch nur annähernd so konstant, weshalb die Mütter in Übereinstimmung mit ihren Selbstdarstellungen durchaus als primäre, allerdings nicht exklusive Be‑ treuungspersonen für Kinder in den ersten Lebensmonaten charakterisiert werden können. Der Blick auf den ontogenetischen Verlauf zeigt allerdings, dass es keines‑ wegs dabei bleibt: Mit zunehmendem Alter der Fokuskinder zieht sich die Mutter sukzessive aus deren Umfeld zurück. Der im ersten Lebensjahr noch hohe Anteil des Körperkontakts geht im Kleinkindalter sogar gegen Null. Unter den rund dreijährigen Kindern (34 bis 41 Monate) konnte nur ein einziger Junge überhaupt in Körperkontakt mit seiner Mutter beobachtet werden, wobei er sich an seine Mutter anschmiegte. Der Rückgang des Körperkontakts bedeutet je‑ doch nicht, dass Mütter und Kinder vom proximalen Verhältnis des Körperkontakts in eine distale Relation wechseln, da ihre Präsenz in Reichweite nicht zunimmt. Der Umstand, dass Mütter bei 80 Prozent der Beobachtungen nicht einmal mehr in Sichtweite ihrer Kleinkinder anzutreffen waren, spricht für eine weitgehende

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

Aufspaltung des mütterlichen und kindlichen sozialen Umfelds im Übergang vom Säuglings‑ zum Kleinkindalter. Diagramm 3.1: Präsenz der Mutter (Körperkontakt, Reichweite, Sichtweite) 80% 70%

in Sichtweite zur Mutter

60% 50% 40%

in Reichweite zur Mutter

30% 20%

in Körperkontakt mit der Mutter

10% 0% 3-6 Mon

6-12 Mon

12-16 Mon

24-31 Mon

34-41 Mon

Es stellt sich die Frage, ob diese räumliche Distanzierung für Mädchen und Jun‑ gen gleichermaßen zutrifft. Die unregelmäßige Verteilung der Geschlechter in den jeweiligen Altersgruppen ermöglicht hierzu zwar keine verlässliche Aussage, jedoch zeigt sich die Tendenz, dass Mädchen im Kleinkindalter noch etwas mehr Zeit in der Nähe ihrer Mütter verbrachten als Jungen. Aus dem Videomaterial der spot observation geht hervor, dass Jungen im Kleinkindalter ihre Mütter fast nur zu den Mahlzeiten aufsuchten. Mädchen hielten sich zudem gelegentlich bei Haus‑ haltsaktivitäten in der Nähe ihrer Mütter auf – etwa beim täglichen Reis-Mörsern oder Kochen. Abgesehen von diesen Kontexten waren aber auch Mädchen kaum in der Nähe ihrer Mütter anzutreffen. Die körperliche und räumliche Distanzie‑ rung zwischen Müttern und Kleinkindern betrifft wohlgemerkt auch die Schla‑ fenszeit: Sobald die Mutter ein weiteres Kind bekommt, nimmt das Neugeborene die Schlafposition neben der Mutter ein und verdrängt damit gewissermaßen ihr älteres Geschwister von deren Körperseite. Da die rund dreijährigen Fokuskinder bereits allesamt ein Geschwister hatten, schliefen diese auch nicht mehr neben ihren Müttern. Die Beobachtungen einer herausragenden Stellung der Mütter im ersten Lebensjahr ihrer Kinder sowie die ausgeprägte räumliche Distanzierung nach dem Abstillen decken sich mit den im 5. Kapitel dargestellten Selbstbeschrei‑ bungen der Mütter. Nun stellt sich die Frage nach der Bedeutung der Väter für Säuglinge und Kleinkinder. Diagramm 3.2 präsentiert die Beobachtungsanteile, bei denen die Kinder Körperkontakt mit ihren Vätern hatten oder zumindest in deren Reichweite anzutreffen waren. Um einen Vergleich zwischen Vätern und Müttern zu ermög‑ lichen, bleiben die Anteile der Mütter eingeblendet – allerdings ohne die Distanz der Sichtweite, die ausschließlich für Mütter erhoben wurde.

6. Die soziale Umwelt in den ersten drei Lebensjahren Diagramm 3.2: Präsenz des Vaters (Körperkontakt und Reichweite) 80% 70% 60% 50% 40%

in Sichtweite zum Vater

30% 20%

in Körperkontakt mit dem Vater

10% 0% 3-6 Mon

6-12 Mon

12-16 Mon

24-31 Mon

34-41 Mon

Im Durchschnitt erlebten die Kinder ihre Väter lediglich bei rund 5 Prozent der Be‑ obachtungen in Reichweite oder Körperkontakt, womit sie deutlich hinter die Müt‑ ter zurücktreten. Von den 45 Fokuskindern konnten 18 gar nicht in Gesellschaft ihrer Väter beobachtet werden.2 Da vor allem erstgebärende Mütter zur Geburt in ihr Herkunftsdorf zurückkehren, dort drei Monate nach der Geburt bleiben und darüber hinaus für diese Phase das Gebot kontinuierlicher Nähe zwischen Säug‑ ling und Mutter gilt, dürfte der Kontakt zwischen Neugeborenen und Vätern häu‑ fig noch seltener sein. Die körperliche und räumliche Distanz, die sich gegenüber der Mutter erst im Übergang zum Kleinkindalter einstellt, ist gegenüber dem Vater also von Beginn an vorhanden. In Gesprächen machten einige Männer deutlich, dass sie sich nur ungern länger in der Nähe von Säuglingen, kleinen Kindern oder Müttern aufhielten, weil sie entweder eine Art Verweichlichung bzw. Schwächung (mapalemy) oder eine Beschmutzung (mapaloto) befürchteten. In einigen Fällen war auch zu beobachten, dass Männer, die ihre Kinder tragen sollten, einen engen Körperkontakt zu vermeiden suchten, indem sie diese von sich weghielten. Neben den Eltern hatten Säuglinge und Kleinkinder auch regelmäßig Kontakt mit anderen erwachsenen Personen (18 Jahre oder älter), etwa mit Tanten, Onkeln oder Großeltern. Diagramm 3.3 zeigt die Präsenz dieser nach Verwandtschaftsre‑ lation differenzierten Personengruppe. Der Übersichtlichkeit halber wird die Prä‑ senz der Bezugspersonen hier und im Folgenden nicht mehr nach Körperkontakt und Reichweite unterschieden. In dieser Gruppe waren Tanten am häufigsten präsent, während Großmütter, Großväter und Onkel sich nur selten bei den Kindern aufhielten. Interviews, Gele‑ genheitsgesprächen und alltäglichen Beobachtungen zufolge wurde von Erwachse‑ nen aus der Elterngeneration in der Regel nicht erwartet, die Kinder ihrer Verwand‑ ten zu hüten, da diese meist selbst kleine Kinder hatten; es handelt sich also eher um gelegentliche Kontakte. Häufig hielten sich etwa die Tanten im Umfeld ihrer Neffen und Nichten auf, um den Müttern Gesellschaft zu leisten oder gemeinsam zu arbeiten. Großmütter kommen hingegen generell als Babysitter infrage. So wur‑ de ein vier Monate altes Kind relativ regelmäßig von seiner Großmutter gehütet, während die Mutter beispielsweise Wasser am Fluss holte oder den Reis mörserte. 2 | Zu bedenken ist allerdings, dass acht der Fokuskinder als vaterlos galten, weil ihre Mütter zum Zeitpunkt der Geburt nicht verheiratet waren.

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

Die meisten Großmütter der anderen Kinder waren allerdings schon verstorben oder lebten nicht mehr im Dorf, weil sie sich vom Kindsvater geschieden hatten.3 Diagramm 3.3: Präsenz nicht-elterlicher Erwachsener (18+, Körperkontakt oder Reichweite) 80% 70% 60% 50% 40%

andere

30%

Großvater

20%

Onkel

10%

Großmutter

0% 3-6 Mon

Tante 6-12 Mon

12-16 Mon

24-31 Mon

34-41 Mon

Im ontogenetischen Verlauf bleibt die Präsenz der nicht-elterlichen Erwachsenen im Gegensatz zu den Müttern relativ konstant. Damit verbrachten die zwei- bis drei‑ jährigen Kinder bereits mehr Zeit mit anderen Erwachsenen als mit ihren Müttern. Ich gehe davon aus, dass dies Kindern ermöglicht, die mit der Mutter eingeübten Beziehungsmuster auf andere Erwachsene zu übertragen. Ein Indiz hierfür ist die relativ häufige Präsenz von Tanten im unmittelbaren Umfeld der rund einjährigen Kinder (zwölf bis 16 Monate), die alle bereits laufen konnten. Dieser Höchstwert erscheint auf den ersten Blick kontraintuitiv, da die Fähigkeit des Laufens eigent‑ lich die physische Unabhängigkeit der Kinder fördern sollte – was zudem mehrere Mütter betonten. Ein Blick auf das entsprechende Videomaterial zeigt jedoch, dass einige der einjährigen Kinder ihre neu erworbene Mobilität zunächst dazu nutzten, aktiv die Nähe ihrer Mütter zu suchen. Die in mehreren Videos ersichtliche passive, abweisende oder gar sanktionierende Reaktion der Mütter auf diese Annäherungs‑ versuche dürfte dann jedoch dazu beitragen, dass sich die Kinder verstärkt anderen Erwachsenen, insbesondere ihren Tanten zuwenden.

Präadoleszente Babysitter als Betreuungspersonen Diagramm 3.4 repräsentiert den Anteil der Beobachtungen, bei denen sich die Fokuskinder mindestens in Reichweite von zehn- bis 17-jährigen Kindern und Ju‑ gendlichen befanden. Diesen Daten zufolge verbrachten die Fokuskinder deutlich mehr Zeit mit äl‑ teren Kindern oder Jugendlichen als mit nicht-elterlichen Erwachsenen, obwohl letztere eine deutlich größere Altersspanne abdecken. Die jüngsten Fokuskinder genossen besonders häufig die Gesellschaft der (prä-)adoleszenten sozialen Part‑

3 | In anderen Gesellschaften spielen Personen aus der Großelterngeneration jedoch eine wichtige Rolle bei der Betreuung von Säuglingen, so etwa bei den Makassar in Indonesien (Röttger-Rössler 2014b: 147f).

6. Die soziale Umwelt in den ersten drei Lebensjahren

ner. Auch wird deutlich, dass innerhalb dieser Altersgruppe von sozialen Partnern die 10- bis 13-Jährigen dominieren. Diagramm 3.4: Präsenz von Babysittern (Körperkontakt oder Reichweite) 80% 70%

16-17 Jahre

60% 50%

14-15 Jahre

40% 30%

12-13 Jahre (Babysitter)

20%

10-11 Jahre (Babysitter)

10% 0% 3-6 Mon

6-12 Mon

12-16 Mon

24-31 Mon

34-41 Mon

Aus Gelegenheitsgesprächen mit den Müttern geht hervor, dass die meisten die‑ ser (prä-)adoleszenten Bezugspersonen als reguläre Babysitter eingesetzt waren. Zudem betonten die Mütter, dass sie vorzugsweise ältere, aber noch nicht sexuell aktive Mädchen als Babysitter einsetzten. Jüngere Kinder wurden als weniger fähig angesehen, wohingegen sexuell bereits aktive Jugendliche als unzuverlässiger gal‑ ten –­ zumal sie sich wiederholt über längere Perioden hinweg in anderen Dörfern aufhielten, um Geschlechtspartner zu suchen oder zu treffen. Die im Rahmen einer demografischen Erhebung erfragten Babysitter der drei bis 16 Monate alten Fokuskinder waren zwar zwischen sechs und 18 Jahren alt, 90 Prozent von ihnen befanden sich allerdings im Alter zwischen zehn und 14 Jahren, im Durchschnitt lag ihr Alter bei zwölf Jahren. Rund 80 Prozent dieser Babysitter waren Mädchen, Jungen kamen nur dann zum Einsatz, wenn keine weiblichen Verwandten im entsprechenden Alter zur Verfügung standen. Diese ungleiche Ge‑ schlechterverteilung dürfte mit der allgemeinen geschlechtsspezifischen Arbeits‑ teilung zusammenhängen. Was die Verwandtschaftsrelationen zwischen Babysit‑ tern und Fokuskindern betrifft, so handelte es sich bei einem Drittel der Babysitter um Geschwister oder Halbgeschwister und bei zwei Dritteln um Cousinen, Cou‑ sins, Tanten oder Onkel. Dass die einjährigen Fokuskinder am häufigsten von präadoleszenten Babysit‑ tern gehütet wurden, lässt sich auf ontogenetische Veränderungen zurückführen: Säuglinge werden mit zunehmendem Alter häufiger und länger von Babysittern gehütet, weil sie seltener von ihren Müttern gestillt werden müssen. Sobald die Kinder der Forschungsregion mit rund einem Jahr laufen können, bedürfen sie kaum mehr der kontinuierlichen Betreuung durch Babysitter (oder Mütter), weil sie sich dann einer Gruppe aus Peers anschließen und bei Bedarf selbständig eine Betreuungsperson aufsuchen können.

217

218

Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

Peers als Interaktionspartner Zuletzt stellt sich die Frage nach der Präsenz der Peers im sozialen Umfeld der Fokuskinder, die das Diagramm 3.5 zusammen mit älteren Kindern repräsentiert: Diagramm 3.5: Präsenz von Peers (Körperkontakt oder Reichweite) 80% 70%

8-9 Jahre

60%

6-7 Jahre

50% 40%

4-5 Jahre (Peers)

30%

2-3 Jahre (Peers)

20%

10% 0% 3-6 Mon

0-1 Jahre 6-12 Mon

12-16 Mon

24-31 Mon

34-41 Mon

Diesen Daten zufolge verbrachten die Fokuskinder bereits im ersten Lebensjahr wesentlich mehr Zeit mit gleichaltrigen und etwas älteren Kindern als mit den präadoleszenten Babysittern, den Vätern oder den nicht-elterlichen Erwachsenen, die von dieser Grafik gänzlich überlagert werden. Einjährige Kinder befanden sich etwa ebenso häufig bei anderen Kindern wie bei der Mutter. Zwei- und Dreijährige waren gar häufiger bei anderen Kindern zu beobachten als bei allen anderen sozia‑ len Partnern zusammengenommen. Innerhalb der präsentierten Altersgruppe machen die zwei‑ bis fünfjährigen Interaktionspartner wiederum bei Weitem den größten Anteil aus. Deren Präsenz im unmittelbaren Umfeld der Fokuskinder nimmt ab dem zweiten Lebensjahr, also in einem Alter, indem sie zu laufen beginnen, kontinuierlich zu und erreicht bei dreijährigen Kindern einen Anteil von knapp 60 Prozent. Das diesen Daten zugrundeliegende Videomaterial zeigt deutlich, dass sich Kinder im zweiten Le‑ bensjahr, wenn sie bereits gut laufen können, einer Gruppe aus mehr oder weniger gleichaltrigen Kindern anschließen, die sich autonom im Dorf und im nahen Um‑ feld des Dorfes bewegt und spielerischen Aktivitäten nachgeht. Die räumliche Dis‑ tanzierung von der Mutter läuft also parallel zu einer zunehmenden Integrierung in eine Gruppe aus teils gleichaltrigen und teils zwei bis drei Jahre älteren Kindern. Bemerkenswert erscheint, dass sechs‑ bis neunjährige Interaktionspartner im Unterschied zu den jüngeren für die Fokuskinder nicht an Bedeutung gewinnen. Hier zeichnet sich eine klare Grenze zwischen zwei Altersgruppen ab. Dies lässt sich u.a. darauf zurückführen, dass die älteren Kinder aufgrund ihrer fortgeschrit‑ tenen Fähigkeiten kaum gemeinsame Spielinteressen mit den Fokuskindern teil‑ ten und zudem tagsüber meist außerhalb des Dorfes mit ihren Altersgenossen zugange waren. Im Unterschied zu den präadoleszenten Babysittern trugen die sechs- bis neunjährigen Kinder meist auch keine Betreuungsverantwortung. In‑ teressanterweise treten ausgerechnet die Mitglieder jener Altersgruppe kaum als Interaktionspartner in Erscheinung, die weder in einem deutlich hierarchischen noch in einem egalitären Verhältnis zu den Fokuskindern stehen. Allenfalls im

6. Die soziale Umwelt in den ersten drei Lebensjahren

ersten Lebensjahr der Fokuskinder, wenn die Altersdifferenz also noch besonders groß ist, spielen diese älteren Kinder eine gewisse Rolle. Vor dem Hintergrund der im 3. Kapitel skizzierten Beziehungsmuster stellt sich die Frage nach den Verwandtschaftsrelationen zu den Peers. Denn im ge‑ nannten Kapitel wurde deutlich, dass die Mitglieder derselben Abstammungsgrup‑ pe prinzipiell in einem hierarchischen Verhältnis zueinanderstehen, wohingegen verwandte oder nicht verwandte Personen aus unterschiedlichen Abstammungs‑ gruppen meist egalitäre Beziehungen miteinander pflegen. Diagramm 3.5.1 diffe‑ renziert deshalb die Gruppe der zwei‑ bis fünfjährigen Kinder nach verschiedenen Verwandtschaftsrelationen: Diagramm 3.5.1: Präsenz von Peers (2-5 Jahre) nach Verwandtschaftsrelation 80% 70% 60%

nicht verwandte Peers

50%

40%

Cousinen, Cousins

30% 20%

Geschwister, Halbgeschwister

10% 0% 3-6 Mon

6-12 Mon

12-16 Mon

24-31 Mon

34-41 Mon

Die Grafik macht deutlich, dass Geschwister oder Halbgeschwister nur einen ge‑ ringen Anteil der Peergroup ausmachen; im Vordergrund stehen vielmehr Cousi‑ nen, Cousins und andere, entfernt verwandte Peers, die meist auch den anderen Abstammungsgruppen der Dörfer angehören. Nichtverwandte Peers stellen im Kleinkindalter noch die Minderheit dar; wie die alltäglichen Beobachtungen jedoch nahelegen, gewinnen sie mit zunehmendem Alter und Aktionsradius von Kindern an Bedeutung, jedoch nicht als kontinuierliche Interaktionspartner. Festzuhalten ist also, dass die Peer-Interaktionen in den ersten Lebensjahren zum großen Teil in dieselben sozialen Kontexte eingebettet sind wie die im 3. Kapitel vorgestellten egalitären Beziehungen im Erwachsenenalter. Der Umstand, dass die beobachteten Kinder aus Menamaty schon im ersten Lebensjahr kontinuierlichen Umgang mit verwandten Peers pflegten, ab dem zwei‑ ten Lebensjahr sogar die meiste Zeit mit ihnen verbrachten und sich zusammen mit diesen über längere Zeiträume gänzlich aus der elterlichen Sphäre entfernten, dürfte für die Sozialisation jener egalitären Interaktions‑, Beziehungs‑ und Emo‑ tionsmodi von zentraler Bedeutung sein, die im 3. Kapitel beschrieben wurden. Es ist davon auszugehen, dass Peers nicht nur in der Forschungsregion eine zentrale Rolle als Sozialisationspartner von Kleinkindern spielen. Trotzdem wur‑ den die Peers auch in solchen kulturanthropologischen Studien kaum berücksich‑ tigt, die sich dezidiert den sozialen Partnern von Kindern widmen. Wie die verwen‑ deten Begriffe sibling caretaking (Weisner & Gallimore 1977; Whittemore & Beverly 1989), multiple caretaking (Hewlett 1989; Seymour 2004) oder child caretaking (Hen‑ ry et al. 2005) deutlich machen, fokussieren diese von vornherein auf betreuende

219

220

Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

Bezugspersonen, womit gleichaltrige oder geringfügig ältere soziale Partner kaum Berücksichtigung finden.4

Proximale und distale Sozialrelationen In diesem Abschnitt werde ich die Komposition der sozialen Umwelt von Kindern hinsichtlich ihrer räumlichen Strukturierung weiter differenzieren. Dabei fokus‑ siere ich auf die Unterscheidung zwischen den Distanzmaßen des Körperkontak‑ tes und der Reichweite, die mit proximalen bzw. distalen Betreuungs‑ oder Interak‑ tionsstilen zusammenhängen. Nach Keller (2007: 14) entsprechen proximale, d.h. mit Körperkontakt verbundene Umgangsformen einem asymmetrischen, körper‑ zentrierten Betreuungs‑ und Kommunikationsmodus. Demgegenüber stehen bei distalen, mit einer gewissen körperlichen Distanz einhergehenden Umgangsfor‑ men symmetrische, häufig auch spielerische face-to-face-Interaktionen oder verbale Kommunikationen stärker im Vordergrund. Keller (2007) kann zeigen, dass in ver‑ schiedenen westlich-urbanen Mittelschichten ein distaler und in nicht-westlichen, ländlichen Gemeinschaften ein proximaler Interaktionsstil vorherrscht – allerdings berücksichtigt sie dabei ausschließlich mütterliche Bezugspersonen. Im 5. Kapitel wurde bereits deutlich, dass auch die Mütter von Menamaty ein körperzentriertes Betreuungsmodell vertreten, das sich weitgehend einem proximalen Betreuungs‑ stil zuordnen lässt. Allerdings verfolge ich hier die Hypothese, dass die Kinder aus Menamaty gleichermaßen proximale und distale Interaktionen erleben – jedoch mit unterschiedlichen sozialen Partnern. Vor diesem Hintergrund unterscheide ich die soziale Komposition des Umfel‑ des im Folgenden nach den Personen im Körperkontakt mit den Fokuskindern (proximales Verhältnis) und denen in Reichweite (distales Verhältnis). Diagramm 4 stellt einer Grafik zu den Personen mit Körperkontakt eine weitere Grafik zu den Personen in Reichweite gegenüber. Waren zwei Personen gleichzeitig in Reichwei‑ te, so wurde lediglich die dem Fokuskind nähere Person codiert. Auf den ersten Blick wird deutlich, dass die Fokuskinder ähnlich häufig proxi‑ male wie distale soziale Erfahrungen machen, wobei allerdings jeweils unterschied‑ liche Altersgruppen dominieren. Wie die Grafik zum Körperkontakt zeigt, erlebten die Fokuskinder die proximale Sozialrelation fast ausschließlich mit Erwachsenen, insbesondere der Mutter, sowie mit den präadoleszenten Babysittern. Peers und et‑ was ältere Kinder spielten hingegen kaum eine Rolle für die Erfahrung von Körper‑ kontakt. Dass die proximale Relation tatsächlich in einer engen Verknüpfung mit einem körperzentrierten Betreuungsmodus steht, lässt sich u.a. der kontinuierli‑ chen Abnahme des Körperkontakts entnehmen: Mit zunehmendem Alter und der Entwicklung motorischer Fähigkeiten lässt der Bedarf an körperlicher Betreuung und Unterstützung nach. Wie der Vergleich mit der darunterstehenden Grafik zur Reichweite zeigt, wechseln die erwachsenen und präadoleszenten Bezugspersonen aber kaum in einen distalen Modus, da ihre Präsenz in diesem Distanzverhältnis 4 | Ausnahmen stellen die Veröffentlichungen der Kulturpsychologen Rogoff (1981) und Nsamenang (2010) dar. Während kulturanthropologische oder ‑psychologische Veröffentlichungen zur Rolle der Peers in den ersten Lebensjahren also äußerst rar sind, hat sich die Entwicklungspsychologie schon seit den 1990er Jahren teilweise dem Thema der Peer-Relationen in europäischen oder US-amerikanischen Kontexten zugewandt (vgl. Kernan et al. 2010: 6-8).

6. Die soziale Umwelt in den ersten drei Lebensjahren

mit zunehmendem Alter der Fokuskinder nicht zunimmt. Während die Fokus‑ kinder deutlich mehr als die Hälfte des Körperkontakts mit ihren Müttern erleb‑ ten, spielten diese in der distalen Relation nur eine geringe Rolle. Zudem ist dem Videomaterial zu entnehmen, dass die distale Relation zu Müttern vor allem dann zustande kam, wenn sie ihre Kinder absetzten, um sich besser einer Tätigkeit wid‑ men zu können. Andere Erwachsene waren zwar relativ häufig in Reichweite der Fokuskinder anzutreffen, dies war in den meisten Fällen allerdings nicht auf eine Absicht zurückzuführen, mit dem jeweiligen Kind zu interagieren; vielmehr leiste‑ ten diese Erwachsenen in der Regel der betreuenden Person Gesellschaft bzw. ko‑ operierten mit ihr. Während die Fokuskinder insbesondere ihre Mütter vor allem in einer proximalen Sozialrelation erlebten, boten sich ihnen die Peers zu ähnlichen Zeitanteilen als distale soziale Partner an. Diagramm 4: Bezugspersonen in proximaler und distaler Relation 90% 80%

Körperkontakt (proximale Relation)

0-5 Jahre (Peers) 6-9 Jahre

70%

60%

10-13 Jahre (Babysitter)

50%

14-17 Jahre

40% 30%

18+ Jahre (Erwachsene)

20%

Vater

10% 0% 3-6 Mon 90% 80%

Mutter 6-12 Mon

12-16 Mon

24-31 Mon

34-41 Mon

Reichweite (distale Relation)

0-5 Jahre (Peers)

70%

6-9 Jahre

60%

10-13 Jahre (Babysitter)

50% 40%

14-17 Jahre

30%

18+ Jahre (Erwachsene)

20%

Vater

10% 0% 3-6 Mon

Mutter 6-12 Mon

12-16 Mon

24-31 Mon

34-41 Mon

221

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

Z usammenfassung und D iskussion Die Kinder von Menamaty werden in ein dichtes soziales Netz hineingeboren; nahe‑ zu permanent sind sie von Personen umgeben. Im Zentrum dieses Netzes befindet sich im ersten Lebensjahr noch am häufigsten die Mutter, die ihrem Kind zumeist Körperkontakt bietet. In dieser proximalen Sozialrelation wird sie gelegentlich von präadoleszenten Schwestern oder Cousinen des Kindes, sowie von erwachsenen Tanten und – in Einzelfällen – vom Vater oder von der Großmutter des Kindes vertreten. Im Hinblick auf diese proximale, körperzentrierte Beziehung können Mütter tatsächlich als primäre Bezugsperson bezeichnet werden, was sich auch mit ihren Selbstbeschreibungen deckt. Allerdings sind die sozialen Erfahrungen der Säuglinge keineswegs auf die sie tragende, haltende, stillende oder beruhigende Person beschränkt. Vielmehr sind um die Dyade aus Mutter bzw. Babysitter und Kind in aller Regel weitere Personen gruppiert, die sowohl zur Betreuungsperson als auch zum Säugling in einem distalen Verhältnis stehen. Dabei handelt es sich zum einen um weibliche Erwachsene, die mit der betreuenden Person kommuni‑ zieren oder kooperieren, und zum anderen um Peers, die als potenzielle Spielpart‑ ner stärker auf den Säugling bezogen sind. Diese typische soziale Konstellation, die im Kontext städtischer Kleinfamilien nur selten auftreten dürfte, ermöglicht mul‑ tiple soziale Relationen und begünstigt spezifische Muster der Aufmerksamkeits‑ verteilung. Die Mutter oder ihre Vertretung ist ihrem Kind körperlich zugewandt, richtet ihre Aufmerksamkeit aber zugleich auf Haushaltsaktivitäten oder auf die Unterhaltung mit anderen Frauen. Gleiches trifft auf den Säugling zu: Während er körperlich in einem engen Verhältnis zur Mutter oder zu einem Babysitter steht, kann er seine Aufmerksamkeit auf die ihn umgebenden Personen richten oder mit diesen in einer distalen Art und Weise interagieren. Dies ermöglicht Kindern eine parallel verlaufende soziale Diversifizierung ihrer Beziehungen. In der Ontogenese bleibt dieses dichte soziale Netz bestehen, sodass Interaktio‑ nen auch mit zunehmendem Alter meist in Gruppenkonstellationen stattfinden. Jedoch verändert sich die personale Zusammensetzung dieses Netzes. Die Mutter als betreuende Bezugsperson und ihre Vertreter, die Babysitter, tauchen mit zuneh‑ mendem Alter der Kinder immer seltener in ihrem sozialen Umfeld auf und sind im Kleinkindalter nur noch temporär präsent. Zwar bleiben Mütter auch weiterhin für die körperliche Versorgung und Betreuung von Kindern zuständig, aufgrund der durch das Laufen erlangten Mobilität und aufgrund des Abstillens sinkt aber der zeitliche Aufwand dieser Versorgung, sodass Mütter und Kleinkinder in der Regel nur noch zu den Mahlzeiten aufeinandertreffen. Diese räumliche Distan‑ zierung zwischen Müttern und Kindern betrifft Jungen in besonderem Maße, da sie gemäß der Geschlechtersegregation lernen müssen, Abstand zur weiblichen Sphäre zu halten. In dem Maße, in dem sich die Präsenz der Mutter reduziert, nimmt die Prä‑ senz anderer Kinder zu. Denn sobald die Kinder aus Menamaty laufen können, schließen sie sich einer Gruppe von gleichaltrigen oder etwas älteren Geschwis‑ tern, Cousinen oder Cousins an. Somit verbringen zweijährige Kinder bereits mehr als die Hälfte ihrer Zeit mit ihren Peers, wobei dieser Anteil mit zunehmendem Anteil weiter steigt. Davon, dass Peers einen Ersatz für Mütter oder Babysitter dar‑ stellen, kann indessen kaum die Rede sein. Denn Peers treten im Unterschied zu den betreuenden Müttern meist in ein distales, spielerisches Interaktionsverhält‑

6. Die soziale Umwelt in den ersten drei Lebensjahren

nis zueinander. Auch wenn sich Mütter meist nicht einmal mehr in Sichtweite von Kleinkindern aufhielten, bleiben sie wichtige Betreuungspersonen, da sie von ihren Kindern bei Bedarf aufgesucht werden können. Der Umstand, dass von Anfang an Peers präsent sind, die im Übergang zum Kleinkindalter (zumindest nach Maßgabe der miteinander geteilten Zeit) sogar be‑ deutender als alle anderen Personen werden, spricht für ihre herausragende Rolle als Sozialisationspartner. Dass die Peers in der Regel in einem distalen Interak‑ tionsverhältnis zueinanderstehen und sich zudem häufig außerhalb der Einfluss‑ sphäre Erwachsener aufhalten, ist als wichtige Bedingung für die Sozialisation eines egalitären Beziehungs‑ und Emotionsmodus anzusehen, der sich deutlich von einem hierarchischen, im Umgang mit Erwachsenen oder älteren Kindern er‑ lernten Beziehungsmodus abgrenzt. Es liegt auf der Hand, dass sich das soziale Umfeld der Kinder aus Menama‑ ty stark von demjenigen deutscher, urbaner Mittelschichtskinder unterscheidet, insbesondere was die Peers betrifft. Zwar gewinnen auch hier andere Kinder und Gleichaltrige mit zunehmendem Alter als Interaktionspartner an Bedeutung – etwa im Rahmen von Kindertagesstätten. Ein entscheidender Unterschied gegen‑ über den Kindern von Menamaty besteht jedoch darin, dass die Peer-Interaktionen in diesen Institutionen von Erwachsenen organisiert, reguliert und kontrolliert werden. Erwachsene sind hier nicht nur permanent präsent und greifen regulie‑ rend ein, sondern strukturieren das Interaktionsverhalten der Kleinkinder von vornherein etwa durch die Auswahl und Bereitstellung von Spielsachen oder durch die Vorgabe zeitlicher und räumlicher Kontexte. Somit nehmen Erwachsene der deutschen Mittelschicht offenbar viel stärker Einfluss auf die sozialen und emotio‑ nalen Erfahrungen von Kindern in Peer-Interaktionen als in der Forschungsregion, was die soziale Diversifizierung der Verhaltens‑, Erfahrungs‑ und Emotionsmuster im Vergleich eher abschwächen dürfte. Obwohl Peers nicht nur in Menamaty eine bedeutende Rolle als Sozialisations‑ partner im Kleinkindalter übernehmen dürften, wurden sie bislang in der kultur‑ anthropologischen oder ‑psychologischen Sozialisationsforschung kaum berück‑ sichtigt. Aufgrund ihrer wichtigen Bedeutung für die Kinder der madagassischen Dorfgemeinschaften ist ihre Bedeutung auch im folgenden Kapitel, das sich zu‑ nächst den mütterlich dominierten Betreuungspraktiken zuwendet, stets mit zu bedenken.

223

7. Betreuungspraktiken und Interaktionsmuster in den ersten drei Lebensjahren

Nach den emischen Modellen der Mütter und Babysitter sowie der Strukturierung der sozialen Umwelt von Säuglingen und Kleinkindern kommt in diesem Kapitel die dritte Dimension der Entwicklungsnische in den Blick: die der Betreuungs‑ praktiken und Interaktionsmuster. Dabei handelt es sich insofern um eine integra‑ le Dimension, als Kinder die Interaktionsepisoden stets mit bestimmten Personen aus ihrem Umfeld erleben, die sich wiederum an geteilten Modellen, Werten und Normen orientieren und diese auch an die Kinder vermitteln. Aus diesem Grund sind die Praktiken stets vor dem Hintergrund ihrer sozialen Einbettung und Be‑ deutung in den Augen der Beteiligten zu betrachten.

B eobachtungs - und A uswertungsme thoden Methodisch basiert auch dieses Kapitel zum großen Teil auf der im 6. Kapitel be‑ schriebenen spot observation. Da die Beobachtungen videografisch dokumentiert wurden, war es möglich, die Betreuungspraktiken und Interaktionen im Nach‑ hinein einer Feinanalyse zu unterziehen. Neben dem Videomaterial der spot observation, das vor allem eine quantitative Auswertung ermöglichte, wurden auch event observations durchgeführt und zur Analyse der Praktiken herangezogen. Die Beobachtung orientierte sich hierbei nicht, wie bei der spot observation, an einem Zeitplan, sondern schlicht am Auftreten bestimmter Interaktionsepisoden. Diese Episoden wurden, sofern es der jeweiligen Situation angemessen war und ein gu‑ tes Vertrauensverhältnis zwischen den Akteuren und mir bestand, ebenfalls video‑ grafisch aufgezeichnet. Viele event observations entstanden direkt im Anschluss an die spot observations, da ich die Videoaufnahme fortsetzte, wenn sich gerade eine bemerkenswerte Interaktionsepisode abspielte. Neben diesem Videomaterial der spot‑ und event observation stütze ich mich im Folgenden auch auf meine Feldnoti‑ zen zu Alltagsbeobachtungen. Da soziale Interaktionen äußerst komplex sind und kaum in ihrer ganzen Fülle erfasst und in gänzlich neutraler Weise dargestellt werden können, stellt sich auch hier die Frage nach den die Beobachtung und Auswertung strukturierenden und prägenden Voreinstellungen. Welche Praktiken mir überhaupt bemerkenswert er‑ schienen und welche Aspekte dieser Praktiken in den Fokus meiner Aufmerksam‑

226

Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

keit rückten, hing zuallererst mit meinen Erwartungen zusammen, die wiederum durch meinen Erfahrungshorizont und damit auch durch die Betreuungs‑ und Interaktionspraktiken in meinem Herkunftskontext geprägt waren. Dass Mütter ihre Kinder z.B. beim Stillen selten anblicken, fällt erst dann auf, wenn man ein Konzept des Stillens als einer intensiven emotionalen Zuwendung voraussetzt. Ich halte den Versuch für wenig erfolgversprechend, solche Vorprägungen auszu‑ blenden; stattdessen ist es umso wichtiger, diese so weit als möglich explizit zu machen. Für die Codierung und Analyse des Videomaterials habe ich deshalb ein Kategoriensystem entwickelt, das sich sowohl an den von Müttern und Babysittern beschriebenen und hervorgehobenen Praktiken als auch an dem »Komponenten‑ modell des Elternverhaltens« von Keller (2001) orientiert. Kellers Modell des Elternverhaltens strukturiert die Analyse der Eltern-Säug‑ lings-Interaktionen nach Komponenten, die im Unterschied zu psychologischen Konzepten wie etwa dem der Sensitivität keinen normativen Gehalt haben, von geringer Komplexität sind und sich vor allem auf die deskriptive Ebene beziehen. Dadurch ermöglicht das Modell, die spezifischen Ausprägungen des Interaktions‑ verhaltens im jeweiligen soziokulturellen Kontext in einer systematischen Weise zu erfassen. Tatsächlich ließen sich die von den Interviewpartnern beschriebenen und von mir beobachteten Praktiken diesen Komponenten zuordnen; lediglich die Einschränkung auf elterliche Bezugspersonen wurde aufgrund der beschriebenen Beobachtungen nicht übernommen. In modifizierter Form stellt sich Kellers Mo‑ dell, dessen einzelne Komponenten in den jeweiligen Abschnitten ausführlicher definiert werden, wie folgt dar: • Körperkontakt: Bezugspersonen haben engen Körperkontakt mit einem Säug‑ ling, indem sie ihn beispielsweise auf dem Schoß oder Arm halten • mibaby: Kind wird auf dem Rücken getragen • mitrotro: Kind wird auf der Hüfte getragen • auf dem Schoß: Kind befindet sich auf dem Schoß einer Bezugsperson • am Körper: Kind befindet sich an der Körperseite einer Bezugsperson • Berührung: Kind berührt eine andere Person mit den Händen oder wird selbst berührt • Körperstimulation: Bezugspersonen berühren oder bewegen den Körper des Säuglings und unterstützen so seine motorische Entwicklung • mikorokoro: Schnelles, rhythmisches Wippen des kindlichen Körpers • Primärversorgung: Elterliche Anstrengungen, die sich auf die Grundbedürfnis‑ se des Säuglings wie Nahrung oder Hygiene richten • mapinono: Stillen • mapihina: Füttern • mapoandro: Baden • Objektstimulation: Bezugspersonen lenken die Aufmerksamkeit des Säuglings auf Objekte • mihisa: Spielen mit Dingen • Face-to-face-Verhalten: Bezugsperson und Säugling nehmen gegenseitigen Blickkontakt auf und kommunizieren in einer dialogischen, emotional positiv konnotierten Form • misoma: Spielerische Interaktion

7. Betreuungspraktiken und Interaktionsmuster in den ersten drei Lebensjahren

B e Treuungspr aK TiKen des K örperKonTaK Ts und der K örpersTimul aTion Die Kinder von Menamaty werden im ersten Lebensjahr fast permanent von einer Bezugsperson getragen oder auf dem Schoß gehalten. Wie Diagramm 4 im voran‑ gegangenen Kapitel präzisiert, erlebten die Säuglinge im Alter zwischen drei und sechs Monaten bei rund 80 Prozent der Beobachtungen Körperkontakt mit einer Bezugsperson. Der Körper einer Bezugsperson bildet in den ersten Lebensmonaten also den unmittelbaren ›Lebensraum‹, den Säuglinge nur in Ausnahmefällen ver‑ lassen. Nicht Körperkontakt, sondern fehlender Körperkontakt ist für diese Kinder eine besondere Erfahrung. Zu bemerken ist allerdings auch, dass die Erfahrung von Körperkontakt mit zunehmendem Alter rasch zurückgeht. Die meisten Klein‑ kinder waren überhaupt nicht mehr in Körperkontakt mit älteren Bezugspersonen zu beobachten. Um zu klären, womit dieser rasche und konsequente Rückgang des Körperkontakts zusammenhängt und welche Bedeutung dies für die Kinder hat, bedarf es weiterer Analysen. Diagramm 5 differenziert zwischen verschiedenen Formen des Körperkontakts und präsentiert die jeweiligen Anteile an den Gesamtbeobachtungen. Mit der ›Berüh‑ rung mit den Händen‹ habe ich noch eine weitere Form des Körperkontakts hinzu‑ gefügt, die bisher nicht berücksichtigt wurde, da sie eine distale Kontaktform darstellt. Diagramm 5: Die verschiedenen Formen des Körperkontakts im Vergleich 45% 40%

35% auf dem Schoß

30% 25%

am Körper

20%

auf der Hüfte

15% auf dem Rücken

10% 5% 0% 3-6 Mon

Berührung mit den Händen

6-12 Mon

12-16 Mon

24-31 Mon

34-41 Mon

Deutlich zu sehen ist, dass die verschiedenen Formen des Körperkontakts differie‑ rende Kurvenverläufe aufweisen. Säuglinge der ersten Altersgruppe befinden sich demnach noch zumeist auf dem Schoß einer Bezugsperson, mit zunehmendem Alter sinkt dieser Anteil allerdings viel schneller als bei allen anderen Formen des Körperkontakts. Ebenfalls, jedoch deutlich langsamer, gehen die Anteile mit zuneh‑ mendem Alter zurück, bei dem Kinder von ihren Bezugspersonen auf der Hüfte oder dem Rücken getragen wurden. Diese drei Formen des Körperkontakts waren

227

228

Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

bei Kleinkindern kaum mehr zu beobachten. Aus der Altersgruppe der rund Drei‑ jährigen (34 bis 41 Monate) konnte lediglich ein Junge dabei beobachtet werden, wie er im Rahmen eines Rollenspiels von einer älteren Cousine auf dem Rücken getragen wurde. Die Daten zu den beiden weiteren Formen des Körperkontakts »am Körper« und »Berührung« verweisen auf andere Entwicklungsverläufe. Am Körper einer Bezugsperson befanden sich die zwölf bis 16 Monate alten Kinder am häu‑ figsten. Körperkontakt durch Berührung mit den Händen erlebten wiederum die Kleinkinder am häufigsten, womit diese Form des Körperkontakts geradezu konträr zu den Formen des Tragens oder Haltens verläuft. Um die Bedeutungen dieser ver‑ schiedenen Formen des Körperkontakts für die sozialen Erfahrungen der Kinder besser einschätzen zu können, werde ich sie im Folgenden gesondert behandeln und hinsichtlich der jeweiligen Bezugspersonen aufschlüsseln. Abbildung 11: Körperkontakt a) Tiava (oben) und Rozo (links) befinden sich ›auf dem Rücken‹ (mibaby) ihrer Mütter Velosoa und Saforozy. Elviny (rechts) wird von ihrer Mutter Ramety ›auf dem Schoß‹ gehalten.

b) Mara wird von ihrer Mutter Rapoliny auf der Hüfte getragen (mitrotro). c) Tina befindet sich ›am Körper‹ ihrer Mutter Razy. d) Rapela, Tojy und Lukasy ›berühren sich mit den Händen‹ (mitsapa). e) Tsidisoa legt seine Hand auf den Kopf seines Enkels Zafimana. Dabei handelt es sich um eine Geste der Segnung (mitahy).

7. Betreuungspraktiken und Interaktionsmuster in den ersten drei Lebensjahren

Auf dem Schoß der Bezugsperson Unter dieser Form des Körperkontakts wurden alle Beobachtungen subsumiert, bei denen sich das Fokuskind auf dem Schoß einer Bezugsperson befand. Die Bezugs‑ person sitzt dabei mit ausgestreckten oder angewinkelten Beinen auf dem Boden (Stühle oder andere Sitzmöbel fanden im Alltag keine Verwendung). Bis etwa zum Alter von drei Monaten liegen Säuglinge meist noch auf dem Rücken im Schoß der Bezugspersonen, ältere Säuglinge werden hingegen meist aufgerichtet und seit‑ wärts oder in der gleichen Blickrichtung wie die Bezugsperson positioniert, sodass ihr Oberkörper ihnen als Lehne dient und es nicht erforderlich ist, sie aktiv zu hal‑ ten. Dieses Arrangement begünstigt das im vorigen Kapitel beschriebene Muster der Aufmerksamkeitsverteilung: Der Bezugsperson ermöglicht es, sich parallel zur Kindesbetreuung Haushaltsaktivitäten zu widmen, da ihre Arme und Hände frei sind. Häufig säuberten sie, während das Kind in ihrem Schoß saß, den zu kochen‑ den Reis von Sandkörnen, schälten Maniokwurzeln, präparierten Heuschrecken, überwachten den Reistopf, legten Feuerholz nach oder unterhielten sich draußen vor dem Haus mit anderen Personen. Dem Säugling wiederum ermöglicht die‑ se Körperposition, die Aktivitäten der Bezugspersonen zu beobachten, selbst mit einem Gegenstand zu hantieren oder mit den um ihn herum gruppierten Personen zu interagieren. Diagramm 5.1 zeigt, zu welchen Beobachtungs‑ oder Zeitanteilen sich die Fo‑ kuskinder auf dem Schoß unterschiedlicher Bezugspersonen aufhielten:

45%

Diagramm 5.1: Soziale Partner beim Körperkontakt „auf dem Schoß“

40%

0-5 Jahre (Peers) 35%

6-9 Jahre 30%

25%

10-13 Jahre (Babysitter)

20%

14-17 Jahre

15%

18+ (Erwachsene)

10%

Vater

5%

Mutter 0% 3-6 Mon

6-12 Mon

12-16 Mon

24-31 Mon

34-41 Mon

Säuglinge befanden sich demnach bei Weitem am häufigsten auf dem Schoß ihrer Mütter, die gelegentlich von anderen Erwachsenen und von Babysittern im Alter zwischen zehn und 13 Jahren abgelöst wurden. Jüngere Kinder und Peers spielten hingegen kaum eine Rolle, sodass die Fokuskinder diese Form des Körperkontakts fast ausschließlich mit wesentlich älteren Personen erlebten. Damit steht die Er‑

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

fahrung dieser Form von Körperkontakt offenbar in einem ontogenetischen Zu‑ sammenhang mit dem Erlernen asymmetrischer, hierarchischer Beziehungen, die ebenfalls auf Altersunterschieden basieren. Womit die zügige Abnahme dieser Form des Körperkontakts zusammenhängt, lässt sich auf der Basis der Interviews mit Müttern beantworten. Mütter begrün‑ deten das von ihnen hervorgehobene Entwicklungsziel des frühzeitigen Sitzenler‑ nens in erster Linie damit, dass es ihnen ermögliche, ihr Kind abzusetzen und sich selbst etwa der im Stehen zu verrichtenden Aufgabe des Reismörserns zu widmen. Folglich befanden sich die sechs- bis zwölfmonatigen Kinder, die alle bereits selb‑ ständig auf dem Boden sitzen konnten, nur noch halb so häufig auf dem Schoß ihrer Bezugspersonen wie die drei- bis sechsmonatigen Kinder. Dass auch Einjäh‑ rige noch gelegentlich diese Form des Körperkontakts erleben, hängt vor allem mit der Praxis des Stillens zusammen, wobei sich die Kinder auf dem Schoß der Mütter niederlassen dürfen. Abgestillte Kleinkinder hatten hingegen keinen regulären An‑ spruch mehr auf den Schoß ihrer Mütter. Unter den Zweijährigen wurde lediglich ein Junge, der während der spot observation krank war, noch von seiner Mutter auf dem Schoß gehalten. In Übereinstimmung mit den Äußerungen der Mütter steht diese rasche Abnahme in einem engen Zusammenhang mit dem körperzentrier‑ ten Betreuungsstil und der motorischen Entwicklung des Kindes: Sobald es selb‑ ständig sitzen kann, gewährt ihm die Mutter nur noch beim Stillen einen Platz auf dem Schoß, abgestillte Kleinkinder werden allenfalls noch gehalten, wenn sie aufgrund einer Krankheit besonderer Unterstützung bedürfen.

Auf dem Rücken der Bezugsperson (mibaby) Bei der mit mibaby bezeichneten Form des Körperkontakts wird der Säugling mit einem Tuch auf den Rücken gebunden. Der Oberkörper des Säuglings liegt dabei am Rücken der Bezugsperson, und seine Beine sowie Arme werden an ihrer Kör‑ perseite fixiert. Es besteht also ein enger Körperkontakt und häufig auch Hautkon‑ takt, da das Tragetuch in der Regel zugleich die Oberkörperbekleidung der Frauen darstellt. Zugleich ist das Kind in dieser Position stark eingeschränkt, was seine Bewegungsmöglichkeiten und sein Sichtfeld anbelangt. Da es sehr fest an den Kör‑ per der Bezugsperson gebunden wird, kann es seine Gliedmaßen nur minimal bewegen und kaum seinen Kopf drehen. Darüber hinaus wird das Blickfeld durch den Rücken der Bezugsperson deutlich eingeschränkt, und Blickkontakt mit dieser ist gänzlich unmöglich. In den Interviews führten die Mütter, die ich nach ihren Pflichten gegenüber ihren Säuglingen fragte, unter den verschiedenen Formen des Körperkontakts am häufigsten mibaby an. Ihnen zufolge dient mibaby nicht nur dazu, den Säugling über längere Strecken zu transportieren, etwa beim Wasserholen, sondern auch dazu, ihn zum Einschlafen zu bringen. Aufgrund des engen Körperkontaktes sowie der visuellen Einschränkung kann mibaby als besonders körperzentrierte Form des Körperkontakts gelten. Diagramm 5.2 zeigt die Beobachtungsanteile, bei denen die Fokuskinder von ihren Bezugspersonen in der beschriebenen Weise auf dem Rücken getragen wur‑ den.

7. Betreuungspraktiken und Interaktionsmuster in den ersten drei Lebensjahren

30%

Diagramm 5.2: Soziale Partner beim Körperkontakt „auf dem Rücken“ (mibaby)

25%

20%

15%

6-9 Jahre 10%

10-13 Jahre (Babysitter)

5%

Mutter 0% 3-6 Mon

6-12 Mon

12-16 Mon

24-31 Mon

34-41 Mon

Der den Daten zufolge recht geringe Anteil dieser Form des Körperkontakts dürfte in der Realität deutlich höher gewesen sein, da Mütter ihre Säuglinge vor allem auf dem Weg vom Dorf zum Feld oder Fluss auf dem Rücken trugen, also dann, wenn sie schwer für die Beobachtung aufzufinden waren. Zudem wurden die Beobach‑ tungen, bei denen das Kind schlief, aus der gesamten Datenanalyse ausgeschlos‑ sen, was insofern den Anteil von mibaby besonders beeinflusst, als diese Praxis das Kind gerade zum Einschlafen bringen soll. Bezieht man die Beobachtungen der schlafenden Kinder mit ein, so liegt der Anteil von mibaby in den ersten Lebensmo‑ naten bei 13 Prozent, also fast doppelt so hoch wie Diagramm 5.2 anzeigt. Im Vergleich zum Körperkontakt auf dem Schoß der Bezugsperson geht mibaby in den ersten Lebensjahren deutlich langsamer zurück, da diese Praxis nicht mit der Fähigkeit des Sitzens, sondern mit der des Laufens verbunden ist. Sobald Kinder mit zwei Jahren auch längere Strecken laufen können, werden sie in der Regel nicht mehr auf dem Rücken getragen und somit auch nicht mehr auf diese Art und Weise beruhigt. Bis auf wenige Ausnahmen wurden Kinder ausschließlich von ihren Müttern auf dem Rücken getragen. Die vier Ausnahmen betrafen ältere Kinder, die sich im Rahmen von Rollenspielen Säuglinge auf den Rücken banden. Während der gesamten Feldforschung konnte ich nicht beobachten, dass andere Erwachsene neben der Mutter ein Kind auf ihrem Rücken trugen; es handelt sich also um eine nahezu exklusive mütterliche Praxis.

Auf der Hüfte der Bezugsperson (mitrotro) Bei dieser Form des Körperkontakts sitzt das Kind seitwärts auf der Hüfte einer stehenden oder gehenden Bezugsperson, die es gleichzeitig mit einem Arm hält. Für diese Form des Tragens von Kindern existiert in der Sprache der Bara ebenfalls ein eigener Begriff (mitrotro), was verdeutlicht, dass es sich dabei (wie im Fall von mibaby) um eine konzeptionell hervorgehobene Form des Körperkontakts handelt. Auf diese Weise wurden Säuglinge vor allem über kurze Distanzen, also vorwie‑ gend im Bereich des Dorfes herumgetragen. Im Vergleich zum Aufenthalt auf dem Schoß und zu mibaby ermöglicht mitrotro ein relativ hohes Maß an sinnlicher oder sozialer Stimulation. Ein auf der Hüfte getragenes Kind kann sich selbständig ent‑ weder der Bezugsperson auf Augenhöhe zuwenden oder sich in seiner Umgebung

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

umblicken. Da sich die Betreuungsperson hierbei häufig im Dorf bewegt, bringt mitrotro zum einen die Erfahrung rhythmischer Körperbewegung mit sich und zum anderen ein hohes Maß an wechselnden visuellen Eindrücken. Vor allem prä‑ adoleszente Babysitter thematisierten mitrotro als Beruhigungsmethode. Im Unter‑ schied zu mibaby dürfte die Beruhigung aber weniger auf einer Einschränkung distaler Stimulation als vielmehr auf einer Ablenkung durch abwechslungsreiche Eindrücke basieren. 30%

Diagramm 5.3: Soziale Partner beim Körperkontakt „auf der Hüfte“ (mitrotro) 0-5 Jahre (Peers)

25%

6-9 Jahre

20%

15%

10-13 Jahre (Babysitter) 14-17 Jahre

10%

18+ (Erwachsene) Vater

5%

Mutter 0% 3-6 Mon

6-12 Mon

12-16 Mon

24-31 Mon

34-41 Mon

Diagramm 5.3 präsentiert die Anteile der Beobachtungen, bei denen die Fokuskin‑ der von unterschiedlichen Personen auf der Hüfte getragen wurden. Die Differenzierung nach Bezugspersonen macht deutlich, dass Kinder ver‑ gleichsweise selten von ihren Müttern auf der Hüfte getragen wurden. Während Kinder das schläfrig machende mibaby nahezu ausschließlich mit der Mutter erleb‑ ten und sich zu rund zwei Dritteln auf dem Schoß derselben aufhielten, wurden sie nur zu einem knappen Drittel auf der Hüfte der Mutter getragen. Vergleichsweise häufig erlebten Kinder mitrotro hingegen mit ihren Babysittern. Bedenkt man, dass die präadoleszenten Babysitter die zu betreuenden Säuglinge in der Regel zu ihren Peers mitnahmen und sie somit zumindest indirekt an den spielerischen Aktivi‑ täten der älteren Kinder teilnehmen ließen, so boten diese Bezugspersonen ein vergleichsweise hohes Maß an Abwechslung und sozialer Stimulation. Vor diesem Hintergrund fungiert mitrotro durch Babysitter gewissermaßen als Vorläufer einer selbständigen Exploration der sozialen Umwelt. Dass die zweijährigen Kinder nicht mehr von Erwachsenen und nur noch ausnahmsweise von Babysittern getragen wurden, legt wie bei mibaby einen Zusammenhang mit dem Laufenlernen nahe, da sich mit der Fähigkeit des Laufens die Notwenigkeit des Tragens erübrigt.

Am Körper der Bezugsperson Wenn Fokuskinder und Bezugspersonen beieinander lagen, saßen oder standen und dabei Körperkontakt hatten, codierte ich dies mit »am Körper«. Diese Form wurde im Unterschied zu den anderen beschriebenen Formen des Körperkontakts von Müttern oder Babysittern nicht thematisiert, es handelt sich also um eine eti‑ sche Kategorie.

7. Betreuungspraktiken und Interaktionsmuster in den ersten drei Lebensjahren Diagramm 5.4: Soziale Partner beim Körperkontakt „am Körper“

30%

0-5 Jahre (Peers)

25%

6-9 Jahre

20%

10-13 Jahre (Babysitter) 14-17 Jahre

15%

18+ (Erwachsene)

10%

Vater

5%

Mutter 0% 3-6 Mon

6-12 Mon

12-16 Mon

24-31 Mon

34-41 Mon

Wie Diagramm 5.4 zeigt, nimmt diese Form des Körperkontakts im Vergleich zu den zuvor beschriebenen einen anderen Verlauf in der Ontogenese. Während jene anderen Formen des Körperkontakts mit zunehmendem Alter kontinuierlich selte‑ ner erlebt werden, gewinnt diese Form bis zum Beginn des zweiten Lebensjahres an Bedeutung und nimmt dann langsamer ab. Dieser Verlauf lässt einige Rück‑ schlüsse auf die »Körperbindung« der Kinder zu: Zumindest im zweiten Lebens‑ jahr, in dem Kinder bereits mobil waren und kaum mehr von einer Bezugsperson getragen wurden, ging diese Form des Körperkontakts vor allem auf die Initiative der Kinder zurück. Immer wieder war zu beobachten, dass Kinder im zweiten und zu Beginn des dritten Lebensjahres selbständig körperliche Nähe zu einer Bezugs‑ person suchten und sich an deren Körper anschmiegten. In der Regel wurden sie von der Bezugsperson dabei in einer passiven Weise geduldet, gelegentlich jedoch abgewiesen, insbesondere, wenn es sich dabei um die Mutter handelte. Beispiels‑ weise sagten Mütter ihren Kindern in einer solchen Situation immer wieder, dass sie doch mit ihren Freunden spielen gehen sollten. Mehrmals äußerten sie einen spezifischen Laut der Verärgerung (sosotsy), schoben ihr Kind weg oder gaben ihm einen leichten Klaps mit der offenen Hand – insbesondere, wenn sie sich bei der Arbeit behindert fühlten. Die Daten legen eine Tendenz einiger Kinder nahe, daraufhin vermehrt körperliche Nähe zu anderen Erwachsenen zu suchen. So schmiegten sich die zwei- bis drei-jährigen Kinder häufiger an den Vater oder eine andere erwachsene Person als an die Mutter. Dass Kinder während und möglicher‑ weise infolge der körperlichen Entwöhnung und Distanzierung von der Mutter vor‑ übergehend die Nähe anderer Erwachsener suchten, legt auch Diagramm 3.3 nahe. Es ist allerdings zu bemerken, dass nur bei einigen Kindern diese vorüberge‑ hende Hinwendung zu anderen Erwachsenen zu beobachten war. Wie im 5. Kapitel zu den Perspektiven der Mütter dargestellt, beschrieben diese die Distanzierung nach dem Abstillen als einen natürlichen oder automatisch ablaufenden Prozess. Selbst die vergleichsweise »anhänglichen« Kinder gaben die Annäherungsversu‑ che gegenüber Erwachsenen allmählich auf und lernten somit, wie die anderen Kinder eine körperliche Distanz zu den Erwachsenen zu wahren. Mit Blick auf die im 3. Kapitel dargestellten hierarchischen Beziehungsmuster wird deutlich, dass Kinder offenbar bereits im zweiten Lebensjahr, insbesondere jedoch nach dem Ab‑ stillen lernen, das für Beziehungen zwischen Jung und Alt geltende Gebot der kör‑ perlichen Distanz zu beachten.

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

Berührung mit den Händen (mitsapa) Unter dieser Form des Körperkontakts wurden alle Beobachtungen zusammenge‑ fasst, bei denen sich Bezugsperson und Fokuskind mit den Händen berührten (mitsapa), ansonsten aber kein Körperkontakt bestand. Die Qualität von mitsapa unter‑ scheidet sich deutlich von den zuvor beschriebenen Formen des Körperkontakts. Wenn Kinder getragen oder auf dem Schoß gehalten werden, stehen sie nicht nur in engem, proximalem Körperkontakt zur Bezugsperson, sondern auch in einem asymmetrischen Verhältnis zu dieser: Kinder werden getragen und können nicht selbst die Bezugsperson tragen; die Rollen sind also nicht austauschbar. Bei der Berührung mit den Händen stehen die Interaktionspartner hingegen potenziell in einem distalen, symmetrischen und reziproken Verhältnis zueinander: Kinder können von ihren Bezugspersonen berührt werden und diese zugleich selbst be‑ rühren; die Rollen sind also austauschbar. Diagramm 5.5 zeigt, mit wem die Fokuskinder diese reziproke Form des Körper‑ kontakts zu welchen Anteilen erlebten. Zunächst ist zu bemerken, dass der Körper‑ kontakt über das Berühren im Übergang zum Kleinkindalter deutlich zunimmt, während alle anderen Formen des Körperkontakts nachlassen. Den sehr geringen Anteil an Berührungen im ersten Lebensjahr erlebten die Fokuskinder noch vor‑ nehmlich mit der Mutter in Betreuungskontexten, z.B. beim An‑ und Ausziehen, beim Füttern und Waschen oder zur Unterstützung bei Sitz‑ sowie Stehübungen. Immerhin dreimal war zu beobachten, wie Erwachsene Kinder am Bauch kitzelten. Für die Zunahme von Berührungen im zweiten Lebensjahr sind in erster Linie die Peers verantwortlich. Diese berührten sich vor allem im Rahmen von spielerischen Aktivitäten, legten einander die Hand auf die Schulter oder hielten sich an den Händen. 30%

Diagramm 5.5: Soziale Partner der „Berührung mit den Händen“ (mitsapa)

25%

0-5 Jahre (Peers)

20%

6-9 Jahre 15%

14-17 Jahre

10%

18+ (Erwachsene) Vater

5%

0% 3-6 Mon

Mutter 6-12 Mon

12-16 Mon

24-31 Mon

34-41 Mon

Die den anderen Formen des Körperkontakts entgegengesetzte Qualität, ontoge‑ netische Entwicklung und soziale Einbettung des Berührens lässt sich vor dem Hintergrund der generellen hierarchischen und egalitären Beziehungsmuster erhellen. Im 3. Kapitel habe ich deutlich gemacht, dass eine gewisse körperliche Distanz zwischen Interaktionspartnern lediglich in hierarchischen Beziehungen geboten ist, wohingegen in egalitären, freundschaftlichen Beziehungen Körper‑ kontakt nicht nur als legitim gilt, sondern auch sehr häufig zu beobachten war. Die hier präsentierten Daten zu den verschiedenen Formen des Körperkontakts legen

7. Betreuungspraktiken und Interaktionsmuster in den ersten drei Lebensjahren

nahe, dass Kinder diese soziale Diversifizierung des Körperkontakts und seiner Be‑ deutung bereits im Übergang zum Kleinkindalter erlernen.

Praktiken der Körperstimulation (mikorokoro, mapitsinjaky) In engem Zusammenhang mit den Mustern des Körperkontakts stehen Betreu‑ ungsformen der Körperstimulation, die nach Kellers (2001) Komponentenmodell des Elternverhaltens ein weiteres, eigenständiges Elternsystem darstellen. Mit Kör‑ perstimulation sind sämtliche Praktiken gemeint, die den Körper des Kindes in Bewegung versetzen. In ethnografischen und kulturvergleichenden Studien wur‑ de bereits mehrfach herausgestellt, dass der in vielen außereuropäischen Gemein‑ schaften beobachtete kontinuierliche Körperkontakt zwischen Bezugspersonen und Säuglingen ein im Vergleich mit euro‑amerikanischen Kontexten sehr hohes Maß an Körperstimulation oder sensorimotor stimulation (Konner 1976) mit sich bringt. Die kontinuierliche Körperstimulation von Säuglingen aus verschiedenen afrikanischen Ländern und Regionen wurde etwa als Erklärung für die African infant precocity (Super 1976), also für die gemessen an westlichen Standards deutlich schnellere motorische Entwicklung dieser Säuglinge, herangezogen (vgl. Hewlett 1996: 192). Neben der motorischen Entwicklung beeinflussen die Praktiken der Körperstimulation aber auch die Wahrnehmung des eigenen Körpers und damit die Entwicklung eines Körperselbst (Keller 2001: 24). Aus den Interviews mit Müt‑ tern von Menamaty geht zudem hervor, dass Praktiken der Körperstimulation auch als Beruhigungsmethoden eingesetzt werden. Die begrifflich am deutlichsten ge‑ fasste Form der Körperstimulation, mikorokoro (ein schnelles rhythmisches Wip‑ pen), wurde von Müttern und Babysittern sogar ausschließlich als Beruhigungs‑ methode thematisiert. Im Folgenden werde ich zunächst die Praxis des mikorokoro zusammen mit weiteren beruhigenden Formen der Körperstimulation beschrei‑ ben, um anschließend auf die eher animierenden, die motorische Entwicklung för‑ dernden Praktiken einzugehen. Zunächst ist darauf aufmerksam zu machen, dass die oben thematisierten Formen des Tragens auf der Hüfte (mitrotro) und dem Rücken (mibaby), die von Babysittern und Müttern ausdrücklich als Strategien des Beruhigens beschrieben wurden, eine langsame, gleichmäßige Bewegung des kindlichen Körpers mit sich bringen. Denn in aller Regel gehen die Bezugspersonen, während sie ihr Kind tra‑ gen, insbesondere dann, wenn es beruhigt werden soll. Die drei bis sechs Mona‑ te alten Säuglinge erlebten diese beiden Formen der leichten Körperstimulation durchschnittlich immerhin zu einem Viertel der Tageszeit. Wie oben bereits deut‑ lich wurde, setzten Mütter das mibaby vor allem dazu ein, Kinder zum Einschlafen zu bringen. Sofern sie beschäftigt waren und mit dem Kind auf dem Rücken nicht umherlaufen konnten, praktizierten sie eine dem Laufen vergleichbare Körpersti‑ mulation, indem sie den auf den Rücken gebundenen Säugling durch ein Vor‑ und Zurückbewegen ihres Oberkörpers in eine sanfte Bewegung versetzen. Neben dieser leichten, andauernden und durch einen langsamen Rhythmus charakterisierten Körperstimulation erfuhren Säuglinge aus Menamaty gelegent‑ lich auch eine intensivere Form der Körperstimulation, die als mikorokoro bezeich‑ net wird und durch einen schnellen Rhythmus charakterisiert ist. Dabei versetzt die Bezugsperson durch ein Wippen ihres eigenen Körpers denjenigen des Säug‑ lings in eine schnelle, gleichmäßige Schwingung. Diese Form der Körperstimula‑

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

tion praktizierten Bezugspersonen sowohl beim Sitzen mit dem Säugling auf dem Schoß als auch im Stehen mit dem Kind auf der Hüfte oder auf dem Rücken. Ver‑ gleichsweise selten versetzten Bezugspersonen den Körper von Säuglingen ledig‑ lich mit Hilfe ihrer Arme oder Hände in Bewegung, während dieser auf ihrem Schoß oder neben ihnen auf dem Boden lag. Ausschließlich kindliche Babysitter begleiteten das mikorokoro gelegentlich mit Pfeif‑ bzw. Zischgeräuschen im selben gleichmäßigen Rhythmus oder sangen: korokoro zaza, korokoro zaza, korokoro zaza. Mikorokoro wurde vor allem zur Regulierung von akuten Distress-Äußerungen des Säuglings eingesetzt. Der Umstand, dass Babysitter im Vergleich zu Müttern viel häufiger mikorokoro als Beruhigungsmethode beschrieben und auch häufiger da‑ bei zu beobachten waren, dürfte damit zusammenhängen, dass ihnen die von Müt‑ tern favorisierte Beruhigungsmethode des Stillens nicht möglich war. Der nahezu kontinuierliche Körperkontakt im ersten Lebensjahr ermöglicht nicht nur eine gelegentliche beruhigende Rhythmisierung des kindlichen Körpers, sondern stellt auch andauernde motorische Herausforderungen an das Kind (vgl. Adolph et al. 2010: 69): Im Unterschied zu Kindersitzen oder ‑wägen bietet der menschliche Körper Säuglingen keinen festen, gleichmäßigen Halt. Dies war bei den Betreuungspersonen von Menamaty umso mehr der Fall, als diese ihre Auf‑ merksamkeit kaum auf das Halten des Säuglings, sondern meist auf Haushalts‑ aktivitäten oder auf ältere Gesprächspartner richteten. Dabei befand sich nicht nur der mütterliche Körper in ständiger Bewegung, sondern auch der Säugling wurde häufig umgelagert. Das Videomaterial der spot observation zeigt, dass Säuglinge meist aufrecht auf dem Schoß gehalten wurden und Mütter immer wieder die Hand wechselten, mit der sie den Oberkörper des Säuglings stabilisierten – je nach‑ dem, von welcher Seite sie etwas heranholten oder welche Hand sie gerade zum Gestikulieren verwendeten. Dieser dynamische Halt durch den Körper der Bezugs‑ person stellt für Säuglinge offensichtlich eine leichte aber dauerhafte körperliche Stimulierung dar, weil er sie dazu veranlasst, die Bewegungen der Bezugspersonen durch eigene Muskelkraft auszubalancieren. Der Umstand, dass die drei bis sechs Monate alten Säuglinge durchschnittlich 80 Prozent im Körperkontakt mit einer Bezugsperson verbrachten, dürfte also zu einer raschen motorischen Entwicklung beitragen. Darüber hinaus ließ sich beobachten, dass Bezugspersonen immer wieder ge‑ zielt motorische Herausforderungen an das Kind stellten, indem sie dieses schon in den ersten drei Lebensmonaten regelmäßig aufrecht hinsetzten und in dieser Position hielten. Die Fähigkeit des freien Sitzens, welche die interviewten Mütter als zentrales Entwicklungsziel für Säuglinge darstellten, förderten einige Mütter auch dadurch, dass sie den Säugling in eine Wanne oder einen Topf setzten, sodass er sich an den Rändern festhalten konnte. Den Angaben der Mütter und den syste‑ matischen Beobachtungen zufolge erlernen die Kinder von Menamaty das nicht ge‑ stützte Sitzen im Alter zwischen drei und fünf Monaten, womit sie die normativen Erwartungen für US-amerikanische Säuglinge (fünf bis acht Monate, vgl. Adolph et al. 2010: 6) deutlich unterbieten. Kinder ab dem Alter von etwa vier Monaten wurden von ihren Bezugsperso‑ nen zudem immer wieder in einer aufrechten Körperposition gehalten, sodass sie sich mit den Beinen auf dem Schoß der Bezugsperson oder Boden abstützen konnten, was dem Entwicklungsziel eines frühzeitigen Stehens oder Laufens ent‑ gegenkommt. Bei der Durchführung der spot observation zeigte sich zudem, dass

7. Betreuungspraktiken und Interaktionsmuster in den ersten drei Lebensjahren

das Aufrichten des Säuglings auch eine typische Reaktion der Bezugsperson auf die soziale Situation des Beobachtetwerdens war. So brachten einige Mütter ihr liegendes Kind in die Sitzposition oder hielten es gar in einer stehenden Position, sobald sie meine Präsenz bemerkten. Auch beim Aufnehmen von Erinnerungs‑ fotos für die an der Beobachtungsstudie teilnehmenden Familien wurden Säuglin‑ ge vorzugsweise stehend präsentiert, selbst dann, wenn sie noch nicht selbständig dazu in der Lage waren. Vorausgesetzt, dass die soziale Exponiertheit zu einer ver‑ stärkten Orientierung an den sozialen Normen und Werten führt, bestätigen diese Präsentationspraktiken den hohen Stellenwert der motorischen Entwicklung und körperlichen Autonomie, der auch in den Interviews deutlich zum Ausdruck kam.1 Zwar habe ich es versäumt, Mütter direkt zum Alter zu befragen, ab dem Säug‑ linge Laufen lernen, sechs Mütter äußerten sich allerdings von sich aus dazu: Durchschnittlich lagen ihre Angaben bei achteinhalb Monaten, wobei eine Mutter betonte, dass das Alter je nach Kind zwischen acht und zwölf Monaten variiere. Damit lag die normative Erwartung für das Alter des Laufenlernens deutlich vor derjenigen von Eltern der US-amerikanischen Mittelschicht (zwölf Monate, vgl. Berger et al. 2007: 40). Die Beobachtungen der Säuglinge aus der Stichprobe der spot observation legen nahe, dass die meisten Kinder bereits am Ende des ersten Lebensjahres das Laufen lernen, da die zehn Kinder im Alter zwischen elf und 13 Monaten bereits dazu in der Lage waren. Die drei Kinder zwischen acht und zehn Monaten konnten bereits frei stehen, eines von ihnen auch laufen. Damit lässt sich der oben beschriebene Zusammenhang zwischen der moto‑ rischen Entwicklung und der raschen Abnahme von Körperkontakt in den ersten Lebensjahren weiter erhellen: Indem Körperkontakt die motorische Entwicklung fördert, ermöglicht das anfänglich hohe Maß an Körperkontakt gerade eine rasche Reduzierung desselben. Von den eher beiläufigen Formen der Körperstimulation richte ich zuletzt den Blick auf solche, die den Charakter einer Interaktion haben, indem die Bezugs‑ person ihre volle Aufmerksamkeit auf das Kind richtet. Ein Beispiel aus dem deut‑ schen Kontext ist das Bewegungsspiel »Hoppe, hoppe Reiter«, das zugleich auf das Hervorrufen positiver Emotionen zielt. Bei der Vorbereitung einer experimentellen Studie zur Entwicklung des Lächelns und Lachens im Säuglingsalter2 ging ich ge‑ zielt der Frage nach, ob in der Forschungsregion vergleichbare Bewegungsspiele etabliert sind. So stellte sich heraus, dass meinen Gesprächspartnerinnen eine Interaktionsform mit der Bezeichnung kidrotsy bekannt war. Dabei werden Babys in den ersten Lebensmonaten rücklings auf den Händen gehalten und waagerecht geschaukelt; etwas ältere Säuglinge werden an der Seite gehalten und auf- und nie‑ dergeschwenkt. Im Alltag von Menamaty konnte ich diese Praxis allerdings nur einmal bei einem Jugendlichen beobachten, der seine zwei Monate alte Nichte waa‑ gerecht auf den Händen schaukelte. Die einzige, auch im Alltag wiederholt zu beobachtende Form der interaktiven, fokussierten Körperstimulation bestand darin, den Säugling zum Tanzen zu ani‑ 1 | Wie bereits im 3. Kapitel erwähnt, zogen es auch ältere Kinder und Erwachsene vor, in aufrechter Position fotografiert zu werden, und sie brachten wiederholt den Wunsch zum Ausdruck, dass ihr ganzer Körper auf dem Abbild zu sehen sein sollte. 2 | Aus Platzgründen kann diese Lächel-Studie in der vorliegenden Arbeit nicht ausführlich dargestellt werden.

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

mieren (mapitsinjaky), was den Müttern und Babysittern zufolge gleichermaßen dazu diente, weinende Kinder zu trösten und sie in Bewegung zu versetzen. Diese intensive, mit voller Zuwendung einhergehende Form der Körperanimation war zwar im Alltag relativ selten und im Rahmen der spot observation überhaupt nicht zu beobachten, jedoch dürfte sie aufgrund der Intensität durchaus von Bedeutung für die Erfahrung von Kindern sein. Die jüngsten Säuglinge sitzen dabei auf dem Schoß der Bezugsperson in derselben Blickrichtung wie diese, während sie in einem schnellen, ihren ganzen Körper ergreifenden Rhythmus vor dem Bauch des Säuglings klatscht und manchmal dazu singt. Auf dem Boden sitzende Säuglinge im Alter von weniger als einem Jahr konnten dabei beobachtet werden, wie sie zu einer solchen rhythmischen Animation selbständig mit dem Oberkörper zu wip‑ pen und teilweise sogar andeutungsweise zu klatschen begannen. Einige Kinder im Alter zwischen acht und zehn Monaten wurden auf diese Weise dazu animiert, sich aufzurichten und im Stehen zu wippen. Zwei‑ oder dreijährige Kleinkinder waren bei festlichen Anlässen, wie etwa einem Besessenheitsritual (bilo), häufig beim Tanzen zu beobachten. Von den oben beschriebenen, beruhigenden Praktiken der Körperstimulation über das animierende Klatschen und Singen bis hin zum selbständigen Tanzen am Ende des ersten Lebensjahres zeigt sich eine deutliche Kontinuität, insbesondere was den schnellen, gleichmäßigen Rhythmus betrifft. Auch die in der Forschungs‑ region überaus populäre Musikrichtung des kilalaky entspricht, soweit ich dies be‑ urteilen kann, diesem schnellen, gleichmäßigen Rhythmus.3 Die Vermutung liegt nahe, dass die sensomotorischen und sozialen Erfahrungen der rhythmischen Kör‑ perstimulation im Säuglingsalter die Bedeutung und das Erleben des Tanzens und der Rhythmik in hohem Maße vorprägen.4 Zumindest die Praxis des mapitsinjaky, des Animierens zum Tanzen, findet sich in sehr ähnlicher Form beim bilo wieder, das in der Forschungsregion die häufigste festliche Veranstaltung darstellt. Zur Behandlung eines psycho-sozialen Leidens wird hierbei eine jugendliche oder erwachsene Person in einen Zustand der ›Besessenheit‹5 versetzt, der über mehrere Tage bis zur offiziellen Heilung auf‑ rechterhalten wird. Um die zu behandelnde Person in die ›Besessenheit‹ zu über‑ führen, singt und klatscht eine Gruppe von Frauen und Kindern so lange in einem schnellen Rhythmus, bis sich die zu heilende Person erhebt und zu tanzen (mitsinjaky) beginnt, womit sie als besessen gilt. Dieses Ritual zu imitieren, war auch ein beliebtes Rollenspiel von Kindern, wobei für die Rolle der besessenen und tanzen‑ 3 | Der schnelle, dominante Rhythmus des kilalaky hebt sich deutlich von der melodiöseren Popmusik des madagassischen Hochlandes ab. Letztere war zwar aufgrund von Tonträgern in der Forschungsregion bekannt, jedoch nicht sonderlich beliebt. Meine Fragen an mehrere Personen, warum sie die melodiöse Musik des Hochlandes nicht mochten, wurden einhellig damit beantwortet, dass sie zu langsam sei und man dazu nicht tanzen könne. 4 | Dass die rhythmischen Charakteristika der Körperstimulation im Säuglingsalter mit Vorlieben für entsprechende Musikrhythmen korrespondieren, konnte Barbara Ayres (1973) in einem breit angelegten Kulturvergleich statistisch untermauern. 5 | Der lokalen Konzeption zufolge ergreifen während des bilo die helo (bestimmte Geistwesen) Besitz von der betroffenen Person, womit der Begriff der ›Besessenheit‹ durchaus angemessen erscheint. Kurze Beschreibungen zum bilo finden sich bei Elli (1993: 116-119), Faublée (106-108) und Huntington (1988: 113-118).

7. Betreuungspraktiken und Interaktionsmuster in den ersten drei Lebensjahren

den Person meist Kleinkinder ausgewählt wurden. Die Parallelen zwischen dem beschriebenen mapitsinjaky von Säuglingen oder Kleinkindern im Rahmen der Körperstimulation und von Jugendlichen oder Erwachsenen im Rahmen des bilo betreffen also die animierende Rhythmik, das Aufrichten und Tanzen der Fokus‑ person und das Aufheben von Distress bzw. eines emotionalen Leidens. Ob sich das Erleben beim bilo aus impliziten Erinnerungen an die sensomotorischen und sozialen Erfahrungen im Säuglingsalter speist, kann auf der Basis meines Mate‑ rials nicht beantwortet werden. In der Retrospektive verglichen mehrere Personen den Zustand der Besessenheit jedenfalls mit einem äußerst angenehmen Traum.

Zusammenfassung und Diskussion Psychologischen Konzeptionen und Studien zufolge ermöglicht Körperkontakt Kindern die Erfahrung von emotional warmth (Keller 2007: 17). Keller gibt die Be‑ deutung dieses Konzepts folgendermaßen wieder: »Warmth is described as giving and expressing affection and positive affective exchange […], openness and acces‑ sibility […], nurturance, understanding, and empathy« (2007: 26). Auch in Eth‑ notheorien und Werten von Mittelschichtsangehörigen industrialisierter Staaten spiegelt sich diese Bedeutung des Körperkontakts deutlich wider. So fasst Keller die Sichtweisen von Müttern aus Los Angeles wie folgt zusammen: »[T]he body con‑ tact, the touching […] is an enabling condition for face-to-face contact, for exchang‑ ing positive interactional signals, and for conversation and dialog.« (2007: 129). Auch in der deutschen Sprache verbreitete Ausdrücke wie Liebkosen, Kuscheln, Herzen, oder Schmusen beziehen sich auf Formen von Körperkontakt, die offenbar direkt mit dem Ausdruck positiver Emotionen, Liebe, Zuneigung, Nähe oder Sym‑ pathie assoziiert werden. Es liegt auf der Hand, dass sich Eltern auch im Umgang mit ihren Säuglingen und älteren Kindern an derartigen emotionalen Modellen des Körperkontakts orientieren und damit ihren Kindern zugleich entsprechende Bedeutungen des Körperkontakts vermitteln. Übertrüge man eine solche Bedeutung des Körperkontakts auf die Säuglinge aus Menamaty, so käme man zu dem Schluss, dass diese ein viel höheres Maß an emotionaler ›Wärme‹, Zuneigung und Liebe genießen als ihre Altersgenossen in industrialisierten Gesellschaften. Mehrere Studien haben ergeben, dass Säuglinge aus den USA, Japan, Großbritannien und den Niederlanden in den ersten Lebens‑ monaten lediglich 10 bis 20 Prozent ihres Wachzustandes Körperkontakt erleben (s. Hewlett 1996). Demgegenüber erfahren die Säuglinge in Menamaty mit 80 Pro‑ zent vier‑ bis achtmal so viel Körperkontakt. Wohlgemerkt repräsentieren sie damit keineswegs einen exzeptionellen oder ›exotischen‹ Fall: Ethnografischen Studien zufolge wurden Säuglinge aus chinesischen, malaiischen und tamilischen Kontex‑ ten zu 50 Prozent, Säuglinge der Aka zu 70 und solche der !Kung gar zu 90 Prozent der Tageszeit von Bezugspersonen gehalten, getragen oder berührt (Hewlett 1996). Bemerkenswerterweise berichten LeVine et al. (1994) für die Gusii aus Kenia, die wie die Bara eine agropastorale Subsistenzwirtschaft betreiben, mit 80 Prozent ge‑ nau denselben Zeitanteil an Körperkontakt. Wie LeVine et al. (1994: 9) bemerken, haben Kulturanthropologen die spezifi‑ sche Bedeutung körperlicher Zuwendung in ihren Herkunftskontexten tatsächlich immer wieder direkt auf die Körperpraktiken in den untersuchten soziokulturellen Kontexten übertragen und die Beobachtung einer kontinuierlichen körperlichen

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Nähe gegenüber Säuglingen als Ausdruck eines außerordentlich hohen Maßes an affection, indulgence oder gar overindulgence interpretiert. Ich gehe allerdings davon aus, dass Körperkontakt nicht notwendigerweise als Ausdruck emotionaler ›Wär‑ me‹ und Zuwendung erlebt und sozialisiert wird. Bei den Begriffen der emotiona‑ len ›Wärme‹ oder ›Herzlichkeit‹ handelt es sich offenbar um Metaphern, die einen zentralen Stellenwert in den Alltagstheorien der westlichen Mittelschicht einneh‑ men und in den wissenschaftlichen Kontext übergegangen sind. Mit Blick auf die Kinder von Menamaty halte ich die Interpretation des Körperkontakts als Ausdruck emotionaler Wärme aus verschiedenen, im Folgenden darzulegenden Gründen für problematisch. Auf der Basis der Annahme, dass Körperkontakt per se emotionale ›Wärme‹ zwischen Interaktionspartnern vermittelt, wären die Erfahrungen der madagassi‑ schen Kinder mit Körperkontakt in den ersten Lebensjahren kaum als sinnvoller Entwicklungspfad zu begreifen. Wie die Daten und Alltagsbeobachtungen zeigen, bleibt es nicht bei dem anfänglich hohen Maß an Körperkontakt; vielmehr geht er rasch zurück, und schon Kleinkindern bieten Bezugspersonen nahezu keinen Kör‑ perkontakt mehr. Kleinkinder lernen damit nicht nur, auf Körperkontakt mit Älteren inklusive der Mütter gänzlich zu verzichten, sondern auch, stets eine körperliche Distanz ihnen gegenüber einzuhalten. Im 3. Kapitel zu den hierarchischen Bezie‑ hungen wurde deutlich, dass selbst im Rahmen von Interaktionen wie Begrüßun‑ gen oder Verabschiedungen, die in westlichen Kontexten einen wichtigen Anlass für Körperkontakt darstellen (etwa durch Wangenkuss, Umarmung oder Händeschüt‑ teln), körperliche Distanz betont wird. Würden nun die Mütter von Menamaty im Umgang mit ihren Säuglingen Körperkontakt als Ausdrucksmedium für emotionale Wärme, Zuneigung und Liebe kultivieren und etablieren, so wäre mit drastischen Enttäuschungen oder gar traumatischen Erfahrungen beim Übergang ins Klein‑ kindalter zu rechnen. Tatsächlich haben verschiedene psychoanalytisch orientier‑ te Ethnologen für mehrere Gesellschaften einen solchen traumatischen Bruch in der Mutter-Kind-Beziehung konstatiert, so etwa Kakar für die indische Gesellschaft (1981). James und Jane Ritchie (1979: 57) unterstellten gar den polynesischen Gesell‑ schaften insgesamt eine Phase der »parental rejection« im Kleinkindalter, und Ro‑ bert Levy (1978: 226) prägte im Hinblick auf tahitianische Kleinkinder den Ausdruck »disindulgence«. Hinsichtlich der Kinder aus Menamaty spricht allerdings wenig dafür, dass die körperliche Distanzierung gegenüber den Erwachsenen im Über‑ gang zum Kleinkindalter gravierende sozio-emotionale Verwerfungen nach sich zieht. Die zur Distanzierung befragten Mütter sahen diese nicht als schmerzhaften Prozess an, sondern betonten vielmehr, dass es auch die Kinder vorzögen, sich der Gesellschaft der Spielgefährten anzuschließen. Im Rahmen der systematischen Be‑ obachtungen zeigten sich nur wenige Kinder im zweiten Lebensjahr vorrüberge‑ hend anhänglich gegenüber Erwachsenen, die meisten Kinder schienen vielmehr auf eigene Initiative hin die Gesellschaft ihrer Peers zu suchen. Unabhängig von diesem auf die kindliche Entwicklung bezogenen Argument sprechen auch die Darstellungen der Mütter zum Körperkontakt dafür, dass bei dieser Praxis etwas anderes als der explizite Ausdruck von Liebe und Zuneigung im Vordergrund steht. Zunächst ist zu bemerken, dass die nach ihren Praktiken im Umgang mit Säuglingen gefragten Mütter relativ selten Körperkontakt themati‑ sierten, was angesichts des hohen Anteils an beobachtetem Körperkontakt erstaun‑ lich ist. Dies deutet darauf hin, dass Körperkontakt als solcher nicht im Fokus der

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mütterlichen Aufmerksamkeit stand, also keineswegs als Selbstzweck, sondern in erster Linie als Bestandteil der Sorge um das körperliche Wohl der Kinder aufgefasst wurde. Dies bestätigt auch die an alle 42 Mütter gestellte Frage nach den Gründen, die ein Kind froh stimmen (mahafaly): von 181 beschriebenen Anlässen betraf ledig‑ lich einer Körperkontakt – und zwar mitrotro. Obwohl die im 5. Kapitel beschriebene Metapher der Wärme (mafana) bzw. Hit‑ ze (may) an die psychologische Metapher der emotionalen Wärme erinnert, bezieht sie sich dezidiert auf das körperliche Wohl und Wachstum des Kindes. Sie steht weniger für emotionale Zuwendung, sondern für eine Art Lebenskraft, die auf das Kind übertragen werden soll, besonders mittels der Muttermilch. Vor dem Hinter‑ grund dieser Bedeutungszuschreibung erscheinen die rasche, mit der Körperent‑ wicklung korrespondierende Abnahme und das gänzliche Versiegen des Körper‑ kontakts auch nicht als emotionale Zurückweisung. Vielmehr markieren die von Müttern hervorgehobenen motorischen Entwicklungsschritte und die sich darin manifestierende Körperkraft und Selbständigkeit ein sukzessives Nachlassen des kindlichen Bedarfs an direkter körperlicher Unterstützung und kräftigender ›Wär‑ me‹. Wie im 5. Kapitel dargestellt, sehen Mütter keinen Anlass mehr, das Kind auf dem Schoß zu halten, sobald es selbständig sitzen kann, oder es zu tragen, sobald es gut laufen kann. Die in diesem Kapitel präsentierten Daten zu den verschiede‑ nen Formen des Körperkontakts bestätigen die enge Kopplung von nachlassendem Körperkontakt und zunehmender physischer Autonomie. Freilich maßen Mütter dem Körperkontakt und insbesondere dem mikorokoro als rhythmischer Körperstimulation auch eine emotionale Bedeutung bei. Ihr Fo‑ kus lag, wie ich oben bereits deutlich gemacht habe, allerdings weniger auf dem Hervorbringen und Teilen positiver Emotionen, sondern vielmehr auf dem Trösten und Beruhigen. Auch diese Bedeutung des Körperkontakts lässt sich aus emischer Perspektive mit dem raschen Nachlassen der körperlichen Zuwendung in Einklang bringen. Aus Sicht der Mütter weinen Säuglinge in erster Linie aus Hunger und dem Bedürfnis, gestillt zu werden. Die spätestens im dritten Lebensmonat ein‑ setzende Ergänzung des Stillens durch feste Nahrung, die schließlich die Mutter‑ milch ganz ablöst (s.u.), erlaubt eine Fortsetzung des Beruhigens über die Nah‑ rungsgabe ohne dabei Körperkontakt aufzunehmen. Von besonderem Interesse ist freilich die Frage, wie Kinder selbst Körperkon‑ takt mit ihren Bezugspersonen erleben – eine Frage, deren Beantwortung einige Schwierigkeiten mit sich bringt, da Säuglinge und Kleinkinder diese Erfahrungen schwerlich in Worte kleiden können. Einige Muster des Körperkontakts legen im‑ merhin nahe, dass Kinder diese Form der Zuwendung tatsächlich in einer Weise erfahren, die den Sichtweisen der Mütter nahekommt: Die kontinuierliche körper‑ liche Zuwendung gegenüber Säuglingen dürfte die Erfahrung von Körperkontakt als Normalzustand oder Hintergrundphänomen begünstigen. Auch das oben be‑ schriebene Muster der Aufmerksamkeitsverteilung, dem zufolge die Bezugsperson ihre Aufmerksamkeit in der Regel anderen Aktivitäten zuwendet, während sie das Kind auf dem Schoß hält oder trägt, steht der Erfahrung einer Verknüpfung von Kör‑ perkontakt und intensiver emotionaler Zuwendung entgegen. Demgegenüber kann man davon ausgehen, dass Körperkontakt in der westlichen Mittelschicht, wo er von Säuglingen lediglich zu 10 bis 20 Prozent der Tageszeit erlebt wird und folglich einen stärker episodischen Charakter hat, eine akzentuierte Erfahrung für alle Betei‑ ligten darstellt und entsprechend mehr mit ungeteilter Aufmerksamkeit und emo‑

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tionaler Zuwendung verknüpft wird. Die von den Müttern aus den madagassischen Gemeinschaften hervorgehobene instrumentelle Funktion des Körperkontakts, ihre noch nicht des freien Sitzens oder selbständigen Laufens fähigen Kinder körper‑ lich zu unterstützen, übernehmen in industrialisierten Kontexten Gerätschaften wie Wiegen, Kindersitze oder ‑wagen, weshalb das Aufnehmen von Körperkontakt häu‑ figer mit einer dezidierten Aufmerksamkeitszuwendung einhergehen dürfte. Denkbar ist allerdings, dass im Kontext von Menamaty zwar nicht der alltäg‑ liche Körperkontakt, immerhin aber bestimmte Momente akzentuiert werden – so etwa beim Aufnehmen von Körperkontakt oder durch dezidiert liebevolle Körper‑ interaktionen. Aus der Perspektive meiner Herkunftskultur erwartet man beim Aufnehmen von Körperkontakt mit einem Säugling oder Kleinkind üblicherweise eine explizite, emotional positiv gefärbte Aufmerksamkeitszuwendung durch die Bezugsperson – etwa mittels Blickkontakt, Lächeln oder verbaler Ausdrücke der Begrüßung –, die den darauffolgenden Körperkontakt als Ausdruck einer emotio‑ nalisierten Beziehung markiert. Die zahlreichen Beobachtungen, bei denen Mütter und andere Betreuungspersonen aus Menamaty Körperkontakt aufnehmen, wider‑ sprechen dieser Erwartung eindeutig: Diese nahmen ihre Kinder in der Regel ohne ankündigende verbale Signale oder Blickkontakt auf den Schoß oder Arm, was auf‑ grund meiner eigenen Erwartungen oft ruppig oder teilnahmslos wirkte. Sofern es sich um die Mutter handelte, bot sie ihrem Kind stattdessen meist zuallererst die Brust an. Die Suche im Material der spot observation nach solchen Formen von Kör‑ perkontakt, bei denen eine liebevolle, nicht-instrumentelle Zuwendung im Vorder‑ grund steht, ergab insgesamt lediglich vier Fälle.6 In einem Fall streicht ein Vater mit der Hand über den Rücken seines zweijährigen Kindes. In den drei weiteren Fällen streicheln eine Mutter, eine Großmutter und ein etwa achtjähriger Bruder den Kopf eines Kindes, einmal zur Beruhigung und zweimal ohne ersichtlichen Anlass. Das Videomaterial zeigt, dass in keiner der vier Episoden Blickkontakt be‑ steht oder aufgenommen wird. Die Großmutter beispielsweise streichelt den Kopf der in umgekehrter Blickrichtung neben ihr stehenden zweijährigen Enkelin. Wie im 3. Kapitel zu den Beziehungsmustern dargelegt, bleibt die Berührung des Kop‑ fes eines Nachkommens nach der Entwöhnung im Kleinkindalter die einzige im Alltag beobachtete Form des Körperkontakts zwischen Alt und Jung und fungiert als Ausdruck der Segnung (mitahy) bzw. der Übertragung von Lebenskraft (ay). Auch beim Posieren für Familienporträts legten einige Väter oder Großväter die Hand auf den Kopf ihrer Kinder bzw. Enkel; in diesem Kontext hielten zudem meh‑ rere Mütter ihre Kinder am Arm, keinesfalls jedoch an der Hand (vgl. Abb. 11e). Bei der kindlichen Erfahrung von Körperkontakt mit Erwachsenen und Babysit‑ tern steht also nicht der Austausch positiver Emotionen und emotionaler Wärme im Vordergrund, sondern vielmehr die Sorge um das leibliche Wohl und die Erlangung oder Aufrechterhaltung emotionaler Ausgeglichenheit. Auch wenn Körperkontakt mit Erwachsenen im Kleinkindalter gänzlich aufhört, dürften die dabei gemachten Erfahrungen in ein hierarchisches Beziehungsmodell einfließen, dem zufolge das eigene leibliche Wohl geradezu in den Händen der Eltern und Vorfahren liegt.

