183 78 5MB
German Pages 374 [377] Year 2022
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SERAPHIM Studies in Education and Religion in Ancient and Pre-Modern History in the Mediterranean and Its Environs Editors Peter Gemeinhardt · Sebastian Günther Ilinca Tanaseanu-Döbler · Florian Wilk Editorial Board Wolfram Drews · Alfons Fürst · Therese Fuhrer Susanne Gödde · Marietta Horster · Angelika Neuwirth Karl Pinggéra · Claudia Rapp · Günter Stemberger George Van Kooten · Markus Witte
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Dorothee Schenk
Monastische Bildung Johannes Cassians Collationes Patrum
Mohr Siebeck
IV Dorothee Schenk, geboren 1990; 2010–2017 Studium der Ev. Theologie in Göttingen; Erasmussemester in Toruń; seit 2017 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen; 2022 Promotion. orcid.org/ 0000-0002-0040-6604
Diese Publikation entstand als Dissertation im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 1136 – Bildung und Religion in Kulturen des Mittelmeerraums und seiner Umwelt von der Antike bis zum Mittelalter und zum Klassischen Islam – an der Georg-August-Universität Göttingen. Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft ( DFG) – P rojektnummer 244798977 – SFB 1136, Teilprojekt C 04. Das vorliegende Buch konnte dank großzügiger Druckkostenzuschüsse durch die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers gedruckt werden. ISBN 978-3-16-161489-7 / eISBN 978-3-16-162013-3 DOI 10.1628/978-3-16-162013-3 ISSN 2568-9584 / eISSN 2568-9606 (SERAPHIM) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Computersatz Staiger in Rottenburg/N. aus der Minion gesetzt, von der Druckerei Esser bookSolutions GmbH in Göttingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden. Der Umschlag wurde von Uli Gleis gesetzt. Umschlagabbildung: © akg-images; P. Klee, Vor den Toren von Kairouan, Ausschnitt. Printed in Germany.
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Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die leicht überarbeitete Fassung der Dissertation, die ich im Oktober 2021 an der T heologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen eingereicht und am 26.01.2022 verteidigt habe. Auf dem Weg zur Fertigstellung der Arbeit haben mich zahlreiche wunderbare Menschen begleitet, von denen die wichtigsten im Folgenden genannt seien: Ganz besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Prof. Dr. Peter Gemeinhardt, ohne den diese Arbeit in vielerlei Hinsicht nie hätte entstehen können. Seit ich vor zehn Jahren als angehende studentische Hilfskraft an seine Bürotür geklopft habe, hat er mich in einmaliger Weise gefördert und immer wieder zu Leistungen angespornt, die ich mir selbst nie hätte träumen lassen. Er hat mir im Laufe der Jahre nicht nur die unglaubliche Vielfalt des „schönsten Faches der Welt“ vor Augen geführt, sondern auch das Entstehen der Dissertation durch akribische Kommentare und Rückfragen begleitet. Ebenso herzlich ist meinem Zweitgutachter, Prof. Dr. Tobias Georges, und meinem Drittbetreuer, Prof. Dr. Andreas Müller, zu danken. Mit beiden stand ich in den vergangenen Jahren in konstantem und konstruktivem Austausch, sei es im Göttinger Doktorandenkolloquium oder bei gelegentlichen Treffen in Kiel. Zu danken ist auch den weiteren Mitgliedern meiner Prüfungskommission, Prof. Dr. Dr. h.c. Christine Axt-Piscalar und Prof. Dr. Jan Hermelink, die mich so wohlwollend wie fordernd durch die Disputation begleitet haben. Auf struktureller Ebene sind der Sonderforschungsbereich 1136 „Bildung und Religion in Kulturen des Mittelmeerraums und seiner Umwelt von der Antike bis zum Mittelalter und zum Klassischen Islam“ und das DFG-Projekt „Predigt als Vorgang religiöser Bildung im spätantiken Christentum“ dankend zu erwähnen, denen ich als assoziiertes Mitglied angehört habe und die mir nicht nur wertvolle theoretische Impulse beschert, sondern mich auch immer wieder mit Kolleg:innen aus den verschiedenen Fächern ins Gespräch gebracht haben. Für die Möglichkeit zur interdisziplinären Vernetzung und für wiederholte finanzielle Förderung sei ebenfalls der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen (GSGG) gedankt. Im Blick auf die Entstehung des vorliegenden B uches ist den Herausgeber:innen von SERAPHIM zu danken, die mir eine Publikation in dieser Reihe ermöglichen. Ebenso zu danken sind Tobias Stäbler und Susanne Mang, stellvertretend für den gesamten Verlag Mohr Siebeck, zu erwähnen, die mir jederzeit mit Rat und Tat zur Seite standen. Für die Unterstützung bei der Durchsicht und Korrektur der verschiedenen Manuskriptfassungen sowie bei der Registererstellung danke ich den studen