6 | Dabei kam der Code cuddle zur Anwendung. Da die Einschätzung dieser Form der körperlichen Zuwendung in hohem Maße subjektiven Vorprägungen und Erwartungen unterliegt, wurde die Codierung zusätzlich von einer Kollegin durchgeführt.

7. Betreuungspraktiken und Interaktionsmuster in den ersten drei Lebensjahren

Während, wie oben dargelegt, Kulturanthropologen das im jeweiligen Kontext beobachtete hohe Maß an Körperkontakt und körperlicher Zuwendung immer wie‑ der als Ausdruck intensiver emotionaler Zuneigung interpretierten, kommt Gold‑ schmidt (1975) im Hinblick auf die pastorale Gesellschaft der in Uganda lebenden Sebei zu einem entgegengesetzten Schluss. Auf der Basis einer Analyse selbst auf‑ genommener Fotografien von Kindern in Körperkontakt mit Erwachsenen betont er, dass diese ihre Kinder in der Regel weder anblickten noch in einer nicht-instru‑ mentellen Weise berührten. Er sieht in den Bildern »disengaged mothers« (1975: 160) oder »an absent mother – an emotionally absent mother« (162) und bezieht dies auf »the low level of interpersonal affect […] characteristic of the Sebei« (159). Zwar treffen die Beobachtungen, dass Mütter bei den Sebei ihre Kinder kaum lieb‑ kosen (»fondel«) oder wenig Blickkontakt zu ihnen suchen, auch auf die Mütter von Menamaty zu, jedoch bedeutet dies nicht, dass sie emotional unbeteiligt wären, oder dass Körperkontakt für Kinder eine geringe emotionale Bedeutung habe. Viel‑ mehr spielen die Praktiken des Körperkontakts und insbesondere jene der Körper‑ stimulation eine wichtige Rolle bei der Beruhigung negativer Emotionen, womit Körperkontakt weniger in Verbindung mit starken positiven Emotionen erfahren wird, sondern vielmehr mit einem ›klaren Herzen‹ (mangoa fo) oder ›friedlichen Herzen‹ (miada fo), mit positiven Stimmungen also, die Mütter als Idealzustand für Säuglinge beschrieben. Es liegt auf der Hand, dass mit der gänzlichen körperlichen Entwöhnung von den Betreuungspersonen im Kleinkindalter Körperkontakt als solcher nicht mehr als Mittel der Beruhigung oder als Erfahrungsmedium emotionaler Ausgeglichen‑ heit fungieren kann. Wie ich im folgenden Unterkapitel anhand des Stillens und der Ernährung zeigen werde, spricht einiges dafür, dass Kinder die emotionale Bedeutung des Körperkontakts auf das Erhalten von Nahrung und später auf die abstrakteren Konzepte einer kontinuierlich von den Eltern und Vorfahren ausge‑ henden Lebenskraft (ay) übertragen. Die Praktiken der Körperstimulation als in‑ tensivierter Form von Körperkontakt, die am Ende des ersten Lebensjahres fließend in Praktiken der Tanzanimation übergehen, lassen noch weitere Konsequenzen des Körperkontakts vermuten: Aus den Erfahrungen rhythmischen Bewegtwerdens durch Körperkontakt entwickeln sich im Übergang zum zweiten Lebensjahr offen‑ bar entsprechende Muster der Selbstbewegung, womit es plausibel erscheint, dass beim Tanzen die frühkindlichen Betreuungserfahrungen mitschwingen oder gar reaktiviert werden können – etwa im Rahmen von Besessenheitsritualen. Was die Bedeutung des Körperkontakts als Ausdrucks- und Erfahrungsme‑ dium für Liebe, Zuneigung oder Sympathie angeht, so scheint diese zwar in den hierarchischen Beziehungen kaum eine Rolle zu spielen, dafür aber umso mehr in den Peer-Interaktionen. Im Abschnitt zur »Berührung mit den Händen« hat sich gezeigt, dass Kleinkinder diese episodische, reziproke und nicht-instrumentelle Form des Körperkontakts, die im Gegensatz zu den anderen Formen mit zuneh‑ mendem Alter eher zunimmt, vor allem mit Gleichaltrigen erleben. Im 3. Kapitel habe ich zudem darauf hingewiesen, dass befreundete Kinder oder Jugendliche ihre Zuneigung zueinander durch Händchenhalten und andere Formen des Be‑ rührens zum Ausdruck bringen. Dies spricht dafür, dass Kinder Körperkontakt in Interaktionen mit Gleichaltrigen als Ausdrucksmedium für emotionale Nähe und Zuneigung erleben, erlernen und einsetzen, womit sich die Bedeutung des Körper‑ kontakts entlang sozialer Distinktionen aufzugliedern scheint.

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B e treuungspr aktiken der P rimärversorgung Dieses Betreuungssystem umfasst nach Keller (2007: 15) sämtliche Praktiken, die auf grundlegende physische Bedürfnisse des heranwachsenden Kindes gerichtet sind. Die Analyse der emischen Sichtweisen hat bereits deutlich gezeigt, dass Müt‑ ter die Sorge um das körperliche Wohl der Säuglinge und Kleinkinder sowie ent‑ sprechende Praktiken als ihre Hauptaufgabe betrachteten: Von den 165 Praktiken, die Mütter auf die Fragen nach ihrem alltäglichen Umgang mit Säuglingen sowie nach ihren Pflichten diesen gegenüber beschrieben, lassen sich 137 der Primär‑ versorgung zurechnen (wobei die restlichen Praktiken vor allem das Tragen be‑ trafen). Im Einzelnen nannten Mütter das Verabreichen von stärkenden und hei‑ lenden Mitteln (8), den Umgang mit Körperausscheidungen (3), das Waschen und Baden (32), das An‑ und Entkleiden (12), das Stillen, Füttern bzw. Bereitstellen von Nahrungsmitteln (82) sowie nicht spezifizierte Betreuungsformen mit dem Ziel, das Kind am Leben zu erhalten. Im Folgenden werde ich zunächst die zuerst ge‑ nannten Praktiken kurz beschreiben, um dann ausführlicher auf die Praktiken des Stillens und der Ernährung einzugehen, weil diese offenbar einen besonderen Stellenwert im Betreuungsmodell der Mütter einnehmen. Abbildung 12: Maroa wäscht ihre Tochter (2 Mon.) mit warmem Wasser. In den ersten drei Monaten nach der Geburt (tsabely-Phase) achten Mütter darauf, ihr Kind möglichst permanent mit Wärme zu umgeben, damit es gesund bleibt und stark wird. Entsprechend werden Neugeborene nicht nur mit warmem Wasser gewaschen, sondern auch kontinuierlich am Körper getragen und mit ›heißer Muttermilch‹ (ronono mafana) genährt.

7. Betreuungspraktiken und Interaktionsmuster in den ersten drei Lebensjahren

Abbildung 13: Stillen ist in Menamaty mit den meisten Aktivitäten und mit sämtlichen sozialen Kontexten kompatibel. Dies erlaubt Müttern eine konsequente Orientierung des Stillens an den Bedarfs- und Distress-Äußerungen des Kindes, womit das Stillen als primäre Form der Emotionsregulation fungiert.

Abbildung 14: Spätestens ab dem Alter von drei Monaten erhalten Säuglinge Beikost. Kinder, die bereits abgestillt sind und nicht mehr gefüttert werden, tragen in Gesellschaft ihrer Peers häufig ein Stück Maniok über viele Stunden in der Hand, das sie von einer Betreuungsperson erhalten haben.

Praktiken der Körperpflege Mütter, die ich nach ihren Sorgen und ihrer Zufriedenheit im Hinblick auf ihre Säuglinge befragte, thematisierten fast ausschließlich die Gefahr von Krankheiten oder Verletzungen bzw. eine robuste Gesundheit. Die auch aus einer etischen Per‑ spektive nahvollziehbare Vulnerabilität von Säuglingen führten sie in erster Linie auf die Durchlässigkeit des Körpers zurück, und sie machten dies zum einen an der als rötlich (und folglich besonders dünn) erscheinenden Haut von Neugebo‑ renen und zum anderen an den noch offenen und pulsierenden Fontanellen fest. Zwar waren aus Sicht der Mütter sämtliche Betreuungspraktiken auf das über‑ geordnete Ziel gerichtet, die Gesundheit ihrer Kinder aufrechtzuerhalten oder zu

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stärken, jedoch wurden auch spezielle ›madagassische‹ Heilmittel (aody, fagnafody gasy) und ›fremde‹ Mittel ( fagnafody vazaha) eingesetzt. Unter den fagnafody gasy kam häufig eine Paste aus geriebenem, mit Wasser vermischtem Holz (tabaky) zum Einsatz, die in einem Halbkreis auf die Stirn und Fontanelle des Kindes aufgetragen wurde. Dieses sollte im Allgemeinen ein schnelles Aushärten des Schädels begünstigen und als eine Art Schutzschild gegen bestimmte Buschgeister (sagnatry) fungieren. Hinzu kam ein von fast allen Säug‑ lingen permanent um den Hals getragenes Beutelchen (vo), das einen Pakt mit Ah‑ nengeistern zum Schutz des Säuglings besiegeln sollte und mit der Auferlegung eines Tabus ( fady aody) verbunden war.7 Bei akuten Erkrankungen oder Schmerzen wurden auch synthetische Medikamente verwendet, die im Verwaltungsort Iloto und teilweise auch im Dorfladen erhältlich waren. Die Wirkung dieser Medika‑ mente wurde auf eine ihnen innewohnende unspezifische Kraft zurückgeführt, weshalb sie nicht immer in einer Weise verwendet wurden, die der Zwecksetzung der Hersteller entsprach. Obwohl die Säuglinge aus Menamaty immer wieder er‑ krankten und teilweise merklich geschwächt erschienen, kamen sie während mei‑ ner Feldforschungsaufenthalte alle wieder zu Kräften. Mit Ausnahme eines ver‑ unglückten Kindes waren alle 45 Kinder der Stichprobe ein Jahr nach der ersten Erhebung am Leben und augenscheinlich bei guter Gesundheit. Neben den direkt auf die Gesundheit bezogenen Praktiken thematisierten drei der zu ihren Pflichten im Umgang mit Säuglingen befragten Mütter auch die Auf‑ gabe, Säuglinge beim Umgang mit Körperausscheidungen zu unterstützen und anzuleiten.8 Verschiedene Beobachtungen legen nahe, dass Kinder tatsächlich schon im ersten Lebensjahr in einer beiläufigen Weise lernen, ihre Ausscheidun‑ gen zu einem gewissen Grad zu kontrollieren. Säuglinge in den ersten drei Lebens‑ monaten trugen in der Regel noch ein windelähnliches Stofftuch, das die Mutter oder eine andere Betreuungsperson vor einer Beschmutzung durch die Ausschei‑ dungen des Kindes schützen sollte. Da ein solches Tuch nur bedingt Flüssigkeit aufsaugen konnte, wurden Säuglinge, die begannen, Wasser zu lassen, umgehend weggehalten, sodass der Urin nicht über den Schoß der Betreuungsperson floss, sondern entweder auf den saugfähigen Lehmboden eines Innenraumes oder auf den Sandboden im Freien gelangte, woraufhin die feuchte Stelle mit einer Fuß‑ bewegung überdeckt wurde. Einige Bezugspersonen äußerten dabei einen charak‑ teristischen Ausdruck des Unmuts oder Überdrusses (sosotsy/botsy), der, wie oben 7 | Eines dieser individuellen und für den Zeitraum der Wirksamkeit des Schutzes festgelegtes fady bestand beispielsweise darin, dass der Säugling keinen Körperkontakt mit einer anderen Person als der Mutter haben durfte. Verletzungen des fady wurden mit der Zahlung eines kleinen Geldbetrages abgegolten. 8 | Der Umgang mit körperlichen Ausscheidungen und Sauberkeit wurde in älteren ethnologischen Sozialisationsstudien eingehend unter dem Stichwort toilet training behandelt (z.B. Whiting & Child 1953: 73-77), da diesen Praktiken im Zusammenhang mit dem psychoanalytischen Konzept der analen Phase ein entscheidender Einfluss auf die psychosoziale Entwicklung zugeschrieben wurde. Diese theoretische Voraussetzung übernehme ich hier allerdings nicht, zumal Whiting (1994: 24) diese aufgrund der Inkongruenz zwischen dem psychoanalytischen Entwicklungsmodell und Beobachtungen in verschiedenen Gesellschaften selbst verwarf. Vielmehr orientiere ich mich in der Beschreibung in erster Linie an den mütterlichen Konzepten und beziehe diese auf meine Alltagsbeobachtungen.

7. Betreuungspraktiken und Interaktionsmuster in den ersten drei Lebensjahren

erwähnt, auch dann gelegentlich zu hören war, wenn sich Bezugspersonen durch Kleinkinder belästigt fühlten. Alle zehn Säuglinge im Alter zwischen drei und sechs Monaten aus der Stich‑ probe der spot observation trugen nicht mehr das beschriebene Stofftuch, sondern waren in der Regel mit einer kurzen Hose (Mädchen und Jungen) oder einem Rock bzw. Kleid (nur Mädchen) bekleidet. Dies deutet darauf hin, dass die Beschmut‑ zungsgefahr in diesem Alter bereits weitgehend gebannt ist. Tatsächlich konnte ich bei Kindern in diesem Alter im Unterschied zu jüngeren nicht mehr beobachten, wie sie sich auf dem Schoß oder auf der Hüfte einer Bezugsperson zu erleichtern begannen. Es liegt auf der Hand, dass der beschriebene Umgang mit Körperaus‑ scheidungen entsprechende Lerngelegenheiten bietet: Einerseits sind Bezugsper‑ sonen aufgrund der Beschmutzungsgefahr motiviert, möglichst umgehend auf Körperausscheidungen oder vorausgehende Anzeichen der Säuglinge zu reagieren. Andererseits dürften Säuglinge aufgrund der unmittelbaren Reaktionen ihrer Be‑ zugsperson lernen, das bevorstehende Ereignis hinauszuzögern und zu signali‑ sieren. Der nahezu permanente Körperkontakt ist auf beiden Seiten offenbar eine wichtige Voraussetzung für das Einüben dieser Körperkommunikation. Wie mehrere zufällige Beobachtungen zeigen, werden drei bis etwa zwölf Mo‑ nate alte Kinder zum ›Stuhlgang‹9 auf die Füße der Betreuungsperson gesetzt, die auf dem Boden hockt und durch das Anwinkeln ihrer Füße dem Säugling eine erhöhte Sitzposition bietet. Bei dieser Form der Betreuung waren ausschließlich Mütter zu beobachten. Sobald Kinder ab dem zweiten Lebensjahr laufen können und damit in der Lage sind, selber die erforderliche Körperposition einzunehmen, erhalten sie diese Unterstützung nicht mehr und defäkieren weitgehend selbstän‑ dig am Dorfrand, werden danach allerdings von der Mutter gesäubert. Dabei ver‑ wenden sie einen Stock (der auch bei Erwachsenen zum Einsatz kommt), zudem wurden Säuglinge zusätzlich mindestens einmal pro Tag gewaschen oder gebadet. Wesentlich häufiger als die Defäkation thematisierten Mütter die Aufgabe, das Kind zu waschen (manasa) oder zu baden (mapoandro). In den ersten drei Lebens‑ monaten legt die sitzende Mutter das Kind auf ihre ausgestreckten Unterschenkel reibt es mit der Hand und warmem Wasser ab (s. Abb. 12). Es sei drauf hingewiesen, dass Mütter das Waschen oder Baden auch als eine Methode der Beruhigung von Säuglingen im ersten Lebensjahr thematisierten. Bei Kindern, die bereits laufen konnten, wurde das Baden allerdings nicht mehr zur Beruhigung eingesetzt. In einigen Fällen wimmerten die Kinder leicht, während sie im Stehen von ihren Müt‑ tern mit kaltem Wasser übergossen und abgerieben wurden. Dennoch verhielten sie sich in allen beobachteten Episoden kooperativ und befolgten stets die knappen mütterlichen Anweisungen, etwa einen Fuß zu heben, sich zu bücken oder um‑ zudrehen. Bemerkenswert ist, dass Mütter in diesen Kontexten auf die klagenden Appelle ihrer Kinder nicht in einer beschwichtigenden Weise reagierten, vielmehr in einigen Fällen Verärgerung zum Ausdruck brachten. Dieses Verhalten scheint 9 | In Bezug auf Kinder wird für die Defäkation eine direkte, unverblümte Bezeichnung verwendet (mangery, ›kacken‹), im Hinblick auf Erwachsene hingegen sind indirekte Bezeichnungen gebräuchlich, die sich wie im Deutschen auf den Ort des Geschehens beziehen. Allerdings wird dabei nicht auf einen geschlossenen Raum verwiesen, sondern vielmehr auf eine Sphäre außerhalb des Dorfes: mandeha ambadiky/amoto – »auf die andere Seite/nach draußen (außerhalb des Dorfes) gehen.«

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dem von Müttern immer wieder betonten Imperativ zu widersprechen, Säuglin‑ ge möglichst umgehend zu beruhigen. Allerdings machten Mütter auch deutlich, dass Säuglinge in erster Linie aus Hunger weinen (sollten) und sie nannten als Bei‑ spiele für schlechtes Säuglingsverhalten ein unbegründetes Weinen. Es liegt nahe zu vermuten, dass sie das Jammern beim Baden aufgrund des kalten Wassers als ungerechtfertigt ansahen und deshalb nicht beschwichtigend darauf reagierten. Als weitere Betreuungsaufgabe beschrieben 12 der 42 befragten Mütter von Menamaty das Bereitstellen von Kleidung und die Unterstützung beim An‑ und Entkleiden. Mütter orientierten sich beim Einkleiden ihrer Kinder an unterschied‑ lichen Erfordernissen: In den ersten drei Lebensmonaten der Kinder war die Si‑ cherstellung kontinuierlicher Wärme von zentraler Bedeutung, da diese, wie be‑ schrieben, in den Augen der Bezugspersonen dem Neugeborenen die erforderliche Kraft und Vitalität verleiht. Neugeborene befanden sich also in der Regel mit der Mutter zusammen unter einer dicken Decke und waren darunter, abgesehen von dem windelartigen Tuch, unbekleidet oder trugen allenfalls noch ein Hemd. Wie oben deutlich wurde, passten Mütter die Kleidung auch an den Stand der ›Ausschei‑ dungskontrolle‹ an, die sich offensichtlich bereits ab dem Alter von drei Monaten so weit entwickelt hatte, dass Mütter die Windel wegließen und ihr Kind mit Kleidung versahen. Darüber hinaus suchten Bezugspersonen auch die unnötige Entblößung der Geschlechtsorgane oder des Gesäßes ihrer Kinder zu vermeiden. Wenn nackte oder unvollständig bekleidete Kinder etwa auf allen Vieren krabbelten und dabei ihr Gesäß präsentierten oder beim Sitzen bzw. Liegen die Beine allzu sehr spreiz‑ ten, veranlasste dies Bezugspersonen in der Regel dazu, die Kleidung zurechtzurü‑ cken oder dem Kind etwas anzuziehen. Kleinkinder wurden immer wieder verbal aufgefordert, ein derartiges Verhalten zu unterlassen. Dabei war weniger Nacktheit als solche problematisch – schließlich wurden Säuglinge und Kleinkinder auch beim Waschen in der Dorföffentlichkeit entkleidet. Wie im 3. Kapitel beschrieben, sind diese Körperpartien mit einer negativen Konnotation behaftet, womit Kinder möglichst früh lernen sollen, aus Respektsgründen ihre Präsentation gegenüber Älteren zu unterlassen. Wie beim Baden waren Säuglinge beim An‑ und Entkleiden in hohem Maße kooperativ: Alle 15 im Rahmen der spot observation zufällig gefilmten Episoden zei‑ gen, dass Säuglinge die Prozedur vollkommen klaglos über sich ergehen ließen und die Bezugsperson dabei unterstützen, indem sie etwa die Arme hoben, um in das Hemd zu schlüpfen. Nie war zu beobachten, dass sich ein Kind in irgendeiner Weise dagegen sträubte. Eine weitere Übereinstimmung mit den Waschepisoden besteht darin, dass das Ankleiden einen deutlich asymmetrischen Charakter hat‑ te und nicht etwa in eine reziproke Interaktion eingebunden wurde: Des Laufens fähige Säuglinge standen dazu mit dem Rücken zur ebenfalls stehenden Bezugs‑ person, die sich nur soweit wie erforderlich herabbeugten, um die Kleidung hinzu‑ halten. Ihre knappen Anweisungen befolgten die beobachteten Kinder stets umge‑ hend. Eine kommunikative Einrahmung des Geschehens, dezidiertes Aufnehmen von Blickkontakt oder gar Versuche, die Interaktion in eine positive Emotionalität einzubetten, waren dabei nicht zu beobachten. Die von Müttern in den Interviews betonten Entwicklungsziele einer möglichst frühzeitigen Ausbildung motorischer Kompetenzen und physischer Autonomie be‑ traf nicht nur das Stehen und Laufen, sondern auch die Körperpflege. Entsprechend waren Kleinkinder bereits in der Lage, selbständig ihre Bedürfnisse zu verrichten,

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sich zu säubern und am Fluss in Begleitung von älteren Kindern zu waschen und sich selbständig aus‑ oder anzuziehen. Während die Körperpflege bei Säuglingen und Kleinkindern in westlichen Kontexten eng mit Konzepten der Hygiene verbunden ist, stehen in Menamaty dabei vor allem soziale Aspekte im Vordergrund. Wie ich im 3. Kapitel deutlich gemacht habe, wird die Leiblichkeit in einen engen Bezug zur sozialen, altersbe‑ dingten Hierarchie gesetzt. Die Jüngeren werden mit den Extremitäten oder dem Gesäß assoziiert und damit den unteren Positionen in der sozialen Körperschaft der Abstammungsgruppe zugeordnet, wohingegen die Älteren eher das Haupt re‑ präsentierten. Säuglinge werden besonders durch ihre Leiblichkeit definiert und mit Schmutz in Verbindung gebracht, was sich etwa in beliebten Rufnamen wi‑ derspiegelt (z.B. Loto, wörtlich: Schmutz) und Männer nach eigenem Bekunden dazu veranlasst, sich im Alltag von Säuglingen (und Müttern) fernzuhalten. Wie sich gezeigt hat, wird von Kindern mit zunehmendem Alter erwartet, selbständig die mit dieser sozio-physischen Symbolik verbunden Respektsgebote zu beachten, auch gegenüber der Mutter. Dazu gehört nicht nur die Wahrung einer körperli‑ chen Distanz gegenüber Respektspersonen, also allen Älteren, sondern auch die Kontrolle der eigenen Leiblichkeit. Die ausgeprägte Förderung einer frühzeitigen selbständigen Körperpflege ist also nicht nur vor dem Hintergrund pragmatischer Anliegen zu sehen (Reduzierung des Betreuungsaufwandes), sondern bereitet Kin‑ der zugleich darauf vor, sich in die soziale Hierarchie der Abstammungsgruppe einzufügen und damit allmählich einen Status als Person zu erwerben.

Praxis des Stillens Wie bereits im 5. Kapitel zu den Perspektiven der Mütter und Babysitter deutlich wurde, steht die Praxis des Stillens im Zentrum des lokalen Modells der Säuglings‑ betreuung: Mütter beschrieben das Stillen als vorzügliches und teilweise sogar allein wirksames Mittel zur Realisierung der von ihnen priorisierten Entwicklungsziele einer raschen Gewichtszunahme sowie einer schnellen körperlichen Entwicklung als Voraussetzung robuster Gesundheit. Zudem beschrieben sie das Stillen als ge‑ eignetste Methode der Emotionsregulation nach Maßgabe des lokalen Ideals eines ruhigen, ausgeglichenen Säuglings, da in ihren Darstellungen Säuglinge vor allem aufgrund eines Bedürfnisses nach Muttermilch weinten. Mit der Begründung, dass allein die Mütter stillen und damit sämtliche Bedürfnisse von Säuglingen erfüllen können, beschrieben sich Mütter als wichtigste Betreuungsperson von Säuglingen, was sich auch aus der Perspektive von Babysittern bestätigte. Eine gute Mutter zeich‑ net sich den Interviews zufolge nicht nur durch ein möglichst häufiges Stillen aus, sondern auch durch eine ›heiße Brust‹ (nono mafana), die das Kind besonders effek‑ tiv nährt und ihm die nötige Lebenskraft (ay, hery) verleiht. Den Daten der spot observation zufolge verbrachten die drei bis sechs Monate alten Säuglinge rund 13 Prozent ihrer Zeit damit, an der Mutterbrust zu saugen. Dieser Wert entspricht mehr oder weniger den von Fouts et al. (2012) ermittelten Daten für Gruppen von Aka-Wildbeutern (14 Prozent) und Ngandu-Ackerbauern (11 Prozent) aus Zentralafrika. Im Hinblick auf die Rolle des Stillens bei der Emotions‑ regulation ist allerdings weniger die kumulative Dauer bedeutsam als vielmehr der Rhythmus und die Frequenz einzelner Stillepisoden. Wird das Stillen, wie es die Beschreibungen der Mütter nahelegen, als primäres Mittel der Regulation von Di‑

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stress eingesetzt, so erfordert dies häufige, unregelmäßige und relativ kurze Still‑ episoden, da sich diese am jeweiligen Zustand des Kindes orientieren. Zur Frage der Frequenz und Dauer einzelner Stillepisoden ermöglicht die spot observation keine quantitativen Aussagen. Jedoch lässt sich auf Basis der teilnehmenden Beob‑ achtung mit einiger Gewissheit sagen, dass Säuglinge im ersten Lebensjahr mehr‑ mals pro Stunde, dafür aber nur über wenige Minuten und häufig auch nur für wenige Sekunden gestillt wurden. Damit entspricht die Stillfrequenz in Menamaty mehr oder weniger einem Muster, das Studien in vielen subsistenzwirtschaftli‑ chen Gemeinschaften gefunden haben: Einer Metaanalyse von Hewlett zufolge werden Kinder in diesen Kontexten bis zu vierzigmal pro Tag gestillt, wohingegen Säuglingen aus industrialisierten Gesellschaften nur fünf‑ bis sechsmal täglich die Mutterbrust angeboten wird (Hewlett 1996: 183). Die Bedarfsorientierung der Mütter aus Menamaty beim Stillen manifestier‑ te sich vor allem darin, dass sie ihren Kindern bei den geringsten, häufig kaum wahrnehmbaren Anzeichen von Distress und unabhängig von der momentanen Aktivität oder sozialen Situation die Brust anboten. So stillten Mütter ihre Kinder während der Verrichtung verschiedener Arbeiten wie etwa dem Zubereiten von Mahlzeiten, dem Trocknen von Reis oder dem Schälen von Erdnüssen. Ebenso wurde das Stillen mit Freizeitaktivitäten wie etwa einer Plauderstunde mit anderen Frauen, mit der Mahlzeit der Mutter, der Teilnahme an einer öffentlichen Filmvor‑ führung oder an einem Besessenheitsritual (bilo) kombiniert – sogar dann, wenn die Mutter selbst die ›Besessene‹ war. Die Mittags- oder Nachtruhe hinderten Müt‑ ter ebenso wenig am Stillen, wie ein Fußmarsch zum Feld oder Nachbardorf. Ent‑ sprechend wurden Säuglinge im Liegen, Sitzen und Stehen gestillt, also in allen möglichen Körperpositionen (s. Abb. 13). Es liegt auf der Hand, dass diese Vereinbarkeit des Stillens mit nahezu allen all‑ täglichen Aktivitäten und sozialen Kontexten auf einigen Voraussetzungen beruht, die nicht in allen kulturellen Kontexten gleichermaßen gegeben sind: Zum Stillen kann die Brust jederzeit und unabhängig vom sozialen Kontext entblößt werden.10 Die meisten, auf den Haushalt bezogenen Arbeiten der Frauen lassen sich gut mit kontinuierlichem Stillen vereinbaren, da sie auf dem Boden sitzend verrichtet wer‑ den; Reisanbau, der weniger gut mit dieser Praxis kombinierbar ist,11 beansprucht aufgrund des Vorrangs der Viehhaltung in Menamaty nur einen geringen und sai‑ sonal begrenzten Arbeitsaufwand. In den ersten drei Monaten nach der Geburt, der 10 | Dies ist nicht zuletzt davon abhängig, ob die weibliche Brust in erster Linie als Nahrungsquelle für Säuglinge oder auch als sexuell konnotiertes Körperteil wahrgenommen wird, da letzteres die Entblößung der Brust zum Stillen in allzu öffentlichen Kontexten problematisch werden lassen kann. In der Forschungsregion galt es zwar – insbesondere für junge Frauen, die noch keine Kinder hatten – als unsittlich, die Brust unnötig zu entblößen, anlässlich des Stillens bemühte sich jedoch keine der Mütter, in irgendeiner Weise ihre Brust vor den Umstehenden zu verbergen. 11 | Röttger-Rössler (2014b: 147f) zeigt, dass in solchen Haushalten der Makassar in Indonesien, bei denen Reisanbau eine große Rolle spielt, Säuglinge weniger Zeit in unmittelbarer Nähe mit ihren Müttern verbringen als mit Personen aus der Großelterngeneration. Die Art der vorherrschenden Subsistenzwirtschaft dürfte also auch die Stillfrequenz der Mütter bedingen. Allerdings werden Kinder hier, wie auch in anderen Ackerbaugesellschaften (z.B. bei den Beng der Elfenbeinküste, Gottlieb 2004: 202), von verschiedenen Frauen gestillt.

7. Betreuungspraktiken und Interaktionsmuster in den ersten drei Lebensjahren

tsabely-Phase, ist die Mutter sogar gänzlich von Hausarbeit und selbst vom Gang zum Fluss befreit. Auch der Umstand, dass Mütter ihren Jüngsten fast permanent Körperkontakt bieten, ist als wichtige Voraussetzung für die Funktion des Stillens als primäre Beruhigungsstrategie anzusehen: Es ermöglicht Müttern in Reaktion auf Distress-Äußerungen des Kindes diesem als allererstes die Brust anzubieten, anstatt zunächst mit distalen Formen der Zuwendung zu reagieren. Auch die Müt‑ ter begründeten das Gebot dauerhafter Nähe zum Säugling mit der Möglichkeit, das Weinen des Kindes umgehend durch das Stillen beenden zu können. Zwar wird auch in westlichen Kontexten zunehmend ein »Stillen nach Bedarf« propagiert; wie jedoch Hemmelmayr (2013) herausstellt, empfehlen entsprechende Beratungsstellen und Ratgeberliteraturen dennoch die Einhaltung von gewissen zeitlichen Mindestabständen zwischen den Stillepisoden (z.B. zwei Stunden), da‑ mit sich die Brust der Mutter wieder füllen und regenerieren könne und um Ver‑ dauungsprobleme des Säuglings zu vermeiden. Selbst US-amerikanische Mütter der »La Leche Liga«, eines internationalen Vereins, der bedarfsorientiertes Stillen offensiv propagiert, reichen mit elf Stillepisoden pro Tag (Hewlett 1996: 183) keines‑ wegs an die Frequenz der Mütter in Menamaty heran. Der Umstand, dass selbst bei Müttern der »La Leche Liga« die Stillfrequenz relativ niedrig ist, dürfte nicht zu‑ letzt mit den zeitlichen Vorgaben durch Institutionen wie Kindergärten, Schulen, Erwerbsarbeit oder Öffnungszeiten von Geschäften zusammenhängen. Vor allem aber ein Modell des Stillens als einer liebevollen, intimen Zuwendung dürfte eine zeitliche Taktung begünstigen: Die mit einem solchen Modell implizierte volle Aufmerksamkeitszuwendung während des Stillens steht der gleichzeitigen Kon‑ zentration auf andere Aktivitäten entgegen und fördert damit eher ein Alternieren zwischen Stillen und anderen Tätigkeiten. Aufgrund der Konzeptualisierung des Stillens als einer intimen Mutter-Kind-Interaktion kommen zudem nicht alle sozia‑ len Situationen dafür infrage.12

Emotionale Bedeutung des Stillens Wie im 5. Kapitel zu den mütterlichen Perspektiven dargelegt, beschrieben Mütter das Stillen nicht nur als wichtigsten Beitrag zum körperlichen Gedeihen des Kin‑ des, sondern auch als primäres und effektivstes Mittel zur Beruhigung von Säug‑ lingen. So beantworteten sie die Fragen danach, wie sie ein weinendes (mitomagny), trauriges (malahelo) oder wütendes (maseky) Kind beruhigen würden, bei Weitem am häufigsten mit dem Verweis auf das Stillen. Die Beruhigung mittels der Brust ist nun aber keineswegs als von der Ernährung gänzlich losgelöste Funktion zu verstehen: Wie die Frage nach den Gründen für kindliches Weinen zum Vorschein brachte, sahen die Mütter diesen Distress-Ausdruck größtenteils durch ein Ver‑ langen nach der Mutterbrust veranlasst und betonten folgerichtig, dass sie stets als 12 | So bemerkt auch Gottlieb (2004: 194f): »In the United States, the few breast-feeding women I knew took great pains to find a quiet and private space to nurse their babies. Such spaces are frequently unavailable in the public world of restaurants, stores, malls, office buildings, post offices, and so forth. […] Moreover, the move to install discreet spaces for breast-feeding in public is itself an eminently cultural campaign founded in values that classify the breast as a fundamentally sexual rather than nutritional body part, and breast-feeding as a fundamentally solitary and private, not social and public activity.«

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erstes die Brust anböten. Es liegt auf der Hand, dass Mütter auf der Basis solcher Modelle tatsächlich dazu tendieren, die Distress-Signale ihrer Kinder in erster Li‑ nie auf ein Verlangen nach Muttermilch zurückführen und damit den kindlichen Stillbedarf viel höher einschätzen als etwa die Mütter aus der »La Leche Liga«. Die wenigen Beobachtungen, bei denen Säuglinge in der Nähe ihrer Mütter überhaupt weinten, bestätigten, dass Mütter in der Forschungsregion ihre Kinder als erstes an die Brust legten.13 Dabei beruhigten sich alle der beobachteten Kinder umgehend, häufig schon während sie zur Brust geführt wurden. In den meisten Fällen, in denen Mütter ihre Kinder an die Brust legten, konnte ich allerdings kein Distress-Signal wahrnehmen. Dies bedeutet freilich nicht unbedingt, dass Mütter in diesen Fällen ihre Kinder ohne Beruhigungsintention stillten. Vielmehr gehe ich davon aus, dass der kontinuierliche Körperkontakt im ersten Lebensjahr zwischen Mutter und Kind zu einer fein abgestimmten Kommunikation über Körperbewe‑ gungen befähigt, sodass Mütter auf die körperlichen Signale ihrer Kinder reagieren können, noch bevor es zu einem sicht‑ oder hörbaren Ausdrucksverhalten kommt. Eine solche Nutzbarmachung des Stillens als primäres Beruhigungsmittel er‑ möglicht Säuglingen, emotionale Besänftigung oder Ausgeglichenheit in einem engen Zusammenhang mit der Ernährung durch die Mutter zu erleben. Dass Kin‑ der tatsächlich diese Verbindung herstellen, legt das Verhalten Ein‑ bis Zweijähri‑ ger nahe, die sich bereits selbständig an der Mutterbrust bedienen konnten. Wenn Kinder in diesem Alter etwa ihre Mutter nach längerer Abwesenheit erblickten oder beim Spiel mit anderen Kindern grob behandelt wurden, suchten sie nicht nur die körperliche Nähe zur Mutter, sondern wandten sich zielstrebig ihrer Brust zu, um für eine kurze Weile daran zu trinken. Es liegt auf der Hand, dass ein mehr oder weniger zeitlich getaktetes Stillen in vergleichsweise großen Abständen eine solche Funktion der Distress-Regula‑ tion weniger exklusiv erfüllen kann: Je mehr sich die Stillpraxis an regelmäßigen Rhythmen orientiert, desto weniger kann es als Regulationsmittel der unabhängig vom Stillrhythmus auftretenden kindlichen Emotionen eingesetzt werden. Durch die Etablierung eines regelmäßigen Taktes wird die potenzielle Regulationsfunk‑ tion des Stillens gewissermaßen ausgehebelt, da der Anlass des Stillzeitpunktes auf diese Weise vom emotionalen Zustand des Kindes (oder der Mutter) losgelöst wird. Vor allem aber ist davon auszugehen, dass Kinder, die in größeren Abständen gestillt werden, häufiger andere Formen der Emotionsregulation erleben – etwa über face-to-face-Interaktionen. Freilich verliert damit das Stillen nicht unbedingt an emotionaler Bedeutung, da es immer noch zur Evokation und gemeinsamen Erfahrung positiver Emotio‑ 13 | Gottlieb macht in Bezug auf Mütter der Beng der Elfenbeinküste vergleichbare Beobachtungen (2004: 196): »The breast is nearly always the first resource for a crying baby as well as for a concerned mother. This is so much the case that many first-time mothers are baffled about what to do if a crying baby does not want to breast-feed.« Die Aussage, dass erstgebärende Beng-Mütter kaum Alternativen zum Stillen als Beruhigungsmethode sähen, trifft allerdings nicht auf die Mütter von Menamaty zu. Allein der Umstand, dass werdende Mütter bereits in ihrer Kindheit und Jugend als Babysitter reichlich Erfahrung im Umgang mit Säuglingen sammeln können, spricht dagegen. Dieses Argument dürfte auch auf die Beng zutreffen, da nach Gottlieb Beng-Säuglinge auch von älteren Schwestern betreut (und beruhigt) werden, die nicht auf das Mittel des Stillens zurückgreifen können (2004: 136-164).

7. Betreuungspraktiken und Interaktionsmuster in den ersten drei Lebensjahren

nen eingesetzt werden kann. Wie Keller (2007: 129) bemerkt, verbinden Mütter aus Los Angeles, USA, mit dieser Praxis ein hohes Maß an positiver Emotionalität. Diese Mütter sehen das Stillen als Kontext für das Erleben, Hervorbringen und Tei‑ len positiver Emotionen an und konzeptualisieren es in erster Linie als Bindungs‑ erlebnis. Entsprechend wird das Stillen als private Angelegenheit aufgefasst, die in erster Linie die Mutter und das Kind etwas angeht. Durch die zeitliche Taktung wird das Stillen aus anderen Aktivitäten der Mutter herausgelöst, was wiederum einer ungeteilten Aufmerksamkeit auf das Stillen und das Baby entgegenkommt. Der Blickkontakt zwischen Mutter und Kind, den die Mütter aus Los Angeles her‑ vorhoben, verdeutlicht die Konzeption des Stillens als exklusives Teilen positiver Gefühle und als personale Bindungserfahrung. Vor dem Hintergrund eines solchen kulturellen Modells des Stillens, das im euro-amerikanischen Raum weit verbreitet sein dürfte, wirkten die stillenden Müt‑ ter aus Menamaty gegenüber ihren Kindern geradezu teilnahmslos. Diese Wahr‑ nehmung hatte ich zum einen zu Beginn der Feldforschung (vor einer allmäh‑ lichen Gewöhnung), zum anderen entspricht dies den spontanen Einschätzungen von Kolleginnen, die mir halfen, das Videomaterial der Feldforschung zu sichten und zu codieren.14 Die Analyse von 86 videografisch festgehaltenen Stillepisoden lässt einige Rückschlüsse zu, wodurch der Eindruck des teilnahmslosen Stillens zustande kommt: Zunächst gehen Mütter in der Regel anderen Beschäftigungen nach, während sie ihr Kind stillen, d.h., ihre Aufmerksamkeit ist auf Gesprächs‑ partner oder das Hantieren mit Gegenständen und nicht auf das Kind gerichtet. Eine solche geteilte Aufmerksamkeit ist in hohem Maße kompatibel mit dem Stil‑ len nach Bedarf, da andernfalls die Aktivitäten permanent unterbrochen werden müssten. Allerdings wandten Mütter ihre visuelle Aufmerksamkeit auch dann kaum dem Kind zu, wenn sie gerade nicht in eine ersichtliche Aktivität involviert waren. Selbst beim Anlegen an die Brust oder beim Beenden der Stillepisode blick‑ ten Mütter selten zu ihrem Kind; dies taten sie allenfalls bei Neugeborenen, welche die Brust noch nicht selbständig finden konnten. Auch trinkende Säuglinge such‑ ten keinen Blickkontakt zu ihren Müttern, sondern blickten eher ins Leere oder in die Umgebung. Ältere Kinder, die gestillt werden wollten, wandten sich sofort der Brust oder der sie bedeckenden Kleidung zu, ohne zuvor Blickkontakt mit ihren Müttern aufzunehmen. Gegenseitigen Blickkontakt konnte ich beim Stillen über‑ haupt nicht beobachten. Zumindest die visuelle Aufmerksamkeit von Mutter und Kind war beim Stillen (wie auch generell beim Körperkontakt) also auf unterschiedliche Objekte gerich‑ 14 | Es liegt auf der Hand, dass die Wahrnehmung und folglich auch die Darstellung von Interaktionsmustern wie Stillepisoden von vornherein durch die kulturellen Modelle und Normen der Herkunftskultur des Feldforschers oder der Feldforscherin geprägt sind. Das Phänomen, dass Mütter besonders häufig stillen und dies in einer beiläufigen Art und Weise tun, tritt vor allem deshalb in den Fokus der Beobachtung und Beschreibung, weil diese Aspekte den Erwartungen und Normen des Beobachters entgegenstehen. Anstatt eine solche Voreingenommenheit durch das Streben nach einem ›archimedischen Punkt‹ zu unterdrücken, kann dieses vielmehr methodisch genutzt werden. So hat etwa Keller (2007: 64-66) Fotografien von Mutter-Kind-Interaktionen bei den Nso in Kamerun und bei Deutschen in der jeweils anderen Kultur kommentieren lassen, womit sie auch die eher impliziten kulturellen Modelle und Wertvorstellungen erheben konnte.

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tet, was impliziert, dass solche Interaktionen, die auf das Hervorrufen und Teilen positiver Emotionen zielen und in der euro-amerikanischen Kultur als warmher‑ zig, liebevoll oder affectionate und in der Psychologie als emotional warmth gedeu‑ tet werden, nicht im Vordergrund standen. Mütter sprachen kaum und schon gar nicht in einer sanften, erhöhten Stimmlage mit ihrem trinkenden Nachwuchs. Ein Liebkosen wie etwa Streicheln war beim Stillen ebenfalls nicht und, wie gezeigt, auch in anderen Kontexten nur äußerst selten zu beobachten. Allerdings wippten (mikorokoro) Mütter ihren Säugling gelegentlich beim Stillen unter Einsatz des gan‑ zen Körpers oder setzten ihn mit der flachen Hand in Schwingung. Wie mir erklärt wurde, war dies mit der Absicht verbunden, das Kind zum Einschlafen zu bringen. Dass das Stillen in Menamaty kaum dem Ideal einer intimen, exklusiven Zu‑ wendung unterlag, machten etwa Beobachtungen deutlich, die durch meine an Mütter gerichtete Bitte zustande kamen, verschiedene Interaktionsformen mit ihren Kindern vorzuführen. In einer dieser Episoden sitzen in der Ausgangssitua‑ tion drei Mütter im Halbkreis einander gegenüber und unterhalten sich, während jede von ihnen ihr Kind stillt. Auf meine Bitte hin, mir kidrotsy vorzuführen, packt Vorisoa abrupt den trinkenden und von ihr abgewandten sechs Monate alten Sohn der gegenübersitzenden Mutter Kazovelo an den Oberschenkeln, um ihn kräftig auf und ab zu bewegen. Durch die heftige Bewegung verliert auch Vorisoas rund zwölf Monate alter Sohn den Brustkontakt. Nach einer Weile erobert sich Kazovelo ihr Kind zurück, gibt ihm einen Stock in die Hand und führt mit seinem Arm Schlagbewegungen in Richtung Vorisoa aus. Danach ergreift Kazovelo die vier Mo‑ nate alte Elviny, die gerade bei ihrer Mutter Ramety trinkt, und wirft sie mehrmals in die Höhe, bevor sie das ungerührt scheinende Kind seiner amüsierten Mutter zurückgibt und dem eigenen Sohn beiläufig die Brust hinhält. Auch wenn (oder gerade weil) diese Episode durch meine Präsenz und die meines Forschungsassis‑ tenten Dadah beeinflusst war, macht sie deutlich, dass die mütterlichen Modelle des Stillens keine intime Situation oder exklusive Zuwendung verlangten. Wie die Interviews zeigten, wird von einer guten Mutter zwar erwartet, ihr Kind ausgiebig und quasi jederzeit zu stillen, jedoch nicht, sich dem Kind dabei auf eine empathi‑ sche Weise zuzuwenden oder eine intime, dyadische Situation herzustellen. Vieles spricht dafür, dass beim Stillen stattdessen körperbasierte Kommuni‑ kationsformen und die Weitergabe der Körpersubstanz selbst stärker im Vorder‑ grund standen. Wie bereits erwähnt, dürfte der ausgiebige Körperkontakt die Ent‑ wicklung einer fein abgestimmten Kommunikation über Körperbewegungen oder ‑veränderungen begünstigen, die Mütter bereits als kindliche Babysitter erlernen konnten. Dass der Weitergabe von Muttermilch eine wichtige Rolle für die Mut‑ ter-Kind-Beziehung zugeschrieben wird, legen verschiedene Gebote des exklusiven Stillens nahe. Meine Frage, ob auch andere Frauen ihre Kinder stillen dürften, ver‑ neinten die Mütter entschieden. Die Frage, warum eine erneute Schwangerschaft dem Fortsetzen des Stillens im Weg stehe, beantworteten meine Gesprächspartne‑ rinnen damit, dass die in Verbindung mit der Schwangerschaft produzierte Milch dem werdenden Kind zustehe. Im Fall von Zwillingen, so betonten Mütter, sei da‑ rauf zu achten, dass die beiden Kinder niemals an derselben Brust trinken. Wie oben bereits deutlich wurde, hoben Mütter das Stillen (im Sinne der Weitergabe von Körpersubstanz) als wichtigstes Beziehungsmerkmal zwischen Mutter und Kind hervor und definierten die mütterliche Qualität über die Wärme ihrer Brust bzw. Milch.

7. Betreuungspraktiken und Interaktionsmuster in den ersten drei Lebensjahren

Zuletzt stellt sich die Frage, welche Bedeutung die Erfahrung des Gestilltwer‑ dens für die Säuglinge hat. Gemäß der von Quinn (2005) vorgeschlagenen Konzep‑ tion der experiencial constancy bieten die Mütter von Menamaty mit der beschrie‑ benen Stillpraxis ihren Säuglingen wiederkehrende Erfahrungszusammenhänge mit einer unmissverständlichen Botschaft: Von der Mutter kann in erster Linie Sättigung und körperliches Wohlbefinden erwartet werden. Diese Form der kör‑ perlichen Zuwendung ist beruhigend und mit der Erfahrung emotionaler Ausge‑ glichenheit, Sicherheit oder Geborgenheit verbunden. Für die Bedürfnisse nach Exploration, Abwechslung oder aufregenden Erlebnissen ist die Mutter hingegen nicht der richtige Adressat. In dieser Hinsicht sind die anderen Kinder interessan‑ ter.

Entwöhnung und Ernährungsumstellung im Übergang zum Kleinkindalter Die Bedeutung des Stillens für die langfristige Emotionsentwicklung lässt sich nur in einer ontogenetischen Perspektive ermessen, da Kinder früher oder später ab‑ gestillt werden, womit sich dieses Mittel der Emotionsregulation erübrigt. Es ist also zu fragen, was mit den eingespielten Mustern der Emotionsregulation nach dem Abstillen geschieht. Zunächst ist klar, dass die Ernährungsfunktion des Stil‑ lens durch das Füttern und schließlich durch die selbständige Nahrungsaufnahme abgelöst wird. Aus den Interviews mit Müttern und Babysittern geht auch hervor, dass diese auch das Füttern als wichtige Beruhigungsmethode ansahen. Immerhin 18 der interviewten Mütter und Babysitter beantworteten die Fragen danach, wie sie ein trauriges oder wütendes Kind beruhigen würden damit, dass sie ihm feuch‑ ten Reis (vary sosoa) oder ein Bonbon geben würden. Aufgrund der funktionalen Übereinstimmungen betrachte ich das Stillen nun gemeinsam mit dem Füttern und selbständigen Essen im ontogenetischen Verlauf. Diagramm 6 präsentiert die Beobachtungsanteile dieser drei Formen der Ernährung: Diagramm 6: Die Formen der Ernährung in den ersten drei Lebensjahren 20% 18%

16% 14%

selbständiges Essen

12% 10%

8%

Stillen

6% 4%

Füttern

2% 0% 3-6 Mon

6-12 Mon

12-16 Mon

24-31 Mon

34-41 Mon

Diesen Daten zufolge nimmt die kumulative Stilldauer in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres um knapp die Hälfte ab und verharrt bis ins zweite Lebens‑ jahr hinein in etwa auf diesem Niveau. Nach Befragungen zum Abstillalter der

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

älteren Kinder aus der Stichprobe (sowie weiterer Kinder) lag dies durchschnitt‑ lich bei knapp zwei Jahren (Ø 21,4 Monate), was einer in vielen pastoralen und Ackerbaugesellschaften verbreiteten Stilldauer entspricht, die wiederum zwischen der in Wildbeuter‑ (drei bis vier Jahre) und industrialisierten Gesellschaften (meist wenige Monate) liegt (vgl. Fouts 2004: 139). Die Mütter begründeten das Abstillen vor allem mit einer geplanten oder bereits eingetretenen Schwangerschaft. Daraus ergibt sich eine gewisse Spannbreite des Abstillalters, die für die erfragten Kinder von 13 Monaten bis drei Jahren reichte, wobei die Mehrzahl der Kinder (zwölf von 17) im Alter zwischen 16 und 24 Monaten abgestillt worden waren. Dass die Dauer des Stillens in erster Linie mit der Geburtenfolge und kaum mit einer sozialen Norm verknüpft ist, legen einige berichtete Fälle nahe, denen zufolge letztgebore‑ ne Kinder bis zum Alter von sieben Jahren gestillt wurden. Auch machten Mütter deutlich, dass Kinder mindestens solange gestillt werden sollten, bis sie gut laufen können und damit ein gewisses Maß an physischer Autonomie erlangt haben. Er‑ neute Schwangerschaften kurz nach der Geburt wurden teilweise mit der Begrün‑ dung abgebrochen, dass man dem bereits geborenen Kind die Muttermilch noch nicht entziehen wolle.15 Dem Abstillen ist in älterer ethnologischer Sozialisationsforschung viel Auf‑ merksamkeit geschenkt worden, da es gemäß dem psychoanalytischen Paradigma als potenziell traumatische Erfahrung für Kinder aufgefasst wurde (z.B. Ritchie 1943). Kinder in Gesellschaften mit ausgiebigem, bedarfsorientiertem Stillen und einer abrupten Entwöhnung schienen in dieser Perspektive besonders gefährdet. Tatsächlich beendeten auch die Mütter aus der Forschungsregion das Stillen meist relativ abrupt, indem sie die Muttermilch durch das Auf bringen scharfer Substan‑ zen (z.B. sakay, roter Pfeffer) auf die Brustwarze ungenießbar machten oder das Kind für ein paar Wochen in die Obhut einer Verwandten, insbesondere seiner Großmutter mütterlicherseits, gaben und damit von sich isolierten.16 Trotzdem sa‑ hen Mütter im Abstillen, wie auch in der daraufhin forcierten Distanzierung, kei‑ nen Anlass für schmerzhafte Erfahrungen seitens der betroffenen Kinder. Zumindest was die Ernährung betrifft, zog das Abstillen keine abrupte Umstel‑ lung nach sich. Kinder wurden schon ab etwa drei Monaten, vereinzelt sogar noch früher, mit wässrigem Reis (vary sosoa) zugefüttert. Die noch nicht des Sitzens fä‑ higen Kinder wurden dazu rücklings auf dem Schoß der Mutter platziert, sodass die flüssige Nahrung mit einem großen Esslöffel eingeflößt werden konnte (s. Abb. 14). Bei drei von 23 gefilmten Episoden des Fütterns schienen die Säuglinge die Nahrung nicht ganz freiwillig aufzunehmen, worüber eine der Mütter ihren Un‑ mut deutlich zum Ausdruck brachte.17 Nachvollziehbar ist diese Praxis insofern, als 15 | Zur Abtreibung werden selbstgewonnene pflanzliche Mittel benutzt oder – sofern verfügbar – eine Überdosis des Malariamittels Chinin. Abtreibungen galten nicht ausdrücklich als moralisch verwerflich, wurden aber eher hinter vorgehaltener Hand kommuniziert. 16 | Diese und ähnliche Praktiken der Entwöhnung scheinen weit verbreitet zu sein, so etwa auch bei den Nso in Kamerun (Yovsi & Keller 2003: 154), den Bofi-Ackerbauern in der Zentralafrikanischen Republik (Fouts 2004: 138) oder bei den Uino, Papua-Neuguinea (Conton 1985). Ein abruptes Abstillen wurde etwa auch bei den Zulu, Südafrika, oder Hausa, Nigeria, beobachtet (LeVine et al. 1994: 45). 17 | Vergleichbare Praktiken des Fütterns wurden unter der Bezeichnung force-feeding für verschiedene Gesellschaften beschrieben (vgl. Dettwyler 1989; LeVine et al. 1994: 143).

7. Betreuungspraktiken und Interaktionsmuster in den ersten drei Lebensjahren

die Beikost insbesondere dann notwendig zu sein scheint, wenn die Muttermilch knapp bzw. ›kalt‹ ist. Eines der so gefütterten Kinder war vergleichsweise mager, worüber sich die Mutter immer wieder uns gegenüber beklagte. Säuglinge ab etwa sechs Monaten wurden im Sitzen und noch ältere teilweise im Stehen gefüttert, was gänzlich ohne Zwang geschah. In einigen der dokumentierten Episoden über‑ nahm eine ältere Schwester oder Cousine die Aufgabe des Fütterns. Bemerkens‑ wert an den Fütter-Episoden mit sitzenden oder stehenden Kindern war, dass die Interaktionspartner, abgesehen von einer Ausnahme, in die gleiche Richtung blick‑ ten, wobei das Kind vor der Betreuungsperson saß oder neben ihr stand, in einem Fall sogar leicht hinter ihr. Blickkontakt spielte also auch bei dieser Praxis keine Rolle. Mit dem Abstillen wurde in der Regel auch das Füttern eingestellt. Aus der Gruppe der zwei- bis dreijährigen Kinder konnte nur noch eines beobachtet wer‑ den, das von seiner Mutter gefüttert wurde. Dabei handelte es sich um dasselbe Kind, das im Unterschied zu den anderen noch auf dem Schoß gehalten wurde, weil es zum Beobachtungszeitpunkt kränklich war. Wie Diagramm 6 zeigt, begannen Kinder zwischen sechs und zwölf Monaten bereits damit, selbständig zu essen, wobei sie an einem Stück Maniok, Süßkartoffel, Reisbrot oder Banane kauten. Mehrere der Einjährigen aßen bereits recht geschickt mit dem Löffel. Die Fähigkeit, den »Löffel zu halten« (mita sotro) nannten Mütter nach dem Sitzen und Laufen am dritthäufigsten als motorisches Entwicklungsziel und betonten, dass man dies dem Kind beibringen solle. Im zweiten Lebensjahr waren alle Kinder bereits in der Lage und daran gewöhnt, selbständig zu essen, womit sich auch das Füttern erübrigte.18 Bemerkenswert sind die hohen Beobach‑ tungsanteile, bei denen Kleinkinder etwas aßen. Dies geht zum großen Teil darauf zurück, dass sie außerhalb der Hauptmahlzeiten etwas Essbares von ihren Müttern oder anderen Bezugspersonen erhielten und dies beim Spiel mit den Peers lange in der Hand hielten und gelegentlich davon abbissen oder daran lutschten (s. Abb. 14). Da dieses Essverhalten bei älteren Kindern kaum zu beobachten war, könnte es sich dabei um ein Übergangsphänomen handeln, das Kleinkindern hilft, die Verbindung zur Betreuungsperson trotz deren Abwesenheit aufrechtzuerhalten. Insgesamt hatten Kinder im Alter der Entwöhnung bereits ein hohes Maß an Unabhängigkeit von der Mutter erlangt – nicht nur im Hinblick auf die Nahrungs‑ aufnahme, sondern auch durch die bereits erfolgte Hinwendung zu den Gleichalt‑ rigen, mit denen Kinder, wie oben gezeigt, ab dem zweiten Lebensjahr mehr Zeit verbrachten als mit der Mutter und allen anderen Erwachsenen zusammen. Das Ab‑ stillen ist damit lediglich als einer von mehreren Schritten zu sehen, mit denen sich Kinder von ihren Müttern distanzieren und sich einer Gruppe von Gleichaltrigen anschließen. Das von LeVine et al. (1994: 248-252) herausgestellte »model of early child care« bei den Gusii Kenias, dem zufolge die körperzentrierte Betreuung eine rasche Reduzierung des Betreuungsaufwands in den ersten Lebensjahren des Kin‑ des impliziert, trifft also auch auf den madagassischen Untersuchungskontext zu.

18 | Diese frühzeitige Selbständigkeit bei der Nahrungsaufnahme ist im Zusammenhang mit der insgesamt stark geförderten Handlungsautonomie zu sehen. Im deutlichen Kontrast hierzu stehen die Ernährungspraktiken bei den Minangkabau in einem dörflichen Umfeld. Nach den Beobachtungen von Susanne Jung (persönliche Mitteilung) wurden dort selbst fünfjährige Kinder noch häufig gefüttert.

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Zusammenfassung und Diskussion In der Bindungsforschung herrscht heute weitgehend Konsens darüber, dass sich die frühkindliche Bindung in erster Linie durch emotionale Kommunikations‑ und Regulationsmuster zwischen den Bindungspartnern herausbildet und weniger durch die Ernährung, wie in Orientierung am freudschen Paradigma angenom‑ men wurde (vgl. Bretherton 1992). Zwar stimmt dem auch Mary Ainsworth (1977: 128) grundsätzlich zu, jedoch stellt sie auf der Basis ihrer Studie bei den Ganda aus Uganda die Hypothese auf, dass unter bestimmten Bedingungen das Stillen bzw. die Ernährung zu einem integralen Bestandteil der Bindungsbeziehung werden kann: (1) when the baby is fed contingent on his own behavior, including both his signaling behavior and his more active contact-seeking behavior, as in thoroughgoing demand feeding; (2) when the baby is breast-fed, so that the food-providing source and the attachment figure are one and the same; and (3) when weaning is deferred until after an attachment has already been established [nach Ainsworth ist die Bindung im Alter von einem Jahr gut etabliert]. Under these circumstances, feeding behavior is […] enmeshed in the organization of the attachment relationship. (Ainsworth 1977: 128)

Diese drei Bedingungen treffen nach meinen Beobachtungen auf sämtliche Säug‑ linge von Menamaty zu. Einige weitere Forschungsergebnisse sprechen für eine herausgehobene Be‑ deutung des Stillens in der Beziehung zwischen Müttern und Säuglingen von Menamaty: Das konsequent bedarfsorientierte Stillen im Säuglingsalter fungierte nicht nur aus etischer, sondern auch aus emischer Perspektive als primäre Beru‑ higungsmethode. Auch definierten Mütter die Beziehung zu ihren Säuglingen in erster Linie über das Stillen. Der Umstand, dass face-to-face-Interaktionen zwischen Müttern und Kindern äußerst selten zu beobachten waren und auch in der Darstel‑ lung der Mütter kaum eine Rolle spielten, dürfte die sozio-emotionale Relevanz des Stillens in der Beziehungserfahrung von Kindern weiter hervortreten lassen. Vor diesem Hintergrund liegt die These nahe, dass Kinder eine Bindungsform mit der Mutter entwickeln, die auf der Verbindung von emotionaler Ausgeglichenheit (im Sinne der Emotionsmetaphern eines ›klaren, friedlichen Herzens‹) mit körper‑ lichem Wohlbefinden und Nahrungsaufnahme basiert. Entsprechende Erwartungen der Kinder gegenüber Bezugspersonen werden durch die Entwöhnung vom mütterlichen Köper und das Abstillen nicht unbedingt enttäuscht. Vielmehr vertrete ich die Hypothese, dass gerade die Zuspitzung der umfänglichen und kontinuierlichen Körperbetreuung auf episodische Nahrungs‑ gaben im Laufe der ersten Lebensjahre Kindern erlaubt, das Erhalten von Nahrung als wesentliche Dimension ihrer Beziehung zu den Eltern zu erfassen. Zwei Beob‑ achtungen von kindlichem Verhalten bekräftigen diese Interpretation. Zum einen suchten Kleinkinder ihre Eltern fast ausschließlich zu den Mahlzeiten auf. Zum anderen trugen viele der Kleinkinder Nahrungsmittel erstaunlich lange mit sich herum, während sie von der Mutter oder anderen älteren Bezugspersonen getrennt waren. Vor dem Hintergrund der Objektbeziehungstheorie von Winnicot (1969), der zufolge Kuscheltiere oder Schmusedecken Kleinkindern als Übergangsobjek‑ te dienen, die für sie eine abwesende Bezugsperson repräsentieren, können auch

7. Betreuungspraktiken und Interaktionsmuster in den ersten drei Lebensjahren

die Nahrungsmittel bei den Kleinkindern aus Menamaty als Repräsentanten ihrer Bezugspersonen bzw. als verbindende Medien gedeutet werden. Da Körperkontakt, wie gezeigt, in hierarchischen Beziehungen kaum als Ausdrucksmittel von Zunei‑ gung kultiviert wird und dem Liebkosen oder Kuscheln vergleichbare Formen der Zuwendung nicht beobachtet werden konnten, ist es vielleicht kein Zufall, dass sich Kleinkinder ihre Beziehung zu den Bezugspersonen nicht mit Kuschelobjekten, sondern eher mit einem Stück Maniok, Süßkartoffel oder Reisbrot vergegenwär‑ tigten (s. Abb. 14). Die körperzentrierten, ontogenetisch auf die Nahrungsgabe zulaufenden Er‑ fahrungen mit Müttern und anderen Betreuungspersonen dürften eine zentrale Basis für die Sozialisation des hierarchischen Beziehungsmodells schaffen. Wie im 3. Kapitel ausführlich dargestellt, werden die hierarchischen Beziehungen in der Forschungsregion generell über die Weitergabe von Nahrung und Segen oder Lebenskraft an die Nachkommen konzeptualisiert. Den lokalen Konzeptionen zu‑ folge sind Nahrungsmittel stets den Eltern und anderen Vorfahren zu verdanken, und als Lebensmittel in einem umfassenden Sinn geht ihre Bedeutung weit über die bloße Ernährungsfunktion hinaus. Überdies entspricht diese Beziehungskon‑ zeption auch dem übergreifenden, abstrakteren Modell für hierarchische Bezie‑ hungen, wonach das eigene leibliche Wohl und gar das Leben von einem perma‑ nenten Zufluss an Segen ( fitahia) oder Lebenskraft (ay) abhängig ist, der von den Eltern und Ahnen ausgeht.

D istale I nter aktionsformen – mihisa und misoma Nach den proximalen Betreuungspraktiken des Körperkontakts, der Körperstimu‑ lation und der Primärversorgung setze ich mich nun mit Praktiken der Objektsti‑ mulation und spielerischen face-to-face-Interaktionen auseinander, die nach Keller (2007: 142) einem distalen Interaktionsstil entsprechen. Im Unterschied zu den proximalen, also mit körperlicher Nähe verbundenen und auf körperliche Bedürf‑ nisse gerichteten Betreuungspraktiken beruhen die distalen Interaktionsformen auf einer gewissen körperlichen Distanz und beziehen sich stärker auf die Stimu‑ lation von kognitiven und emotionalen Prozessen. Unter Objektstimulation ver‑ steht Keller (2007: 18) das Bemühen von Bezugspersonen, die Aufmerksamkeit des Kindes auf Gegenstände zu richten und somit eine Auseinandersetzung mit der physischen Welt anzuregen. Die Beschäftigung mit Objekten steht nach Keller in einem engen Zusammenhang mit der kognitiven Entwicklung und ermöglicht Kindern zugleich eine zeitweilige Loslösung von sozialen Partnern. Unter face-toface-Interaktionen sind Keller (2007: 19) zufolge Umgangsformen zu verstehen, die auf gegenseitigem Blickkontakt basieren und sich durch eine Zuwendung der vollen Aufmerksamkeit auf den Interaktionspartner auszeichnen. Häufig haben sie einen spielerischen Charakter und zielen auf das Hervorrufen und Teilen positiver Emotionen. Aus Sicht der entwicklungspsychologischen Emotionsforschung bie‑ ten face-to-face-Interaktionen den Rahmen für gegenseitiges Affektspiegeln, dem wiederum ein zentraler Stellenwert bei der Herausbildung, Spezifizierung und Bewusstwerdung von Emotionen zugeschrieben wird (vgl. Holodynski & Friedlm‑ eier 2006: 100-103). In der ethnologischen Sozialisations‑ und Kindheitsforschung

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werden Objektstimulation und face-to-face-Interaktion meist zusammen unter dem Stichwort children’s play behandelt (vgl. Lancy 2007). Den Interviews zufolge treffen Mütter und Babysitter eine präzise begriffliche Unterscheidung, die den beiden Interaktionssystemen der Objektstimulation und face-to-face-Interaktion weitgehend entspricht. Das Wort mihisa bezeichnet die spie‑ lerische Auseinandersetzung mit Gegenständen, misoma bezieht sich dagegen auf eine spielerische, häufig scherzhafte soziale Interaktion, die face-to-face-Verhalten, volle Aufmerksamkeit auf den Interaktionspartner sowie das Teilen positiver Emo‑ tionen umfasst. Der spielerische Charakter bestimmter mihisa‑ oder misoma-Prak‑ tiken wird durch die Vorsilbe ki‑ signifiziert – etwa bei kimofomofo (›Backspiel‹) – und von ernsthaften Aktivitäten wie miasa (≈ arbeiten) abgegrenzt. Im Folgenden werde ich zunächst die mihisa‑ und dann die misoma-Praktiken untersuchen. Abbildung 15: Zwar lassen sich Betreuungspersonen nur äußerst selten auf face-to-faceInteraktionen mit Säuglingen ein, jedoch initiieren sie häufig Blickkontakt zwischen ihnen und anderen Kindern.

Abbildung 16: Eine Babysitterin setzt Mara (w 8 Mon.) Herve (m 12 Mon.) gegenüber auf den Boden; darauf hin beginnen sie zusammen mit Sand und Steinchen zu spielen.

7. Betreuungspraktiken und Interaktionsmuster in den ersten drei Lebensjahren

Abbildung 17: Nachdem Lazy ihre Tochter Emily (w 14 Mon.) gestillt hat, schickt sie diese Hasina (m 10 Mon., links im Bild) hinterher, worauf hin die Beiden gemeinsam ihre physische Umwelt erkunden.

Abbildung 18: Im Laufe des zweiten Lebensjahres schließen sich Kinder dauerhaft ihren Peers an, um mit ihnen vielfältigen spielerischen Aktivitäten nachzugehen. Die zwei- bis dreijährigen Kinder im linken Bild ›fischen‹, wobei der Stock einen Speer und das Tuch ein Netz repräsentiert. Die beiden dreijährigen Kinder im Zentrum des rechten Bildes inszenieren mit älteren Mädchen ein bilo, wobei sie selbst die Rolle der Besessenen spielen.

Spiel mit Objekten – mihisa Nur selten konnte ich im Alltag beobachten, wie ältere Bezugspersonen die Auf‑ merksamkeit des Kindes auf einen Gegenstand lenkten und damit eine Objekt‑ stimulation im Sinne von Kellers (2007) Definition vollzogen. Erst bei der sorg‑ fältigen Videoanalyse zeigte sich, dass diese Praxis üblich ist. Auf zehn von 727 Videoaufnahmen der spot observation ist zu sehen, wie Erwachsene ein Kind dazu veranlassen, seine Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand zu richten und mit die‑ sem zu spielen. In allen zehn Episoden geschieht dies jedoch in einer gänzlich beiläufigen und folglich leicht zu übersehenden Art und Weise. Zum Beispiel zeigt eine Videoaufnahme, wie eine Mutter beim Reisstampfen ihrem in der Nähe sit‑ zenden Sohn (sechs Monate), der gerade unruhig zu werden droht, einen Korb mit

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

einer geschickten Fußbewegung zustößt. Dieser beginnt sofort, das Objekt zu er‑ kunden. Auf einer anderen Aufnahme ist zu sehen, wie eine über den Reistopf wachende Frau eine Blechbüchse ihrer knapp einjährigen Tochter Rajasoa zuwirft, woraufhin diese mit dem Becher auf den Boden zu klopfen beginnt. Wiederholt war mithilfe des Videomaterials zu beobachten, wie eine Mutter ihr Kind, das sich gerade an einem Reisgefäß bzw. an dem darin befindlichen Reis zu schaffen macht oder auf eine andere Art in die Aktivität der Bezugsperson eingreift, wegsetzt und zugleich ein zufällig am Boden liegendes Holzstück als Ersatz in die Hand schiebt. Während der alltäglichen Partizipation konnte ich zudem mehrfach beobachten, wie Mütter oder Babysitter mit einer Dose oder einer Plastikflasche vor den Augen des Kindes ein paar Mal auf den Boden klopften und es so zum Spielen veranlass‑ ten. Ein gemeinsames, dauerhaftes gegenstandsbezogenes Spielen zwischen Müt‑ tern oder anderen Erwachsenen und Kindern konnte ich im Alltag hingegen nie beobachten. Der geringe Stellenwert des Objektspiels spiegelt sich auch in der Beschaffen‑ heit der Spielsachen wieder. Wie die Auswertung der spot observation zeigt, beschäf‑ tigten sich Säuglinge am häufigsten mit herumliegenden Steinen, Holzstücken, Grashalmen oder Sand, mit Nahrungsmitteln wie Maniokwurzeln oder Reis sowie mit Schlüsselketten, leeren Plastikflaschen, Flaschendeckeln, Blechbüchsen oder Plastikverpackungen. Eindeutig handelte es sich bei diesen Spielsachen um zu‑ fällig herumliegende Dinge aus der physischen Umwelt oder um Gebrauchsgegen‑ stände und nicht etwa um eigens für Kinder hergestelltes Spielzeug. Allerdings wurden Plastikflaschen, Deckel und Verpackungen, die in Menamaty einen gewis‑ sen Seltenheitswert genossen, von älteren Kindern auf bewahrt und mitunter Säug‑ lingen als Spielmaterial zur Verfügung gestellt. Einzig Miniaturäxte aus Konser‑ venblech (kifamaky), die viele der männlichen Kleinkinder bei sich trugen, wurden von Erwachsenen als Spielzeug hergestellt. Offensichtlich unterscheiden sich diese Praxis der Objektstimulation bzw. des Spielens sowie die Beschaffenheit der Spielsachen klar von den Verhältnissen in euro-amerikanischen Mittelschichten. Dort setzen sich Säuglinge und Kleinkin‑ der weniger mit zufällig in ihrer Umwelt vorhandenen Dingen oder Gebrauchs‑ gegenständen auseinander als vielmehr mit einer vor dem Hintergrund kulturell geprägter Entwicklungsmodelle eigens für Kinder entworfenen Welt aus Spielsa‑ chen. Dieser kindzentrierten oder ›kindgerechten‹ Spielwelt entspricht der Um‑ stand, dass für euro-amerikanische Mittelschichtseltern das gemeinsame Spiel mit Kindern einen herausragenden Stellenwert hat und regelmäßig praktiziert wird (vgl. Keller 2007: 142f; Lancy 2007: 287f). Auch in entwicklungspsychologischen oder pädiatrischen Veröffentlichungen wird das Eltern-Kind-Spiel stark propagiert, da es nicht nur für die emotionale, kognitive und soziale Entwicklung des Kindes essenziell sei, sondern auch eine wichtige Gelegenheit für die Entwicklung einer engen Eltern-Kind-Beziehung biete. So schreibt etwa der Pädiater Ginsburg (2007: 183): »Quite simply, play offers parents a wonderful opportunity to engage fully with their children.« Eine solche kindzentrierte Spielpraxis zwischen Müttern bzw. anderen Erwach‑ senen und Kindern ist nicht nur in Menamaty, sondern auch in den meisten von Ethnologen dargestellten Gemeinschaften außerhalb des euro-amerikanischen Raums unüblich – wie David Lancy (2007) in einem Überblicksartikel heraus‑

7. Betreuungspraktiken und Interaktionsmuster in den ersten drei Lebensjahren

stellt.19 Im Rückgriff auf entsprechende ethnologische Literatur versucht Lancy (2007: 275), diese Beobachtungen auf verschiedene »prevailing emic views« zu‑ rückzuführen – etwa auf die Anpassung an eine hohe Kindersterblichkeit durch Vermeidung einer allzu engen Beziehung mit Säuglingen, auf Konzepte, nach denen Säuglinge äußerst vulnerabel seien, oder auf den Umstand, dass ältere Ge‑ schwister die Aufgabe spielerischer Interaktionen mit kleinen Kindern überneh‑ men. Im Rahmen der Kulturpsychologie konnte Heidi Keller (2007: 142f) auch quantitativ belegen, dass Mütter der Nso, Kamerun, oder der Gujarati Rajputs, In‑ dien, in instruierten Spielinteraktionen viel seltener auf Objektstimulation zurück‑ greifen als Mütter aus Norddeutschland, Los Angeles und Athen. Aufgrund der Funktion der Objektstimulation, die kindliche Abhängigkeit von sozialen Beziehungen zu verringern, folgert Keller, dass die seltene Erfahrung der Objektstimulation bei den Nso oder Gujarati Rajputs eine interdependente Orientie‑ rung fördere. Die zweite Funktion der kognitiven Förderung wirft aber eine heikle Frage auf: Werden Kinder aus solchen soziokulturellen Kontexten, in denen Eltern Objektstimulation selten oder gar nicht praktizieren, kognitiv weniger stimuliert? Zumindest im Hinblick auf die Kinder von Menamaty lässt sich diese Frage auf der Basis der spot observation klar verneinen. Diagramm 7 präsentiert die Beob‑ achtungsanteile, bei denen sich Kinder alleine, zu zweit oder in einer Gruppe mit Objekten auseinandersetzten oder zumindest Objekte in der Hand hielten.

Titel

Diagramm 7: Die Beschäftigung von Kindern mit Objekten (mihisa)

60% 50%

Kind beschäftigt sich alleine mit Objekten

40% 30%

Kind beschäftigt sich im Rahmen einer sozialen Interaktion mit Objekten

20% 10%

0% 3-6 Mon

6-12 Mon

12-16 Mon

24-31 Mon

34-41 Mon

Demnach beschäftigten sich bereits drei‑ bis sechsmonatige Säuglinge bei 10 Pro‑ zent der Beobachtungen mit Objekten, wobei die jüngsten Kinder vier Monate alt waren. Säuglinge im Alter zwischen sechs und zwölf Monaten waren bereits bei 30 Prozent der Beobachtungen mit verschiedenen Objekten aus ihrer Umwelt be‑ schäftigt, und bei Kleinkindern ab dem Alter von zwei Jahren lag dieser Wert sogar 19 | Eine Ausnahme stellt etwa eine von Briggs (1970) beschriebene Gemeinschaft der Inuit dar, bei denen Kinder zumindest in der kalten Jahreszeit viel Zeit mit ihren Müttern auf engem Raum verbringen, womit ähnliche soziale Rahmenbedingungen bestehen wie bei Kleinfamilien in industrialisierten Gesellschaften. Auch berichteten Ethnologen, dass in einigen als Jäger und Sammler oder Fischer lebenden Gruppen wie den Efe oder Aka aus Zentralafrika und den Trobriandern oder Vogeo aus Papua-Neuguinea Eltern-Kind-Spiele regelmäßig zu beobachten waren (vgl. Lancy 2007: 274).

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

bei über 50 Prozent. Offenbar hatten die Kinder also reichlich Gelegenheit, ihre physische Umwelt zu explorieren oder zu manipulieren und dabei ihre kognitiven Fähigkeiten auszubilden. Hinzu kommt ein hohes Maß an beiläufiger kognitiver Stimulation von Säuglingen, da diese nahezu permanent den lebhaften Aktivitäten in ihrer unmittelbaren Umgebung ausgesetzt waren. Um die soziale Einbettung der Objektstimulation besser einschätzen zu kön‑ nen, präsentiert Diagramm 8 den Anteil derjenigen Beobachtungen, bei denen Bezugspersonen verschiedener Altersgruppen die Aufmerksamkeit von Kindern gezielt auf Gegenstände lenkten oder gemeinsam mit ihnen unter Bezugnahme auf Objekte spielten: Diagramm 8: Initiatoren und Partner der Beschäftigung mit Objekten (mihisa) 30%

0-5 Jahre (Peers) 25%

6-9 Jahre

20%

10-13 Jahre (Babysitter)

15%

14-17 Jahre

10%

18+ Jahre (Erwachsene)

Vater

5% 0% 3-6 Mon

Mutter 6-12 Mon

12-16 Mon

24-31 Mon

34-41 Mon

Demnach animierten Mütter und andere Erwachsene Kinder tatsächlich nur äu‑ ßerst selten und nur bis zum Alter von etwa einem Jahr zur Auseinandersetzung mit der physischen Umwelt. In den hier codierten Fällen beschränkten sie sich zudem darauf, dem Kind, wie oben beschrieben, einen Gegenstand zuzuschieben oder in die Hand zu geben; beim gemeinsamen Spiel mit Kindern waren sie hin‑ gegen überhaupt nicht zu beobachten. Von ungleich größerer Bedeutung für die Objektstimulation waren hingegen die Peers, die bereits für sechs bis zwölf Monate alte Kinder als wichtigste Spielpartner auftraten. Die von Lancy (2007) aufgewor‑ fene Frage, warum Mütter in vielen soziokulturellen Kontexten kaum mit ihren Kindern spielen, lässt sich zumindest für Menamaty klar beantworten: Sie über‑ lassen diese Form der sozialen Interaktion den stets präsenten Peers, die ohnehin ein genuines Spielinteresse haben. Die auffällige Diskrepanz zwischen der bei Kindern häufig zu beobachtenden Beschäftigung mit Gegenständen (Diagramm 7) und der seltenen Objektstimula‑ tion durch Erwachsene (Diagramm 8) lässt sich mit Blick auf die Intentionen der Mütter und die spezifische Praxis der Objektstimulation erhellen: In den Inter‑ views zum Umgang mit Säuglingen wurde das Spiel mit Objekten (mihisa) durch‑ aus in unterschiedlichen Kontexten thematisiert. Eine besonders zentrale Rolle spielte diese Aktivität in den Antworten zur Frage nach erwünschtem Säuglings‑ verhalten. Dabei beschrieben Mütter ein ruhiges, ausdauerndes und selbständiges Spielen (mihisa soa avao) am häufigsten als wünschenswertes Säuglingsverhalten (23 von 71 genannten Verhaltensweisen oder emotionalen Zuständen), so auch in folgenden Antworten:

7. Betreuungspraktiken und Interaktionsmuster in den ersten drei Lebensjahren Folgendermaßen verhält sich das Kind gut: Es spielt überall, wo man es hinsetzt, ruhig vor sich hin. Es wendet sich nur mir, seiner Mutter, zu, wenn es gestillt werden möchte. Danach spielt es weiter. (Radiny, w 20, 2 Kinder, verheiratet) Das Kind verhält sich gut, indem es friedlich vor sich hin spielt und ich meinen Aufgaben nachgehen kann. Es spielt dann in meiner Nähe, indem es herumkrabbelt und mit einer Flasche, einem Becher oder einer anderen Sache spielt. (Raleha, w 40, 6 Kinder, geschieden)

Hieraus geht klar hervor, dass Mütter das gegenstandsbezogene Spiel ihrer Kleins‑ ten in erster Linie in einem pragmatischen Zusammenhang situieren: es befreit sie vorübergehend von der Betreuungsaufgabe und erleichtert ihnen die Erledigung an‑ derer Aufgaben. Die Beobachtungen, wonach sich Säuglinge in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres bereits ausgiebig und dauerhaft mit Objekten beschäftig‑ ten, zeigen, dass dies den Müttern außerordentlich gut gelang. Damit nutzen Müt‑ ter eine der von Keller angeführten Funktionen des Objektspiels, nämlich die Auf‑ merksamkeit von Säuglingen vorübergehend auf die physische Umwelt zu richten und damit von den Bezugspersonen zu lösen. Jedoch nutzten sie das Spiel nicht als »wonderful opportunity to engage fully with their children.« (Ginsburg 2007: 183). Das Argument liegt nahe, dass gerade der wenig ausgeprägte interaktive Cha‑ rakter bei der Objektstimulation durch Mütter und andere Erwachsene ein ausgie‑ biges, selbständiges Spielen fördert. Denn eine interaktive und emotional engagier‑ te Spielinteraktion würde beim Kind wohl eher die Erwartungshaltung wecken, dass die Mutter aktiv als Spielpartnerin teilnimmt oder zumindest seinem Tun Be‑ achtung schenkt. Das wohl den meisten Mittelschichtsangehörigen bekannte Ver‑ halten von Kleinkindern, die eigenen, neu erlangten Fähigkeiten stolz zu präsen‑ tieren, eine lobende Antwort zu erwarten und immer wieder die Aufmerksamkeit von erwachsenen Bezugspersonen einzufordern, konnte ich bei den Kleinkindern der spot observation wie auch während der gesamten Feldforschung in keinem ein‑ zigen Fall beobachten. Nicht nur die spezifischen Praktiken der Objektstimulation, sondern auch der generelle körperzentrierte Betreuungsstil gibt den Kindern von Menamaty wenig Anlass, von Erwachsenen eine Beteiligung oder auch nur ein Interesse an spielerischen Aktivitäten zu erwarten. Wie Diagramm 8 zeigt, beginnt in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres das gemeinsame Spielen mit Peers an Bedeutung zu gewinnen. Diese erstaun‑ lich frühe Hinwendung zu den Peers als Spielpartnern wird vor dem Hintergrund verschiedener, teilweise bereits beschriebener Aspekte nachvollziehbar. Die Be‑ schreibung des sozialen Umfeldes hat gezeigt, dass sich Kinder schon im ersten Lebensjahr regelmäßig in distaler Relation zu Gleichaltrigen befanden, womit eine grundlegende Bedingung für Peer-Interaktionen erfüllt war. Die ausgeprägte Zu‑ rückhaltung von Erwachsenen und präadoleszenten Babysittern gegenüber Spiel‑ interaktionen mit Säuglingen und Kleinkindern lässt die Altersgenossen zudem zu viel attraktiveren und zugänglicheren Spielpartnern werden. Im Unterschied zu Babysittern und Müttern sind Gleichaltrige bereit, sich mit voller Aufmerksam‑ keit und auf gleicher Augenhöhe – im wörtlichen und übertragenen Sinn – auf Spielinteraktionen einzulassen. Das Interesse an den Peers konnte immer wieder‑ holt bei wenige Monate alten Kindern beobachtet werden, die zu ihren spielenden Altersgenossen krabbelten. Zudem wurde es auch von Betreuungspersonen geför‑ dert: Immer wieder war auch zu sehen, wie Betreuungspersonen einen Säugling

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zu einem gleichaltrigen oder etwas älteren Kind hindrehten (s. Abb. 15). Präado‑ leszente Babysitter nahmen Säuglinge häufig mit, wenn sie sich mit anderen Ba‑ bysittern trafen, und setzten die Kleinen zueinander, während sie selbst mit den anderen Babysittern spielten. Die deutliche Zunahme der spielerischen, objektbezogenen Peer-Interaktionen im zweiten Lebensjahr ist vor allem darauf zurückzuführen, dass sich die Kinder, sobald sie laufen können, dauerhaft den mobilen Peergroups anschließen, womit sie zudem mit neuen Spielformen in Berührung kommen. Entsprechend wurden die Spiele im Kleinkindalter deutlich komplexer und vielgestaltiger. Zur Explora‑ tion von Objekten gesellten sich vielfältige Als-ob-Spiele: beispielsweise ein Koch‑ spiel mithilfe von Sand, Büchsen und Deckeln (kalahetriky), ein Backspiel mit Sand und Wasser (kimofomofo), ein Spiel mit aus Lehm gefertigten Menschen‑ (kianaky) sowie Rinderfiguren (kiaomby), ein Erzählspiel, bei dem Personen repräsentieren‑ de Steine in Interaktion miteinander gesetzt werden (kitantara) oder Rollenspiele, in denen Kinder Rinder (symbolisiert durch eine Astgabel als Hörner) und Hirten (symbolisiert durch einen Stock) verkörpern oder das bilo-Ritual nachspielten (kibilo). Neben diesen etablierten Spielen, die Kleinkinder offenbar von älteren Kindern übernahmen, erfanden sie aber auch neue Spiele. So zeigt das Videomaterial der spot observation zwei Episoden, bei denen sich Kleinkinder gegenseitig mit Hilfe eines Holzstücks oder rechteckigen Steins ›fotografieren‹ oder ›filmen‹ – offenbar hatte ihnen hierfür meine Arbeit als Inspirationsquelle gedient. Festzuhalten ist, dass die Kinder von Menamaty durchaus ein hohes Maß an Ob‑ jektstimulation erfahren, allerdings vornehmlich in der Interaktion mit Peers. Mütter und andere Betreuungspersonen animieren Säuglinge zwar ebenfalls gelegentlich zum Objektspiel, bieten sich dabei allerdings nicht selbst als Spielpartner an. Viel‑ mehr unterstützen sie, insbesondere die präadoleszenten Babysitter unter ihnen, die Einbettung des Objektspiels in Peer-Interaktionen, indem sie Säuglinge häufig ein‑ ander gegenübersetzen. Zudem bieten sich Peers, die schon im ersten Lebensjahr kontinuierlich präsent sind, als attraktive Spielpartner an, da sie gemeinsame Spiel‑ interessen haben. Somit treten die Peers von Beginn an als zentrale und ab dem zwei‑ ten Lebensjahr als exklusive Partner für die Erkundung der materiellen Umwelt auf.