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Vorwort
tischen Hilfskräften Dorothee Krimmer und Alea Nzayihorana. Für zahlreiche Gespräche, kritische Rückmeldungen zu meiner Arbeit, Mensagänge, Ober seminare, gemeinsame Dienstreisen und andere Abenteuer danke ich herzlich Nicolás Anders, Christoph Brunhorn, Dr. Carmen Cvetković, Dr. Robert Edwards, Johanna Jürgens, Lina Hantel, Wienke Meyer, Lena Moritz, Dr. Maria Munkholt Christensen, Dr. Jan Seehusen und Vinzent Wiedemann. Zwei Kolleginnen sind dabei besonders hervorzuheben, mit denen ich über viele Jahre ein Büro geteilt habe und die mir im Laufe der Zeit zu wirklich guten Freundinnen und wertvollen Ratgeberinnen geworden sind: Dr. Aneke Dornbusch und Dr. Olga Lorgeoux. Neben diesen gibt es eine ganze Reihe von Menschen – Freund:innen und Familie – die die vergangenen Jahre, trotz teils widrig-pandemischer Umstände, lebenswert gemacht haben und die immer wieder in unterschiedlichster Weise dafür gesorgt haben, dass ich nicht vollständig von der Doktorarbeit vereinnahmt wurde. Dafür allen, denen ich immer wieder in Soltau, in Göttingen, in Ebstorf, in Hardegsen, in Wilhelmshaven und auf Lýtingsstaðir begegnen durfte, ganz herzlichen Dank! In dankbarer Erinnerung sei diese Arbeit schließlich zwei ganz besonderen und prägenden Persönlichkeiten gewidmet, ohne die meine Studien- und Promotionszeit undenkbar gewesen wäre, die die Fertigstellung des Buches jedoch leider nicht mehr erleben können: meinem Vater, Hans-Peter Schenk, und meiner Sóley. Göttingen, im Juli 2022
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Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V
1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
1.1 Zum Stand der Forschung zu Johannes Cassian . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
2. T hematische Vorklärungen: Johannes Cassian – Asket und Weltenbummler, Schüler und Lehrer . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
2.1 Biographische Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2.2 Cassian als Schüler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4
Die Altväter Ägyptens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Origenes, Origenismus und origenistischer Streit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Evagrius Ponticus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Johannes Chrysostomus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
2.3 Cassian als Lehrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
2.3.1 Cassian in Südgallien – Umfeld und Vernetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.3.2 Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.3.2.1 De institutis coenobiorum et de octo principalium uitiorum remediis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.3.2.2 Collationes Patrum .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.3.2.3 De incarnatione Domini contra Nestorium . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
2.4 Rückschau und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
3. T heoretische und methodische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3.1 Monastische Bildung – historische und zeitgenössische Aspekte einer Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3.1.1 Monastische Bildung – ein Widerspruch in sich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 3.1.1.1 Die T hematisierung des Bildungsproblems innerhalb der Collationes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3.1.2 Monastische Bildung – Aspekte eines modernen Bildungsbegriffs . . . 47 3.1.2.1 Bildung und imago dei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 3.1.2.2 Sozialisation, Erziehung und (Selbst-)Bildung . . . . . . . . . . . . . . 52 3.1.2.3 Reflexion als zentrales Element der (Selbst-)Bildung . . . . . . . . . 55
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Inhaltsverzeichnis