Praktiken der face-to-face-Interaktion – misoma Während der ersten, zehnmonatigen Feldforschung gelangte ich zu der Einschät‑ zung, dass emotional positiv gefärbte face-to-face-Interaktionen zwischen Müttern oder anderen Erwachsenen und Säuglingen von Menamaty praktisch nicht vor‑ kommen. Vor dem Hintergrund des außerordentlichen Stellenwerts solcher »affectionate« bzw. »liebevollen« Interaktionsformen sowohl im Rahmen euro-ameri‑ kanischer Alltagspraktiken und Werte als auch der Entwicklungspsychologie (z.B. Papoušek & Papoušek 1987) untersuchte ich in der zweiten, dreimonatigen Feldfor‑ schung gezielt spielerische Interaktionsformen, die mit positiven Emotionen und entsprechenden Ausdrucksformen assoziiert sind. Dabei zeigte sich, dass solche Interaktionen in Menamaty sowohl auf der Praxis- als auch auf der konzeptuellen Ebene (misoma) durchaus etabliert sind. In Interviews mit Müttern und Babysittern wurden folgende Formen des misoma beschrieben: Kiviniviny bezeichnet wörtlich ein spielerisches (ki-)Verbergen (-viny) und bezieht sich auf eine Interaktion, bei der die Bezugsperson ihr Gesicht gegen‑

7. Betreuungspraktiken und Interaktionsmuster in den ersten drei Lebensjahren

über dem Kind abwechselnd verbirgt und entblößt. Es hat damit große Ähnlichkei‑ ten mit dem Kuckuckspiel im deutschen oder peek-a-boo im englischen Sprachraum. Kilikiliky bezeichnet ein spielerisches Kitzeln am Bauch, unter den Armen oder am Nacken des Kindes und beinhaltet damit zugleich eine Form der Körperstimulation. Kidrotsy bezeichnet ein waagerechtes oder vertikales Schwenken des Kindes und umfasst ebenfalls Körperstimulation. Diese etablierten misoma-Praktiken zielen al‑ lesamt explizit darauf, das Kind zum Lächeln (misominda, misomibosibo) oder Lachen (mitsikikiky, migeageaky, mikakaky) zu bringen bzw. Freude (faly) bei ihm hervorzu‑ rufen. Dies zeigten etwa die Antworten von Müttern und Babysittern auf die Fra‑ ge, wodurch diese Emotionen und Ausdruckformen veranlasst werden. Auch teilt das Wort misoma den Wortstamm mit den beiden Bezeichnungen für das Lächeln. Instruierte Interaktionen im Rahmen der bereits erwähnten Lächel-Studie machten zudem deutlich, dass fast alle Mütter und kindlichen Babysitter in der Lage waren, Kinder im Alter zwischen drei und 15 Monaten durch kiviniviny‑, kilikiliky‑ und kidrotsy-Interaktionen zum Lächeln oder Lachen zu bringen. Dies steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zu der eingangs erwähn‑ ten Einschätzung, dass Mütter im Alltag kaum spielerische face-to-face-Interaktio‑ nen mit ihren Kleinsten aufnehmen – eine Einschätzung, die sich auch durch die systematische Beobachtungsmethode der spot observation bestätigte: Lediglich auf einem von 727 Beobachtungsvideos ist zu sehen, wie eine Mutter in spielerischer Manier mit ihrem Kind interagiert, indem sie ihre Hände zu einer Schale formt und ihre etwa einjährige Tochter auffordert, diese mit Reis aus einem nahestehenden Eimer erst zu befüllen und dann wieder zu entleeren. Diese Beobachtungsergeb‑ nisse korrespondieren mit der emischen Perspektive: Von 186 Betreuungspraktiken und Interaktionsformen, die Mütter anlässlich der Frage nach dem alltäglichen Um‑ gang mit ihren Babys anführten, betreffen lediglich drei misoma-Interaktionen. Auf einigen, im Rahmen der event observation entstandenen Videoaufnahmen ist zudem zu sehen, wie sich unter einjährige Säuglinge ihren Müttern freudig zuwenden oder lächeln, woraufhin diese gar nicht oder sehr verhalten reagieren oder versuchen, die Aufmerksamkeit des Kindes durch eine Zeigegeste oder ein Wegdrehen auf Gegen‑ stände, Tiere oder andere Kinder zu richten.20 Ein akzentuiertes gegenseitiges An‑ lächeln, also eine Kombination aus Blickkontakt und Lächeln, war im Rahmen von alltäglichen Mutter-Kind-Interaktionen überhaupt nicht zu beobachten. Diese Befunde korrespondieren mit einigen anthropologischen und kultur‑ psychologischen Studien, denen zufolge Eltern in verschiedenen nicht-westlichen Kontexten seltener face-to-face-Interaktionen mit ihren Säuglingen aufnehmen als Eltern der euro-amerikanischen Mittelschicht (z.B. Keller 2007: 22; LeVine et al. 1994: 222). Vor dem Hintergrund psychologischer Annahmen zur Emotionsent‑ 20 | LeVine et al. (1994: 211) bemerkten im Rahmen einer Interaktionsstudie bei den Gusii in Kenia ein ähnliches Verhalten von Müttern, die auf das Lächeln oder Lachen ihrer Kinder teilweise mit Blickvermeidung reagierten. Auch beobachteten die Autoren, dass einige Mütter mit einem »nervösen Lachen« auf die freudigen Reaktionen ihrer Kinder antworteten. Im Rahmen der von mir instruierten face-to-face-Interaktion zwischen Müttern und Kindern war in mehreren Fällen zu beobachten, dass Mütter auf das Lachen ihrer Kinder selbst mit einem lauten Lachen reagierten und dabei auf das Kind zeigten. Dies hatte freilich weniger den Anschein eines empathischen Mitlachens als vielmehr eines Lachens über die vielleicht unerwartete oder als komisch empfundene Reaktion des Kindes.

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wicklung werfen diese Befunde einige Fragen auf. Dies ist zunächst mit Blick auf die Thesen von Hanuš und Mechthild Papoušek (1999: 149-155) zu zeigen. Ihnen zufolge wird die frühkindliche Emotionsentwicklung zu einem großen Teil durch eine »elterliche Didaktik« geprägt, die »wegen ihrer Universalität in Bezug auf Geschlecht, Alter und Kultur […] als intuitives, sehr wahrscheinlich genetisch de‑ terminiertes Verhalten betrachtet« werden könne (1999: 149). Einen Aspekt dieser intuitiven Didaktik beschreiben die Autoren wie folgt: Indem Eltern »alles« tun, um beim Kind positive Emotionen hervorzulocken und negative zu vermeiden bzw. abzustellen, richten sie sich intuitiv an den Bedürfnissen des Kindes aus und fördern sein Lernverhalten, da – wie wir gesehen haben – erfolgreiches Lernen mit positiven Emotionen einhergeht. (Papoušek & Papoušek 1999: 150).

Wie die instruierten Episoden im Rahmen der Lächel-Studie deutlich machten, waren die Mütter aus Menamaty zwar durchaus in der Lage, positive Emotionen bei ihren Säuglingen hervorzurufen und mit diesen auszutauschen; die partizipa‑ tiven und systematischen Beobachtungen weisen jedoch darauf hin, dass Mütter im Alltag kaum auf diese Fähigkeiten zurückgreifen. Die Vermutung von Hanuš und Mechthild Papoušek (1999: 149-155), dass die elterliche intuitive Didaktik ge‑ netisch determiniert sei, ist vor diesem Hintergrund fraglich. Zwar widersprechen meine Ergebnisse nicht einer angeborenen Kapazität für eine solche Didaktik, je‑ doch stehen sie einer direkten Determinierung des Verhaltens entgegen. Die von den Autoren konstatierte kulturübergreifende Universalität beträfe somit lediglich die Fähigkeit, wohingegen die Umsetzung dieser Fähigkeit in Alltagsinteraktionen von impliziten sozialen Normen des jeweiligen Kontextes abhängen dürfte. Für den Forschungskontext dieser Arbeit liegt es nahe, dass die im 3. Kapitel beschriebenen generellen Respektregeln ( fiasia) für hierarchische Beziehungen, denen zufolge Blickkontakt und gegenseitiges Anlächeln zwischen Alt und Jung der gebotenen sozialen Distanz widerspricht, auch im Umgang von Betreuungspersonen mit Säuglingen eine Rolle spielen. Wenn »erfolgreiches Lernen mit positiven Emotionen einhergeht«, wie die Autoren meinen, so stellt sich die Frage, ob die Mütter aus dem südlichen Ma‑ dagaskar ihren Kindern ungünstige Lernvoraussetzungen bieten. Eine weitere entwicklungspsychologische Annahme besagt, dass mimisches Affektspiegeln einen entscheidenden Anteil an der Ausdifferenzierung des Emotionsrepertoires hat (Holodynski & Friedlmeier 2006: 100-103). Dies wirft die Frage auf, welche Schlüsse für die Emotionsentwicklung aus dem äußerst begrenzten Einsatz von face-to-face-Interaktionen durch die Betreuungspersonen in der Forschungsregion zu ziehen sind. Zur Beantwortung dieser Fragen ist, wie schon in den vorangegangenen Ab‑ schnitten betont, die Ausweitung der Perspektive auf das gesamte soziale Umfeld der Kinder unerlässlich, da nur so ihre sozio-emotionalen Erfahrungen angemes‑ sen beurteilt werden können. Diagramm 9 repräsentiert die Beobachtungsanteile von face-to-face-Interaktionen der Fokuskinder mit sämtlichen sozialen Partnern. Als face-to-face-Interaktion wurde das Auftreten eines deutlich sichtbaren, gegen‑ seitigen Blickkontakts codiert. Eine bloße Zuwendung der Gesichter wurde hin‑ gegen nicht berücksichtigt, da diese auch zufällig auftreten kann.

7. Betreuungspraktiken und Interaktionsmuster in den ersten drei Lebensjahren Diagramm 9: Soziale Partner bei face-to-face-Interaktionen und Blickkontakt 30%

0-5 Jahre (Peers)

25%

6-9 Jahre 20%

10-13 Jahre (Babysitter)

15%

14-17 Jahre

10%

18+ Jahre (Erwachsene) Vater

5%

Mutter 0% 3-6 Mon

6-12 Mon

12-16 Mon

24-31 Mon

34-41 Mon

Diese systematisch erhobenen Daten bestätigen, dass die Fokuskinder nur äußerst selten face-to-face-Kontakt mit Erwachsenen hatten. Bemerkenswert bei der Häufig‑ keitsverteilung innerhalb der Erwachsenengruppe ist, dass Mütter trotz ihrer Rolle als primäre Betreuungspersonen am wenigsten in face-to-face-Interaktionen involviert waren und in dieser Hinsicht sogar hinter den Vätern zurücklagen, die sich freilich umgekehrt beim Körperkontakt und der Primärversorgung zurückhielten. Dieses Muster, wonach Bezugspersonen, die eine wichtige Rolle bei der Körperbetreuung übernehmen, nur wenig über face-to-face-Kontakt interagieren (und vice versa), setzt sich auch bei den anderen Erwachsenen fort, die vergleichsweise häufig in face-toface-Interaktionen involviert waren und selten als Betreuungspersonen auftraten.21 Ein besonders scharfer Kontrast besteht jedoch zwischen erwachsenen und kindlichen sozialen Partnern. Den Großteil des face-to-face-Kontakts erlebten die Fokuskinder mit anderen Kindern. Im ersten Lebensjahr spielen noch die zehn- bis 13-jährigen Babysitter die wichtigste Rolle als Partner bei solchen Interaktionen, doch schon zu Beginn des zweiten Lebensjahres gewinnen die Peers eine über‑ ragende Bedeutung in dieser Hinsicht. Face-to-face-Interaktionen mit anderen Kin‑ dern traten nicht nur wesentlich häufiger auf als mit Erwachsenen, sondern hatten häufig auch einen intensiveren Charakter; d.h., die Episoden dauerten länger an, der emotionale Ausdruck war eindeutig stärker ausgeprägt und auch der verbale Austausch spielte eine deutlich wichtigere Rolle.22 21 | Dies bekräftigt das Ergebnis von Keller (2007: 23), wonach die Elternsysteme des Körper- und face-to-face-Kontakts tendenziell negativ korrelieren. 22 | Die verbalen Kommunikationspraktiken im Säuglings‑ und Kleinkindalter werden hier aus Platzgründen nicht eigens dargestellt. Zusammenfassend lassen sich diese wie folgt charakterisieren: Die verbale Kommunikation mit Erwachsenen beschränkte sich weitgehend auf die Verwendung knapper, imperativischer oder direktiver Äußerungen seitens der Erwachsenen und nahm kaum die Form eines Dialogs an. Kleinkinder benutzten ihren Eltern gegenüber meist nur einzelne, häufig fragende Wörter, was bei mir zu Beginn der Feldforschung den Eindruck erweckte, dass sie kaum des Sprechens mächtig sind. Die systematischen Beobachtungen im Rahmen der spot observation haben mich jedoch darauf aufmerksam gemacht, dass Kleinkinder durchaus verbal aktiv sind – und zwar vorwiegend in Interaktionen mit ihren Peers. Damit entspricht die soziale Einbettung der verbalen Kommunikation den anderen distalen Interaktionsformen.

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

Die Zuwendung zu den Peers als primäre Partner von face-to-face-Interaktionen im Übergang zum zweiten Lebensjahr wurde Beobachtungen zufolge sowohl von Müttern als auch von Babysittern aktiv vorbereitet und gefördert. Immer wieder war zu beobachten, wie Betreuungspersonen das Gesicht ihres Babys nah an das Gesicht eines anderen Kindes hielten (s. Abb. 15). Allein die typische räumlich-kör‑ perliche Konstellation, in welcher der Säugling mit dem Rücken zur Betreuungs‑ person oder seitwärts auf ihrem Schoß sitzt und von anderen Kindern umgeben ist, begünstigt face-to-face-Interaktionen mit den Peers. Die Berücksichtigung des gesamten sozialen Umfeldes führt also zu dem Schluss, dass die Säuglinge und Kleinkinder von Menamaty keineswegs wenig face-to-face-Stimulation erlebten. Im Unterschied zu den Interaktionsmustern bei Angehörigen der westlichen Mittelschicht traten jedoch nicht Eltern als primäre Partner von face-to-face-Interaktionen auf, sondern vielmehr andere Kinder, insbe‑ sondere Peers. Allerdings erschöpfen sich die Unterschiede nicht in einer anderen sozialen Einbettung. Keller (2003: 301) zufolge räumen Mütter und andere Erwach‑ sene der deutschen Mittelschicht Kindern in face-to-face-Interaktionen eine ›quasigleichberechtigte‹ Position ein. Die face-to-face-Interaktionen zwischen den Peers aus Menamaty beruhen hingegen auf einer faktischen Egalität und sind weniger durch pädagogische Intentionen geprägt.

Zusammenfassung und Diskussion Dieser Abschnitt zu den distalen Interaktionsformen hat gezeigt, dass Säuglinge und Kleinkinder in Menamaty nur selten kognitiv oder emotional stimulierende Interaktionen mit ihren Eltern und anderen Erwachsenen erleben, was den Er‑ gebnissen mehrerer Studien zu verschiedenen kulturellen Kontexten außerhalb Europas und den USA entspricht (z.B. Keller 2007: 22; Lancy 2007; LeVine 1994: 210-213). Zumindest im Hinblick auf die hier betrachteten Kinder kann daraus je‑ doch nicht geschlussfolgert werden, dass sie seltener Gelegenheit zur explorativen, spielerischen und interaktiven Auseinandersetzung mit ihrer physischen und so‑ zialen Umwelt haben. Denn anstelle von Erwachsenen bieten sich ältere Kinder und Peers kontinuierlich als Partner für emotional und kognitiv herausfordernde oder animierende Interaktionen an. Die Berücksichtigung der gesamten sozialen Umwelt von Kindern ermöglicht überdies ein besseres Verständnis der Distanzierung zwischen Müttern und Kin‑ dern in den ersten beiden Lebensjahren: Da Kinder spielerische, freudvolle und emotional animierende Interaktionen schon im ersten Lebensjahr mit ihren Peers erleben und kaum Anlass haben, entsprechende Zuwendungsformen von Erwach‑ senen und Älteren zu erwarten, ist es durchaus nachvollziehbar, dass sie ein großes Eigeninteresse an der Gesellschaft der Gleichaltrigen entwickeln und die Erwach‑ senen nur noch gelegentlich, etwa zu den Mahlzeiten, aufzusuchen. Vor diesem Hintergrund werden auch die Aussagen mehrerer Mütter verständlich, wonach sich Kleinkinder vor allem aus eigenem Antrieb von ihnen distanzierten. Rostiny, eine ca. 20-jährige Mutter von zwei Kindern, die ich fragte, was ihren Sohn Stova freudig ( faly) stimmen würde, meinte etwa: »Er ist fröhlich, wenn er mit anderen Kindern spielt, da er meiner Brust überdrüssig (etsaky) ist.«

8. Sozio-emotionale Entwicklungspfade der ersten Lebensjahre

Nach der Beschreibung der Entwicklungsnische von Säuglingen und Kleinkindern in den drei vorangehenden Kapiteln ist nun die Emotionsentwicklung dieser Kin‑ der selbst in den Blick zu nehmen. Dabei beschränke ich mich allerdings auf die Rekonstruktion sozio-emotionaler Entwicklungspfade. Dieses in der theoretischen Einführung skizzierte Konzept bezieht sich auf die der Entwicklungsnische in‑ härenten Entwicklungsbedingungen. Obwohl die Entwicklungsnische der 42 nä‑ her betrachteten Kinder von Menamaty erstaunlich homogen zu sein scheint, sind selbstverständlich auch interindividuelle Differenzen in der Emotionsentwicklung anzunehmen, die aus idiosynkratischen Eigenschaften der Kinder und ihrer Be‑ zugspersonen resultieren. Hier liegt der Fokus jedoch auf den allen Kindern ge‑ meinsamen emotionalen Entwicklungstendenzen. Dieses dreiteilig gegliederte Kapitel rekonstruiert zunächst einen Entwick‑ lungspfad der Emotionsregulation, geht dann auf emotional animierende Erfah‑ rungsmuster und ihre Entwicklungskonsequenzen ein und wendet sich schließ‑ lich den mit beiden Entwicklungspfaden verbundenen Bindungsformen zu, die als wichtige Voraussetzungen für die gezielte Sozialisierung moralischer Emotionen angesehen werden können.

B eruhigende E rfahrungsmuster Die Analyse der Interviews mit Müttern und kindlichen Babysittern im 5. Kapi‑ tel hat bereits deutlich gemacht, dass diese im Hinblick auf die Emotionalität von Säuglingen ein möglichst schnelles und effektives Beruhigen bzw. ein dauerhaftes Ruhighalten als primäres Ziel betrachteten. In Übereinstimmung damit charak‑ terisierten vor allem Mütter, aber auch Babysitter das wünschenswerte Verhalten von Säuglingen als ruhig, den entsprechenden emotionalen Zustand als ›klares Herz‹ (mangoa fo) bzw. ›friedliches Herz‹ (miada fo) und betonten, dass ein ›idea‑ ler Säugling‹ schnell zu beruhigen sei und nicht grundlos weine. Der Austausch intensiver positiver Emotionen, dem in vielen westlichen Gesellschaften ein hoher Stellenwert beigemessen wird (Lamm 2013), hatte für Mütter hingegen keinen ho‑ hen Stellenwert.

272

Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

Nach ihren Methoden des Beruhigens gefragt, nannten Mütter am häufigsten das Stillen (26), das Tragen auf der Hüfte (18) oder auf dem Rücken (11), die Körper‑ stimulation des Wippens (10), Objektstimulation (7) sowie das Füttern des Kindes (5). Die systematische Beobachtung der spot observation und deren Analyse im 7. Kapitel nach den Dimensionen des Körperkontakts, der Körperstimulation sowie der Primärversorgung bestätigen aus einer etischen Perspektive, dass die Säug‑ linge aus Menamaty ein außerordentlich hohes Maß an diesen beruhigenden oder ruhighaltenden Formen der körperlichen Zuwendung erfuhren. Der Zusammenhang zwischen körperzentrierten Betreuungspraktiken und Beruhigung wurde bereits in anderen Studien aufgezeigt: Im Rückgriff auf Mel‑ vin Konners Forschung bei den !Kung San eruiert Roland Barr (1990: 364) sechs Betreuungsdimensionen, die das Weinen und die Distress-Erfahrung von Säug‑ lingen reduzieren: (1) die Präsenz vieler potenzieller Bezugspersonen, (2) kontinu‑ ierlicher Körperkontakt mit einer Bezugsperson, (3) häufiges Tragen, (4) die damit verbundene aufrechte Körperposition des Kindes, (5) häufiges Stillen, sowie (6) die permanente Responsivität der Bezugspersonen. Wie gezeigt, entsprechen die Betreuungserfahrungen der Säuglinge aus Menamaty diesen sechs Dimensionen uneingeschränkt. Aus Sicht der Mütter und Babysitter wäre allerdings noch die Praktik des Wippens als Form der beruhigenden Körperstimulation als siebte Di‑ mension hinzuzufügen. Dass solche, auf Körperkontakt basierende Betreuungspraktiken möglicher‑ weise kulturübergreifend eine beruhigende Wirkung haben, legt eine Längs‑ schnittstudie der Kindermediziner Hunziker und Barr nahe (1986): Einmonatige Säuglinge aus Montreal, deren Mütter angewiesen wurden, ihnen möglichst viel Körperkontakt zu bieten, weinten in den folgenden Monaten deutlich seltener als Säuglinge aus einer Vergleichsgruppe, deren Eltern nicht in dieser Weise instruiert wurden. In einer weiteren Studie (Barr & Elias 1988) konnte gezeigt werden, dass neben Körperkontakt auch kurze Stillintervalle und eine hohe Responsivität auf die Distress-Signale des Säuglings zu einer Verminderung des Weinens beitragen. Auf der Grundlage meiner eigenen Beobachtungen und Interviews lässt sich der Zusammenhang zwischen körperzentrierten Praktiken und effektiver Beruhi‑ gung wie folgt nachvollziehen: Nahezu permanenter Körperkontakt ermöglicht Be‑ treuungspersonen eine besonders schnelle und feinfühlige Reaktion auf DistressÄußerungen des Kindes: Zum einen muss die Bezugsperson nicht erst Kontakt zu ihrem Säugling aufnehmen und eventuell ein andere Tätigkeit unterbrechen, wenn dieser Distress äußert, vielmehr kann sie ihn umgehend stillen oder wippen. Die beschriebenen Muster der geteilten Aufmerksamkeit, der zufolge Betreuungsper‑ sonen häufig parallel einer Haushaltsaktivität oder Konversation nachgehen und ihrem Kind körperlich zugewandt sind, haben zwar zur Folge, dass Säuglinge sel‑ ten volle Aufmerksamkeit durch die jeweilige Betreuungsperson erfahren, impli‑ zieren jedoch zugleich eine kontinuierliche geteilte Aufmerksamkeitszuwendung. Da Mütter diese Praktiken der Säuglingsbetreuung schon in ihrer Kindheit als Ba‑ bysitter eingeübt haben, sind sie in besonderer Weise dazu befähigt, die Signale ihrer Babys selbst dann schnell zu registrieren, wenn sie zugleich in andere Tätig‑ keiten involviert sind. Zum anderen erweitert kontinuierlicher Körperkontakt auch das Spektrum der Kommunikationsmedien, da hierdurch die Betreuungsperson aufkommendes Unbehagen des Kindes nicht nur über Lautäußerungen oder den Gesichtsausdruck, sondern auch taktil über motorische Unruhe oder Veränderun‑

8. Sozio-emotionale Entwicklungspfade der ersten Lebensjahre

gen des Muskeltonus wahrnehmen kann. Entscheidend ist, dass motorische Unru‑ he dem Weinen vorangeht (Holodynski & Friedlmeier 2006: 88). Damit ermöglicht kontinuierlicher Körperkontakt Betreuungspersonen nicht nur eine besonders schnelle und mühelose Reaktion auf die Distress-Signale von Säuglingen, sondern auch eine Wahrnehmung aufkommenden Unbehagens über Körpersignale, noch bevor ihre Babys zu weinen beginnen. Darüber hinaus schreiben die Mütter der Untersuchungsdörfer dem Körperkontakt per se eine beruhigende Wirkung zu, weshalb kontinuierliches Tragen auch als Praxis proaktiver Distress-Regulation an‑ gesehen werden kann. Nun stellt sich die Frage, wie sich diese beruhigenden Praktiken auf das Aus‑ drucksverhalten von Säuglingen auswirken und welchen Entwicklungsverlauf dieses in den ersten Lebensjahren nimmt. Beantworten lässt sich diese Frage zu‑ mindest annäherungsweise auf der Basis der spot observation. Beim Codieren des Distress-Ausdrucks wurde in Anlehnung an die Literatur zwischen zwei Formen unterschieden: zwischen dem Weinen (crying) als einer relativ kontinuierlichen, intensiven Lautäußerung des Unbehagens, die meist auch mit Tränenfluss einher‑ geht und dem Jammern ( fussing) als einer wesentlich schwächeren, diskontinuier‑ lichen Lautäußerung des Unbehagens, die nicht mit Tränenfluss einhergeht. Diagramm 10: Jammern und Weinen in den ersten drei Lebensjahren 12%

10%

Jammern (diskontinuierliche Lautäußerung ohne Tränen)

8% 6% 4%

Weinen (kontinuierliche Lautäußerung mit Tränen)

2% 0% 3-6 Mon

6-12 Mon

12-16 Mon

24-31 Mon

34-41 Mon

Diagramm 10 macht deutlich, dass die Fokuskinder wesentlich häufiger jammer‑ ten als weinten. Lediglich bei sechs von 727 Einzelbeobachtungen war ein Kind weinend anzutreffen, wobei nur eines der sechs Kinder älter als ein Jahr war. Le‑ diglich in einem Fall befand sich das weinende Kind im Körperkontakt mit seiner Mutter – es weinte offenbar, weil es gegen seinen Willen gefüttert wurde. Bei den anderen fünf Beobachtungen weinender Kinder war die Mutter nicht in der Nähe, vielmehr die Babysitterin in einem Fall und Peers in drei Fällen (in einem Fall war niemand in der Nähe). In Gesellschaft von Peers wurde das Weinen zweier Kinder durch einen Streit veranlasst, und eines der Kinder hatte sich beim Spielen mit seinen Altersgenossen einen Finger eingeklemmt. In einem weiteren Fall war das Kind offenbar alleine in einem Raum aufgewacht, beruhigte sich aber sofort, als es von der herbeieilenden Mutter auf den Arm genommen wurde. Exzessives Schrei‑

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

en, also ein nur schwer zu beruhigendes, dauerhaftes Weinen,1 das laut Savino et al. (2013) bei 20 bis 30 Prozent von Säuglingen aus westlichen Industrienationen auftritt, konnte ich auch im Rahmen der alltäglichen Partizipation bei keinem ein‑ zigen Säugling beobachten. Aufgrund der engen Bebauung und Hellhörigkeit der Häuser in den Dörfern von Menamaty wäre exzessives Schreien wohlgemerkt für sämtliche Dorf bewohner hörbar gewesen (und hätte wohl auch für einigen Unmut gesorgt). Die 26 beobachteten Episoden des Jammerns betreffen größtenteils ebenfalls Kinder im ersten Lebensjahr. Bemerkenswert ist angesichts des nahezu perma‑ nenten Körperkontakts im ersten Lebensjahr, dass sich 18 der jammernden Kinder nicht in Körperkontakt mit der Mutter befanden, häufig aber in deren Nähe. Dies deutet darauf hin, dass Säuglinge mit dem Jammern gezielt an ihre Mütter (oder andere Bezugspersonen) appellieren, sie aufzunehmen oder zu stillen – was in den meisten Fällen auch geschah. Lediglich bei Kindern, die bereits laufen konnten und offenbar aufgenommen werden wollten oder denen eine Waschprozedur un‑ angenehm war, reagierten die Mütter nicht mit tröstender Zuwendung. Gemäß der oben angeführten These, dass kontinuierlicher Körperkontakt Bezugspersonen die Möglichkeit bietet, bereits vor einer Lautäußerung auf die Körpersignale ihrer Babys zu reagieren, jammerten Säuglinge mit Körperkontakt lediglich bei elf von 278 Beobachtungen. Bei den elf Kindern erschöpfte sich das Jammern meist nach einer einmaligen Lautäußerung, wobei nicht immer auszumachen war, ob es sich dabei wirklich um einen Ausdruck des Unbehagens handelte. Insgesamt weist der Umstand, dass die meisten Kinder ihr Unbehagen allenfalls über ein leises Jam‑ mern und nicht über ein lautstarkes Weinen oder Schreien zum Ausdruck brach‑ ten, darauf hin, dass sie von Anfang an damit rechnen konnten, eine schnelle und befriedigende Antwort auf ihre Rufe zu erhalten. Nun stellt sich noch die Frage nach den Veränderungen des Weinens und Jam‑ merns in den ersten Lebensjahren. Diagramm 10 zeigt eine deutliche Häufigkeits‑ abnahme dieser Ausdrucksformen bis zum zweiten Lebensjahr. Die Kleinkinder im Alter von zwei bis drei Jahren waren im Rahmen der spot observation sogar überhaupt nicht mehr beim Weinen zu beobachten. Lediglich zwei der Kleinkin‑ der jammerten während der spot observation, weil sie sich zuvor beim Spielen mit ihren Peers gestritten hatten. Einer der betroffenen Jungen stand etwas abseits, hatte seinen rechten Arm mit geballter Faust erhoben – was wiederholt bei wüten‑ den Kleinkindern zu beobachten war –, hörte aber schnell zu jammern auf, ohne Beistand von Älteren zu suchen. Der andere Junge war nach dem Streit zu seiner Mutter gelaufen, die ihn verbal aufforderte, sich zu beruhigen und ihm schließlich vorschlug, sich ein Stück Süßkartoffel in der Küche zu holen. Während ähnliche, durch Peers veranlasste Emotionsepisoden immer wieder im Rahmen der alltäg‑ lichen Partizipation zu beobachten waren, konnte ich nur in einem einzigen Fall bezeugen, wie ein Kleinkind in der Interaktion mit einer erwachsenen Person laut weinte: Ein etwa zweijähriges Mädchen, das einen Klaps erhalten hatte, schrie hef‑ tig protestierend und schien von seiner Mutter noch weiter angestachelt zu werden, indem diese mehrmals mit erhobenem Arm einen weiteren Schlag andeutete. 1 | In der Literatur ist eine Definition gebräuchlich, wonach exzessives Schreien dann vorliegt, wenn Säuglinge mindestens drei Stunden pro Tag, an drei Tagen in der Woche über einen Zeitraum von drei Wochen schreien (vgl. Barr 1990: 362).

8. Sozio-emotionale Entwicklungspfade der ersten Lebensjahre

Vor dem Hintergrund meiner Herkunftsgesellschaft, die zahlreiche Gelegen‑ heiten bietet, weinende Kleinkinder in Interaktionen mit ihren Bezugspersonen zu beobachten, erscheint der Umstand erstaunlich, dass die Kleinkinder aus Me‑ namaty nur äußerst selten weinten. An ein deutschsprachiges Publikum gerichtete Erziehungsratgeber wie »Gelassen durch die Trotzphase« (Kast-Zahn 2011) oder »Das Trotzkopfalter: Der Ratgeber für Eltern von 2‑ bis 6‑jährigen Kindern« (Heu‑ eck-Mauß 2009) legen nahe, dass das Kleinkindalter in besonderem Maße mit emotional ausgetragenen Eltern-Kind-Konflikten assoziiert wird. In der entwick‑ lungspsychologischen Forschung wurde der Begriff der kleinkindlichen Trotzpha‑ se zwar durch den der Autonomiephase ersetzt,2 allerdings gilt das Kleinkindalter weiterhin als besonders konfliktträchtig. Holodynski und Friedlmeier (2006: 120) zufolge geraten Kleinkinder deshalb immer wieder in emotionsgeladene Konflikte mit ihren Bezugspersonen, weil erstere gemäß ihren früheren Erfahrungen eine umgehende Befriedigung ihrer Wünsche und Bedürfnisse erwarten, während letztere dazu nicht mehr jederzeit willens oder in der Lage sind. Auch wenn sich nicht ohne Weiteres begründen lässt, dass die Kleinkinder aus Menamaty weniger Konflikte mit ihren Bezugspersonen erlebten, so stellt sich doch die Frage, warum diese äußerst selten versuchten, ihren Wünschen und Bedürfnissen durch ein laut‑ starkes Trotzverhalten Aus‑ und Nachdruck zu verleihen. Als ein Grund hierfür kommt der ausgeprägte asymmetrische Charakter der Säuglingsbetreuung infrage: In den körperzentrierten Betreuungsinteraktionen übernimmt die Bezugsperson klar eine gebende, aktive und das Kind eine emp‑ fangende, passive Rolle, zudem wird es von seinen Betreuungspersonen kaum ins Zentrum ungeteilter Aufmerksamkeit gerückt. Eine derart klare Kommunikation des faktischen Kräfteverhältnisses dürfte Kinder nicht ermuntern, ihre eigenen Wünsche und Interessen auch gegen den Willen der Betreuungspersonen mittels heftiger Emotionsäußerungen durchzusetzen zu versuchen.3 Demgegenüber dürf‑ te ein kindzentrierter, distaler, empathischer und symmetrischer Interaktionsstil, wie ihn etwa LeVine et al. (1994: 252) für US-amerikanische Eltern aus Boston beschreiben, Kinder gerade darin bekräftigen, ihre Eltern über machtvolles emo‑ tionales Ausdrucksverhalten zu bewegen. Indem Eltern ihren Kindern eine aktive Rolle in der Interaktion zuweisen, sich ihnen mit voller Aufmerksamkeit zuwen‑ den und bereitwillig an deren Emotionen orientieren, bieten sie Kindern Erfah‑ rungen, denen zufolge sich das Verhalten der Bezugspersonen in hohem Maße durch den eigenen Emotionsausdruck beeinflussen lässt. Vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen ergibt es durchaus Sinn, das emotionale Ausdrucksverhalten zu intensivieren, wenn sich Bezugspersonen gelegentlich weigern, dem eigenen Wunsch zu entsprechen.

2 | Denkbar ist, dass diese Begriffsverschiebung innerhalb der Entwicklungspsychologie mit einem historischen Trend in westlichen Kontexten von einem eltern‑ hin zu einem kindzentrierten Erziehungsmodell einhergeht, da beim Begriff der Trotzphase das Abweichen des Kindes von den elterlichen Erwartungen und beim Konzept der Autonomiephase die Entwicklung des Kindes selbst im Vordergrund steht. 3 | Dem dritten Teil dieser Arbeit vorausgreifend ist dem hinzuzufügen, dass auch die Praxis leichter Körpersanktionen ab dem Kleinkindalter das asymmetrische Verhältnis zwischen Bezugspersonen und Kindern unterstreicht.

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

Allerdings ist zu bedenken, dass Betreuungspersonen aus Menamaty äußerst rasch auf die Distress-Signale von Säuglingen reagieren, womit letztere ebenfalls lernen sollten, durch solche Emotionsäußerungen die Zuwendung ihrer Betreu‑ ungspersonen herbeizuführen. Dies wirft die Frage auf, weshalb Säuglinge mit zu‑ nehmendem Alter trotzdem immer seltener Distress-Appelle an ihre Betreuungs‑ personen richten und Kleinkinder dies nahezu gänzlich unterlassen. Beantworten lässt sich diese Frage wiederum mit dem Hinweis auf den körperzentrierten Betreu‑ ungs‑ und Beruhigungsmodus: Gemäß der mütterlichen Sorge um das körperliche Wohl und Gedeihen ihrer Säuglinge interpretieren sie deren Distress-Ausdruck in erster Linie als Ausdruck körperlicher Bedürfnisse und reagieren mit einer entspre‑ chenden körperlichen Zuwendung. Einigen beobachteten Episoden zufolge unter‑ ließen Mütter eine tröstende Zuwendung bei etwas älteren Säuglingen, wenn sich deren Distress-Ausdruck offensichtlich auf ein in ihren Augen nicht gerechtfertigtes Bedürfnis bezog: Bei der oben erwähnten Wasch-Episode ließ sich die Mutter in kei‑ ner Weise von dem Jammern ihrer Tochter erweichen, der offenbar das kalte Wasser unangenehm war. Mehrfach war zu beobachten, wie ungefähr einjährige Kinder, die bereits gut laufen konnten, durch das Jammern ihren Müttern signalisierten, dass sie getragen werden wollten. Auch in diesen Fällen reagierten die Mütter nicht. So‑ mit können Säuglinge von Anfang an lernen, dass ihr Distress-Ausdruck nur dann zu einer befriedigenden Antwort führt, wenn sie tatsächlich ein körperliches Be‑ dürfnis verspüren und bei dessen Befriedigung auf Beistand angewiesen sind. Da nun in den ersten Lebensjahren die physische Autonomie rasch zu- und die direkte körperliche Bedürftigkeit abnimmt, gehen für heranwachsende Kinder auch die An‑ lässe zurück, körperliche Zuwendung emotional einzufordern. Die dargelegten Beobachtungen, wonach Betreuungspersonen im Umgang mit Säuglingen darauf zielen, diese möglichst schnell zu beruhigen oder ruhig zu hal‑ ten (und damit intensive Emotionen sowohl mit negativer als auch mit positiver Valenz zu vermeiden), finden sich in ähnlicher Form in mehreren kulturanthropo‑ logischen Publikationen zur Sozialisation in verschiedenen afrikanischen, ost‑ und südostasiatischen Gemeinschaften.4 Innerhalb der kulturpsychologischen Emo‑ tionsforschung liegen Bestrebungen vor, solche Beobachtungen in die geradezu paradigmatischen Modelle von interdependenten bzw. relationalen und indepen‑ denten bzw. autonomen kulturellen Orientierungen zu integrieren (z.B. Friedlm‑ eier 2013; Keller & Otto 2009; Kitayama et al. 2006; Lamm 2013; Mesquita & Al‑ bert 2007; Trommsdorff & Rothbaum 2008). In kulturellen Kontexten mit einer relationalen Orientierung würden Individuen dahingehend sozialisiert, intensive, spontane Emotionen in hohem Maße zu kontrollieren (oder gar nicht erst zu erle‑ ben), weil diese die wertgeschätzte soziale Harmonie und Ordnung bedrohten bzw. die Individualität und Autonomie der Person zu sehr in den Vordergrund rückten. Demgegenüber würde in kulturellen Kontexten mit einer autonomen Orientierung emotionale Expressivität sozialisiert. So kommen etwa Keller und Otto auf der Ba‑ sis eines Vergleichs zwischen den Erziehungsstrategien deutscher Mittelschichts‑ und kamerunischer Nso-Mütter zu folgendem Schluss: 4 | Etwa LeVine et al. (1994) zu den Gusii, Kenia; Goldschmidt (1975) zu den Sebei, Kenia; Barr et al. (1991) zu den !Kung, Botswana; Lamm (2013) zu den Nso, Kamerun; Röttger-Rössler (2014b) zu den Makassar, Indonesien; Rothbaum et al. (2000) zu japanischen Familien.

8. Sozio-emotionale Entwicklungspfade der ersten Lebensjahre Whereas the Nso socialization strategy is aimed at early emotional control with a special emphasis on the suppression of negative emotion, German urban middle-class parents emphasize the expression of emotions, especially instantiating and maintaining positive emotionality. Early emotional control is regarded as part of a self-definition where relatedness is the developmental organizer; early emotional expressiveness is regarded as part of a self-definition, where autonomy is the developmental organizer. (Keller & Otto 2009: 1009)

Die angeführte kulturanthropologische und -psychologischen Sozialisationsfor‑ schung fokussiert jedoch implizit oder explizit auf die Sozialrelation Betreuungs‑ person-Kind. Damit lässt sie die Möglichkeit außer Acht, dass Kinder in informellen Beziehungen mit ihren Altersgenossen emotionale Umgangsformen kultivieren, die deutlich von denjenigen abweichen, die sie mit ihren Betreuungspersonen einüben.5 Die Mütter sowie die anderen erwachsenen Bezugspersonen und die präadoleszen‑ ten Babysitter aus Menamaty zielten mit ihren Betreuungspraktiken zwar erfolgreich darauf, Kindern in den ersten Lebensjahren intensive Emotionen zu ersparen und insbesondere den Ausdruck von Distress zu minimieren, dieses Anliegen kann den Peers, in deren Gesellschaft Kinder ab dem zweiten Lebensjahr die meiste Zeit des Tages verbrachten, allerdings nicht unterstellt werden. Als wichtige Ergänzung zu diesem Unterkapitel, das sich vornehmlich auf die hierarchische Sozialrelation be‑ zieht, werde ich im Folgenden die vorwiegend in egalitäre Peer-Relationen eingebet‑ teten Muster emotionaler Stimulation und Anregung in den Blick nehmen. Abbildung 19 (Mitte): Lukasy (m 28 Mon.) nimmt mit Marna (w 14 Mon.) Kontakt auf, indem er sie wiederholt anlächelt.

5 | Als Gründe für diese hartnäckige bias sind nicht nur die den Blick prägenden Verhältnisse in den Herkunftskontexten der Forschenden zu sehen, sondern auch die Orientierung an den kulturellen Modellen der untersuchten Gruppe. Denn dabei handelt es sich in der Regel um die geteilten Vorstellungen und Werte der Betreuungspersonen und nicht um jene der Peers – zumal letztere schwierig zu erheben sind. Dies soll nicht als Aufruf zu einer Missachtung, sondern vielmehr zu einer präzisen sozialen Zuordnung der untersuchten kulturellen Modelle verstanden werden.

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Abbildung 20: Kleinkinder wippen auf einer Tür und verschaffen sich damit intensive Erfahrungen positiver Emotionen.

Abbildung 21: Motso (m 10 Mon.) und Maharo (m 12 Mon.) werden zum »Kämpfen« animiert.

E motionalisierende E rfahrungsmuster Im 7. Kapitel wurde deutlich, dass die Kinder aus Menamaty in den ersten Lebens‑ jahren zahlreiche Gelegenheiten für anregende soziale Erfahrungen haben – al‑ lerdings weniger im Umgang mit ihren Betreuungspersonen als vielmehr in der Interaktion mit ihren Peers: Während sich Babys im ersten Lebensjahr nahezu permanent in der Obhut einer Betreuungsperson befanden, standen ihnen zu‑ meist weitere Personen in Reichweite bzw. in distaler Relation zur Seite, häufig gleichaltrige oder etwas ältere Kinder. Insofern Säuglinge typischerweise seitwärts oder in gleicher Blickrichtung auf dem Schoß ihrer Betreuungspersonen saßen, befanden sie sich meist in einer geeigneten Position, um mit den Kindern in ihrer unmittelbaren Umgebung Kontakt aufzunehmen bzw. in spielerische Interaktion mit ihnen zu treten. Immer wieder war zu beobachten, wie Mütter oder Babysitter Säuglinge zu ihren Peers hindrehten oder diesen gegenüber positionierten, sobald sie selbständig sitzen konnten.

8. Sozio-emotionale Entwicklungspfade der ersten Lebensjahre

Die quantitativen Daten zum Spiel mit Objekten (mihisa) sowie zu face-to-faceInteraktionen (misoma) lassen keinen Zweifel daran, dass Säuglinge auf dieses anregende Umfeld eingingen: Kinder im Alter von sechs bis zwölf Monaten be‑ schäftigten sich bereits bei einem Drittel der Beobachtungen mit den Objekten ihrer Umwelt und interagierten dabei fast ausschließlich mit ihren Peers. Faceto-face-Interaktionen erlebten Kinder im ersten Lebensjahr zwar noch vorwiegend mit älteren Kindern, diese wurden im zweiten Lebensjahr allerdings nahezu voll‑ ständig durch Peers ersetzt. Da explorative, spielerische Aktivitäten in den ersten Lebensjahren stark an Bedeutung gewinnen und da sich in erster Linie Peers als Spielpartner anboten, ist es nicht verwunderlich, dass die zwei‑ bis dreijährigen Kinder aus Menamaty bereits die meiste Zeit des Tages mit Kindern aus ihrer Al‑ tersgruppe interagierten und nur noch gelegentlich – etwa zum Essen – die Nähe ihrer Mütter und anderer Erwachsener suchten. Es liegt nahe, dass sich die Kinder vor allem auf der Suche nach emotionaler Anregung ihren Peers zuwandten – zumal sie in dieser Hinsicht von ihren Müt‑ tern und Babysittern nur wenig erwarten konnten. Einige erwachsene Gesprächs‑ partner machten deutlich, dass Säuglinge der Gesellschaft ihrer Mütter allmäh‑ lich ›überdrüssig‹ (etsaky) würden und sich meist aus eigenem Antrieb den Peers anschlössen. Auch verknüpften meine Gesprächspartner die beiden Modi spiele‑ rischer Aktivitäten unter Kindern, mihisa und misoma, eindeutig mit Emotionen der Freude und deren Ausdruck: Lächeln und Lachen. Die Hypothese, dass die Säuglinge und Kleinkinder von Menamaty vor allem im Umgang mit ihren Peers emotional anregende Erfahrungen machen und in einer emotional expressiven Art und Weise mit ihnen interagieren, lässt sich über Beobachtungen ihres emotiona‑ len Ausdrucksverhaltens prüfen. Mit diesem Erkenntnisziel wurde das Videomaterial der spot observation nach den Ausdrucksformen für freudige Emotionen codiert. In der lokalen Sprache lassen sich diese Ausdrucksformen mit dem Sammelbegriff mihehy bezeichnen, der dem ›Lächeln‹ und ›Lachen‹ entsprechende Verhaltensweisen umfasst und mit Emotionen der Freude ( faly) assoziiert wird. Eine Reihe spezifischer Bezeich‑ nungen ermöglicht eine weitere Differenzierung: Die lautmalerischen Verben mikakaky, migeageaky, mitsikikiky und mitohaky bezeichnen verschiedene mit lauter Stimme geäußerte und damit dem ›Lachen‹ vergleichbare Ausdrucksformen; die Wörter misomibosibo und misominda, die die Bezeichnung für Lippe (somy) enthal‑ ten, beziehen sich auf ein lautloses, dem ›Lächeln‹ ähnliches Ausdrucksverhalten. Diagramm 11 bildet die Anteile der Beobachtungen ab, bei denen die Fokuskinder in diesem Sinne lächelten oder lachten. Bei Kindern im ersten Lebensjahr waren die Ausdrucksformen des Lächelns und Lachens demnach noch selten zu beobachten.6 Allerdings begannen Kinder im zweiten Lebensjahr regelmäßig zu lächeln und ab dem dritten Lebensjahr zu la‑ chen. Der Umstand, dass zwei‑ bis dreijährige Kinder gar bei 20 bis 30 Prozent der Beobachtungen lächelten oder lachten, weist darauf hin, dass Kleinkinder durch‑ aus ein hohes Maß an freudigen Emotionen erlebten bzw. zum Ausdruck brachten. Damit bestätigt sich die oben angeführte Hypothese insofern, als die Kinder aus 6 | Den Aussagen der zum erstmaligen Auftreten befragten Mütter zufolge beginnen Säuglinge durchschnittlich mit 2,2 Monaten (n 40) zu lächeln und mit 3,5 Monaten (n 37) zu lachen.

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Menamaty nicht nur emotional beruhigende auf ihr körperliches Wohl bezogene Zuwendung durch ihre Betreuungspersonen erleben, sondern ebenso Emotionen der Freude mit ihren sozialen Partnern austauschen. Diagramm 11: Lächeln und Lachen in den ersten drei Lebensjahren 35% 30%

25% 20%

Lächeln

15%

10%

Lachen

5%

0% 3-6 Mon

6-12 Mon

12-16 Mon

24-31 Mon

34-41 Mon

Um zu prüfen, ob Kinder tatsächlich vorwiegend in der Interaktion mit ihren Peers freudvolle Emotionen erleben und zum Ausdruck bringen, setzt Diagramm 12 die Lach- und Lächel-Episoden der Fokuskinder in Relation zu den jeweiligen Interak‑ tionspartnern.7 Diese Daten legen nahe, dass Kinder ab dem zweiten Lebensjahr zu einem überragenden Anteil im Umgang mit ihren Peers lächelten oder lachten. Im Alter von etwa drei Jahren zeigten Kinder diese Ausdrucksformen sogar zu rund 80 Prozent in Interaktionen mit ihren Altersgenossen oder Kindern aus der Alters‑ gruppe von sechs bis neun Jahren. Diese Daten bestätigen also, dass die Kinder aus Menamaty vor allem im Umgang mit ihren Peers lachten und lächelten. Diagramm 12: Soziale Partner beim Lächeln oder Lachen 35% 30%

0-5 Jahre (Peers)

25%

6-9 Jahre

20%

10-13 Jahre (Babysitter)

15%

14-17 Jahre 18+ Jahre (Erwachsene)

10%

Vater

5% 0% 3-6 Mon

Mutter 6-12 Mon

12-16 Mon

24-31 Mon

34-41 Mon

7 | Waren mehreren Personen im Umfeld des Fokuskindes präsent, wurde zunächst jene Person als Interaktionspartner codiert, die dem Kind bei der jeweiligen Einzelbeobachtung am nächsten war. Sofern das Lächeln oder Lachen jedoch eindeutig auf eine andere Person in der Nähe gerichtet war, wurde diese als Interaktionspartner codiert.

8. Sozio-emotionale Entwicklungspfade der ersten Lebensjahre

Das diesen Daten zugrundeliegende Videomaterial erlaubt zum Teil auch Rück‑ schlüsse auf die konkreten Anlässe. Die meisten Lach‑ und Lächel-Episoden resul‑ tieren aus spielerischen Aktivitäten: In einer gefilmten Szene ist eine Gruppe von sieben Kindern im Alter von einem bis vier Jahren zu sehen, die eine auf unebenem Boden liegende Tür als Wippe betätigen. Am Anfang der Episode hüpft der älteste Junge auf dem einen Ende der Tür, sodass die am anderen Ende sitzenden Kin‑ der gerüttelt werden und laut lachen. Dann werden die Rollen getauscht und zwei Jungen im Alter von rund zwei Jahren setzen die ›Wippe‹ in Bewegung. Während‑ dessen kommt ein zehnmonatiger Junge hinzu, beobachtet das Geschehen und wird nach einer Weile von seinem zweijährigen Bruder mit ausgestrecktem Arm zur Teilnahme aufgefordert (s. Abb. 20). Viele andere bewegungsbasierte Spiele er‑ zeugten ebenfalls verlässlich ein Lachen oder zumindest ein Lächeln. Auch war zu beobachten, wie Kleinkinder beim gegenseitigen Kitzeln Freude zeigten.8 Neben diesen und vielen anderen spielerischen Aktivitäten lächelten Säuglinge und Klein‑ kinder auch bei der Kontaktaufnahme. Auf einer Videoaufnahme der spot observation ist beispielsweise zu sehen, wie der zweieinhalbjährige Lukasy durch das Dorf läuft und auf seine siebenjährige Schwester sowie seine anderthalbjährige Cousine Marna trifft. Er bleibt stehen, stellt sich vor Marna und lächelt sie an. Diese lächelt erst zurück, dreht sich dann um, woraufhin sich der Junge von neuem vor sie stellt und es nochmals auffordernd anlächelt (s. Abb. 21). Wie bereits bemerkt, war ein derart direktes, offensives Anlächeln im Umgang zwischen Kindern und Erwach‑ senen nie zu beobachten. Die sozialen Erfahrungen mit Peers waren allerdings nicht ausschließlich durch Emotionen der Freude geprägt. Alltägliche Beobachtungen von Peergroups sowie eine Reihe von Videoaufnahmen der spot observation legen nahe, dass Säug‑ linge und Kleinkinder auch immer wieder in Konflikte mit ihren Peers gerieten und dabei intensive negative Emotionen erlebten. Bei Säuglingen im ersten Lebens‑ jahr war wiederholt zu beobachten, wie diese gegenüber gleichaltrigen Kindern aggressiv agierten, indem sie diese beispielsweise grob anfassten, umstießen oder zu schlagen versuchten. Betreuungspersonen griffen in diesen Fällen meist nicht ein; taten sie dies doch, so schienen sie die beteiligten Kinder an eine eigenständige Konfliktbewältigung heranzuführen. Als Beispiel soll eine im Rahmen der event observation gefilmte Episode dienen: Der zehn Monate alte Hasina und seine zwölf Monate alte Cousine Emely sit‑ zen einander gegenüber, in der Nähe befinden sich vier Frauen, darunter auch die Mütter der Beiden. Ohne erkennbaren Grund gibt Hasina Emily einen leich‑ ten Klapps ins Gesicht, woraufhin sich diese kurz zu besinnen scheint und dann zurückschlägt. Dies goutieren die daneben sitzenden Frauen mit lautem Lachen. Nach einer Weile streckt Hasina seinen Arm nach Emely aus und berührt mit sei‑ nem Zeigefinger beinahe ihr Auge, womit er für weiteres Gelächter bei den Frauen sorgt. Beim zweiten Anlauf, seiner Interaktionspartnerin ins Auge zu fassen, be‑ kommt er jedoch von seiner Mutter einen Klaps auf die Hand, woraufhin er einen protestierenden Laut von sich gibt und für eine Weile ruhig dasitzt. Dann findet er ein spitzes Stück Holz und führt dieses wiederum zu Emilys Gesicht. Bevor er sie 8 | An dieser Stelle sei daran erinnert, dass das Berühren mit den Händen als spezifische, nicht-instrumentelle, Form des Körperkontakts in erster Linie bei Interaktionen zwischen Peers zu beobachten war (s. Diagramm 5.5).

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damit verletzen kann, nimmt es ihm seine Mutter ohne erklärende Worte mit einer schnellen Bewegung aus der Hand. Nun findet Emely ein anderes Holzstück auf dem Boden und gibt es vertrauensvoll Hasina in die Hand. Dieser schlägt damit allerdings nach ihr und trifft sie an der Wange. Emi­ly beginnt zu schreien und schlägt nach Hasina, trifft ihn aber nicht. Daraufhin sagt Hasinas Mutter mehr‑ mals mangina! (sei ruhig!), und gibt ihrem Sohn in demonstrativer Weise einen leichten Klaps auf den Oberschenkel. Emily lässt sich durch diese Geste jedoch nicht beruhigen und auch nicht durch ein flüchtiges Tätscheln ihres Kopfes. Schließlich wird Emily von ihrer, einige Meter entfernt sitzenden Mutter mit aus‑ gestrecktem Arm gerufen. Diese folgt der Einladung, läuft zu ihrer Mutter, setzt sich auf ihren Schoß und beruhigt sich umgehend. Obwohl in dieser Episode die interagierenden Säuglinge von mehreren Betreu‑ ungspersonen umgeben sind, lassen diese die körperliche Auseinandersetzung prinzipiell zu, greifen nur ein, um Verletzungen zu verhindern, und goutieren Emilys Versuche der Gegenwehr mit lautem Gelächter. Emily wird von ihrer Mut‑ ter über körperliche Zuwendung beruhigt, erst nachdem sich gezeigt hat, dass sie sich durch einen stellvertretenden Vergeltungsakt nicht zufriedenstellen lässt. Bei ähnlichen Konflikten zwischen Säuglingen war zu beobachten, wie Mütter ihre Säuglinge direkt unterstützten, sich physisch zur Wehr zu setzen. In einigen Fäl‑ len führten sie den Arm eines Kindes zum Gegenschlag oder sie drückten ihm einen Stock in die Hand und halfen ihm, damit nach dem ›Aggressor‹ zu schlagen. Dass Betreuungspersonen direkte körperliche Auseinandersetzungen zwischen Säuglingen nicht nur billigten, sondern auch förderten, zeigt zudem die mehrmals beobachtete Praxis, rund einjährige Säuglinge einander gegenüberzustellen und zum ›Kämpfen‹ (mitolo) zu animieren, wobei jeder selbständig ausgeführte Schlag mit Erheiterung kommentiert wird (s. Abb. 22).9 Bei sämtlichen beobachteten Konflikten zwischen zweijährigen und älteren Kindern griffen Betreuungspersonen überhaupt nicht ein. Im Rahmen der spot observation waren fünfmal handgreifliche Auseinandersetzungen zwischen Klein‑ kindern zu beobachten. In einem Fall läuft der knapp dreijährige Maharo auf den zweieinhalbjährigen, etwas kleineren Lukasy zu, der gerade einen Spiel-Ochsen‑ karren10 hinter sich herzieht, und entreißt ihm das Spielgerät. Lukasy brüllt erst protestierend auf und sucht sich dann einen Stein, den er dem davonrennenden Maharo hinterherwirft. Nach einer Weile sucht er sich eine neue Beschäftigung. In einem anderen Fall schlägt der rund dreijährige Tojy ein gleichaltriges Mädchen ohne ersichtlichen Grund mit einem Stock auf den Kopf, rennt davon und versteckt sich hinter einem Haus, während die Betroffene eine Weile weint und sich dann 9 | Morton (1996: 186) macht im Hinblick auf Säuglinge bei den Tonga ähnliche Beobachtungen: »My observations suggest that more typically, babies, as well as being threatened and punished during infancy, are allowed to threaten and hit, poke, bite, and roughly pull at both children and adults. This behavior, particularly hitting, is not only tolerated but actively encouraged, and it becomes an important aspect of the ›performance‹ so positively valued in babies. […] A frequent visitor to the household in Holonga had a baby boy of the same age as ’Ofa, and whenever he was brought to the house Saia and ’Ofa were encouraged to hit each other, although they were watched closely and never allowed to hurt.« 10 | Dabei handelte es sich um ein Spielgerät, das von Jungen nach dem Vorbild des Ochsenkarrens (sarety) gezimmert und benutzt wurde.

8. Sozio-emotionale Entwicklungspfade der ersten Lebensjahre

von selbst beruhigt. Obwohl diese Szene auch von anderen Erwachsenen beobach‑ tet wurde, griffen diese nicht ein. In Gelegenheitsgesprächen zum Umgang mit Konflikten unter Kleinkindern erklärten einige Eltern, dass derartige Streitereien nicht ernst zu nehmen seien, da Kleinkinder ohnehin noch nicht ›vernünftig‹ (mahitsy) wären, oder dass ein Eingreifen Eltern nur ›verrückt‹ machen würde bzw. zu Streit unter den Erwachsenen führen könne.11 Selbst wenn es den Betreuungspersonen wichtig gewesen wäre, Konflikte unter Kleinkindern bzw. deren heftige Emotionen zu regulieren, wäre ihnen dies meist nicht möglich gewesen, da sich die Peergroups über lange Perioden außerhalb ihrer Einflusssphäre bewegten. Wie die Analyse des sozialen Umfeldes ergeben hat, befanden sich Kleinkinder bei 80 Prozent der Beobachtung gänzlich außer‑ halb der Sichtweite ihrer Mütter, die als hauptverantwortliche Betreuungspersonen fungieren. Die in diesem Unterkapitel beschriebenen Beobachtungen legen also nahe, dass die Kinder von Menamaty im Umgang mit anderen Kindern durchaus ein hohes Maß an emotionaler An‑ und Aufregung erleben und emotional expressiv interagieren. Dies widerspricht einer zentralen Annahme des in der Kulturpsycho‑ logie propagierten Modells relationaler Emotionalität, die Friedlmeier (2013: 223) wie folgt zusammenfasst: »Hinsichtlich positiver Emotionen werden in einem relationalen Emotionsmodell eher gering erregende positive Zustände (z.B. Ruhe und Friedfertigkeit) angestrebt als Ausdruck idealen positiven Erlebens.« Während die Mütter aus Menamaty ein vergleichbares Ideal vertraten und entsprechend mit ihren Kindern umgingen, boten sich die Peers als Partner für Aktivitäten an, die geradezu auf die Erfahrung intensiver Freude-Emotionen zielten. Auch die folgende Annahme des relationalen Emotionsmodells trifft nicht auf den madagassischen Forschungskontext zu: »Ich-fokussierter Emotionsausdruck machtvoller negativer Emotionen [wie Ärger] wird als bedrohlich für zwischen‑ menschliche Beziehungen gesehen und sollte daher strikt kontrolliert werden.« (Friedlmeier 2013: 223). Im vorangegangenen Unterkapitel habe ich dargelegt, dass Kleinkinder im Umgang mit Betreuungspersonen tatsächlich selten weinten, ge‑ schweige denn in einer wütenden oder protestierenden Art und Weise schrien. Wie in diesem Unterkapitel beschrieben, zeigten Säuglinge und Kleinkinder jedoch im Umgang mit ihren Peers durchaus »machtvolle negative Emotionen« – freilich we‑ niger durch ein protestierendes Schreien oder Trotzverhalten als vielmehr durch machtvolle Gesten (erhobene Faust) und Aktionen (Schläge, Steinwürfe). Betreu‑ ungspersonen ließen solche handgreiflichen Auseinandersetzungen und die damit einhergehenden Emotionen nicht nur zu, sondern unterstützen dies sogar in vielen beobachteten Fällen. Insgesamt spricht die soziale Differenzierung der Entwicklungsnische dafür, dass sich der Entwicklungspfad für emotionales Erleben und Verhalten von Beginn an und besonders deutlich ab dem zweiten Lebensjahr aufgliedert: An die Seite eines in hierarchische Beziehungen eingebetteten Entwicklungspfades, der dem Ideal der Gemütsruhe oder Zufriedenheit folgt und Kindern eine allgemeine emo‑ tionale Zurückhaltung nahelegt, tritt ein weiterer, in egalitäre Peer-Beziehungen

11 | Wie im 10. Kapitel noch zu sehen sein wird, werden Kinder allerdings ab dem Alter von vier oder fünf Jahren für aggressives Verhalten gegenüber verwandten Kindern sanktioniert.

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eingebetteter Entwicklungspfad, der ein hohes Maß an sozio-emotionaler Anre‑ gung bereithält und ein emotional expressives Verhalten fördert.12 Der zweite Entwicklungspfad entspricht in einigen Aspekten dem kulturpsy‑ chologischen Modell der autonomen Emotionalität, das am Vorbild westlicher, in‑ dustrialisierter Gesellschaften entwickelt wurde: Die Interaktionspartner stehen typischerweise in einem distalen und gleichberechtigten Verhältnis zueinander; das Erleben sowie der Austausch freudiger Emotionen spielt eine wichtige Rolle; im Fall von Konflikten haben Kinder Gelegenheit, ihre individuellen Interessen und Wünsche deutlich zum Ausdruck zu bringen und ihre Durchsetzungsfähigkeit zu erproben. Der Umstand, dass diese sozio-emotionalen Erfahrungen vorwiegend in Peer-Interaktionen und nicht in Eltern-Kind-Beziehungen eingebettet sind, dürfte jedoch auch einige Abweichungen vom Modell autonomer Emotionssozialisation mit sich bringen: Während nach diesem Modell die Eltern als primäre Sozialisa‑ tionspartner ›nur‹ eine quasi-gleichberechtigte Beziehung zu Babys und Kleinkin‑ dern pflegen, da sie sich einerseits an deren Emotionalität und Kommunikations‑ verhalten anpassen –­ etwa durch Affektspiegeln oder baby talk – und andererseits mit pädagogischem Impetus regulierend eingreifen, stehen die Altersgenossen der Untersuchungsdörfer de facto in einem gleichberechtigten Verhältnis zueinander und orientieren sich wohl kaum an pädagogischen Motiven. Zwar führen beispiels‑ weise in der deutschen Mittelschicht Bildungsinstitutionen wie Kindertagesstätten ebenfalls Gleichaltrige zusammen, jedoch sind hier die Handlungs‑ und Interak‑ tionsräume der Kinder in hohem Maße durch Pädagogen vorstrukturiert – z.B. durch Spielsachen, begrenzte Räume oder Aktivitätsangebote –, darüber hinaus sind zumeist Erzieher präsent, die bei Konflikten regulierend eingreifen können. Die Peers aus Menamaty interagieren hingegen über lange Perioden außerhalb der erwachsenen Einflusssphäre. Die emotionalen Erfahrungsmuster der ersten Lebensjahre in Peer-Beziehun‑ gen können als vorbereitende Sozialisation von egalitären Beziehungen angesehen werden. Wie im 3. Kapitel dargestellt, erleben und zeigen ältere Kinder, Jugendliche und Erwachsene spontane, intensive Emotionen in erster Linie im Rahmen von egalitären Beziehungen, wohingegen die hierarchischen Beziehungen von einem hohen Maß an Formalität und emotionaler Distanz bzw. Kontrolle geprägt sind. Die Analyse der Beziehungs- und Emotionsdynamiken hat darüber hinaus gezeigt, dass es innerhalb der egalitären Sozialrelation zu einer weiteren sozio-emotiona‑ len Ausdifferenzierung kommt: Emotionen der Freude ( faly) werden vorwiegend in gleichgeschlechtlichen Freundschaftsbeziehungen erlebt und ausgelebt; intensive Wut (may fo) oder Groll (andolo-po) spielen eine wichtige Rolle in gleichgeschlecht‑ lichen Feindschaftsbeziehungen (arahamba); zwischengeschlechtliche Beziehung sind zumindest in der Öffentlichkeit von emotionaler Distanz geprägt, die aller‑ dings bei Abwesenheit Älterer oder im Verborgenen häufig aufgehoben wird. Die 12 | Eine ähnlich ausgeprägte soziale Diversifizierung des emotionalen Verhaltens beobachtet ansatzweise auch Morton (1996: 235) bei Kindern auf Tonga: »The contexts in which children can freely express strong emotions tend to be limited to interactions with other children.« Zumindest in Menamaty hat die ›Einschränkung‹ eines expressiven emotionalen Verhaltens auf Peer-Interaktionen keineswegs zur Folge, dass Kinder nur selten ihren Emotionen ›freien Lauf lassen‹ können. Denn ab dem zweiten Lebensjahr befinden sie sich die meiste Zeit des Tages in der Gesellschaft ihrer Peers.

8. Sozio-emotionale Entwicklungspfade der ersten Lebensjahre

Frage, ab welchem Alter und auf welche Weise Kinder lernen, ihr emotionales Ver‑ halten entlang dieser drei Beziehungsmodi zu differenzieren, kann hier nicht um‑ fassend behandelt werden. Für die Differenzierung zwischen Freundschafts- und Feindschaftsbeziehungen dürfte allerdings die Wutregulation eine entscheidende Rolle spielen, deren Sozialisation im 11. Kapitel rekonstruiert wird.

B eziehungs ‑ und B indungsformen Wie in den letzten beiden Unterkapiteln deutlich wurde, geht die emotiona‑ le Entwicklung in den ersten Lebensjahren Hand in Hand mit der Formierung bestimmter Beziehungs‑ und Bindungsformen. Gemäß den im 1. Kapitel darge‑ legten Überlegungen zur Emotionssozialisation können diese frühkindlichen Beziehungskonfigurationen als predispositional priming, als vorbereitendende Sen‑ sibilisierung für die Sozialisation moralischer Emotionen betrachtet werden. Um die Besonderheiten der frühkindlichen Beziehungsformierung der Kinder von Me‑ namaty rekonstruieren zu können, benutze ich als Folie die Bindungstheorie mit ihrem Status »as a leading theoretical paradigm in child development research« (LeVine & Norman 2008: 129). Damit knüpfe ich an einen rezenten Diskurs in‑ nerhalb der Psychologischen Anthropologie und Kulturpsychologie an, der auf der Basis empirischer Forschung in verschiedenen kulturellen Kontexten einige zent‑ rale Annahmen und Methoden der klassischen Bindungstheorie hinterfragt oder produktiv zu erweitern sucht (Keller 2008; Leiderman & Leiderman 1974; LeVine 2004; LeVine & Norman 2008; Otto & Keller 2012, 2014; Quinn & Mageo 2013).

Die Parallelentwicklung egalitärer und hierarchischer Beziehungsformen In der Einleitung zum Sammelband Attachment Reconsidered (2013: 19) führen Quinn und Mageo eine Reihe von Annahmen der Bindungsforschung an, die vor dem Hintergrund empirischer Studien in verschiedenen nicht-westlichen Kontex‑ ten einer Modifizierung bedürfen: The first of these ethnocentric assumptions, often implicit in the writings of attachment theorists, is that the only theoretically significant attachment is to mother (or in the case where is no mother available, to a substitute mother). (Quinn & Mageo 2013: 19)

Im Anschluss an zahlreiche ethnografische Beschreibungen verschiedener Ge‑ meinschaften, in denen neben der Mutter auch andere Personen eine wichtige Rol‑ le bei der Betreuung von Säuglingen spielen (multiple mothering, allomothering), er‑ wägen die Autorinnen, »whether an infant might develop a preferential orientation to multiple attachment figures where these exist« (2013: 19) – eine Möglichkeit, die im dyadischen Beziehungsmodell der Bindungstheorie nicht berücksichtigt werde. Wie im 6. Kapitel dargestellt, wurden auch die Kinder von Menamaty regel‑ mäßig von unterschiedlichen Personen betreut. Im ersten Lebensjahr tritt zwar die Mutter noch deutlich als primäre Betreuungsperson hervor, im Laufe des zwei‑ ten Lebensjahres zieht sie sich aber rasch zurück. Zweijährige Kinder waren somit häufiger in Gesellschaft mit (prä-)adoleszenten Babysittern (ca. 15  Prozent) oder

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anderen Erwachsenen (ca. 12  Prozent) als mit der Mutter (ca. 10  Prozent) zu be‑ obachten. Auch die durchschnittlich mit dem Vater verbrachte Zeit (ca. 7 Prozent) nähert sich an den Wert der Mutter an. Die besondere Rolle der Mütter endet ihren Selbstbeschreibungen zufolge mit dem Abstillen. Entsprechend wurde auch die etablierte Praxis nicht als problematisch für das Kind angesehen, es nach dem Ab‑ stillen in der väterlichen Verwandtschaftsgruppe zurückzulassen, sofern die Mut‑ ter im Fall einer Scheidung das Dorf verlässt. Darüber hinaus wurden Kinder dazu angehalten, alle Verwandten der Elterngeneration als Eltern (ray aman-dreny) bzw. die Tanten als Mütter (neny) und die Onkel (väterlicherseits) als Väter (baba) an‑ zusprechen. All dies deutet darauf hin, dass Kinder den zunächst hauptsächlich mit der Mutter erlernten hierarchischen Beziehungsmodus spätestens im zweiten Lebensjahr auf eine Gruppe von erwachsenen oder deutlich älteren Familienmit‑ gliedern ›übertragen‹. Allerdings legen die Charakteristika der frühkindlichen Entwicklungsnische noch eine weitere Abweichung gegenüber dem dyadischen Beziehungsmodell der Bindungstheorie nahe, die in den Beiträgen des Sammelbandes von Quinn und Mageo (2013) nicht in Erwägung gezogen wird – nämlich, dass Kinder parallel zwei deutlich divergierende Bindungsformen mit unterschiedlichen sozialen Partnern entwickeln. In diese Richtung haben bereits LeVine et al. (1994: 40) in Bezug auf eine Gusii-Gemeinschaft in Kenia gedeutet: »The child caregivers engage babies in social interaction more frequently than mothers do, indicating a possible com‑ plementary in which the mother provides physical care and the child nurse social stimulation.« Allerdings betonen die Autoren auch, dass die kindlichen Babysitter der Gusii als Vertreter der Mütter eingesetzt werden und sich somit stark an deren Rollen orientieren.13 Die präadoleszenten Babysitter aus Menamaty interagierten im Vergleich zu den Müttern ebenfalls etwas mehr in spielerischer Art und Weise mit den ihnen anvertrauten Babys, jedoch stand für sie, wie für die Mütter, die Regulation von Distress und die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse im Vorder‑ grund. Demgegenüber traten Peers vorwiegend auf der Suche nach spielerischer Interaktion und emotionaler Anregung zueinander in Kontakt. Eine klare komple‑ mentäre Rollenaufteilung bestand also nicht zwischen Müttern und Babysittern, sondern vielmehr zwischen diesen beiden in der Rolle von Betreuungspersonen und den Peers in der Rolle von Interaktionspartnern.14 In der Psychologie werden Beziehungen zwischen Peers durchaus als eigene Bindungsform untersucht, jedoch beruht die entsprechende Forschung größten‑ teils auf der Annahme, dass sich diese ontogenetisch aus der primären ElternKind-Bindung heraus entwickelt. So schreiben Schneider et al. (2001: 86) in ihrem Überblicksartikel Child-Parent Attachment and children’s Peer Relations: »The cen‑ tral premise of attachment theory is that the security of the early child-parent bond 13 | Eine weitere Form der sozialen Rollenaufteilung sieht Röttger-Rössler (2014b: 147f) bei den Makassar in Indonesien. Dort übernähmen Personen aus der Großelterngeneration eine wichtige Rolle im Umgang mit Babys, wobei ihr Interaktionsstil im Vergleich zu dem der Eltern stärker durch emotionale Zuwendung geprägt sei. 14 | Ob auch für Kinder aus anderen kulturellen Kontexten die Peers eine derart zentrale Rolle spielen, lässt sich kaum eruieren, da die entsprechenden ethnografischen und kulturpsychologischen Studien vorwiegend Betreuungspersonen (caregivers) in den Blick nehmen, die deutlich älter sind.

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is reflected in the child’s interpersonal relationships across the life span.« Dieser Prämisse liegt die Überlegung zugrunde, dass ein Kind durch die sozio-emotiona‑ len Erfahrungen mit seinen Eltern im ersten Lebensjahr ein internal working model of social relationships15 entwickelt, das dann die Grundlage für die Beziehungsfor‑ mierung mit weiteren sozialen Partnern einschließlich der Peers bildet. Dies aller‑ dings setzt voraus, dass die Eltern in jeder Hinsicht als wichtigste soziale Partner von Säuglingen agieren, was nicht in allen soziokulturellen Kontexten der Fall sein muss. So bemerken auch Schneider et al. (2001): In many cultures, for example, siblings, extended family members, and neighbors are more active in child socialization than they are in North America […]. Hence, one might expect that child-parent attachment might be more predictive of peer relations in North American samples than in samples in which the child-rearing responsibility is shared more diversely. (Schneider et al. 2001: 89)

Mindestens vier Gründe sprechen dafür, dass die Kinder aus Menamaty ihre Peer‑ beziehungen weniger auf der Basis einer primären Bindung zu ihren Müttern und anderen Betreuungspersonen als vielmehr parallel zu diesen entwickeln: (1) Die sozio-emotionalen Erfahrungen von Kindern mit ihren Peers und ihren Müttern sind derart disparat, dass eine Übertragung des mit den Betreuungsper‑ sonen erworbenen Bindungsmodells auf die Peer-Beziehungen nicht plausibel erscheint. Diese Disparität betrifft nicht nur Kinder in den ersten Lebensjahren, vielmehr zieht sie sich, wie im 3. Kapitel zu den egalitären und hierarchischen Be‑ ziehungsformen dargelegt, durch alle Altersphasen hindurch. (2) Schon im ersten Lebensjahr, das der Bindungstheorie zufolge besonders prä‑ gend für die weitere Formierung sozialer Beziehungen ist, beginnen die Kinder der Forschungsregion regelmäßig mit ihren Peers zu interagieren, was Betreuungsper‑ sonen, wie gezeigt, aktiv unterstützen. Somit haben die Kinder Gelegenheit, bereits in der Phase der primären Bindungsformierung eigenständige Beziehungen zu ihren Peers zu entwickeln. Der Umstand, dass Mütter im ersten Lebensjahr ihrer Kinder noch nahezu kontinuierlich als Betreuungspersonen präsent sind und die Peers ›erst‹ ab dem zweiten Lebensjahr als dominante soziale Partner auftreten, wi‑ derspricht nur vordergründig der These von der Parallelentwicklung zweier eigen‑ ständiger Beziehungsformen. Denn diese soziale Verschiebung lässt sich auf die körperliche, kognitive und emotionale Entwicklung der Kinder zurückzuführen: Der zeitliche Aufwand der körperzentrierten Betreuung durch die Mütter und ihre Vertreter lässt mit der zunehmenden, explizit geförderten physischen Autonomie der Kinder nach – trotzdem bleiben Mütter für das körperliche Wohl ihrer Kinder verantwortlich. Emotional und kognitiv anregende, spielerische und kommunika‑ tive Interaktionen, die Kinder von Anfang an vorwiegend mit ihren Peers erleben, nehmen mit zunehmendem Alter hingegen immer mehr Raum ein. (3) Die Peer-Interaktionen der Kinder von Menamaty werden im Vergleich zu Mittelschichtkindern aus industrialisierten Gesellschaften in einem viel geringe‑ ren Maß durch Eltern und andere Erwachsene geprägt und reguliert, sie entwickeln sich vielmehr in einem von der Erwachsenenwelt stärker abgegrenzten sozialen 15 | Einen Überblick über das Konstrukt des internen Arbeitsmodells geben Bretherton und Munholland (1999).

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Raum. Erwachsene prägen die Peer-Interaktionen kaum durch die Bereitstellung von Spielsachen oder durch die Strukturierung von Interaktionskontexten, sie sind nicht kontinuierlich als Pädagogen präsent und greifen selbst dann nur selten ein, wenn sie Konflikte zwischen Kleinkindern beobachten. (4) Da die Peers in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander leben, nicht da‑ mit rechnen müssen, einander durch einen Umzug oder durch den Wechsel der Bildungsinstitution aus dem Blick zu verlieren und größtenteils durch Verwandt‑ schaft miteinander verbunden sind, können sie als vergleichsweise verlässliche, stets verfügbare Beziehungspartner angesehen werden. Überdies ist die Bildung von engen Bindungen zwischen verwandten Peers auch prospektiv von großer Be‑ deutung, weil das sozioökonomische System auf einer dauerhaften, verlässlichen Kooperation zwischen Verwandten derselben Generation beruht. Diese besonde‑ ren Umstände sind wichtige Voraussetzungen dafür, dass Eltern die Formierung emotional enger Beziehungen vorwiegend den Peers überlassen können. Die parallele Formierung zweier deutlich divergierender Beziehungsformen auf‑ grund einer komplementären Rollenaufteilung zwischen älteren Betreuungs‑ personen und mehr oder weniger gleichaltrigen Interaktionspartnern dürfte weitere Abweichungen von der traditionellen, auf euro-amerikanische Kontexte zugeschnittenen Bindungstheorie mit sich bringen. Im Folgenden sollen einige Charakteristika dieser beiden Beziehungsformen rekonstruiert und auf die Fra‑ ge hin untersucht werden, inwiefern sie Kinder auf die Sozialisation moralischer Emotionen vorbereiten.

Peer-Beziehungen als Sozialisationskontext von hegnatsy (≈ Scham) und rehareha (≈ Stolz) Die charakteristischen Merkmale von Peer-Interaktionen in Menamaty wie faceto-face‑ und Blickkontakt, spielerische Interaktion und nicht-instrumentelle Be‑ rührung sowie das gemeinsame Erleben intensiver Freudemotionen entsprechen bis zu einem gewissen Grad den bindungstheoretischen Voraussetzungen für die Bindungsformierung: »Infant studies thus reveal […] that the baby becomes atta‑ ched to the modulating caregiver, who expands opportunities for positive affect and minimizes negative affect.« (Schore 1998: 62) Dem hier zitierten Psychologen Allan Schore zufolge bildet eine über face-to-face-Interaktionen und den Austausch positiver Emotionen etablierte und kommunizierte Bindung aber auch den Kontext für die Sozialisation von Scham: »Face-to-face encounters that at one time elici‑ ted only joy become the principal context for stressful shame experiences.« (1998: 65) Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass Kinder durch freudvolle face-to-faceInteraktionen mit ihren Bezugspersonen eine Erwartungshaltung für positives soziales Feedback entwickeln, womit sie bereits ein Ausbleiben dieser freudigen Zuwendung als Zurückweisung oder soziale Exklusion erleben. Erfahrungen so‑ zialer Exklusion oder Zurückweisung gelten gemeinhin als Ausgangspunkt der Schamsozialisation (vgl. Holodynski & Friedlmeier 2006: 126). Grundsätzlich lässt sich eine solche bindungsbedingte Sensibilisierung für so‑ ziale Zurückweisung als Ausgangspunkt für die Schamsozialisation auch für die Kinder aus Menamaty vermuten – allerdings bilden hierbei weniger Eltern-Kind‑ als vielmehr Peer-Beziehungen den sozialen Kontext. Denn die Peer-Interaktionen

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in Menamaty sind einerseits vorwiegend durch die Erfahrung von »enjoyment-joy and interest-excitement« geprägt – wie die ideale Mutter-Kind-Beziehung nach Schore (1998: 62) –, andererseits bieten diese Beziehungen aber auch Erfahrungen von spontaner Zurückweisung oder gar wütender Gegenwehr im Fall von gelegent‑ lich auftretenden Konflikten oder Irritationen beim gemeinsamen Spiel. Gerade weil Kinder von ihren Peers vergnügliche Erfahrungen und positive soziale Rück‑ meldungen erwarten lernen – so lässt sich in Anlehnung an Schores Modell argu‑ mentieren –, wird die emotionale Zurückweisung durch Peers zu einer besonders unangenehmen Erfahrung und zu einem Signal für die Bedrohung der Beziehung. Da sich die Kinder von Menamaty ab dem zweiten Lebensjahr dauerhaft in Peer‑ groups integrieren, dürfte für sie in diesem Alter16 das Motiv der Akzeptanz (bzw. die Vermeidung von Zurückweisung) durch Peers besonders virulent werden. Zwar lässt sich diese Motivlage von ein- bis zweijährigen Kindern nur schwer direkt belegen, die im 4. Kapitel präsentierten Interviews zu hegnatsy (≈ Scham) machen aber zumindest deutlich, dass ältere Kinder, Jugendliche und Erwachse‑ ne diese selbstbewertende Emotion vorwiegend gegenüber Peers erleben. Auch die Praxis des mikoraky (≈ verhöhnen/verspotten/applaudieren), die von Kindern ge‑ zielt zum Beschämen (mahamegnatsy) eingesetzt wird, war ausschließlich in Inter‑ aktionen zwischen Kindern zu beobachten (s. Kapitel 9). Die Formierung von sozialen Bindungen, bei denen die Kommunikation über positive Emotionen eine wichtige Rolle spielt, kann nicht nur als Vorbereitung der Scham‑, sondern auch der Stolz-Sozialisation betrachtet werden. So weisen Holo‑ dynski und Friedlmeier (2006: 125) darauf hin, dass Kinder die positiven, lobenden Reaktionen ihrer Bezugspersonen auf eigene Aktionen allmählich übernehmen und antizipieren, was zur Entwicklung des Stolzes beiträgt. Entsprechend dürften auch Kinder von Menamaty lernen, die freudige emotionale Zuwendung ihrer Al‑ tersgenossen als ein anerkennendes Signal wahrzunehmen und zu internalisieren. Dass zumindest ältere Kinder, Jugendliche und Erwachsene die mit Stolz vergleich‑ bare Emotion rehareha in egalitären Beziehungen erleben und zum Ausdruck brin‑ gen, hat die Analyse der erzählten und beobachteten Emotionsepisoden deutlich gemacht. Der Umstand, dass in der Forschungsregion vornehmlich Peer-Beziehungen und weniger Eltern-Kind-Relationen als Sozialisationskontext für selbstbewerten‑ de Emotionen wie hegnatsy und rehareha fungieren, schafft spezifische Bedingun‑ gen für die Ausformung dieser Emotionen. Im Vergleich mit Eltern lassen sich Altersgenossen im Umgang mit Kleinkindern mehr von ihren eigenen spontanen Interessen und Emotionen und weniger von moralischen Werten und pädagogi‑ schen Modellen leiten, womit auch die Erfahrung sozialer Zu- oder Abwendung als Ausgangspunkt für selbstbewertende Emotionen weniger eng mit moralischen Werten verbunden ist. Während Erwachsene aufgrund der faktischen Machtdiffe‑ renz gute Voraussetzungen haben, ihre Bewertungen gegenüber Kindern durchzu‑ setzen – selbst wenn sie diese (wie in euro-amerikanischen Mittelschichtsmilieus) ansonsten als gleichberechtigte Personen behandeln –, bestehen in grundsätzlich gleichrangigen Peer-Beziehungen mehr Möglichkeiten, die Bewertungen der so‑ zialen Partner abzuwehren oder zu vergelten. Diese Überlegungen werde ich im Abschnitt zur Praxis des Verspottens (Kapitel 9) wieder aufgreifen. 16 | Auch nach Schore setzt die Scham-Sozialisation im zweiten Lebensjahr ein (1998: 65).