3.2 Die Collationes als monastisches Lehrbuch in Analogie zu anderen Lehrbüchern der (Spät-)Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 3.3 Die Collationes als erzählender Text: Eine Betrachtung unter narratologischen Gesichtspunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3.4 Rückschau und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
4.1 Der Innere Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
4.1.1 Der traditionsgeschichtliche Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4.1.2 Der Innere Mensch in den Collationes – die Texte . . . . . . . . . . . . . . . . 80 4.1.3 Die Bedeutung des Inneren Menschen für die monastische Bildung . 89
4.2 Laster und Dämonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 4.2.1 Die Stellung der Laster im monastischen Bildungskonzept der Collationes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 4.2.2 Anordnung und Definition der Laster in den Collationes (coll. 5) . . . 93 4.2.3 Der traditionsgeschichtliche Hintergrund von Cassians Achtlasterlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 4.2.4 Dämonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 4.2.5 Die Bedeutung der Lehre von Lastern und Dämonen für die monastische Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
4.3 Sünden, Sünde und Sündlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
4.3.1 4.3.2 4.3.3
Sünden und Buße (coll. 20) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Die (Un-)Möglichkeit der Sündlosigkeit (coll. 21 und coll. 23) . . . . . . 118 Die Bedeutung von Sünden, Sünde und Buße für die monastische Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
4.4 Wille und Gnade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 4.4.1 Der traditionsgeschichtliche Hintergrund – von der antiken Philosophie bis zum ‚(Semi-)Pelagianischen Streit‘ . . . . . . . . . . . . . . . . 131 4.4.2 Wille und Gnade in den Collationes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 4.4.2.1 Die Abtötung des Eigenwillens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 4.4.2.2 Menschlicher Wille, göttlicher Wille und dämonischer Wille .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 4.4.2.3 Der Wille und andere anthropologische Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 4.4.2.4 Das Zusammenspiel von menschlichem Willen und göttlicher Gnade in coll. 13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 4.4.3 Cassians Willensbegriff zwischen (Semi-)Augustinismus, (Semi-)Pelagianismus und (monastischer) Eigenständigkeit . . . . . . . . 151 4.4.4 Die Bedeutung von Wille und Gnade für die monastische Bildung . . 153
4.5 Rückschau und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
Inhaltsverzeichnis
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 5.1 Discretio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 5.1.1 Der traditionsgeschichtliche Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 5.1.2 Discretio in den Collationes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 5.1.3 Die Bedeutung der discretio für die monastische Bildung . . . . . . . . . . 163
5.2 Verschiedene Arten des Mönchtums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
5.2.1 5.2.2 5.2.3
Verschiedene Arten des Mönchtums – die Darstellung in den Prologen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Verschiedene Lebensformen als T hema der Unterredung mit den Altvätern (coll. 18 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Die Bedeutung verschiedener Lebensformen für die monastische Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
5.3 Lehrer und Schüler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4
Cassian als Lehrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Die Darstellung idealer Lehrer-Schüler-Konstellationen in den Rahmenhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 5.3.2.1 Hervorhebung bestimmter Tugenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 5.3.2.2 Flehen der Schüler und Weigerung des Lehrers . . . . . . . . . . . . 186 5.3.2.3 Alter, Erfahrung und Vorbildung des Altvaters . . . . . . . . . . . . 189 5.3.2.4 Auszeichnung des Altvaters durch besondere Attribute . . . . . 191 Die Darstellung idealer Lehrer-Schüler-Konstellationen in den Reden der Altväter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 5.3.3.1 Der Lehrer als Wegweiser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 5.3.3.2 Der Lehrer als Vorbild, Ratgeber und Beichtvater . . . . . . . . . . 194 5.3.3.3 Schlechte Lehrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 5.3.3.4 Wie aus dem Schüler ein Lehrer wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 5.3.3.5 Lehre als Kommunikationsgeschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Die Bedeutung von Lehrer-Schüler-Konstellationen für die monastische Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