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Hierarchische Beziehungen als Sozialisationskontext von tahotsy (≈ Furcht) Die Erfahrungsmuster der Kinder aus Menamaty mit ihren Müttern und ande‑ ren Betreuungspersonen sprechen für die Entwicklung eines hierarchischen Bin‑ dungsmodus, der sich sowohl von den Peer-Beziehungen im selben Kontext als auch von den Idealen der Bindungstheorie deutlich unterscheidet. Abweichend von dem Ideal einer ›feinfühligen‹ Mutter und im Unterschied zu den Peers von Mena‑ maty gingen die Mütter der Forschungsregion nur äußerst selten auf die positiven Gefühlsäußerungen ihrer Babys ein, und sie beschrieben dies auch nicht als ein für die Betreuungsperson erstrebenswertes Verhalten. Im Vordergrund der MutterSäuglings-Beziehung stand vielmehr ein hohes Maß an körperlicher Zuwendung und die geradezu uneingeschränkte Erfüllung der körperlichen Bedürfnisse des Babys. Dies verknüpften Mütter mit den Anliegen, ihre Kinder möglichst ruhig zu halten, ihnen zu einer robusten Gesundheit zu verhelfen und ihr Körperwachstum sowie ihre motorische Entwicklung zu beschleunigen. In scharfem Kontrast zu den symmetrischen, reziproken Peer-Interaktionen hat das Verhältnis zu den Be‑ treuungspersonen einen durchgängig asymmetrischen Charakter, da im Rahmen der körperzentrierten Betreuungspraktiken Kinder in erster Linie eine passive, empfangende Rolle einnehmen. Dass es sich bei diesem körperzentrierten Betreuungsmodus keineswegs um eine außergewöhnliche oder gar pathologische Abweichung von gutem Elternver‑ halten handelt, legen ähnliche Beobachtungen in verschiedenen soziokulturellen Kontexten nahe. So bemerken etwa Quinn und Mageo in ihrer Einleitung zum Sammelband Attachment Reconsidered: [P]rominent features of mothering in American middle-class practice are gazing and face-toface interaction, which establish something that psychologists call »attunement« between mother and infant. […] Yet, these kinds of behavior are absent from many of the caregiving regimes described in this book. (Quinn & Mageo 2013: 21)

LeVine argumentiert bezüglich der Gusii Kenias in eine ähnliche Richtung: Gusii mothers tended to be highly responsive to infant distress signals and unresponsive to other vocal signals […]. Does this qualify as maternal sensitivity in terms of attachment research? The answer could be yes […] because Gusii mothers provide comfort rapidly and responsively, protecting their babies from stress as specified in the original formulations of attachment by Bowlby and Ainsworth. But it could be no, because they fail to display other aspects of maternal sensitivity conceptualized in much of the attachment literature as »psychological availability,« »positive involvement,« and »affectionate« interactions. (LeVine 2004: 155)

Es sei problematisch, so argumentiert LeVine weiter, aus diesen Abweichungen von einem Mutterverhalten, wie es in der Bindungsforschung propagiert wird, ein Qualitätsurteil abzuleiten, weil die Bindungstheorie auf kulturspezifischen Werten basiere. Stattdessen sei damit zu rechnen, dass die beobachteten Praktiken eigenständige Bindungsformen hervorbringen (2004: 160): »The Gusii pattern […] might foster in Gusii children an internal working model that has not been imagined

8. Sozio-emotionale Entwicklungspfade der ersten Lebensjahre

in attachment research.« In Anlehnung an diese Argumentation werde ich nun einige Grundzüge des hierarchischen Bindungsmodus der Kinder von Menamaty rekonstruieren. Aufgrund von kontinuierlichem Körperkontakt und damit verbundener Körper‑ stimulation sowie durch das konsequent bedarfsorientierte Stillen als wichtigste Form der Ernährung und Beruhigung erleben Kinder mit ihren Müttern in erster Linie körperliches Wohlbehagen und eine Form der Affektivität, die von Bezugs‑ personen mit der Metapher des friedlichen oder klaren Herzens (miada/mazava fo) beschrieben wird. Gemäß dem von Quinn (2005) herausgestellten Lernmecha‑ nismus der experiencial constancy dürften diese Erfahrungen besonders prägnant hervortreten und sich prominent in einem internal working model niederschlagen, weil konträre, emotional erregende Erfahrungen konsequent mit anderen sozialen Partnern gemacht werden, nämlich mit den Peers. Beobachtbar war dieser körper‑ zentrierte Bindungsmodus bei bereits mobilen Säuglingen, die bei Distress Kör‑ perkontakt zu ihren Müttern suchten und sich selbständig an deren Brust bedien‑ ten, ohne jedoch visuelle Aufmerksamkeit oder positive emotionale Zuwendung einzufordern. Einen besonders zentralen Stellenwert in diesem körperzentrierten Bindungs‑ modus nimmt das Stillen ein – dies legen zumindest die interviewten Mütter nahe, die diese Praxis ins Zentrum ihrer Beziehung zu Babys rückten. Wie weiter oben ausgeführt, räumt auch Ainsworth ein (1977: 128), dass unter bestimmten Bedin‑ gungen das Stillen für Säuglinge zu einer wichtigen Dimension ihrer Bindung zur Mutter wird – nämlich dann, wenn sie bis ins zweite Lebensjahr hinein ge‑ stillt werden und diese Zuwendung konsequent als Reaktion auf Distress erleben. Die Ausführungen zur Stillpraxis haben gezeigt, dass diese Bedingungen für alle Säuglinge von Menamaty erfüllt waren, die ich im Rahmen der spot observation be‑ obachtet habe. Angesichts des kontinuierlichen Rückgangs der körperlichen Zuwendung bis hin zu einer konsequenten Distanzierung am Ende des zweiten Lebensjahres nach dem Abstillen ist allerdings nicht davon auszugehen, dass die Kinder ihre im ers‑ ten Lebensjahr geprägten Erwartungen an die Mutter als stets verfügbare Quelle von körperlicher Geborgenheit und Muttermilch in Gänze beibehalten können. Dass diese körperliche Entwöhnung und Distanzierung Kinder dazu veranlasst, ihr Bild der Mutter und anderer Betreuungspersonen als Garanten ihres körperli‑ chen Wohls zu revidieren, ist jedoch auch nicht zu erwarten. Die Kontinuitäten im Umgang mit Betreuungspersonen sprechen vielmehr dafür, dass Kinder im Zuge der allmählichen körperlichen Distanzierung Gelegenheit haben, ihr Bindungs‑ modell auf eine wesentliche Dimension hierarchischer Beziehungen zuzuspitzen – dem Erhalten von Lebensmitteln. Aus der im ersten Lebensjahr noch allumfassenden körperlichen Versorgung und kontinuierlichen Zuwendung dürfte sich für Kinder im zweiten Lebensjahr zunächst das Gestilltwerden als zentrales Erfahrungsmedium ihrer Beziehung zur Mutter herauskristallisieren. Denn in diesem Alter reduziert sich die mütterliche Zuwendung weitgehend auf die Still-Episoden. Das Abstillen am Ende des zweiten Lebensjahres muss allerdings nicht als radikaler Bindungsabbruch erfahren werden; vielmehr kann sich die Bindungs‑ erfahrung über andere Formen des Nahrungstransfers fortsetzen. Die Säuglinge von Menamaty erhalten bereits ab dem dritten Monat Beikost, und wie das Stillen

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

wird das Füttern gleichermaßen zur Ernährung und Beruhigung eingesetzt. Das Erhalten von fester Nahrung ist im zweiten Lebensjahr also bereits als eine dem Stillen vergleichbare Form der Zuwendung etabliert, womit sie jene ersetzen kann. Denkbar ist, dass die allmähliche, aber konsequente Reduzierung der anfangs all‑ umfassenden körperlichen Zuwendung auf die Nahrungsgabe sogar eine affekti‑ ve Aufladung dieser Transaktion befördert, indem Kinder ihre früheren Zuwen‑ dungserfahrungen auf diese spezifische Form übertragen. Da neben Müttern auch andere Betreuungspersonen Kinder füttern bzw. ihnen Nahrungsmittel zustecken, bietet das Bindungsmedium der Nahrung Kindern zudem die Möglichkeit, ihr pri‑ mär mit Müttern entwickeltes Bindungsmodell auf einen größeren Personenkreis auszuweiten.17 Als Indiz für die zentrale Bedeutung von Nahrung für Kleinkinder in der Bezie‑ hung zu Betreuungspersonen lässt sich die Beobachtung anführen, dass abgestillte Kleinkinder auffällig häufig und über lange Perioden Nahrungsmittel wie Maniok‑ stücke mit sich herumtrugen, die sie von der Mutter oder einem ihrer Vertreter erhalten hatten (s. Abb. 14). Diese Nahrungsmittel könnten für die Kinder von Me‑ namaty eine ähnliche Bedeutung haben, wie Schmusedecken oder Kuscheltiere für Kinder aus anderen soziokulturellen Kontexten. Gemäß der Objektbeziehungs‑ theorie helfen sie Kindern, sich die abwesende Bezugsperson bzw. deren Zuwen‑ dung zu vergegenwärtigen. Auch war zu beobachten, dass sich Kleinkinder (und äl‑ tere Kinder) vornehmlich zum Essen bei ihren Eltern einfanden. Wie im 3. Kapitel ausführlich dargelegt, werden hierarchische Beziehungen in der Forschungsregion generell über die Weitergabe von Nahrungsmitteln bzw. – in abstrakterer Form – von Segen ( fitahia) oder Lebenskraft (ay) der Vorfahren an die Nachfahren kon‑ zeptualisiert.18 Demnach bedarf eine Person kontinuierlich der Lebenskraft ihrer Eltern und Ahnen, um ihr körperliches Wohl, ihre Gesundheit und letztlich auch ihr Leben aufrecht erhalten zu können. Es liegt nahe, dass Kinder ihre impliziten sozio-emotionalen Erfahrungen mit Müttern und anderen Betreuungspersonen allmählich in diese verbal vermittelten, expliziten Beziehungsmodelle einbinden, womit es zu einer Verflechtung von früh erworbenen internalen Arbeitsmodellen und später erlernten kulturellen Modellen kommen dürfte. Zusammenfassend legen die sozio-emotionalen Erfahrungen von Kindern mit ihren Betreuungspersonen folgende Bindungsentwicklung nahe: Säuglinge lernen ihre Betreuungspersonen als Garanten ihres leiblichen Wohls und damit verbun‑ denen Gefühlen der Ruhe und Sicherheit kennen, wobei sich im Übergang zum Kleinkindalter das Erhalten von Lebensmitteln als zentrales Medium dieser Bin‑ dungserfahrung herauskristallisiert.

17 | In Bezug auf Kinder der Murik Papua-Neuguineas, die ebenfalls konsequent bedarfsorientiert und bis ins zweite Lebensjahr hinein gestillt werden, konstruiert Kathleen Barlow einen vergleichbaren Pfad der Bindungsformierung (2013: 177): »Rather than weaning jeopardizing the mother-child relationship, the attachment of nursing children over time is referred into other relationships and activities having to do with food. Giving and receiving food are symbolic elaborations of maternal care.« 18 | Auch für zahlreiche andere kulturelle Kontexte wurde die zentrale Bedeutung der Nahrungsgabe als Ausdrucksmedium sozialer Bindungen herausgestellt (zusammenfassend: Quinn & Mageo 2013: 22).

8. Sozio-emotionale Entwicklungspfade der ersten Lebensjahre

Doch inwiefern lässt sich ein solcher Bindungsmodus als predispositional priming für die Sozialisation von moralischer Furcht (tahotsy) verstehen? In Anleh‑ nung an Schores Modell der frühen Schamsozialisation in US-amerikanischen Kontexten (1998) gehe ich davon aus, dass die Erwartung für bestimmte Formen der Zuwendung Kinder zugleich für ein Ausbleiben derselben Zuwendungsform oder für eine konträre Reaktion sensibel und vulnerabel macht. Die von Schore be‑ schriebenen Kinder lernen im ersten Lebensjahr von ihren Eltern eine emotional freudige Antwort auf ihre Aktionen und Äußerungen zu erwarten, weshalb sie besonders sensibel auf ein gelegentliches Ausbleiben einer solchen Zuwendung re‑ agieren. Die Kinder aus Menamaty hingegen lernen, dass ihr leibliches Wohl direkt von ihren Betreuungspersonen abhängt und werden damit für ein Ausbleiben der körperlichen Zuwendung oder für eine entsprechende Kontrasterfahrung sensibi‑ lisiert. Wie im dritten Teil näher ausgeführt wird, besteht diese Kontrasterfahrung ab dem zweiten Lebensjahr in verschiedenen Formen der Körpersanktion, womit Kinder lernen können, dass nicht ihr leibliches Wohl allein, sondern ihr Wohl und Wehe in den Händen der Betreuungspersonen liegt. Diesen Aspekt des hierarchi‑ schen Beziehungsmodells sehe ich als Ausgangspunkt für die Sozialisation von tahotsy qua moralischer Furcht, die sich auf die Bedrohung des leiblichen Wohls durch die Eltern oder Ahnen bezieht.

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Teil III Von der Kindheit zur Adoleszenz

Der letzte Teil greift den bis zum Kleinkindalter dargestellten Entwicklungspfad der Emotionen wieder auf und verfolgt ihn weiter durch die Kindheit hindurch bis zur Adoleszenz. Allerdings liegt der Fokus von vornherein auf den Emotionen der Furcht- und Wutfamilie, womit nicht alle im zweiten Teil herausgestellten Ent‑ wicklungsstränge weiterverfolgt werden können. Da insbesondere tahotsy als mora‑ lische Furcht primär für die Regulation von hierarchischen Beziehungen relevant ist, hat diese Schwerpunktsetzung eine gewisse Vernachlässigung des Sozialisa‑ tionsgeschehens in den egalitären Peer-Relationen zur Folge. Mit dieser Perspektiv‑ verengung soll jedoch keinesfalls der Eindruck entstehen, dass egalitäre Beziehun‑ gen weniger relevant für die Emotionssozialisation insgesamt wären. Methodisch verlagert sich in diesem Teil der Schwerpunkt von der systemati‑ schen Beobachtung (spot observation) hin zur teilnehmenden Beobachtung und zu Interviews mit allen Beteiligten des Sozialisationsgeschehens. Diese methodische Verschiebung ist in der Entwicklung von Kindern selbst begründet: Die emotiona‑ len Erfahrungen von Säuglingen und Kleinkindern sind nicht ohne weiteres über sprachliche Kommunikation erfassbar, dafür aber noch vergleichsweise gut zu be‑ obachten. Gemäß der These, dass sich die interpersonalen Emotionsprozesse mit zunehmendem Alter teilweise in den intrapersonalen Bereich verlagern, wird die direkte Beobachtung von Emotionen bei älteren Kindern einerseits schwieriger, an‑ dererseits erlangen diese zunehmend die Fähigkeit, ihre emotionalen Erfahrungen im Rahmen von Interviews zu verbalisieren. Der Auf bau des dritten Teils entspricht in seinen Grundzügen dem des zweiten Teils. Im 9. Kapitel werden die drei Dimensionen der kindlichen Entwicklungs‑ nische, nämlich die kulturellen Modelle, das soziale Umfeld und das Spektrum der Erziehungspraktiken dargestellt. Darauf folgt im 10. Kapitel eine Auseinander‑ setzung mit Praktiken der Körpersanktion. Auf der Grundlage dieser Praktiken macht es sich das 11. und letzte Kapitel schließlich zur Aufgabe, Entwicklungspfade der Furcht (tahotsy) und Wut (seky) zu rekonstruieren.

9. Die Entwicklungsnische der Kindheit K ulturelle M odelle der K indheit Die folgenden Ausführungen zu den kulturellen Konzeptionen der Kindheit schließen an das 5. Kapitel zur Säuglings- und Kleinkindphase an. Da dort bereits viele zentrale Konzeptionen dargestellt wurden, die auch für die Kindheit relevant bleiben, sollen hier lediglich einige Aspekte angeführt werden, welche die Kindheit gegenüber den vorhergehenden Entwicklungsphasen auszeichnen.

Entwicklungsphasen Wie bereits zu Beginn des 2. Teils ausgeführt, nahmen meine Gesprächspartner aus Menamaty keine feste begriffliche Gliederung der Altersspanne von drei Mo‑ naten bis etwa 14 Jahren in verschiedene Entwicklungsphasen vor. Aus Gesprächen und Interviews zur Entwicklung von Kindern geht allerdings hervor, dass die Her‑ ausbildung des fagnahy, eines noch genauer zu analysierenden geistig-moralischen Vermögens, als wichtiger Meilenstein angesehen wird, der den Übergang in eine Entwicklungs- oder Sozialisationsphase markiert, die ich heuristisch als Kindheit bezeichne und vom Kleinkind- bzw. Säuglingsalter unterscheide. Kinder bis zum Alter von vier oder fünf Jahren wurden in unterschiedlichen Gesprächskontexten über den Mangel an fagnahy definiert (mbo tsy mana fagnahy). Auch wurden Kleinkinder häufig als ›verrückt‹ (sagnagna, môla), ›unwissend‹ (tsy mahay raha), ›unartig‹ (tsy mahitsy) oder als der (moralischen) Furcht unfähig (tsy mahay tahotsy) bezeichnet.1 Positiv wurden Säuglinge und Kleinkinder in erster Linie über ihre Körperlichkeit konzipiert, was sich nicht zuletzt in verbreiteten Ruf‑ namen wie Rahamety (schwarze Sache), Loto (Schmutz) oder Betay (großer Kot) widerspiegelt. Die Altersangaben zum Übergang von einem ›verrückten‹, ›unwissenden‹ oder ›furchtlosen‹ Kleinkind zu einem ›vernunftbegabten‹ (manam-pagnahy) ›furchtsa‑ men‹ (mahay tahotsy) und ›artigen‹ (mahitsy) Kind variierten je nach individueller Einschätzung der 22 hierzu befragten Eltern. Dies könnte zum einen damit zu‑ 1 | Eine solche Sichtweise, der zufolge Kleinkinder vor allem durch das Fehlen vernunft- oder verstandesartiger Fähigkeiten definiert werden und deshalb noch nicht ernsthaft erzogen werden können, ist nach Lancy (2008: 165f) in vielen Gesellschaften verbreitet. Die Ifaluk etwa betrachten Kinder unter fünf oder sechs Jahren ebenfalls als verrückt (bush/crazy, Lutz 1988: 106).

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

sammenhängen, dass sich das fagnahy in den Augen der Gesprächspartner erst allmählich herausbildet, und zum anderen damit, dass Eltern das chronologische Alter ihrer Kinder kaum als Maßstab zur Beurteilung des Entwicklungsstands he‑ ranziehen. Jedoch nannten die meisten Gesprächspartner ein Alter zwischen vier und fünf Jahren bzw. verwiesen auf Kinder in diesem Altersbereich,2 wobei Mäd‑ chen tendenziell früher das Vermögen des fagnahy zugeschrieben wurde. Mit der Herausbildung des fagnahy beginnen Eltern damit, von ihren Kin‑ dern Folgsamkeit, eine konsequente Befolgung von Regeln sowie insbesondere das eigenständige Verrichten von Aufgaben zu erwarten und Fehlverhalten ent‑ sprechend konsequent zu sanktionieren.3 Zwar waren bereits Kleinkinder immer wieder dabei zu beobachten, wie sie einfache Botengänge innerhalb des Dorfes verrichteten oder sich an bestimmten Haushaltsaktivitäten beteiligten – etwa am Reisstampfen –, doch Erwachsene betonten stets, dass Kleinkinder dazu nicht ver‑ pflichtet seien. Wie aus Interviews mit Eltern zu ihrer Erziehungsverantwortung hervorgeht, verknüpften diese die zunehmende Einbindung von Kindern in die normative Ordnung mit einem Wechsel der sozialen Zuständigkeiten. Während in der Säuglings- und Kleinkindphase noch Mütter als hauptverantwortliche Be‑ zugspersonen gelten, wird diese Rolle im Übergang zur Kindheit den Vätern zu‑ gewiesen. Dieser Rollenwechsel geht allerdings zugleich mit einer Veränderung der Rolle selbst einher. Im Unterschied zu Müttern, deren Rolle vornehmlich über die Betreuung und Versorgung von Kindern definiert wird, werden Väter in erster Linie als Autoritätspersonen, als diejenigen, die für die Erziehung von Kindern ver‑ antwortlich sind, angesehen. Der Beginn sexueller Aktivität, je nach körperlicher Reife und individueller Entscheidung im Alter von 13 bis 15 Jahren, wird explizit als Eintritt in eine wei‑ tere Entwicklungsphase oder Altersstufe aufgefasst, die ich hier heuristisch als Adoleszenz bzw. Jugend bezeichne. Mädchen, die sich bereits an Männer ›heran‑ wagen‹ (mahasaky lehilahy), werden bis zur Eheschließung oder zur außereheli‑ chen Mutterschaft als kilonga apela bezeichnet und sexuell aktive Jungen bis zur Eheschließung als kilonga lehilahy.4 Kilonga galten aus verschiedenen Gründen als schwer zu kontrollieren und als eher unzuverlässig: Auf der Suche nach Liebes‑ abenteuern und den hierfür erforderlichen finanziellen Mitteln waren sie häufig über mehrere Tage in der weiteren Region unterwegs und entzogen sich damit über lange Perioden der direkten väterlichen Autoritätsausübung. Darüber hinaus sahen Väter kaum Möglichkeiten, ihre jugendlichen Söhne und Töchter direkt zu 2 | Lutz und LeVine (1983) zufolge bildet sich in der Sichtweise der Ifaluk eine mit dem fagnahy vergleichbare Fähigkeit, das repy, ebenfalls um das Alter von fünf Jahren herum aus. 3 | Vgl. dazu Fung (1999: 184): »While recognizing the wide variation within the Chinese culture, Ho (1986: 35) concluded in his thorough review that ›Chinese parents tend to be highly lenient or even indulgent in their attitudes toward the infant and young child, in sharp contrast to the strict discipline they impose on older children.‹ This shift is believed to begin when the child reaches ›the age of understanding‹ at around four to six years, when disciplinary techniques such as threatening, scolding, shaming, and physical punishment become acceptable and are frequently applied (Ho 1986: 16).« 4 | Da die Vater- im Unterschied zur Mutterschaft einer Legitimation durch die Ehe bedarf, geht die außereheliche Zeugung eines Kindes für männliche Personen nicht mit einem Statuswechsel einher. In diesem Fall gilt das Kind formell als vaterlos (tsy mana baba).

9. Die Entwicklungsnische der Kindheit

sanktionieren; von ersteren wurde erwartet, dass sie sich zur Wehr setzen wür‑ den, letzteren durften sich Väter aufgrund von erweiterten Inzesttabus in keiner Weise körperlich nähern. Darüber hinaus erlangen Jugendliche auch eine gewisse materielle Unabhängigkeit. Jugendliche Männer erhielten die Gelegenheit, ein Teil der väterlichen Reisfelder eigenverantwortlich zu bebauen und bekundeten ihr Be‑ streben, durch Viehdiebstahl eigenen Besitz zu erlangen. Auch jugendliche Frau‑ en konnten aufgrund beträchtlicher materieller Zuwendungen durch ihre Liebes‑ partner eine gewisse Unabhängigkeit von ihren Vätern erlangen. Der Verlust an direkter väterlicher Kontrolle wird den emischen Vorstellungen gemäß durch eine weitere Rollenverschiebung kompensiert. Die Gesprächspartner vertraten die An‑ sicht, dass die Geister der verstorbenen Vorfahren ( fahasivy) über das Verhalten der Jugendlichen (sowie der Erwachsenen) wachen und Normverstöße durch Krank‑ heiten oder andere Formen des Unglücks bestrafen würden.

Verhaltensideale und Entwicklungsziele Das beschriebene Entwicklungsmodell, dem zufolge Säuglinge und Kleinkinder noch in erster Linie über ihre Körperlichkeit definiert sind und Kinder im fünften oder sechsten Lebensjahr eine geistig-moralische Kapazität ausbilden, impliziert auch eine Verschiebung der Entwicklungs- und Erziehungsziele. Mit dem Abstil‑ len im Alter von etwa zwei Jahren tritt die Sorge um das körperliche Wohl, das Ziel einer raschen körperlichen Entwicklung und das Bestreben einer möglichst raschen Regulation negativer Emotionen zunehmend in den Hintergrund. Statt‑ dessen rücken allmählich die Formung eines fagnahy soa, eines guten Charakters, und die Erziehung zu gutem Verhalten (mahahitsy) in den Vordergrund. Um die diesen Entwicklungszielen zugrundeliegenden Konzeptionen genauer zu verste‑ hen, sind die Begriffe fagnahy und mahitsy nun näher zu untersuchen. Das fagnahy wird neben dem individuellen Körper (vata) und der transindividu‑ ellen Lebenskraft (ay) als konstitutiver Bestandteil der Person gesehen. Es übersteht den Tod und ermöglicht eine Fortsetzung der individuellen Existenz als Ahnen‑ geist (vgl. Faublée 1954: 31f). Je nach semantischem Kontext kann die Bedeutung von fagnahy variieren, jedoch bezieht es sich stets auf eine Instanz, die Personen er‑ möglicht, ihr Handeln und Verhalten zu reflektieren und an den geltenden Normen und Werten, sowie den situativen sozialen Gegebenheiten zu orientieren. Gewis‑ sermaßen sind im fagnahy Bedeutungsaspekte der Seele als immaterielles perso‑ nales Prinzip, des Charakters als Gesamtheit psychischer Eigenschaften sowie der Vernunft oder dem Gewissen als moralisches Bewusstsein vereint.5 Aufschluss‑ reich für die Bedeutung des fagnahy ist auch die Wortbildung: Der Wortstamm ahy bedeutet zugleich ›mich‹/›mir‹ und ›Sorge‹ oder ›Angst‹. Das Präfix fa- fungiert als Kausativ. Somit ließe sich fagnahy wörtlich als das ›Mich-Machende‹ sowie das ›Angst-Machende‹ übersetzen. Diese enge semantische Verknüpfung eines den Einzelnen als moralische Person konstituierenden Prinzips mit einer Emotion aus der Furchtfamilie ist insofern nachvollziehbar, als Furchtsamkeit als zentrale mo‑ 5 | Allerdings folgt aus dieser holistischen Konzeption nicht, dass keine Konzepte vorliegen, die eine weitere Differenzierung der verschiedenen genannten Aspekte zulassen. So erlauben beispielsweise die Begriffe say und troky die Unterscheidung zwischen einer im Kopf situierten Intelligenz Körper angesiedelten affektiven Komponente.

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

ralische Emotion angesehen wird. Das fagnahy befähigt das Individuum demnach zur Furcht und damit auch zu moralisch gutem Verhalten und Handeln. Wie ein erläuterndes Beispiel im Wörterbuch von Elli (1988: 79) deutlich macht, beinhaltet das fagnahy allerdings nicht nur ein Vermögen zu moralischer Furcht, sondern auch die Fähigkeit, anderen Furcht einzuflößen: »Wenn ich zum Himmel aufstei‑ ge, wird mein fagnahy zu einer Sache, die den Menschen Furcht einflößt.«6 Während das fagnahy also in erster Linie ein moralisches Vermögen bezeichnet, das sich im Übergang zur Kindheit allmählich herausbildet und für Erziehungs‑ maßnahmen empfänglich macht, bezieht sich mahitsy auf ein ideales Verhalten von Kindern. Was dieses Verhaltensideal für Kinder konkret umfasst, verdeutlichten mir mehrere Gesprächspartner, indem sie Beispiele für ein zaza mahitsy, ein Kind mit dieser Eigenschaft, nannten. Demnach verhält sich ein zaza mahitsy stets so, wie es die Eltern und Älteren von ihm erwarten. Diese etwas abstrakt anmutende, aber von Gesprächspartnern wiederholt angeführte Erläuterung weist auf den Umstand hin, dass sich mahitsy weniger auf die Befolgung einer Reihe konkreter Verhaltensregeln bezieht, sondern vielmehr auf eine generelle Bereitschaft, sich in seinem Handeln und Verhalten an den Autoritätspersonen zu orientieren, deren Willen sich situa‑ tiv verändern kann. In anderen Gesprächskontexten wurde dieser zentrale Aspekt von mahitsy durch die Metaphern des Folgens (magnaraky) oder Hörens (mizy) zum Ausdruck gebracht, auf die auch die deutsche Sprache mit den Begriffen der Folg‑ samkeit oder des Gehorsams zurückgreift. Weiteren Beispielen zufolge gibt ein zaza mahitsy seinen Eltern niemals Widerworte und reagiert nicht wütend, geschwiege denn handgreiflich auf die Weisungen oder Sanktionen seiner Eltern (tsy mamalivaly ray aman-dreny). Damit wird deutlich, dass Kinder nicht nur folgsam sein sol‑ len, sondern auch aggressive Emotionen oder Verhaltensweisen gegenüber Eltern oder anderen Respektspersonen vermeiden sollen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die wörtliche Bedeutung von mahitsy (gerade) dem buchstäb‑ lichen Sinn der Wut-Vokabel heloky (krumm) genau entgegengesetzt ist. Darüber hinaus bezogen sich einige Beispiele auch auf die vielfältigen Ausdrucksformen des Respekts gegenüber Älteren (fiasia), etwa durch bereitwilliges Entschuldigen oder Einhalten der gebotenen sozio-physischen Distanz gegenüber Älteren. Damit zählt auch ein die soziale Hierarchie bestätigendes Ausdrucksverhalten zu den Eigen‑ schaften eines zaza mahitsy. Nicht zuletzt führten die Gesprächspartner wiederholt an, dass ein zaza mahitsy der Furcht fähig sei (mahay tahotsy). Insgesamt charakterisiert sich das Ideal eines zaza mahitsy also durch eine bereitwillige Orientierung des Handelns und Verhaltens am Willen der Älteren, durch ein ebenso bereitwilliges Eingliedern in die soziale Hierarchie der Verwandt‑ schaftsgruppe, durch ein entsprechendes Ausdrucksverhalten einschließlich der Vermeidung offener Aggressivität gegenüber Älteren, sowie durch eine gewisse Furchtsamkeit gegenüber Älteren, die bereits in der Analyse der moralischen Ins‑ tanz des fagnahy zum Vorschein gekommen ist und im ersten Teil dieser Arbeit als zentrale moralische Emotion herausgestellt wurde.7 6 | Übersetzung von: Hiakatsy agny an-danitsy aho, gny fanahikohazary raha hapivadim-po gn’olo. 7 | Mit mahitsy vergleichbare Konzepte kindlichen Idealverhaltens beschreiben beispielsweise Super und Harkness (1986: 558) für die Kipsigi aus Kenia (ng’om) oder Morton (1996: 156f) für die Bewohner Tongas (poto).

9. Die Entwicklungsnische der Kindheit

Erziehungs- und Beziehungskonzeptionen Die an Kinder ab dem Alter von vier oder fünf Jahren zunehmend gestellten Erwar‑ tungen eines respektvoll-folgsamen Verhaltens gegenüber Älteren gehen einher mit einer Betonung des hierarchischen Verhältnisses zwischen Erwachsenen und Kindern. Zwar beinhalten die mütterlichen Konzepte zur Beziehung mit Säuglin‑ gen bereits eine asymmetrische Dimension, da, wie beschrieben, Müttern vor al‑ lem eine gebende und Säuglingen eine empfangende Rolle zugewiesen wird. Doch in Bezug auf ältere Kinder wird das hierarchische Verhältnis zu einem expliziten und geradezu dominanten Aspekt der Beziehungskonzeption, was bereits die oben angeführten Verhaltensideale und Erziehungsziele nahelegen. Auch die meisten von mir registrierten Sprichwörter zum Verhältnis zwischen Eltern und Kindern thematisieren die soziale Differenz auf die eine oder andere Weise: Atody akoho tsy miady amim-bato – »das Hühnerei kämpft nicht mit dem Stein«; tsy hanao aonjolahy mihoaty akondro – »die Taropflanze kann nicht größer werden als die Bananenstaude«. Dabei repräsentieren das Hühnerei bzw. die Ta‑ ropflanze das Kind und der Stein bzw. die Bananenstaude die Eltern. Diese Me‑ taphern, wonach Eltern grundsätzlich ›härter‹ und ›größer‹ als Kinder sind, be‑ gründen den elterlichen Autoritätsanspruch durch physische Übermacht. Wie im 3. Kapitel bereits dargelegt, basiert das hierarchische Beziehungskonzept jedoch nicht allein auf einer physischen Machtdifferenz, sondern auch auf einem Aus‑ tauschmodell, dem zufolge Kinder von ihren Eltern erschaffen und kontinuierlich am Leben erhalten werden, weshalb von ihnen als Gegenleistungen Respekt und Folgsamkeit zu erwarten ist. Besonders plastisch kommt dieser Zusammenhang in den folgenden, bereits zitierten Sprichwörtern zum Ausdruck: »Die Eltern sind der sichtbare (Schöpfer-)Gott«; »Respektiere deine Eltern und du wirst lange leben«. Dass die an Kinder gestellten Forderungen auch als Ausgleich für die im Säug‑ lingsalter reichlich empfangene körperliche Zuwendung verstanden werden kann, legt etwa diese idiomatische Klage nahe: Gny reny vakivaky nono gnanaky marandela – »Die Brust der Mutter ist wund, doch ihr Kind erhebt seine Stimme«. Inwieweit ein Kind zu der Einsicht gelangt, dass es als Gegenleistung für die elterliche Zuwendung zu Folgsamkeit verpflichtet ist, hängt aus Sicht der Eltern sowohl von seiner Erziehung als auch von seiner schicksalsbedingten Veranlagung ab. Die Veranlagung zu einem guten oder schlechten Charakter (soa, ratsy fagnahy) wird dem lokalen astrologischen System zufolge durch das Datum der Geburt be‑ stimmt, das mit einem ›schwachen‹ oder ›starken Schicksal‹ (vita malemy/mahery) behaftet sein und in Verbindung mit bestimmten Wochentagen unheilvolle (mahavoy) Konsequenzen nach sich ziehen kann. Wurde das Kind an einem Tag mit starkem, unheilvollen Schicksal geboren, besteht die Gefahr, dass es später seine Eltern nicht respektieren bzw. nicht fürchten und im Erwachsenenalter die hierar‑ chische Ordnung bedrohen oder sogar nach dem Leben des Vaters trachten wird. Faublée (1954: 46-50) berichtet auf der Basis seiner Feldforschung in der 1940er Jahren, dass Neugeborene mit einem derart gefährlichen, die hierarchische Ord‑ nung bedrohenden Schicksal teilweise getötet oder ausgesetzt wurden, wobei er allerdings keine konkreten Fälle nennt. Es ist kaum zu überprüfen, ob diese radi‑ kalen Konsequenzen früher tatsächlich gezogen wurden oder ob es sich vielmehr um eine Vergangenheitskonstruktion handelt, welche die Bedrohung der sozialen Hierarchie und das Erfordernis, diese zu schützen, betont. Im Zeitraum meiner

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Feldforschung bestand der Umgang mit einem unheilvollen Schicksal darin, die‑ ses durch spezielle rituelle Opferpraktiken ( falitsy) unschädlich zu machen. Die Existenz derartiger Konzeptionen und Praktiken weist grundsätzlich dar‑ auf hin, dass Folgsamkeit und die Bereitschaft zur Unterordnung keineswegs als natürliche menschliche Eigenschaften betrachtet werden, die sich in der Kindheit von alleine herausbilden, vielmehr ist demnach eine sorgfältige Kontrolle erforder‑ lich. Unabhängig vom jeweiligen Schicksal ist es aus Sicht der befragten Personen erforderlich, erzieherisch auf das Kind einzuwirken und die Entwicklung eines guten Charakters ( fagnahy soa) zu fördern – nicht nur im Interesse des Kindes, sondern auch der sozialen Gemeinschaft.

S oziales U mfeld und A ktivitätsmuster von K indern Die präsentierten kulturellen Konzeptionen zur Kindheit können leicht den Ein‑ druck erwecken, dass die Kinder aus Menamaty einer strikten elterlichen Kontrolle ausgesetzt sind, die ihnen wenig Raum für selbstbestimmte Aktivitäten lässt und dem westlichen Ideal einer ›unbeschwerten, glücklichen Kindheit‹ radikal ent‑ gegengesetzt ist. Demgegenüber war ich zu Beginn der Feldforschung jedoch gera‑ de von den weitreichenden Freiheiten und großen Handlungsspielräumen der Kin‑ der beeindruckt. Anstatt einen großen Teil des Tages in der Schule oder anderen Bildungsinstitutionen zu verbringen, gingen die Kinder von Menamaty vielfältigen Aktivitäten mit anderen Kindern nach, meist unbehelligt von Eltern oder anderen Erwachsenen. Offenbar wird der Alltag von Kindern also nur zum Teil von Autori‑ tätspersonen bestimmt. Um zu verstehen, wie die Erziehungsinteraktionen in die alltägliche Erfahrungswelt von Kindern eingebettet sind, ist es erforderlich, in die‑ sem Unterkapitel zunächst das gesamte soziale Umfeld und damit zusammenhän‑ gende Aktivitätsmuster in den Blick zu nehmen. Dieses Unterkapitel knüpft also an das 6. Kapitel zur sozialen Umwelt von Säuglingen und Kleinkindern an und verfolgt diese Thematik weiter im Hinblick auf die Kindheits- und Jugendphase. Methodisch treten hier an die Stelle der spot observation die teilnehmende Be‑ obachtung sowie strukturierte Interviews zu den Familienverhältnissen, Bezugs‑ personen, Pflichten und Alltagsaktivitäten von 98 Kindern und Jugendlichen aus Ranomadio im Alter von null bis 18 Jahren. Die Ergebnisse des Interviewmaterials sind freilich nicht exakt mit jenen der spot observation vergleichbar. Um die Verän‑ derungen und Konstanten des sozialen Umfeldes im Übergang zur Kindheitspha‑ se dennoch nachvollziehbar zu machen, lasse ich die Interviewresultate zu Säug‑ lingen und Kleinkindern mit einfließen.

Egalitäre Beziehungen Wie das 6. Kapitel gezeigt hat, beginnt sich die soziale Umwelt von Kindern spä‑ testens ab dem zweiten Lebensjahr deutlich aufzugliedern – in die egalitären Be‑ ziehungen mit den Peers und die hierarchischen Beziehungen mit deutlich älteren und erwachsenen Bezugspersonen. Auch ist deutlich geworden, dass Kinder mit zunehmendem Alter immer mehr Zeit mit ihren Peers verbringen und nur noch gelegentlich erwachsene Bezugspersonen aufsuchen. Dieser Trend setzt sich bei älteren Kindern fort.

9. Die Entwicklungsnische der Kindheit

Während Kleinkinder noch zumeist im Dorf oder am Dorfrand mit ihren Peers interagierten und in dringenden Fällen relativ schnell auf die Unterstützung von Älteren zurückgreifen konnten, verbrachten Kinder ab etwa fünf Jahren den Groß‑ teil des Tages in der Umgebung des Dorfes mit einer Gruppe aus Freunden – also weit abseits der direkten Einflusssphäre der Eltern oder anderer Autoritätsper‑ sonen. Dort vertrieben sie sich zum einen mit vielfältigen Spielen die Zeit, von denen einige bereits beschrieben wurden (Kapitel 7). Zum anderen fischten sie in den Bächen, schossen Vögel mit Steinschleudern oder jagten essbaren Insekten aller Art hinterher, sammelten wild wachsende Früchte oder gruben nach essba‑ ren Wurzeln. Das Sammeln und Jagen geschah sowohl aus der Perspektive der Eltern als auch der Kinder weniger aus einer Pflicht heraus, vielmehr wurde es als Zeitvertreib und als Möglichkeit angesehen, in den Besitz begehrter Nahrungs‑ mittel zu kommen. Kinder konnten über den Fang oder Fund frei verfügen und waren zu beobachten, wie sie diesen für sich zubereiteten, im Dorf verkauften oder ihren Müttern für das Abendessen übergaben. Zwar waren diese Nahrungsmittel im Haushalt eine willkommene Ergänzung zur Reis- oder Maniokmahlzeit, jedoch wurden sie nicht als notwendige Nahrungsmittel betrachtet. Die Interviewfrage an die 98 Kinder aus Ranomadio nach ihren besten Freun‑ den (nama) erlaubt es, die egalitären Partner dieser Aktivitäten nach den Merk‑ malen des Alters, der Verwandtschaft und des Geschlechts zu kategorisieren. Das Alter der meisten genannten Freunde weicht nur wenig von dem des jeweils be‑ fragten Kindes ab. Allerdings nannten viele Kinder auch jeweils einen zwei bis drei Jahre älteren oder jüngeren Freund. Diagramm 13 bildet die durchschnittliche Altersabweichung der jeweils ältesten und jüngsten Freunde der befragten Kinder und Jugendlichen ab:

Altersdifferenz zu Fokuskind in Jahren

Diagramm 13: Maximale Altersabweichung der Freunde 4 3 2

älteste Freunde

1 0

1,1

3,8

4,3

4,6

jüngste Freunde

-1

Altersspanne der Freunde

-2

-3 0-4 Jahre

5-8 Jahre

9-13 Jahre

14-18 Jahre

Diesen Daten zufolge rechneten die älteren Kinder und Jugendlichen einen Ge‑ fährten zu ihren Freunden, der im Mittel zwischen ein und drei Jahre älter war. Aus der alltäglichen teilnehmenden Beobachtung geht hervor, dass diese älteren Freunde häufig als Anführer bei Aktivitäten und Unternehmungen der Kinder‑ gruppen fungierten. Dem entspricht, dass ältere Kinder und Jugendliche vermehrt jüngere Kinder als Freunde betrachteten, denen gegenüber sie ihrerseits eine Vor‑ reiterrolle einnehmen konnten. Die Altersspanne der befreundeten Peers dürfte eine wichtige Rolle dabei spielen, Wissen und Praktiken innerhalb der Peergroup zu tradieren. Da die maximale Altersabweichung jedoch nur in wenigen Fällen

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mehr als drei Jahre betrug, sind auch den jeweils ältesten und jüngsten Freun‑ den noch vergleichbare Kompetenzen und Interessen zuzuschreiben. Darauf deu‑ tet auch der Umstand hin, dass die Alterspanne der Freunde bei älteren Kindern größer war. Denn ein Altersunterschied von beispielsweise zwei Jahren bringt bei einem zehnjährigen Kind offensichtlich weniger Kompetenzunterschiede mit sich als bei einem zweijährigen Kleinkind. Was die Verwandtschaftsrelation betrifft, so nannten die Kinder aller Alters‑ gruppen ausnahmslos verwandte Kinder als Freunde. Die Mehrheit der genannten Freunde waren Cousins oder Cousinen unterschiedlicher Verwandtschaftsgrade. Leibliche Geschwister hingegen wurden von den Gesprächspartnern nur selten als Freunde bzw. Gefährten angeführt. Bemerkenswerterweise entspricht dieses Ver‑ wandtschaftsmuster der Peers den Ergebnissen der spot observation (vgl. Diagramm 3.5.1). In Gesprächen mit Kindern und Erwachsenen sowie durch zahlreiche Beob‑ achtungen wurde deutlich, dass das Verhältnis zwischen leiblichen Geschwistern häufig angespannt oder gar konfliktreich war – auch unter erwachsenen Brüdern bzw. Schwestern. Ein Grund für diese Tendenz mag in einer gewissen, struktu‑ rell angelegten Ambivalenz in der Beziehung zwischen Geschwistern gleichen Geschlechts und geringer Altersdifferenz liegen. Einerseits lernen sich diese im Kleinkindalter als prinzipiell gleichrangige Interaktionspartner kennen. Anderer‑ seits stehen sie den Normen der patrilinearen Abstammungsgruppe zufolge, die mit zunehmendem Alter an Gewicht gewinnen, in einem festgefügten hierarchi‑ schen Verhältnis zueinander, was insbesondere dem jüngeren Geschwister nicht immer plausibel erscheinen mag und zu Meinungsverschiedenheiten führen kann. Das Geschlecht der Spielgefährten wird spätestens ab dem vierten Lebensjahr relevant. Den Interviews zufolge hatten Kinder bis zum Alter von drei Jahren meist Freunde beiderlei Geschlechts, alle älteren Kinder, abgesehen von einem fünfjähri‑ gen Jungen, hingegen nur gleichgeschlechtliche Freunde. Die geschlechtliche Dif‑ ferenzierung der Peersgroups am Ende der Kleinkindphase geht Beobachtungen zufolge mit der Aufnahme geschlechtsspezifischer Spiele einher. Gespräche mit Kindern und Erwachsenen zur Geschlechtertrennung haben zudem deutlich ge‑ macht, dass dauerhafte gemeinsame Aktivitäten zwischen Jungen und Mädchen den Spott der anderen Kinder und die Wut erwachsener Bezugspersonen auf sich ziehen können. Letztere begründeten ihr Missfallen vor allem damit, dass Kinder unterschiedlichen Geschlechts häufig den Sexualakt nachspielten (kipetapetaky), was die Inzesttabus für Verwandte verletze. Aus Berichten von Kindern und Er‑ innerungen von Jugendlichen geht jedoch hervor, dass sich Mädchen und Jungen heimlich außerhalb des Dorfes zum kipetapetaky treffen, was auch dem klandes‑ tinen Charakter der außerehelichen Liebesbeziehungen ab dem Jugendalter ent‑ spricht. Wenn sich die Kinder wie üblich in den Abendstunden im Dorf einfanden, taten sie sich allerdings auch offen zu größeren gemischtgeschlechtlichen Gruppen zusammen, um verschiedenen Bewegungsspielen nachzugehen. Insgesamt kann die frühe Geschlechtertrennung als Vorbereitung auf die allgemeine Geschlechts‑ segregation betrachtet werden. Wie im 8. Kapitel bereits angemerkt, pflegten Kinder nicht nur freundschaft‑ liche, sondern auch feindseelige Beziehungen mit ihren Altersgenossen, die aller‑ dings nicht systematisch mit den 98 Kindern erhoben wurden. Aus Alltagsbeobach‑ tungen sowie gelegentlichen Gesprächen geht jedoch hervor, dass Kinder beiderlei Geschlechts spätestens am Ende des Kleinkindalters bestimmte Gleichaltrige aus

9. Die Entwicklungsnische der Kindheit

den nicht verwandten Abstammungsgruppen des Dorfes zu ihren Feinden (arahamba) zählten und mit diesen teils heftige Auseinandersetzungen führten.

Hierarchische Beziehungen Auch der im 6. Kapitel dargestellte Entwicklungstrend, dass Kinder in den ersten Lebensjahren zunehmend weniger Kontakt mit Erwachsenen haben, setzt sich bei älteren Kindern fort. Tatsächlich konnte ich im Rahmen meiner Teilnahme am alltäglichen sozialen Geschehen nur äußerst selten überhaupt Interaktionen und gemeinsame Aktivitäten zwischen Kindern und Eltern oder anderen Erwachsenen beobachten. Lediglich zu den Hauptmahlzeiten in den Morgen- und Abendstun‑ den verbrachten Kinder regelmäßig Zeit mit Erwachsenen. Zunächst hatte ich nur sporadische Einblicke in das soziale Miteinander während der Mahlzeiten, da ich mit meinem Forschungsassistenten Etienne und gelegentlichen Besuchern in dem uns zur Verfügung gestellten Haus speiste. Um bessere Voraussetzungen für die teilnehmende Beobachtung zu schaffen, bemühten wir uns nach einigen Monaten der Feldforschung um temporäre Aufnahme in verschiedenen Haushalten von Ra‑ nomadio. Letztlich durften wir in sechs Haushalten, die fünf verschiedenen tariky angehörten, für jeweils zwei Wochen leben und damit auch an allen Mahlzeiten teilnehmen und die Morgen- sowie Abendstunden bei den jeweiligen Familien ver‑ bringen. Dabei stellte sich allerdings heraus, dass auch während der Mahlzeiten die Kommunikation und Interaktionen zwischen Eltern und Kindern auf ein instru‑ mentelles Minimum reduziert und von einem hohen Maß an Formalität bestimmt waren. Wie bereits im Abschnitt zu den hierarchischen Interaktionsmustern be‑ schrieben (Kapitel 3), wurde gerade auch beim Speisen die soziale Distanz zwi‑ schen Alt und Jung betont, etwa durch die Regelungen eines zeitlich versetzten Beginnens und einer Sitzordnung nach der altersbedingten Rangfolge oder durch das an Kinder gestellte – und in aller Regel befolgte – Respektsgebot der körper‑ lichen und verbalen Zurückhaltung. Das äußerst ruhige, kontrollierte Benehmen von Kindern in Gegenwart der Eltern oder anderer Erwachsener stand in scharfem Kontrast zu dem ausgelassenen, lauten und lebendigen Verhalten derselben Kinder in ihren Peergroups. Abgesehen von diesem formalen Umgang bei den Mahlzeiten verweilten Kin‑ der mit zunehmendem Alter auch immer kürzer bei den Eltern. Ältere Kinder ver‑ schwanden nach den Abendmahlzeiten meist umgehend, um sich zu ihren Peers zu gesellten, während die Erwachsenen meist noch lange beisammensaßen und sich häufig bis zum Schlafengehen unterhielten. Die Befragung der 98 Kinder zu ihren Schlaforten legen zudem nahe, dass Kinder mit zunehmendem Alter immer seltener bei ihren Eltern oder anderen Erwachsenen nächtigten und damit auch nur noch selten die Zeit nach dem Aufwachen oder vor dem Schlafengehen mit diesen verbrachten. Kinder im Alter von sechs bis sieben Jahren schliefen bereits mehrheitlich und Kinder ab zehn Jahren ausschließlich in einem Raum mit be‑ freundeten Kindern. Als Schlaforte standen Kindern meist eine Küche mit eige‑ nem Zugang von außen oder ein anderer, nicht genutzter Raum zur Verfügung. Die nächtliche Separierung von den Eltern ging Gesprächen zufolge zum einen auf das Bedürfnis der Eheleute nach einer gewissen Intimität und zum anderen auch auf den Wunsch der Kinder zurück, mit ihren Freunden nicht nur den Tag,

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sondern auch die Nacht zu verbringen. Damit gewinnt der Kontakt zwischen Eltern und Kindern zunehmend einen punktuellen Charakter, wobei die Mahlzeiten, die freilich nur wenig Zeit beanspruchen, bis zur Eheschließung und Gründung eines eigenen Haushalts die wichtigsten regelmäßigen Anlässe für die intergenerationa‑ le Zusammenkunft bleiben. Dies lässt sich mit der im 8. Kapitel entwickelten These verknüpfen, wonach Kinder das Erhalten von Nahrung als zentrale Dimension der Beziehung zu ihren Eltern und anderen Erwachsenen kennenlernen. Bemerkenswert ist, dass auch die Einführung von Pflichten ab dem fünften Lebensjahr in mehrfacher Hinsicht auf die Nahrungsgabe bezogen ist: Konzeptuell werden die Pflichten zusammen mit der gebotenen sozialen Unterordnung als Gegenleistung für die Gabe von Nah‑ rung und Lebenskraft gefasst. Die sporadische Kommunikation zwischen Eltern und Kindern während der oder im Anschluss an die Mahlzeiten beinhaltete größ‑ tenteils Anweisungen oder das Erteilen von Aufgaben. Viele der von Kindern re‑ gelmäßig zu erfüllenden Pflichten, die im Folgenden näher beschrieben werden, beziehen sich direkt auf die Herstellung oder Zubereitung von Nahrungsmitteln. Fast alle Jungen ab dem Alter von fünf oder sechs Jahren berichteten von der Aufgabe, allabendlich das nötige Feuerholz für die Zubereitung der Mahlzeiten herbeizuschaffen. Dies ließ sich gut mit den spielerischen Aktivitäten in der bewal‑ deten Umgebung des Dorfes verknüpfen, da Jungen hierbei einige trockene Äste zusammensuchen und bei ihrer abendlichen Rückkehr ins Dorf mitbringen konn‑ ten. Ab einem Alter von etwa zehn Jahren begannen einige Jungen auch damit, Schafe oder Rinder zu hüten. Auch diese Aktivität wurde mit spielerischen Aktivi‑ täten außerhalb des Dorfes verbunden. Indirekt kam dies etwa in einigen Berichten der Kinder zum Ausdruck, die aufgrund ihres spielerischen Zeitvertreibs Rinder verloren hatten und deshalb bestraft wurden. Die Aktivität ist aus der Sicht meiner nunmehr in der Stadt lebenden Feldassistenten mit vielen sentimentale Erinnerun‑ gen an große Freiheiten und spannende Abendteuer verknüpft. Erst im Jugendalter gesellt sich die körperliche Arbeit auf den Reisfeldern zu den genannten Aufgaben. Über diese alltäglichen Pflichten hinaus wurden männliche Jugendliche auch für Botengänge und den Gütertransport zwischen den verschiedenen Dörfern heran‑ gezogen, was diese in der Regel mit der Suche nach Liebesabenteuern verknüpften. Eine zentrale Aufgabe der Mädchen bestand darin, morgens und abends Wasser am nahegelegenen Fluss zu holen. Mädchen ab etwa sieben oder acht Jahren be‑ arbeiteten zudem häufig am frühen Morgen und späten Nachmittag den Reis für den täglichen Bedarf mit Mörsern, um ihn von der Spelze zu befreien. Ab etwa zehn Jahren begannen einige Mädchen auch damit, einmal am Tag zu kochen und Babys zu hüten – was sich bereits im 6. Kapitel gezeigt hat. Während der Saison des Reis‑ anbaus halfen präadoleszente Mädchen teilweise auch beim Pflanzen, Dreschen und Säubern der Reisernte. Insgesamt war das Arbeitspensum der Mädchen ein‑ deutig höher als dasjenige der Jungen und umfasste intensivere körperliche Arbeit, die zudem stärker an die dörfliche Sphäre gebunden war und mehr Kontakt mit Erwachsenen mit sich brachte. Im Vergleich zu Kindern, die der Schulpflicht unter‑ worfen sind, stand allerdings auch den Mädchen aus Ranomadio wesentlich mehr Freiraum für selbstgewählte, nicht durch Erwachsene gesteuerte Aktivitäten zur Verfügung. Selbst wenn Kinder damit beschäftigt waren, ihre Pflichten zu erfüllen, taten sie dies meist mit ihren Altersgenossen zusammen und, insbesondere im Fall der Jungen, häufig in einer ›erwachsenenfreien Zone‹ außerhalb des Dorfes.

9. Die Entwicklungsnische der Kindheit

Mein eingangs erwähnter Eindruck, dass Eltern einerseits eine strikte Folgsam‑ keit und soziale Unterordnung von ihren Kindern erwarten, diese andererseits aber viel Raum für selbstbestimmte Aktivitäten haben, lässt sich nun erhellen: Die elter‑ liche Kontrolle betrifft lediglich spezifische Aktivitäten und zeitlich begrenzte Situa‑ tionen, die für hierarchische Relationen direkt relevant sind – nämlich die Erfüllung der Pflichten sowie die performative Unterordnung in Gegenwart von Autoritäts‑ personen. Aktivitäten oder Verhaltensweisen, die für die hierarchische Relation von geringer Bedeutung sind, veranlassten Eltern kaum zu regulierendem Eingreifen. Als Beispiel hierfür sei die Schlafregulation angeführt: Während viele Eltern der deutschen Mittelschicht großen Wert darauf zu legen scheinen, dass ihre Kinder zu einer bestimmten Abendstunde zu Bett gehen und dies mit dem Wohl des Kindes begründen, war den Kindern von Menamaty vollkommen freigestellt, wann sie sich zur Nachtruhe begeben. So waren Kinder häufig noch bis spät in die Nacht hinein bei ihren lebhaften Aktivitäten zu hören. Auf der anderen Seite erwarteten Eltern, dass ihre Kinder selbständig in der Frühe aufstehen, sofern sie eine Aufgabe zu er‑ füllen haben. Aus Erzählungen einiger Kinder geht hervor, dass sie bestraft wurden, weil sie verschlafen hatten. Das Schlafverhalten von Kindern wurde also nur dann zum Gegenstand elterlicher Regulation, wenn es direkt mit den sozialen Verpflich‑ tungen kollidierte. Dies lässt sich als weiteres Beispiel für die weiter oben bereits angeführte These eines elternzentrierten Erziehungsstils verstehen, da hierbei, im Unterschied zu einem kindzentrierten Stil, das kindliche Verhalten vor allem dann für Erziehungspersonen relevant wird, wenn es ihren Interessen entgegenläuft. Da‑ mit bringt ein elternzentrierter gegenüber einem kindzentrierten Erziehungsstil zu‑ gleich beträchtliche Handlungsfreiräume für Kinder mit. Zwei weitere Argumente lassen sich anführen, weshalb die autoritären An‑ sprüche der Eltern und die autonomen Handlungsräume der Kinder nicht nur miteinander vereinbar sind, sondern sich sogar gegenseitig zu bekräftigen schei‑ nen: Gerade weil sich die Kinder aus Menamaty die meiste Zeit von Erwachsenen fernhalten und größtenteils auch ihren Pflichten in deren Abwesenheit nachgehen (z.B. Feuerholzsammeln, Wasserholen, Rinderhüten), scheint es für Eltern umso wichtiger zu sein, Kindern ihre Verpflichtungen und Regeln nachhaltig zu ver‑ mitteln. Der Umstand wiederum, dass sich Kinder in der Gegenwart von Autori‑ tätspersonen nicht nur unterordnen und zurücknehmen müssen, sondern auch mit der Erteilung von Aufgaben rechnen können, dürfte Kinder dazu motivieren, sich über längere Zeiträume der elterlichen Einflusssphäre zu entziehen und sich damit auch aktiv Freiräume zu schaffen. Sowohl erwachsene als auch kindliche Gesprächspartner thematisierten diese Strategie von Kindern, sich durch Abwe‑ senheit der elterlichen Autorität zu entziehen. Einige Aktivitäten von Kindern weisen ebenfalls darauf hin, dass diese nicht nur ihre Freiräume auszunutzen wussten, sondern mitunter auch versuchten, sie aktiv zu erweitern. Aus Interviews mit Jungen zu ihren Sanktionserfahrungen ging hervor, dass sie Hühner im Dorf gestohlen und diese mit ihren Freunden im Wald für den Verzehr zubereitet hatten. Wie Nachfragen zeigten, handelte es sich dabei um eine etablierte Aktivität, zu der fast jeder Junge eine Episode zu erzählen wusste. Mädchen wiederum berichteten, dass sie hin und wieder Bananen oder Feldfrüchte von den Äckern ihrer Eltern oder anderer Dorf bewohner entwendeten und diese mit ihren Freundinnen heimlich verspeisten. Eltern versicherten, dass sie ihre Kinder trotz strenger Bestrafung kaum dauerhaft davon abhalten könnten.

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

Nach der Einbettung der hierarchischen Beziehungen in den Alltag der Kinder ist nun zu untersuchen, welche erwachsenen Bezugspersonen den Kindern zur Verfügung stehen und welche für sie eine wichtige Rolle spielen. Diagramm 14 repräsentiert die Ergebnisse zur Frage, welche Eltern der 98 Kinder in Ranomadio lebten, also überhaupt alltäglich als Bezugspersonen verfügbar waren. Diagramm 14: Anteile der Kinder mit beiden Eltern, einem Elternteil und ohne Eltern 6% 22%

15% 33%

23%

3% 22%

23%

22%

17%

mit Mutter, ohne Vater

17%

mit Vater, ohne Mutter

69% 44%

0-4 Jahre

ohne Mutter und Vater

5-8 Jahre

38%

9-13 Jahre

44%

mit Mutter und Vater 14-18 Jahre

Demnach lebten etwa zwei Drittel der jüngsten Kinder (null bis vier Jahre) und weniger als die Hälfte der älteren Kinder und Jugendlichen mit Mutter und Vater in Ranomadio. Bei den Jüngsten ist dies vor allem auf das Fehlen des Vaters zurück‑ zuführen, während bei den Älteren die Mutter zu einem ähnlichen Anteil wie der Vater abwesend war. Der Anteil unter den Befragten, denen in Ranomadio weder Mütter noch Väter zur Seite standen, war für Jugendliche am höchsten. Wuchsen Kinder ohne Väter auf, so war dies in den meisten Fällen (23 von 31) darauf zurückzuführen, dass die Mutter zum Zeitpunkt der Geburt nicht ver‑ heiratet war und das Kind somit als vaterlos galt. Alle unehelichen und folglich vaterlosen Kinder waren in die Abstammungsgruppe der Mutter integriert. Meist übernahm ein Onkel mütterlicherseits oder ein Großvater die Vaterrolle und damit auch die Verantwortung für das Wohlergehen und verhalten des Kindes. Die fünf Kinder, deren Väter bereits verstorben waren, wuchsen hingegen in der väterlichen Abstammungsgruppe auf, wobei entweder ein Bruder des Vaters oder ein Groß‑ vater den leiblichen Vater ersetzte. Somit verfügten auch die ›vaterlosen‹ Kinder über eine väterliche Bezugsperson. Die Abwesenheit der Mütter war in der Mehrzahl der Fälle (17 von 24) auf die Trennung der Eltern zurückzuführen, da die geschiedenen Mütter in das Dorf ihrer Eltern zurückgekehrt oder zu ihrem neuen Ehemann gezogen waren und ihre Kinder – sofern sie bereits abgestillt waren – bei deren Vätern zurückgelassen hatten. Auch die Mütter jener Kinder, deren Väter verstorben waren, befanden sich in den Dörfern ihrer Eltern oder Ehemänner. Die räumliche Trennung von der Mutter führte freilich nicht zu einem vollständigen Beziehungsabbruch. Immer wieder kamen Mütter für einige Tage zu Besuch nach Ranomadio, um ihre dort lebenden Kinder zu sehen, und ältere Kinder begaben sich hin und wieder für ei‑ nige Tage in das Dorf ihrer Mütter. Die Mehrzahl der Kinder, deren leibliche Mut‑ ter in anderen Dörfern lebte, beschrieb diese allerdings nicht mehr als präferierte Bezugsperson. Diese Rolle übernahm am häufigsten eine Tante oder Großmutter

9. Die Entwicklungsnische der Kindheit

väterlicherseits und gelegentlich erwachsene Schwestern, bei zwei Kindern auch ›Stiefmütter‹ (neny kely, wörtlich: kleine Mutter). Es liegt nahe, dass die disparaten Gründe für die Abwesenheit von Müttern und Vätern unterschiedliche Beziehungserfahrungen für Kinder mit sich bringen. Während uneheliche Kinder ihre leiblichen Väter schlicht nicht kannten und von Anfang an bei einem Onkel oder Großvater aufgewachsen waren, hatten die meis‑ ten Kinder, deren Mütter zum Zeitpunkt der Erhebung nicht mehr präsent waren, eine Trennungserfahrung hinter sich, da die Mütter in den ersten Lebensjahren noch als primäre Betreuungspersonen fungierten. Ein Sprichwort, das allerdings eher die männliche Perspektive wiederzugeben scheint, besagt: »Die ausschwär‑ mende Bienenkönigin [d.h. die Mutter] hat kein Mitleid mit den Zurückgebliebe‑ nen.« 8 Allerdings brachten mehrere Mütter, die ihre Kinder in einem anderen Dorf zurückgelassen hatten, mir gegenüber durchaus ihre Traurigkeit über die Tren‑ nung zum Ausdruck. Die im Hinblick auf die ersten Lebensjahre beschriebene Distanzierung zwi‑ schen Müttern und Kindern nach dem Abstillen sowie die allmähliche Übergabe der Erziehungsverantwortung von der Mutter an den Vater (oder an einen anderen männlichen Verwandten) dürfte die Trennung für beide Seiten erleichtern. Auf‑ grund der Tatsache, dass sämtliche mir bekannten Kinder von Menamaty in einer größeren Verwandtschaftsgruppe aufwuchsen, stand ihnen neben oder anstelle von Müttern und Vätern stets eine Reihe potenzieller mütterlicher und väterlicher Bezugspersonen zur Seite. Die Verwandtschaftsterminologie, der zufolge Kinder sämtliche Verwandte desselben Geschlechts aus der Elterngeneration mit der iden‑ tischen Bezeichnung ansprechen – neny für die weiblichen und baba für die männ‑ lichen –, dürfte Kinder darin unterstützen, das mit den Eltern erlernte Beziehungs‑ modell auf andere Erwachsene aus der Verwandtschaftsgruppe zu übertragen. Um Hinweise dafür zu bekommen, welche erwachsenen Bezugspersonen für Kinder eine wichtige Rolle spielen, wurden sie gebeten, ihre ›Mütter‹ und ›Väter‹ aufzuzählen. Die meisten Kinder führten zwischen drei und acht Bezugspersonen an, der Durchschnitt lag bei 4,6 Personen. Daraufhin bat ich die Kinder, mir die beliebteste neny und den beliebtesten baba zu nennen. Diagramm 15 repräsentiert die favorisierten ›Mütter‹ und ›Väter‹ jener Kinder und Jugendlichen, die mit bei‑ den leiblichen Elternteilen zusammenlebten. Demnach präferierte die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen zwar ihre leib‑ lichen Eltern als Bezugspersonen, etwa ein Drittel von ihnen nannte jedoch Tanten und Onkel sowie Großmütter und Großväter als beliebteste Bezugspersonen. Die Daten zu den weiblichen Bezugspersonen sprechen dafür, dass sich mit zuneh‑ mendem Alter immer mehr Kinder von ihren leiblichen Müttern ab- und anderen weiblichen Verwandten zuwenden. Überraschenderweise ist bezüglich der männ‑ lichen Bezugspersonen dieser altersbedingte Trend nicht festzustellen. Vielmehr ist der Anteil unter den fünf- bis achtjährigen Kindern, die dem Vater einen On‑ kel oder Großvater vorzogen, am höchsten. Knapp die Hälfte dieser Kinder nannte einen Onkel, Großvater oder erwachsenen Bruder als beliebteste männliche Be‑ zugsperson. Mehrere Kinder, die ich fragte, weshalb sie ihre Väter nicht so gern hatten, beschrieben diese als olo maseky, als wütende Menschen. Da diese Emotion, wie noch zu sehen sein wird, eng mit erzieherischen Sanktionen assoziiert ist, 8 | Titely mifehy tsy mahaferignay tohoky.

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ließe sich der Ausdruck olo maseky in diesem Kontext auch mit ›besonders strenger Vater‹ übersetzen. Auch der Umstand, dass Väter die Rolle des sanktionierenden Erziehers übernehmen, sobald ihre Kinder das Alter von etwa fünf Jahren errei‑ chen, und diese mit dem Eintritt in die Pubertät wieder abgeben, deutet auf einen negativen Zusammenhang zwischen Erziehung und Beliebtheit der Väter hin.9 Diagramm 15: Von Kindern präferierte Bezugspersonen unter den Erwachsenen weibliche Bezugspersonen 6% 9%

männliche Bezugspersonen

7%

6%

9%

7%

13%

9%

19%

18%

8%

andere

8%

14%

82%

63%

6%

8% 31%

9% 18%

25%

Großmutter/ Großvater Tante/Onkel

71%

8%

81%

64%

58%

63%

5-8 Jahre

9-13 Jahre

73%

Mutter/Vater

0-4 Jahre

5-8 Jahre

9-13 Jahre

14-18 Jahre

0-4 Jahre

14-18 Jahre

Unabhängig von den Gründen für diese unterschiedlichen Präferenzen bleibt fest‑ zuhalten, dass sämtliche Kinder von Menamaty die Möglichkeit hatten, sich statt ihren leiblichen Eltern anderen ›Müttern‹ und ›Vätern‹ zuzuwenden. Denn zum einen teilten sie ihr alltägliches Leben mit einer Reihe von Onkeln, Tanten und Großeltern, und zum anderen wurden sie auch dazu angehalten, diese gleicherma‑ ßen als Eltern anzusprechen und anzusehen. Darüber hinaus ist deutlich gewor‑ den, dass Kinder nur punktuell Kontakt mit Erwachsenen hatten und die elterliche Kontrolle lediglich einen Aktivitätsbereich betraf, der für hierarchische Beziehun‑ gen unmittelbar relevant ist. Entsprechend verbrachten Kinder einen Großteil des Tages (und mit zunehmendem Alter auch die Nacht) mit vertrauten Freunden und gingen mit diesen weitgehend selbstbestimmten und interessengeleiteten Aktivi‑ täten nach.

D as S pektrum der S anktionspr aktiken Dieses Unterkapitel zur Interaktionsdimension richtet von vornherein den Fo‑ kus auf Sanktionspraktiken (und vernachlässigt damit wohlgemerkt zahlreiche andere Umgangsformen). Wie in der theoretischen Auseinandersetzung mit der Emotionssozialisation bereits herausgearbeitet wurde, können Sanktionspraktiken aufgrund ihrer affektiv erregenden und bewertenden Funktion als zentrale Sozia‑ lisationsfaktoren für moralische Emotionen betrachtet werden. Mit Quinn (2005) kann davon ausgegangen werden, dass Sanktionspraktiken der affektiven Erre‑ 9 | Die nach dem Geschlecht der Kinder differenzierende Analyse des Datenmaterials zeigt, dass sich Mädchen und Jungen nicht signifikant bezüglich der präferierten männlichen und weiblichen Bezugspersonen unterscheiden.

9. Die Entwicklungsnische der Kindheit

gung und Bewertung überall als wirksame Erziehungsmittel eingesetzt werden. Zugleich argumentiert sie, dass sich die Sanktionspraxis und die damit induzier‑ ten Emotionsqualitäten je nach soziokulturellem Kontext unterscheiden können. So ist etwa für verschiedene ost- und südostasiatische Gemeinschaften gezeigt worden, dass dort auf temporärer sozialer Exklusion basierende Sanktionsformen häufig zu beobachten sind, die auf die Sozialisation von Scham-Emotionen zielen (z.B. Fung 1999; Geertz 1959; Röttger-Rössler et al. 2013). Im Hinblick auf eine Gruppe der Inuit stellt Briggs die Prävalenz der Praktik des teasing heraus, die u.a. eine bestimmte Form der sozialen Angst (ilira) bei Kindern fördere. Ein regulärer Gebrauch von Körpersanktionen wurde etwa für die Gusii in Kenia (LeVine 1960: 55), die Mfantse in Ghana (Quinn 2005: 503) oder die Tongaer (Morton 1996: 89) beschrieben. Sanktionspraktiken wie Loben werden wiederum in den euro-ame‑ rikanischen Mittelschichten betont und kommen mit dem Ziel zur Anwendung, Emotionen wie Stolz oder self-esteem zu fördern (Holodynski & Friedlmeier 2006: 125; Miller et al. 2002). Wie Quinn (2005) und andere Autoren deutlich machen, sind die jeweiligen Erziehungspraktiken in normative Bedeutungssysteme und Institutionen eingebettet, die vorgeben, welche Sanktionspraktiken als gut und angemessen und welche als bedenklich oder gar schädlich gelten. Wohlgemerkt kann diese normative Dimension nicht nur interkulturell, sondern auch historisch variieren. So galt in euro-amerikanischen Gesellschaften die Körpersanktion vor wenigen Jahrzehnten noch als probates Erziehungsmittel, wohingegen sie zumin‑ dest in Deutschland seit 2000 gesetzlich verboten ist und als Kindesmisshandlung aufgefasst wird (Göbel 2005). Dieses Unterkapitel macht es sich zur Aufgabe, das Spektrum von Sanktions‑ praktiken in Ranomadio darzustellen und eine Einschätzung der relativen Bedeut‑ samkeit verschiedener Praktiken zu entwickeln. Als methodische Grundlage fun‑ giert hierbei zum einen die teilnehmende Beobachtung, insbesondere im Rahmen der oben beschriebenen Aufenthalte in sechs Haushalten des Dorfes. Zum ande‑ ren bilden Leitfadeninterviews mit Eltern, Jugendlichen und Kindern eine wich‑ tige Basis der folgenden Darstellung. Bei den Interviews mit 22 Eltern beiderlei Geschlechts dienten folgende 14 Formen des kindlichen Fehl- oder Wohlverhaltens als Ausgangspunkte für Gespräche über ihre Sanktionspraktiken: • • • • • • • • • • • • • •

Dein Kind ist besonders brav und folgsam (mahitsy). Dein Kind ist besonders fleißig und tüchtig (mahay miasa). Dein Kind hat etwas gestohlen (mangalatsy raha). Dein Kind verweigert eine ihm aufgetragene Aufgabe (malay miasa). Dein Kind gibt seinen Eltern Widerworte (mamalivaly ray aman-dreny). Dein Kind hat ein erbliches Tabu ( fady ndraza) verletzt. Dein Kind hat ein Heilungstabu verletzt ( fady aody). Dein Kind hat ein Inzesttabu ( fady apela/lehilahy) verletzt. Deinem Kind misslingt eine ihm aufgetragene Aufgabe. Dein Kind streitet/schlägt sich mit anderen Kindern (miady olo). Dein Kind spielt Geschlechtsverkehr (kipetapetaky). Dein Kind verhält sich respektlos (tsy magnaja olo). Dein Kind uriniert im Schlaf. Dein Kind spielt häufig mit gegengeschlechtlichen Kindern.

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Eine Auswahl dieser Verhaltensbeispiele, die auf der Basis früherer Interviews zum idealen kindlichen Verhalten (mahitsy) gesammelt wurden, habe ich meinen jeweiligen Gesprächspartnern vorgestellt und sie dann gefragt, wie sie damit um‑ gehen würden, woraufhin sich meist ein vertiefendes Gespräch zu konkreten Fall‑ beispielen entwickelte. Die in diesen Interviews teils normativ, teils deskriptiv the‑ matisierten Sanktionspraktiken wurden wiederum mit rund 90 Jugendlichen und Kindern aus Ranomadio besprochen, um die Erfahrungsperspektive zu erhellen. Dabei wurden sie gefragt, ob sie die jeweilige Sanktion bereits erfahren haben, und darum gebeten, eine erfahrene Episode zu schildern.

Praktiken positiver Sanktionierung: Loben und Belohnen Positive Sanktionierung bekräftigt sozial erwünschtes Verhalten von Kindern, in‑ dem es mit einer angenehmen Erfahrung verknüpft und somit belohnt wird. Die Interviews mit Eltern legen den Schluss nahe, dass Praktiken der positiven Sank‑ tionierung keine zentrale Rolle in ihren Erziehungsmodellen spielen. Auf die Frage nach ihrem Umgang mit kindlichem Wohlverhalten antworteten die Eltern nur knapp und meist zögerlich – ganz anders als bei den Szenarien kindlichen Fehlver‑ haltens. Zwei der Eltern beispielsweise äußerten sich dazu wie folgt: Dein Kind ist besonders fleißig. Wie gehst du damit um? Man wird nicht zornig (meloky) und auch nicht wütend (maseky). Mein Kind bekommt also keine Schläge. Ich bin dann einfach froh (falifaly) und das Kind hat meinen Segen (fitahia). Lobt (midera) man das Kind auch dafür? Nein nicht direkt. Andere sprechen vielleicht mit ihren Kindern über das gute Verhalten meines Kindes. Mein Kind merkt aber trotzdem, dass ihm seine Eltern vertrauen. (Bruno, m 40, 4 Kinder, verheiratet) Dein Kind hat besonders viele Fische gefangen. Wie gehst du damit um? Man kann das Kind ermutigen, einen Teil davon zu verkaufen und sich von dem Geld z.B. ein Kleidungsstück zu kaufen. Das hat den Vorteil, dass man selbst dem Kind nichts geben muss. Sind die Eltern auch stolz (mirehareha)? Nein, die Eltern sind nicht stolz, lediglich das Kind. (Tsoha, w 35, 3 Kinder, geschieden)

Die in diesen und weiteren Antworten zum Ausdruck kommende Haltung, dass Kinder für ihr Wohlverhalten und ihren Erfolg allenfalls eine indirekte Rückmel‑ dung erhalten sollten, nämlich entweder durch ein Ausbleiben negativer Sanktio‑ nen, durch eine indirekte Kommunikation über Dritte oder durch eine materielle Belohnung, bestätigte sich auch in den Interviews mit Kindern und Jugendlichen zu der Frage, ob sie bereits von ihren Eltern eine Belohnung (mamaly soa, wörtlich: gute Antwort) erhalten haben oder gelobt (midera) wurden. Obwohl die an 31 Kinder gerichtete Frage nach der ›guten Antwort‹ sowohl ma‑ terielle als auch verbale Rückmeldungen umfassen kann, nannte nur ein Kind ein Lob im Sinne einer verbalen sozialen Anerkennung: »Als ich mich mit einem an‑ deren Jungen prügelte, sagte mein Vater: ›weiter so, stärker […]« (Batay, m 7). Die 25 anderen Kinder, die ein Beispiel zu berichten wussten, nannten durchgängig eine materielle Belohnung für ihre freiwillige, über die täglichen Pflichten hinaus‑

9. Die Entwicklungsnische der Kindheit

gehende Mitarbeit; am häufigsten erhielten sie ein Kleidungsstück, ein Reisbröt‑ chen, eine größere Menge an Reis, einen Gegenstand ihrer freien Wahl oder eine Segnung (mitahy): Hast du von deinen Eltern schon einmal eine gute Antwort bekommen? Ich half meinem Vater viel beim Reisanbau und bekam dafür einen daba [Maßeinheit] Reis. Davon kaufte ich mir ein Schaf und war stolz (mirehareha) darauf. (Carlos, m 10) Einmal half ich meinem Vater viel beim Reisanbau, obwohl er mich nicht darum gebeten hatte. Nach der Ernte fragte er mich, was ich mir von ihm wünsche. Ich bekam einen Topf, Teller und Besteck. Wie war dein Bauch? Ich war glücklich (ravoravo), ›demonstrativ fröhlich‹ (matsamatsa) und prahlte (mibohaboha) damit gegenüber meinen Freunden. (Tsabira, m 14) Ich bat meine Eltern um ein Kleidungsstück, um mich für die Teilnahme an einem Bilo (Besessenheitsritual) schön kleiden zu können. Da ich so viel geholfen hatte, bekam ich es auch. Wie war dein Bauch? Ich war ›demonstrativ fröhlich‹ (matsamatsa) und blieb den ganzen Tag über bei meiner Mutter. (Lidia, w 9)

Eine solche materielle Belohnung ist prinzipiell kompatibel mit einem intergene‑ rationalen Beziehungsmodell, dem zufolge Kinder für Folgsamkeit und soziale Unterordnung von ihren Eltern lebensnotwendige Güter (und Segen) erhalten. In der Auseinandersetzung mit der Säuglingsphase wurde bereits deutlich, dass der elterliche Fokus auf der körperlichen Zuwendung und dem physischen Wohl des Kindes liegt; die Belohnung in der Kindheit baut also auf diesen Beziehungsmus‑ tern auf. Praktiken des Lobens im Sinne einer verbal und emotional zum Ausdruck gebrachten Anerkennung oder Wertschätzung hatten offenbar einen deutlich ge‑ ringeren Stellenwert als materielle Belohnung. Von den 34 zum Loben befragten Kindern und Jugendlichen wussten lediglich neun von einer entsprechenden Er‑ fahrung zu berichten u.a. folgende: Wurdest du von deinen Eltern schon einmal gelobt? Meine Mutter sagte mir, dass ich ein starkes Kind sei, weil ich Resy [kleiner Bruder] getragen hatte. Ich war ›demonstrativ fröhlich‹ (matsamatsa). (Magnaly, m 5) Als ich zur Musik tanzte, sagte mir mein Vater, dass ich zu tanzen wisse. Wie war dein Bauch? Ich war ›demonstrativ fröhlich‹ (matsamatsa). Das war das einzige Mal bisher. (Sandre, m 10) Nachdem ich den gesamten Reis für den Abend geschält hatte, lobte mich meine Mutter. Sie sagte: »Der Reis ist schon weiß [also gänzlich von Spelze befreit].«

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen Wie war dein Bauch? ›Demonstrativ fröhlich‹ (matsamatsa)! (Vizy, w 7)

Die restlichen Kinder meinten entweder, dass sie noch nie von ihren Eltern gelobt worden waren oder dass ihnen die positive Rückmeldung lediglich indirekt über andere Kinder zuteilwurde: Mein Großvater sagte zu anderen, dass ich beim Reisanbau viel helfen würde. Meine Freunde erzählten es mir dann und ich war stolz (mirehareha). (Mapoava, m 12, Vater unbekannt) Als Kind konnte ich schneller rennen als die meisten anderen Kinder. Ich hörte von den anderen Kindern, dass mein Vater gesagt hat: »Moray kann schnell rennen.« (Moray, m 14) Normalerweise loben Eltern ihre Kinder nicht, sondern sprechen mit anderen über das Kind und diese erzählen es dann weiter. Ich hörte z.B. von anderen Kindern, dass meine Eltern froh (faly) darüber seien, dass ich die jüngeren Kinder gut behandele. (Tovonely, m 18)

Auch wenn einige Kinder ein – freilich eher bescheidenes – Lob von ihren Eltern erhalten hatten, scheint die Praxis der direkten Wertschätzung den Haltungen und Normen zum Umgang mit Kindern zu widersprechen. Um mir die Problematik des Lobens zu veranschaulichen, führte ein Gesprächspartner folgendes Sprich‑ wort an: Man weiß nicht, was aus der Ratte wird, die dem Rücken der Riesenschlange folgt, bevor sie den Kopf passiert hat.10 Da sich die Charaktereigenschaften einer Per‑ son, so die Erläuterung, erst nach der Meisterung ernsthafter Herausforderungen im Erwachsenenalter oder gar am Lebensende beurteilen ließe, sei es voreilig, ein Kind zu loben. Dieses Sprichwort bekräftigt letztlich auch das in den Beziehungs‑ modellen und den Regeln des Respekts betonte hierarchische Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern, das durch ein ausgeprägtes Loben zumindest symbo‑ lisch unterminiert werden würde. Damit dürfte das Loben von Kindern durch Er‑ wachsene aus ähnlichen Gründen problematisch sein, wie eine Dankesbekundung oder Entschuldigung gegenüber Jüngeren. Bemerkenswert ist auch, dass sich die wenigen von Kindern erzählten Beispiele des Lobens auf sehr spezifische Fähig‑ keiten oder Handlungen bezogen, womit eine positive Bewertung der gesamten Person vermieden wurde. Die ethnografische Literatur legt nahe, dass in vielen Gesellschaften mit einem hierarchischen Familienmodell die Praxis des Lobens problematisch gesehen wird. So schreibt etwa Levy (1973: 447) zum tahitianischen Kontext: »Praising or reward‑ ing children, people say, will make them too hard to manage.« LeVine et al. (1994) bemerken bezüglich der Gusii aus Kenia: Neither parents nor older siblings provided praise, approval, or other rewards for correct performance of desired tasks. To Gusii parents, their giving praise would undermine the domestic hierarchy, on which subsistence activity and social regulation depend, introducing the risk that children would become conceited and disregard commands. (LeVine et al. 1994: 90)11 10 | Voalavo be mitety menara, tsy fantatsy raha tsy todin’ny lohany. 11 | Weitere kulturelle Kontexte, in denen die Praxis des Lobens als unverträglich mit der sozialen Unterordnung von Kindern gilt, stellt Montgomery (2008: 168) vor.

9. Die Entwicklungsnische der Kindheit

Vor diesem Hintergrund wird auch nachvollziehbar, weshalb die Kinder aus Rano‑ madio häufig nur indirekt von der Wertschätzung ihrer Eltern erfuhren, nämlich meist über ihre Freunde. Ein Lob oder andere Formen der direkten Wertschätzung dürfte mit den egalitären Beziehungen zwischen Peers besser vereinbar sein als mit den hierarchischen Eltern-Kind-Beziehungen. Wie im zweiten Teil deutlich wurde, waren bereits im Säuglings- und Kleinkindalter die Peer-Interaktionen viel stärker durch den Austausch freudiger Emotionen geprägt, die auch soziale Wert‑ schätzung zum Ausdruck bringen können. Somit scheinen die Sanktionsprakti‑ ken in der Kindheit auf gewissen, sozial diversifizierten Interaktionserfahrungen aus dem Säuglings- und Kleinkindalter aufzubauen.

Praktiken negativ bewertender Sanktionierung: Verspotten Hiermit sind all jene Sanktionspraktiken gemeint, die sich das Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit, Wertschätzung oder Bindung zunutze machen und dieses durch irgendeine Form der sozialen Ausgrenzung, des Liebesentzugs, der Herab‑ setzung oder negativen Bewertung aktivieren. Derartige Sanktionen entsprechen mehr oder weniger Quinns Definition des disapproval (Quinn 2005: 501) und kön‑ nen somit als Gegenstück zu den Praktiken des Wertschätzens gesehen werden. In der ethnologischen und kulturpsychologischen Forschung wurden derartige Sank‑ tionsformen als zentrale Bestandteile von Erziehungspraktiken in vielen ost und südostasiatischen Gesellschaften herausgestellt und mit der Sozialisation von mo‑ ralischen Emotionen aus der Schamfamilie in Verbindung gebracht (Fung 1999; Röttger-Rössler et al. 2013; Wu et al. 2002). Die Eltern aus Ranomadio maßen derartigen Sanktionspraktiken allerdings keinen zentralen Stellenwert bei. Von den gut 150 Sanktionsbeispielen, welche die Eltern auf die Frage nach ihrem Umgang mit den verschiedenen Formen von kind‑ lichem Fehlverhalten nannten, lassen sich lediglich sechs als Formen der direkten sozialen Ausgrenzung oder negativen Bewertung kategorisieren: Deine Tochter verhält sich z.B. respektlos (tsy magnaja olo). Wie gehst du damit um? Man schlägt das Kind, wenn es noch klein ist. Ist es schon größer, sagt man ihm, dass es überheblich sei (miangatsy). Man sagt es ihm in der Hütte, damit es nicht beschämt wird (tsy mahamegnatsy). Das Kind zu beschämen ist nicht gut, da dies dazu führen würde, dass es später den Eltern häufig Widerworte gibt (mamalivaly ray aman-dreny). Auch sollte man Kinder nur im Haus schlagen. Drinnen dürfen allerdings die Geschwister dabei sein, da sie davon lernen können. (Sinaotsy, m 50, 6 Kinder, 4 Enkel, verheiratet) Dein Sohn spielt häufig mit den Mädchen. Wie gehst du damit um? Dass ein Junge mit den Mädchen spielt, ist ab einem bestimmten Alter nicht gut. Man sagt ihm deshalb z.B., dass er den Mädchen folge (magnaraky apela), was ein schlimmes Schimpfwort ist. (Tsangasoa, m 35, 6 Kinder, verheiratet) Deinem Kind unterläuft ein Fehler beim Rinderhüten. Wie gehst du damit um? Wenn die Tiere auf dem Reisfeld der Eltern gefressen haben, sagt man dem Kind, dass es ein Faulpelz/Nichtsnutz (ebo) sei und schimpft mit ihm: »Deinetwegen haben wir jetzt nichts zu essen!« (Kamaka, m 60, 5 Kinder, 14 Enkel, verheiratet)

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Die Möglichkeit, dass derartige, auf den sozialen Wert des Kindes zielende Sank‑ tionen nur deshalb selten in den Interviews thematisiert wurden, weil sie häufig auf verbalen Äußerungen anstelle von besser greif baren physischen Handlungen beruhen, kann insofern ausgeschlossen werden, als Eltern über 60 andere Äuße‑ rungen gegenüber Kindern wiedergaben; so etwa Drohungen, Warnungen, Befeh‑ le oder Belehrungen. Auch während der Teilnahme am Alltagsleben in den sechs Familien war es mir kaum möglich zu beobachten, wie Eltern die Wertschätzung ihrer Kinder verbal, durch emotionalen Rückzug oder auf andere Weise infrage stellten. Zu beobachtende verbale Reaktionen auf das Fehlverhalten von Kindern bestanden in Übereinstimmung mit den Interviews in knappen, laut geäußerten Zurechtweisungen, denen teilweise mit der Androhung von körperlichen Sanktio‑ nen Nachdruck verliehen wurde. Die Interviewfrage, ob man Kinder im Rahmen der Erziehung auch beschämen (mahamegnatsy) könne, verneinten viele der befragten Eltern, und bei einigen stieß sie schlicht auf Unverständnis. Mehrere Eltern betonten bei der Beschreibung von Körpersanktionen, dass man diese im Haus oder außerhalb des Dorfes, also unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausüben solle, um gerade eine Beschämung des Kin‑ des zu vermeiden. Dies veranlasste mich, systematisch nach dem Ort zu fragen, an dem Kinder sanktioniert werden: Schlägt man Kinder besser drinnen oder draußen? Das hängt von den Eltern ab. Normalerweise schlägt man das Kind aber im Haus, weil sich das Kind schämen (megnatsy) würde, wenn es draußen geschähe. Würde man das Kind draußen schlagen und es damit beschämen, würde das Kind später seine Eltern nicht mehr respektieren und einen tiefen Groll (lolom-po) gegen sie entwickeln, vor allem, wenn es seine Feinde (arahamba) dabei beobachten. (Tsangasoa, m 35, 6 Kinder, verheiratet)

Während eine direkte Beschämung durch die Eltern nicht nur als respektlos, son‑ dern auch als kontraproduktiv dargestellt wurde, galt gegenseitiges Beschämen unter Kindern eher als akzeptabel. Im Fall von nächtlichem Einnässen bei älteren Kindern sowie bei zwischengeschlechtlichen Aktivitäten verwandter Kinder be‑ schrieben einige Eltern die Praxis, andere Kinder als Sanktionsakteure hinzuzu‑ ziehen: Dein Kind nässt ein. Wie gehst du damit um? Man schlägt das Kind oder droht mit der Schlange, damit es sich fürchtet (matahotsy). Wenn das alles nichts hilft, geht man davon aus, dass das Kind von einem Zauber betroffen ist und man versucht, es mit einem aody (magisches Mittel) davon zu befreien. Man kann auch den Gleichaltrigen davon erzählen, damit diese es verspotten (mikoraky); so wird sich das Kind schämen (megnatsy). (Gasy, m 40, 4 Kinder, geschieden) Wenn das Kind schon etwas größer ist und im Schlaf einnässt, weil es z.B. träumt, dass es sich draußen aufhält, kann man folgendes tun: Man erzählt seinen Freunden davon, die das Kind dann verspotten (mikoraky), sodass es sich blamiert (baraky). (Bruno, m 40, 4 Kinder, verheiratet)

9. Die Entwicklungsnische der Kindheit Kinder spielen den Geschlechtsakt (kipetapetaky). Wie gehst du damit um? Wenn zwei Kinder unterschiedlichen Geschlechts so miteinander spielen, muss man sie schlagen. Außerdem kann man es auch den anderen Kindern erzählen, damit diese es verspotten (mikoraky). Wenn viele Jungen und Mädchen miteinander spielen, ist es nicht so schlimm. Werden Kinder nur von Kindern oder auch von Erwachsenen verspottet? Nur von Kindern. Die Beschämung weckt beim betroffenen Kind einen Groll (magnapoko), und es droht vielleicht einem der Kinder damit, es ihm bei der nächsten Gelegenheit heimzuzahlen. Auch gegenüber den Eltern würde es wütend (maseky) werden und einen tiefen Groll (lolom-po) hegen. Das wäre nicht gut. (Rafaratsa, w 50, unverheiratet)

Wie positiv bewertende Sanktionen des Lobens oder Wertschätzens, so erlebten Kinder offenbar auch negativ bewertende Sanktionen wie das Verspotten in erster Linie in Peer-Interaktionen. Erwachsene spielen dabei allenfalls eine mittelbare Rolle. Dies bestätigt sich auch in Interviews mit Kindern zur Praxis des Verspot‑ tens (mikoraky) und zu Erfahrungen der Scham (hegnatsy), die im Folgenden zur Darstellung kommen. Mikoraky bezeichnet ein johlendes, grölendes Verhalten oder ein spezifisches synchronisiertes Lachen (mitohaky) in Reaktion auf ein Fehlverhalten, womit die betroffene Person in den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit gerückt wird. Fast alle Kinder und Jugendlichen, die ich zu mikoraky interviewte, konnten sich spontan an eine Episode erinnern, in der sie dieser Form von Lächerlichkeit preisgegeben waren (51 von 55). Aus den geschilderten mikoraky-Episoden geht klar hervor, dass es sich dabei um Peer-Interaktionen unter Kindern und Jugendlichen handelt. Erwachsene wur‑ den nur in wenigen Episoden als ›Denunzianten‹ oder Einhalt gebietende Akteure erwähnt: Wurdest du schon einmal verspottet (mikoraky)? Kannst du ein Beispiel erzählen? Als es regnete und die Erde glitschig war, rannte ich zusammen mit Fresa zum Haus von Lahivao, vor dem viele Leute versammelt waren. Als ich fast dort war, rutschte ich aus und alle Kinder verspotteten mich. Die Älteren sagten den Kindern, dass sie damit aufhören sollten, da ich bereits beschämt sei (salatsy). Die Erwachsenen hatten Mitleid (ferignesa) mit mir. Ich selbst schämte (megnatsy) mich, vor allem gegenüber den Mädchen. Damals interessierte ich mich schon für die Frauen, getraute mich aber noch nicht, mich ihnen zu nähern. (Lida, m 17) Einmal habe ich Süßkartoffeln gestohlen, doch Dada [m 14] hat mich dabei erwischt und es den anderen Kindern verraten. Diese verspotteten mich dann. Ich schämte mich (megnatsy) und war auch wütend (maseky), sodass ich Villa [w 6] schlug. Dann kam mein Vater Ferdinand [erwachsener Onkel] vorbei, nahm mich in Schutz und sagte, dass die Süßkartoffeln ihm gehörten und deshalb auch mir. Später wurde ich für den Diebstahl von meinem Großvater Tongamana geschlagen. (Nestor, m 9, Eltern verstorben)

Dass Erwachsene eher ein verspottetes Kind in Schutz nehmen, anstatt sich selbst daran zu beteiligen, bestätigte auch Ferdinand, den ich fragte, warum er seinen Neffen Nestor in dieser Episode unterstützt hatte:

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen Ich habe Nestor in Schutz genommen, weil ich Mitleid (ferignesa) mit ihm hatte. Er war sehr hungrig. Beteiligen sich auch Erwachsene am Verspotten? Nein, nur Kinder. Die Jugendlichen und Erwachsenen unterlassen es aus Mitleid (ferignesa) mit dem Betroffenen. Bis zu welchem Alter verspottet man andere? Moray [m 14] beteiligt sich vielleicht noch gelegentlich an einer Verspottung, aber nur gegenüber Jüngeren. Können Kinder auch Erwachsene verspotten? Es kommt vor, ist aber sehr selten. Kinder können es aber gegenüber dem Vater der Mutter tun. (Ferdinand, m 30, 3 Kinder, verheiratet)12

Aufschlussreich für die Bedeutung des Verspottens als Sanktionspraxis sind auch die Anlässe, weil diese letztlich mit unangenehmen sozialen Erfahrungen und ent‑ sprechenden Emotionen belegt werden. Am häufigsten berichteten sowohl Mäd‑ chen als auch Jungen, dass sie für eine Niederlage beim Ringen verspottet wurden. Diese spielerischen Zweikämpfe (kimitolo) waren fester Bestandteil kindlicher Ak‑ tivitäten und wurden häufig gezielt veranstaltet: Einmal spielte ich mit meinen Freundinnen, indem wir miteinander kämpften und vereinbarten, dass man diejenige verspotten würde, die beim Kampf unterliegt. Dabei wurde ich auf den Boden geworfen, und die anderen verspotteten mich. Das machte mich wütend (maseky), und ich begann mich mit einem der Mädchen ernsthaft zu schlagen. Als meine besten Freundinnen merkten, dass ich wirklich wütend war, hörten sie auf, mich zu verspotten. (Pitiky, w 11)

Zahlreiche mikoraky-Episoden hatten verschiedene Formen des Kontrollverlusts zum Anlass, wobei besonders häufig ein versehentliches Hinfallen beschrieben wurde: Einmal spielte ich mit den anderen Kindern, dass ich ein Stier wäre, der von ihnen getrieben wird. Dabei fiel ich hin und die anderen Kinder verspotteten mich. Ich schämte mich (megnatsy), war wütend (maseky) und sagte zu ihnen: »Wenn einer von euch hinfällt, verspotte ich euch auch und wenn ihr dann wütend werdet, schlage ich mich mit euch.« (Carlos, m 10) Einmal spielte ich mit meinen Freunden und es hatte geregnet. Ich rutschte aus und meine Freunde verspotteten mich. Ich war wütend (maseky) und warf mit Schlamm nach den anderen Kindern. Weil sie auch schmutzig waren, gingen wir dann alle miteinander zum Fluss, um zu baden. (Gisimety, m 5)

Das Hinfallen, das auch beim Ringen eine Rolle spielte und zudem häufig in Scham-Narrativen als Anlass angeführt wurde, gewinnt abgesehen vom Kontroll‑ 12 | Zum Großvater mütterlicherseits besteht, wie bereits erwähnt, häufig eine Art Spottbeziehung. Als erklärender Hintergrund hierfür kommt das prinzipiell ambivalente Verhältnis zum maternalen Großvater infrage: Einerseits verkörpert er allein aufgrund seines Alters eine gewisse Autorität, andererseits ist er nicht berechtigt, diese gegenüber einem Kind seiner Tochter auszuüben, weil es in der Regel einem anderen tariky angehört.