5.4 Lernen durch Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 5.4.1 Exkurs: Der Begriff „Erfahrung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 5.4.2 Die eigene Erfahrung und die der anderen (der Älteren) . . . . . . . . . . . 207 5.4.3 Die Erfahrung als Lehrmeisterin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 5.4.4 Die Erfahrung als Legitimation von Altvater- und Bibelworten . . . . . 212 5.4.5 Erfahrung in Relation zu anderen Wegen der Erkenntnis . . . . . . . . . . 214 5.4.6 Die Bedeutung der Erfahrung für die monastische Bildung . . . . . . . . 218
5.5 Schriftauslegung und Schriftgebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
5.5.1 5.5.2
Schriftgebrauch in der Tradition des östlichen Mönchtums – Grundlagen und Cassians Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Zweifach, dreifach oder vierfach? Wie viele Schriftsinne gibt es? – Cassians T heorie der Schriftauslegung in coll. 8,3 f. und coll. 14,8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
X
Inhaltsverzeichnis
5.5.3 5.5.4
5.5.2.1 Coll. 8,3 f. – Helle und dunkle Stellen der Heiligen Schrift . . . 231 5.5.2.2 Der vierfache Schriftsinn in coll. 14,8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Schriftauslegung und Schriftgebrauch in den Collationes abseits eines mehrfachen Schriftsinnes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Die Bedeutung von Schriftauslegung und Schriftgebrauch für die monastische Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
5.6 Gebet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
5.6.1 Vier Arten des Gebets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 5.6.2 Das Vater Unser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 5.6.3 Das feurige Gebet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 5.6.4 Was der Anthropomorphismusstreit mit dem Beten zu tun hat . . . . . 260 5.6.5. Sinn und Ziel des Gebetes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 5.6.6 Das immerwährende Gebet . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 5.6.7 Das Zusammenwirken von Heiliger Schrift und Gebet . . . . . . . . . . . . 269 5.6.8 Die Bedeutung des Gebets für die monastische Bildung . . . . . . . . . . . 274
5.7 Rückschau und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
6. Bilder und Konzepte monastischer Bildung in den Collationes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
6.1 Erstes und letztes Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 6.1.1 Puritas cordis und caritas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 6.1.1.1 Der traditionsgeschichtliche Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . 283 6.1.1.2 Puritas cordis und caritas in den Collationes – die Texte . . . . 285 6.1.2 Gottesschau .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
6.2 Πρακτική und θεωρητική als scientia spiritalis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 6.3 Vollkommenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 6.4 Rückschau und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
7. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
7.1 Monastische Bildung als T hema innerhalb der Collationes . . . . . . . . . 318 7.2 Monastische Bildung als Ziel der Collationes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 7.3 Monastische Bildung als Interpretament der Collationes . . . . . . . . . . . 320
Inhaltsverzeichnis
XI
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Literaturverzeichnis Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
Werkregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Bibelstellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Autorenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
. .