9. Die Entwicklungsnische der Kindheit

verlust auch durch den Kontakt mit der ›schmutzigen‹ Erde an Relevanz, weil diese symbolisch mit dem unteren Ende der sozialen Hierarchie in Verbindung gebracht wird. In einigen Narrativen wurde das Stehlen als Anlass für mikoraky beschrieben: Einmal klaute ich zusammen mit Mapoava [m 12] und Nagno [m 10] ein Huhn von Doara [entfernt verwandte Frau]. Während wir das Huhn im Wald brieten, wurden wir von Manjo [entfernt verwandter Mann] erwischt. Daraufhin erzählte es Manjo den anderen Kindern. Als ich ins Dorf heimkehrte, verspotteten sie mich. Ich schämte mich (megnatsy) und dachte bei mir, dass ich einen von ihnen auch gern beim Stehlen erwischen würde, um ihn ebenfalls verspotten zu können. (Leonardo, m 10)

Da Jungen in vielen Interviewkontexten bereitwillig und, wie mir schien, mit ge‑ wissem Stolz berichteten, wie sie Hühner gestohlen hätten, ist davon auszugehen, dass sich hier der Spott nicht auf den Diebstahl als solchen bezieht, sondern auf die Ungeschicklichkeit, sich dabei erwischen zu lassen. Die restlichen Anlässe des Verspottens betrafen alle möglichen Formen des Versagens, mangelhafte Körperhygiene, Einnässen, versehentliches Entblähen und in einem Fall auch eine Tracht Prügel durch den Großvater, die von den Peers be‑ obachtet worden war. Hervorzuheben sind noch die beiden Fälle, die eine mangel‑ hafte Emotionskontrolle beinhalten: Als ich mich mit Gogoly [m 10] stritt und dann weinte, verspotteten mich die anderen Kinder. Ich suchte mir dann einen Stock und schlug einen der Jungen, die mich verspottet hatten. (Zafimana, m 9) Als ich etwa im Alter von Moray [m 14] beschnitten werden sollte, rannte ich aus Furcht (matahotsy) davon und die mich verfolgenden Kinder verspotteten mich. Ich schämte mich (megnatsy) sehr. (Donne, m 25)

Insgesamt legen die Anlässe für mikoraky nahe, dass sich diese Sanktionspraxis in erster Linie auf individuelle Misserfolge oder den Verlust körperlicher bzw. emo‑ tionaler Kontrolle bezieht und damit einen Handlungsbereich betrifft, welcher die von Eltern an Kinder gestellten Verhaltensanforderungen der Folgsamkeit und sozialen Unterordnung allenfalls marginal berührt. Während die von Eltern ge‑ setzten und sanktionierten Normen ein hierarchisches Beziehungsmuster stützen, befördert das Sanktionieren von Niederlagen und Misserfolgen unter Kindern das Streben nach Gleichrangigkeit. Nun stellt sich die Frage nach der emotionalen Relevanz von mikoraky. Immer‑ hin 28 der 55 befragten Kinder und Jugendlichen nannten als Reaktion auf das Ver‑ spotten hegnatsy – eine Emotion, die nach der Bedeutungsanalyse im 4. Kapitel der Schamfamilie angehört und sich am ehesten als Peinlichkeitsgefühl übersetzen lässt. Die Sanktionspraxis des Verspottens scheint also eine wichtige Rolle bei der Sozialisation von hegnatsy zu spielen. Dies legen auch die Interviews mit 40 Kin‑ dern nahe, die direkt zu ihren hegnatsy-Erfahrungen befragt wurden: Mehrheitlich nannten sie neben einem Missgeschick oder Misserfolg als verhaltensbezogenen Anlass auch das Verspotten als sozialen Anlass für die erlebten hegnatsy-Episoden, so etwa in den folgenden Narrativen:

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen Warst du schon einmal sehr megnatsy? Kannst du dazu ein Beispiel erzählen? Ich war megnatsy, als ein Ast, an dem ich mich festgehalten hatte, brach und mir auf den Kopf fiel. Ich war auch wütend (maseky), da mich die anderen Kinder verspotteten. Ich sagte zu ihnen, dass ich Schmerzen hätte. (Fanagna, m 10) Als ich mit meinen Freundinnen Tsinefo [wilde Früchte] sammelte und sie dann versehentlich verschüttete, verspotteten mich die anderen, und ich war megnatsy und wütend (maseky). (Susany, w 6) Ich war megnatsy, weil ich von Kindern verspottet wurde, als ich in Soafary aus Furcht (tahotsy) vor einem Schwein13 davongerannt und dann hingefallen war. (Zafimana, m 9) Als ich beim Hüpfen auf einem Bein versehentlich pupste und meine Freunde mich verspotteten (mikoraky), war ich megnatsy. Ich schämte mich so sehr, dass ich davonrannte. (Lidia, w 9)

Der Umstand, dass die Mehrzahl der zu ihren hegnatsy-Erfahrungen befragten Kinder einen Akt des Verspottens als Anlass beschrieben, weist auf die wichtige Rolle dieser Sanktionspraxis für die Schamsozialisation hin. Neben hegnatsy ruft die Verspottung jedoch auch seky (≈ Wut) hervor. Diese Emotion nannten die zu ihren mikoraky-Erfahrungen interviewten Kinder etwa ebenso häufig wie hegnatsy. Wie diese beiden scheinbar gegensätzlichen emotio‑ nalen Reaktionen aufeinander bezogen sind, lässt sich einigen Narrativen entneh‑ men, so etwa jenem von Justin, der sich an eine entsprechende Erfahrung aus sei‑ ner Kindheit erinnert: Ich erntete Spott, als ich beim Ringen von Voavy auf den Boden geworfen wurde. Das ließ ich mir nicht gefallen. Ich kämpfte wieder mit ihm und landete ein weiteres Mal auf dem Boden. Beim dritten Versuch war ich schon sehr wütend (maseky), und es gelang mir, Voavy auf den Boden zu werfen. Wir sagten einander, dass wir gleich stark seien. Ich schämte mich (megnatsy) und war wütend (maseky). Aufgrund von Scham wird man wütend. (Justin, m 19)

Die erniedrigende Erfahrung zusammen mit der ausdrücklichen negativen Be‑ wertung durch die Peers wird von den betroffenen Kindern offenbar zunächst als Peinlichkeitsgefühl empfunden. Jedoch scheinen sie die in der Verspottung zum Ausdruck gebrachte Fremdbewertung in der Regel nicht als Selbstbewertung zu akzeptieren. Die wütende Reaktion erlaubt es den Betroffenen offensichtlich, die negative Bewertung entweder durch einen erneuten Kraftakt gegenstandslos zu machen, oder aber die Spottenden und weniger das eigene Missgeschick bzw. die eigene Fehlleistung als Ursache für die missliche Lage zu erleben. So berichteten einige Kinder, dass sie aufgrund von seky aktiv gegen die Spottenden vorgingen oder sich zumindest eine ausgleichende Vergeltungsaktion vorstellten bzw. vor‑ nahmen:

13 | Da es in Ranomadio keine Schweine gab, waren dem Jungen diese Tiere vermutlich nicht vertraut.

9. Die Entwicklungsnische der Kindheit Als ich beim Spielen ausrutschte, verspotteten mich die anderen Kinder. Ich war wütend (maseky) und warf mit Steinen nach ihnen. (Jojy, w 11) Einmal war ich alleine unterwegs und in dem Moment, als ich bei einer Gruppe von Kindern vorbeikam, stolperte ich und fiel hin. Da verspotteten mich die Kinder. Das machte mich wütend (maseky) und ich verprügelte die Kleineren, bis sie weinten. (Leonardo, m 10) Als ich beim Ballspiel hinfiel und mich am Knie verletzte, verspotteten mich die anderen Kinder. Ich schämte mich (megnatsy) und war sehr wütend (maseky). Später, als ich zum Baden ging, dachte ich darüber nach und nahm mir vor, selbst die anderen Jungen zu verspotten, falls einer von ihnen hinfallen würde. (Fola, m 9)

Es liegt auf der Hand, dass gerade diese offensive Form der Beschämung die Mög‑ lichkeit eröffnet, die unangenehme Erfahrung den Peers anzulasten, damit den Schamanlass zumindest teilweise zu externalisieren und die Scham letztlich in Wut zu transformieren. Auch der Umstand, dass das Verspotten im Rahmen ega‑ litärer Peer-Interaktionen praktiziert wird und nicht von deutlich überlegenen Au‑ toritätspersonen ausgeht, dürfte es leichter machen, aufkommende Gefühle der Scham durch eine Diskreditierung der Beschämenden oder durch Vergeltungsak‑ tionen zu kompensieren. Zwar stehen die sanktionierenden Kinder aufgrund der kollektiven Aktivität des Verspottens situativ in einem überlegenen Verhältnis zum Betroffenen, jedoch hat dieser die Möglichkeit, sich Einzelne, insbesondere Jün‑ gere herauszugreifen, mit Steinen zu werfen oder zumindest auf eine vergeltende Verspottung zu hoffen, sobald er seinerseits eine Gruppe hinter sich hat. Nun stellt sich die Frage, welche Rückschlüsse aus der Praxis des Verspottens für die Sozialisation von hegnatsy gezogen werden können. Die Erzählungen von 40 Kindern zu ihren hegnatsy-Erfahrungen legen nahe, dass eine aktive Beschä‑ mung wie im Fall des Verspottens mit zunehmendem Alter an Bedeutung ver‑ liert. Während die befragten Kinder im Alter zwischen fünf und neun Jahren noch mehrheitlich (85 Prozent) das Verspotten oder eine ähnlich offensive Beschämung als sozialen Anlass für ihre hegnatsy-Erfahrung beschrieben, erwähnte unter den 10- bis 17-Jährigen nur noch eine Minderheit (37 Prozent) einen solchen Auslöser. Von den 35 ebenfalls zu ihren hegnatsy-Erfahrungen befragten Erwachsenen nann‑ ten sogar nur noch drei junge Männer eine offensive Beschämung als Anlass, näm‑ lich verbale Beleidigungen und die demonstrative Abweisung durch eine begehrte Frau. Zudem ziemt sich das Verspotten von Kindern, wie bereits angemerkt, für Erwachsene nicht mehr. Diese altersbedingte Veränderung deutet darauf hin, dass Kinder die Sanktion des Verspottens mit zunehmendem Alter internalisieren und damit lernen, die negative Fremdbewertung infolge von Misserfolgen oder Nieder‑ lagen zu antizipieren, ohne dass eine explizite Bewertung erforderlich wäre. Bedeutet diese Internalisierung der negativen Fremdbewertung nun, dass Kin‑ der diese allmählich akzeptieren und demzufolge weniger mit Wut und mehr mit Scham auf persönliche Niederlagen oder Missgeschicke reagieren? Tatsächlich be‑ richteten Kinder aus der Altersgruppe von fünf bis neun Jahren etwas häufiger von wütenden Reaktionen auf die Verspottung (58 Prozent) als jene im Alter von zehn bis 17 Jahren (42 Prozent). Jedoch scheint die Tendenz, auf eine beschämende, erniedrigende Erfahrung mit Wut und Vergeltungsakten zu reagieren, auch im Erwachsenenalter fortzubestehen. So hat die Auseinandersetzung mit den Emo‑

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tionen der Schamfamilie (Kapitel 4) bereits ergeben, dass Erwachsene ihre Miss‑ erfolge oder Niederlagen häufig auf verborgene Aktivitäten ihrer Rivalen zurück‑ führen und auf diese Weise ihre Scham bewältigen bzw. in bestimmte Formen von ›Vergeltungswut‹ (lolom-po, kinia, magnapoko) umwandeln. Dementsprechend wei‑ sen auch viele Narrative zur Vergeltungswut auf eine erniedrigende, potenziell mit Scham verbundene Erfahrung als Anlass hin. Wie im 4. Kapitel ebenfalls ausge‑ führt, unterstützen kulturell etablierte Deutungspraktiken (z.B. die Rückführung eigener Misserfolge auf Schadenszauber durch Rivalen) sowie die soziale Akzep‑ tanz offener oder verdeckter Vergeltungsaktionen eine externe Attribuierung von potenziell beschämenden Widerfahrnissen sowie eine Reaktion mit machtvollen Emotionen und entsprechenden Handlungen. Die Sozialisationspraxis des offensiven Verspottens (mikoraky) im Rahmen von egalitären Peer-Interaktionen scheint also die Sozialisation solcher Schamformen zu begünstigen, deren sozialer Anlass tendenziell als ungerechtfertigt erlebt wird und die häufig mit wütenden Vergeltungsabsichten oder -aktionen gegenüber einer beschuldigten Person bewältigt werden. Diese Tendenzen, die negative Bewertung abzuwehren, steht in einem starken Spannungsverhältnis zur potenziellen morali‑ schen Funktion von Scham, die gerade auf der Akzeptanz der negativen Bewertung basiert. Vor diesem Hintergrund werden auch die Äußerungen mehrerer Eltern verständlich, wonach sie eine Beschämung ihrer Kinder vermeiden würden, weil Kinder die mit dieser Praxis vermittelten Lektionen nicht annähmen oder gar mit starken Vergeltungstendenzen darauf reagierten. Als entscheidenden Grund dafür, dass Scham in der Forschungsregion offen‑ bar nicht als zentrale moralische Emotion sozialisiert wird, sehe ich die konsequen‑ te Einbettung dieser Emotion in Peer-Beziehungen. Zum einen ermöglicht es das egalitäre Verhältnis zwischen Peers, beschämende Erfahrungen wie beschrieben abzuwehren, zum anderen stehen in Peer-Interaktionen weniger moralische Nor‑ men im Vordergrund als vielmehr Aspekte der Körperkontrolle, der Geschicklich‑ keit oder Durchsetzungsfähigkeit. Wie bereits dargelegt, handelt es sich hierbei um wichtige Fähigkeiten in Peer-Beziehungen, nicht aber um moralische Quali‑ täten, die vor allem in hierarchischen Beziehungen relevant sind – eine Niederlage beispielsweise stellt den guten Charakter ( fagnahy soa) einer Person nicht infrage, wohl aber ihre Gleichrangigkeit gegenüber den Peers. Auch wenn in Menamaty Scham kaum als zentrale moralische Emotion sozialisiert wird, so kann ihr doch eine bedeutende soziale Funktion zugeschrieben werden: Die Tendenz, Scham‑ emotionen als Konsequenz erniedrigender Erfahrungen durch ein aktives Vorge‑ hen gegen beschämende Personen zu überwinden und in Wutemotionen zu trans‑ formieren, dürfte eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung und Performanz des im 3. Kapitel beschriebenen egalitären Ethos spielen.14 Die Relevanz der spezifischen sozialen Einbettung der Schamsozialisation für den moralischen Stellenwert dieser Emotion lässt sich auch kulturvergleichend 14 | Anzumerken ist, dass Schamemotionen in Menamaty darüber hinaus auch eine gewisse Rolle bei der Aufrechterhaltung von egalitären Freundschaftsbeziehungen spielen dürften. So bezog sich ein kleiner Anteil der von Erwachsenen erzählten Schamepisoden (s. Kapitel 4) auf mangelnde Großzügigkeit gegenüber Freunden. Zwar wurde dieser Anlass in keiner der kindlichen mikoraky-Episoden thematisiert, doch gehe ich davon aus, dass diese prosoziale Funktion von Scham anders sozialisiert wird – etwa durch die Ausgrenzung ›geiziger‹ Peers.

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untermauern. In taiwanesischen Mittelschichtsfamilien beispielsweise überneh‑ men einer Studie von Fung (1999) zufolge Eltern die entscheidende Rolle bei der Schamsozialisation, indem sie bereits bei Kleinkindern infolge eines Fehlverhal‑ tens gezielt Scham evozieren bzw. vergangene Schamepisoden in Ko-Narrativen vertiefen und diese emotionalen Erfahrungen mit moralischen Bewertungen be‑ legen. Wie Fung beobachten konnte, übernehmen zwar auch Geschwister die Rolle beschämender Akteure, jedoch achten Eltern darauf, dass diese in ihrem Sinne han‑ deln. Die intergenerationale Schamsozialisation basiert auf der im taiwanesischen Kontext verbreiteten Überzeugung, dass Scham für ein sozial verantwortungs- und rücksichtsvolles Verhalten unerlässlich sei und damit Menschen zu moralisch gu‑ ten Personen mache. Auch in einer ländlichen Gemeinschaft der Minangkabau auf der indonesischen Insel Sumatra gilt Scham als eine grundlegende moralische Emotion. Als erste führen hier erwachsene Bezugspersonen, insbesondere Mütter und Großmütter, Praktiken des Verspottens in die Interaktion mit Kleinkindern ein, um ihnen Gelegenheiten zu geben, eine sozial erwünschte Disposition für Scham (malu) zu erwerben (Röttger-Rössler et al. 2013: 271). Erstaunlicherweise interpretieren erwachsene Minangkabau bereits bestimmte Verhaltensweisen von Säuglingen als Ausdruck einer schwachen Form der Scham (malu-malu), was auf die elterliche Fokussierung dieser Emotion hinweist. Demgegenüber gaben die von mir befragten Eltern das Alter, ab dem ihre Kinder sich zu schämen beginnen, mit fünf bis acht Jahren an.

Praktiken der Körperstrafe Als Körperstrafe werden hier alle erzieherischen Handlungen bezeichnet, die Kin‑ der durch eine temporäre Beeinträchtigung des körperlichen Wohls – sei es über das Zufügen von körperlichen Schmerzen oder die Nichterfüllung körperlicher Be‑ dürfnisse – dazu bewegen sollen, Fehlverhalten zu unterlassen. Die Körperstrafe steht in einem komplementären Verhältnis zur positiven Körpersanktion der ma‑ teriellen Belohnung. In Alltagsbeobachtungen und unterschiedlichen Interviewkontexten kristalli‑ sierte sich eine Reihe von Körperstrafen heraus, die konzeptuell klar gefasst sind. Diese umfassen im Kleinkindalter das Auf bringen von rotem Pfeffer oder Chi‑ li auf die Schleimhäute, das Kneifen (mitsongo) und das Klapsen mit der flachen Hand (mamofoky amin’ny tagna). In der Kindheit kommt das Schlagen mittels Hir‑ tenstock (mamofoky amin’ny kobay) zur Anwendung sowie das Vorenthalten der Abendmahlzeit (malay sakafo).15 Jugendliche können den emischen Vorstellungen zufolge durch havoa (≈ Verfluchung bzw. ›Segensentzug‹ durch Ahnengeister) be‑ straft werden, das vor allem Krankheiten verursacht. Damit zielt diese Sanktion ebenfalls auf das körperliche Wohl. Lebende Autoritätspersonen können auf ver‑ schiedene Praktiken zurückgreifen, um Jugendliche von havoa zu ›überzeugen‹. Als besonders drastisches und nur selten angewandtes Mittel steht hierfür das Ver‑ stoßen aus der väterlichen Abstammungsgruppe (magnary) zur Verfügung, womit der lebensnotwendige Segen ausbleibt. 15 | Diese Sanktionsform wurde bislang nur selten beschrieben; Kavapalu beschreibt sie als Erziehungspraxis auf Tonga (1993: 316) und die LeVines erwähnen sie als Sanktionsmethode bei den Gusii in Kenia (1966: 140).

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Schon die ersten, zögerlichen Gespräche nach einigen Monaten der Feldfor‑ schung über die Kindeserziehung machten unmissverständlich klar, dass Er‑ wachsene das Schlagen mit einem Hirtenstock als primäre Erziehungsmethode betrachten. Die Interviews mit Eltern zu ihrem Umgang mit den oben aufgeführ‑ ten Formen kindlichen Fehlverhaltens ergaben ein eindeutiges Bild: Alle befragten Eltern erklärten, dass sie ihre unartigen Kinder schlagen würden bzw. geschlagen hatten. Mit 66 Nennungen gaben Eltern das Schlagen deutlich häufiger als jede andere Sanktionsform an, meist als erste und häufig auch als einzige Erziehungs‑ praxis. Abgesehen von einer Ausnahme16 wurden alle Formen von kindlichem Fehlverhalten als der Prügelsanktion würdig erachtet; diese Sanktion wird also auf ein weites Spektrum von Fehlverhalten angewendet. Allerdings ist die Frage zu stellen, ob die verbalen Darstellungen der Eltern tatsächlich ihre Erziehungspraxis widerspiegeln. Die im 10. Kapitel im Einzelnen dargestellten Äußerungen der Eltern enthalten zum einen normative Aussagen, die sich in erster Linie auf die geteilten Erziehungsmodelle beziehen (etwa: »Man muss es mit dem Stock schlagen, damit es folgsam wird«); zum anderen aber auch Beschreibungen konkreter Fälle, die m.E. auch aufschlussreich für die Praxis sind. Nicht nur, um die Praxis der Körpersanktion weiter zu eruieren, sondern auch, um die Erfahrungen der Betroffenen gezielt zu erheben, bat ich 64 Kinder und elf Jugendliche, mir solche Episoden zu erzählen, in denen sie die Körperstrafe des Schlagens erlebt haben. Alle Befragten konnten auf Anhieb eine mehr oder weni‑ ger detailreiche Episode erzählen, was bei keiner der anderen Sanktionsformen der Fall war. Dies legt nahe, dass die Erziehungsmethode des Schlagens nicht nur in der Perspektive der Eltern zentral war, sondern auch in der Erinnerung der Kinder eine prägnante Erfahrung darstellte. Trotz der Prävalenz der Körperstrafe in den Darstellungen von Erwachsenen und Kindern konnte ich diese Praxis während der teilnehmenden Beobachtung nur gelegentlich direkt beobachten. Dies ist auf den Umstand zurückzuführen, dass Kinder, wie im vorigen Abschnitt dargelegt, in der Regel unter Ausschluss der Öffentlichkeit, d.h. entweder in einem Haus oder außerhalb des Dorfes, geschla‑ gen wurden, um eine Beschämung gegenüber Unbeteiligten zu vermeiden. So er‑ fuhr ich meist eher indirekt von aktuellen Vorfällen: Wiederholt war das Schreien von betroffenen Kindern zu hören und mehrfach traf ich Kinder an, die infolge einer solchen Sanktion an einem ruhigen Ort schmollten und kaum reagierten, wenn meine Forschungsassistenten oder ich sie ansprachen. Die Beobachtungen lassen den Schluss zu, dass Kinder keineswegs täglich oder auch nur wöchentlich von ihren Eltern geschlagen wurden. Auf keines der mir vertrauten Kinder aus Ranomadio trifft die Beobachtung auch nur annähernd zu, die Kavapalu (1993: 318)

16 | Die Ausnahme betrifft die Verletzung individueller Heilungstabus (fady aody), die im Rahmen eines Heilungsrituals auferlegt werden und einen Ahnen-Pakt zum Schutz des Kindes besiegeln. Im Vordergrund der elterlichen Reaktion auf die Tabuverletzung steht nicht eine Sanktionshandlung, sondern vielmehr die Sorge um das Wohl des Kindes sowie eine Erneuerung des Paktes, da der übernatürliche Schutz durch die Tabuverletzung verlorengeht. Bezeichnend ist, dass eine solche Tabuverletzung im Unterschied zu den anderen erfragten Formen des Fehlverhaltens keine sozialen Konsequenzen hat, sondern lediglich das Wohl des Kindes betrifft.

9. Die Entwicklungsnische der Kindheit

bei vierjährigen Kindern auf Tonga machte: »By that age they are typically hit many times each day, ranging from single slaps to more severe beatings.« Die Beobachtungen widersprechen jedoch nicht dem zentralen Stellenwert der Körperstrafe in den Darstellungen der Gesprächspartner: Auch bei anderen erzieherischen Interventionen waren Eltern nur äußerst selten zu beobachten. Am häufigsten konnte ich bezeugen, wie Erwachsene (und Jugendliche) Kinder in einem barschen Ton zurechtwiesen und dabei verbal oder mittels erhobener Hand bzw. dem Griff nach einem Gegenstand Schläge androhten. Aus den Interviews mit Erwachsenen und Kindern geht hervor, dass diese verbalen oder gestischen Signale sowie Wutäußerungen jeder Art im Allgemeinen nicht als eigenständige Sanktionsform, sondern als Warnung vor einer tatsächlichen Körpersanktion gese‑ hen wurden. Auch ein im Rahmen der Interviews zur Sanktionierung angeführtes Sprichwort verdeutlicht die Verknüpfung von Warnungen mit körperlichen Sank‑ tionen: »Hat die Maus einmal von meinem Reis gefressen, so ist nicht viel verloren, aber man merkt es sich. Frisst sie erneut von meinem Reis, muss man sie warnen. Beim dritten Mal stellt man ihr eine Falle.«17 Wie im 10. Kapitel deutlich wird, bietet die Körperstrafe Kindern äußerst in‑ tensive körperliche und emotionale Erfahrungen, womit sie bereits nach wenigen Ereignissen dieser Art eine bloße Drohung ernst nehmen dürften. Mehrere Eltern betonten etwa, man solle Kinder einerseits nicht zu häufig schlagen, um eine ›Ge‑ wöhnung‹ zu vermeiden, andererseits aber kräftig hauen, damit sie ihre Lektion nicht vergessen. Im Unterschied zu anderen Sanktionspraktiken scheint die Kör‑ perstrafe, wie sie in Menamaty praktiziert wird, weniger auf Häufigkeit als viel‑ mehr auf Intensität zu beruhen. Argumentieren lässt sich zudem, dass diese Sank‑ tionspraxis gerade durch die volle kulturelle und soziale Einbettung erzieherisch effektiv wird und somit eher selten zur tatsächlichen Anwendung gebracht wird. Dem entspricht die Beobachtung, dass die Kinder von Menamaty die Anweisungen von Autoritätspersonen meist widerspruchslos und umgehend befolgten und somit nur selten Anlass für eine tatsächliche Sanktion gaben.

Zusammenfassung und Diskussion Die Erhebung der Sanktionspraktiken in der Forschungsregion deutet auf zwei Tendenzen hin: Zum einen favorisieren die Gesprächspartner negative Sanktions‑ praktiken gegenüber positiven.18 Zum anderen rücken zumindest die Eltern kör‑ perbezogene anstelle von beziehungsbasierten Sanktionspraktiken in den Vorder‑ grund. Diese Tendenzen laufen auf die Favorisierung negativer Körpersanktionen (Körperstrafe) hinaus. Diese Schwerpunktsetzung steht offenbar in einem diametralen Gegensatz zur Erziehungsethik in der deutschen Mittelschicht und anderen euro-amerikani‑ schen Gesellschaften, in denen positive, beziehungsbasierte Sanktionen wie etwa 17 | Fotim-bary am-pon-voalavo, tsy very fa am-pon-draha velo. Mipody indroy manotoky, fahatelony mignisy kipitsiky. 18 | Zu diesem Ergebnis kommt auch Levy (1973: 447) bei seiner Forschung in Tahiti: »The important systematically and consciously used techniques for managing children in Piri and mā’ohi Roto are negative ones – verbal threatening, mild physical punishment, mild mocking and shaming – the purpose of which is to make children avoid error.«

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Loben, Wertschätzung oder Liebesbekundungen einen hohen Stellenwert haben. Auch gesetzlich ist Körperstrafe in der Kindeserziehung in Deutschland seit 2000 verboten. So heißt es im ›Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung‹: Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig (§ 1631, Abs. 2, BGB).19 Vor einem solchen ethischen und gesetzlichen Hintergrund mag die Praxis der Körpersanktion in der Untersuchungsregion als verurteilungswürdig erscheinen. Ohne unterschlagen zu wollen, dass mich die Bezeugung der Körperstrafe während der Feldforschung betroffen machte, verzichte ich an dieser Stelle und in der folgenden Darstellung zunächst auf eine ethische Beurteilung dieser Sank‑ tionspraxis. Vor einer vorschnellen Verurteilung ist zu bedenken, dass die indi‑ viduellen Auswirkungen der Körperstrafe stark davon abhängen dürften, wie sie konkret praktiziert wird, wie sie sozial eingebettet ist und welche Bedeutung ihr von den Beteiligten beigemessen wird. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Körpersanktion als Erziehungsmittel auch in westlichen Gesellschaften noch vor wenigen Jahrzehnten breite Akzeptanz fand und in Deutschland sogar bis zum Ende des 20. Jahrhunderts durch ein Züchtigungsrecht untermauert war (vgl. Göbel 2005). In einer Ausgabe von 1977 stellte der Der Spiegel fest: »Daß eine anständige Tracht, daß tüchtig was hinter die Ohren Wunder wirke, das ist ge‑ sellschaftliches Gemeingut« (10.01.1977 »Hirn statt Hosenboden«). Zahlreiche eth‑ nografische Berichte belegen die Verbreitung und Akzeptanz der Körpersanktion in Gesellschaften aller Kontinente.20 Auf der Basis des HRAF kommen Carol und Melvin Ember (2005: 609) zu dem Ergebnis, dass die Körperstrafe in 40 Prozent der 186 erfassten Gesellschaften eine häufige oder typische Sanktionsform dar‑ stellt (vgl. Levinson 1989: 28). Trotz der zahlreichen ethnografischen Berichte zur Körperstrafe in unter‑ schiedlichen kulturellen Kontexten liegen jedoch kaum Studien vor, die sich dieser Thematik dezidiert widmen. Insbesondere der Frage, wie diese Erziehungspraxis von den betroffenen Kindern erlebt wird und welche emotionalen Konsequenzen daraus resultieren, wurde bislang nur wenig nachgegangen. Aus ethnologischer Perspektive widmete sich einzig Helen Morton (1996, unter früherem Namen: Kavapalu 1993) ausführlich der kulturellen Bedeutung und kindlichen Erfahrung der Körperstrafe, wobei sie sich auf die Bevölkerung Tongas bezieht. Wie Montgo‑ mery (2008: 168f) bemerkt, fand diese Praxis in älteren Ethnografien meist eher beiläufige und goutierende Erwähnung, weil sie vermutlich den Erwartungen der Forscher entsprach und deshalb nicht von besonderem Interesse war. Gegenwärtig könnte wiederum die ethische Verurteilung dieser Praxis durch die Autoren einer eingehenden ethnografischen Erforschung im Wege stehen, weil aus ihr die Sor‑ ge erwächst, die untersuchte Bevölkerung in einem schlechten Licht erscheinen zu lassen. Die Ausklammerung dieser Erziehungspraxis aus ethischen Gründen würde allerdings – genauso wie die moralische Verurteilung – bedeuten, die Dar‑ 19 | Darüber hinaus wurde die Kinderrechtskonvention der UN von 1990, die auch die Vermeidung von körperlicher Gewalt gegen Kinder enthält, von allen Staaten bis auf die USA, Somalia und Südsudan ratifiziert (s. United Nations Treaty Collection. Convention on the Rights of the Child). 20 | Einen Überblick über die ethnografische Literatur zur Körpersanktion bieten Montgomery (2008: 156f) und Lancy (2008: 178f).

9. Die Entwicklungsnische der Kindheit

stellung in erster Linie an westlichen Wertmaßstäben zu orientieren. Denn für die Menschen aus Menamaty stellt die Körpersanktion nicht nur eine moralisch ver‑ tretbare, sondern sogar eine moralisch gebotene Erziehungspraxis dar.21

21 | Einen direkten Konflikt zwischen westlichen Kinderrechtsaktivisten bzw. entsprechenden Institutionen, die gegen Körpersanktionen an Schulen vorgehen, und Massai-Eltern aus Kenia, in deren Augen diese Praxis notwendig und sinnvoll ist, beschreibt Archambault (2009).

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10. Praktiken und Erfahrungsmuster der Körpersanktion

Aufgrund der herausragenden Stellung der Körpersanktion soll diese im Folgen‑ den eingehend dargestellt und hinsichtlich ihrer emotionalen Bedeutung für die Betroffenen analysiert werden. Um den ontogenetischen Verlauf abzubilden, folgt die Darstellung den drei Entwicklungsphasen des Kleinkindalters, der Kindheit und Jugend. Als Basismaterial der Darstellung fungieren Leitfadeninterviews mit allen beteiligten Personen sowie die Alltagsbeobachtungen während meiner beiden Feldforschungsaufenthalte. Bezüglich der Kleinkindphase werden die im 5. Kapi‑ tel bereits vorgestellten Interviews mit 42 Müttern aus Ranomadio und Soafary herangezogen, die auch Fragen zur Sanktionspraxis und zur Furchtsozialisation umfassten. Die Erfahrungsperspektive der Kleinkinder konnte zwar nicht erfragt werden, dafür waren Sanktionsepisoden bei ihnen noch vergleichsweise häufig zu beobachten. Die Beschreibung der Sanktionspraxis in der Kindheit, also ab dem Alter von vier bis fünf Jahren, basiert zum einen auf den im 9. Kapitel bereits vor‑ gestellten Interviews mit 22 Eltern (mehrheitlich Vätern) aus Ranomadio zu ihrem Sanktionsverhalten und mit insgesamt über 100 Kindern und Jugendlichen aus demselben Dorf zu ihren Erfahrungen mit den verschiedenen Formen der Kör‑ persanktion sowie zu den Emotionen, die dabei eine Rolle spielen. Da Kinder (im Unterschied zu Kleinkindern) meist unter Ausschluss der Öffentlichkeit sanktio‑ niert werden, um sie vor einer Beschämung gegenüber ihren Peers zu bewahren (s. Kapitel 9), konnte diese Praxis nur selten direkt beobachtet werden. Die Sank‑ tionspraxis ab dem Jugendalter bzw. die Konzeption der Ahnensanktion (havoa), die per se nicht direkt beobachtbar ist, wurde in Interviews mit 46 Jugendlichen und Erwachsenen aus Ranomadio erhoben. Um die Bedeutung von havoa aus mög‑ lichst vielen Perspektiven zu erfassen, stellte ich meinen Gesprächspartnern unter‑ schiedliche Ausgangsfragen; u.a. nach den Gründen, weshalb sich Personen meist an die sozialen Regeln halten, nach den Konsequenzen von Normverstößen, nach ihren eigenen Normverstößen, nach Beispielen für havoa sowie nach ihren persön‑ lichen Erfahrungen mit havoa. Hinzu kommen bezeugte Vorfälle während meiner Feldforschung, die auf havoa zurückgeführt wurden und in entsprechende Prakti‑ ken eingebunden waren. Bei der induktiven Analyse des gesamten Interviewmaterials mit Hilfe des Aus‑ wertungsprogramms MAXQDA hat sich ein relativ konstantes Muster aus wieder‑

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen

holt beschriebenen Aspekten der Sanktionsepisoden ergeben. Es enthält (a) die Beteiligten nach Alter und Geschlecht, (b) die Anlässe auf der Seite der Betroffe‑ nen, also ihr sanktioniertes Verhalten, und Gründe für dieses Verhalten, (c) die Sanktionshandlung einschließlich deren Androhung, (d) die emotionale Reaktion des betroffenen Kindes auf die Sanktion und (e) die Reintegration der betroffenen Person. Diese in den Interviews hervorgehobenen Elemente der Sanktionsprak‑ tiken strukturieren auch die folgende Darstellung und werden, insbesondere im Hinblick auf die Kleinkindphase, durch eigene Beobachtungen ergänzt. Die primäre Orientierung an den Darstellungen der Beteiligten ergibt sich aus verschiedenen Gründen: Zum einen waren die Praktiken der Körpersanktion in der Kindheit nur selten direkt und die Ahnensanktion in der Jugend allenfalls indi‑ rekt zu beobachten. Zum anderen erwiesen sich die Interviews mit den Beteiligten, insbesondere mit den Betroffenen zu ihren konkreten Sanktionserfahrungen und -erinnerungen als besonders aufschlussreich: Unabhängig davon, wie man den ›Realitätsbezug‹ der Narrative der Betroffenen beurteilen mag, sind sie vor dem Hintergrund der im 11. Kapitel näher zu erläuternden Theorie der Furchtsoziali‑ sation aussagekräftig. Denn sie bieten einen Zugang zu affektiv ›aufgeladenen‹, kognitiven Modellen, die sich in der Ontogenese auf der Basis erlebter Sanktions‑ episoden allmählich herausbilden und als Dispositionen für moralische Emotio‑ nen fungieren.

L eichte K örpersanktionen in der K leinkindphase Aus der Perspektive sämtlicher Eltern ist es zulässig, Kinder ab dem Alter von etwa zwei Jahren leichten körperlichen Sanktionen zu unterziehen. Hingegen lehnten alle befragten Mütter und Väter die Möglichkeit energisch ab, bereits Babys kör‑ perlich zu sanktionieren. Wie präsent diese ablehnende Haltung offenbar im Be‑ wusstsein der befragten Mütter war, geht deutlich aus den Antworten auf die Frage hervor, was Mütter und andere Bezugspersonen im Umgang mit ihren Säuglingen unterlassen sollten. Von den 58 zu unterlassenden Handlungen betrafen 44 die Vermeidung jedweder Bestrafung, insbesondere des Schlagens. Diese Sache hier [ihre einjährige Tochter] ist jetzt noch sehr klein. Manchmal werde ich wütend und möchte sie schlagen, aber das geht nicht, weil sie noch ›verrückt‹ (sagnagna) ist. Wenn ich sie aber nicht schlage, dann verhält sie sich weiterhin schlecht. Ich weiß also nicht, was ich tun oder lassen soll. Schließlich entferne ich mich eine Weile von ihr, damit ich mich beruhige und sie nicht schlagen muss. Sie würde die Schläge noch nicht verstehen, weil sie noch ›verrückt‹ ist. (Pelany, w 35, 5 Kinder, verheiratet) Ich mag es überhaupt nicht, wenn sie [ihre einjährige Tochter] geschlagen wird oder wenn sie jemand ärgert. Zum Beispiel kommt jemand zu Besuch in unser Haus und ärgert sie, sodass sie anfängt zu weinen. Selbst wenn sie etwas tut, was ich nicht mag, schlage ich sie nicht. Sie ist noch zu klein und könnte nicht begreifen, warum sie geschlagen wird. (Pascaline, w 30, 6 Kinder, verheiratet)

Wie aus diesen Beispielen und anderen Erläuterungen hervorgeht, sollten Säug‑ linge nicht sanktioniert werden, weil sie noch nicht über die mentalen Kapazitäten

10. Praktiken und Er fahrungsmuster der Körpersanktion

verfügen, die Sanktion zu verstehen, d.h., auf das eigene Verhalten zu beziehen. Darüber hinaus sahen einige Mütter die Gefahr der Verletzung. Generell wider‑ spricht die körperliche Sanktionierung dem mütterlichen Fokus auf das körper‑ liche Wohlergehen von Säuglingen. Die Angaben zum genauen Alter, ab dem Mütter ihre Kinder körperlich zu sanktionieren beginnen, variieren zwischen einem Jahr und drei Jahren, wobei al‑ lerdings auch der Umstand zu berücksichtigen ist, dass Eltern das chronologische Alter ihrer Kinder nicht zählen. Ab etwa zwei Jahren kann man ein Kind schlagen, weil es ab diesem Alter lernen kann, sich vor den Schlägen zu fürchten (matahotsy fofoky). Aber ein kleines Kind sollte nicht zu oft geschlagen werden, weil es sich sonst zu sehr an die Schläge gewöhnt. (Fagnomoa, w 22, 2 Kinder, verheiratet) Meiner Meinung nach kann es etwa ab einem Jahr geschlagen werden, weil es in diesem Alter zu laufen beginnt. In diesem Alter schlägt man es jedoch ausschließlich mit der Hand. Ab etwa vier Jahren kann es dann mit dem Stock geschlagen werden. (Velosoa, w 25, 4 Kinder, geschieden) Man kann das Kind schlagen, sobald es ungefähr zwei Jahre alt ist. Man schlägt es dann zunächst lediglich mit der Hand, weil es den Stock noch nicht aushält (tsy mahazaka kobay). In diesem Alter wird es noch von der Mutter geschlagen. Mit etwa vier Jahren kann es dann auch vom Vater mit dem Stock geschlagen werden. (Sinoa, m 20, 1 Kind, verheiratet)

Augenscheinlich ist für Eltern der Entwicklungsstand entscheidend – so berich‑ teten Eltern, dass die Fähigkeit des Fürchtens, des Verstehens oder des Laufens entscheidend für den Beginn der Körpersanktion sei. Bemerkenswert ist, dass der Durchschnitt aus den Angaben von 29 Eltern zum Mindestalter exakt dem Mit‑ telwert des Abstillalters entspricht: 21 Monate. Diese Übereinstimmung erscheint insofern bedeutsam, als die Umstellung von einem körperbezogenen Betreuungs‑ modus hin zu einem Erziehungsmodus besonders durch das Abstillen markiert wird. Was das Geschlecht der Kinder betrifft, so sahen die Eltern keinen Bedarf an geschlechtsspezifischer Sanktionierung im Kleinkindalter; die durchschnittlichen Altersangaben legen allerdings nahe, dass bei Mädchen die Sanktionierung ten‑ denziell früher einsetzt. Wie die oben zitierten Eltern und viele andere Gesprächspartner deutlich machten, müssen Kleinkinder noch nicht mit Stockschlägen, sondern lediglich mit einem Klaps mit der flachen Hand (mamofoky amin’ny tagna) rechnen. Weite‑ re, bereits bei Kleinkindern zum Einsatz kommende Sanktionspraktiken bestehen darin, das Kind zu kneifen (mitsongo) oder mit rotem Pfeffer bzw. Chili in Kon‑ takt zu bringen. In vielen Gesprächen wurden diese leichten Körpersanktionen als Vorläufer der Strafe mit dem Stock dargestellt, die Kleinkindern aus körperlichen Gründen und aufgrund ihres geistigen oder emotionalen Entwicklungsstandes nicht zuzumuten sei. Als sanktionierende Person steht im Kleinkindalter noch die Mutter im Vorder‑ grund. Dies geht sowohl aus den Beobachtungen als auch aus den Darstellungen der Mütter hervor, so etwa aus dieser:

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen Weil er [ihr 15 Monate alter Sohn] noch klein ist, sollten andere ihn nicht schlagen. Zum Beispiel ist dieser Junge [ihr großer, als Babysitter fungierender Sohn] nicht in der Lage, die Strafe angemessen anzuwenden. Nur ich kann abschätzen, wie viele und starke Klapse er braucht. (Vaovelo, w 40, 6 Kinder, verheiratet)

Die Rolle der Mutter als primäre Sanktionsperson von Kleinkindern ergibt sich darüber hinaus aus dem Umstand, dass die meisten Anlässe mit der Distanzierung von der Mutter verbunden waren. Jedoch war gelegentlich auch zu beobachten, wie Babysitter den ihnen anvertrauten Säuglingen oder Kleinkindern einen leichten Klaps verpassten oder dies zumindest mit erhobener Hand andeuteten, wenn diese etwa beim Spiel störten. Die von Eltern genannten und von mir beobachteten Anlässe dafür, ein Klein‑ kind zu kneifen, zu klapsen oder ihm, im wörtlichen Sinne, etwas einzuschärfen, waren zum großen Teil mit der Entwöhnung und Distanzierung von der Mutter verbunden. Die Schärfe des Pfeffers erlebten viele Kinder zuallererst beim Ver‑ such, an der Mutterbrust zu trinken, da diese Substanz, wie beschrieben, regulär als Mittel der Entwöhnung eingesetzt wird. Weitere, allerdings erst für etwas ältere Kinder relevante Anlässe für den Einsatz von Pfeffer umfassten das Beschmut‑ zen des Hauses durch Körperausscheidungen, sexuell konnotiertes Spielen mit verwandten Kindern sowie unerlaubtes Verzehren von Nahrungsmitteln. Je nach Anlass bekamen Kinder die scharfe Substanz an den Genitalien, dem After oder im Mund zu spüren. Allerdings ist zu bedenken, dass diese relativ drastisch anmu‑ tende Sanktionsmethode nur in letzter Konsequenz zum Einsatz kam und Eltern in der Regel lediglich damit drohten. Auch die 30 von Müttern genannten Anlässe dafür, ein Kleinkind zu kneifen oder ihm einen Klaps zu verpassen, waren letztlich mit dem Anliegen verbunden, das Kind zu distanzieren oder ihm zumindest deutliche Grenzen der mütterlichen Nähe aufzuzeigen. Wie in den folgenden Beispielen fühlten sich Mütter am häu‑ figsten zu einer solchen Sanktion veranlasst, wenn sie durch das explorative Ver‑ halten des Kindes bei ihrer täglichen Arbeit gestört wurden oder wenn Kinder im Haushalt etwas durcheinanderbrachten: Ich verpasse ihm augenblicklich einen Klaps, wenn er etwas im Haus anstellt, das mich stört, z.B. wenn er im Haus uriniert. Auf diese Weise flöße ich ihm Furcht ein (mahatahotsy) und schrecke ihn ab (mavaivay), sodass er sich daran erinnert und es nicht wieder tut. Auch, wenn er etwas im Haus in Unordnung bringt, bekommt er einen Klaps. (Velosoa, w 25, 4 Kinder, geschieden) Wenn er nicht brav ist, bekommt er einen Klaps. Zum Beispiel bringt er den Hausrat durcheinander, indem er damit spielt. Oder er zerstreut Reis auf dem Boden, während ich Reis stampfe, oder ich hole Trinkwasser und er hält seine Hand hinein. Wenn er das tut, dann schlage ich ihn. (Tsidare, w 18, 1 Kind, verheiratet) Wenn ich z.B. den Reis zum Trocknen ausbreite und mein Kind dann damit spielt, obwohl es das nicht darf, dann gebe ihm einen Klaps, weil ich das überhaupt nicht mag. Und wenn es den Wassereimer im Haus umwirft, dann schlage ich es auch. All das sind Gründe, weshalb ich es schlage. (Hendrisoa, w 25, 3 Kinder, unverheiratet)

10. Praktiken und Er fahrungsmuster der Körpersanktion

Einige Mütter berichteten auch, dass sie ihren Kleinkindern einen Klaps verpassen würden, wenn sich diese zu anhänglich zeigten und insbesondere mit einem Neu‑ geborenen um ihre körperliche Nähe konkurrierten. Der zweijährige Behaja, der bereits einen kleinen Bruder hatte, suchte beispielsweise zu Beginn meiner ersten Feldforschung immer wieder die Nähe seiner Mutter und hing sprichwörtlich an ihrem Rockzipfel. Zudem war mehrmals zu beobachten, wie er sich zumindest in einer indirekten Weise aggressiv gegenüber seinem kleinen Bruder verhielt, in‑ dem er ihn wie zufällig schubste oder ein Maniokstück, von dem er etwas abgeben sollte, in die Richtung seines Bruders warf. Die Mutter reagierte darauf unmissver‑ ständlich, indem sie Behaja einen Klaps versetzte oder ihn mit einem intensiven, jedoch nur kurz anhaltenden Ausdruck des Ärgers von sich stieß. Auch in den Interviews wurde deutlich, dass ein solches anhängliches oder eifersüchtiges Ver‑ halten, das nur bei Jungen zu beobachten war, sanktioniert werden kann. Auf die Frage an Mütter, wie sie auf den ihre Nähe suchenden Sohn reagieren würden, be‑ kam ich beispielsweise folgende Antworten: Ich schlage ihn, um ihn zu verscheuchen. Das habe ich auch schon mehrmals getan und ihm dabei gesagt: »Du bist kein Mädchen, geh mit den Jungen spielen«. (Nareny, w 35, 5 Kinder, verheiratet) Ich werde wütend (maseky) und sage etwa folgendes: »Du bist nicht mein Kind, du bist das Kind deines Vaters, nur Kolajy [ihre jüngste Tochter] ist mein Kind.« Macht dies den Jungen nicht traurig (malahelo)? Nein, es ist schließlich ein Brauch der Bara (fomba Bara) und außerdem kann er auch bei den anderen Kindern Trost finden, die ihn jetzt öfters mitnehmen. (Ndrova, w 40, 5 Kinder, verheiratet)

Allerdings sahen die meisten Mütter die Distanzierung von ihren Kleinkindern, wie bereits im zweiten Teil der Arbeit dargelegt, als einen natürlichen, auch vom Kind gewollten Prozess an. Zudem war der Konflikt um mütterliche Nähe nur bei wenigen Kindern und ausschließlich bei Jungen zu beobachten, was bestätigt, dass er bei den meisten Kindern entweder gar nicht auftrat oder nur von sehr kurzer Dauer war. Dass Jungen eher diesen Konflikt durchleben, dürfte damit zusam‑ menhängen, dass sie sich aufgrund der Geschlechtersegregation konsequenter als Mädchen aus der mütterlichen Sphäre zurückziehen müssen. Die Sanktionshandlungen im zweiten Lebensjahr waren in der Regel noch äußerst subtil, sodass sie meist erst durch eine sorgfältige Durchsicht und Ana‑ lyse des umfangreichen Videomaterials identifiziert werden konnten. Aus diesem Videomaterial geht hervor, dass sich die Sanktionierung fast bruchlos aus einer ausgeprägten körperlichen Kontrolle entwickelt. So ist zu sehen, wie Bezugsperso‑ nen mit einem schnellen Handgriff einen Gegenstand aus der Hand des Säuglings entfernen, dessen in Wasser oder Reis getauchte Hände energisch schütteln oder ihn vom Ort des Geschehens in einer Art und Weise fernhalten, die eine Entschei‑ dung schwierig macht, ob es sich um ein bloßes Wegschieben, Stoßen oder einen leichten Schlag handelt. Diese Eingriffe geschehen abrupt, d.h. ohne einleitende Kontaktaufnahme oder erklärende Worte, womit einerseits die Körperkontrolle in den Vordergrund rückt und andererseits ein gewisses Überraschungsmoment für das betroffene Kind gegeben sein dürfte. In Übereinstimmung mit den Einschät‑

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zungen der Eltern konnte ein eindeutiges Klapsen erst bei Kleinkindern ab zwei Jahren beobachtet werden. Dies erfolgte in der Regel ebenfalls völlig unvermittelt und auf eine eruptive Art und Weise. Das Ausdrucksverhalten der Bezugspersonen gewinnt den beobachteten Sze‑ nen zufolge mit zunehmendem Alter der Kleinkinder an Intensität. Während Bezugspersonen ihr Eingreifen bei Säuglingen von etwa einem Jahr noch kaum emotional markierten, unterstrichen sie Sanktionen gegenüber Kindern im zwei‑ ten Lebensjahr, die bereits abgestillt waren, durch einen deutlichen Wutausdruck. Sie machten ihren Unmut durch einen grimmigen Gesichtsausdruck, durch einen scharfen Tonfall bei verbalen Zurechtweisungen oder durch spezifische, nonver‑ bale stimmliche Äußerung deutlich, die auch gegenüber älteren Kindern, deren Verhalten als störend empfunden wurde, zum Einsatz kam und eine Art Überdruss (botsy) signalisiert.1 Gegenüber Kleinkindern zwischen drei und vier Jahren zeigten die Sanktionierenden einen äußerst starken Wutausdruck und gelegentlich eine drohend erhobene Hand. Bemerkenswert hierbei war wiederum, dass der Wutaus‑ druck der Bezugsperson genauso unmittelbar verschwand wie er aufgetreten war und die Aktivität oder Konversation nach der Sanktionshandlung fortgesetzt wur‑ de, als sei nichts geschehen. Dies deutet darauf hin, dass der Wutausdruck im Rah‑ men der Sanktion trotz seiner überzeugenden Anmutung kontrolliert wird und im Unterschied zu anderen Wutformen weder die ganze Person erfasst, noch die Intention mit sich bringt, dem Adressaten zu schaden. Wie der Bedeutungsanalyse der Wutkonzepte im 4. Kapitel zu entnehmen ist, entsprechen diesen ›erzieheri‑ schen‹ Wutäußerungen die Konzepte heloky, mivoto tenda, sosotsy und botsy, die ich als Formen der sanktionierenden Wut zusammengefasst habe. Die emotionalen Reaktionen der Säuglinge und Kleinkinder auf Körpersank‑ tionen ließen sich aus nachvollziehbaren Gründen nicht erfragen und nur indirekt über das Ausdrucksverhalten und die Interpretation der Bezugspersonen erschlie‑ ßen. Deutlich zu sehen war, dass bereits die angedeuteten Körpersanktionen bei einjährigen Kindern einen Eindruck hinterließen. So stellten sie ihr exploratives Verhalten prompt ein, blickten zur sanktionierenden Person und wirkten für eine Weile überrascht oder verdutzt. In einigen Fällen begannen sie daraufhin leicht zu wimmern. Aus Interviews mit Müttern zur Furchtentwicklung geht hervor, dass Kinder in diesem Alter noch kaum der Furcht (tahotsy) fähig seien, sondern viel‑ mehr mit Schreck (taitsy) auf Sanktionen reagieren würden. Fürchten sich deine Kinder bereits hin und wieder? Ja! Hier sind zwei meiner Kinder. Dieses hier [w 4] schon, jenes [Elviny, w 1] eher noch nicht. Außer vielleicht, wenn es zu stark geschaukelt (kidrotsy) wird. Es erschreckt (taitsy) sich aber bereits, wenn es plötzlich jemanden schreien hört oder wenn jemand ihm einen Klaps gibt. (Ramety, w 40, 6 Kinder, verheiratet)

Das abrupte Einsetzen der Sanktion in diesem Alter sowie die Tatsache, dass sich die ein- bis zweijährigen Kinder noch kaum eines Fehlverhaltens bewusst waren, dürfte die Schreck- oder Überraschungsreaktion entscheidend begünstigen.

1 | Dieser Zusammenhang zwischen dem spezifischen Ausdrucksverhalten und der ÄrgerEmotion botsy stellte sich heraus, als Personen auf meine Bitte hin botsy vorspielten.

10. Praktiken und Er fahrungsmuster der Körpersanktion

Bei einigen Kindern im zweiten und dritten Lebensjahr war zu beobachten, dass sie nicht nur auf Provokationen durch ältere Kinder, sondern auch auf Sanktio‑ nen durch Mütter mit Wut reagierten und dies zum Ausdruck brachten, indem sie den Arm wie zum Schlag erhoben. Ein lautstarkes Trotzverhalten war jedoch nur ein einziges Mal zu beobachten. Ein etwa zweijähriges Mädchen, das einen Klaps erhalten hatte, schrie heftig protestierend und wurde von seiner Mutter weiter an‑ gestachelt, die immer wieder mit erhobenem Arm einen Schlag andeutete. Insgesamt zeichnet sich die Sanktionspraxis im Kleinkindalter dadurch aus, dass sie lediglich zu unterlassendes Verhalten betrifft und nicht etwa ein Kind dazu bringen soll, eine geforderte Handlung auszuführen. Zudem wird die Sanktion zeitgleich mit dem Fehlverhalten ausgeführt. Eltern betonen, dass diese Koinzi‑ denz bei Kleinkindern erforderlich sei, weil diese die Sanktion andernfalls nicht verstehen könnten.

S tockhiebe und N ahrungsent zug in der K indheit Betroffene und sanktionierende Personen In der Auseinandersetzung mit den lokalen Modellen zur Kindheit und Entwick‑ lung wurde bereits deutlich, dass Eltern ihren Kindern ab dem Alter von vier oder fünf Jahren mit dem fagnahy eine geistig-moralische Kapazität zuschreiben, die es ihnen ermöglicht, ihr Verhalten und Handeln in Beziehung zu den sozialen Erwartungen und Normen zu setzen. Die Ausbildung dieser Kapazität rechtfer‑ tigt in ihren Augen eine Umstellung der Sanktionspraxis von den beschriebenen, leichten und direkt auf das Fehlverhalten folgenden Körpersanktionen hin zu einer konsequenten Sanktionierung mittels Hirtenstock (mamofoky amin’ny kobay). Den Darstellungen von 36 Eltern zufolge kann Kindern diese Strafe im Schnitt ab dem Alter von viereinhalb Jahren zugemutet werden, wobei Mädchen aufgrund ihres Entwicklungsvorsprungs schon mit vier und Jungen erst mit fünf Jahren damit rechnen müssten. Einige Eltern brachten zudem die Überzeugung zum Ausdruck, Mädchen müs‑ se man in aller Regel seltener als Jungen schlagen, weil sie sich leichter fürchteten und folglich auch seltener Anlass für eine solche erzieherische Maßnahme gäben. Abgesehen von geschlechtlichen Differenzierungen machten die Gesprächspart‑ ner auch deutlich, dass die Häufigkeit der Körpersanktion von Kind zu Kind vari‑ iert. Dies führten sie auf charakterliche Unterschiede sowohl zwischen Kindern als auch zwischen Sanktionspersonen zurück. Beobachtungen zufolge wurden zwei Jungen aus ›meiner‹ Abstammungsgruppe, deren Väter unbekannt waren, ver‑ gleichsweise häufig geschlagen, nämlich vom Großvater im einen und vom Onkel im anderen Fall. Die beiden Jungen wurden als ›Hartköpfe‹ (mahery loha) bezeich‑ net und diese beschrieben wiederum ihre Sanktionspersonen als besonders wüten‑ de Menschen (olo maseky). Wie im 9. Kapitel dargelegt, wussten allerdings alle der 64 befragten Kinder und elf Jugendlichen von der Erfahrung einer Prügelstrafe zu berichten. Im Vergleich zu Kleinkindern scheinen ältere Kinder insgesamt seltener körperlich sanktioniert zu werden, dafür intensiviert sich mit den Stockhieben au‑ genscheinlich die einzelne Sanktionserfahrung.

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Auch die Sanktionsmethode, Kindern eine Abendmahlzeit zu verwehren (malay sakafo), setzen Eltern erst ab dem Alter von vier oder fünf Jahren ein. Jedoch konnte sich etwa ein Drittel der 49 zu dieser Sanktionsform befragten Kinder nicht an eine entsprechende Erfahrung erinnern, wobei Jungen noch häufiger als Mäd‑ chen eine Episode erzählen konnten. Nach den von Sanktionen betroffen Kindern stellt sich nun die Frage nach den Sanktionspersonen in der Kindheit. Die Interviews mit Erwachsenen und Kin‑ dern erlauben eine Unterscheidung zwischen idealtypischen und tatsächlichen Sanktionspersonen. Den befragten Eltern zufolge geht mit der Einführung der Prügelstrafe im Übergang von der Kleinkind- zur Kindheitsphase die Sanktionie‑ rungsverantwortung von der Mutter an den Vater über. Dies steht in engem Zu‑ sammenhang mit der allmählichen, ab dem fünften Lebensjahr aber forcierten Eingliederung des Kindes in die patrilineare Abstammungsgruppe (tariky). Aus der Frage an Kinder, von wem sie in der Regel geschlagen werden, ergibt sich al‑ lerdings ein komplexeres Bild: Von 71 Kindern nannten 29, also knapp die Hälfte, den Vater als Sanktionsperson, womit ihm zumindest häufiger als jeder anderen Person diese Rolle zugeschrieben wurde. Die anderen Kinder gaben die Mutter (17), den Großvater (10), einen Onkel (8) oder deutlich älteren Bruder (3) sowie eine Großmutter oder Tante (jeweils 2) an. Berücksichtigt man das Alter der Kinder und die Verfügbarkeit von Bezugs‑ personen, so lässt sich diese Verteilung erhellen: Kinder, die ihre Mutter als Sank‑ tionsperson angaben, waren größtenteils fünfjährig und jünger, also noch in einer Altersphase, in der die Sanktionsverantwortung allmählich auf den Vater übertra‑ gen wird; bei den restlichen, von Müttern sanktionierten Kindern war der Vater unbekannt oder bereits verstorben. Die ›vaterlosen‹, älteren Kinder wurden jedoch größtenteils von einem Großvater oder Onkel sanktioniert, wobei ein Onkel nur dann diese Rolle übernahm, wenn kein Großvater aus der Abstammungsgruppe des Kindes präsent war. Insgesamt lassen sich also folgende Tendenzen festhalten: Um das Alter von fünf Jahren herum übernimmt der Vater die Rolle der sanktio‑ nierenden Person von der Mutter, sofern er ›vorhanden‹ ist. Ist er unbekannt oder verstorben, wird er vorzugsweise durch Großväter oder Onkel vertreten, die dann nicht nur für die Erziehung, sondern auch für die allgemeine Versorgung des Kin‑ des verantwortlich sind. Bei der Sanktionspraxis des Nahrungsentzugs machten die betroffenen Kinder hingegen die Mutter (oder eine sie vertretende Tante) häufiger als den Vater (bzw. Großvater oder Onkel) verantwortlich. Dies dürfte schlicht damit zusammenhän‑ gen, dass die Nahrungszubereitung im Verantwortungsbereich der Mutter liegt. Allerdings nannten viele Kinder auch pauschal die Eltern als sanktionierende In‑ stanzen, was dem Umstand Rechnung trägt, dass der Vater als ›Herr im Haus‹ (tompo-trano) angesehen wird und somit diese Sanktion letztlich verantwortet. Während sich in vielen Gesellschaften offenbar sämtliche Personen aus der lokalen Gemeinschaft an Erziehungsmaßnahmen beteiligen können (vgl. Quinn 2005: 488), war die Sanktionspraxis in den Gemeinschaften von Menamaty in ho‑ hem Maße personalisiert. Erwachsene verneinten meine Frage vehement, ob ihre Kinder auch von Personen jenseits ihrer engeren Verwandtschaftsgruppe sanktio‑ niert werden können. Dies bestätigte sich auch an einem Konflikt mit der Lehrerin der gegen Ende meiner Feldforschung gegründeten Schule: Weil sie Schüler ge‑ legentlich geschlagen hatte, weigerten sich einige Eltern, ihre Kinder weiterhin in

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die Obhut der Lehrerin zu geben. Abgesehen vom Wechsel der Erziehungsverant‑ wortung am Ende des Kleinkindalters wurde jedes Kind in der Regel von derselben Person sanktioniert. In dieser individualisierten Ausübung unterscheidet sich die Körperstrafe von der beschämenden Verspottung (mikoraky), die von einer Gruppe ausgeübt wird, deren wechselnde Mitglieder sowohl verwandt als auch nicht ver‑ wandt sein können.

Veranlassendes Fehlverhalten Was das veranlassende bzw. das sanktionierte Verhalten betrifft, so geben die von 64 Kindern berichteten Episoden der Körpersanktion einen Anhalt: Mit 26 Fällen erzählten sie am häufigsten, dass sie eine aufgetragene Aufgabe oder regelmäßige Pflichten verweigert bzw. versäumt hätten. Das Spektrum umfasst u.a. die Ver‑ säumnisse, Wasser oder Brennholz zu holen, Reis zu stampfen, für die Familie zu kochen, Rinder oder Schafe zu hüten, Enten oder Hühner zu versorgen, Botengän‑ ge zu verrichten oder Salz im Dorfladen zu kaufen. Wurdest du schon einmal mit einem Stock geschlagen? Kannst du ein Beispiel erzählen? Als ich mich weigerte, Wasser zu holen, weil es kalt draußen war, schlug mich mein Vater. Ich fürchtete mich (matahotsy), war wütend (maseky) und schmollte (mimotso). Aus Furcht (tahotsy) gab ich aber keine Widerworte. (Gory, w 9) Einmal suchte ich zusammen mit einem anderem Jungen und meinem Vater Wurzeln im Wald. Ich brachte mit meinem Freund die Wurzeln ins Dorf und kehrte dann nicht wieder zu meinem Vater in den Wald zurück. Deshalb wurde ich später von ihm geschlagen. Der Großvater tröstete mich später. (Batay, m 7, Mutter verstorben) Einmal bekam ich die Aufgabe, Maniok zuzubereiten, doch ich ging stattdessen zum Fluss, um zu fischen. Nachdem ich heimgekommen war, wurde ich von meiner Mutter Meny [bzw. Adoptivmutter] geschlagen. Ich fürchtete mich (matahotsy) und war wütend (maseky), ließ mir aber nichts anmerken und sagte nichts. (Blandy, w 8)

Weitere zehn Sanktionsepisoden wurden durch ein nachlässiges Verhalten oder Handeln verursacht. So berichteten Kinder, dass sie geschlagen wurden, weil sie ein Kleidungsstück beim Baden verloren, Reis verschüttet, beim Hüten Rinder aus den Augen verloren oder die Tiere nicht von den Feldern ferngehalten hatten. Etwa im Alter von Mapoava [m 12] hütete ich unsere Rinder für den Ochsenkarren. Nach einer Weile band ich sie fest und entfernte mich von ihnen, um zu spielen. Als ich zurückkam, waren sie verschwunden. Als ich abends nicht heimkehrte, weil ich immer noch nach ihnen suchte, kam mein Vater Simon zu mir und schlug mich, bis wir im Dorf ankamen. Aus Furcht (tahotsy) machte ich mir dabei in die Hose und später wollte ich nichts essen. Ich war auch sehr wütend (maseky), zeigte es aber nicht. Außerdem blickte ich grimmig drein (mihindrotsy) und schmollte (mimotso). Ich war wütend auf meinen Vater, weil es nicht meine Schuld gewesen war, dass die Rinder verloren gegangen waren. (Moray, m 14)

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Aus diesen Episoden geht hervor, dass das Fehlverhalten hier im Unterschied zur Weigerung nicht beabsichtigt ist. Ein derart hoher Anspruch eigenverantwortli‑ chen Handelns wird den Episoden zufolge allerdings erst an Kinder im Alter von mindestens neun Jahren gestellt. Immerhin 15 Anlässe betreffen einen handgreiflichen Konflikt mit einem teils gleichaltrigen aber meist jüngeren verwandten Kind. Die Konfliktpartner hatten in der Regel dasselbe Geschlecht und waren meist Geschwister, in einigen Fällen auch Cousins oder Cousinen. Ich schlug mich mit meinem Freund Magnaly und deshalb sprach sein Vater mit meinem Vater und sagte ihm: »Es ist nicht gut, wenn sich die beiden so häufig streiten, weil sie ja ›Brüder‹ [bzw. Cousins] sind.« Während sie sprachen, gab ich Magnaly einen Fußtritt und wurde darum von meinem Vater geschlagen und bekam später nichts zu essen. (Batay, m 7) Als ich mit Freundinnen am Fluss spielte, ärgerte ich die kleineren Kinder, darunter meine kleine Schwester. Sie erzählte es unserem Vater und dieser schlug mich dann. Ich trotzte still (mikenjy) und war wütend im Bauch (maseky amin’ny troky). (Pelatay, w 11) Ich stritt mich mit meinem Bruder um Heuschrecken, die wir gemeinsam gesammelt hatten. Der Vater bemerkte es und verprügelte uns beide. Wir konnten aber entwischen, und als wir später wieder nach Hause kamen, wurden wir noch einmal geschlagen. (Jean-Lava, m 8)

Wie ein Beispiel zeigt, können Kinder offenbar auch dafür sanktioniert werden, dass sie andere, verwandte Kinder, die ernsthaft miteinander kämpfen, nicht davon abhalten. So erzählte der zehnjährige Leonardo: Als wir ›im Busch‹ eine kabosy [Musikinstrument ähnlich einer Gitarre] bauten, begannen sich Jean-Lava [m 8] und Nestor [m 9] zu schlagen, während ich und Zazamana [m 12] zusahen und die beiden anfeuerten [alle vier sind Cousins]. Dann kam Ferdinand [sein Onkel] vorbei und verprügelte Zazamana und mich, weil wir die beiden nicht getrennt hatten. Wie war dein Bauch? Ich fürchtete mich (matahotsy) so sehr, dass ich einen Tag lang nicht bei Ferdinand zum Essen erschien und stattdessen bei Onkel Simon aß. (Leonardo, m 10, Vater verstorben, Mutter abwesend)

Aus den Interviews mit Eltern geht hervor, dass diese auch jede Form der offenen Wutäußerung von Kindern (ab dem Alter von vier oder fünf Jahren) gegenüber Au‑ toritätspersonen als vollkommen inakzeptabel erachteten und umgehend bestrafen würden. Kinder selbst nannten solche Anlässe nicht. Wie bereits angedeutet, waren jedoch Kleinkinder in einzelnen Fällen dabei zu beobachten, wie sie als Reaktion auf eine Körpersanktion ihren Arm erhoben (ohne allerdings tatsächlich zu schla‑ gen), laut schrien oder eine Beleidigung äußerten (z.B. hany tainao, friss deinen Kot). Einigen der oben zitierten, und vielen weiteren Berichten zufolge empfanden auch ältere Kinder durchaus Wut gegenüber der sanktionierenden Person, aller‑ dings betonten sie zugleich, dass sie diese aus Furcht verbargen oder nur indirekt zeigten. Ich gehe davon aus, dass die interviewten Kinder bereits gelernt hatten, ihre Wut gegenüber Autoritätspersonen zu unterdrücken. Der Grund für einen derart raschen ›Lernerfolg‹ liegt auf der Hand: Sanktionierende Personen sind bei

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diesem Fehlverhalten naturgemäß stets präsent und können ihre Autorität umge‑ hend und konsequent zur Geltung bringen.2 Das meiste von Kindern beschriebene Fehlverhalten ereignete sich hingegen bei Abwesenheit von Autoritätspersonen. Zu betonen ist, dass Eltern das aggressive Verhalten ihrer Kinder nicht in jedem Fall sanktionierten – vor allem dann nicht, wenn die streitenden Kinder nicht mit‑ einander verwandt sind. Aus einigen Äußerungen geht hervor, dass Eltern ihre Kinder mitunter sogar zur Gegenwehr ermuntern und für einen ›feigen‹ (malia) Rückzug aus einem Peer-Konflikt sanktionieren: Wenn sich das eigene Kind nicht wehrt, nachdem es von seinen Feinden (arahamba) geschlagen wurde, muss es der Vater schlagen. Er sollte ihm dabei erklären, dass es sich gegen die anderen Jungen wehren muss. Nur so lernen die anderen Kinder, sich vor meinem zu fürchten (matahotsy). (Marojaony, m 70, 8 Kinder, 14 Enkel, 3 Urenkel, verheiratet) Einmal wollten sich meine Freunde mit mir schlagen, doch ich fürchtete mich (matahotsy) und rannte zu meinen Eltern. Mein Vater verprügelte mich dann aber und sagte: »Ein richtiger Mann muss sich verteidigen.« Meine Mutter tröstete (mitambitamby) mich danach. (Fidely, m 11)

Sechs weitere, allerdings ausschließlich von Jungen berichtete Anlässe für Stock‑ hiebe betrafen Diebstahl von Nahrungsmitteln, Süßkartoffeln oder Hühnern. Ich klaute etwas Essbares aus der Hütte meiner Großeltern und wurde dafür von meinem Großvater geschlagen. Außerdem drohte er mir mit der Axt. Wie war dein Bauch? Ich war erschrocken (mivadim-po) und fürchtete mich (matahotsy). (Piso, m 5, Vater verstorben) Einmal klaute ich zusammen mit [meinen Cousins] Jean-Lava [m 8], Gisimety [m 5], Tatovy [m 9] und Piso [m 5] ein Huhn von Lejo [entfernt verwandter Onkel]. Sonia [w 12, Lejos Tochter] entdeckte dies und erzählte es ihrem Vater. Wir versteckten uns eine Weile am MenaMaty [nahegelegener Fluss] und als wir irgendwann ins Dorf zurückkamen, wurde Jean-Lava von seiner Mutter Ziny geschlagen. Da ich lachte, wurde ich von Ziny gekniffen. (Nestor, m 9, Eltern verstorben)

Das Stehlen von Hühnern wurde in Gesprächen mit Jugendlichen als Übung für das Stehlen von Schafen in der Jugend und Rindern im frühen Erwachsenenalter beschrieben. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie sich die Sanktions‑ praxis mit der Verbreitung des Viehdiebstahls verträgt. Zunächst bemerkten El‑ tern, dass die Prügel nicht zu einer nachhaltigen Unterbindung des Stehlens füh‑ ren. Vielmehr scheint die Sanktion lediglich dazu beizutragen, dass Jungen ihre Aktivitäten besser verheimlichen und zunehmend bei nicht verwandten Nachbarn stehlen. Den Narrativen zufolge stahlen Kinder vornehmlich bei der Familie ihrer arahamba. Kinder, die bei Nachbarn klauen, werden nach Auskunft der befragten 2 | Vgl. dazu Morton (1996: 187): »Tongan children do remain aggressive within their peer group and with younger children, but they learn very quickly that any form of violence directed toward higher-status persons will be swiftly and often severely punished.«

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Eltern nur dann sanktioniert, wenn sich das Kind von dem Betroffenen erwischen lässt und dieser von den Eltern eine Entschädigung fordert. Einige Eltern meinten, dass sie selbst in diesem Fall das Kind nicht bestrafen, sondern sich lediglich bei dem Nachbarn entschuldigen würden. Die zweite wichtige Sanktionspraxis in der Kindheit, nämlich der Nahrungsent‑ zug, wird durch eine ähnliche Bandbreite an Fehlverhalten veranlasst wie die Strafe mit dem Hirtenstock, und in einigen Berichten treten diese beiden Sanktionsfor‑ men auch gemeinsam auf. Auffällig war jedoch, dass ein Großteil der befragten Kinder (21 von 33) ein Nahrungsbezogenes Fehlverhalten als Anlass beschrieben. Beispielsweise hätten sie sich geweigert, Reis zu schälen oder zu kochen. Damit dient diese Sanktionsform offenbar in erster Linie dazu, Kindern spürbar zu ma‑ chen, dass der Nahrungskonsum eine Beteiligung an der Nahrungsherstellung voraussetzt. Zusammenfassend sind folgende Charakteristika der Sanktionsanlässe in der Kindheit festzuhalten: Anders als bei Kleinkindern, die nur zur Unterlassung eines bestimmten Verhaltens sanktioniert werden, wird bei Kindern ab etwa fünf Jahren die Sanktionierung auch dazu eingesetzt, sie zur Verrichtung von Aufgaben und Pflichten zu motivieren, die sie von sich aus nicht anstreben würden. Aus einigen Episoden geht hervor, dass Kinder ihre Pflichten vernachlässigten oder Aufgaben verweigerten, weil sie zu müde waren, lieber spielen wollten oder schlicht keine Lust hatten, sie zu erfüllen. Auch die Übertretung von Verboten wie Diebstahl in der eigenen Familie oder Aggressionen gegenüber Verwandten wird ab diesem Al‑ ter streng sanktioniert. Die zu erlernenden Normen bleiben jedoch sozial situiert, d.h., bestimmte Verhaltensweisen wie Diebstahl oder Handgreiflichkeiten werden nicht generell sanktioniert, sondern nur dann, wenn sie innerhalb der Verwandt‑ schaftsgruppe auftreten. Wie sich noch zeigen wird, ist dies von zentraler Bedeu‑ tung für die Entwicklung der Wutemotionen.

Sanktionshandlung Die Sanktionshandlung selbst besteht darin, dem Kind mit einem Gegenstand eine Reihe von Hieben auf die Gliedmaßen, insbesondere die Oberschenkel zu verset‑ zen. Der Kopf ist hierbei fady (≈ tabu), da dies, so die Erklärung, zu schädlichen Verletzungen führen könnte. Typischerweise kommt der namensgebende Hirten‑ stock (kobay) zum Einsatz, den Männer häufig bei sich tragen oder in einer Ecke des Wohnraums auf bewahren. Der kobay kann allgemein als Symbol männlicher Dominanz betrachtet werden, da er auch zur Kontrolle von Rindern und als Waffe dient. Wie bereits im Zusammenhang mit der Schamsozialisation erwähnt, werden Kinder nach Möglichkeit im Haus der Eltern oder außerhalb des Dorfes gezüchtigt, um es vor einer beschämenden Erfahrung vor seinen Peers zu bewahren.3 Das 3 | Von einer ähnlichen Praxis in Ghana berichtet Quinn (2005: 498): »Mfantse told me, in certain terms, that shaming a child publicly would never happen. They regarded public awareness of beatings (which ordinarily occurred within houses or courtyards, but within earshot and sometimes eyeshot of those outside the household) as redounding positively on the reputation of whoever administered the beating, showing that the child was being properly socialized. But to publicly air the nature of the child’s infraction, in order to shame the child, would be to violate local notions of what was a household’s private business.«

10. Praktiken und Er fahrungsmuster der Körpersanktion

Kind in einem fremden Haus zu schlagen, gilt als fady, was sich einige Kinder auch zunutze machten, indem sie in ein anderes Haus flüchteten. Im Unterschied zur leichten Körpersanktion im Kleinkindalter erfolgt die Körperstrafe in der Kindheit nicht zwangsläufig unmittelbar auf das Fehlverhalten, sondern auch, wie aus eini‑ gen Episoden hervorgeht, erst mit einiger Verzögerung, etwa am Abend, wenn das Kind auf den Vater trifft. Die Interviews deuten darauf hin, dass die körperliche Züchtigung ein hohes Maß an Intensität erreichen kann. Mehreren Eltern zufolge solle man solange schlagen, bis der Arm müde sei oder bis das Kind zu schreien aufhöre. Nur so könne man ein Kind wirklich dauerhaft abschrecken (mavaivay). Auch die Jugend‑ lichen, die eine Sanktionserinnerung wiedergaben, vermittelten die Intensität die‑ ser Praxis: Wurdest du als Kind geschlagen? Kannst du ein Beispiel erzählen? Einmal wurde ich beim Hühnerklauen erwischt. Mein Großvater Tongavelo fragte mich dann, ob ich mit nach Iloto [Nachbardorf] kommen wolle. Doch dies war nur ein Vorwand und ich wurde im Wald von meinem Großvater mit einem Stock geschlagen. Er hörte erst auf, als sein Arm zu müde wurde. Wie war dein Bauch? Ich dachte, er würde mich töten. Bis heute fürchte (matahotsy) ich ihn sehr. (Rihira, m 20, 1 Kind, verheiratet) Als ich ein Kind war, hütete ich die Rinder für den Ochsenkarren und nach einer Weile band ich sie fest, um zu spielen. Dabei fraßen die Rinder jedoch auf einem Reisfeld, und der Besitzer informierte meinen Vater. Dieser schlug mich so heftig, dass man an meinem Bein Wunden sehen konnte. Wie war dein Bauch? Ich war sehr wütend (maseky), zeigte es aber nicht, sondern weinte nur leise. Als ich dann in den Wald ging, um die Rinder zu holen, folgte mir meine Tante und tröstete mich (mitambitamby). (Kabo, m 18) Als ich noch klein war, stritt ich mich mit meiner Schwester und schlug ihr schließlich mit einem Becher ins Gesicht, sodass sie blutete. Mein Vater bemerkte es und wurde zornig (meloky) aber ich konnte flüchten. Dann erwischte mich mein Vater doch und schlug mich so heftig, dass ich nicht einmal weinen konnte und kaum noch Luft bekam. Schließlich hörte der Vater auf, weil er befürchtete, dass ich sterben würde. Seitdem wurde ich nicht mehr von meinem Vater geschlagen, bis er starb. Wie hast du reagiert? Ich sagte am Anfang zu meinem Vater, dass er aufhören solle. Aber als er dann erst recht weiter machte, wurde ich äußerlich ruhig und sehr wütend in meinem Bauch (maseky amin’ny trokiko). Ich dachte, dass mein Vater mich wohl nicht sehr liebt, weil er nur mich und nicht meine Schwester geschlagen hatte. (Rapesa, w 19)

Bei diesen Schilderungen von Jugendlichen ist allerdings zu bedenken, dass sie besonders intensive Erfahrungen widerspiegeln dürften, die ihnen am stärksten in Erinnerung geblieben sind. Auf der anderen Seite garantiert die Intensität der

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Sanktionserfahrung, wie mehrere Eltern erklärten, dass sich Kinder dauerhaft da‑ ran erinnern. Neben der physischen Handlung beinhaltet die Körperstrafe auch ein spezifi‑ sches emotionales Ausdrucksverhalten und verbale Äußerungen, welche die Sank‑ tionserfahrung mit einer spezifischen Bedeutung versehen. Sowohl Erwachsene als auch betroffene Kinder hoben hervor, dass die Körperstrafe aus Zorn bzw. Wut (heloky, seky) resultiere: Deinem Kind unterläuft ein Fehler beim Rinder- oder Schafehüten. Wie gehst du damit um? Die Eltern werden zornig (meloky) oder sagen zu einem Jugendlichen, dass er verschwinden solle. Aus Wut (seky) oder Zorn (heloky) schlägt man ein Kind. Ältere Kinder sind meist folgsam, da sie bereits wissen, dass die Eltern leicht zornig werden, und sich davor fürchten (matahotsy). (Jean-Pierre, w 35, 4 Kinder, verheiratet)

Hinzu kommen Äußerungen, die insbesondere in der Form einer Androhung wei‑ terer Konsequenzen das Ausdrucksverhalten unterstreichen. So berichteten einige Eltern, sie würden ihrem Kind damit drohen, es im Falle wiederholten Fehlverhal‑ tens zu töten. Wie den oben zitierten und weiteren Erfahrungsberichten zu entneh‑ men ist, schienen Kinder derartige Drohungen tatsächlich wörtlich zu nehmen. Vor dem Hintergrund derartiger Drohungen dürfte die Körperstrafe über die aku‑ ten Schmerzen hinaus als existenzielle Bedrohung erlebt werden. Die Einbettung der Körpersanktion in Kontexte aus Wutexpressionen und ver‑ balen Äußerungen macht auch nachvollziehbar, weshalb das bloße Schimpfen (mitrivotsy, teny mafy) von Eltern nicht als eigenständige Erziehungsmethode, sondern vielmehr als Bestandteil der Körpersanktion beschrieben wurde:4 Indem Kinder Wutäußerungen zusammen mit der Körpersanktion erleben, dürften sie die Funk‑ tion eines hochgradig affizierenden Signals erhalten, das Kindern erlebte Sanktio‑ nen in Erinnerung ruft und ihnen die Gefahr einer Wiederholung vergegenwär‑ tigt. Im alltäglichen Sprachgebrach benutzten Kinder und Erwachsene häufig das Wort seky (Wut) pars pro toto für die Körperstrafe. Wie bereits angemerkt, bezieht sich zudem die Bezeichnung für Strafe – voaseky – (wörtlich: von Wut getroffen) auf diese Emotion. Dieser Sprachgebrauch weist auf eine direkte semantische Ver‑ knüpfung zwischen Emotionsausdruck und der damit signalisierten Sanktion hin. Ich gehe deshalb davon aus, dass verbale Äußerungen in einem barschen Ton oder ein mimischer Wutausdruck für die Kinder von Menamaty genauso die Gefahr einer Prügelstrafe signalisierten, wie etwa der demonstrative Griff nach einem Stock, einer Axt oder einem Speer. Die ›Überzeugungskraft‹ dieser Ausdrucksfor‑ men war immer wieder zu beobachten, wenn Kinder umgehend furchtsam darauf reagierten.5 Hieraus erklärt sich auch die Beobachtung, dass Drohungen wesent‑ lich häufiger zum Einsatz kamen als tatsächliche Körpersanktionen. 4 | Auch Mortons (1996: 188) Untersuchung der Erziehung auf Tonga hat ergeben, dass die Befragten, die ebenfalls die Körperstrafe als Erziehungsmethode favorisierten, die Praxis des Schimpfens gleichermaßen nicht als eigenständige Sanktion auffassten. 5 | Selbst mein Forschungsassistent Etienne demonstrierte die Wirksamkeit solcher Ausdrucksformen: Bei unseren abendlichen Transkriptionsarbeiten fanden sich häufig zahlreiche Kinder ein, die offenbar gelernt hatten, dass von uns keine Gefahr ausgeht – zumal wir um ein gutes Vertrauensverhältnis zu ihnen bemüht waren und dabei offenbar unseren Sta-

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Aus den Gesprächen geht auch hervor, dass Eltern die Sanktion teilweise im Nachhinein dem Kind gegenüber erläutern oder legitimieren, indem sie ihm bei‑ spielsweise sagten: »Ich bin ein Gott für dich, ohne mich würdest du nicht exis‑ tieren«, oder: »Du lebst nur durch mich, deshalb musst du folgsam sein«. Mit derartigen Äußerungen bieten Eltern ihren Kindern offenbar Gelegenheiten, ihre konkrete Erfahrung der Körperstrafe mit dem generellen Modell hierarchischer Beziehungen, wonach Kinder durch die Eltern leben und deshalb zu Folgsamkeit verpflichtet sind, in Verbindung zu bringen. Wie weiter unten noch ausführlicher zur Darstellung kommt, übernahm auch häufig eine dritte Person, etwa die Mut‑ ter, die Aufgabe, dem Kind die Bedeutung einer erlebten Körpersanktion zu ver‑ mitteln und es zugleich zu trösten (mitambitamby). Der Nahrungsentzug (malay sakafo) als zweite Sanktionspraxis in der Kindheit wird häufig in Kombination mit Sanktion des Schlagens angewandt. Meist ist die Abendmahlzeit betroffen. Wie aus einigen Erfahrungsberichten hervorgeht, sollen Kinder bei den Speisenden sitzen bleiben, jedoch konnte ich mehrfach beobachten, wie sich Kinder nach dem Verbot davonmachten. In einer Erzählung wurde der Va‑ ter sogar zornig, weil sich das betroffene Kind nicht dazusetzen wollte. Eine soziale Ausgrenzung steht bei dieser Sanktion also nicht im Vordergrund. Die folgenden Berichte vermitteln einen Eindruck dieser Sanktionsmethode: Wurde dir schon einmal Essen entzogen (malay sakafo). Kannst du ein Beispiel erzählen? Als ich noch klein war, verlor ich beim Hüten einige Rinder, weil ich zwischendurch gespielt hatte. Mein großer Bruder Tsangasoa schimpfte mit mir und sagte, dass ich nichts zu essen bekommen werde, weil die Rinder die Quelle des Lebens sind. Mein Herz war verletzt (voa fo). Ich legte mich sofort schlafen und schmollte (mikenjy) auch am nächsten Morgen noch. Ich fand die Rinder dann wieder. Seitdem habe ich nie wieder Rinder beim Hüten verloren. (Justin, m 19) Als ich mich als Kind einmal weigerte, Wasser zu holen, schimpfte meine Mutter mit mir. Das machte mich wütend (maseky) und deshalb weigerte ich mich, ins Haus meiner Mutter zu treten. Die Mutter verweigerte mir daraufhin das Essen, sodass ich bis zum nächsten Morgen hungrig blieb. Das schreckte mich ab (vaivay) und ich nahm mir vor, nie wieder so zu handeln. (Rapesa, w 19) Ich weigerte mich einmal, Feuerholz zu holen, da ich müde war. Mein Vater erledigte es also selber und sagte: »Du existierst nur durch mich, wenn du mir nicht hilfst, bekommst du auch nichts zu essen.« Später rief er mich doch zum Essen, aber ich wollte nun selbst nicht mehr essen, weil ich einen schmutzigen Bauch (maloto troky) hatte. (Tsabira, m 14)

An dieser Stelle sei an die Ausführungen im 8. Kapitel erinnert, wonach Kinder schon in den ersten Lebensjahren Gelegenheiten haben, das Erhalten von Nahrung als eine zentrale Dimension ihrer Beziehung zur Mutter und zu anderen Erwachse‑ tus als Autoritätspersonen eingebüßt hatten. Einmal wünschten wir aber doch etwas mehr Ruhe und ich bat die Kinder, uns alleine zu lassen – allerdings ohne Erfolg. Daraufhin sprang Etienne plötzlich auf und griff nach einem Stock. Die Kinder ergriffen umgehend die Flucht und näherten sich uns in den nächsten Tagen nur zögerlich wieder an.

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nen zu erkennen. Mit der Praxis des Nahrungsentzugs knüpfen Eltern offensicht‑ lich an diese soziale Bedeutung der Nahrung an und verdeutlichen Kindern, dass die Nahrungsgabe nur unter der Bedingung von Folgsamkeit und Hilfsbereitschaft erfolgt.

Emotionale Reaktionen der Betroffenen Nun stellt sich die zentrale Frage nach den Reaktionen der Kinder auf Körpersank‑ tionen. Auch hierbei ist wiederum zwischen den stärker normativ konnotierten Perspektiven der sanktionierenden Personen und den erfahrungsbezogenen Er‑ zählungen der betroffenen Kinder zu unterscheiden. Neben der übergreifenden Intention, dem Kind Folgsamkeit und Vernunft beizubringen, begründeten Eltern die Körpersanktionierung in erster Linie damit, dass sie ihre Kinder abschrecken (mavaivay) oder ihnen Furcht einflößen (mahatahotsy) wollten. Das Konzept vaivay beschreibt eine Verhaltensänderung infolge der Erfahrung von körperlichen Schmerzen. Zwar wird vaivay meist im Kontext der Kindeserziehung verwendet, jedoch kann es sich auch auf Tiere beziehen. Wenn die Kinder beim Arbeiten stören und man sie dann schlägt, hören sie auf damit, weil sie nun vaivay sind. Oder: Während man ein Maniokfeld hütet, kommt ein Wildschwein, um Maniok zu fressen. Wenn man das Wildschwein mit einem Speer verletzt, wird es vaivay und kommt deshalb nicht wieder. (Resa, m 19)

Während vaivay also in erster Linie eine Verhaltensmodifikation beschreibt, be‑ ziehen sich Eltern mit mahatahotsy (›Furcht einflößen‹) auf ein emotionales, moti‑ vierendes Pendant. Die Interviews mit Eltern zu ihrem Sanktionsverhalten zeigen, dass sie das Einflößen von Furcht als integralen Bestandteil der Körperstrafe be‑ trachten: Dein Sohn weigert sich, eine Aufgabe zu verrichten. Wie gehst du damit um? Wenn mein Sohn Kalipa [m 5] sich weigert, eine Aufgabe zu verrichten, schlage ich ihn. Würde ich ihn nicht schlagen, würde sich Kalipa weiterhin weigern, weil er dann nicht lernen würde, mich zu fürchten. (Bruno, m 40, 4 Kinder, verheiratet) Dein Kind verhält sich respektlos. Wie gehst du damit um? Man erklärt ihm die Regeln des Respektverhaltens. Wenn es sich aber immer wieder respektlos verhält, muss man es schlagen. Jugendliche kann man in diesem Fall verstoßen. Allerdings passiert dies viel seltener bei Mädchen. Sie sind anständiger und folgsamer, weil sie sich leichter fürchten (matahotsy). Jungen muss man aus diesen Gründen häufiger schlagen. (Tsivola, w 40, 3 Kinder, 1 Enkel, verheiratet) Dein Sohn weigert sich, Feuerholz zu sammeln. Wie gehst du damit um? Man flößt dem Kind Furcht ein (mahatahotsy), indem man einen Stock holt und damit droht, es zu schlagen. Die Mutter kann dem Kind dann mit dem Zorn (heloky) des Vaters drohen. (Sinaotsy, m 50, 6 Kinder, 4 Enkel, verheiratet)

10. Praktiken und Er fahrungsmuster der Körpersanktion Man schimpft mit ihnen und fragt: »Soll ich einen ›Bart‹ 6 holen?« Kinder sollten vor allem ihre Väter fürchten (matahotsy). (Rafaratsa, w 50, unverheiratet) Dein Kind gibt Widerworte. Wie gehst du damit um? Die Eltern sind zornig (meloky), schlagen das Kind und sagen ihm, dass man es beim nächsten Mal noch stärker schlagen werde. Dies bereitet dem Kind Furcht (tahotsy), und so lernt es Respekt (fiasia). (Marojaony, m 70, 8 Kinder, 14 Enkel, 3 Urenkel, verheiratet)

Aus der Erfahrungsperspektive der Kinder bestätigt sich diese Emotion als Kon‑ sequenz der Körpersanktion: In den Interviews zur erlebten Körpersanktion be‑ richtete die Mehrheit der Kinder, die ihre Emotionen thematisierten, dass sie sich gefürchtet (matahotsy) hätten, ihnen bange gewesen sei (mivadim-po), sie vor Angst gezittert hätten (mangitikitiky) oder davonrannten: Wurdest du schon einmal geschlagen. Kannst du ein Beispiel erzählen? Als ich mich einmal weigerte, Kaffee zu kaufen, wurde ich von meiner Mutter sehr stark geschlagen. Ich fürchtete (matahotsy) mich so sehr, dass ich mir in die Hose machte. Ich nahm mir vor, das nächste Mal sofort Kaffee zu kaufen, wenn es von mir verlangt wird. (Gogoly, m 10, Vater unbekannt) Nachdem ich mit meinen Freunden zwei Hühner von Velosoa [seiner Tante] geklaut hatte und erwischt wurde, schlug mich mein Großvater so heftig, dass ich vor Furcht (matahotsy) in die Hose machte. (Nestor, m 9, Eltern verstorben) Ich wurde von meinem Vater Simon geschlagen, nachdem er mich dabei erwischt hatte, wie ich mich mit meinen Geschwistern schlug. Wie war dein Bauch? Ich fürchtete mich (matahotsy) und sagte mir, dass ich das nie wieder tun werde. (Susany, w 6) Ich weigerte mich, für meine Mutter Petroleum zu kaufen und wurde deshalb von ihr geschlagen. Ich fürchtete mich so sehr (matahotsy), dass ich nicht zu meinen Eltern zum Essen kam. (Lidia, w 9) Als ich mich weigerte Feuerholz zu holen, schlug mich meine Mutter. Wie war dein Bauch? Ich zitterte vor Furcht (mangitikitiky tahotsy) und war wütend (maseky). Ich sagte mir: »Nun werde ich spielen gehen, damit ich nicht weiter geschlagen werde.« (Kalipa, m 5)

Neben der expliziten Nennung der Furcht beschrieben viele Kinder auch Verhal‑ tensweisen, die als Handlungstendenzen dieser Emotion zu verstehen sind. So be‑ richteten sie von Versuchen, der Sanktion durch Flucht oder durch eine längere Meidung der Sanktionsperson zu entgehen. Wiederholt erzählten Kinder auch, sie

6 | Mit dem Ausdruck ›Bart‹ ist in diesem Kontext, wie mir die Gesprächspartnerin erklärte, der Vater des Kindes gemeint, der es schlagen würde.

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hätten nach der Körperstrafe den Entschluss gefasst, jedes Fehlverhalten in Zu‑ kunft zu unterlassen, um sie nicht ein weiteres Mal erleben zu müssen. Dass die Körpersanktion eine zentrale Rolle für die Erfahrung von Furcht in der Kindheit spielt, bestätigen auch die Interviews mit 48 Kindern zu ihren inten‑ sivsten Erfahrungen von tahotsy. Warst du schon einmal sehr matahotsy? Kannst du uns ein Beispiel erzählen? Ich war matahotsy, als mich meine Mutter mit einem Stock verfolgte. Sie war zornig (meloky), weil meine Haarspange beim Hinfallen zerbrochen war. Ich getraute mich an diesem Abend nicht (tsy mahasaky) mehr zu meiner Mutter und schlief deshalb bei Rafaratsa [ihrer Tante]. (Susany, w 6)

Wie in diesem Narrativ führten 20 Kinder ihre tahotsy-Erfahrung auf eine aktuelle oder drohende Körpersanktion zurück. Angesichts der Praxis, Kindern durch Drohungen im Vorfeld oder während der Körpersanktion den Eindruck zu vermitteln, dass ihr körperliches Wohl oder gar ihr Leben in Gefahr sei, ist die Erfahrung akuter Furcht im Rahmen der Körper‑ sanktion ohne weiteres nachvollziehbar. Damit ist die lokale Praxis der Körpersank‑ tion ohne Zweifel auf die Hervorbringung einer intensiven affektiven Erregung ausgelegt, die aus der Sicht von Quinn (2005: 491f) als zentraler Mechanismus der Sozialisation von Kindern anzusehen ist. Über die von Eltern intendierte und von Kindern bestätigte Furchterfahrung hinaus erlebten Kinder offenbar regelmäßig noch eine andere Emotion in Reaktion auf die Körpersanktion. Die Mehrheit der Kinder erzählte, dass sie Emotionen der Wut gegenüber der sanktionierenden Person verspürten. Furcht und Wut schlie‑ ßen sich in diesem Kontext keineswegs aus, wie Erzählungen von zehn Kindern nahelegen, die beide Emotionen gemeinsam nannten: Ich wurde von meinem Vater geschlagen, als ich auf einen Tamarindenbaum kletterte.7 Ich fürchtete mich (matahotsy) erst und wollte davonrennen, doch mein Vater hielt mich fest. Dann wurde ich wütend (maseky). (Pilany, w 6) Als die Rinder Zuckerrohr fraßen, während ich sie hütete, wurde ich von meinem Vater Malajamana geschlagen. Ich zitterte (mangitikitiky) und wurde dann wütend (maseky) auf ihn, ließ mir aber nichts anmerken. (Batay, m 7) Als ich mich weigerte Reis zu schälen, wurde ich von meiner Mutter geschlagen. Ich fürchtete mich zuerst (matahotsy) und wurde dann wütend (maseky). Ich sagte der Mutter: »Ich will nicht mehr bei dir essen, weil du mich geschlagen hast«. (Boty, w 7)

Offenbar stehen diese beiden Emotionen in einem zeitlichen Verhältnis zueinan‑ der, wobei Kinder vor oder während der Körperstrafe Furcht empfinden und im Anschluss wütend werden. Ein ähnlicher Zusammenhang stellte sich auch bei der Verspottung heraus, auf die Kinder zunächst mit Scham, dann aber ebenfalls mit Wut reagieren. Anders allerdings als bei der von Peers praktizierten Sanktion des Verspottens agieren Kinder ihre Wut gegenüber Erwachsenen infolge einer Körper‑ 7 | Tamarindenbäume (kily) haben in der Region einen sakralen Charakter.

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sanktion nicht aus. So machten fast alle Kinder deutlich, dass sie ihre Wut verbar‑ gen oder lediglich im Bauch wütend waren (maseky amin’ny troky). Auch nannten sie häufig Emotionen aus der Gruppe der appellierenden Wut (s.  Kapitel 4), die sich durch eine Unterdrückung aggressiver Handlungstendenzen auszeichnen, als ›Bauchempfindungen‹ (z.B. mangenge troky) spürbar werden und durch ein an Be‑ zugspersonen appellierendes Verhalten ausgedrückt werden (z.B. mikenjy). Ich weigerte mich, Zucker einzukaufen und wurde dafür heftig geschlagen. Ich schmollte (mikenjy) dann und sprach mit niemandem mehr. Außerdem war ich wütend (maseky). (Namoreta, w 8) Als ich mich mit meinem kleinen Bruder stritt, sagte mein Vater zu mir: »Du hast kein Mitleid mit deinem Bruder«, und dann schlug er mich heftig. Ich weinte, mein Bauch war bedrückt (mangenge gny trokiko) und ich ging meinem Vater für eine Weile aus dem Weg. (Tsabira, m 14) Als ich einmal aus dem Nachbardorf Iloto zurückkehrte, war ich zu müde, um den Reis für das Abendessen zu stampfen. Ich kochte also nur Maniok [was als minderwertiges Nahrungsmittel gilt] für Tsimifaly [ihr Onkel]. Er wurde daraufhin zornig (meloky) und schimpfte mit mir. Das machte mich wütend im Bauch (maseky amin’ny troky) und deshalb ging ich zu meinem Großvater Marojaony. Ich wäre am liebsten nicht mehr zu Tsimifaly zurückgegangen. Tsimifaly folgte mir dann zu Marojaony und schlug mich heftig. Später stritt sich Tsimifaly auch mit seiner Frau Meny, weil sie mich in Schutz genommen hatte. Wenn ich heute daran zurückdenke, werde ich immer noch wütend (maseky) auf Tsimifaly und grolle ihm sogar ein wenig (lolom-po). (Pelamety, w 16, Vater verstorben, Mutter abwesend)

Kinder benutzten besonders häufig das Wort mikenjy, um ihre wütende Reaktion auf eine Körpersanktion zu beschreiben. Um mikenjy, das von Erwachsenen als ›Kinderkrankheit‹ bezeichnet wurde, genauer aus der Perspektive der Betroffenen zu verstehen, bat ich Kinder und Jugendliche, mir entsprechende Episoden zu er‑ zählen. Demnach erlebten bzw. zeigten Kinder mikenjy stets in Reaktion auf eine körperliche Züchtigung, auf Nahrungsentzug oder – wesentlich seltener – auf ein elterliches Verbot: Warst du schon einmal mikenjy? Kannst du uns ein Beispiel erzählen? Ich war mikenjy, weil mich meine Mutter geschlagen hatte. Ich kam nicht nach Hause und weigerte mich, abends bei meiner Mutter zu essen. (Gory, w 9) Als ich ungefähr im Alter von Mapoava [m 12] war, ging ich mit meinem Vater in den Dorfladen. Dort sah ich etwas, das ich gerne haben wollte und bat meinen Vater darum, doch er kaufte es mir nicht. So begann ich mikenjy zu sein und ging nicht mit meinem Vater zurück. Als ich von meiner Mutter zum Essen gerufen wurde, antwortete ich nicht. Schließlich holte mich mein Vater mit Gewalt und zwang mich zu essen und zu trinken, indem er mich schlug. Dann wollte er mir doch etwas von dem Gekauften geben, doch ich warf es heimlich weg. Ich weinte die ganze Zeit. Mein Bauch war verdorben (lo gny trokiko). (Kabo, m 18)

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen Als ich zu spät zum Essen kam, sagte Rafaratsa [seine Tante]: »Du bekommst heute nichts mehr zu essen«. Dann kam ich zu euch. Ich war wütend (maseky) und sagte mir: »Wenn meine Tante nochmal zornig (meloky) auf mich wird, werde ich wieder mikenjy sein. (Tatovy, m 9, Vater verstorben, Mutter abwesend)

Von 25 Kindern, die uns ihre mikenjy-Erfahrung anvertrauten, berichteten die meisten (21), dass sie sich geweigert hätten, bei der Person zu essen, von der sie sanktioniert worden waren. Darüber hinaus erzählten einige Kinder, sie hätten nicht mehr mit der sanktionierenden Person gesprochen, diese für eine Weile ge‑ mieden oder sogar mit dem Gedanken gespielt, sie gänzlich zu verlassen: Nachdem ich von meinem Vater geschlagen worden war, wurde ich wütend (maseky) und mikenjy. Ich ging nicht zu meinem Vater ins Haus und weigerte mich, zu Hause zu essen. Meine Mutter beruhigte (mitambitamby) mich dann aber. (Fola, m 9) Ich war mikenjy, als ich von meinem Großvater geschlagen wurde. Ich wollte nichts essen, weinte und rannte in den Wald. Ich habe an diesem Abend nichts gegessen. (Zafimana, m 9, Eltern verstorben) Ich war mikenjy, nachdem mein Vater gedroht hatte, mit einem Speer nach mir zu werfen. Für mehrere Tage ließ ich mich nicht bei ihm blicken und ich dachte in dieser Zeit daran, zu meiner Mutter zu gehen. (Sezina, m 15, Mutter abwesend)

Mehrmals trafen wir im Dorf Kinder an, die für ihr Fehlverhalten geschlagen wor‑ den waren und nach Auskunft anderer Kinder mikenjy waren. Batay etwa, einen sechsjährigen Jungen, trafen wir in einer ruhigen Ecke des Dorfes alleine an. Er hatte feuchte Augen und blickte ins Leere. Wir sprachen ihn an, doch er reagierte in keiner Weise darauf. Erst von anderen Kindern erfuhren wir, er sei mikenjy, weil er von seiner Mutter geschlagen worden war, nachdem er beim Spielen eines ihrer Hühner mit Steinen beworfen und so zu Tode gebracht hatte. Weder auf der Grundlage solcher Beobachtungen noch über die Bedeutungs‑ analyse war mikenjy für mich direkt nachzuempfinden. Einige Parallelen zum deutschsprachigen Konzept des kindlichen Trotzes liegen zwar auf der Hand, je‑ doch deutet das Datenmaterial auf einige Differenzen hin: Mikenjy folgt häufig auf eine intensive, teils sogar existenzielle Furchterfahrung und dürfte entsprechend mit einer starken affektiven Erregung einhergehen. Zugleich unterdrücken Kinder offensive Wutäußerungen, halten ihre Wut ›im Bauch‹ und protestieren stattdes‑ sen in einer stillen und passiven Art und Weise, indem sie Kommunikation und insbesondere auch die Nahrungsaufnahme verweigern. Entscheidend für diese Wutregulation trotz massiver Erregung, dürften die bei der Körpersanktion erlebte Übermacht der sanktionierenden Person sowie die Furcht vor einer weiteren Sank‑ tion sein. Die Wutregulation mittels Furcht lässt sich auch direkt den Darstellungen von Erwachsenen und Kindern entnehmen: Wie reagiert das Kind, wenn es geschlagen wird? Es weint oder blickt stumm vor sich hin. Es ist wütend (maseky) und fürchtet sich (matahotsy) zugleich. Deshalb gibt es dann keine Widerworte. (Simon, m 35, 6 Kinder, verheiratet)

10. Praktiken und Er fahrungsmuster der Körpersanktion Wurdest du schon einmal geschlagen? Kannst du ein Beispiel erzählen? Als ich mich weigerte, Wasser zu holen, weil es kalt draußen war, wurde ich von meinem Vater geschlagen. Ich fürchtete mich (matahotsy) und war wütend (maseky) und schmollte (mimotso). Aus Furcht (matahotsy) sagte ich aber nichts. (Jojy, w 11) Erinnerst du dich daran, wie du früher geschlagen wurdest? Kannst du ein Beispiel erzählen? Als ich beim Hüten die Rinder verlor, weil ich zwischendurch Nüsse gesucht hatte, wurde ich von meinem großen Bruder Rakoto geschlagen. Mein Bauch war schmutzig (maloto gny trokiko), ich war wütend (maseky). Weil ich noch klein war, gab ich meinem Bruder Widerworte: »Du sollst sterben.« Später unterließ ich so etwas, weil ich furchtsam (mahay tahotsy) und vernünftig (mahitsy) wurde. (Sezina, m 15, Mutter abwesend)

Wie Sezina hier andeutet und von mehreren Erwachsenen explizit gemacht wurde, setzt die Regulierung der Wut gegenüber sanktionierenden Personen erst mit Be‑ ginn der Kindheit ein, weil Widerworte (mamalivaly) erst ab dem Alter von etwa vier oder fünf Jahren konsequent sanktioniert werden. Neben diesen regulierten Wutreaktionen gegenüber Autoritätspersonen berich‑ teten sowohl Eltern als auch Kinder davon, dass sich die Betroffenen infolge der Körperstrafe mit anderen Kindern geprügelt hätten: Erinnerst du dich daran, wie du früher geschlagen wurdest? Kannst du ein Beispiel erzählen? Als ich etwa im Alter von Sonia [w 12] war, schlug ich sehr oft meine Spielkameradinnen – auch wenn sie mir nichts angetan hatten. Es war mir egal, ob sie mit mir verwandt waren oder nicht. Wenn mein Vater mitbekam, dass ich mich mit Verwandten prügelte, schlug er mich sehr heftig. Wegen der Schmerzen schlug ich dann meine Freundinnen noch stärker. (Katsavo, w 18) Wurdest du schon einmal geschlagen? Kannst du ein Beispiel erzählen? Als ich in der Küche nach Essbarem suchte und nichts fand, brachte ich alles in Unordnung. Ich wurde dann von meinem Großvater geschlagen. Danach rannte ich zu meinen Freunden, um sie zu verprügeln. Später wollte mich mein Vater trösten (mitambitamby), doch ich wollte es nicht. (Piso, m 5, Mutter abwesend) Warum hast du dich als Kind so häufig mit anderen Kindern geschlagen? Weil ich sehr oft von meinem Vater geschlagen wurde, ihn aber nicht zurück schlagen konnte. Stattdessen schlug ich die anderen Kinder. Meine beiden Söhne Manjo und Kabo [Zwillinge, m 18] prügeln sich so häufig mit anderen, weil sie es von mir ›geerbt‹ haben. Ich habe meine Kinder nämlich auch sehr häufig geschlagen. (Tsivola, w 40, 3 Kinder, 1 Enkel, verheiratet)

Offensichtlich kompensieren einige Kinder ihre unterdrückte Wut gegenüber der Sanktionsperson teilweise, indem sie die aggressive Handlungstendenz auf gleich‑ altrige oder jüngere Kinder richten.8 Wie im Abschnitt zu den Anlässen beschrie‑ ben, wird das körperliche Austragen von Konflikten zwischen nicht verwandten Kindern nicht nur toleriert, sondern zumindest bei Jungen auch aktiv befördert. 8 | Vgl. Morton (1996: 190) zu tongaischen Kindern: »I often observed that after a young child had been hit, he or she would turn to a younger sibling and report every wrongdoing, as well as threaten and hit the younger children.«

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Da handgreifliche Auseinandersetzungen zwischen verwandten Kindern, wie im Abschnitt zu den Anlässen ersichtlich, sanktioniert werden, dürften Kinder all‑ mählich lernen, ihre aggressiven Tendenzen gegenüber verwandten bzw. befreun‑ deten Kindern ebenfalls zu regulieren, worin nicht zuletzt ein Beitrag zur Aus‑ differenzierung der Peer-Relation in Freundschafts- und Feindschaftsbeziehungen zu sehen ist. Neben den emotionalen Reaktionen der Furcht und Wut nannten die 64 zu ihren Erfahrungen der Körperstrafe befragten Kinder nur vier weitere Emotionen: zweimal Traurigkeit (malahelo), einmal Bereuen (manegny) und einmal Scham (hegnatsy). Obwohl diese Emotionen als Reaktion auf die Körperstrafe naheliegen, spielen sie offensichtlich nur eine untergeordnete Rolle. Oben wurde bereits deut‑ lich, dass Eltern explizit eine Beschämung des Kindes vermeiden, indem sie dieses unter Ausschluss der Öffentlichkeit sanktionieren. Als weitere Maßnahme in die‑ ser Richtung kann die unmittelbar auf die Sanktion folgende Reintegrationsbemü‑ hung einer nahestehenden Bezugsperson betrachtet werden.

Reintegration der Betroffenen Eine als Reintegration zu bezeichnende Praxis fiel mir erstmals im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung auf: Während wir auf das Frühstück warteten, gab Maho ihrer etwa dreijährigen Tochter Lizety plötzlich einen Klaps auf den Ober‑ arm und unterstrich dies mit einem grimmigen Gesichtsausdruck. Offenbar hatte sie sich von ihrer Tochter beim Kochen gestört gefühlt. Lizety, die erst verschreckt wirkte und dann einen unglücklichen Eindruck machte, wurde daraufhin von ihrem ebenfalls anwesenden Vater Maragnitsy zu sich gerufen. Dieser tätschelte für eine Weile wortlos ihren Kopf, und sie schien sich schnell wieder zu beruhigen. Auf mich wirkte dieses divergierende Verhalten der Eltern gegenüber dem Kind inkonsequent und ich führte es spontan auf eine Uneinigkeit zwischen den Ehe‑ leuten zurück. Maragnitsy erklärte mir jedoch später, dass es sich dabei um eine verbreitete Praxis namens mitambitamby handele. Mitambitamby infolge einer Be‑ strafung sei wichtig, um zu verhindern, dass das Kind scheu (maly)9 wird und die Eltern in Zukunft dauerhaft meidet. Annähernd kann mitambitamby mit ›trösten‹, ›beschwichtigen‹ oder ›ermutigen‹ übersetzt werden. Auch in den Berichten zu ihren Sanktionserfahrungen kamen viele Kinder auf die Praxis des mitambitamby zu sprechen. In zusätzlichen Interviews mit 27 Kin‑ dern und Jugendlichen zu der Frage, ob sie bereits mitambitamby erfahren hätten, bestätigte sich die allgemeine Verbreitung dieser Praxis im Zusammenhang mit der Sanktionierung. Bis auf zwei Kinder wussten alle eine entsprechende Episode zu berichten: Wurdest du schon einmal getröstet (mitambitamby)? Kannst du ein Beispiel erzählen? Meine Mutter wollte mich zum Salzholen schicken, doch ich weigerte mich. Daraufhin schlug mich meine Mutter, weshalb ich still zu trotzen (mikenjy) begann. Meine Großmutter machte dann mitambitamby und sagte zu mir: »Geh jetzt weg, damit du nicht noch mehr von deiner Mutter geschlagen wirst.« (Tsapita, w 11) 9 | Mit diesem Ausdruck werden normalerweise ungezähmte Tiere bezeichnet.

10. Praktiken und Er fahrungsmuster der Körpersanktion Als die Rinder beim Hüten auf dem Reisfeld fraßen, wurde ich einmal von meinem Vater geschlagen. Ich musste deshalb weinen und begann, still zu trotzen (mikenjy). Mein großer Bruder Lahivao machte dann mitambitamby, indem er sagte: »Sei ruhig, Kumpel (mangina reno)!« (Sezina, m 15, Mutter abwesend) Nachdem ich als Kind eine Frau mit einem Stein beworfen hatte, wurde meine Großmutter zornig (meloky) und schlug mich. Ich begann still zu trotzen (mikenjy). Meine Tante Marovelo machte dann mitambitamby, indem sie mir ein Bonbon gab. (Tovonely, m 18)

Als Anlass des Tröstens beschrieben die meisten Kinder, dass sie weinten oder mikenjy waren, nachdem sie geschlagen worden waren. Damit kann das Trösten als Antwort auf die appellierende Wirkung des Schmollens aufgefasst werden. Auffällig ist indes, dass in jeder geschilderten Episode das Kind nicht von der sanktionierenden, sondern von einer anderen, nahestehenden Person getröstet wurde. Eine solche ›Arbeitsteilung‹ bei der Erziehung wurde von Eltern auch di‑ rekt thematisiert: Ist es die Aufgabe der Mutter oder eher die des Vaters, dem Kind das Fürchten zu lehren? Die Aufgaben werden oft aufgeteilt. Ein Elternteil wird zornig (meloky) [und sanktioniert] und der andere verweist auf den Zorn und sagt: »Er/sie wird dich schlagen, wenn du nicht folgsam bist.« Auch tröstet (mitambitamby) diese Person das Kind, wenn es geschlagen wurde. (Sinaotsy, m 50, 6 Kinder, 4 Enkel, verheiratet)

Die Mehrzahl der Kinder nannte die Mutter als tröstende Person, einige eine Groß‑ mutter oder Tante. Nur wenige Kinder erzählten, dass sie bei ihrem Vater, der großen Schwester oder dem älteren Bruder Trost gefunden hatten. Somit folgt die soziale Verteilung der sanktionierenden und tröstenden Rolle einem komplemen‑ tären Muster: Während Kinder in der Regel von ihren Vätern oder anderen männli‑ chen Verwandten sanktioniert werden, erhalten sie bei ihren Müttern oder anderen weiblichen Verwandten Trost. Es überrascht kaum, dass von den 34 Kindern, die ich auch nach den von ihnen bevorzugten Bezugspersonen fragte, mehr als zwei Drittel die tröstende und nur etwa ein Viertel die sanktionierende Person angaben. Worin besteht nun die tröstende Handlung? Nur bei Kleinkindern war noch zu beobachten, dass sie durch Körperkontakt, insbesondere durch ein relativ flüch‑ tiges Tätscheln des Kopfes getröstet wurden. Ältere Kinder erzählten wiederholt, dass sie mit einem Bonbon, einem Reisbrötchen oder mit einer Einladung zum Essen beschwichtigt wurden: Da ich es leid war, immer für meine Familie Dinge zu besorgen, weigerte ich mich eines Tages, Salz einzukaufen. Der Großvater Tongamana sagte deshalb, dass ich nichts zu essen bekommen werde. Tante Merasoa machte dann mitambitamby, indem sie mich zum Essen rief. (Vana, w 8, Eltern verstorben) Als ich mich weigerte zu arbeiten, wurde ich von meinem Großvater Tongamana geschlagen. Und meine große Schwester Razy machte mit mir mitambitamby, indem sie mir ein Bonbon gab. (Nestor, m 9, Eltern verstorben)

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Einige Kinder fühlten sich auch durch verbale Zuwendungen, durch einen Rat, wie sie in Zukunft der Sanktion entgehen könnten, oder durch eine Beistandsbekun‑ dung getröstet bzw. ermutigt: Ich weigerte mich, eine Aufgabe zu verrichten und wurde deshalb von meinem Vater Simon geschlagen. Rafaratsa [ihre Tante] machte dann mitambitamby, indem sie mich fragte, warum ich weine und mir dann sagte: »Mach in Zukunft einfach das, was deine Eltern von dir verlangen, dann wirst du nicht mehr geschlagen.« (Susany, w 6) Nach einer Weile der Arbeit auf dem Reisfeld wurde ich müde und wollte deshalb nicht mehr weiter arbeiten. Daraufhin schlug mich meine Mutter und ich begann zu weinen. Dann kam mein Bruder Fagnomeza und machte mitambitamby, indem er mir versprach, eine [Spielzeug-] Axt für mich herzustellen, damit ich mich in Zukunft besser verteidigen könne. (Kabo, m 18) Als ich versehentlich Reis verschüttete und mein Vater mich dafür schlug, sodass ich still trotzte (mikenjy), rief mich meine Mutter zu sich und sagte: »Ich werde dich vor dem Zorn (heloky) deines Vaters beschützen.« (Fola, m 9)

Bemerkenswert ist, dass die tröstende Person teilweise regelrecht für das Kind Partei ergreift und sich mit ihm gegen die sanktionierende Person positioniert. Zahlreiche von Kindern referierte verbale Äußerungen der tröstenden Person ver‑ mitteln dem Kind darüber hinaus, dass sich die erfahrene Körperstrafe lediglich auf sein Fehlverhalten bezieht und sich zukünftig durch Wohlverhalten vermeiden lässt. Damit wirkt diese Praxis offenbar der Möglichkeit entgegen, dass Kinder die Prügelstrafe als beschämende Ablehnung ihrer Person durch das gesamte soziale Umfeld erfahren, und sie hilft ihnen zugleich, diese Erfahrung auf das eigene, situative Handeln und den Zorn spezifischer Autoritätsfiguren zurückzuführen.10

H avoa (A hnensanktion) ab dem J ugendalter Betroffene und sanktionierende Personen Ab dem Jugendalter stellen Autoritätspersonen jede Form direkter Körpersanktion ein. Dies geht eindeutig aus Aussagen von Eltern und von Jugendlichen hervor. Zu‑ dem wurde keiner der mir bekannten Jugendlichen aus Menamaty während meiner Feldforschung körperlich gezüchtigt. Wie mehrere Eltern betonten, müssten sie bei Jugendlichen mit einer physischen Gegenwehr rechnen. Die Körpersanktion wird damit nicht nur impraktikabel, sondern birgt auch die Gefahr einer symboli‑ schen und realen Inversion der sozialen Hierarchie, da es einem Gesprächspartner zufolge dazu kommen könne, dass der Vater durch die Hand des Sohnes »auf dem Boden landet«. Vor dem Hintergrund der beschriebenen emotionalen Dynamik der Körpersanktion erscheint diese Begründung durchaus nachvollziehbar: Kin‑ der reagieren mit Wut auf die Körpersanktion und unterdrücken diese in erster Linie aus Furcht vor weiteren Sanktionen. Diese Furcht wird aber gegenstandslos, 10 | Kavapalu (1993: 318) berichtet von einer ähnlichen Praxis des Tröstens infolge der Körpersanktion auf Tonga.

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sobald Jugendliche ihren Vätern physisch ebenbürtig oder gar überlegen werden. Zwar dürften Väter ihren jugendlichen Töchtern teils körperlich überlegen sein, jedoch stehen hier der Körpersanktion die Meidungsgebote für gegengeschlechtli‑ che Verwandte entgegen, die mit der Pubertät endgültig verbindlich werden. Auch das Vorenthalten der Nahrung verliert gegenüber Jugendlichen an Effektivität, da sie in dieser Hinsicht ohnehin eine gewisse Unabhängigkeit erlangt haben. Den‑ noch bleiben Jugendliche (und Erwachsene) formal der Autorität des Vaters und der anderen Ältesten des tariky unterworfen. Es stellt sich also die Frage, ob und wie Personen ab dem Jugendalter im Fall einer Missachtung dieser Autorität sank‑ tioniert werden können. In Interviews zu den Folgen von Normverstößen im Jugend- und Erwachsenen‑ alter wiesen mich meine Gesprächspartner auf havoa hin. Wörtlich bedeutet havoa ›das Treffende‹ und es bezeichnet eine Art Verfluchung oder ›Segensentzug‹ durch erzürnte Ahnengeister, die beim Betroffenen fatale Krankheiten und andere For‑ men des Unglücks hervorrufen.11 Aus der Perspektive meiner Gesprächspartner müssen Jugendliche und Erwachsene jeden Alters mit havoa rechnen, sofern sie schwerwiegende Verbote ( fady loza) übergehen. Allerdings betonten verschiedene Gesprächspartner, dass Jugendliche besonders häufig von havoa betroffen sind, weil einige von ihnen einen harten Kopf (mahery loha) hätten oder weil ihnen die Wirkmacht von havoa noch nicht ausreichend bewusst sei. Aus emischer Perspektive treten ab dem Jugendalter also Ahnengeister (fahasivy) als sanktionierende Instanzen an die Stelle lebender Autoritätspersonen. Diese Geister haben meist eine konkrete Identität. In Abhängigkeit von den jeweiligen Umständen kann es sich dabei um den Geist des Urgroßvaters, Großvaters oder auch um den des Vaters handeln – sofern dieser bereits verstorben ist. Meist ha‑ ben die Betroffenen den strafenden Ahn noch als lebende Person kennengelernt und dessen Transformation in einen Geist im Rahmen der Bestattungsrituale mit‑ vollzogen. Vor diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, dass diese Ahnengeister durchaus als reale Personen erlebt werden. Lediglich im Fall von Verstößen gegen Nahrungstabus scheint die Identität der strafenden Ahnengeister den Betroffenen weniger deutlich zu sein. Dies kann auf den Umstand zurückgeführt werden, dass die Urheber der Tabus in der Regel viele Generationen zurückliegen.

11 | Im Standard-Malagasy, das sich vom Dialekt der Merina herleitet, ist das Wort havoa in dieser Bedeutung nicht gebräuchlich, dafür aber die Bezeichnung tody mit einem vergleichbaren Sinn. Der Monografie »Le tsiny et le tody dans la pensée malgache« (1957: 67-93) des madagassischen Pfarrers und Politikers Richard Andriamanjato zufolge ist tody ein zentraler Faktor im Denken der Madagassen. Wörtlich bedeutet tody demnach in etwa das ›Zurückkommende‹, im übertragenen Sinn bezeichnet es wie havoa eine ›übernatürliche Bestrafung‹ für Fehlverhalten. Im Unterschied zu havoa wird das tody allerdings nicht auf konkrete, zornige Ahnengeister zurückgeführt, sondern vielmehr auf eine allumfassende Ordnung, die durch Fehlverhalten ›herausgefordert‹ wird und daraufhin ›zurückschlägt‹. Diese Differenz zwischen havoa und tody mag mit einem zentralen Unterschied in der Konzeption von Ahnengeistern zusammenhängen. Während die Geister der Verstorbenen in Menamaty dezidiert als Individuen erinnert werden, besteht nach Bloch (1971) bei den Merina im Hochland Madagaskars die Tendenz, die Verstorbenen zu depersonalisieren und mit ihrem Grab bzw. Land zu identifizieren.

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Aus etischer Perspektive beruht die soziale Kontrolle ab dem Jugendalter maß‑ geblich auf einem geteilten kognitiven Modell einer übernatürlichen Sanktionie‑ rung, dem zufolge Normverstöße von Ahnengeistern mit Krankheiten bestraft werden und umgekehrt bestimmte Krankheiten als Strafe für das eigene Fehlver‑ halten erscheinen. Jedoch ist dieses Modell der Ahnensanktion in eine Reihe von sozialen Praktiken eingebunden, die einem Delinquenten verdeutlichen können, dass er tatsächlich von havoa betroffen ist. Somit übernehmen lebende Autoritäts‑ personen zumindest eine vermittelnde Rolle bei der Ahnensanktion. Während der ersten Feldforschung hatte ich Gelegenheit, solche vermittelnden Praktiken selbst zu erleben. ›Meine‹ Mutter und einige ihrer Brüder, die im Nachbardorf Kelivohitsy leben, kamen zu Besuch nach Ranomadio und luden meinen Forschungsassistenten Eti‑ enne und mich ein, mit ihnen an einem bilo (Besessenheitsritual) in Maroboly teil‑ zunehmen. Tiry, das Oberhaupt ›unserer‹ patrilinearen Abstammungsgruppe, war damit jedoch nicht einverstanden und begründete sein Verbot damit, dass die Be‑ wohner Marobolys mir mittels Schadenszauber ein Leid zufügen könnten. Da wir uns das bilo jedoch nicht entgehen lassen wollten, setzten wir uns über das Verbot hinweg und folgten der Einladung ›unserer‹ matrilinearen Verwandtschaft. Am Morgen nach meiner Rückkehr wachte ich mit einem stark geschwollenen rechten Auge sowie Ödemen am Oberkörper auf. ›Meine‹ Tante Rafaratsa ging noch am selben Tag mit mir zum ombiasa (Wahrsager und Heiler) Marojaony. Dieser befrag‑ te das sikidy (Orakel mittels Kernen, die nach einem bestimmten Verfahren gelegt werden) und kam zu dem Ergebnis, dass tatsächlich ein voriky (Schadenszauber) der Grund sei. Das Gegenmittel, mit dem mehrmals täglich mein Körper einge‑ rieben wurde, zeigte allerdings keine Wirkung. Eine weitere Befragung des sikidy deutete auf Geister der Sakalava (eine benachbarte ethnische Gruppe) hin, die wir bei der Besichtigung einer Sakalava-Grabstätte auf dem Rückweg möglicherweise verärgert hatten. Wieder brachte die entsprechende Behandlung keinen Erfolg. In‑ zwischen machte ich mir große Sorgen, weil ich noch nie zuvor derartige Symp‑ tome an mir beobachtet hatte und sie nicht einschätzen konnte. Erst beim dritten Besuch identifizierte Marojaony havoa als Ursache für die Schwellungen. Nach der Durchführung eines einfachen Opferrituals mittels Rum zur Beschwichtigung der Ahnengeister, einer Entschuldigung meinerseits sowie der Versicherung von Rafaratsa, ihren Ärger aufzugeben, verschwanden die Symptome umgehend. Nach meiner Rückkehr nach Deutschland diagnostizierte ein Hausarzt anhand von Fotografien meiner Symptome hingegen Nesselsucht.12 12 | Zu bedenken ist freilich, dass diese Episode aufgrund meiner ambivalenten Position innerhalb der Hierarchie ›meines‹ tariky einige Besonderheiten aufweist, insbesondere den Umstand, dass meine Symptome zunächst auf voriky zurückgeführt wurden. Zwar kann körperliches Leid prinzipiell als Konsequenz von voriky interpretiert werden; wie das im Folgenden zu präsentierende Datenmaterial allerdings nahelegt, werden Krankheiten solcher Personen, die sich zuvor eines Fehlverhaltens schuldig gemacht haben, stets auf havoa zurückgeführt. Mit der Diagnose havoa wird dem Betroffenen unmoralisches Verhalten und damit die Schuld an seinem Leid zugeschrieben, wohingegen mit voriky eine fremde, neidische (maimay) oder grollende (lolom-po) Person verantwortlich gemacht wird. In meinem Fall zögerten Rafaratsa bzw. der ombiasa möglicherweise deshalb mit einer havoa-Diagnose, weil sie sich nicht sicher waren, ob ich diese annehmen und damit die Autorität ›meiner El-

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Neben diesen Diagnose-Praktiken durch den ombiasa konnten ›uneinsichtige‹ Jugendliche auch durch ein Verstoßen (magnary) aus dem väterlichen tariky (Ab‑ stammungsgruppe) davon ›überzeugt‹ werden, dass sie von havoa betroffen sind. Zwar waren in den wenigen mir bekannten Fällen des Verstoßens ausschließlich Jugendliche betroffen, prinzipiell können jedoch alle Erwachsenen, mit Ausnah‑ me des Oberhaupts des tariky, verstoßen werden. Ausschließlich der Vater oder – sofern dieser unbekannt bzw. verstorben ist – ein Großvater bzw. Onkel ist dazu berechtigt, eine Tochter bzw. einen Sohn zu verstoßen. Müttern, die bereits in der Kindheit nur in Vertretung des Vaters oder einer anderen männlichen Autoritäts‑ person sanktionieren können, wird die Möglichkeit abgesprochen, ihre Kinder zu verstoßen. Zumindest bei Müttern mit ehelich gezeugten Kindern erklärt sich dies schlicht aus dem Umstand, dass sie nicht dem tariky ihrer Nachkommen zuge‑ rechnet werden. Zu beachten ist, dass Väter das Verstoßen ihrer Kinder nicht als Sanktion im eigentlichen Sinne betrachteten, sondern vielmehr als ein Auf- oder Abgeben der Erziehungsverantwortung. Aus emischer Perspektive werden die Be‑ troffenen damit allerdings vom lebenserhaltenden Segen der Ahnen abgeschnitten, womit das Verstoßen unweigerlich zu havoa im Sinne eines ›Unsegens‹ führt.

Veranlassendes Fehlverhalten Die beschriebenen Anlässe für havoa unterscheiden sich nicht grundsätzlich von denen der Körperstrafe in der Kindheit. Konkret betreffen die 58 beschriebenen Anlässe u.a. folgende Normverstöße: Ungehorsam (tsy magneky, 13) oder Widerwor‑ te (mamalivaly, 8) gegenüber dem Vater, einem Onkel oder Großvater des eigenen tariky, respektloses Verhalten innerhalb des eigenen tariky durch Unterlassung der symbolischen Unterordnung (tsy magnaja, 7), gewaltsame Konflikte mit Mitglie‑ dern aus dem eigenen tariky (4), Diebstahl von Rindern oder Beschädigung von Gütern des eigenen tariky (2) sowie Verletzungen von Inzest- (11) und erblichen Nahrungstabus (5). Einer der Vorfälle von havoa während der Feldforschung wur‑ de, wie im 2. Kapitel beschrieben, durch einen Streit zwischen zwei Cousins ver‑ ursacht. In dessen Verlauf stieß einer der Männer einen Milcheimer des anderen um, was aufgrund des sakralen Charakters der Milch als schwere Respektlosigkeit angesehen wurde. In einem weiteren bezeugten Fall wurde havoa durch eine Ri‑ valität zwischen zwei jugendlichen Cousins um eine Frau verursacht, wobei der eine dem anderen mit einem Hirtenstab auf den Kopf geschlagen und diesem eine große Wunde zugefügt hatte. Die Anlässe von havoa beziehen sich allesamt auf Verstöße gegen die Normen und moralischen Gebote des tariky. Meine Frage an Marojaony (m 70, 8 Kinder, 14 Enkel, 3 Urenkel, verheiratet), ob etwa Diebstahl oder die Tötung eines Menschen auch dann havoa nach sich ziehen würde, wenn die Betroffenen einem anderen tariky angehörten, beantwortete er wie folgt: »Havoa ist in diesem Fall nur sehr schwach, die meisten glauben, dass es überhaupt nicht zu havoa führt. Nur Chris‑ ten glauben, dass eine solche Handlung havoa zur Folge hätte.« Dies unterstützt

tern‹ gänzlich akzeptieren würde. Erst nachdem sie alternative Erklärungen ausgeschlossen hatten und ich aufgrund des anhaltenden Leidens für Erklärungen aller Art empfänglicher geworden war, diagnostizierten sie havoa.

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die These, der zufolge in der Forschungsregion der tariky die primäre moralische Gemeinschaft darstellt und moralische Normen damit kaum generalisiert sind.

Sanktionshandlung Den Umgang der lebenden Autoritätspersonen mit dem Fehlverhalten ihrer ju‑ gendlichen Nachkommen konnte ich mehrfach bezeugen, so etwa bei der folgen‑ den Gelegenheit: Ein Großteil der Bewohner von Ranomadio war versammelt, um die Nachricht zu hören, dass eine Tochter des Dorfes, die im Nachbardorf bei ihrem Ehemann gelebt hatte, im Wochenbett verstorben sei. Nach den Beileidsbe‑ kundungen gegenüber dem Vater der Verstorbenen wurden die jugendlichen Män‑ ner aufgefordert, die traurige Botschaft in die Nachbardörfer zu tragen. Als sich jedoch niemand von ihnen meldete, verkündete Marojaony, bereits ein Urgroßvater, dass er sich nun wohl selbst in das etwa 20 km entfernte Dorf Soafary aufmachen müsse. Der Ungehorsam der Jugendlichen sowie die passive Reaktion der Ältes‑ ten erstaunten mich angesichts des hohen Stellenwerts der Folgsamkeit und der harschen Sanktionierung in der Kindheit, und ich vermerkte diese Beobachtung zunächst als Ausnahme. Einige andere Fälle des Ungehorsams bestätigten jedoch dieses Muster und auch aus den Interviews ging klar hervor, dass sich die emo‑ tionale Reaktion auf jugendliches Fehlverhalten von jenem gegenüber kindlichem unterscheidet: Väter und andere Autoritätspersonen reagieren den Beispielen zu‑ folge am häufigsten mit Traurigkeit (alahelo) auf das Fehlverhalten ihrer Nachkom‑ men, aber auch gekränkt (tezitsy), negativ überrascht (tseriky) und enttäuscht bzw. resigniert (kivy, angoay). Im Gegensatz zu diesem eher passiven Umgang der lebenden Autoritätsperso‑ nen mit dem Fehlverhalten Jugendlicher wird die emotionale Reaktion der Ahnen‑ geister mit Wut (seky) und Zorn (heloky) beschrieben: Was ist havoa? Kannst du mir ein Beispiel erzählen? Der Sohn eines Reichen trank sehr häufig Alkohol. Sein Vater bat ihn, damit aufzuhören, weil er auf diese Weise verarmen würde. Doch der Sohn ließ sich davon nicht beeindrucken und trank weiter. Nachdem der Vater wenig später verstorben war, wurde die geerbte Herde von 1.500 Rindern immer kleiner und schließlich blieb kein einziges Rind mehr übrig. Dies war die Folge von havoa. Die Rinder starben ihm weg, weil der Geist des Vaters zornig (meloky) war. (Maka, m 25, 2 Kinder, verheiratet) Wenn ein Jugendlicher seinen Eltern Widerworte gibt (mamalivaly), macht sie das traurig (malahelo) und gekränkt (tezitsy). Die Ahnengeister (fahasivy) sehen dies und werden wütend (maseky), sodass das Kind krank wird. Es gibt keine klaren Anzeichen für eine bestimmte Krankheit. Sie gehen dann zum ombiasa, und dieser findet heraus, dass havoa vorliegt. Er erklärt, dass havoa nur durch ein Opferritual aufgehoben werden könne. Entweder opfert man nur Rum (toaka gasy) oder ein Rind, je nachdem, wie ernst der Fall ist. (Traka, w 28, 4 Kinder, geschieden)

In der ersten Episode ist es der Geist des verstorbenen Vaters, dessen Zorn der Sohn zu spüren bekommt. Weiteren Erzählungen zufolge drohten Väter ihren sich widersetzenden Nachkommen damit, diese posthum als Ahnengeist zu bestrafen.

10. Praktiken und Er fahrungsmuster der Körpersanktion

Die üblichen Vorstellungsmuster bestanden jedoch darin, dass die Wut der Ah‑ nengeister auf einen ›Delinquenten‹ aus Mitleid (mapalahelo, mitretre) gegenüber dessen ohnmächtigen Eltern resultiert. Vor diesem Hintergrund kann die demons‑ trative Traurigkeit oder Resignation der Eltern auch als Appell an das Mitleid der Ahnengeister angesehen werden – und damit zugleich als ein Signal an die Jugend‑ lichen, dass ihnen der Zorn der Ahnen droht. Aus diesem Zusammenhang wird auch die von mehreren Gesprächspartnern angeführte Erklärung verständlich, dass derjenige havoa auf sich ziehe, der einen älteren Verwandten durch sein Ver‑ halten traurig mache. Der Zorn der Ahnen bzw. havoa manifestiert sich den erzählten Episoden und Erläuterungen zufolge in körperlichen Symptomen beim ›Delinquenten‹ oder bei seinen Kindern, die als lebensbedrohlich angesehen werden, oder in Misserfol‑ gen bei der Viehzucht bzw. beim Reisanbau, womit ebenfalls die Lebensgrund‑ lage des Betroffenen bedroht ist. Die 51 beschriebenen Konsequenzen von havoa betreffen größtenteils (38) körperliche Symptome und Krankheiten (rary, arety). Im Einzelnen wurden Kopfschmerzen, Fieber, Übelkeit, Ödeme, Furunkeln und entzündete, schlecht verheilende Wunden genannt. Weitere Symptome, die häufig im Zusammenhang mit Inzest genannt wurden, betreffen die Beeinträchtigung der Fortpflanzung. So wurden das Anschwellen oder Schmerzen der Geschlechts‑ organe13 und Komplikationen beim Gebären bis hin zu Totgeburten als mögliche Konsequenzen genannt. Auch ein frühzeitiges Versterben der Kinder konnte auf den Zorn der Ahnen gegenüber den Kindseltern zurückgeführt werden. Auf die Verletzung von Nahrungstabus folgt typischerweise ein Anschwellen des Halses und damit die Gefahr des Erstickens. Zur Illustration hierfür verwies Manatsoa (m 25) auf eine Nachbarin, deren Hals stark vernarbt war: »Doara hat früher einmal versehentlich vom Fleisch eines Perlhuhns (akanga) gegessen [das für sie fady ist]. Danach ist ihre Gurgel angeschwollen – so wie es auch beim Perlhuhn der Fall ist. Noch heute kann man die Narben sehen.« Einige Interviewpartner machten deutlich, dass die Konsequenzen von havoa nicht unbedingt unmittelbar nach dem Normverstoß auftreten müssten, sich meist nur allmählich verschlimmerten, jedoch ohne Gegenmaßnahme letztlich in den Tod führten. Eine Gesprächspartnerin verglich diesen Verlauf mit einem Feuer, das langsam schwächer wird und schließlich erlischt, weil das Brennholz zur Neige geht. Neben dem körperlichen Verfall des ›Delinquenten‹ oder seiner Kinder kann der Zorn der Ahnen auch ökonomischen Misserfolg zur Folge haben. So berichten mehrere Gesprächspartner, dass aufgrund von havoa die Rinder wegsterben oder der Reis keine Frucht trägt.14 13 | Während der Feldforschung musste tatsächlich ein junger Mann, der angeblich Inzest mit einer entfernt verwandten Cousine begangen hatte, für mehrere Tage anstelle der sonst üblichen kurzen Hose ein Tuch um die Hüften tragen, da er, wie man sagte, unter einer solchen Schwellung litt. 14 | Der Umstand, dass sich in den Augen der Gesprächspartner Normverstöße bzw. Ahnensanktionen in diesen verschiedenen Formen des Leidens niederschlagen, lässt die Frage aufkommen, ob umgekehrt auch sämtliches Leid als Folge einer moralischen Verfehlung betrachtet wird. Zwar werden Krankheiten und auch Todesfälle prinzipiell auf soziale Konflikte zurückgeführt, jedoch kommen auch Konflikte und Schadenszauber (voriky) in Feindschaften als Primärursache infrage. Diese Krankheitsursache hat keinen moralischen Hin-

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Direkt nach dem Wirkzusammenhang zwischen Ahnenzorn und physischen Konsequenzen gefragt, wurde mir erklärt, dass die Ahnen dem Betroffenen die Lebenskraft (ay) bzw. den Segen ( fitahia) entziehen. Das hierarchische Beziehungs‑ modell, dem zufolge sich die Lebenskraft eines Individuums nur erhalten kann, in‑ dem sie fortwährend durch die Ahnen gespeist wird – so wie das Feuer kontinuier‑ lich neues Brennmaterial benötigt –, erklärt die fatalen Folgen des Segensentzugs durch die Ahnen. Somit lässt sich havoa als Unsegen übersetzen. Neben dieser, eher passiven Wirkungsweise durch den Entzug der Lebenskraft scheint noch ein weiteres, aktiveres Kausalmodell zu bestehen. Denn die Überschreitung von Nah‑ rungstabus beispielsweise führt weniger zu einem langen Siechtum, sondern viel‑ mehr unmittelbar zum Tod des Missetäters. Hier scheint der Zorn der Ahnen also aktiv die Lebenskraft des Adressaten zu zerstören, womit havoa in diesem Kontext eher als ›Verfluchung‹ übersetzt werden kann. Die Verschiebung der Sanktionierung von leiblichen Vorfahren hin zu kör‑ perlosen Ahnengeistern im Übergang von der Kindheit zum Jugendalter bringt offensichtlich einige Veränderungen mit sich. Jedoch liegen auch entscheidende Kontinuitäten auf der Hand: Die Ahnengeister werden als konkrete Individuen mit spezifischen Charaktereigenschaften vorgestellt, die sich von ihrem Verhalten zu Lebzeiten ableiten. Sofern im Laufe der Kindheit der Vater oder Großvater ver‑ stirbt, bleibt im Jugendalter und darüber hinaus sogar die sanktionierende Person identisch. Wie im Kindesalter provozieren Normverstöße auch in der Jugend eine wütende Reaktion der Autoritätspersonen. Daraus folgt in beiden Altersphasen körperliches Leid, das als lebensbedrohlich aufgefasst wird. Zwischen dem Nah‑ rungs- und Segensentzug sind genauso Parallelen festzustellen wie zwischen der Körperstrafe der Stockhiebe und dem Ahnenfluch. Auch wenn Ahnensanktion zahlreiche Aspekte konkreter Sanktionserfahrun‑ gen in der Kindheit widerspiegelt und somit eine gewisse Plausibilität für die Be‑ troffenen haben dürfte, so muss für Jugendliche die Gefahr von havoa nicht un‑ bedingt derart überzeugend sein, dass sie jeden Normverstoß unterlassen – zumal der Normbefolgung auch starke Emotionen und Motive entgegenstehen können. Um auch ›Hartköpfe‹ (mahery loha) von der Realität des havoa zu überzeugen, ste‑ hen den lebenden Autoritätspersonen einige Überzeugungsmethoden zur Verfü‑ gung, von denen das Verstoßen das drastischste Mittel ist: Was ist havoa? Kannst du mir ein Beispiel erzählen? Ein Jugendlicher klaute häufig innerhalb seines tariky. Irgendwann gingen die Bestohlenen zu seinem Vater und beschwerten sich. Der Vater wollte seinen Sohn also davon überzeugen, mit dem Stehlen aufzuhören, doch der Sohn weigerte sich und meinte, dass dies gut für ihn sei und sein Vater früher auch gestohlen habe. Daraufhin verstieß der Vater seinen Sohn. Dann wurde der Sohn krank und der ombiasa fand heraus, dass havoa die Ursache war. Der ombiasa schickte ihn also zu seinem Vater und riet ihm, ein Rind mitzubringen und den Vater um ein tsiporano [Opferritual] zu bitten. (Langa, m 22, 2 Kinder, verheiratet)

tergrund, da dem Rivalen Neid (maimay) oder Groll (lolom-po) und damit feindselige Motive unterstellt werden können.

10. Praktiken und Er fahrungsmuster der Körpersanktion Warst du selbst schon einmal havoa? Kannst du ein Beispiel erzählen? Als ich [im Alter von 14 Jahren] einmal betrunken war, beleidigte ich meinen Vater mit Schimpfwörtern. Daraufhin verstieß er mich (magnary) und ich begab mich zu meinem Onkel in das Dorf meiner Mutter. Dort blieb ich etwa drei Monate. Ich war sehr traurig (malahelo) weil ich nun keinen Vater mehr hatte und allmählich begann ich mich zu fürchten (matahotsy) wegen des havoa. Das havoa zeigte sich, als meine Ernte schlecht ausfiel und mir auch sonst nichts gelingen wollte. Ich bat meine Verwandten [mütterlicherseits] darum, mir zu helfen, mich mit meinem Vater wieder zu versöhnen. Am Ende wurde das Problem durch ein Opfer eines meiner Rinder gelöst und auch das havoa wurde damit aufgehoben. Ich konnte wieder zu meinem Vater zurückkehren. Nun hatte ich wieder einen sauberen Bauch (madio troky). (Donne, m 25)

Die Praxis des Verstoßens kann als Ausdruck vollständiger elterlicher Resignation betrachtet werden, die nur dann eintritt, wenn die Nachkommen dauerhaft un‑ gehorsam sind und die Eltern jede Zuversicht einer Verhaltensbesserung verloren haben. Entsprechend war auch nur ein Bruchteil der mir bekannten Jugendlichen aus Menamaty bereits von ihrem Vater verstoßen worden. Die Betroffenen zogen in der Regel zur mütterlichen Verwandtschaft und durften dort bei einem Onkel leben. Wie aus den Berichten der betroffenen Jugendlichen hervorgeht, litten sie im ›Exil‹ an einer körperlichen Schwächung bzw. Krankheit oder waren allgemein vom Pech verfolgt, was aus einer etischen Perspektive auf die verschlechterten Le‑ bensbedingungen oder auf psychosomatische Konsequenzen der Verstoßung zu‑ rückgeführt werden kann. Zumindest aus der Sicht von Vätern ist dafür jedoch havoa verantwortlich, da eine verstoßene Person automatisch vom Segen seiner patrilinearen Vorfahren abgeschnitten ist. Es liegt auf der Hand, dass Jugendliche aufgrund ihrer realen Erfahrungen im ›Exil‹ dazu bewogen werden können, die Interpretation ihrer Väter anzunehmen – zumal sie dann die Möglichkeit haben, unter der Bedingung eines Schuldeingeständnisses sowie einer Opferhandlung zur Beschwichtigung der Ahnen, wieder in den väterlichen tariky aufgenommen zu werden. Eine weitere Überzeugungspraxis kommt ins Spiel, wenn ›widerspenstige‹ Ju‑ gendliche unter einem der oben angeführten Symptome leiden, etwa anhaltende Kopfschmerzen, was ohnehin nicht selten vorkommt. Dann nämlich kann er zum ombiasa geschickt werden, der offiziell die Diagnose havoa stellt. Das Orakel (sikidy) als Diagnosemittel dürfte entscheidend dazu beitragen, den Betroffenen von der Richtigkeit der Diagnose zu überzeugen, da es – ähnlich wie bei einem Bluttest – scheinbar unabhängig von den Tendenzen des ombiasa oder den Erwartungen der Eltern aussagt und damit das Resultat objektiviert. Darüber hinaus wird die Diagnose auch deshalb annehmbar, weil sie nicht nur eine Erklärung für das Leid bietet, sondern zugleich einen Weg zur Heilung eröffnet: die Darbringung eines Opfers zur Beschwichtigung der Ahnen, womit die Krankheitsursache, der Ahnen‑ zorn, behoben wird. Nicht zuletzt bieten die zahlreichen und allgemein bei den Dorf bewohnern bekannten Narrative über Personen aus der Region, die von havoa betroffen waren und schlimme, teilweise sichtbare körperliche Konsequenzen da‑ vongetragen haben, anschauliche Beispiele für die Realität von havoa.

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Emotionale Reaktionen der Betroffenen Sowohl aus der Perspektive der Sanktionierenden als auch der Betroffenen erzeu‑ gen havoa oder darauf hindeutende Ereignisse in erster Linie Furcht (tahotsy)15 und bei einigen auch Reue (manegny) über ihr Fehlverhalten. Die emotionale Reaktion der Furcht tritt logischerweise erst ein, sobald dem Betroffenen bewusst wird bzw. sobald er die Überzeugung gewinnt, dass er von havoa betroffen ist.16 Zu welchem Zeitpunkt und aufgrund welcher Ereignisse dieses Bewusstsein bzw. die Furcht‑ reaktion einsetzt, kann sich je nach Kontext und Individuum unterscheiden. Die Jugendlichen, die von ihren Vätern verstoßen wurden, bekamen es erst mit der Angst zu tun, nachdem sich im Exil die ersten Krankheitszeichen einstellten. So berichtete etwa Rignino folgende Episode: Warst du selbst schon einmal havoa? Kannst du ein Beispiel erzählen? Als ich noch verheiratet war, lebte ich bei meiner Frau in Soafary [was den Normen der patrilokalen Residenz widerspricht]. Mein Vater war nicht damit einverstanden und verstieß mich schließlich. Da ich in der Folgezeit nur noch wenig Reis erntete, wurde mir bewusst, dass ich von havoa betroffen bin. Dann wurde ich krank: Ich bekam Fieber, Kopfschmerzen, und eine grundlose Wunde am Bein, sodass ich kaum laufen konnte. Wie war dein Bauch? Ich war wütend (maseky) auf meinen Vater und traurig (malahelo) wegen meiner Geschwister, und weil ich krank war, befürchtete (matahotsy) ich, dass mich die Ahnen zu sich holen würden. Schließlich bat ich meinen Vater um ein Opferritual und brachte hierfür Rum mit. Seitdem lebe ich wieder hier bei ihm. (Rignino, m 19)

Einige Episoden legen auch nahe, dass sich der Betroffene zwar prinzipiell vor den Konsequenzen des Normverstoßes fürchtete, jedoch aufgrund von Trunkenheit, Verliebtheit (gegenüber einer verwandten Person) oder Wut gleichwohl eine mora‑ lische Norm verletzte: Hast du deinen Eltern schon einmal Widerworte gegeben? Kannst du mir ein Beispiel erzählen? Vor einiger Zeit wollte ich abends Musik hören und gab das Kind in die Obhut meines Großvaters Banambo. Doch als das Kind zu weinen begann, war ich nicht gleich zur Stelle. Das machte den Großvater wütend (maseky) und er sagte zu mir »friss deinen Kot« (hany tainao), und meinte, dass ich das Kind doch seinem Vater geben solle, falls ich ihn denn finden könne. Das machte mich ebenfalls wütend (maseky) und ich gab ihm Widerworte (mamalivaly), indem ich sagte: »Das ist auch dein Sohn, warum kannst du ihn nicht beruhigen?« Ich bereute (manegny) aber gleich, was ich gesagt hatte und bekam große Furcht (matahotsy) zu erkranken. Deshalb verbeugte (mifaly) und entschuldigte (mifona) ich mich sofort ihm gegenüber. (Fandio, w 20, 1 Kind, unverheiratet)

15 | Auch die mit havoa vergleichbare Konzeption tody, die im Hochland Madagaskars verbreitet ist, wird nach Andriamanjato (1957: 75) mit dieser Emotion assoziiert: »[L]es deux expressions ›avoir peur de Dieu‹ ou avoir peur du ›tody‹ […] sont fort utilisée en Malgache.« 16 | Aus einer etischen Perspektive lässt sich dies auch so denken, dass mit der Furcht die Überzeugung einsetzt, dass havoa real ist und eine Bedrohung darstellt.

10. Praktiken und Er fahrungsmuster der Körpersanktion

Ein weiteres, mehrfach berichtetes Szenario besteht darin, dass jemand unwissent‑ lich ein Tabu verletzt und mit Furcht reagiert, sobald er von dieser Tabuverletzung erfährt: Was ist havoa? Kannst du mir ein Beispiel erzählen? Ein reicher Mann hatte zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Eines Tages bat der Junge seine Schwester, ihm eine Liebesnacht mit ihrer Freundin für 10.000 Ariary zu organisieren. An einem der folgenden Abende sagte ihm seine Cousine, dass er abends nach dem Essen in ihre Hütte kommen solle, da ihre Freundin dort auf ihn warten werde. Er ging also dorthin und schlief mit ihr. Als er sich dann eine Zigarette anzündete, stellte er fest, dass es sich bei dem neben ihm liegenden Mädchen um seine Cousine handelt. Diese Entdeckung machte ihm so große Angst (matahotsy be), dass er krank und verrückt wurde. (Jean-Pierre, w 35, 4 Kinder, verheiratet) Hast du schon einmal ein fady verletzt? Kannst du mir ein Beispiel erzählen? Ich war bei Verwandten zu Gast und bekam dort Fleisch zu essen und fragte dann, während ich schon aß, was für Fleisch es sei. Ich erfuhr, dass es Katta-Fleisch17 war und erschrak (mikopaky fo) so sehr, dass mir das Besteck aus der Hand fiel. Ich glaubte, dass ich sofort sterben müsse. Ich ging dann gleich zum ombiasa und dieser legte eine Schnur um meinen Hals und gab mir das mandrary fady! [wörtlich: heb die Tabuverletzung auf!]. Dies hat mich abgeschreckt (vaivay) und seitdem frage ich immer nach dem Tier, wenn ich Fleisch angeboten bekomme. (Kabo, m 18)

Mehrmals wurde mir versichert, dass niemand Nahrungstabus aus freien Stücken verletzen würde, da sich alle vor den Konsequenzen fürchteten. Entsprechend be‑ schrieben die Gesprächspartner, die unwissend von einer verbotenen Nahrung ge‑ gessen hatten, ihre emotionale Reaktion mit Wörtern wie taitsy (Schreck), mivadimpo (›umgedrehtes Herz‹), mikopaky fo (›klopfendes Herz‹), mitofotsy fo (›Herzstoß‹) und mivadim-po (›umgedrehtes Herz‹), die besonders intensive Furchtreaktion be‑ zeichnen. Aus der Perspektive von Autoritätspersonen fürchten sich Jugendliche im Ideal‑ fall bereits bei der Erwägung einer Handlung, die den Normen widerspricht, vor dem Zorn der Ahnen, weil sie damit den Normverstoß von vornherein unterlassen. So beantworteten mehrere Erwachsene meine Frage, weshalb die Jüngeren in aller Regel dem Willen der Älteren folgen, knapp mit dem Verweis auf die Furcht vor havoa. Dem entsprachen auch viele Antworten auf die Frage nach persönlichen Er‑ fahrungen mit Normverstößen: Hast du deinen Eltern schon einmal Widerworte gegeben? Kannst du mir ein Beispiel erzählen? Ich kann mich nicht daran erinnern, meinen Eltern jemals Widerworte gegeben zu haben. Meine Eltern waren für mich wie Gott (Zagnahary). Außerdem fürchtete ich mich (matahotsy) immer, wegen havoa krank zu werden. (Tsivola, w 40, 3 Kinder, 1 Enkel, verheiratet)

Die Furcht als emotionale Reaktion auf die übernatürliche Sanktion steht offen‑ sichtlich in einer Kontinuität mit den emotionalen Erfahrungen der Körperstrafe 17 | Beim Katta handelt es sich um eine Lemuren-Art, die für den Erzähler fady ist.

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in der Kindheit. Im Unterschied zu Kindern reagieren Jugendliche allerdings nicht mit Wut auf die sanktionierende Person. Dies ist insofern nachvollziehbar, als die körperlosen Ahnengeister gewissermaßen keine Angriffsfläche für eine physische Gegenwehr bieten und zudem noch deutlicher in der Übermacht sind als die leib‑ lichen Autoritätspersonen. Letztere spielen bei der übernatürlichen Sanktion wie‑ derum nur eine Vermittlerrolle und reagieren allenfalls mit Traurigkeit auf das Fehlverhalten der Jugendlichen, was ebenfalls keine Wutreaktion berechtigt.

Reintegration der Betroffenen An die Stelle eines appellierenden Ausdrucksverhaltens in der Kindheit, das eine Bezugspersonen zu einem Trösten als Akt der Reintegration veranlassen kann, treten ab dem Jugendalter ritualisierte Formen der Wiedergutmachung und Be‑ schwichtigung. Je nachdem, wie schwer der Normverstoß wiegt und wie schnell Jugendliche einsichtig reagieren, kann die rituelle Reintegration unterschiedliche Ausprägungen und Komplexitätsgrade annehmen. Das oben angeführte Narrativ von Fandio stellt eine unkomplizierte Form der Reintegration dar: Unmittelbar nachdem sie dem Großvater Widerworte gegeben hat, sieht sie diesen Fehler ein und entschuldigt sich, indem sie das mifaly voll‑ führt, eine bereits beschriebene Verbeugungsgeste, die Unterordnung signalisiert. Besiegelt wird die Reintegration, indem der Adressat seine Hand auf den Kopf der sich verbeugenden Person legt und damit eine Segnung vollzieht. Auf diese Weise ist das hierarchische Verhältnis bereits symbolisch wieder zurechtgerückt und die Gefahr einer Intervention durch die Ahnengeister gebannt. Verstöße gegen erbliche Nahrungstabus involvieren von vornherein die Geis‑ ter der Ahnen, da sie gewissermaßen als direkter Affront gegen die Vorfahren, die ihren Nachkommen die Tabus auferlegt haben, angesehen werden. Um fatale Konsequenzen zu vermeiden, ist ein einfaches Opferritual namens mandrary fady erforderlich, das die Ahnen besänftigen soll: Hast du schon einmal ein fady verletzt? Kannst du mir ein Beispiel erzählen? Meine Freunde aßen einmal eine bestimmte Aal-Art, die für mich fady ist. Später trank ich Rum mit meinen Freunden. Als ich aus dem gemeinsamen Glas trank, musste ich mich sofort übergeben. Ich fragte die anderen nach dem möglichen Grund und dabei stellte sich heraus, dass sie nach dem Essen ihre Hände nicht gewaschen hatten. Da ich daraufhin große Schmerzen bekam und mich zu fürchten begann, ging ich zum ombiasa und brachte Rum mit. Dieser machte das mandrary fady, und damit hörten die Schmerzen auf. (Ndrenome, m 22, verheiratet)

Die Verletzung von Inzesttabus, die für sämtliche, auch entfernte Verwandte gel‑ ten, erfordert zwangsläufig das Opfer eines Rindes, sollen tödliche Konsequenzen verhindert werden: Hast du schon einmal ein fady verletzt? Kannst du mir ein Beispiel erzählen? Ich liebte einmal ein Mädchen, das mit mir verwandt war. Das Mädchen erwiderte meine Liebe. Eines Tages traf ich sie alleine an und gestand ihr meine Liebe. Daraufhin schliefen wir regelmäßig miteinander. Irgendwann erfuhr jemand aus ihrer Familie davon. Ihr Vater führte sogleich ein Rinderopfer durch, um das havoa aufzuheben und seine Ahnen zu beruhigen. Dafür wurde ein Rind im Wald getötet und wie bei einem Hochzeitsritual betupften wir uns

10. Praktiken und Er fahrungsmuster der Körpersanktion gegenseitig Stirn und Schläfen mit dem Blut des Rinderherzens. Dabei waren auch unsere Eltern präsent. Sie forderten von mir, das Mädchen gleich zu heiraten, aber ich war nicht damit einverstanden. (Dede, m 19, 1 Kind, verheiratet)18

Bei einem solchen Opferritual bittet das Oberhaupt der Abstammungsgruppe im Kern die erzürnten Ahnen darum, das Leben des Opfertieres anstatt das des Be‑ troffenen zu nehmen, ihren Zorn (heloky) zu begraben und den Segen wieder flie‑ ßen zu lassen. Ist die Tabuverletzung mit direktem Ungehorsam gegenüber den Eltern ver‑ knüpft oder widersetzt sich jemand dauerhaft dem Willen seines Vaters, so ist zur Reintegration neben dem Opfer auch eine rituelle Unterwerfung nötig: Was ist havoa? Kannst du mir ein Beispiel erzählen? Ein Mädchen aus Ranomadio [dessen Namen sie nicht nennen möchte] hatte eine sexuelle Beziehung mit einem Jungen aus demselben tariky. Die Mutter verbot es ihr, doch die Tochter gehorchte nicht und wurde deshalb havoa. Als sie schließlich schwanger war, hatte sie sehr große Schmerzen und deshalb opferte ihre Familie ein Rind (soro). Dabei setzte sich die Mutter auf den Kopf des Mädchens. Daraufhin verlief die Geburt problemlos. Hätte man kein Opferritual durchgeführt, wäre sie gestorben.19 (Ziny, w 35, 5 Kinder, verheiratet) Warst du selbst schon einmal havoa? Kannst du ein Beispiel erzählen? Eines Tages wurde ich krank, ich konnte kaum laufen, da meine Beine zu schwach waren. Ich ging also alleine zum ombiasa, und der befragte das sikidy (Orakel). Er fand heraus, dass ich von havoa betroffen bin, weil ich meinem Vater kaum gehorche und dieser deshalb traurig (malahelo) sei. Weil ich nur durch meinen Vater lebe, bat ich ihn, für mich ein Opferritual zu vollziehen. Ich kaufte Rum, und während des Opferrituals setzte der Vater seinen Fuß auf meinen Kopf. Er sagte dabei: »Du sollst wieder gesund werden, respektiere mich aber, weil ich dein Vater bin.« (Voavy, m 19)

Diese Unterwerfungs- bzw. Unterordnungsgesten stellen eine Steigerung des oben beschriebenen, im Alltag häufig vollzogenen mifaly dar. Gemäß einer Körpersym‑ bolik, der zufolge der Kopf auf der einen und das Gesäß bzw. Füße auf der anderen Seite die Pole des ›Hohen‹ (ambony) und ›Niedrigen‹ (ambany) einer Person reprä‑ sentieren, bringt die Berührung des Kopfes mit dem Fuß oder Gesäß das hierarchi‑ sche Verhältnis zwischen den Akteuren unmissverständlich zum Ausdruck. Denn 18 | Das hier geschilderte Ritual namens tandra hebt das fady zwischen den verwandten Partnern auf und wird auch unabhängig von Tabuverletzungen vollführt, um eine Eheschließung zwischen Verwandten zu ermöglichen. Sind die Eltern wie im vorliegenden Fall dazu gezwungen, das tandra durchzuführen, um Unheil von ihren Kindern, insbesondere der Tochter abzuwenden, dann bietet es sich an, dies gleichzeitig als Investition in die Eheschließung zu nutzen. Der Umstand, dass das Inzesttabu durch ein entsprechendes Opfer für die Ahnen aufgehoben werden kann, macht deutlich, dass die moralischen Gebote prinzipiell verhandelbar sind. 19 | Dass hier die Mutter als Autoritätsperson auftritt und an dem soro der patrilinearen Abstammungsgruppe teilnimmt, mag verwundern, da Mütter in der Regel nicht dem tariky (patrilineare Abstammungsgruppe) ihrer Kinder angehören. In diesem Fall aber, der im Dorf allgemein bekannt war, gehörte die Tochter zum tariky der Mutter, weil ihr Vater unbekannt war.

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damit wird das ›Niedrige‹ der Mutter oder des Vaters über das ›Hohe‹ der Tochter oder des Sohnes gestellt. Eine Reintegration dieser Art ist selbst dann möglich, wenn der oder die Be‑ troffene vom Vater verstoßen worden war. Jederzeit hat der oder die Verstoßene die Möglichkeit, über eine Mittelsperson, in der Regel einen Verwandten aus der mütterlichen Familie, den Vater um die Durchführung eines Opferrituals zu bit‑ ten und damit in die patrilineare Abstammungsgruppe wieder aufgenommen zu werden. Auch wenn sich die Furcht ab der Jugend in erster Linie auf die Ahnen‑ geister richtet, bekräftigen die Praktiken der Reintegration auch den Respekt vor den lebenden Vorfahren aus der patrilinearen Abstammungslinie. Denn nur diese, genauer: das Oberhaupt, können mittels Opferhandlungen zwischen den Betroffe‑ nen und den Ahnengeistern vermitteln. Aus einer Emotionsperspektive lässt sich die Reintegration zugleich als Praktik der Furchtbewältigung verstehen: Indem sie den Zorn der Ahnen besänftigt, bannt sie die Gefahr tödlicher Konsequenzen und macht damit die Furcht vor ihnen obsolet.

11. Zur Sozialisation von Furcht und Wut

Die Auseinandersetzung mit den Sanktionspraktiken aus der Sicht der Beteiligten und aus meiner Beobachtungsperspektive hat deutlich gezeigt, dass diese Prak‑ tiken systematisch mit Emotionen der Furcht und Wut verknüpft sind, die im 4. Kapitel als zentrale moralische Emotionen in der Forschungsregion identifiziert wurden. Nun stellt sich die Frage, welche Rückschlüsse aus den wiederkehrenden emotionalen Erfahrungen im Rahmen der Sanktionspraxis für die Entwicklung der Furcht und Wutemotionen gezogen werden können. Das präsentierte Datenmaterial erlaubt es wohlgemerkt nicht, individuelle Entwicklungsverläufe nachzuzeichnen, da es die emotionalen Erfahrungen vieler unterschiedlicher Individuen widerspiegelt, die durch ihr jeweiliges Alter die ver‑ schiedenen Etappen der Ontogenese repräsentieren. Jedoch bietet das empirische Material die Möglichkeit, einen Entwicklungspfad für die genannten moralischen Emotionen zu rekonstruieren. Ein solcher, auf der Basis weitgehend geteilter Sozia‑ lisationspraktiken und -erfahrungen rekonstruierter Entwicklungspfad beschreibt lediglich die diesen Praktiken und Erfahrungen inhärenten Dynamiken für eine bestimmte Emotionsentwicklung. Jedes Kind kann Sanktionsepisoden letztlich unterschiedlich verarbeiten, jedoch sind die Sozialisationspraktiken, wie auch die Interviews mit Eltern zeigen, auf eine spezifische Emotionsentwicklung hin ange‑ legt, indem sie Kindern durch stetige Wiederholungen bestimmte Erfahrungszu‑ sammenhänge nahelegen. Quinn (2005) konzeptualisiert diesen Aspekt der Sozia‑ lisation unter dem Begriff der Erfahrungskonstanz (experiential constancy). Die von den Gesprächspartnern erzählten Sanktionsepisoden legen tatsächlich nahe, dass sich eine Reihe von Erfahrungselementen über einen gewissen Alterszeitraum bei sämtlichen Kindern von Menamaty stetig wiederholt. Dieses Kapitel rekonstruiert zunächst den Entwicklungspfad der Furcht als moralische Emotion und wendet sich im Anschluss der Wutsozialisation zu.

E nt wicklungspfad der F urcht als mor alische E motion Die Auseinandersetzung mit den moralischen Emotionen und Sozialisationsprak‑ tiken in Menamaty hat deutlich gemacht, dass tahotsy (Furcht) hier als primäre moralische Emotion fungiert und auf der Basis von Körpersanktionen sozialisiert wird: Furchtsamkeit gegenüber Älteren und Ahnengeistern sahen die Interview‑ partner als moralisches Gebot, als eine ›Tugend‹ an, die einen guten Charakter

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( fagnahy soa) ausmacht. Umgekehrt wurde moralisches Verhalten und Handeln nach lokalen Maßstäben – nämlich die Eingliederung des Einzelnen in seine Ab‑ stammungsgruppe und die Folgsamkeit gegenüber den Älteren dieser Gruppe – auf tahotsy vor den Eltern und Ahnengeistern zurückgeführt, womit diese Emotion mit Ehr- oder Gottesfurcht vergleichbar ist. Zudem stellten Eltern die Furchtsam‑ keit ihrer Kinder als zentrales Entwicklungsziel heraus. Als adäquate und effektivs‑ te Methode zur Herausbildung dieser Furchtsamkeit sahen Eltern die Praxis der Körpersanktion. Aus der Perspektive der betroffenen Kinder zeigte sich wiederum, dass sie auf derartige Sanktionen tatsächlich mit intensiver Furcht reagieren. Zu betonen ist, dass sich diese Zusammenhänge lediglich auf die Sozialisation von tahotsy in einer moralischen Funktion beziehen und nicht auf tahotsy im All‑ gemeinen. Aus Interviews mit Müttern geht deutlich hervor, dass sie keine Not‑ wendigkeit sehen, Kindern das Fürchten (tahotsy) im Allgemeinen beizubringen. Auf meine Frage »Wie lernt das Kind sich zu fürchten?« erwiderte Rakoly, eine junge Mutter von zwei Kindern: »Die Furcht kommt von Zagnahary und deshalb muss man ihm die Furcht nicht beibringen. Er [ihr einjähriger Sohn] weint, wenn er etwas sieht, vor dem er sich fürchtet (matahotsy). Weil er weint, weiß man dann, dass er sich fürchtet.« Auch in den Augen der anderen Gesprächspartner erlangen Kinder die grundsätzliche Fähigkeit des Fürchtens durch den Schöpfergott Zagnahary. Sich vor gefährlichen Dingen zu fürchten, ist demnach fundamental mit der Erfahrung und Erkenntnis der Welt verknüpft: »Sobald er die Dinge erkennt, lernt er auch die Furcht kennen«, meinte z.B. Doara, ein Mutter von fünf Kindern, und ganz ähnlich argumentierte auch Ziny, ebenfalls Mutter von fünf Kindern: »Das Kind beginnt sich zu fürchten, sobald es den Geschmack des Lebens kennenlernt.« Auch aus den oben angeführten Narrativen von Kindern zu ihren eindrücklichsten Furchterfahrungen geht hervor, dass sich diese nicht ausschließlich vor Körper‑ sanktionen bzw. vor ihren Eltern fürchteten – sondern etwa auch vor bestimmten Tieren. Während die Furchtgenese im Allgemeinen also keiner erzieherischen Unter‑ stützung bedarf, sahen Eltern, wie ausführlich dargelegt, eine Notwenigkeit darin, dem Kind beizubringen, sich vor Menschen bzw. vor deren Zorn und Sanktionen zu fürchten. Anschaulich brachte dies beispielsweise Saforozy, eine junge Mutter von vier Kindern, zum Ausdruck: Wie lernt das Kind, sich vor Menschen zu fürchten (matahotsy olo)? Man muss es ihm beibringen. Wenn er sich schlecht verhält, dann bringt man ihm normalerweise mit dem Stock das Fürchten bei: »He, ich werde dich heute verprügeln«; das wird ihn mahitsy (vernünftig/furchtsam) machen. Man kann ihm auch Furcht vor Menschen beibringen, indem man sagt: »He, sieh dort, ein Mann.« – und das macht ihn mahitsy. Oder man sagt: »Dort ist dein Vater, er wird deine Ohren abschneiden« und das macht ihm Angst (matahotsy), sodass er ruhig dasitzt. (Saforozy, w 30, 4 Kinder, geschieden)

In Übereinstimmung damit bezog sich immerhin mehr als die Hälfte der von Kin‑ dern erzählten Furchtepisoden auf die Eltern bzw. auf deren Wut oder Sanktionie‑ rung als Konsequenz von Fehlverhalten. Der hier zu skizzierende Entwicklungspfad der moralischen Furcht betrifft also lediglich eine spezielle Ausrichtung dieser Emotion: Kinder sollen lernen, sich vor ihren Autoritätspersonen und letztlich auch vor den Konsequenzen ihres unmora‑

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lischen Verhaltens zu fürchten, sodass sie motiviert sind, gemäß den situativen Er‑ wartungen, Werten und Normen ihrer Gemeinschaft zu handeln. Es geht also um die Frage, wie Kinder im Laufe der Sozialisation eine spezifische Disposition für tahotsy als moralische Emotion entwickeln. Dies macht es erforderlich, die allgemein gehaltenen Überlegungen des 1. Kapitels zur Sozialisation moralischer Emotionen nun im Hinblick auf die Sozialisation von tahotsy weiter zu spezifizieren.