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1. Einleitung Multa quidem scientiarum in hoc mundo sunt genera, tanta siquidem earum quanta et artium disciplinarumque uarietas est. Sed cum omnes aut omnino inutiles sint aut prae sentis tantum uitae conmodis prosint, nulla est tamen quae non habeat proprium doctri nae suae ordinem atque rationem, per quam ab expetentibus possit adtingi. Si ergo illae artes ad insinuationem sui certis ac propriis lineis diriguntur, quanto magis religionis nostrae disciplina atque professio, quae ad contemplanda inuisibilium sacramentorum tendit arcana nec praesentes quaestus, sed aeternorum retributionem expetit praemiorum, certo ordine ac ratione subsistit (Coll. 14,1; 398,13–24).1
Alle Wissenschaften, Künste und Disziplinen der Welt sind nach bestimmten Zielen ausgerichtet, die ihnen eine je eigene Form der Ausbildung und des Verstehens verleihen. Dieser Grundsatz, so Johannes Cassian, hat auch und besonders für religionis nostrae disciplina ac professio zu gelten, für das Mönchtum, dessen Ziel die Betrachtung unsichtbarer Geheimnisse und ein damit einhergehender, ewiger Lohn ist. Mönchtum als Kunst und Wissenschaft, Mönchtum als Bildungsprozess mit feststehenden Lernzielen und klar umrissenem Curriculum: All diese Implikationen, die sich aus dem einleitenden Zitat und seiner Paraphrase ergeben, sind auf den ersten Blick kaum mit dem Ideal eines weltabgewandten, vielleicht sogar weltfremden, Einsiedlers, das für die frühe Zeit des Mönchtums bezeichnend ist, in Verbindung zu bringen. Dennoch ist es genau diese idealtypische Darstellung der monastischen Anfänge, in der Cassian seine Ausführungen zum Mönchtum als Wissenschaft in den Collationes erzählerisch situiert. Wie lässt sich dieser – vielleicht nur scheinbare – Widerspruch verstehen und erklären? Was hat Johannes Cassian veranlasst, das Mönchtum gut einhundert Jahre nach seinen ersten Anfängen auf eine so ungewöhnliche wie innovative Art und Weise zu beschreiben? Bis zu welchem Punkt ist der genannte Vergleich von Mönchtum und Wissenschaften tragfähig? Wendet Cassian den didaktischen Ansatz, den er in diesem Zitat andeutet, selbst in seinem Werk an, und welches Ziel verfolgt er damit? 1 Passagen aus den Collationes werden in der vorliegenden Untersuchung abgekürzt zitiert: Sofern nicht anders angegeben, beziehen sich die Angaben von Seite und Zeile stets auf Johannes Cassian, Collationes Patrum (CSEL 13, Petschenig / Kreuz). Hierbei handelt es sich um die aktuellste Edition des Textes, auf die sich nahezu die gesamte Cassianforschung (s. 1.1) bezieht und die auch der Ausgabe der Sources Chrétiennes zugrunde liegt (SC 42.54.64 Pichery). Die deutschsprachigen Übersetzungen der Collationes gehen – teils mit notwendigen Korrekturen – auf G. Ziegler (Ziegler 2011.2014.2015) zurück. Biblische Zitate sind i.d.R. der Septuaginta Deutsch (AT) und der Lutherbibel (NT) entnommen.
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1. Einleitung
Dass diese Fragen ausgerechnet an Johannes Cassians Collationes Patrum aufbrechen, ist kein Zufall, da dieser bemerkenswerte Quellentext den ersten umfassenden Versuch darstellt, monastisches Wissen in dialogischer Form aus seinem Ursprungsland Ägypten in einen westlichen Kontext, präzise nach Südgallien, zu übertragen. Somit wird ein Bildungsprozess sondergleichen nicht nur erzählerisch abgebildet, sondern auch initiiert, indem die Lesenden zur Selbst-Bildung motiviert und befähigt werden. Der Autor Cassian hat dabei immense lokale, temporale und soziokulturelle Klüfte zu überbrücken, eine Herausforderung, der er sich aufgrund seiner eigenen, vielseitigen Ausbildung und mithilfe zahlreicher narrativer und pädagogischer Mittel zu stellen vermag. All diese ersten Beobachtungen und Fragen kreisen um ein T hemenfeld, das sich in vielerlei Hinsicht als leitend für die vorliegende Untersuchung erweisen wird: Bildung, genauer monastische Bildung. Aus einer einerseits historischen und andererseits begriffsgeschichtlichen Untersuchung ‚monastischer Bildung‘ lässt sich ein Dreifachfokus entwickeln, der zu einer schlüssigen Gesamtanalyse der Collationes führen wird: Erstens ist zu fragen, wie Bildung thematisiert wird, welche Voraussetzungen, Methoden und Ziele zur Sprache kommen, zweitens, wie Bildung vollzogen wird, wie Cassian mit Hilfe der Collationes Bildungsprozesse anstößt und begleitet, und drittens, wie der Bildungsbegriff interpretierend auf Cassians Werk angewandt werden kann. Um Cassians umfang- und facettenreiches Werk im Blick auf die skizzierte Fragestellung zugänglich zu machen, ist die vorliegende Studie in fünf thematische Abschnitte geteilt: Zunächst werden historische, das T hema kontextualisierende Vorklärungen vorgenommen, die die Biographie Cassians nachzeichnen (2.1), ihn als Schüler verschiedener monastischer und nicht-monastischer Traditionen darstellen (2.2) und schließlich seine Vernetzung und sein Wirken als monastischer Lehrer in Südgallien herausarbeiten (2.3). Auf diese Vorklärungen folgen sodann theoretische und methodische Grundlagen, die zunächst aus verschiedenen Perspektiven auf einen neuzeitlichen Bildungsbegriff zugreifen und fragen, wie dieser mit den Anfängen des Mönchtums zu verbinden ist (3.1). Daran anschließend wird in zwei exkursartigen Unterkapiteln zum einen ein form- und gattungsgeschichtlicher Vergleich zwischen den Collationes und spätantiken paganen Lehrbüchern vorgenommen (3.2) und zum anderen mit Hilfe narratologischer Konzeptionen gefragt, ob die Collatio nes nicht nur als Lehrbuch, sondern auch als erzählender Text zu lesen sind und welche Konsequenzen sich daraus für ihr Verständnis ergeben (3.3). Anschließend beginnt die analytische Textarbeit im engeren Sinne, und es wird nach den theologischen und anthropologischen Voraussetzungen monastischer Bildung gefragt, die Cassian in den Collationes thematisiert. Hierbei wird zunächst der Innere Mensch behandelt, ein Konzept, das sich als leitend für nahezu alle weiteren Schritte der Arbeit erweisen wird (4.1). Daraufhin werden die Opponenten, die dem Inneren Menschen den Bildungsprozess erschweren, Las-
1. Einleitung
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ter und Dämonen, untersucht (4.2). In enger Beziehung zueinander stehen die beiden folgenden Kapitel, die T hemen behandeln, die nicht nur entscheidend für Cassians Vorstellung von dem sind, was der Mensch innerhalb seines Bildungsprozesses zu leisten vermag, sondern sich auch als zentral für Cassians theologiegeschichtliche Rezeption und Reputation erwiesen haben: Sünden, Sünde und Sündlosigkeit (4.3) sowie Wille und Gnade (4.4). Nachdem geklärt wurde, weshalb der Mensch der Bildung und Entwicklung auf Gott hin bedarf, wird im Anschluss erläutert, welche konkreten Methoden und Prozesse Cassian beschreibt, durch die und innerhalb derer monastische