Entwicklungsmodell der moralischen Furcht Als Ausgangspunkt bietet sich das oben vorgestellte Konzept vaivay an, das die Gesprächspartner verwendeten, um zu beschreiben, wie eine schmerzhafte Erfah‑ rung dazu führt, dass der Betroffene das vorausgegangene Verhalten zukünftig unterlässt, weil er sich vor erneuten Schmerzen fürchtet. Das vaivay-Konzept er‑ innert an die Theorie der klassischen Konditionierung, die von LeDoux zur Kon‑ zeptualisierung der Furchtentwicklung aufgegriffen wurde. LeDoux (2000: 159f) zufolge verknüpfen Individuen wiederholte Erfahrungen aversiver Reize mit vor‑ ausgegangenen Ereignissen, womit das erneute Auftreten dieser Ereignisse die Er‑ wartung weckt, dass dasselbe aversive Erlebnis abermals droht. Somit wird ein für sich genommen nicht bedrohliches Ereignis zum Auslöser von Angst oder Furcht. Übertragen auf den hier relevanten Erziehungskontext bedeutet dies, dass Kinder das schmerzhafte Erlebnis einer Körpersanktion auf vorangegangene Ereignisse wie etwa die Wut der Sanktionsperson beziehen, womit allein der Wutausdruck das schmerzhafte Erlebnis in Erinnerung ruft und so Furcht vor der nun antizipierten Körpersanktion auslöst. Die Furchtkonditionierung konnte vielfach experimentell bestätigt werden und stellt offenbar nicht allein bei Menschen, sondern auch bei Tieren einen grundlegenden Lernvorgang dar. Allerdings ermöglicht dieses Lern‑ modell aufgrund des behavioristischen Paradigmas kein angemessenes Verständ‑ nis der komplexen sozialen und kognitiven Vorgänge, die dem präsentierten Daten‑ material zufolge offenbar bei der Entwicklung der moralischen Furcht zentral sind. Eine wichtige Erweiterung stellt die im 1. Kapitel eingeführte Appraisal-Theo‑ rie der Emotionen dar, wonach kognitive Einschätzungsmuster Individuen dazu veranlassen, auf spezifische Situationen mit bestimmten Emotionen zu reagieren. Dies lässt sich anhand der im 10. Kapitel präsentierten Episoden der Jugendlichen veranschaulichen. Kabo beginnt um sein Leben zu fürchten, sobald er erfährt, dass das Fleisch, das er gerade zu sich genommen hat, vom Katta stammt. Denn auf‑ grund dieser Information nimmt er die Einschätzung vor, dass er ein von seinem Vater geerbtes fady verletzt hat, damit seine Ahnen erzürnt und nun mit tödlichen Konsequenzen rechnen muss. Wohlgemerkt würden sich viele seiner Mitmen‑ schen in derselben Situation nicht fürchten, weil sie wissen, dass für sie der Katta nicht fady ist. Die Frage, wie ein solches, kognitives Einschätzungsmuster derart verbind‑ lich wird, dass es intensive Furcht auslöst – Kabo könnte ja die Gefahr des Ahnen‑ zorns oder gar die Existenz der Ahnen anzweifeln –, wurde bereits in abstrakter Form mit Quinn (2005) im 1. Kapitel beantwortet. Demnach entwickeln Kinder auf der Basis wiederholter Erfahrungen (experiencial constancy) intensiver Emotionen (emotional arousal) im Kontext einer Sanktion bzw. Bewertung (evaluation) stabile kognitive Modelle dieser Erfahrungszusammenhänge. Solche Modelle fungieren als Emotions-Appraisal, weil sie es Akteuren ermöglichen, bei gegebenem Anlass

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(Fehlverhalten) die Sanktion (Körperstrafe) zu antizipieren, womit auch die daran geknüpfte emotionale Erfahrung (Furcht) aktualisiert wird. Die von Kindern und Jugendlichen aus Menamaty geschilderten Sanktionsepisoden lassen sich nicht nur als Darstellung vergangener Erfahrungen interpretieren, sondern auch als ko‑ gnitive Modelle dieser Erfahrungen, die es ihnen ermöglichen, die Konsequenzen ihres Handelns und Verhaltens zu antizipieren (und sich vor diesen Konsequenzen zu fürchten). Allerdings stellt sich noch die Frage, wie die Herausbildung der kognitiven Mo‑ delle oder Appraisal im Verlauf der Ontogenese zu verstehen ist. Zur Konzeptu‑ alisierung entsprechender Lernprozesse bietet sich die multilevel process theory of emotion von Leventhal und Scherer (1987) an. Diesen Autoren zufolge konstruieren Kinder in der Ontogenese die Appraisal-Muster einer bestimmten Emotion gewis‑ sermaßen schichtweise unter Einbeziehung zunehmend höherer und komplexerer Bewusstseinsniveaus, nämlich sensomotorische, schematische und konzeptuelle Kog‑ nitionen. Im ersten Lebensjahr fungieren noch vorwiegend sensomotorische Reize als Auslöser für emotionale Reaktionen, z.B. ein unerwarteter Klaps, der eine Schreck‑ reaktion ermöglicht. Wiederholte Erfahrungen dieser Art führen allmählich zur Herausbildung von Schemata, also impliziten mentalen Repräsentationen der Erfahrungen in ihren prototypischen Merkmalen und Ereignisketten. Die Wahr‑ nehmung eines Ereignisses, das dem kognitiven Schema entspricht, also beispiels‑ weise eine erhobene Hand, führt zur Aktivierung des Schemas und damit zu einer Emotion, etwa zu akuter Furcht vor einem Schlag. Mit der Entwicklung der Sprachfähigkeit und konzeptueller Kompetenzen werden diese impliziten Schema‑ ta zunehmend in bewusste Prozesse eingebettet. Konzeptuelle Fähigkeiten ermög‑ lichen es dem Kind, auch zeitlich verzögert aufeinander folgende Ereignisse kausal miteinander zu verknüpfen und auf der Basis eines aktuellen Ereignisses zukünf‑ tige Konsequenzen zu antizipieren. Auch das Selbstkonzept, eigene und fremde Absichten oder die potenziellen Reaktionen abwesender Personen können damit in ein kognitives Modell einfließen. Diese Entwicklungstheorie deckt sich gut mit der emischen Perspektive, da die Eltern aus Menamaty die ontogenetische Umstellung der Furchterziehung eben‑ falls an kognitiven Entwicklungsschritten der Kinder festmachen. Im Unterschied zu Säuglingen, die noch unverständig seien, könnten Kleinkinder leichte Körper‑ sanktionen bereits verstehen und sich vor ihnen fürchten. Mit vier oder fünf Jahren sei das fagnahy, also eine reflexive Kapazität, dann soweit ausgebildet, dass Kin‑ der in der Lage sind, auch Sanktionen wie Prügelstrafe oder Nahrungsentzug als Konsequenzen von Normverstößen zu begreifen und zu fürchten. Zwei Merkmale, durch die sich die Sanktionspraxis in der Kindheit von der leichten Sanktionierung im Kleinkindalter abhebt, erfordern offenbar konzeptuelle Kompetenzen auf der Seite des Kindes: die zeitliche Kluft zwischen Normverstoß und Sanktionierung und die Sanktionierung für unterlassenes Handeln. Die erneute Umstellung der Sanktionspraxis ab dem Jugendalter legt die Ver‑ mutung nahe, dass damit kognitive Fähigkeiten angesprochen werden, die über das rein konzeptuelle Niveau hinausgehen. Denn aus einer etischen Perspektive basiert das furchtauslösende Modell der Ahnensanktion (havoa) auf der Imagina‑ tion sinnlich nicht direkt wahrnehmbarer Akteure; zudem ist es in komplexe reli‑ giöse Bedeutungssysteme und symbolische Praktiken eingebettet. In Erweiterung

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des Ansatzes von Leventhal und Scherer lässt sich die Erweiterung des Furcht-Ap‑ praisal im Jugendalter als imaginativ bezeichnen. Ein entscheidender Gedanke des skizzierten Entwicklungsmodells für morali‑ sche Furcht besteht darin, dass auch das imaginäre Furcht-Appraisal im Jugend‑ alter in konzeptuellen und schematischen kognitiven Modellen verankert ist, die sich im Laufe der Sozialisation auf der Basis konkreter, intensiver Erfahrungen herausgebildet und verschränkt haben. Ausgehend von diesen Überlegungen so‑ wie vom präsentierten empirischen Material werde ich nun schrittweise den Ent‑ wicklungspfad der moralischen Furcht rekonstruieren.

Vorbereitende Erfahrungsmuster im Säuglingsalter Im ersten Lebensjahr sollten Säuglinge aus Sicht der Eltern genauso wenig körper‑ lich sanktioniert wie furchteinflößenden Situationen ausgesetzt werden: Ist es angebracht, einem Säugling Furcht beizubringen? Nein! Man nimmt ihn vor der Sache in Schutz, die es erschrecken könnte, weil es krank wird, wenn es sich fürchtet. (Rakoly, w 24, 2 Kinder, verheiratet) Das sollte man nicht tun, weil es ihn krankmacht. Dann schläft er nicht gut, weil er schreckhaft wird. Und wenn er nicht gut schläft, wird er krank. (Mbasay, w 30, 4 Kinder, verheiratet)

Diese Haltung entspricht den allgemeinen, im zweiten Teil beschriebenen Sicht‑ weisen zur Betreuung von Säuglingen: Mit dem körperzentrierten Betreuungsstil streben Bezugspersonen nicht nur eine möglichst rasche Entwicklung ihrer Säug‑ linge an, sondern zugleich auch eine möglichst rasche Beruhigung oder die proak‑ tive Unterbindung von Distress-Erfahrungen. Das Datenmaterial zum Distress von Säuglingen (s. Kapitel 8) legt nahe, dass Kinder in den ersten Lebensjahren noch ausgesprochen selten negative Emotionen erlebten. Allerdings kann die Beziehungs- und Bindungsformierung im ersten Lebens‑ jahr, wie im 1. Kapitel dargelegt, als predispositional priming, als Vorbereitung und Sensibilisierung für die später einsetzende Furchtsozialisation angesehen werden. Vor diesem Hintergrund habe ich im 8. Kapitel einige Aspekte der hierarchischen Beziehungsformierung herausgearbeitet, von denen zwei besonders relevant für die Vorbereitung der Furchtsozialisation erscheinen: (1) Die primäre Erfahrung der Mutter und ihrer Vertreter als Garanten des eigenen körperlichen Wohls, die durch einen Betreuungsstil zustande kommt, der die körperlichen Bedürfnisse von Säug‑ lingen und Kleinkindern in den Fokus rückt und andere Formen der Zuwendung weitgehend den Peers überlässt. Hinzu kommt das Erhalten von Lebensmitteln als zentrales, emotional bedeutsames Erfahrungsmedium elterlicher Zuwendung, das sich im zweiten Lebensjahr aufgrund der allmählichen Zuspitzung der Betreuung auf die Nahrungsgabe herauskristallisiert. (2) Das asymmetrische Verhältnis zwi‑ schen Betreuungspersonen und Kind, das in der Forschungsregion besonders dezi‑ diert ist, weil Säuglinge symmetrisch-reziproke und spielerische Interaktionen, bei denen sie selbst eine aktive Rolle übernehmen, systematisch mit anderen Partnern erfahren, vor allem mit ihren Peers und etwas älteren Kindern. Der Umstand, dass Säuglinge ihre Mütter und andere Erwachsene vor allem in der aktiven Rolle des

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Gebenden und sich selbst in der passiven Rolle des Empfangenden erleben, bietet Säuglingen die konstante Erfahrung, dass sie in ihrem körperlichen Wohl direkt von den Betreuungspersonen abhängig sind. Diese beiden Aspekte hierarchischer Beziehungserfahrungen kann in dreierlei Hinsicht als Vorbereitung für die später einsetzende Furchtsozialisation gesehen werden: (1) Die Erfahrung der Eltern als Quell von körperlichem Wohlbefinden und Nahrung fundiert auf einer senso-motorischen und impliziten Ebene: das äl‑ teren Kindern u.a. im Kontext der Furchtsozialisation vermittelte Beziehungskon‑ zept, wonach sie nur durch ihre gottgleichen Eltern leben – und letztlich auch die Imagination, dass die eigene Lebenskraft kontinuierlich einer Segenszuwendung wohlgesonnener Ahnen bedarf. (2) Die Wahrnehmung, dass das körperliche Wohl geradezu in den Händen der Eltern liegt, sensibilisiert Kinder zudem für Körper‑ sanktionen, weil diese eine direkte Kontrasterfahrung darstellen. (3) Neben einer solchen Sensibilisierung für die spätere Sanktionspraxis dürfte der körperzentrier‑ te Betreuungsstil Kinder auch darauf vorbereiten, Körpersanktionen tatsächlich so zu erfahren, wie sie gemeint sind – nämlich als Bedrohung des körperlichen Wohls und nicht etwa als Erniedrigung oder soziale Entwertung. Denn das Verhältnis zu Bezugspersonen ist von vornherein asymmetrisch geprägt, und zugleich entwi‑ ckeln Kinder kaum eine Erwartung expressiver sozialer Wertschätzung gegenüber Müttern, die durch die Körpersanktion enttäuscht werden könnte. Das Bedürfnis nach expressiver Wertschätzung und emotionaler Nähe steht vor allem deshalb nicht zur Disposition, weil Kinder bereits im Säuglingsalter lernen, dieses Bedürf‑ nis in Beziehungen mit ihren befreundeten Peers auszuleben.

Ausbildung der Statusfurcht im Kleinkindalter Dem vorhandenen Datenmaterial zufolge beginnt die eigentliche Furchtsoziali‑ sation, d.h. die Ausrichtung dieser Emotion auf Autoritätspersonen am Ende des zweiten Lebensjahres. Dies legen die Darstellungen der Interviewpartner zum Be‑ ginn der Körpersanktion sowie entsprechende Beobachtungen nahe. Betreuungs‑ personen zufolge sind allerdings bereits Säuglinge in der Lage, mit Schreck (taitsy) auf plötzliche Bewegungen zu reagieren. Aus einer etischen Perspektive lässt sich diese reflexhafte emotionale Reaktion auf angeborene sensomotorische Kapazitä‑ ten zurückführen und als Vorläufer der Furcht bezeichnen. Die Sanktionspraxis im Kleinkindalter setzt offenbar an dieser grundlegenden emotionalen Kapazität des Erschreckens an. Denn die abrupte Art und Weise, in der Mütter und zuwei‑ len auch Babysitter Kleinkindern einen Klaps versetzen, scheint geradezu auf ein Erschrecken zu zielen. Diesen Eindruck vermittelten zumindest Beobachtungen, wie betroffene Kleinkinder zusammenzuckten und dann für eine Weile regungslos blieben, als versuchten sie, das Geschehen einzuordnen. Einiges spricht dafür, dass Kleinkinder aufgrund dieser Sanktionspraxis zu‑ nächst ein schematisches, bildhaftes Modell ihrer Sanktionserfahrungen konstru‑ ieren, wohingegen konzeptuelle Bewusstseinsvorgänge für sie noch keine tragen‑ de Rolle spielen: Aus der Sicht der Eltern verfügen Kleinkinder noch nicht über das mit Vernunft oder Bewusstsein zu vergleichende fagnahy, gelten vielmehr als unbewusst bzw. unwissend. Im Unterschied zur Körperstrafe bei älteren Kindern erfordern die leichten Körpersanktionen im Kleinkindalter kein konzeptuelles Ver‑

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ständnis des Geschehens, weil hierbei der Klaps oder Stoß sowie der Wutausdruck stets mit dem Fehlverhalten zusammenfallen und diesem direkt entgegenwirken. Das sich im Kleinkindalter entwickelnde, schematische Furcht-Appraisal lässt sich auf der Grundlage der im 10. Kapitel geschilderten Beobachtungen zumin‑ dest annähernd rekonstruieren. Schon zwei- bis dreijährige Kinder reagierten in aller Regel äußerst sensibel auf die Wutäußerungen ihrer Mütter und anderer Er‑ wachsener – etwa eine erhobene Hand oder ein scharfer Tonfall bei einer Zurecht‑ weisung –, indem sie ihre explorativen Aktivitäten umgehend einstellten oder da‑ vonliefen. Offenbar hatten diese Kinder aufgrund früherer Sanktionserfahrungen bereits gelernt, ein solches Ausdrucksverhalten ihrer Bezugspersonen als Signal einer drohenden Körpersanktion einzuschätzen. Gemäß der oben angeführten Theorie von Leventhal und Scherer aktiviert der Anblick einer wütenden Bezugs‑ person ein schematisches Modell der vergangenen Sanktionserfahrungen, womit dem Kind die entsprechenden körperlichen und emotionalen Erfahrungen unmit‑ telbar vor Augen treten. Somit beginnt es sich vor einer Wiederholung der Sank‑ tionserfahrung zu fürchten. Diese emotionale Reaktion motiviert es wiederum, seine aktuelle Aktivität einzustellen oder sich rasch von der wütenden Bezugsper‑ son zu distanzieren. Das wütende Ausdrucksverhalten von Bezugspersonen wird damit zu einem Furchtauslöser – und gleichzeitig zu einem integralen Bestandteil der Furchterfahrung. Der Umstand, dass sich bereits Kleinkinder in der Gegenwart von Erwachsenen meist äußerst ruhig, zurückhaltend und vorsichtig verhielten – ganz im Gegensatz zum lebhaften Umgang mit ihren Peers – spricht noch für einen weiteren Entwick‑ lungsschritt des Furcht-Appraisals. Diese Zurückhaltung erwarteten Erwachsene von ihren Kindern als Ausdruck des Respekts ( fiasia), und sie führten es ebenfalls auf eine gewisse Furchtsamkeit zurück: »Ein vernünftiges/braves (mahitsy) Kind sitzt stets still, weil es die Menschen fürchtet (atahorany1 olo)«, erklärte etwa Nay, eine junge Mutter, anlässlich meiner Frage nach gutem Verhalten von Kleinkin‑ dern. Offenbar kann bereits der Anblick einer Autoritätsperson Kleinkinder dazu veranlassen, die Möglichkeit einer wütenden Reaktion auf ihr Verhalten, sowie die daraus folgende Körpersanktion zu antizipieren und damit Furcht zu erleben, die sie zur Vorsicht gemahnt. Die im Kleinkindalter sozialisierte Furcht lässt sich in Analogie zum Begriff der Statusscham als ›Statusfurcht‹ oder Ehrfurcht fassen, da sie durch die Präsenz von Autoritätspersonen ausgelöst wird und zu ruhigem Verhalten in ihrer Gegenwart sowie zur Wahrung einer gewissen physischen Distanz ihnen gegenüber motiviert. Die moralische Funktion der Statusfurcht ist allerdings noch stark eingeschränkt. Da sie noch weitgehend durch die Präsenz von Autoritätspersonen aktiviert wird, regulieren Kleinkinder mit dieser Emotion vor allem ihr direkt auf Erwachsene bezogenes Verhalten. Eine konsequente Normbefolgung sowie die verlässliche Ver‑ richtung von Aufgaben erfordert hingegen eine Emotions- und Verhaltensregula‑ tion unabhängig von der Präsenz der Bezugspersonen.

1 | Passiv des Verbs matahotsy.

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Furchtsozialisation in der Kindheit In der Kindheit, also ab vier oder fünf Jahren, setzt eine Erweiterung und Ausdiffe‑ renzierung der bereits im Kleinkindalter angelegten Furchtdisposition ein: Kinder erhalten die Gelegenheit, ihre Furchtdisposition mit einem weiteren Spektrum an Normen und Pflichten zu verknüpfen. Damit verbunden ist eine Erweiterung und Ausdifferenzierung des im Kleinkindalter angelegten schematischen Furcht-Ap‑ praisals auf einem konzeptuellen Bewusstseinsniveau. Wie in den beiden vorangegangenen Kapiteln deutlich wurde, beginnen Eltern von ihren vier- oder fünfjährigen Kindern Folgsamkeit, Normbefolgung und die selbständige Verrichtung von alltäglichen Pflichten zu erwarten. Das entsprechen‑ de Fehlverhalten tritt, wie zahlreiche Narrative von Kindern nahelegen, häufig dann auf, wenn die Eltern oder andere Autoritätspersonen nicht präsent sind – etwa bei dem Versäumnis, Feuerholz im Wald zu sammeln, oder bei dem Normverstoß, sich mit verwandten Kindern zu schlagen. Als Konsequenz werden Kinder meist nicht unmittelbar nach dem Fehlverhalten sanktioniert, vielmehr häufig erst am Abend, wenn sie sich nach Hause begeben. Hinzu kommt, dass Kinder auch für unterlassene Handlungen, also für ein Nicht-Handeln sanktioniert werden. Im Kleinkindalter bezieht sich die Sanktionierung lediglich auf zu unterlassendes Verhalten und das Fehlverhalten fällt mit der Präsenz der Sanktionsperson und der Sanktionierung zusammen. Mit Leventhal und Scherer (1987) lässt sich argumentieren, dass konzeptuel‑ le kognitive Fähigkeiten erforderlich sind, um zeitlich weit auseinander liegende Ereignisse, abwesende Autoritätspersonen und Nicht-Handeln aufeinander zu be‑ ziehen. Auch die Begründungen der Eltern, weshalb sie erst von älteren Kindern generelle Folgsamkeit erwarten und sie bei Ungehorsam entsprechend harsch sanktionieren, deuten in diese Richtung. Ihnen zufolge können Kinder erst ab vier oder fünf Jahren die Prügelstrafe oder den Nahrungsentzug verstehen bzw. auf ihr Fehlverhalten beziehen, weil sie in diesem Alter verständig (mahay raha) oder vernünftig (mahitsy) werden und die sozio-kognitive Kapazität des fagnahy auszu‑ bilden beginnen. Die von Kindern erzählten Narrative ihrer Sanktionserfahrungen zeigen wiederum, dass sie, insbesondere die Älteren unter ihnen, über prägnante konzeptuelle Modelle der Zusammenhänge zwischen ihrem Fehlverhalten, den wütenden Reaktion bestimmter Autoritätspersonen, der Sanktion selbst und den von ihnen erlebten Emotionen verfügten. Theoretisch sind Kinder, die diese Zusammenhänge gelernt haben, in der Lage, sich den Normen und Werten ihrer Gemeinschaft sowie dem situativen Willen ihrer Autoritätspersonen entsprechend zu verhalten, weil sie damit bereits bei der Abwägung von Handlungsalternativen antizipieren können, was sie im Fall eines Normverstoßes erwarten würde. Tatsächlich verhielten sich die meisten Kinder von Menamaty ausgesprochen folgsam und pflichtbewusst. Wie allerdings ihre Nar‑ rative zu den Sanktionserfahrungen zeigen, können starke Motive einem norm‑ konformen Verhalten entgegenwirken – gerade dann, wenn keine Autoritätsperson präsent ist und somit das im Kleinkindalter erlernte schematische Furcht-Apprai‑ sal nicht greift. So berichteten Kinder, dass sie aus Müdigkeit eine Aufgabe nicht erfüllten oder eine Pflicht wie das Rinderhüten vernachlässigten, weil sie der Ver‑ suchung nicht widerstehen konnten, im Wald mit ihren Peers spannenderen Akti‑ vitäten nachzugehen. Auch die in Konflikten mit verwandten Kindern auftretende

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Wut veranlasste Kinder offenbar zu handgreiflichen Auseinandersetzungen, ob‑ wohl sie bereits wussten, dass dies die Eltern nicht gutheißen würden. Jungen stah‑ len Hühner nicht nur wegen des in Aussicht stehenden Fleischgenusses, sondern auch, um Geschicklichkeit und Mut gegenüber den Peers unter Beweis zu stellen. Gemäß den oben angeführten Überlegungen zur Furchtentwicklung gehe ich da‑ von aus, dass die kognitiven Modelle der Kinder zu (un-)moralischem Verhalten und Sanktionen erst aufgrund einer Reihe direkter Körpersanktionen und inten‑ siver Furchterfahrungen eine derart starke affektive Potenz erhalten, dass Kinder etwaige Motive für Fehlverhalten hintanstellen. Tatsächlich legen die Schilderungen der Kinder eindrücklich nahe, dass sie während der Körpersanktion äußerst intensive Furchterfahrungen machten, die weit über die Schreckerlebnisse im Kleinkindalter hinausgehen. Durch die von sanktionierenden Personen ausgesprochenen Drohungen, das Kind beim nächsten Mal noch stärker zu schlagen oder gar zu töten, nimmt die Furchterfahrung, wie auch Narrative einiger Kinder bestätigten, durchaus eine existenzielle Dimension an. Derartige Sanktionspraktiken mögen durch die Erfahrungen aus den ersten Lebensjahren, wonach das eigene körperliche Wohlergehen in einem umfassenden Sinn von den Bezugspersonen abhängt, noch an Überzeugungskraft gewinnen. Nicht zuletzt dürfte die tröstende und erklärende Zuwendung durch eine weitere Bezugsperson infolge der Körperstrafe Kindern helfen zu verstehen, dass die inten‑ sive Sanktionserfahrung eine direkte Konsequenz ihres Fehlverhaltens darstellt, dass sie durch ein Wohlverhalten zu vermeiden ist und sie in diesem Fall wieder mit einer verlässlichen positiven Zuwendung ihrer Bezugspersonen rechnen kön‑ nen. Die Erfahrung des Nahrungsentzugs erzeugt zwar nicht eine vergleichbare akute Furcht, sie ermöglicht es dem Kind jedoch ebenfalls, am eigenen Leib zu erfahren, dass sein körperliches Wohl bzw. die Zuwendung der Eltern von seiner Folgsamkeit ihnen gegenüber abhängt. Aufgrund wiederholter Erfahrungen solch akuter, intensiver Furcht während Körpersanktion lernen Kinder nicht nur, die Konsequenzen ihres Verhaltens und Handelns zu antizipieren, sondern auch zu fürchten – selbst dann, wenn sanktio‑ nierende Personen gar nicht präsent sind. Somit kann schon die Motivation etwas zu tun, was den Normen widerspricht, Furcht auslösen. Denn eine solche Motiva‑ tion, so lässt sich auf der hier zugrunde gelegten theoretischen Basis annehmen, aktiviert das entsprechende affektiv-kognitive Modell, womit sich dem Kind der drohende Zorn einer Autoritätsperson sowie die Körpersanktion vergegenwärtigt und die dabei erlebte Furcht von Neuem einstellt. Sofern die Furcht die ursprüngli‑ che, non-konforme Motivation überwiegt, erwächst daraus die Handlungstendenz, dem Willen der Eltern zu entsprechen. Aufgrund einer solchen Furchtdisposition können Kinder also auch trotz entgegengesetzter Motivlage dem Willen ihrer El‑ tern und den Normen ihrer Gesellschaft entsprechen, ohne dass ein Eingreifen oder auch nur die Präsenz von Autoritätspersonen erforderlich wäre. Unabhängig von dem hier präsentierten Modell zur Entwicklung der morali‑ schen Furcht lässt sich dem empirischen Material direkt entnehmen, dass Furcht bzw. tahotsy in der Kindheit eine wichtige moralische Rolle übernimmt: Erwach‑ sene führten die ausgeprägte Folgsamkeit und Verlässlichkeit ihrer Kinder einhel‑ lig darauf zurück, dass sie sich vor ihnen bzw. den drohenden Körpersanktionen fürchteten. In Alltagssituationen begründeten Kinder ihr Tun und Lassen immer wieder damit, dass sie sich vor dem Zorn dieser oder jener Person fürchteten. Dabei

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benutzten sie häufig das Emotionskonzept tsy mahasaky, etwas nicht wagen, was die proaktive handlungsregulierende Funktion von Furcht exakt trifft. Zu betonen ist allerdings, dass die Furchtdisposition Kinder auch dazu veran‑ lassen konnte, ihr Fehlverhalten vor Autoritätspersonen zu verbergen oder diese zu meiden. Jungen stahlen beispielsweise immer wieder heimlich Hühner, weil sie hoffen konnten, dass diese Tat vor den Autoritätspersonen verborgen bleibt. Ja, gerade die Gefahr einer Entdeckung und darauf folgenden Sanktion machte diese Aktivität zu einer Mutprobe. Zahlreiche Kinder berichteten auch von der Strategie, die Sanktionsperson solange zu vermeiden, bis ihr Zorn verflogen sei. Einer akut drohenden Prügelstrafe konnten Kinder wiederum durch Flucht zu entkommen suchen. Im Jugendalter droht die in der Kindheit sozialisierte Furcht ihre mora‑ lische Funktion sogar wieder einzubüßen, da Jugendliche nicht mehr mit einer direkten Körpersanktion rechnen müssen bzw. in der Lage sind, sich dagegen zur Wehr zu setzen.

Furchttransformation in der Jugend Im Jugendalter und auch bei Erwachsenen bleibt allerdings das grundlegende, im Kleinkindalter angelegte und in der Kindheit ausdifferenzierte Appraisal-Muster der moralischen Furcht erhalten. Wie aus den Sanktionsnarrativen zu havoa hervor‑ geht, verbinden Jugendliche und Erwachsene unmoralisches Verhalten und Han‑ deln weiterhin mit der Furcht vor einer Beeinträchtigung des körperlichen Wohls und einer Bedrohung der physischen Existenz als Folge einer Sanktion durch eine zornige Autoritätsfigur. Allerdings zeugen die havoa-Narrative von einer zwar ge‑ ringfügigen, dennoch entscheidenden Transformation dieses Appraisal-Musters: Als Sanktionsinstanz tritt an die Stelle einer leibhaftigen Autoritätsperson der kör‑ perlose Geist des Großvaters oder gar des Vaters – sofern dieser bereits verstorben ist. Anstelle von Stockhieben oder Nahrungsentzug droht havoa, also ein durch den Zorn der Ahnengeister verursachter Fluch oder Segensentzug. Die Konsequenz von havoa ist weiterhin lebensbedrohliches physisches Leid – nun allerdings in Ge‑ stalt von akuten oder sich allmählich verschlimmernden Krankheiten oder ande‑ ren Anzeichen einer lebensbedrohlichen Entwicklung. In gleicher Weise wie das oben beschriebene affektiv-kognitive Modell von Kör‑ persanktionen in der Kindheit fungiert auch das havoa-Konzept als Appraisal für moralische Furcht ab dem Jugendalter: Der Impuls etwa, dem Vater Widerworte zu geben, ruft das Szenario erzürnter Ahnengeister sowie die Gefahr körperlicher Konsequenzen ins Bewusstsein – und damit eine Furcht, deren Handlungstendenz dem ursprünglichen Impuls entgegenwirkt. Im Unterschied zum Furcht-Apprai‑ sal der Kindheit lässt dasjenige der Jugend allerdings kaum noch Optionen offen, sich der Sanktion zu entziehen. Es hat keinen Sinn mehr, den Normverstoß vor der Sanktionsinstanz zu verbergen oder diese zu meiden, da Ahnengeister aufgrund ihrer Unsichtbarkeit jederzeit präsent sein können. Auch besteht keine Möglichkeit mehr, sich den Ahnengeistern zu widersetzen, da sie als körperlose Wesen nicht direkt angreif bar sind. Die Transformation der moralischen Furcht im Jugendalter erfolgt augenschein‑ lich unter Einbeziehung zentraler Vorstellungen und symbolischer Praktiken des lokalen religiösen Systems. Dieses bildet geradezu die Voraussetzung für die Funk‑ tionalität der moralischen Furcht im Jugend- und Erwachsenenalter, da die Sank‑

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tionsgefahr an Ahnengeistern festgemacht wird. Aus einer etisch-psychologischen Perspektive erscheint die Verlagerung der Sanktionsinstanz in den übersinnlichen Bereich als ein weiterer Internalisierungsschritt. Während im Kleinkindalter noch der Anblick der wütenden Mutter und in der Kindheit die Antizipation einer Begeg‑ nung mit dem erzürnten Vater (oder mit einer anderen Autoritätsperson) Furcht hervorruft, beginnen sich Jugendliche aufgrund gänzlich imaginierter Akteure (Ahnengeister) zu fürchten. Die Furchtentwicklung setzt sich im Jugendalter also auf einem imaginativen oder transzendenten Niveau fort. Nun stellt sich die Frage, weshalb die Imagination sinnlich nicht direkt wahr‑ nehmbarer Ahnengeister und deren Sanktionierung für die meisten Jugendlichen und Erwachsenen aus Menamaty offenbar derart zwingend ist, dass sie in Ver‑ bindung mit Normverstößen intensive Furcht hervorrufen kann. Diese Frage er‑ scheint umso dringlicher, als zahlreiche Jugendliche ja von einem persönlichen Normverstoß zu berichten wussten. Offenbar waren ihre Motive für dieses Fehlver‑ halten stärker als die Furcht vor der Ahnensanktion. Als entscheidende Fundierung für den festen Glauben an unsichtbare Ins‑ tanzen und für die Furcht vor ihnen sind die sinnlichen Sanktionserfahrungen und die dabei intensiv erlebten Emotionen in der Kindheit zu sehen, die sich in einem affektiv-kognitiven Modell niederschlagen. Denn die Grundstruktur dieses Modells (Fehlverhalten → Zorn einer Autoritätsperson → Sanktion → Erfahrung von körperlichem Leid und existenzieller Bedrohung → akute Furcht) bleibt auch bei der Ahnensanktion erhalten. Es bedarf lediglich einer leichten inhaltlichen Modifikation durch die Einflechtung geteilter religiöser Vorstellungen des Ahnen‑ glaubens. Verschiedene Kommunikationsformen und Praktiken tragen zu einer solchen Verflechtung bei. Eine wichtige Rolle bei der Vermittlung des Ahnenglaubens dürfte schlicht das Teilnehmen und Mitwirken an Bestattungsritualen spielen, die nicht nur die Aus‑ gliederung des Verstorbenen aus der Gemeinschaft der Lebenden während einer ersten Bestattung, sondern auch seine ›Auferstehung‹ als Ahnengeist und Integra‑ tion in die Gemeinschaft der Ahnen während einer zweiten Bestattung nachvoll‑ ziehbar machen (vgl. Huntington 1973).2 Während Kinder nur am Rande an diesen Aktivitäten teilnehmen – so waren sie bei den zwei von mir erlebten Bestattungen nicht anwesend –, sind Jugendliche gänzlich involviert; sie fertigten etwa den Sarg und trugen den Leichnam zu Grabe. Dieses Nach- und Mitvollziehen der Ahnen‑ genese dürfte Jugendliche besonders dann von der Realität des havoa überzeugen, wenn es sich beim Verstorbenen um den eigenen Vater handelt, dessen Sanktionen in der Kindheit bereits am eigenen Leib erfahren wurden und der womöglich auch damit gedroht hat, dies als zukünftiger Ahnengeist fortzusetzen. Kindern waren bereits sämtliche Erzählungen bekannt, wonach verschiedene Personen aus der Region zu Tode gekommen sind, weil sie durch ihr Fehlverhalten die Ahnen erzürnt hatten. Ebenso dienten einzelne verstümmelte oder behinderte Personen als sichtbare Zeugen für die Macht der Ahnen. Nicht zuletzt handeln die vielfältigen Fabeln und Märchen (tapasiry), die sämtliche Kinder aus Menamaty auswendig erzählen konnten, häufig von einem Normverstoß und der darauf fol‑ 2 | Hollan (2012: 576) argumentiert ähnlich dafür, dass bei den Toraja Indonesiens die Teilnahme an Bestattungsritualen eine zentrale Rolle für die Präsenzerfahrung von Ahnengeistern spielt.

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genden Ahnensanktion.3 Die Ahnengeister treten in diesen Geschichten typischer‑ weise in der Gestalt von Vögeln auf, denen aus der Vogelperspektive nichts entgeht. Die Konzeption der kontinuierlichen Ahnensegnung als Voraussetzung für die eigene Lebenskraft wird grundsätzlich bereits in der frühen Kindheit verankert, indem Kinder im ersten Lebensjahr ihre Eltern vor allem als Quell eines umfas‑ senden körperlichen Wohlbefindens kennenlernen und diese Zuwendung ab dem zweiten Lebensjahr vor allem über das Erhalten von Nahrung erleben. Die Ahnen‑ sanktion des Segensentzugs oder Fluchs, die erst vor dem Hintergrund kontinuier‑ licher Segnung eine existenzielle Bedeutung annimmt, kann wiederum als Ver‑ längerung der Erfahrung von Nahrungsentzug und Prügelstrafe in der Kindheit angesehen werden. Gewissermaßen können die Konzepte der Segnung bzw. Ver‑ fluchung als Abstraktionen und Generalisierungen zentraler Beziehungserfahrun‑ gen von Kindern in hierarchischen Sozialrelationen verstanden werden. Wie das bereits angeführte Sprichwort »Die Eltern sind sichtbare Götter« nahelegt, kann das Bild der Eltern nicht nur auf unsichtbare Instanzen übertragen werden, son‑ dern auch umgekehrt die Vorstellung letzterer auf die Eltern. Vor dem Hintergrund all dieser Sozialisationserfahrungen ist auch die Beteue‑ rung von vielen zu havoa befragten Jugendlichen, insbesondere von jungen Frauen nachvollziehbar, sie hätten aus Furcht vor havoa noch nie einen schwerwiegenden Normverstoß ( fady loza) begangen. Einige der Befragten hatten sich jedoch durch ›jugendlichen Übermut‹ oder starke Affekte zu unmoralischem Handeln hinrei‑ ßen lassen oder aufgrund mangelnder Vorsicht Nahrungstabus verletzt. Wie im 10. Kapitel dargelegt, bestehen für diese Fälle einige Möglichkeiten, Jugendlichen die Ahnensanktion fühlbar zu machen. Der Akt des Verstoßens aus der Abstammungsgruppe lässt Jugendliche ihre Abhängigkeit vom Segen der Vorfahren direkt erfahren, da dieser in der Regel zu einer Verschlechterung der Lebensumstände führt. Auch ist denkbar, dass das Ver‑ stoßen das körperzentrierte Bindungsmodel der Betroffenen aktiviert und damit zu einer gesteigerten Sorge um das eigene physische Wohl führt. Ein Krankheits‑ symptom oder auch nur subjektives Unwohlsein bietet wiederum die Gelegenheit, den Betroffenen zu einem ombiasa (Wahrsager und Heiler) zu schicken, der mittels sikidy (Orakel) die Diagnose havoa stellt und damit möglicherweise eine bereits vor‑ handene vage Befürchtung bestätigt. Selbst wenn nach dem Normverstoß schon einige Zeit verstrichen ist, bis sich ein körperliches Leid einstellt, kann die Dia‑ gnose havoa plausibel vermittelt werden, weil sich aus emischer Perspektive die Wirkung des anzestralen Segensentzugs ohnehin schleichend einstellt. Aus einer etischen Perspektive ist überdies denkbar, dass sich Krankheitszeichen infolge 3 | Diesen thematischen Schwerpunkt bestätigt auch Faublée, der zahlreiche Erzählungen der Bara erhoben und in einer Monografie kommentiert hat: »Ces récits […] manifestent l’existence et la vitalité des esprits des morts, la force de la malédiction paternelle, la puissance du patriarche et les coutumes ancestrales.« (1947: 15) Die Praxis des Geschichtenerzählens gehörte während der Feldforschung zum Alltag und stellte für Kinder eine zentrale Quelle fiktiver Erzählungen dar, zumal diese Praxis nicht in Konkurrenz zu schriftlichen Medien stand. Obwohl ihre Bedeutung für die Vertiefung und Erweiterung der Sozialisationserfahrungen nicht zu unterschätzen ist, muss hier aus Platzgründen auf eine Analyse verzichtet werden. Vgl. auch Mathiews (1992) zur moralischen Bedeutung von Volksmärchen in einer mexikanischen Gemeinschaft.

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eines gravierenden Normverstoßes auf psychosomatischem Wege einstellen, weil sich der Betroffene vor körperlichen Konsequenzen zu fürchten beginnt. Zwei Ge‑ sprächspartner ließen die Vermutung eines solchen psychosomatischen Zusam‑ menhangs durchblicken. Unabhängig voneinander erklärten sie mir den Umstand, dass Normverstöße bei einigen Personen kein Unheil nach sich zogen, schlicht mit der Furchtlosigkeit des ›Delinquenten‹. Zudem findet bisweilen eine Sofortmaß‑ nahme gegen die tödlichen Folgen eines versehentlichen Tabubruchs Anwendung, die den bezeichnenden Namen trägt: ko mataho-doza – fürchte nicht das Unheil.4 Vor einem solchen Hintergrund können auch die reintegrierenden Opferhand‑ lungen dem Betroffenen die Zusammenhänge zwischen dem eigenen Befinden und dem Zorn der Ahnengeister fühlbar machen. Der emischen Sichtweise zufol‑ ge beschwichtigt die Darbringung eines Rinderopfers die Ahnengeister, womit die Lebenskraft (ay) wieder zu fließen beginnt und der Betroffene zu Kräften kommt und gesundet. Geht man davon aus, dass die körperlichen Beschwerden durch die Furcht vor havoa entstehen oder zumindest aufgrund der Befürchtung eines fata‑ len Krankheitsverlaufs besonders intensiv wahrgenommen werden, so dürfte sich der Betroffene tatsächlich besser fühlen, sobald die Ahnen offiziell als beschwich‑ tigt gelten und damit die Ursache der Krankheit aufgehoben ist. Wie die tröstende und erläuternde Reintegration von Kindern infolge einer Körpersanktion dürfte also auch die rituelle Reintegration im Jugendalter die Zusammenhänge zwischen Fehlverhalten und Sanktionserfahrung vermitteln. Wie die Interviews zu havoa nahelegen, durchlebten die meisten Jugendlichen maximal eine havoa-Episode. Dies legt den Schluss nahe, dass die dabei gemachten Erfahrungen einen bleibenden Eindruck hinterlassen und die Furcht vor erneutem havoa derart bekräftigen, dass die meisten Jugendlichen weitere schwere Normver‑ stöße zukünftig unterlassen.

E nt wicklungspfad der W utregul ation und - ausdifferenzierung Wie die Darstellung der Erziehungs- und Sanktionspraktiken gezeigt hat, spielen neben der Furcht auch Emotionen der Wut eine herausragende Rolle in diesen So‑ zialisationsepisoden. Dabei ist Wut in dreierlei Hinsicht von Bedeutung: (1) Offen gezeigte Wut und aggressives Verhalten von Kindern gegenüber Verwandten ist ein bedeutender Sanktionsanlass; (2) Im Rahmen der Sanktionierung erleben Kinder die Wut der Sanktionsperson; (3) Kinder reagieren auf Körpersanktionen nicht nur mit Furcht, sondern auch mit Wut. Obwohl die Sanktionspraktiken sowohl Furcht als auch Wut bei Kindern hervorrufen, unterscheiden sich die Erziehungsziele für diese beiden Emotionen deutlich voneinander: Während Eltern ihren Kindern ge‑ zielt Furcht einflößen, geht es ihnen bei der Wut in erster Linie um eine angemes‑ sene Regulierung. Der nun zu skizzierende Entwicklungspfad der Wut betrifft also

4 | Eine ähnliche Sichtweise schreibt Levy (1973: 169) Bewohnern Tahitis zu: »[T]he average spirit […] can only affect someone who is concerned with it, who worries about it and shows his fear of it. Someone who is strong enough to say, ›I will not take you seriously; go away‹, is relatively invulnerable.«

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weniger die Herausbildung einer Emotionsdisposition wie bei der Furcht, sondern vor allem die Entwicklung einer Kompetenz zur kontextabhängigen Wutregulation. Aus dem präsentierten Datenmaterial geht klar hervor, dass Wutäußerungen von Kindern nicht pauschal sanktioniert werden, sondern vielmehr in Abhängigkeit von der jeweiligen sozialen Relation, in der die Interaktionspartner zueinander stehen. Damit führt der Entwicklungspfad der Wutregulation zugleich zu einer Ausdifferen‑ zierung dieser Emotion in verschiedene Formen. Die Analyse des Wutvokabulars und der sozialen Einbettung dieser Emotionen im 4. Kapitel legt zusammen mit den Sanktionspraktiken nahe, dass der Entwicklungspfad der Wutregulation zur Ausbil‑ dung von drei Subformen der Wut auf der Basis einer Grundform führt. Als Grund‑ form bzw. Schlüsselkonzept der Wut wurde seky identifiziert, eine Wutemotion, die sich durch eine aggressive Handlungstendenz auszeichnet. Die Subformen von seky habe ich oben nach ihren jeweiligen Regulationsniveaus und Handlungstendenzen als appellierende, vergeltende und sanktionierende Wut bezeichnet. Im Folgenden sollen zunächst einige Überlegungen zum Entwicklungsmodell angestellt werden, um dann nacheinander die Ausdifferenzierung von seky in die genannten Subformen zu rekonstruieren. Bei dieser Gliederung ist zu bedenken, dass sie nicht direkt eine Stufenfolge abbildet, da die Ausdifferenzierung der Wut mehr oder weniger parallel abläuft.

Entwicklungsmodell der Wutregulation Wie das präsentierte Datenmaterial nahelegt, ist die Entwicklung der Wutregula‑ tion eng mit der Sozialisation der moralischen Furcht verknüpft. Sowohl Kinder als auch Erwachsene machten deutlich, dass sie ihre Wut gegenüber Autoritätsperso‑ nen mittels Furcht vor den Sanktionskonsequenzen regulieren. Eine solche »emo‑ tion-emotion regulation« (Izard 1983: 307) mittels moralischer Furcht liegt auch insofern nahe, als Wutäußerungen in der Forschungsregion in hohem Maße mora‑ lisch relevant sind und somit unter die Kontrolle der Furcht als primäre moralische Emotion gestellt werden. So zeigte sich bereits in der Erörterung der Sanktions‑ praktiken, dass wütende, aggressive Handlungen, wie etwa eine Handgreiflichkeit gegenüber Mitgliedern derselben Abstammungsgruppe oder lautstarke Widerwor‑ te gegenüber Autoritätspersonen, schwerwiegende Normverstöße darstellen und von Eltern durch furchteinflößende Körperstrafen sanktioniert werden. Eltern setzen also der Wut ihrer Kinder mittels Körpersanktion die Emotion Furcht ent‑ gegen – genauso wie anderen Emotionen oder Motivationen, die zu Normverstößen führen. In einem fortgeschrittenen Entwicklungsstadium der moralischen Furcht dürfte also bereits aufkommende Wut gegenüber Autoritätspersonen Furcht vor den Konsequenzen der Wutäußerung auslösen und die betroffene Person zu einer »emotion-emotion regulation« veranlassen. Somit ist die Ausdifferenzierung der Wutregulation eng an die Sozialisation und Entwicklung der moralischen Furcht gekoppelt.

Seky als Grundform der Wut Wie die Analyse des lokalen Wutrepertoires gezeigt hat, lassen sie die vielgestal‑ tigen Formen der Wut durch ein Schlüsselkonzept, nämlich seky, repräsentieren. Die zu seky erzählten Episoden, sowie der Alltagsgebrauch legen nahe, dass kör‑

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perliche Gewalt und Dominanz den Kern dieses Konzeptes darstellt. So lässt sich dieses Konzept im Unterschied zu den anderen Emotionen auch auf gereizte Tie‑ re, insbesondere Rinder anwenden, deren ›Innenleben‹ nicht im Fokus steht. Vor diesem Hintergrund habe ich die Subformen von seky als Wut und nicht etwa als Ärgerfamilie zusammengefasst, obwohl letzteres dem deutschen Sprachgebrauch angemessener wäre – nicht zuletzt deshalb, weil ›Ärger‹ im Vergleich zu ›Wut‹ eine gedämpfte und stärker mental gelagerte Emotion beschreibt. Schon im Umgang mit Säuglingen waren Praktiken zu beobachten, die den Ausdruck körperlicher Kraft und Dominanz fördern und zugleich mit Wutanläs‑ sen und -erfahrungen in Verbindung bringen. Sobald Säuglinge im ersten Lebens‑ jahr beginnen, exploratives Verhalten zu zeigen, erhalten sie von ihren Bezugs‑ personen routinemäßig einen Stock als Spielzeug und werden insbesondere von Babysittern dazu ermutigt, damit auf allerlei Gegenstände zu schlagen.5 Säuglinge im zweiten Lebensjahr konnten immer wieder dabei beobachtet werden, wie sie mit Stöcken nach Hühnern, Hunden oder auch anderen Kindern schlugen. Ältere Kin‑ der unterstützten dies bisweilen, indem sie sich gleich einem Rind auf allen Vieren von ihrem kleinen Geschwister mit einem Stock antreiben ließen. Diese Praktiken sind umso bedeutsamer, als der Stock nicht nur bei der Kontrolle der Rinder, son‑ dern auch im Rahmen der Körpersanktion ein zentrales Mittel der Dominanz und des Wutausdrucks darstellt. Ferner konnte immer wieder beobachtet werden, wie Bezugspersonen dieses Dominanzmittel in den Kontext der Wutäußerung einführten. Wie im 8. Kapi‑ tel beschrieben, drückten Mütter ihren Säuglingen, die von einem anderen Kind grob angefasst worden waren, einen Stock in die Hand, um gemeinsam nach dem ›Aggressor‹ zu schlagen. Eine andere, mehrmals zu beobachtende Praxis bestand darin, rund einjährige Säuglinge einander gegenüberzustellen und zum ›Kampf‹ anzuregen (s. Abb. 22).6 Unterstützt durch den lautstarken Applaus der Zuschauer entwickelte sich dabei stets eine gewisse Eigendynamik. In einem Fall spornte dies eines der beiden Kinder, einen etwa zweijähriger Jungen, derart an, dass er auch Erwachsene aus dem Publikum zu schlagen begann. Bei jüngeren Säuglingen zeigte sich dabei zuweilen auch eine Ambivalenz zwischen einer hilfesuchenden Hinwendung zur Mutter und einer Konfrontation mit dem ›Kontrahenten‹, wobei die Bezugspersonen augenscheinlich letzteres unterstützten und somit auch ihren Rückzug als tröstende Bezugsperson einleiteten. Da sich, wie die systematischen Beobachtungen deutlich gezeigt haben, Kin‑ der schon im zweiten Lebensjahr in relativ autonome Peergroups eingliederten, trugen Kleinkinder ihre Konflikte mit Altersgenossen meist unbehelligt von Er‑ ziehungspersonen aus. Diese Konflikte unter Peers wurden in der Regel mit vollem Körpereinsatz und entsprechend intensiven Wutäußerungen ausgetragen. Kinder nutzten dazu nicht nur ihre Fäuste, sondern auch Stöcke, Spieläxte oder Steine. Diese Umstände bieten Kleinkindern nicht nur zahlreiche Gelegenheiten, Wut im 5 | Die in dieser Arbeit nicht präsentierte Interaktionsstudie zur Entwicklung des Lächelns und Lachens, die auch die Aufgabe enthielt, ein Xylophon zu betätigen, lässt den Schluss zu, dass Säuglinge aus Menamaty wesentlich früher die erforderlichen Schlagbewegungen beherrschen als dies aus entwicklungspsychologischer Sicht zu erwarten wäre. 6 | Eine nahezu identische Praxis beschreiben etwa Mayer und Mayer (1970: 165) bei den Xhosa Südafrikas.

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Sinne von seky körperlich auszuagieren oder durch Interaktionspartner am eigenen Leib zu erleben, sondern schulen auch die Durchsetzungsfähigkeit. Zwar dürften derartige körperlich ausgetragene Konflikte kulturübergreifend in Peergroups auf‑ treten, entscheidend ist jedoch der spezifische Umstand, dass Erwachsene auch dann nicht regulierend eingriffen, wenn sie einer handgreiflichen Szene gewahr wurden. Entsprechend forderten Kleinkinder, die in einer Auseinandersetzung oder in einem Gerangel um ein Spielzeug unterlegen waren, auch kaum die Unter‑ stützung Erwachsener ein. Bei Kleinkindern waren Wutäußerungen fast ausschließlich im Rahmen von Peer-Interaktionen zu beobachten. Gelegentlich wurden Kleinkinder auch von älte‑ ren Kindern, häufig in einer spielerischen Art und Weise. Die Betroffenen zeigten auch diesen älteren Kindern gegenüber ihre Wut und Bereitschaft zur Gegenwehr, indem sie die geballte Faust hoben und eventuell Schimpfwörter ausstießen oder mit Steinen warfen. Nur in zwei Fällen war auch zu beobachten, wie Kleinkinder heftige Wutäußerungen gegenüber ihren Müttern zeigten, indem sie laut schrien und den Arm mit geballter Faust hoben. In den ersten Lebensjahren scheinen die Kinder aus Menamaty ihre Wut also noch nicht konsequent an die spezifischen sozialen Kontexte anzupassen.

Appellierende Wut Die im 4. Kapitel ausführlich beschriebenen Emotionsformen der appellierenden Wut stehen zumindest auf der Ausdrucks- und Handlungsebene in einem schar‑ fen Kontrast zu seky, weil sie sich nicht in offensiven Akten, sondern durch ein an das Mitleid der Interaktionspartner appellierendes Ausdrucksverhalten äußern. Darüber hinaus liegt der Fokus bei diesen Wutemotionen auf Empfindungen, die im Körperinneren, insbesondere im Bauch situiert und durch Metaphern wie ›fau‑ liger‹, ›schmutziger‹, ›verdorbener‹ oder ›aufgeblähter Bauch‹ verbalisiert werden. Die von Erwachsenen berichteten Episoden zu den verschiedenen Formen der ap‑ pellierenden Wut legen nahe, dass sie in erster Linie in Konflikten mit statushöhe‑ ren Personen, insbesondere mit den Eltern erlebt werden. Wie die im 10. Kapitel präsentierten Berichte der Kinder zu ihren Sanktionser‑ fahrungen nahelegen, spielen die Praktiken der Körpersanktion eine herausragen‑ de Rolle bei der Sozialisation und Entwicklung der appellierenden Wut. Aus diesen Berichten geht zunächst hervor, dass Kinder infolge einer Körpersanktion inten‑ sive Wut gegenüber der verantwortlichen Person empfanden. Nachvollziehbar ist diese Reaktion insofern, als Säuglinge und Kleinkinder, wie im vorigen Abschnitt beschrieben, zunächst darin bekräftigt werden, auf jegliche Provokationen mit seky zu reagieren. Im Übergang zur Kindheit, also ab vier oder fünf Jahren beginnen Autoritätspersonen allerdings damit, die aggressive Wutreaktionen von Kindern selbst wieder zu sanktionieren, weil sie diese als respektlos und darum als inakzep‑ tabel ansehen. Diese emotionale Dynamik der Sanktionspraxis, nämlich bei den Betroffenen intensive Wut hervorzurufen, die ihrerseits wieder Gegenstand der Sanktionierung wird, dürfte eine entscheidende Rolle bei der Ausbildung zumin‑ dest eines Aspekts der appellierenden Wut spielen: der Transformation aggressiver Handlungstendenzen in spezifische Körpergefühle, die typischerweise im Bauch situiert werden.

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Viele Kinder machten in ihren Sanktionsnarrativen deutlich, dass sie aus Furcht vor der Autoritätsperson lediglich im Innern oder im Bauch wütend seien (maseky amin’ny troky) und nach außen hin ruhig blieben. Häufig benutzten Kinder bei der Beschreibung ihrer emotionalen Reaktionen auf die Sanktion auch Emo‑ tionstermini wie mikenjy (≈ stilles Trotzen) oder maloto troky (›fauliger Bauch‹), also die spezifischen Termini der appellierenden Wut. Die wütende Handlungsbereit‑ schaft verschwindet mit der Sanktionierung nicht vollständig, sondern bleibt den Kindern – und im Übrigen auch Erwachsenen – als intensive Körperempfindung bewusst, den entsprechenden Metaphern zufolge als gehemmte Kraft, die das Kör‑ perinnere ›verschmutzt‹, ›aufwühlt‹ oder ›verdirbt‹. Entscheidend dabei ist, dass die Wutregulierung bei der Handlung ansetzt und nicht das Gefühl selbst betrifft, das als solche in diesem kulturellen Kontext keineswegs einer generellen mora‑ lischen Verurteilung unterliegt.7 Der handlungsbezogene Modus der Wutregula‑ tion scheint wiederum mit der moralischen Furcht zusammenzuhängen, die den entscheidenden Impuls zur Unterdrückung der Handlungstendenz gibt. Wie in der Auseinandersetzung mit der moralischen Furcht deutlich wurde, beruht diese Emotion und damit auch die Wutregulation auf der Antizipation von Sanktionen durch leiblich oder geistig anwesende Personen, die lediglich sichtbare Handlun‑ gen im Blick haben. Damit wird die moralische Furcht zu einem integralen Be‑ standteil der appellierenden Wut. Die Unterdrückung aggressiver Wutimpulse in Interaktion mit Autoritätsper‑ sonen und die Herausbildung spezifischer Bauchempfindungen lässt die Frage freilich unbeantwortet, wie und wodurch Kinder das spezifische Ausdrucksver‑ halten der appellierenden Wut erlernen. Zumindest annähernd lässt sich diese schwierige Frage beantworten: Zum einen machen Kinder und Erwachsene in den Sanktionsnarrativen sowie in den geschilderten Emotionsepisoden deutlich, dass sie trotz der Unterdrückung ihrer Wut weiterhin die Handlungstendenz verspür‑ ten, aktiv auf das Gegenüber einzuwirken. So berichtete beispielsweise ein Junge von seiner Intention, den Großvater, der ihn geschlagen hatte, in den Entenstall zu sperren, sobald er die nötige Kraft dazu hätte. Erwachsene, die eine Episode zu ihren Erfahrungen eines ›schmutzigen Bauches‹ schilderten, machten wiederholt deutlich, dass sie ihre aggressiven Tendenzen nur unterdrückten, weil es sich bei ihrem Gegenüber um einen Verwandten handelt (s. Kapitel 4). Die für Betroffene naheliegende Bewältigung der im Bauch ›angestauten‹ Wut und des daraus resul‑ tierenden, höchst aversiven Gefühls scheint also darin zu bestehen, in irgendeiner Weise aktiv zu werden und sich damit vom inneren Druck zu entlasten. Besonders deutlich wird dies in den Tendenzen von Kindern, sich infolge einer Körpersank‑ tion mit anderen Kindern zu schlagen. Die hierarchischen Interaktionsmodi, Sanktionsroutinen sowie die Rollenver‑ teilung zwischen sanktionierender und tröstender Person bieten Kindern immer‑ hin einen kompromisshaften Bewältigungsweg: nämlich ein appellierendes Aus‑ drucksverhalten. Im Unterschied zu lautstarken oder gar tätlichen Reaktionen auf die Sanktion ist ein appellierendes Ausdrucksverhalten für Autoritätspersonen durchaus akzeptabel, weil es den auf körperlicher Übermacht beruhenden Autori‑ tätsanspruch der Eltern nicht hinterfragt, sondern diesen den aktiven Part in der 7 | In anderen kulturellen Kontexten scheint Wut hingegen generell verpönt zu sein, so etwa bei den Minangkabau Indonesiens (Röttger-Rössler et al. 2013).

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Interaktion überlässt. Gleichwohl ermöglichen die beschriebenen expressiven Ver‑ haltensweisen der Nahrungs oder Kommunikationsverweigerung (mikenjy) sowie spezifische Gesichtsausdrücke des Schmollens (mimotso) und Stirnrunzelns (mihindrotsy) einen stillen Protest, womit sich Kinder zumindest eine gewisse agency gegenüber Autoritätspersonen erhalten. Dass Kinder ihren ›schmutzigen‹, ›fauli‑ gen‹, ›verstimmten Bauch‹ vor allem über die Nahrungsverweigerung zum Aus‑ druck bringen, entspricht nicht nur unmittelbar diesen Gefühlsmetaphern, son‑ dern zugleich auch dem hierarchischen Beziehungsmodell, wonach die Jüngeren als Gegenleistung für die Ernährung durch die Älteren zu Folgsamkeit und Unter‑ ordnung verpflichtet sind. Gemäß dieser Logik signalisieren Kinder, die Folgsam‑ keit temporär verweigern, dass sie auch der Ernährung nicht bedürfen. Über diesen stillen Protest hinaus ermöglicht das Ausdrucksverhalten Kindern auch, eine nahestehende Bezugsperson zu einer tröstenden, ermutigenden Zu‑ wendung (mitambitamby) zu veranlassen. Indem die tröstende Person auf dieses Ausdrucksverhalten antwortet und es so zugleich bekräftigt, übernimmt sie eine wichtige Rolle bei der konkreten Sozialisation des Appellverhaltens. Aus Sicht der Entwicklungspsychologie spielt bei der Sozialisation des Ausdrucksverhaltens das Affektspiegeln eine entscheidende Rolle, weil es den mimischen Ausdruck des Kin‑ des formt und zugleich als symbolisches Kommunikationsmedium etabliert (Holo‑ dynski & Friedlmeier 2006). Wie bereits ausführlich dargestellt, war ein mimisches Affektspiegeln zwischen Kindern und Erwachsenen allerdings äußerst untypisch. Immer wieder ließ sich jedoch beobachten, wie Bezugspersonen das Ausdrucks‑ verhalten verbal ›spiegelten‹. Bezugspersonen fragten beispielsweise ein betroffe‑ nes Kind, wieso es mimotso bzw. mihindrotsy sei, mahnten es, damit aufzuhören, oder drückten schlicht ihre Verwunderung darüber aus. Einem der Kinder aus Ra‑ nomadio wurde gar der Name Motso (Substantiv von mimotso) verliehen – angeb‑ lich aufgrund seiner besonders ausgeprägten Neigung zu schmollen. Analog zur Theorie des mimischen Affektspiegelns gehe ich davon aus, dass diese Benennungen zu einer symbolischen Ausformung des Ausdrucksverhaltens beitragen und es Kindern erlauben, dieses gezielt als Appellsignal einzusetzen. Denn die Benennung des eigenen Ausdrucksverhaltens und desjenigen anderer Personen mit demselben Wort dürfte Kinder in die Lage versetzen, ihre Gesichts‑ mimik mit einem äußeren Abbild zu verknüpfen, ihrer damit bewusst zu werden und sie auch instrumentell anzuwenden. Unabhängig von der Frage nach den kon‑ kreten Lernvorgängen machten Beobachtungen deutlich, dass Kinder in der Lage sind, das Ausdrucksverhalten gezielt zu zeigen: Kinder – und Erwachsene – konn‑ ten die Gesichtsausdrücke von mimotso und mihindrotsy spontan und mühelos dar‑ stellen, wenn ich sie darum bat. Wie im 4. Kapitel ausgeführt, entspricht mihindrotsy dem facial action coding system zufolge exakt dem Ausdruck für Traurigkeit in der Stirnpartie. Dass die Menschen aus Menamaty diesen Ausdruck hingegen mit Wut (seky) in Verbindung bringen, wird vor dem Hintergrund der beschriebenen Sank‑ tionspraktiken nachvollziehbar, da diese einerseits jegliche Aggressivität gegen‑ über Älteren unterbinden, den inneren Wutimpuls jedoch unbehelligt lassen. Zuletzt stellt sich noch die Frage, was aus diesen appellierenden Wutemotio‑ nen als Konfiguration aus den Gefühlen des ›fauligen Bauches‹, dem Ausdrucks‑ verhalten der Nahrungsverweigerung und spezifischen Gesichtsausdrücken wird, wenn Eltern die direkte Sanktionierung einstellen. Zwar gelten diese Emotionen als typische Kinderemotionen, in schwächerer Form bleiben sie jedoch auch im

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Erwachsenenalter erhalten. Aus den von Jugendlichen und Erwachsenen geschil‑ derten Emotionsepisoden geht hervor, dass diese weiterhin auf ein Verbot oder eine unliebsame Handlungsanweisung durch ihre Eltern mit mihindrotsy oder mimotso reagieren und heftigere Wutäußerungen aufgrund der Furcht vor havoa unterlas‑ sen.

Vergeltende Wut Diese Emotionsformen zeichnen sich durch die Handlungsbereitschaft aus, für eine erlittene Erniedrigung an der verantwortlichen Person Vergeltung zu üben. Im Unterschied zur appellierenden ist die vergeltende Wut auf gleichrangige und in aller Regel auf gleichgeschlechtliche Personen gerichtet, die nicht der eigenen Abstammungsgruppe angehören. Schadenszauber (voriky) spielt bei diesen Emo‑ tionen gleichermaßen als Anlass und als Handlungstendenz eine wichtige Rolle. Zur Sozialisation der vergeltenden Wut tragen dem präsentierten Datenmaterial zufolge mindestens drei Interaktionsformen bei: (1) die selektive Sanktionierung von aggressivem Verhalten, (2) die Tendenz von Kindern, Wut gegenüber status‑ höheren Personen auf egalitäre Beziehungen ›umzulenken‹ und (3) die Praktiken des Verspottens innerhalb der Peergroups. Die selektive Sanktionierung aggressiver Wutäußerungen orientiert sich an dem jeweiligen sozialen Kontext, in dem dieses Emotionsverhalten auftritt. Wäh‑ rend Wutäußerungen gegenüber Autoritätspersonen der eigenen Verwandtschafts‑ gruppe, wie gezeigt, konsequent sanktioniert werden, ist dies nur selten der Fall, wenn sich die Wut auf Peers richtet. Allein der Umstand, dass die Peer-Interak‑ tionen größtenteils in einem eigenen, weitgehend autonomen Sozialraum stattfin‑ den, macht ein Eingreifen durch Autoritätspersonen in vielen Konfliktfällen un‑ wahrscheinlich. Vor allem aber betrachteten die Gesprächspartner das körperliche Austragen von Konflikten in egalitären Beziehungen zwischen nicht verwandten Kindern als sanktionsunwürdig. Mehr noch: Einige erzählte Sanktionsepisoden von Kindern und Eltern legen sogar nahe, dass Väter ihre Kinder für ihre Furcht vor der Auseinandersetzung mit verfeindeten Peers bestrafen. Dies ist auch insofern nachvollziehbar, als die Väter der befeindeten Kinder häufig ebenfalls eine gewisse Feindschaft pflegen. Die oben im Zusammenhang mit der Sozialisation von seky beschriebenen Praktiken, die Wutäußerungen von Säuglingen auf deren Peers zu richten, dürften ebenfalls die Entwicklung der vergeltenden Wut befördern – ins‑ besondere die Praxis, Säuglingen, die von einem anderen Kind Aggressionen er‑ fahren haben, zu einem Vergeltungsschlag zu animieren anstatt sie zu trösten. Denn damit werden bereits Säuglinge ermuntert, ihren Konflikt direkt mit dem Altersgenossen auszuhandeln und zugleich davon abgehalten, von Bezugsperso‑ nen Hilfe und ein regulierendes Eingreifen einzufordern. Letzteres, so ließe sich spekulieren, würde eher zur Sozialisation von Emotionen wie Empörung oder Ent‑ rüstung beitragen, da diese die Handlungstendenz haben, sich bei erlittenem oder beobachtetem Unrecht an Dritte zu wenden. Auch die emotionalen Dynamiken von Sanktionspraktiken lassen sich als Bei‑ trag zur Entwicklung der vergeltenden Wut lesen. Wie im 10. Kapitel ausgeführt, erzählten mehrere Kinder, wie sie sich als Reaktion auf die Körpersanktion mit anderen Kindern geprügelt hätten. Eine Großmutter stellte von sich aus einen di‑ rekten Zusammenhang zwischen aggressivem Verhalten gegenüber Peers und der

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Erfahrung der Körpersanktion her: Sie habe sich als Kind häufig mit ihren Freun‑ dinnen geprügelt, weil sie ebenso häufig von ihrem Vater geschlagen worden sei, ihn aber nicht in gleicher Weise angehen konnte. Ihre eigenen jugendlichen Söhne wiederum würden deshalb so häufig mit ihren Feinden kämpfen, weil sie in der Kindheit von ihr besonders stark geschlagen worden waren.8 Demnach nutzen Kin‑ der feindschaftliche Peer-Beziehungen als ›Ventil‹ für ihre ›angestaute‹ Wut gegen‑ über Autoritätspersonen.9 In einer gewissen Weise üben Kinder damit an ihren be‑ feindeten Peers Vergeltung für das, was ihnen Autoritätspersonen angetan haben. Dieses ethnopsychologische Modell der Wutverschiebung ähnelt strukturell einer These von Spiro (1952: 498-500), der zufolge die Ifaluk ihre unterdrückte Wut auf böse Geister richten. Die Menschen aus Menamaty sahen sich allerdings kaum von grundsätzlich bösen Geistern umgeben,10 dafür aber von feindseligen Menschen (arahamba), denen gegenüber Gewaltakte durchaus legitim sind, sofern sie eine Vergeltung für erfahrene Gewalt darstellen.11 Dass Praktiken der Körper‑ strafe auch in anderen soziokulturellen Kontexten wütendes, aggressives Verhalten begünstigen, legen eine Vielzahl an psychologischen Studien nahe, die Gershoff (2002: 541) in einer Metastudie zusammenfasst. Derartige psychodynamische Prozesse sind jedoch lediglich als Teilaspekt der Sozialisation von vergeltender Wut anzusehen. Interaktionen innerhalb der Peer‑ group bieten Kindern zahlreiche Erfahrungen, die zu einer konkreten Ausformung der vergeltenden Wut beitragen und diese zugleich sozial einbetten. Wie im Ab‑ schnitt zu den Praktiken des Verspottens dargestellt (Kapitel 9), gehört es zu be‑ liebten Beschäftigungen von Kindern beiderlei Geschlechts, Wettkämpfe zu ver‑ anstalten und dann den Unterlegenen kollektiv zu verspotten (mikoraky). Aus den entsprechenden Narrativen geht hervor, dass die von mikoraky Betroffenen einer‑ seits Scham (hegnatsy) angesichts der Erniedrigung erleben, andererseits zugleich mit heftiger Wut reagieren und versuchen, an dem Gegner oder an einem Kind aus dem verspottenden Publikum Vergeltung zu üben. Auch berichteten Kinder, dass 8 | Zu bemerken ist, dass die Großmutter diese Konsequenzen ihrer Erziehung keineswegs negativ bewertete. In unterschiedlichen Kontexten habe ich bereits deutlich gemacht, dass die Bereitschaft zur Vergeltung dem egalitären Ethos und den Werten der Stärke und Durchsetzungsfähigkeit entspricht. 9 | Wohlgemerkt kommt diese Metaphorik dem von Solomon (1976: 86f) und Lutz (1988: 207) als eurozentrisch kritisierten hydraulischen Modell nahe. Dieses Modell zu verwerfen, nur weil es in euro-amerikanischen Kontexten Verwendung findet, würde allerdings einem ›umgekehrten Ethnozentrismus‹ bzw. othering gleichkommen. Wie im 4. Kapitel dargestellt, entspricht das ›hydraulische Modell‹ den emischen Konzeptionen zu den Dynamiken der Wut erstaunlich gut. 10 | Die Bedrohung durch Ahnengeister wird nicht auf deren generelle Bösartigkeit zurückgeführt, sondern auf eigene moralische Verfehlungen. Auch helo-Geister, die an bestimmten Orten wie etwa Quellen vermutet werden, gelten nicht als böse. Wenn sie gestört werden, können sie zwar Schaden zufügen, über Opfergaben lässt sich jedoch auch ihre Unterstützung gewinnen. 11 | Auch Spiro (1952: 499) sieht diese Möglichkeit und verweist auf Kluckhohns (1944) Ausführungen zu Praktiken der Zauberei und zu interpersonaler Gewalt bei den Navaho als Kanal für heftige Wut – eine Möglichkeit, die nach Spiro bei den Ifaluk aufgrund der insularen Geografie desaströse Auswirkungen hätte und deshalb institutionell unterbunden werde.

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sie die Erfahrung, aufgrund einer Niederlage beim Ringen verspottet zu werden ansporne, es dem Gegner heimzuzahlen bzw. ihre Gleichrangigkeit oder Über‑ legenheit durch einen erneuten, ernsthafteren Versuch unter Beweis zu stellen. Mehrere Gewalt-Eskalationen dieser Art ereigneten sich auch in meiner Gegen‑ wart, wobei die Kampfpartner nicht nur Fausthiebe, sondern auch Fußtritte ein‑ setzten. In entsprechenden Narrativen wurde die emotionale Verfasstheit der Geg‑ ner mit der Metapher des ›heißen Herzens‹ (may/mafana fo) beschrieben, womit die heftigste Form vergeltender Wut bezeichnet wird. Zumindest in den beobachte‑ ten Fällen wurden derart ›wutentbrannte‹ Kinder allerdings von Jugendlichen fest‑ gehalten, um ernsthafte Verletzungen zu verhindern. Den Narrativen der Kinder zufolge kam es auch vor, dass betroffene Kinder ihre momentane Unterlegenheit einsahen oder sich vor einer weiteren Auseinandersetzung fürchteten. In diesen Fällen berichteten Kinder von Fantasien, wie sie am Kampfpartner oder an einem der verspottenden Kinder Vergeltung üben würden, sobald sich zu einem späteren Zeitpunkt eine gute Gelegenheit dazu ergäbe. Dies entspricht den vergeltenden Emotionen kinia, magnapoko und lolom-po, die sich durch eine Aufschiebung der Vergeltungsabsicht auszeichnen. Die beiden letztgenannten Konzepte bedeuten sinnbildlich, die erniedrigende Erfahrung und die daraus erwachsende Vergeltungsabsicht in das eigene Herz zu legen bzw. dort bis zu einer Realisierung der Vergeltung aufzuheben. Diese metaphorische Bezugnahme auf das Herz, das gewissermaßen die vereitelte Ver‑ geltung aufnimmt, kommt dem Gefühlsbild des Bauches, der sich aufgrund der unterdrückten Wutreaktionen gegenüber Älteren faulig oder verdorben anfühlt, erstaunlich nahe. Es besteht aber auch eine entscheidende Differenz: Gegenüber Älteren müssen Kinder ihren aggressiven Wutimpuls dauerhaft unterdrücken, was sich offenbar im Bauch bemerkbar macht, der generell als eher passives Empfin‑ dungsorgan konzeptualisiert ist. Gegenüber Peers können Kinder zwar ebenfalls an einer umgehenden Vergeltungshandlung gehindert werden, jedoch bleibt diese als bewusste und zielgerichtete Intention erhalten und wird, geradezu als ›Her‑ zenswunsch‹, im Herzen verortet – einem Organ, das auch anderen Konzepten zufolge mit Aktion in Verbindung steht.12 Aufschlussreich im Hinblick auf die Ausdifferenzierung von vergeltender und appellierender Wut sind auch die Bedeutungsdifferenzen zweier Furchtkonzepte, die zunächst als sehr ähnlich erscheinen. Die Konzepte tsy mahasaky und malia be‑ zeichnen beide eine in hohem Maße antizipierte Furcht im Sinne von ›etwas nicht wagen‹ oder ›sich nicht getrauen‹ –trotzdem weisen sie entgegengesetzte Konnota‑ tionen auf: Tsy mahasaky bezeichnet eindeutig eine Form von moralischer Furcht, die das Kind daran hindert, gegen Normen zu verstoßen und insbesondere seine Wut gegenüber Autoritätspersonen zu äußern. Ihre wutregulierende Bedeutung macht auch der gängige Ausdruck deutlich: ko mahasaky mamalivaly ray aman-dreny – »wage es nicht, deinen Eltern zu antworten« (d.h. auf ihre Verbote oder Sank‑ tionen in einer wütenden Art und Weise zu reagieren). Tsy mahasaky fungiert also als Regulativ der appellierenden Wut. Demgegenüber ist malia eindeutig negativ konnotiert und bezieht sich den berichteten Episoden zufolge keinesfalls auf status‑ höhere Personen oder Ahnengeister, sondern häufig auf den Umgang mit verfein‑ 12 | So kann etwa das Konzept herim-po – wörtlich ›starkes Herz‹ – mit ›Mut‹ übersetzt werden, womit das Herz als Träger einer ausgeprägten Handlungsentschlossenheit erscheint.

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deten Peers (oder wütenden Rindern). Als malia lässt sich beispielsweise jemand in despektierlicher Weise bezeichnen, der ›sich nicht getraut‹ auf eine Provokation zu antworten oder Vergeltung an einem starken Kontrahenten zu üben. Somit be‑ zeichnet malia im Unterschied zu tsy mahasaky keine wutregulierende, sondern eine durch vergeltende Wut zu überwindende Furchtsamkeit oder Feigheit. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die vergeltende Wut nicht ein‑ fach nur eine Art Ventilfunktion für ansonsten zu unterdrückende Wut darstellt, sondern dem Einzelnen, ob weiblich oder männlich, zugleich eine beträchtliche Durchsetzungskraft verleiht und ihm Respekt bei seinen Peers einbringt. Es ist klar, dass die Überwindung der Angst vor einer mitunter auch gewaltsamen Ausei‑ nandersetzung eine beträchtliche Wutintensität erforderlich macht. Die Praktiken der selektiven Wutsanktionierung durch Autoritätspersonen, die aus den Körper‑ sanktionen erwachsenden emotionalen Dynamiken und insbesondere die kind‑ lichen Praktiken des Verspottens machen diese Bereitschaft, auf Provokationen von Peers mit intensiver Wut zu reagieren, nachvollziehbar. Zur vollen Geltung kommen die vergeltenden Emotionen allerdings erst im Jugend- und frühen Er‑ wachsenenalter. In diesem Lebensabschnitt aufkommende Aktivitäten, etwa die Verteidigung des elterlichen Viehbesitzes, Viehdiebstahl als Vergeltungsakt oder das gegenseitige ›Stehlen‹ der Geschlechtspartner (mangalatsy vady), bieten zahl‑ reiche Gelegenheiten, diese Emotionen auszuleben – und unter Beweis zu stellen. Zuletzt sei nochmals betont, dass die vergeltenden Emotionen positiv konnotiert sind, solange sie auf nicht verwandte Personen gerichtet sind, und dass sie eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung der egalitären Relation zwischen den Mit‑ gliedern verschiedener Verwandtschaftsgruppen spielen.

Sanktionierende Wut Wie nicht zuletzt die Ausführungen zu den Praktiken der Körpersanktion erge‑ ben haben, sind die Emotionen der Sanktionswut (heloky, mivoto tenda, sosotsy, botsy) stets auf jüngere Personen gerichtet, meist auf die eigenen Kinder oder an‑ dere Nachkommen. Was die Handlungstendenz betrifft, nimmt die sanktionie‑ rende Wut eine Stellung zwischen den anderen beiden Wutformen ein, da sie im Unterschied zur appellierenden Wut mit Ausdrucksweisen und Handlungen der Dominanz einhergeht, anders als die vergeltende Wut jedoch nicht zur gezielten Schädigung des Adressaten führt. Stattdessen zielt diese Emotionsform darauf, Fehlverhalten der Nachkommen zu korrigieren, womit sie eine zentrale Rolle in der Erziehung spielt. An ihre Regulation sind prinzipiell hohe Anforderungen gestellt, da Erziehungspersonen eine Balance halten müssen zwischen einer aus kindlicher Perspektive überzeugenden Wutperformanz und einer allzu harschen, dem Ent‑ wicklungsstand des Kindes nicht angemessenen Körperstrafe. Der Entwicklungspfad der sanktionierenden Wut lässt sich hier nur ansatzwei‑ se rekonstruieren, weil sie erst im Erwachsenenalter, nämlich gegenüber den eige‑ nen Kindern, ihre volle Bedeutung als eine die Körpersanktion motivierende und unterstreichende Emotion entfaltet. Dennoch lassen sich dem Beobachtungs- und Interviewmaterial einige Hinweise entnehmen, dass die sanktionierenden Emo‑ tionen in der Kindheit zumindest vorbereitet und eingeübt werden. Vier Soziali‑ sationskontexte dürften beim Erlernen der Sanktionswut eine Rolle spielen: (1) die selektive Sanktionierung, (2) die Rollenübernahme der sanktionierenden Person,

11. Zur Sozialisation von Furcht und Wut

(3) spielerische Formen der Sanktionierung und (4) die Aktivitäten des Kinder- und Rinderhütens. Aus dem Material zu den Sanktionspraktiken und -erfahrungen geht hervor, dass aggressives Verhalten gegenüber jüngeren Geschwistern, Cousins oder Cousi‑ nen ein häufiger Anlass für Körpersanktionen darstellt, während dasselbe Verhal‑ ten gegenüber nicht verwandten Kindern nicht sanktioniert wird. Damit erhalten Kinder Lerngelegenheiten, die Regulation ihrer Wutemotionen an der Verwandt‑ schaftsrelation des Gegenübers zu orientieren. Allerdings legt die von Kindern häufig als Sanktionsanlass beschriebene Aggression gegenüber Geschwistern, Cousins oder Cousinen sowie entsprechende Beobachtungen nahe, dass sie erst relativ spät lernen, ihre Wut diesen gegenüber konsequent zu kontrollieren. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: Aggressive Wut innerhalb der autonomen Peergroups können Eltern weniger konsequent und unmittelbar sanktionieren als jene, die auf sie selbst gerichtet ist. Eine weitere Lerngelegenheit für Sanktionswut bieten Väter und Mütter durch ihr Rollenvorbild beim Sanktionieren, das sich Kinder durch erlebte oder beobach‑ tete Sanktionsepisoden aneignen und in den Interaktionen mit jüngeren Geschwis‑ tern zur Anwendung bringen können. Ein solches Imitationslernen am Modell der Sanktionspersonen wurde bereits durch zahlreiche psychologische Studien nachge‑ wiesen.13 Für die Kinder von Menamaty dürfte sich die Rollenübernahme der sank‑ tionierenden Eltern einschließlich ihrer Sanktionswut äußerst komplex gestalten, weil sie im Kontext der Körpersanktion heftige Wut erleben, selbst aber nicht in der‑ selben heftigen Weise gegen ihre kleinen Geschwister vorgehen dürfen. Immerhin können sie durch die Rollenübernahme lernen, ihre Wut gezielt auf das Fehlverhalten jüngerer Geschwister und nicht allein auf einen Interessenkonflikt zu richten. Als wichtiger Kontext für das Einüben einer angemessenen, kontrollierten, gleichwohl respekteinflößenden Sanktionswut können geschlechtsspezifische Rol‑ lenspiele und andere Aktivitäten der Kinder angesehen werden. Überaus beliebte Aktivitäten der Jungen bestanden darin, das Hüten und die Kontrolle von Rindern nachzuspielen – entweder mittels Rinderfiguren aus Ton oder im Kontext von Rol‑ lenspielen (s. Kapitel 4). Als Dominanzmittel benutzten sie einen Grashalm (bei Rinderfiguren) oder einen echten Stock (in Rollenspielen) sowie wütende Ausrufe in genau derselben kehligen Stimmlage, die auch Jugendliche und Männer als Aus‑ druck leichter Sanktionswut gegenüber als lästig empfundenen Kindern einsetzen. Ältere Jungen haben beim Rinderhüten weitere Gelegenheiten, diese Dominanz‑ mittel gezielt zur Kontrolle der halbwilden Zeburinder einzusetzen.14 Die Spiele der Mädchen beziehen sich größtenteils auf familiäre Interaktionen und themati‑ sieren auch die Züchtigung von unartigen Kindern. In einem Erzählspiel (kitatara) 13 | Zur Übersicht s. Gershoff (2002: 555), die die Ergebnisse wie folgt zusammenfasst: »Because children see aggression modeled, in the form of corporal punishment, and rewarded, in the form of their own compliance with it, they learn that aggression is an effective way to get others to behave as they want and will be disposed to imitate it […]. Corporal punishment is a prime candidate for imitation because children are disposed to imitate aggressive models […].« 14 | Vgl. Moritz (2008: 99), der dafür argumentiert, dass der Umgang mit Rindern generell zu einer »pastoral aggression« beitrage und dies am Beispiel der FulBe Mare’en Nordkameruns erläutert, deren Jungen ebenfalls häufig mit Rinderfiguren aus Lehm spielen.

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beispielsweise thematisierten Mädchen regelmäßig die Sanktionierung, indem sie Eltern und Kinder repräsentierende Steine aufeinanderschlugen und dabei in einer wütenden Stimmlage schimpften. Zu beachten ist, dass Kinder bei all diesen Spie‑ len Wut und entsprechende Ausdrucksformen nicht in einer vergeltenden, sondern in einer kontrollierenden, erzieherischen Absicht einsetzten. Dem Videomaterial von solchen Spielen ist auch zu entnehmen, dass Kinder, die stets das Spielgesche‑ hen verbal kommentierten, nicht nur die Wut einer sanktionierenden Person the‑ matisierten, sondern auch die furchtsame Reaktion der Rinder oder Kinder. Vor allem Mädchen haben in der Rolle als Babysitter weitere Gelegenheiten, sanktionierende Wut einzusetzen, allerdings in einer moderaten Art und Weise. Mehrmals war zu beobachten, wie präadoleszente Mädchen Kleinkindern im zwei‑ ten Lebensjahr einen leichten Klaps versetzten. Häufig äußerten sie gegenüber Kindern, von denen sie sich gestört fühlten, geschlechtsspezifische Laute des Miss‑ fallens, die als Ausdruck von sosotsy (≈ Ärger) oder botsy (≈ Überdruss) interpretiert werden können. Die beschriebenen Sozialisationsfaktoren, Praktiken und Erfahrungsgelegen‑ heiten in der Kindheit dürften eine wichtige Rolle dabei spielen, dass junge Mütter oder Väter bereits eine gewisse Fähigkeit entwickelt haben, ihre Wut in einer kon‑ trollierten, nichtsdestotrotz überzeugenden Art und Weise in Sanktionskontexten einzusetzen. Aufgrund der vornehmlich von Mädchen übernommenen Aufgabe des Kinderhütens erscheinen junge Mütter allerdings wesentlich besser auf eine feine und angemessene Abstimmung ihrer sanktionierenden Wut mit dem Ent‑ wicklungsstand und Erleben des Kindes vorbereitet zu sein. Vor diesem Hinter‑ grund erscheint es sinnvoll, dass Mütter die Erziehungsaufgabe erst ab dem vierten oder fünften Lebensjahr des Kindes an den Vater oder eine andere männliche Au‑ toritätsperson übergeben. Mit der Sanktionswut lernen Kinder nicht zuletzt, anderen Personen Furcht und Respekt einzuflößen. Damit stehen die drei Wutformen jeweils in einem spe‑ zifischen Verhältnis zur Furcht. Während die appellierende Wut mittels morali‑ scher Furcht reguliert wird, die vergeltende Wut auf eine Überwindung der eige‑ nen ›feigen‹ Furcht zielt, dient die sanktionierende Wut letztlich der Sozialisation der moralischen Furcht.

Schlussdiskussion

Zum Schluss sind drei zentrale Erkenntnisbereiche dieser Arbeit vor dem Hinter‑ grund der jeweiligen Forschungsdiskurse zu diskutieren: (1) Die Aufgliederung des Sozialisationsgeschehens entlang verschiedener, insbesondere egalitärer und hierarchischer Sozialrelationen, die zur Parallelentwicklung disparater Modi des Emotionalen führt. Die Möglichkeit einer solchen oder anderen Form ›sozialer Diversifikation‹ des Emotionalen wurde sowohl in der anthropologischen Emoti‑ ons- und Sozialisationsforschung als auch in der Kulturpsychologie bislang kaum berücksichtigt. (2) Die Ausdifferenzierung der Wut in ein breites Spektrum unter‑ schiedlich regulierter Wutformen. Dies widerspricht klar der innerhalb der Kul‑ turpsychologie paradigmatischen Konzeptualisierung interdependenter, mithin ›nicht-westlicher‹ Emotionskulturen. (3) Die Ausbildung der Furcht als zentrale moralische Emotion. Die in der Emotionspsychologie häufig als Basisemotion par excellence beschriebene Furcht wurde bislang weder in der Emotionsanthropologie noch -psychologie empirisch oder theoretisch als moralische Emotion beschrieben, wenngleich die Forschungsliteratur einige Hinweise bietet, dass Furcht in zahl‑ reichen Kontexten in dieser moralischen Funktion sozialisiert wird. Abschließend stelle ich mich den ethischen Fragen, die angesichts einer Auseinandersetzung mit Erziehungspraktiken aufkommen, die den Normen und Werten westlicher Mittel‑ schichten entgegenlaufen.

Zur sozialen Diversifikation des Emotionalen Die Studien der anthropologischen Emotionsforschung zeigen eine große, kultu‑ rell bedingte Diversität des Emotionalen auf, dennoch lassen sie einige Gemein‑ samkeiten zwischen den jeweils beschriebenen Emotionskulturen erkennen, die besonders durch die Kontrastierung zu ›westlich-individualistischen‹ Emotions‑ modellen zustande zu kommen scheinen. So argumentieren die einschlägigsten emotionsanthropologischen Ethnografien (Briggs 1970; Levy 1973; Lutz 1988), dass das Emotionale in den jeweils untersuchten Gemeinschaften durch eine starke Zurückhaltung oder Kontrolle charakterisiert sei, was wesentlich mit einer aus‑ geprägten sozio-relationalen Orientierung zusammenhänge. Entsprechend konstatiert Briggs in ihrer Ethnografie über eine Inuit-Gruppe in Kanada, die den programmatischen Titel Never in Anger (1970) trägt: »Most […] Utku were so well controlled that my untutored eye could not detect their emotions …« (42) und: »[…] the rule of even-tempered restraint does apply to all categories of

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people (except for the smallest children).« (9). Die kontextübergreifend gebotene Emotionskontrolle, insbesondere hinsichtlich negativer Emotionen wie Wut, be‑ zieht Briggs auf den Wert sozialer Harmonie und Reziprozität: This was the way people should feel and act toward their kinsmen: with kindness and concern, helping them, sharing with them, and enjoying their company. A similar ideal of harmony, forebearance, and charity applied to relationships with all people. […] One should be mild, sociable, and, of course, never under any circumstances angry or resentful. (Briggs 1970: 181)

Durchaus vergleichbar argumentiert Levy im Hinblick auf die Emotionalität der Tahitianer (1973: 273): »I will argue that the people of Piri and Roto distrust strong emotions. Strong emotions force one out of control, make one do things one does not want to do. One needs some control, some freedom from these passions.« Die Ten‑ denz, intensive Emotionen zu kontrollieren, verknüpft Levy mit einem prävalenten interpersonalen Verhaltensmuster: »›Gentleness‹ defined negatively as behavior in which manifest hostility or violence is unusual, is still very saliently characteristic of Tahitians of French Polynesia.« (1973: 276). Wiederum mit einem leicht abwei‑ chenden Vokabular beschreibt Lutz den zentralen Wert der emotionalen Zurück‑ haltung bzw. Ausgeglichenheit bei den Ifaluk: »In sum, the most highly valued trait on Ifaluk is calmness, as it results in harmonious, cooperative interaction. Opposed traits involve hot temper, misbehavior, and immodesty and are maligned for the social conflicts and bad feelings they create.« (1988: 113). Lutz kontrastiert die Emo‑ tionalität der Ifaluk explizit mit dem ›amerikanischen Modell‹ und führt sie auf eine grundlegende relationale Orientierung zurück: In contrast, the ethnopsychological beliefs that surround and structure Ifaluk emotional life include the notion that the person is first and foremost a social creature and only secondarily, and in a limited way, an autonomous individual. Daily conversations on Ifaluk are pervaded by the assumption that people are oriented primarily toward each other rather than toward an inner world of individually constituted goals and thoughts. This social orientation of the person has fundamental implications for the way emotions are conceptualized, and it includes the practice of viewing emotions as more public, social, and relational, and necessarily more dyadic than we do. (Lutz 1988: 81f)

Von diesen und anderen Ethnografien ließ sich die Kulturpsychologie, die in den 1990er Jahren das Feld der kulturvergleichenden Emotionsforschung weitgehend übernommen hat, maßgeblich inspirieren – insbesondere bei der paradigmati‑ schen Konzeptualisierung von independenten/autonomen und interdependenten/ relationalen Orientierungen bzw. Konstruktionen des Selbst. So formulieren Mar‑ kus und Kitayama in ihrem überaus einflussreichen Artikel Culture and the Self (1991) folgende Hypothesen im Hinblick auf ego-focused emotions/feelings (z.B. anger, pride): Thus, people with independent selves will attend more to these [ego-focused] feelings and act on the basis of them, because these feelings are regarded as diagnostic of the independent self. […] In contrast, among those with more interdependent selves, one’s inner feelings may be less important in determining one’s consequent actions. Ego-focused feelings may

Schlussdiskussion be regarded as by-products of interpersonal relationships, but they may not be accorded privileged status as regulators of behavior. For those with interdependent selves, it is the interpersonal context that assumes priority over the inner attributes, such as private feelings. The latter may need to be controlled or de-emphasized so as to effectively fit into the interpersonal context. (Markus & Kitayama 1991: 236)

Im Rahmen dieses Paradigmas sind seither unzählige Studien entstanden, die in der Regel westliche Länder oder Kontexte mit einem independenten Emotionsmo‑ dell nicht-westlichen Ländern oder Kontexten mit einem interdependenten Modell gegenüberstellen. Auch in der kulturpsychologischen Forschung zur Emotionsso‑ zialisation und -entwicklung ist dieses erkenntnisleitende Paradigma mittlerweile dominant (vgl. Friedlmeier 2013; Keller & Otto 2009; Lamm 2013; Trommsdorff & Rothbaum 2008). Heidi Keller, eine der führenden Vertreterinnen dieses Felds, konnte anhand ihres parenting model empirisch zeigen, dass die independente Orientierung (genauer: psychological autonomy) durch einen distal parenting style und die interdependente Orientierung (genauer: hierarchical relatedness) durch ein proximal parenting style sozialisiert wird (Keller 2007). Die explorative Auseinandersetzung im zweiten Teil dieser Arbeit mit der früh‑ kindlichen Entwicklungsnische in Menamaty, die sich maßgeblich an Kellers parenting model orientiert, hat gezeigt, dass das besagte, in der Emotionsanthropo‑ logie implizit und in der Kulturpsychologie explizit auftretende Paradigma einer Erweiterung bedarf. Denn die proximalen Sozialisationserfahrungen mit Müttern und anderen Betreuungspersonen, die zur Ausbildung eines hierarchisch-interde‑ pendenten Selbst-, Beziehungs- und Emotionsmodells führen, sind lediglich für einen Teilbereich der kindlichen Erfahrungswelt von Menamaty charakteristisch. Der andere Teilbereich der kindlichen Entwicklungsnische ist durch distale Inter‑ aktionsmuster mit anderen Kindern, insbesondere Peers, geprägt, die einen auto‑ nom-egalitären Entwicklungspfad konstituieren. Stark vereinfachend lässt sich der interdependent-hierarchische Entwicklungs‑ pfad wie folgt zusammenfassen: Das körperzentrierte Betreuungsmodell und die entsprechenden Praktiken (kontinuierlicher Körperkontakt, bedarfsorientiertes Stillen) der Mütter im Säuglingsalter fokussieren auf die möglichst bruchlose Be‑ friedigung der körperlichen Bedürfnisse und zugleich auf ein Ruhighalten des Kindes, ferner auf seine rasche Gewichtszunahme und motorische Entwicklung. Gemäß dem mütterlichen Ideal eines ruhigen, ausgeglichenen Kindes ließ sich bei Säuglingen und Kleinkindern äußerst selten ein intensives, negatives oder positives Emotionsverhalten beobachten – sofern sie sich in der Gesellschaft von Erwachsenen befanden. Der rasche und konsequente Rückgang der körperlichen Zuwendung in den ersten beiden Lebensjahren ist – aus emischer und etischer Sicht – an die motorische Entwicklung und zunehmende physische Autonomie gekoppelt, und wird nicht als emotionale Zurückweisung konzeptualisiert. Mit der physischen Distanzierung zwischen Betreuungsperson und Kind schält sich vielmehr die Nahrungsgabe als zentrales Beziehungsmedium heraus. Diese Erfah‑ rungszusammenhänge werden in ein – zunehmend auch verbal kommuniziertes – Beziehungsmodell eingebettet, wonach Kinder (und Erwachsene) zur Aufrecht‑ erhaltung ihres physischen Wohls, ja ihres Lebens einer steten Zuwendung mittels Segen oder Lebenskraft durch die Eltern und Ahnen bedürfen.

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Mit der im zweiten Lebensjahr einsetzenden Praxis der Körpersanktion wird diese lebensnotwendige Zuwendung unter die Bedingung von Folgsamkeit und Respekt gestellt, was zugleich zur Ausbildung der Furcht als primäre moralische und sozialisierende (vgl. Röttger-Rössler et al. 2013, 2015) Emotion, oder als other focussed emotion (Markus & Kitayama 1991), führt. Ab dem Kleinkindalter trägt diese Emotion maßgeblich dazu bei, dass Kinder dem Respektsgebot der emotionalen Zurückhaltung in Gegenwart von Autoritätspersonen verlässlich entsprechen – oder sich im Fall intensiver affektiver Erregung von ihnen entfernen; ältere Kinder lernen, mittels Furcht sämtliche Emotionen und Motive zu regulieren – sofern sie den Normen und Pflichten entgegenlaufen. Da die moralische Furcht auf spezi‑ fische Andere (Eltern, Vorfahren und Ahnengeister) und Situationen (drohende Sanktionen) bezogen bleibt, forciert sie keineswegs eine generalisierte Emotions‑ kontrolle. Vielmehr lässt der hierarchisch-interdependente Entwicklungspfad einen beträchtlichen Spielraum für einen zweiten Entwicklungspfad, der in egali‑ täre Beziehungen eingebettet ist. Distale, emotional (und kognitiv) anregende Interaktionen, wie face-to-face-Kon‑ takt, spielerische Erkundungen der materiellen Umwelt oder verbaler Austausch, praktizieren und erleben Kinder von Beginn an größtenteils gemeinsam mit an‑ deren Kindern, insbesondere mit ihren Peers. Im Gegensatz zu den Erwachsenen schätzten die Kinder von Menamaty andere Kinder weniger als emotional zurück‑ haltende, ›ruhig dasitzende‹, sondern vielmehr als an- und aufregende soziale Part‑ ner – dies geht zumindest aus den Beobachtungen hervor. So wandten sie sich mit zunehmender Mobilität und wachsenden explorativen Bedürfnissen immer öfter und länger ihren Peers zu, um mit diesen auf eine Art und Weise zu interagie‑ ren, die in der Regel auf das gemeinsame Hervorbringen und Erleben intensiver positiver Emotionen zielte. Im Fall von Konflikten kam es gelegentlich zu heftigen Handgreiflichkeiten zwischen Peers, womit Kinder in diesen Beziehungen auch intensive negative Emotionen erleben und ausagieren konnten. Eltern griffen nur äußerst selten in Peer-Interaktionen ein, wenn doch, dann vor allem, um die Entkopplung der Peer-Sphäre von derjenigen der Erwachsenen zu befördern: Kinder im ersten Lebensjahr setzten sie häufig einander gegenüber, um sie zum gemeinsamen Spiel anzuregen. Wurde ein Baby von einem anderen handgreiflich angegangen, griffen Mütter nicht als ›richtende‹, beschwichtigende Instanz ein, vielmehr war häufig zu beobachten, wie sie das betroffene Kind dabei unterstützten, sich direkt physisch zur Wehr zu setzen. Spielten Kinder im zweiten Lebensjahr allzu laut in der Nähe von Erwachsenen, ernteten sie nicht nur deren Unmut, sondern wurden auch häufig davongescheucht. Sowohl die Attraktivität der Peers als exklusive Partner anregender, reziproker Aktivitäten als auch die Dis‑ tanzierungspraktiken der Eltern und anderer Erwachsener tragen dazu bei, dass die beobachteten Kinder im zweiten Lebensjahr bereits den Großteil des Tages mit anderen Kindern interagierten, sich dabei meist von Erwachsenen fernhielten und somit untereinander eine Form der Emotionalität übten, die durch ihre Expressi‑ vität und Intensität deutlich mit dem Modus der emotionalen Zurückhaltung in hierarchisch-interdependenten Beziehungen kontrastiert. Dass sich dieser zweite Entwicklungspfad ontogenetisch durchzieht und ebenso in der sozialen Struktur verankert ist wie der hierarchische Entwicklungspfad, haben die Ausführungen zu den Beziehungsmustern im 3. Kapitel sowie die Analyse der Emotionsnarrative im 4. Kapitel gezeigt. Demnach verorteten die Gesprächspartner die meisten posi‑

Schlussdiskussion

tiven und negativen Emotionen, einschließlich egofokussierter Gefühle wie Wut oder Stolz, eindeutig in egalitär-autonomen Beziehungen, die offenbar einen legiti‑ men Kontext hierfür bieten. Zudem legt das Beobachtungs- und Interviewmaterial nahe, dass sich der egalitäre Entwicklungspfad im Kleinkindalter allmählich ent‑ lang freund- und feindschaftlicher Beziehungen aufgliedert, wobei erstere durch intensive positive Emotionen (wie z.B. geteilte Freude) und letztere durch intensive negative Emotionen (wie z.B. vergeltende Wut) geprägt sind. Die Analyse der sozialen Diversifikation des Emotionalen in Menamaty zeigt also innerhalb einer sozialen Gemeinschaft eine Differenz auf, die mit dem Kon‑ trast vergleichbar ist, den große Teile der kulturvergleichenden Emotions- und Sozialisationsforschung zwischen westlichen und nicht-westlichen Kontexten auf‑ machen. Dies lässt die Frage aufkommen, ob die Gemeinschaft von Menamaty als Sonderfall in dieser Hinsicht anzusehen ist oder ob es sich um ein verbreitetes Muster handelt, das im Rahmen des eingangs skizzierten Paradigmas nicht in den Blick geraten ist. Diese Frage lässt sich letztlich nur empirisch klären. Extrapoliert man jedoch von der vorliegenden Forschung, so drängt sich die Hypothese auf, dass in Gemein‑ schaften, die ihren Kindern von Beginn an viele, alltäglich verfügbare Bezugsper‑ sonen des ganzen Altersspektrums bieten und die gleichzeitig durch eine konse‑ quente Alterssegregation geprägte sind, ähnliche Formen der sozio-emotionalen Diversifikation zu finden sind. Bemerkenswert ist, dass die beiden Gesellschaften, die bei der Formulierung des Interdependenz-Independenz-Paradigmas promi‑ nent Modell standen, nämlich die US-amerikanische und japanische städtische Mittelschicht (Markus & Kitayama 1991), diese Bedingungen vielleicht am wenigs‑ ten erfüllen: Beide Kontexte sind durch eine geringe Geburtenrate gekennzeich‑ net, was zumindest in den ersten Lebensjahren die kontinuierliche Verfügbarkeit anderer Kinder begrenzt. Institutionalisierte Formen der Betreuung und Bildung, die in beiden Kontexten vorhanden sind, führen zwar Gleichaltrige zusammen, diese implizieren jedoch gerade eine gezielte Strukturierung und Regulierung von Peer-Interaktionen durch Erwachsene. Somit bestehen in diesen beiden Kontex‑ ten gerade gute Voraussetzungen dafür, dass die Erfahrungswelt der Kinder ver‑ gleichsweise dominant durch die – independente bzw. interdependente – Pädago‑ gik Erwachsener geprägt wird. Um die potenzielle soziale Diversifizierung des Emotionalen in solchen Ge‑ sellschaften, die den oben angeführten Bedingungen eher entsprechen, empirisch fassen zu können, wären mindestens die folgenden epistemisch-methodischen Hinweise zu beachten: (1) Bei der Untersuchung von Sozialisationserfahrungen sollten systematisch alle sozialen Partner des Kindes in den Blick genommen werden. Diese nahe‑ liegende Forderung wurde weder in der kulturpsychologischen noch in der kul‑ turanthropologischen Forschung genügend erfüllt. Das methodische Design kulturpsychologischer Forschung setzt in der Regel eine Auswahl bestimmter Sozialisationspartner voraus – vorzugsweise fällt die Wahl auf Mütter oder Väter. Zahlreiche anthropologische Studien haben zwar auf die zentrale Bedeutung an‑ derer Bezugspersonen für Kinder hingewiesen, allein die daraus resultierenden Begriffsbildungen zeugen jedoch von einer impliziten Vorauswahl relevanter Be‑ zugspersonen am Modell der Eltern (alloparents) oder der mit ihnen assoziierten Zuwendungsform des caregiving (multiple caregiving). Entsprechend wurden Peers,

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die kaum als caregiver auftreten, auch in dieser Disziplin weitgehend außer Acht gelassen. (2) Die kulturellen Modelle zur Kindheit und Entwicklung (parenting models), die gerade in der kulturanthropologischen Forschung häufig als primäre Orientie‑ rungsrahmen dienen, bedürfen einer sorgfältigen sozialen Situierung. Denn diese repräsentieren in der Regel die Sichtweisen von Eltern, während damit zu rechnen ist, dass andere soziale Partner, insbesondere Kinder (die freilich schwerer zu inter‑ viewen sind), abweichende Modelle vertreten. (3) Die teilnehmende Beobachtung kann zu einer gewissen Verzerrung führen, da Kinder hierbei durch die eigene Präsenz stets in einer hierarchischen Sozialre‑ lation beobachtet werden. Dieser Effekt dürfte im Fall eines ausgeprägten Seniori‑ tätsprinzips besonders stark sein. In meiner Feldforschung konnte ich dem zwar durch die Entwicklung von freundschaftlichen Beziehungen mit den Kindern et‑ was entgegenwirken, jedoch bekam ich erst mit der halbverdeckten Beobachtungs‑ methode der spot observation die spezifischen Charakteristika der Peer-Interaktio‑ nen richtig in den Blick.

Zur Ausdifferenzierung der Wut Die Ausdifferenzierung der Wutemotionen, die in dieser Arbeit neben der Sozia‑ lisation moralischer Furcht im Fokus steht, bietet ein konkretes Beispiel für die soziale Diversifizierung von Emotionen. Überdies verweist die Analyse der Wut nochmals auf die Notwendigkeit, das theoretische Modell von der interdependen‑ ten Emotionalität in nicht-westlichen Kontexten maßgeblich zu erweitern. Denn gerade Wut (anger) gilt als grundsätzlich inkompatibel mit einer interdependenten Orientierung: For those with interdependent selves (composed primarily of relationships with others instead of inner attributes), it may be very important not to have intense experiences of ego-focused emotions, and this may be particularly true for negative emotions like anger. Anger may seriously threaten an interdependent self and thus may be highly dysfunctional. (Markus & Kitayama 1991: 236)

Auch in der kulturanthropologischen Emotionsforschung ist die Argumentation dominant, dass Wut in den jeweils betrachteten Gruppen selten aufträte bzw. stark kontrolliert würde, weil sie dem Wert eines harmonischen Miteinanders widerspre‑ che – so etwa bei den Inuit (Briggs 1970, 1978), Tahitianern (Levy 1973: 284-288, 1978), Ifaluk (Spiro 1952), Semai (Dentan 1978), Toraja (Hollan 1988) oder den Ne‑ palesen (Shweder et al. 2007). Die Analyse der Wutkonzepte auf der Basis erzählter Episoden (4. Kapitel) hat deutlich gemacht, dass zumindest in Menamaty von einer generellen (positiven oder negativen) Bewertung oder (Dys-)Funktionalität der Wut nicht die Rede sein kann. Vielmehr ist die Legitimität einer Wutäußerung von ihrer jeweiligen sozialen Einbettung abhängig, was das Erfordernis einer hochgradig kontextspezifischen Wutregulation mit sich bringt. Bemerkenswerterweise werden die verschiedenen Regulationsformen, die sich aus der sozialen Diversität in Menamaty ergeben, als differente Emotionen konzeptualisiert – auch wenn sie als Variationen einer Grundform der Wut (seky) erkennbar bleiben. Auf der Basis der jeweiligen sozia‑

Schlussdiskussion

len Einbettung und entsprechenden Regulationsform lassen sich die gut 20 Wut‑ konzepte drei Subgruppen zuordnen, die ich als appellierende, sanktionierende und vergeltende Wut bezeichnet habe. Dass den Wutkonzepten jeweils spezifische sozio-emotionale Erfahrungszusammenhänge und Dynamiken korrespondieren, wurde in der ontogenetischen Perspektive deutlich (11. Kapitel). Die verschiedenen Formen der appellierenden Wut, die in hierarchische Bezie‑ hungen eingebettet und darin auf statushöhere Personen gerichtet sind, zeichnen sich durch die Unterdrückung jedweder aggressiven Handlungstendenz, ein cha‑ rakteristisches, an das Mitleid des Gegenübers appellierendes Ausdrucksverhalten (Stirnrunzeln, Schnute oder Nahrungsverweigerung) und intensive, im Bauch ver‑ ortete Gefühle (›fauliger, verdorbener, aufgewühlter Bauch‹) aus. Die spezifische Praxis der Körpersanktionierung ab dem fünften oder sechsten Lebensjahr ist als zentraler Sozialisationskontext für die appellierende Wut anzusehen. Einerseits sorgt diese Praxis für intensive Wutreaktionen bei den betroffenen Kindern – zu‑ mal sie in den ersten Lebensjahren bereits gelernt haben, sich gegen Aggressionen direkt zur Wehr zu setzen –, andererseits wird die Wutreaktion ihrerseits umge‑ hend durch eine Fortsetzung der Körpersanktion bestraft, da sie dem Respektgebot in der Beziehung zu statushöheren Personen widerspricht. Die parallel sozialisier‑ te Disposition für moralische Furcht übernimmt allmählich die Funktion, etwaige Wut auf Autoritätspersonen eigenständig zu unterdrücken. Damit lässt sich die folgende, von Markus und Kitayama (1991: 247) aufgewor‑ fene Frage zumindest für den Forschungskontext von Menamaty beantworten: »If there are norms against the display or expression of anger, what happens to the nature of the felt anger? In other words, is it the case, as we suggest here, that these norms can sometimes be internalized to the extent that they determine the nature of one’s experience?« Wie die Erfahrungsberichte zur appellierenden Wut nahelegen, führt die Unterdrückung der Handlungstendenz nicht etwa zu einer Minimierung des Gefühls, im Gegenteil, sie bringt starke Gefühle erst hervor, die metaphorisch als im Bauch angestaute Kraft und somit als eigenständige Formen der Wut konzeptualisiert werden. Dies mag damit zusammenhängen, dass die Regulation mittels moralischer Furcht lediglich die Handlungsebene betrifft und nicht mit einer generellen Entwertung des Gefühls einhergeht. Auch das ausge‑ prägte und häufig langanhaltende Ausdrucksverhalten, das bei der appellierenden Wut an die Stelle aggressiver Handlungen tritt, und das im Kontext der Körper‑ sanktion durch tröstende Personen verbal gespiegelt und bekräftigt wird, dürfte zu einer hypercognition (Levy 1973: 324) bezüglich der Gefühlsseite der appellierenden Wut beitragen. In scharfem Kontrast zur appellierenden Wut zeichnen sich die Formen der vergeltenden Wut durch ein offensives, mitunter aggressives Einwirken auf das Gegenüber aus, und durch die im Herzen lokalisierte Intention einer Vergeltung für erlittenen Schaden oder Statusverlust. Egalitäre Beziehungen zwischen Perso‑ nen unterschiedlicher Abstammungsgruppen bieten einen legitimen Kontext für diese Emotionsgruppe – mehr noch, die vergeltende Wut ist von zentraler Bedeu‑ tung für die Aufrechterhaltung und Performanz des egalitären Ethos in diesen Relationen. Für das Emotionssubjekt fungieren sie als Motivation, Erniedrigungen auszugleichen und damit dem Entstehen vertikaler Machtbeziehungen entgegenzuwirken, für das Gegenüber als Warnung, dass im Falle einer Aggression mit einer unbedingten Vergeltung zu rechnen wäre.

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Meine Analyse hat mehrere, für die appellierende Wut relevante Sozialisations‑ kontexte zum Vorschein gebracht: 1) Die im Übergang von Säuglings- zum Klein‑ kindalter zu beobachtende Praxis von Müttern, Kinder im Fall eines Peer-Konflikts zur direkten Gegenwehr zu animieren, sowie die gelegentliche Sanktionierung von älteren Kindern durch Väter, die im Streit mit befeindeten Kindern klein beigeben. 2) Die bei der Körpersanktion erlebte und unterdrückte Wut, die aus der Sicht von Kindern und Erwachsenen vergeltende Emotionen ›befeuert‹ – insbesondere die Emotion des ›heißen Herzens‹ (may fo), die für eine akute handgreifliche Ausein‑ andersetzung zwischen Peers charakteristisch ist. 3) Die Praktiken der Peergroups beiderlei Geschlechts, Wettkämpfe zu veranstalten und das unterlegene Kind kol‑ lektiv zu verhöhnen. Wie die entsprechenden Erfahrungsberichte der Kinder nahe‑ legen, erleben sie hierbei Scham, suchen diese aber mittels Wut zu überwinden, indem sie entweder ihre Aggressivität steigern, um die Niederlage umgehend wett‑ zumachen, oder die feste Absicht entwickeln und in ihr ›Herz legen‹ (magnapoko), bei einer zukünftigen Gelegenheit an einem der beteiligten Kinder Vergeltung zu üben. Eine solche emotionale Dynamik, potenziell beschämende Erfahrungen mit vergeltender Wut zu bewältigen, die auch den Emotionsnarrativen von Jugend‑ lichen und Erwachsenen zu entnehmen ist, wird durch verschiedene etablierte Praktiken wie z.B. Viehdiebstahl oder Schadenszauber gestützt. Das Konzept des Schadenszaubers (voriky) erlaubt es beispielsweise, eigenes Missgeschick oder Ver‑ sagen auf die Machenschaften einer befeindeten Person zurückzuführen und so‑ mit extern zu attribuieren; die Praxis des Schadenszaubers bietet wiederum eine Möglichkeit, selbst dann eine Vergeltungsintention zu realisieren, wenn die Ziel‑ person mächtiger oder nicht verfügbar ist. Die sanktionierende Wut, die wie die appellierende Wut in hierarchische Be‑ ziehungen eingebettet ist, richtet sich in der Regel auf statusniedere Personen, ins‑ besondere auf die eigenen Nachfahren. Als respekt- und furchteinflößende Reak‑ tion auf das Fehlverhalten der Nachfahren kommt ihr eine sanktionierende, mithin moralische Funktion zu. Sie sorgt dafür, dass sich Kinder in die soziale Hierarchie einfügen und dass sie später durch die furchtsame Antizipation des Ahnenzorns den moralischen Normen ihrer Gruppe und dem Willen der Älteren selbständig entsprechen. Damit entfaltet diese Emotion eine sozial kohäsive Wirkung, die dem Verständnis von Wut als sozial disruptive Emotion genau entgegengesetzt ist. Die sanktionierende Wut stellt hohe Anforderungen an die Regulationsfähigkeit, da das Emotionssubjekt die Waage halten muss zwischen einer für das Gegenüber überzeugenden Wutperformanz und einer angemessenen Abstimmung mit dem Fehlverhalten und Entwicklungsstand des Kindes. Zur Beantwortung der Frage, wie die sozialisierende Wut selbst sozialisiert wird, habe ich mich maßgeblich auf den, gerade in der Forschung zur Körperstrafe gut belegten (Gershoff 2002) Lernvorgang der Rollenübernahme gestützt, wonach Kinder dazu tendieren, die erlebte oder beobachtete Rolle der sanktionierenden Person ihrerseits auf jüngere Kinder anwenden. Allerdings wird in Menamaty das Sanktionsverhalten von Kindern gegenüber jüngeren Geschwistern, Cousins oder Cousinen stark eingeschränkt und seinerseits sanktioniert – mutmaßlich, weil ihnen die erforderliche Regulationsfähigkeit nicht zugetraut wird. Stattdessen, so meine Argumentation, üben Kinder die charakteristischen Ausdrucksweisen der sanktionierenden Wut zunächst vorwiegend in geschlechtsspezifischen Rol‑ lenspielen und Aktivitäten ein. Mädchen waren häufig zu beobachten, wie sie im

Schlussdiskussion

Rahmen eines Erzählspiels (kitatara) Erziehungsepisoden inszenierten, indem sie Personen repräsentierende Steine aufeinanderschlugen und dabei mit wütender Stimme Drohungen oder Verbote aussprachen. Zu Beginn der Adoleszenz erhiel‑ ten Mädchen zudem die Gelegenheit, in ihrer Rolle als Babysitter gemäßigte For‑ men der Wut und Körpersanktion einzusetzen. Jungen übten die Sanktionswut hingegen vor allem im Umgang mit Rindern, zunächst beim Spiel mit Lehmfi‑ guren, dann beim Hüten realer Rinder. Bereits beim Spiel wird der Hirtenstock als primäres Dominanz- und Ausdrucksmittel zur Kontrolle der Rinder etabliert. Die in der Kindheit eingeübte Sanktionswut kommt jedoch erst im Erwachsenen‑ alter bei der Erziehung der eigenen Kinder zur vollen Geltung. Bemerkenswert ist, dass die geschlechtsspezifischen Sozialisationskontexte zu einem gewissen Grad der elterlichen Rollenaufteilung entsprechen: Während Mütter oder Tanten für die leichten Sanktionsformen im Kleinkindalter zuständig sind, übernehmen Väter und Onkel ab der Kindheit die Bestrafung mittels Hirtenstock, der zugleich emble‑ matisch für die patrilineare Dominanz steht. Die Analyse macht also deutlich, dass die Wutfamilie in einer Gesellschaft, der die ethnologische Forschung eine interdependente Orientierung unterstellt hat (Faublée 1954: 82; Huntington 1988: 55), stark ausdifferenziert ist und auch solche Formen umfasst (vergeltende Wut), die man mit Markus und Kitayama (1991) als machtvolle egofokussierte Emotionen bezeichnen könnte. Dies führt zu der Frage, ob in anderen, nicht-westlichen Kontexten eine ähnliche Aufgliederung der Wut in appellierende, vergeltende und sanktionierende Formen zu beobachten ist. Die kulturanthropologische Emotionsforschung bietet hierfür einige Hinweise: Bezüglich der Samoaner, die bekanntlich von Mead (2001 [1928]) mit Sanftheit und von Freeman (1983) mit Aggressivität in Verbindungen gebracht wurden, hat etwa Gerber (1985: 154-158) in einem überzeugenden Vermittlungsversuch Wut‑ emotionen wie ›o’ono (suppressed anger), fiu ( fed up) und musu (reluctance) identi‑ fiziert und beschrieben: They have in common not only semantic similarity but also the fact that they express resistance to parentally assigned work. But they do not represent high levels of intensity: in no instance is a vehement expression of anger toward parents permissible. Situations may occur, however, in which parental demands are experienced as excessive. To the extend they can, people will channel their anger into these mild, less disruptive feelings. To the extent they are successful, they may be unaware of how deep their anger is. It is likely, however, that they will continue to experience residues of socially unacceptable rage which they are unable to express, and of which they may not be aware. (Gerber 1985: 154)

Die Ähnlichkeiten dieser Emotionskonzepte mit denen der appellierenden Wut in Menamaty sind nicht nur auf phonetischer Ebene manifest (musu – motso),1 sondern auch hinsichtlich der veranlassenden sozialen Konstellationen und Dynamiken. So meint auch Gerber, bei der Sozialisation dieser Wutemotionen sei die Praxis har‑ scher Körpersanktion und damit ausgelöste Furcht vor Autoritätspersonen zentral 1 | Nach dem phonetischen Alphabet (IAP) würde man die Aussprache des madagassischen Wortes ›motso‹ mit ›musu‹ wiedergeben, womit es der Aussprache des samoanischen ›musu‹ recht nahe zu kommen scheint. Wohlgemerkt zählen beide Sprachen zur austronesischen Sprachfamilie.

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(1985: 158). Die von Gerber vorgeschlagene Übersetzung der samoanischen Wut‑ vokabel fiu mit fed up deutet zudem auf eine ähnliche, gastrointestinale Metaphorik hin. Während Gerber in Bezug auf die Samoaner vermutet, dass die unterdrückte Wut teils als Restgefühl erhalten bleibt, machten meine Gesprächspartner durch Gefühlsmetaphern wie ›aufgeblähter Bauch‹ oder Umschreibungen wie ›Wut im Bauch‹ deutlich, dass die Unterdrückung der aggressiven Handlungstendenz gera‑ de zu einer Intensivierung der Empfindungsseite führt. Dass auf Samoa darüber hinaus auch Emotionen der sanktionierenden Wut ausgeprägt sind, erwähnt die Autorin zwar nicht, die von ihr angeführte Praxis der Prügelstrafe legt dies immer‑ hin nahe. Hingegen macht sie deutlich, dass offene Gewalt in Peer-Interaktionen zwar gelegentlich in eruptiver Weise auftritt, jedoch der normativen Ordnung klar widerspricht – ganz anders als im untersuchten madagassischen Kontext oder bei den Ilongot in der Darstellung von Rosaldo (1980: 44). In ihrer Ethnografie stellt Rosaldo das Wutkonzept liget als Schlüssel zur Kultur der Ilongot dar, indem sie zeigt, dass es zentrale Werte wie Kraft, Konzentriertheit und Leidenschaft umfasst, die für die Gartenarbeit oder Jagd und insbesondere für interpersonale Vergeltungsakte eine zentrale Rolle spielen. In einigen Aspekten stimmt liget mit den Konzepten der vergeltenden Wut von Menamaty überein. Wie die Emotionen der vergeltenden Wut ist liget vornehmlich in egalitäre Beziehungen eingebettet, liget wird ebenso durch eine Infragestellung der Gleichrangigkeit ver‑ anlasst und gilt nicht nur als legitim, sondern unterstreicht auch wertgeschätzte Charaktereigenschaften wie Individualität oder Durchsetzungsfähigkeit (Rosaldo 1980: 46). Überdies wird liget wie die vergeltende Wut im Herzen als energetischem Organ lokalisiert und beide dienen gleichermaßen der Überwindung von äußeren oder inneren Widerständen wie beispielsweise einer ›feigen‹ Furchtsamkeit (malia) im Fall von Menamaty. Bei den Ifaluk identifiziert Lutz (1988: 157) – im Gegensatz zu Spiro2 – ebenfalls bestimmte soziale Kontexte, die Wutäußerungen legitim und erforderlich machen: Als Reaktion auf einen Normverstoß können und sollen Ältere eine spezifische Form der ›gerechtfertigten‹ Wut (song, übersetzt als moral/justifiable/righteous anger) gegenüber Jüngeren zum Ausdruck bringen. Hinsichtlich dieser sozialen Einbettung und Funktion ist song mit der sanktionierenden Wut in Menamaty ver‑ gleichbar. Da Lutz – ähnlich wie Rosaldo – ein einzelnes Konzept aus der Grup‑ pe der Wutkonzepte in den Vordergrund rückt und andere nur beiläufig erwähnt (1988: 157), lässt sie die Frage allerdings offen, ob ihre kindlichen mit irgendeiner Form ›unberechtigter‹ oder appellierender Wut auf den ›berechtigten‹ Zorn der Eltern reagieren. Da in diesen ethnografischen Beispielen jeweils eine Spielart der Wut in den Vordergrund gerückt wird, ist es schwer zu beurteilen, ob und inwieweit andere Ausprägungen in derselben Gruppe ebenfalls einen Platz haben. Die Problema‑ tik, die sich ergibt, wenn aus einer Emotionsfamilie lediglich ein vermeintliches Schlüsselkonzept herausgegriffen wird, lässt sich an Lutz’ Vergleich zwischen song und anger demonstrieren:

2 | So schreibt Spiro zu den Ifaluk (1952: 498): »No display of aggression is permitted in interpersonal relationships; and in fact, no aggression is displayed at all.«

Schlussdiskussion To become justifiably angry is to advance the possibilities for peace and wellbeing on the island, for it is to identify instances of behavior that threaten the moral order. This view contrasts with the American notion that anger is primarily an antisocial emotion whose only positive functions are primarily intrapsychic. (Lutz 1988: 156f)

Zu einem aussagekräftigeren Vergleich käme Lutz wohl, wenn sie statt anger Emo‑ tionstermini wie indignation (Empörung) oder moral outrage (Entrüstung) heranzö‑ ge, die offensichtlich wie song auf moralisches Fehlverhalten gerichtet sind. Damit würde man die interkulturelle Kontrastierung abmildern, allerdings nicht jegliche, sozial oder kulturell bedingte Differenzen aus dem Blick verlieren. Denn im Unter‑ schied zu song auf Ifaluk oder der sanktionierenden Wut in Menamaty führen Emo‑ tionen wie Empörung weniger zu einer direkten Sanktionierung statusniederer Personen wie Kinder, sondern vielmehr zu einer Verlautbarung des beobachteten oder erlittenen Unrechts gegenüber Dritten wie z.B. der Öffentlichkeit oder Rechts‑ instanzen (vgl. Fessler 2007: 180; Haidt 2003: 856). Damit zeichnet sich eine wei‑ tere Gruppe von Wutemotionen ab, die wiederum in Menamaty, zumindest auf konzeptueller Ebene, nicht zu finden war.

Zur Moralischen Furcht Im Gegensatz zu den Emotionen der Scham, Schuld oder Empathie wurde die Furcht bislang weder in der psychologischen noch der anthropologischen For‑ schung systematisch als moralische Emotion in Betracht gezogen. Die einschlägi‑ gen Überblicksartikel zu moralischen Emotionen oder Sentiments lassen Furcht bzw. Angst entweder ganz außen vor (Eisenberg 2000; Tangney et al. 2007; Throop 2012) oder behandeln sie nur marginal (Haidt 2003). Haidt bezeichnet Furcht ( fear) in seinem Überblicksartikel zu moralischen Emotionen explizit als nonmoral emotion (2003: 853). Er gesteht dieser Emotion zwar ein normvermittelndes Potenzial zu, dieses ist nach seiner Definition moralischer Emotionen jedoch kein hinrei‑ chendes Kriterium: »Fear, for example, can be an important cause of law-abiding or norm-respecting behavior. However, the elicitors of fear generally trigger concerns about the self (or the self’s closest kin). […] Fear and schadenfreude are therefore marginal or nonprototypical moral emotions.« (Haidt 2003: 864). Als Hauptkri‑ terien für moralische Emotionen nennt Haidt (2003: 854) die Uneigennützigkeit des Emotionsanlasses (disinterested elicitor) sowie eine prosoziale Handlungsbereit‑ schaft (prosocial action tendency). Tatsächlich geht aus den Narrativen zu tahotsy hervor, dass diese Emotion durchaus einen eigennützigen Anlass haben kann und nicht zwangsläufig zu einer prosozialen Handlung führt – so etwa, wenn sich je‑ mand aus Furcht vor einem wütenden Rind in Sicherheit bringt. Tahotsy ist nicht per se eine moralische Emotion. Jedoch erfüllt tahotsy Haidts Kriterien einer moralischen Emotion spätestens dann, wenn sie in Verbindung mit den spezifischen religiösen Vorstellungen von erzürnten Ahnengeistern tritt. Denn analog zur ›klassischen‹ moralischen Emo‑ tion der Scham wird moralische Furcht durch ein Appraisal ausgelöst, wonach die eigene unmoralische Handlung eine negative emotionale Reaktion (Zorn) imagi‑ nierter Anderer (Ahnengeister) nach sich ziehen würde. Wie die Scham, die auf die Wahrung des eigenen sozialen Werts gerichtet ist, bezieht sich auch die moralische Furcht letztlich auf ein eigennütziges Motiv – die Erhaltung des eigenen körper‑

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lichen Wohls. Jedoch wird die Erfüllung dieser selbstbezogenen Motive in beiden Fällen unter die Bedingung eines prosozialen Motivs gestellt: die Beachtung mo‑ ralischer Normen. Die entscheidende, implizite oder explizite Erwägung, ob eine Handlung die Geister der Ahnen erzürnen würde, impliziert zudem, wie bei der Scham, eine Perspektivübernahme. Der Zorn der Anderen wird damit zum integ‑ ralen Bestandteil der moralischen Furcht. Es ist überdies klar geworden, dass mo‑ ralische Furcht in dieser internalisierten und antizipierten Form zu prosozialem, d.h. normgerechtem Handeln beiträgt. Selbst wenn die Furcht erst in Reaktion auf einen begangenen Normverstoß auftritt, bringt sie dennoch eine prosoziale Hand‑ lungsbereitschaft mit sich. Denn die Furcht vor den unheilvollen Konsequenzen des Normverstoßes veranlasst die Betroffenen, durch Opfergaben ihr Fehlverhalten wiedergutzumachen. Auch hierbei ist die Integration des Ahnenglaubens entschei‑ dend, da den omnipräsenten Ahnengeistern gegenüber eigennützige Handlungs‑ tendenzen der Furcht, wie Flucht oder Meidung, obsolet werden. Durch die Integration religiöser Überzeugungen entwickelt sich die moralische Furcht im Forschungskontext also zu einer Emotion, die komplexe sozio-religiöse Kognitionen beinhaltet und weit über eine reflexhafte Reaktion auf äußerliche Be‑ drohungen hinausgeht. Die Verknüpfung der Furcht mit spezifischen Beziehungs‑ modellen, sozialen Kognitionen, religiösen Glaubenssystemen und Praktiken ist umso erstaunlicher, als Furcht/fear in Teilen der Emotionspsychologie als Basis‑ emotion par excellence gehandelt wird, die sich durch biologische Determinierung und kulturübergreifende Uniformität auszeichne. Aus einer Tabelle von Ortony und Turner (1990), welche die in 13 einschlägigen Publikationen angeführten Ba‑ sisemotionen zusammenfasst, geht hervor, dass fear (bzw. anxiety oder terror) zu‑ sammen mit anger (bzw. rage) am häufigsten (jeweils elfmal) als Basisemotion in Betracht gezogen wurden. Selbst unter den neun Emotionen, die in der mittelalter‑ lichen Hindu-Philosophie als Primäremotionen beschrieben werden, findet sich nach Shweder et al. (2007: 412) ein Äquivalent für fear (neben anger und sorrow) – die übrigen sechs Emotionskonzepte lassen sich den Autoren zufolge hingegen nicht direkt übersetzen. Zwar ist eine grundlegende Übereinstimmung von tahotsy mit Furcht/fear kaum zu bestreiten, doch machen die Ausführungen deutlich, dass sich diese Emotion im Prozess der Sozialisation zu einer komplexen, spezifischen Form von Furcht ausbildet, die zentrale moralische Funktionen übernimmt. Die Übersetzungsproblematik bei Emotionswörtern lässt die Frage aufkom‑ men, ob tahotsy in der Funktion als moralische Emotion vielleicht auch mit ›Scham‹ oder ›Schuldgefühl‹ anstatt mit ›Furcht‹ zu übersetzen wäre. Was die ›Scham‹ be‑ trifft, so wurde in der Auseinandersetzung mit den lokalen Konzepten bereits deut‑ lich, dass dieser Emotion hegnatsy und verwandte Konzepte wesentlich ähnlicher sind als tahotsy. Das entscheidende Differenzierungsmerkmal besteht darin, dass hegnatsy wie Scham auf eine Bedrohung des sozialen Ansehens oder Werts be‑ zogen ist, tahotsy hingegen auf eine Bedrohung des körperlichen Wohls und der physischen Existenz. Entsprechend tritt hegnatsy per se in sozialen Kontexten auf, wohingegen tahotsy auch in Bezug auf Tiere oder leblose Dinge erfahren werden kann. Scham mag zwar als moralische Emotion prädestiniert erscheinen, im lo‑ kalen Kontext überlässt sie diese Funktion jedoch weitgehend der Furcht. Keiner der vielen Erfahrungsberichte zu hegnatsy deutet darauf hin, dass diese Emotion gegenüber Eltern oder Ahnengeistern erlebt wird, welche die moralische Ordnung repräsentieren. Hingegen spielt hegnatsy in egalitären Relationen eine wichtige

Schlussdiskussion

Rolle – in Beziehungen also, die weniger durch moralische Normen als vielmehr durch Konkurrenz, Erfolg oder Misserfolg geprägt sind. Zudem habe ich die Ten‑ denz aufgezeigt, Scham umgehend in vergeltende Wut zu transformieren. Diffiziler ist das Verhältnis der moralischen Furcht zu den Konzepten der Schuld. So hat bereits Freud in Totem und Tabu (2007 [1912-13]: 42) bemerkt, »daß das Schuldbewußtsein viel von der Natur der Angst hat; es kann ohne Bedenken als ›Gewissensangst‹ beschrieben werden.« Die Gewissensangst, in neueren Pu‑ blikationen auch als moral anxiety bezeichnet (vgl. Endler & Kocovski 2001: 232), wird in psychoanalytischer Tradition u.a. der ›Realangst‹ gegenübergestellt. Letzte‑ re bezieht sich auf eine konkrete, physische Bedrohung und ist ontogenetisch der Ausgangspunkt für die Entwicklung der diffusen, auf das »Über-Ich« gerichteten Gewissensangst: Diese Realangst ist der Vorläufer der späteren Gewissensangst; solange sie herrscht, braucht man von Über-Ich und von Gewissen nicht zu reden. Erst in weiterer Folge bildet sich die sekundäre Situation aus, die wir allzu bereitwillig für die normale halten, daß die äußere Abhaltung verinnerlicht wird, daß an die Stelle der Elterninstanz das Über-Ich tritt, welches nun das Ich genauso beobachtet, lenkt und bedroht wie früher die Eltern das Kind. (Freud 1991 [1933]: 65)

Auf den ersten Blick scheint dieses Freud’sche Entwicklungsmodell in etwa dem oben beschriebenen Entwicklungspfad der moralischen Furcht zu entsprechen, da hier die imaginierten Ahnengeister an die Stelle der Elterninstanz treten. Damit würde tahotsy auch die Dimension des Schuldgefühls umfassen. Auf den zwei‑ ten Blick zeigt sich jedoch ein kleiner, aber entscheidender Unterschied: Aus den präsentierten Narrativen geht hervor, dass auch Erwachsene tahotsy aufgrund der Vorstellung einer externen, konkreten Bedrohung durch zornige Ahnengeister er‑ fahren. Damit ist die Erfahrung von tahotsy also kaum mit der Gewissensangst, sondern vielmehr mit der ›Realangst‹, die man auch als ›Furcht‹ bezeichnen könn‑ te, zu vergleichen. Es ergibt also durchaus Sinn, dass die Gesprächspartner im Zu‑ sammenhang mit moralischen Anlässen und der Bedrohung durch Ahnengeister dasselbe Emotionskonzept wie im Fall der Bedrohung durch ein wütendes Rind verwenden.3 In eine ähnliche Richtung geht auch die Argumentation von Ellsworth (1994: 35): »It is possible that supernatural forces elicit appraisals and emotions that are similar to those based on natural causes.« Eine Internalisierungsform, die sich aus der Perspektive der Beteiligten als soziale Interaktion darstellt und als solche auch die Qualität der emotionalen Er‑ fahrung bestimmt, existiert freilich ebenfalls in katholischen Traditionen: Der christliche Gott erscheint hier gleichfalls als strafende oder zumindest richten‑ de Instanz, ohne dass dies der christlichen Tugend des Schuldgefühls Abbruch tut. Jedoch zeigen sich auch in dieser Perspektive ausschlaggebende Differenzen, die den Unterschied zwischen Schuld als diffuser Gewissensangst und konkreter Furcht reflektieren: Die übernatürliche Bestrafung von ›Sündhaftigkeit‹ erfolgt in 3 | In einem aktuellen Artikel kommt auch Douglas Hollan (2012: 575) zu dem Schluss, dass aufgrund des Glaubens an Ahnengeister bei den Toraja, Indonesien, Schuldgefühle im Freud’schen Sinne keine zentrale Rolle spielen. Allerdings präzisiert er nicht, welche Emotionen stattdessen die moralische Funktion übernehmen.

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der katholischen Tradition erst nach dem Tod im Jenseits und nicht unmittelbar im Anschluss an Fehlverhalten durch lebensbedrohliche Krankheiten. Da der christ‑ liche Gott übermenschlich ist und zudem ›das Gute‹ schlechthin darstellt, ist der Sünder auf seine eigene moralische Verwerflichkeit zurückgeworfen, was auch in den Praktiken der Buße oder Beichte im Vordergrund steht. Mit anthropomorphen Ahnengeistern, die weder vollkommen gut noch böse sind, sondern in erster Li‑ nie leicht erzürnen, lässt sich hingegen ein Tauschhandel aufnehmen, der primär deren Besänftigung und nicht die Konfrontation mit der eigenen Schuldhaftigkeit zum Ziel hat. Nun stellt sich die Frage, inwieweit Angst oder Furcht auch in anderen Kulturen als primäre moralische Emotionen sozialisiert werden. Einiges spricht dafür, dass moralische Furcht tatsächlich in vielen vergangenen und gegenwärtigen Gesell‑ schaften eine zentrale Rolle spielt(e): Um der Bedeutung der moralischen Furcht in der ›westlichen Welt‹ nachzuspüren, braucht man nicht bis auf das Alte Testament zurückzugehen, in dem ausdrücklich zur Gottesfurcht aufgerufen wird: »Fürchte Gott und halte seine Gebote« (Koh 12,13). Die Kinderschreckfigur des Sandmanns wurde, neben vielen anderen furchteinflößenden Figuren, erst im Übergang zum 20. Jahrhundert positiv umgedeutet, nämlich zu einem niedlichen, über den Schlaf der Kinder wachenden Sandmännchen (vgl. Boock 2007: 16). Dass auch in verschiedenen kontemporären Kontexten Furchtsamkeit als wün‑ schenswerte emotionale Haltung gegenüber Eltern und Respektspersonen betrach‑ tet wird, die Kinder folgsam macht, deuten mehrere Autoren an: To the Ifaluk way of thinking, fear is what keeps people good. The person who fears the justifiable anger of others is one who carefully watches her own behavior’s »social wake«, always attentive to the risk of rocking another’s boat. (Lutz 1988: 201, zu den Ifaluk, Mikronesien) However it must be added that pule, the power and authority of higher-status persons, and fear (ilifia) of that authority are other important motives for respect and obedience. (Morton 1996: 89, zu den Einwohnern Tongas) The overt goal of management of children is to produce docility and »fear.« By fear is meant a fear of trouble, a fear of something going wrong. People hope that children will obey because they are »afraid« not to. The purpose of hitting a child, for example, is said to be so that he will become »afraid«, and then he will not have to be hit anymore; and in fact in time this will happen. (Levy 1973: 447, zu den Einwohnern Tahitis)

Wie Levy weisen auch einige andere Autoren darauf hin, dass Praktiken der Kör‑ persanktion eine wichtige Rolle bei der Sozialisation von Furchtsamkeit spielen können: The predisposition that Mfantse cultivate in their children, a fearfulness founded on the threat of physical punishment, is equally plainly articulated by these adults. As has been noted, one of the things that Mfantse adults can be heard to say to children when they beat them is, ›You don’t fear anything‹. (Quinn 2005: 503, zu den Mfantse, Ghana) Among the Bofi farmers, children are commonly disciplined, as they are often swatted and spanked for misbehaving. Furthermore, farmer parents frequently use fear to modify their

Schlussdiskussion children’s behavior; for example, parents and alloparents often purposely evoke fear in children about strangers and places perceived as dangerous, such as the forest. (Fouts 2004: 138, zu den Bofi-Bauern, Zentralafrikanische Republik) We have also seen that the primary social association with the word fefe ›fear‹, is cast in terms of these parental beatings. The fear occurs when the child has misbehaved and knows the father will discover it. […] I believe that the Samoans rely as much on the fear of the father to control their behavior as they do on the avoidance of shame. (Gerber 1985: 158, zu den Samoanern) Fathers threaten their sons with punishment, and administer harsh beatings with wooden switches, explicitly intending to make the sons fearful and therefore obedient. The mother and older siblings help to exaggerate the punitive image of the father by warning the child of the dire paternal punishments which await him if he does wrong. (LeVine 1960: 55, zu den Gusii, Kenia)

Die Frage, wie sich moralische Furcht im Laufe der Kindheit herausbildet und ob diese Emotion im Erwachsenenalter weiterhin eine wichtige Rolle spielt, behandeln die zitierten Autoren allerdings nicht. Rosaldo deutet in ihrer Ethnogafie (1980: 71) allenfalls darauf hin, indem sie eine Bemerkung eines Gesprächspartners (Tepeg) der Ilongot wiedergibt: »Tepeg, my thirty-five-year-old ›brother‹, once told me that the very ›essence‹ (pu’un) of ›fear‹ is ›the parent‹ – because, as children, we are frightened of beatings for failing to listen or for doing things wrong.« Allerdings relativiert Rosaldo diese Aussage gleich darauf und widerspricht Tepeg sogar: »Yet at the same time, beatings are rare […]. Children are threatened and more rarely punished, but not for disobedience.« Auch bei den Menschen von Menamaty war die Praxis der Körperstrafe selten zu beobachten, jedoch machten die Interviews mit Betroffenen deutlich, dass diese Erfahrungen äußerst einprägsam sind, Dro‑ hungen diese Erfahrung in Erinnerung rufen und beides offenbar nachhaltig mit Furcht vor Autoritätsinstanzen verknüpft wird.4 Die These, dass in Menamaty die Furcht vor Körpersanktionen durch erzürnte Eltern in der Kindheit eine Fortsetzung in der Furcht vor Krankheiten durch zor‑ nige Ahnengeister im Erwachsenenalter findet, könnte auch auf viele andere Ge‑ meinschaften zutreffen. So hat beispielsweise eine kulturvergleichende Studie von Murdock (1980: 20) ergeben, dass in 184 von 186 registrierten Gesellschaften des standard cross-cultural sample Krankheiten auf »spirit aggression« und der daraus resultierenden »punitive action« zurückgeführt werden. Besonders ausgeprägt ist dieser Studie zufolge der Glaube an »spirit aggression« in Gesellschaften, deren Subsistenzwirtschaft, wie diejenige der Bara, primär auf Viehhaltung beruht:

4 | Die eher marginale Behandlung von moralischer Furcht in der ethnologischen Emotionsforschung könnte mit den Werten und Normen der Herkunftsgesellschaften der Forschenden zusammenhängen. Furcht scheint den zentralen, moralisch fundierten Werten wie Selbstbestimmung, Gleichberechtigung oder Demokratie zu widersprechen. Die viel häufiger behandelten moralischen Emotionen der Scham, Schuld oder Empathie spielen hingegen auch in westlichen Gegenwartsgesellschaften eine wichtige Rolle.

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Kindheit, Kultur und moralische Emotionen One does not expect unanimity or perfect correlations and seldom encounters them. One such statistical gem did, however, come to light in the present study. […] Without exception, every society in the sample which depends primarily on animal husbandry for its economic livelihood regards spirit aggression as either the predominant or an important secondary cause of illness. (Murdock 1980: 82)

Wie Personen in diesen verschiedenen kulturellen Kontexten auf »spirit aggres‑ sion« emotional reagieren, ist freilich eine in jedem Einzelfall empirisch zu klären‑ de Frage. Die Kulturpsychologin Ellsworth (1994: 35) vermutet zumindest, dass sie mit shame oder guilt in Verbindung stehen könnten. Es liegt allerdings nahe, dass die Wahrnehmung einer akuten Bedrohung durch Krankheiten als Folge zorniger Geister eher Emotionen aus dem Angst-Furcht-Spektrum auslöst. Sofern dies zu‑ trifft, sprechen die Ergebnisse Murdocks für eine weit verbreitete Kultivierung der Furcht als moralische Emotion. Zumindest in Bezug auf Ifaluk bestätigen sowohl Spiro (1952) als auch Lutz (1988: 194f), dass dort die Ahnengeister ebenfalls als furchteinflößende Instanzen erlebt werden.5 Spiros und Lutz’ divergierende Deutungen der Furcht der Ifaluk vor ihren Ahnengeistern geben Anlass, abschließend die von mir entwickelte Position zur Sozialisation der moralischen Furcht zu spezifizieren. Spiro (1952: 498-500) stellt die – aus einer etischen Perspektive durchaus berechtigte – Frage, weshalb der Geister-Glaube bei den Ifaluk existiert, obwohl er maßgeblich mit aversiven Emo‑ tionen wie Furcht verbunden ist. Zum einen, so Spiros Antwort, bildeten die bös‑ willigen Geister eine Projektionsfläche für die Aggression des Einzelnen, die er in sozialen Interaktionen vollständig unterdrücken müsse. Zum anderen fände ein durch Kindheitserfahrungen herausgebildetes »free-floating ›anxiety set‹« in den Ahnengeistern einen konkreten Anhaltspunkt, womit diese Angst verschiedenen Bewältigungsstrategien zugänglich werde. Lutz (1988: 194) kritisiert an dieser psy‑ chodynamischen Erklärung, dass sie nicht den Ansichten der Ifaluk entspreche, denen zufolge die Furcht vor Geistern eine soziale Angelegenheit sei; folgerichtig setzt sie dem eine kulturkonstruktivistische Deutung entgegen. Die emotionale Auseinandersetzung mit Geistern sei als moralischer Diskurs oder als ›Drama‹ mit folgender Funktion anzusehen: »The drama of the spirits on Ifaluk communicates that the anger of others, whether spirit or human, should produce fear, not angry counterattack« (1988: 195). Beide Erklärungsansätze haben durchaus eine gewisse Plausibilität, erscheinen jedoch für sich genommen unvollständig, der eine zu tiefgründig, der andere zu oberflächlich. Spiros Ansatz lässt sich kaum empirisch nachvollziehen, da er sich auf tiefenpsychologische Prozesse bezieht, die den Beteiligten selbst unbewusst sind. Zudem stellt sich die Frage, wieso in der Kindheit die Probleme einer gene‑ ralisierten Angst geschaffen werden, nur um sie dann durch einen Geisterglauben der Bewältigung zugänglich zu machen. Die Rückführung des religiösen Glau‑ 5 | Die von Johnson (2005) entwickelte fear of supernatural punishment hypothesis, der zufolge der Glaube an bestrafende übernatürliche Instanzen prosoziales Verhalten und Kooperation begünstigt, beinhaltet ebenfalls die Idee der Furcht als Reaktion auf übernatürliche Bestrafung. Empirisch steht hier allerdings nicht die Emotion im Vordergrund, sondern die Frage, inwiefern der Glaube an übernatürliche Instanzen und moralisches Verhalten korrelieren.

Schlussdiskussion

benssystems auf innerpsychische Komplikationen erscheint allein schon deshalb verkürzt, weil die Kinder dieses System und entsprechende Praktiken ja bereits vorfinden. Lutz liefert eigentlich die entscheidende Ergänzung, nämlich dass die Auseinandersetzung mit Geistern eine moralische Funktion hat und somit auch aus einer gesellschaftlichen Perspektive von Bedeutung ist. Allerdings reduziert sie diesen Sachverhalt zugleich auf einen »talk of spirits« (1988: 195). Damit bleibt sie nicht nur eine Antwort auf die Frage schuldig, weshalb sich die Ifaluk tatsäch‑ lich vor Geistern fürchten, nur weil der Diskurs ihnen dies vorschreibt. Auch kann sie damit ihrem Anspruch, die Sichtweise der Ifaluk besser zu treffen als Spiro, kaum gerecht werden. Die Ifaluk selbst betrachten zornige Geister wohl nicht in Gestalt eines moralischen Diskurses oder Dramas, sondern eher, wie Lutz an ande‑ rer Stelle selbst schreibt, als »real threat to life and limb« (1988: 192). Meine Rekonstruktion des Entwicklungspfades der moralischen Furcht stellt einen Mittelweg zwischen diesen beiden Positionen von Spiro und Lutz dar. Anstatt die Furcht vor zornigen Ahnengeistern entweder auf aktuelle moralische Diskurse oder auf unbewusste Ängste aus der frühen Kindheit zurückzuführen, habe ich auf der Basis konkreter Beobachtungen und Narrative rekonstruiert, wie Kinder und Jugendliche durch affektiv erregende und bedeutungsvermittelnde Interak‑ tionserfahrungen spezifische affektiv-kognitive Modelle konstruieren und reorga‑ nisieren, die als Dispositionen für moralische Furcht fungieren. Die theoretischen Voraussetzungen hierfür habe ich durch die Ergänzung von Quinns vier Lernme‑ chanismen (2005) durch die multilevel process theory of emotion von Leventhal und Scherer (1987) geschaffen. In Verbindung mit dem empirischen Material skizzierte ich den Entwicklungspfad der moralischen Furcht mit folgenden Etappen: (1) Der körperzentrierte Betreuungsmodus bietet Säuglingen konsistente senso‑ motorische Erfahrungen, wonach ihr körperliches Wohlbefinden gewissermaßen in den Händen der Betreuungspersonen liegt. Diese rudimentäre Basis des hier‑ archischen Beziehungsmodells, das im Verlauf der Kindheit durch die Verknüp‑ fung mit entsprechenden Bedeutungssystemen ausgebaut wird, bildet den Hinter‑ grund und mit Quinn das predispositional priming für die im zweiten Lebensjahr einsetzende Kontrasterfahrung der Körpersanktion. (2) Die Praxis der leichten, für Kleinkinder dennoch erschreckenden und da‑ mit affektiv erregenden Körpersanktion anlässlich eines lauten, anhänglichen, als störend empfundenen Verhaltens in der Gegenwart von Müttern und anderen Be‑ treuungspersonen bietet Kindern Gelegenheiten zur Ausbildung der Statusfurcht. Diese basiert auf einem schematischen, bildhaften Appraisal, das durch den Anblick einer (eventuell drohenden) Autoritätsperson aktiviert wird und vergangene Sanktionserfahrungen aktualisiert. Eine derart veranlasste Statusfurcht motiviert Kinder zu ruhigem, vorsichtigem Verhalten in der Gegenwart Erwachsener und zur Wahrung einer gewissen räumlichen Distanz zu ihnen. (3) Die Praxis der harschen Körpersanktion, insbesondere der Stockhiebe ab dem Alter von vier oder fünf Jahren, bietet Kindern die Erfahrung intensiver Furcht im Zusammenhang mit Normverstößen aller Art, insbesondere mit dem Unterlassen auferlegter Pflichten und Aufgaben. Damit lernen Kinder, sich auch in Abwesenheit von Autoritätspersonen vor deren Zorn bzw. der Sanktion zu fürchten und den Normen oder Pflichten trotz etwaiger Gegenmotive zu entsprechen. Dies erfordert eine Erweiterung des schematischen Furcht-Appraisals auf einem kon‑ zeptuellen Bewusstseinsniveau, da dieses Kindern ermöglicht, die Zusammenhän‑

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ge zwischen Regelverstoß, Wutreaktion der Autoritätsperson und Sanktionserfah‑ rung zu verstehen, obwohl diese Erfahrungselemente häufig zeitlich und räumlich auseinanderfallen. (4) Der Ahnenfluch (havoa), der aus emischer Sicht ab der Adoleszenz an die Stelle der Körpersanktion durch lebende Autoritätspersonen tritt, bietet Jugend‑ lichen und Erwachsenen ein Sanktionsmodell, dass weitgehend dem Furcht-Ap‑ praisal aus der Kindheit entspricht. Wie in der Kindheit basiert die moralische Furcht ab dem Jugendalter auf einem Modell, wonach der eigene Normverstoß eine Autoritätsperson (Ahnengeist) erzürnen und zu lebensbedrohlichen physischen Konsequenzen (Krankheiten) führen würde. Die geringfügige Reorganisation des kindlichen Furcht-Appraisals auf einem imaginären Bewusstseinsniveau, die er‑ forderlich ist, um sich vor Ahnengeistern anstatt vor lebenden Autoritätspersonen zu fürchten, wird durch verschiedene Praktiken unterstützt: durch die aktive Teil‑ nahme Jugendlicher an Bestattungsritualen, die zugleich die Genese der Ahnen‑ geister symbolisch vollziehen; durch Narrative zu Personen, die vom Ahnenfluch betroffen waren und schlimme Folgen davontrugen; durch die Rückführung tat‑ sächlicher Krankheiten auf den Ahnenfluch mittels der objektivierenden Diag‑ nosetechniken des ombiasa (Heiler und Wahrsager); oder – als äußerstes Mittel – durch das Verstoßen des Uneinsichtigen, das aus emischer Perspektive zwangs‑ läufig zum Ahnenfluch und aus etischer Sicht zu einer Verschlechterung der Le‑ bensbedingungen führt. Diese vermittelnden Praktiken weisen zugleich darauf hin, dass individuelle Episoden der moralischen Furcht im Sinne von Lutz über ›moralische Diskurse‹ oder symbolische Akte sozial regulierbar bleiben – man denke etwa an die Furcht induzierende Diagnose des ombiasa, wonach das Symptom des Patienten auf den Ahnenzorn zurückzuführen ist und eine fatale Entwicklung droht, oder an Op‑ ferpraktiken, die unter der Bedingung eines Schuldeingeständnisses den Ahnen‑ zorn aufheben und damit auch die Furcht zu bewältigen helfen. Diese Diskurse und Praktiken setzen allerdings auf der individuellen Ebene ein affektiv veranker‑ tes, kognitives Modell voraus, das auf der impliziten oder expliziten Erinnerung an intensive Furchterfahrungen aus der Kindheit fußt. Denn erst aufgrund ihrer biografisch bedingten ›Tiefenstruktur‹ erhalten die als Furchtdispositionen fun‑ gierenden Modelle eine derart ausgeprägte affektive Potenz, dass sie bei gegebe‑ nem Anlass tatsächlich intensive Furcht auslösen können. Mein Interviewmaterial legt jedenfalls nahe, dass die meisten Jugendlichen und Erwachsenen die Normen ihrer Gemeinschaft auch bei starken Gegenmotiven beachteten, weil sie sich von allein, d.h. ohne vermittelnde Praktiken, vor dem Ahnenzorn fürchteten. Vor diesem Hintergrund stehen moralische Furcht und religiöse Praktiken bzw. Glaubensinhalte in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis zueinander: Die moralische Funktion der Furcht basiert zumindest ab dem Jugendalter auf der Konzeption zorniger, sanktionierender Ahnengeister. Der Glaube an – und d.h. die Überzeugung von der Existenz und Potenz der – Ahnengeister ist wiederum durch die affektive Komponente der Furchtdisposition bedingt, »that grounds the belief in ancestral spirits not in blind faith, but in the feelings, perceptions, understan‑ dings, and embodiments of everyday life.« (Hollan 2012: 576). Denn deren Präsenz und Macht wird mit der Furcht anlässlich eines unmoralischen Verhaltens oder eines körperlichen Leids fühlbar.

Schlussdiskussion

Zur ethischen Beurteilung der Erziehungspraktiken Wie Quinn (2005: 484) bemerkt, sind kulturelle Modelle und geteilte Überzeu‑ gungen zum Umgang mit Kindern, insbesondere zu Sanktionspraktiken, hochgra‑ dig normativ, d.h. mit einer ausgeprägten ›moralischen Macht‹ versehen: »Given the moral force surrounding such child-rearing practices, child rearers are led not only to assiduously enact these practices themselves, but to monitor and enforce the practices of others.« Besonders herausgefordert wird diese Tendenz zur intuitiven moralischen Bewertung durch die Auseinandersetzung mit Erziehungsformen in anderen kulturellen Kontexten, da diese häufig von den kulturellen Modellen des eigenen sozialen Milieus abweichen. Dies trifft auch auf viele der Betreuungs- und Erziehungspraktiken von Menamaty zu, vor allem auf die körperzentrierte Betreu‑ ung von Säuglingen, die Sanktionspraktik der Prügelstrafe sowie auf das Erzie‑ hungsziel einer ausgeprägten Furchtsamkeit von Kindern gegenüber ihren Eltern. Denn diese Praktiken stehen in einem Spannungsverhältnis zu den gegenwärtigen ethischen Werten euro-amerikanischer Mittelschichten. In dieser Arbeit habe ich mich bemüht, Bewertungen nach den Maßstäben meiner Herkunftskultur zu vermeiden, und auch der Versuchung zu widerstehen, solche Sozialisationspraktiken herunterzuspielen, die den eigenen Werten wider‑ sprechen, oder umgekehrt solche Praktiken in den Vordergrund zu rücken, die im Kontext des eigenen Milieus womöglich positiv oder gar als bessere Alternative er‑ scheinen. Stattdessen habe ich mich in erster Linie an den Erziehungsmodellen der Eltern und den Erziehungserfahrungen der Kinder orientiert. So wurde etwa die Körperstrafe ausführlich behandelt, weil Eltern diese Praxis in informellen Gesprä‑ chen und Interviews zu Erziehungsfragen ins Zentrum rückten und einhellig als effektive, ja sogar als moralisch gebotene Erziehungspraxis darstellten, aufgrund derer sich Kinder zu guten Personen ( fagnahy soa) entwickeln. Trotzdem erscheint es wichtig, die Frage der ethischen Bewertung der be‑ schriebenen Praktiken abschließend noch einmal explizit zu thematisieren. Dabei geht es mir allerdings nicht darum, selbst eine Bewertung vorzunehmen, sondern vielmehr darum, durch eine Kontextualisierung des Dargestellten potenziellen Fehleinschätzungen und -urteilen entgegenzuwirken. Dies ist insbesondere im Hinblick auf die Entwicklungspsychologie angezeigt, da sich diese Disziplin zum einen dem Feld der kulturvergleichenden Sozialisation und Entwicklung zuwen‑ det, zum anderen aber weiterhin in erster Linie in euro-amerikanischen Kontexten forscht (vgl. Henrich et al. 2010) und dabei vor allem eine dezidiert normative Auf‑ gabe erfüllt, indem sie den Orientierungsbedarf von Eltern, Erziehern oder Bil‑ dungsinstitutionen bedient (vgl. LeVine 2007). Die Beobachtungen zum elterlichen Umgang mit Säuglingen in Menamaty haben gezeigt, dass sich dieser durch einen körperzentrierten Betreuungsstil aus‑ zeichnet, der mit einem hohen Maß an Körperkontakt sowie mit ausgiebigem, be‑ darfsorientiertem Stillen verbunden ist und auf eine bestmögliche Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse zielt. Demgegenüber waren emotional oder kognitiv anregende Umgangsformen, wie etwa durch den Austausch positiver Emotionen geprägte face-to-face-Interaktionen, dezidiert ›zärtliche‹ Formen des Körperkon‑ taktes oder eine gemeinsame spielerische Beschäftigung mit Gegenständen kaum zwischen Erwachsenen und Säuglingen zu beobachten. Vor dem Hintergrund, dass derartige Interaktionsformen in der Entwicklungspsychologie als essenziell

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für eine optimale kognitive und sozio-emotionale Entwicklung angesehen werden, läge eigentlich der Schluss nahe, dass die Kinder aus Menamaty nicht die besten Voraussetzungen für die Entfaltung ihrer Potenziale haben. Aus einer konsequent kulturrelativistischen Perspektive ließe sich einer solchen Schlussfolgerung nun zwar entgegenhalten, dass der Fokus auf dem physischen Wohl der Kinder ja genau den elterlichen Erziehungszielen und damit den kulturell bedingten Werten ent‑ spricht. Eine weitere Abschwächung jener Schlussfolgerung könnte im Hinweis darauf bestehen, dass Eltern aufgrund der materiell-ökonomischen Voraussetzun‑ gen – etwa die Arbeitsbelastung der Mütter – keine andere Wahl haben, als ledig‑ lich für das körperliche Wohl ihrer Kinder zu sorgen.6 Derartige Entgegnungen bzw. Relativierungsbemühungen werden allerdings hinfällig, wenn man, wie im zweiten Teil geschehen, das gesamte soziale Umfeld der Kinder in den Blick nimmt. Dann nämlich wird deutlich, dass jedes Kind vom Lebensbeginn an ganztägig in ein dichtes soziales Netz aus Geschwistern und Peers eingebunden ist, die sich ihm als sozial, kognitiv und emotional anregende Interaktions- und Beziehungspartner anbieten und damit ebenjene Rolle ausfül‑ len, die in euro-amerikanischen Mittelschichten vorwiegend Eltern übernehmen. Damit dürften die Kinder aus Menamaty ein mindestens genauso hohes Maß an kognitiver und sozio-emotionaler Anregung erfahren wie solche aus der westlichen Mittelschicht, nur ist diese sozial anders eingebettet. Die Praxis der Körperstrafe erscheint aus der Perspektive westlicher Bildungs‑ schichten zunehmend moralisch fragwürdig und dem psycho-sozialen Wohl von Kindern abträglich.7 Entwicklungspsychologische Studien unterstützen diese Ab‑ lehnung der Körperstrafe als Erziehungsmethode. So haben die 88 von Gershoff (2002) in einer Metaanalyse ausgewerteten Studien zur elterlichen Körperstrafe (corporal punishment by parents) in großer Übereinstimmung eine Reihe von äu‑ ßerst negativen Auswirkung auf das Wohlergehen und die Entwicklung von Kin‑ dern ergeben. Zusammenfassend betreffen diese 1) eine geringe moralische Inter‑ nalisierung, 2) ein hohe allgemeine Aggressionsbereitschaft und eine Neigung zu straffälligem, antisozialem Verhalten sowie zur Misshandlung des Ehepartners oder der eigenen Kinder im Erwachsenenalter, 3) ein erhöhtes Misshandlungsrisi‑ ko der Betroffenen, 4) eine verminderte Qualität der Eltern-Kind-Beziehung und 5) eine verminderte psychische Gesundheit der Betroffenen. Als einzige wünschens‑ werte Wirkung der Körperstrafe wurde in diesen Studien unmittelbare Folgsam‑ 6 | In diese Richtung gehen etwa die Überlegungen von LeVine et al. (1994: 259) zu den Betreuungspraktiken von Gusii-Müttern, die ebenfalls einen proximalen Betreuungsstil pflegen. Hinsichtlich der Mütter von Menamaty wurde allerdings deutlich, dass diese ausreichend viel Zeit und Kapazitäten hätten, mit ihren Kindern spielerisch zu interagieren, dies allerdings nicht als ihre Aufgabe betrachteten. 7 | Zumindest auf der Ebene der Gesetzgebung lässt sich dieser Prozess einer zunehmenden Ablehnung der Körperstrafe in euro-amerikanischen Gesellschaften an der steigenden Anzahl entsprechender Länder ablesen, die elterliche Körperstrafe gesetzlich verbieten: Zuerst wurde ein solches Verbot im Jahr 1979 in Schweden und daraufhin in den Ländern Österreich, Kroatien, Zypern, Dänemark, Finnland, Deutschland, Israel, Italien, Lettland und Norwegen eingeführt (Gershoff 2002: 564). In Deutschland ist, wie erwähnt, das Verbot der elterlichen Körperstrafe im Jahr 2000 als Ersatz für das bis dahin geltende Züchtigungsrecht gesetzlich verankert worden (vgl. Göbel 2005).

Schlussdiskussion

keit angeführt – ein Effekt, der allerdings langfristig wiederum durch eine geringe‑ re Internalisierung der Verhaltenskontrolle konterkariert werde. Zu bedenken ist, dass diese Befunde auf Studien beruhen, die allesamt in US-amerikanischen Kon‑ texten durchgeführt wurden (Gershoff 2002: 563). Zwar sind einige Aspekte der angeführten Konsequenzen auch in der Forschungsregion auszumachen, jedoch entfalten sie, wie abschließend zu zeigen ist, aufgrund der spezifischen sozialen und kulturellen Einbettung der Körpersanktion keine derart desaströse Wirkung auf die Kinder von Menamaty: (1) Den Begriff der ›moralischen Internalisierung‹ übernimmt Gershoff (2002: 541) von Grusec und Goodnow. Diese definieren ihn als »taking over the values and attitudes of society as one’s own so that socially acceptable behavior is motivated not by anticipation of external consequences but by intrinsic or internal factors.« (1994: 4). Folgt man dieser Definition, so führt die Körperstrafe offenbar auch bei den Menschen der Forschungsregion zu einer geringen moralischen Internalisierung, da selbst die Erwachsenen nach eigenem Bekunden vor allem aufgrund der Furcht vor externen Instanzen den Werten und Normen ihrer Verwandtschaftsgruppe entsprechen. Dies hängt eng mit der prominenten Rolle von tahotsy als einer mo‑ ralischen Emotion zusammen, die per se auf externe Bedrohungen gerichtet ist. Insofern es sich bei den externen Instanzen allerdings um Ahnengeister handelt, die – aus etischer Perspektive betrachtet – imaginiert werden, beruht normkonfor‑ mes Handeln zugleich auf internen Faktoren. Als zentralen internen Faktor habe ich eine spezifische Disposition für tahotsy rekonstruiert. Eine solche moralische Internalisierung auf der Basis einer Furcht vor externen Autoritätsinstanzen aus der eigenen Abstammungsgruppe kommt der spezifischen segmentären Organi‑ sation der Bara-Gesellschaft entgegen, indem sie eine primäre Orientierung an der eigenen Gruppe und am situativen Willen der Älteren ermöglicht. Auch bietet die Internalisierung auf der Grundlage extern gedachter religiöser Instanzen weit‑ reichende Möglichkeiten der interpersonalen Regulation moralischer Emotionen: Einerseits kann die tahotsy-Disposition von Personen, die sich normwidrig verhal‑ ten, durch gewisse Deutungspraktiken ›aktiviert‹ werden. Andererseits können Personen, die sich akut vor dem Ahnenzorn fürchten und bereit sind, sich in Zu‑ kunft normkonform zu verhalten, ihre Furcht durch eine die Ahnen beschwichti‑ gende Opferhandlung bewältigen. (2) Dass die Praxis der Körpersanktion auch in der Forschungsregion eine ge‑ wisse ›Aggressionsbereitschaft‹ befördert, legen die Berichte der beteiligten Akteu‑ re eindeutig nahe. Negative Konsequenzen resultieren aus einer solchen ›Aggres‑ sionsbereitschaft‹ jedoch nur dann, wenn sie Kinder und Erwachsene zu Verstößen gegen die Normen ihrer Gesellschaft veranlasst und damit zu Konflikten führt. Wie die Rekonstruktion der Wutsozialisation aber gezeigt hat, bleibt es nicht bei einer bloßen ›Aggressionsbereitschaft‹. Vielmehr wird diese spätestens ab dem Al‑ ter von vier oder fünf Jahren in sozial akzeptable Bahnen gelenkt. In Form der vergeltenden Wut, die auf befeindete Personen außerhalb der eigenen Verwandt‑ schaftsgruppe gerichtet ist, können Individuen auch körperliche Gewalt einsetzen, ohne damit gegen die geltenden Normen zu verstoßen. Im Gegenteil, mit einer ausgeprägten Vergeltungsbereitschaft werden Personen den zentralen Werten der Stärke in egalitären Beziehungen gerecht. (3) Eine weitere negative Auswirkung der Körpersanktion besteht nach Gers‑ hoff (2002: 540) darin, dass sie das Risiko der physischen Kindesmisshandlung

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(physical child abuse) erhöht, etwa weil Eltern bei der Körpersanktion die Selbst‑ kontrolle verlieren können. Aus pragmatischen Gründen schließe ich mich der von Gershoff zugrunde gelegten Definition an, wonach Körperstrafe nur dann als physische Kindesmisshandlung anzusehen ist, wenn sie zu signifikanten Verlet‑ zungen führt.8 Zunächst ist zu bemerken, dass Kindern aus Menamaty im Kontext der Körpersanktion durchaus der Eindruck vermittelt wird, dass ihre körperliche Integrität oder sogar ihr Leben bedroht ist. Von den 71 Kindern und Jugendlichen, die mir ihre Erfahrungen der Prügelstrafe beschrieben, berichtete allerdings nur ein einziger Jugendlicher von einer Verletzung: In seiner Kindheit sei er einmal derart heftig von seinem Vater geschlagen worden, dass Wunden an seinem Bein entstanden. Bei den 98 Kindern aus Ranomadio, die ich regelmäßig interviewte, konnte ich zumindest keine Anzeichen von physischer Misshandlung entdecken (womit diese freilich nicht ausgeschlossen werden kann). Dass Eltern ihren Kin‑ dern keinesfalls Verletzungen zufügen wollen, wurde mir nicht zuletzt auch mit diesem Sprichwort erklärt: »Eltern geben ihren Kindern keine heißen Steine« (Gny ray aman-dreny tsy manolo bato mafana gny zanany). Wie eine Gesprächspartnerin erklärte, müssten Eltern selbst mit havoa rechnen, wenn sie ihre Kinder schlecht behandelten. Dessen ungeachtet stellt sich die Frage, ob Eltern nicht zuweilen im Laufe der Körpersanktion die Selbstkontrolle verlieren oder eine Wut an Kindern ausagieren, deren Anlass nicht im Fehlverhalten des betroffenen Kindes liegt. Wa‑ rum Eltern zufolge diese Gefahr gering ist und auch die Sanktionsnarrative der Kinder keinen Hinweis in diese Richtung geben, wird durch die spezifische Wut‑ sozialisation nachvollziehbar. Zum einen haben Personen Möglichkeiten, etwaige ›Aggressionen‹ im Rahmen ihrer Feindschaften zu kanalisieren, zum anderen be‑ stehen bereits in der Kindheit, wie gezeigt, zahlreiche Gelegenheiten, verschiedene Formen der sanktionierenden Wut einzuüben, die sich gerade durch eine spezi‑ fische Kontrolliertheit auszeichnen. Darüber hinaus bietet das dichte soziale Netz aus Bezugspersonen den Kindern von Menamaty viel mehr Optionen, einem allzu strengen oder gar misshandelnden Elternteil auszuweichen, als dies bei Kindern aus Kleinfamilien der Fall wäre. Insgesamt erscheint mir daher in der Forschungs‑ region das Risiko für Kinder gering, Opfer von physischer Misshandlung durch Erwachsene zu werden. (4) Die negativen Auswirkungen der Körperstrafe auf die Qualität der ElternKind-Beziehungen fasst Gershoff wie folgt zusammen: The potential for parental corporal punishment to disrupt the parent-child relationship is thought to be a main disadvantage of its use […]. The painful nature of corporal punishment can evoke feelings of fear, anxiety, and anger in children; if these emotions are generalized to the parent, they can interfere with a positive parent-child relationship by inciting children to be fearful of and to avoid the parent […]. If corporal punishment does lead children to

8 | In Deutschland ist aus juristischer Perspektive elterliche Körperstrafe seit 2000 allerdings per se als Kindesmisshandlung anzusehen (vgl. Göbel 2005). Eine solche juristische Definition eignet sich allerdings kaum für eine kultur- oder länderübergreifende Auseinandersetzung mit der elterlichen Körperstrafe, weil sie je nach Land variiert. Wie Gershoff (2002: 540) bemerkt, unterscheidet sich die juristische Definition von child abuse in den USA sogar zwischen den Bundesstaaten.

Schlussdiskussion avoid their parents, such avoidance may in turn erode bonds of trust and closeness between parents and children. (Gershoff 2002: 542)

Bemerkenswert erscheint zunächst, dass sowohl die kindlichen Reaktionen der Furcht und Wut auf die Körperstrafe als auch die Tendenz, die Eltern im Alltag zu meiden, sowie das distanzierte Verhältnis zwischen Kindern und Eltern exakt meinen Forschungsergebnissen entsprechen. Allerdings stellen diese Aspekte nach den Maßstäben der interviewten Eltern keine Indizien für eine schlechte Be‑ ziehung zu Kindern dar – im Gegenteil, sie korrespondieren größtenteils mit dem kulturellen Modell für hierarchische Beziehungen: Furchtsamkeit gegenüber den Eltern ist ja gerade ein zentrales Erziehungsziel und verbürgt den ›moralischen Charakter‹ von Kindern. Zwar ist die von Kindern berichtete Wut gegenüber den Sanktionspersonen nicht intendiert, jedoch ermöglicht die spezifische Wutsoziali‑ sation den Kindern, ihre Wut letztlich auf ›befeindete‹ Interaktionspartner zu len‑ ken. Die Wahrung einer gewissen emotionalen und körperlichen Distanz gegen‑ über den Eltern ist ebenfalls geboten, da sie als Ausdruck von Respekt interpretiert wird. Beziehungen, deren Qualität auf emotionaler sowie körperlicher Nähe ba‑ siert, entwickeln Kinder stattdessen umso mehr mit ihren gleichaltrigen und -ge‑ schlechtlichen Cousinen oder Cousins und später auch mit Schwurbrüdern oder -schwestern (pivakira), die einander zu lebenslanger Treue verpflichtet sind. Schon ab dem zweiten Lebensjahr verbringen Kinder die meiste Zeit in Gesellschaft ihrer Peers und knüpfen Freundschaften untereinander, die sich durch den Austausch positiver Emotionen auszeichnen und in hohem Maße verbindlich sowie dauer‑ haft sind, da ihnen ein Verwandtschaftsverhältnis und ein geteilter Lebensraum zugrunde liegt. (5) Als negative Auswirkungen der Körpersanktion auf die psychische Gesund‑ heit der Betroffenen haben psychologische Studien an US-amerikanischen Proban‑ den depressive Symptome bei Jugendlichen, Gefühle der Erniedrigung, verminder‑ tes Selbstvertrauen, eine geringe Durchsetzungskraft und Gefühle der Hilflosigkeit ausgemacht (Gershoff 2002: 542). Zwar kann ich die psychische Gesundheit der Dorf bevölkerung kaum fundiert beurteilen, indes hatte ich keinesfalls den Ein‑ druck, dass unter den Jugendlichen und jungen Erwachsenen, mit denen ich wäh‑ rend meiner Feldforschung besonders engen Kontakt hatte, depressive Symptome verbreitet waren. Lediglich ein junger Mann aus Ranomadio wirkte häufig nieder‑ geschlagen. Er selbst führte dies auf eine chronische Krankheit zurück, die seinen Leib und seine Beine anschwellen ließ, sich in einem anhaltendenden Zustand der Müdigkeit manifestierte und ihn daran hinderte, sich wie seine Altersgenossen den physisch herausfordernden Aktivitäten rund um die Viehhaltung zu widmen. Da ich selbst die Körpersanktion mit negativen Auswirkungen auf die psychi‑ sche Gesundheit assoziierte, stellte ich den Eltern hartnäckig entsprechende Fra‑ gen, etwa danach, ob die Prügelstrafe das ›Herz‹ des Kindes nicht ›verletze‹ (mahavoa gny fony). Meine Gesprächspartner betonten stets, dass dies nicht zu erwarten sei, sofern Kinder in einer ihrem Fehlverhalten und Alter angemessenen Art und Weise sanktioniert würden, sodass sie die Erfahrung auf ihr spezifisches Fehlver‑ halten beziehen könnten. Die reintegrierende Praxis des mitambitamby (≈ trösten/ beschwichtigen) dürfte Kinder dabei unterstützen, die Körpersanktion als Konse‑ quenz ihres spezifischen Fehlverhaltens wahrzunehmen und nicht als Ablehnung ihrer Person. Die 71 zur Prügelstrafe interviewten Kinder und Jugendlichen be‑

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schrieben ihre Reaktion auf die Sanktion zwar durchgängig mit Emotionen aus der tahotsy- und seky-Familie, jedoch nur zweimal mit malahelo (≈ Traurigkeit) und einmal mit hegnatsy (≈ Scham). Die letztgenannte Emotion, die auf eine erniedri‑ gende Erfahrung hindeutet, führte der neunjährige Zafimana an: »Als ich beim Reisstampfen versehentlich Reis verschüttete, wurde ich von meiner Großmutter geschlagen. Ich schämte (megnatsy) mich dafür.« Wohlgemerkt findet die Aktivität des Reisstampfens in der Dorföffentlichkeit statt, womit nicht unwahrscheinlich ist, dass auch Altersgenossen von Zafimana präsent waren. Von den 40 Kindern, die ich zu ihren hegnatsy-Erfahrungen befragte, nannten immerhin drei eine Sank‑ tion durch den Vater oder die Mutter als Anlass; allerdings machten sie zugleich deutlich, dass sie sich vor ihren Peers schämten, die bei der Bestrafung präsent waren oder davon erfahren hatten. Eltern wiederum hoben hervor, dass man Kin‑ der nur im Haus oder außerhalb des Dorfes bestrafen solle, um sie genau vor einer solchen Beschämung bzw. Erniedrigung gegenüber den Peers zu bewahren. Als entscheidenden Faktor dafür, dass Kinder ihre Sanktionserfahrungen (ab‑ gesehen von den genannten Ausnahmen) nicht mit hegnatsy beschrieben, sehe ich die spezifische Ausprägung sozio-emotionaler Beziehungsmuster an. In der For‑ schungsregion vollzieht sich die Körpersanktion im Kontext eines hierarchischen, körperzentrierten Beziehungsmodus, dem zufolge Kinder von Anfang an eine klar untergeordnete soziale Position gegenüber Älteren einnehmen und von die‑ sen vornehmlich hinsichtlich ihres körperlichen Wohlergehens abhängig sind. Vor diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, dass Kinder die Körperstrafe vor allem als Bedrohung ihres physischen Wohls und weniger als Verletzung eines engen Vertrauensverhältnisses oder gar als massive Erniedrigung erleben. Zudem ist die Körpersanktion in Menamaty normativ, was auch psychologischen Studien zufolge die Körperstrafe für Kinder eher akzeptabel macht und zugleich Eltern dabei unter‑ stützt, in einer instrumentellen Weise und nicht aufgrund eines Wutausbruchs oder Kontrollverlustes zu sanktionieren (vgl. Gershoff 2002: 561; Lansford et al. 2005). Ganz andere emotionale Konsequenzen wären wohl zu erwarten, wenn Eltern mit ihren Kindern eine dezidiert egalitäre und emotional enge Beziehung pflegen, diese dann aber aufgrund eines Kontrollverlustes körperlich züchtigen. Die psychologischen Befunde eines verminderten Selbstvertrauens oder einer geringen Durchsetzungskraft als Folge von elterlicher Körperstrafe können zwar insofern bestätigt werden als die Kinder von Menamaty mittels der Körpersank‑ tion tatsächlich lernen (und lernen sollen), Älteren keine aggressive Wut zu zei‑ gen, Widerworte zu unterlassen, sich ihrem Willen zu beugen und den durch sie verkörperten Normen zu entsprechen. Diese submissive Haltung gegenüber Au‑ toritätspersonen generalisieren Kinder jedoch keineswegs. Denn im Rahmen der Peer-Beziehungen haben sie zahlreiche Gelegenheiten, ihre Stärke und Durchset‑ zungsfähigkeit zu erfahren und zu üben. Insgesamt bilden die egalitären Bezie‑ hungen ein entscheidendes Gegengewicht zu den hierarchischen Beziehungen, da sie Kindern und Erwachsenen ein hohes Maß an emotionaler Expressivität, Spon‑ tanität und agency bieten. Als nachhaltige emotionale Konsequenz der Sanktionspraxis in der Forschungs‑ region habe ich die Sozialisation der moralischen Furcht aufgezeigt. Abschließend möchte ich deshalb die Frage erwägen, wie sich die Prominenz dieser Emotion auf das psychische Wohl auswirken mag. Furcht ist eindeutig eine aversive Emo‑ tion – genau aus diesem Grund kann sie die moralische Funktion erfüllen, Men‑

Schlussdiskussion

schen von Normverstößen abzuhalten, selbst wenn starke Gegenmotive vorliegen. Trotzdem wäre der Schluss ungerechtfertigt, dass Personen unter der Ägide dieser moralischen Emotion besonders viel Furcht erleben und dieser Emotion hilflos aus‑ geliefert sind. Denn der Einzelne kann seine Furcht vor Körpersanktionen in der Kindheit und vor Ahnensanktionen im Jugend- und Erwachsenenalter kontrollie‑ ren, indem er sein Verhalten und Handeln schlicht an den Normen und am situa‑ tiven Willen der Autoritätspersonen orientiert. Im Alltag der Menschen von Menamaty dürfte die Furcht also hauptsächlich in antizipierter Form eine Rolle spielen, insbesondere dann, wenn sie normwidrige Handlungen in Betracht ziehen oder sich in Gegenwart von Autoritätspersonen be‑ finden, was eine kontinuierliche Kontrolle des eigenen Verhaltens erfordert. Selbst wenn es zu akuter Furcht infolge eines Normverstoßes kommt, bestehen effektive Möglichkeiten, diese – unter der Bedingung eines Schuldeingeständnisses – zu be‑ wältigen. Denn die Furcht ist aus emischer Perspektive auch im Erwachsenenalter weiterhin auf konkrete soziale Akteure gerichtet (Ahnengeister), die sich durch Op‑ ferhandlungen besänftigen lassen. Damit kann die betroffene Person die Gewiss‑ heit wiedererlangen, dass ihre eigene Lebenskraft (ay) durch den Segen (tahy) der Vorfahren erhalten wird. Solange sich Personen in die Hierarchie ihrer Abstam‑ mungsgruppe einfügen, leben sie in der Gewissheit einer fortwährenden Segnung durch die Eltern, die anderen Vorfahren und durch die Ahnengeister. Vielleicht ge‑ rade weil diese Form der kontinuierlichen Zuwendung für die meisten Menschen von Menamaty die Normalität darstellt, ist sie emotional nicht besonders akzentu‑ iert und wird allenfalls durch eine Negation der Furcht zum Ausdruck gebracht. So lautet die gängige Antwort auf die Frage nach dem Befinden tsy magnahy! – Es gibt nichts zu befürchten!

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Literatur

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Fatima El-Tayeb Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft September 2016, 256 S., kart., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3

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