Bildung geschieht. Hier wird zunächst auf die allen anderen Prozessen zugrunde liegende Tugend der discretio einzugehen sein (5.1). Alsdann wird untersucht, wie die äußeren Umstände der monastischen Lebensform (5.2) und der Lehrer-Schüler-Beziehung (5.3) die monastische Bildung des Einzelnen prägen. Abstrakter wird daraufhin auf die Erfahrung als Hintergrund einer jeden monastischen Erkenntnis eingegangen (5.4). Dann werden Schriftauslegung und Schriftgebrauch (5.5) und Gebet (5.6) in den Blick genommen, zwei Methoden monastischer Bildung, die Cassian nicht nur ausgesprochen detailliert beschreibt, sondern die auch die – in den Spielarten des vierfachen Schriftsinnes und des immerwährenden Gebetes – bis in die Gegenwart andauernde Bekanntheit Cassians begründen. Schließlich wird die Blickrichtung geändert: Nicht länger wird auf im Text beschriebene Voraussetzungen und Methoden monastischer Bildung geschaut, sondern es wird gefragt, ob die Bilder und Konzepte, mit denen Cassian mehr oder weniger abstrakt den monastischen Aufstieg und seine Zielsetzung beschreibt, als umfängliche Bildungsprozesse aufgefasst werden können, wobei interpretierend auf die unter 3.1 definierten Kategorien zurückgegriffen wird. Hierbei sind zunächst die eng verwandten Vorstellungen von erstem und letztem Ziel (6.1) sowie von πρακτική und θεωρητική als scientia spiritalis (6.2) zu untersuchen, bevor abschließend diskutiert wird, ob und unter welchen Voraussetzungen Vollkommenheit als höchstes aller monastischen Ziele erstrebt werden kann (6.3). Jedem dieser großen Abschnitte folgt eine knappe Zusammenfassung („Rückschau und Ausblick“), die nicht nur zentrale Punkte des Vorhergehenden bündelt, sondern auch den hier nur knapp dargestellten Dreifachfokus sukzessive zuspitzt und ergänzt und so das abschließende Fazit (7.) vorbereitet.
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1. Einleitung
1.1 Zum Stand der Forschung zu Johannes Cassian Blickt man auf zentrale Forschungsbeiträge zu Johannes Cassian,2 sind zunächst zwei Klassiker zu nennen, die sich um einen Gesamtaufriss von Cas sians (monastischer) T heologie bemühen: Owen Chadwicks grundlegendes Werk „John Cassian“ (21968) und Columba Stewarts „Cassian the Monk“ (1998). O. Chadwick gliedert seine Untersuchung in fünf große Teile, wobei er zunächst der Frage nachgeht, inwieweit Cassian ein (vermeintlich) ungebrochenes Zeugnis der monastischen Anfänge Ägyptens zu bieten vermag (I T he Earliest Christian Monks). Anschließend widmet er sich den drei Werken Cassians, wobei er den Instituta (II T he Monastery) und Contra Nestorium (V Nestorius) jeweils ein Kapitel einräumt, während die Collationes stärker thematisch zugespitzt in zwei Kapiteln untersucht werden (III T he Journey of the Soul; IV Grace). Stärker inhaltlich gliedert C. Stewart seine Untersuchung, die sich in vielerlei Hinsicht als stabile Grundlage der vorliegenden Untersuchung erwiesen hat: Stewart fragt nach Cassians Rolle als Mönch (1.), Schriftsteller (2.) und T heologe (3.), bevor er anschließend ausgewählte T hemen aus Cassians Werk näher betrachtet (4. Flesh and Spirit, Continence and Chastity; 5. T he Bible and Prayer; 6. Unceasing Prayer; 7. Experience of Prayer). Im Blick auf die vorliegende Frage nach monastischer Bildung ist kritisch anzumerken, dass beide Autoren nicht um eine umfassende Analyse der Collationes, sondern eine Zusammenschau des Gesamtwerkes Cassians bemüht sind. Hierdurch kommt es teils zu einer etwas unglücklichen Zuspitzung auf die bekannten und erwartbaren T hemen der – wie zu zeigen sein wird – wesentlich vielfältigeren Colla tiones. Keiner der beiden Autoren thematisiert konkreter, welche Bildungsprozesse in den Collationes beschrieben oder durch sie angestoßen werden, jedoch zeichnen beide das Bild einer Landkarte (der Seele), die dem Mönch (als Pilger auf der Suche nach Gott), den Weg in sein Innerstes weist – wodurch gewissermaßen doch die Vorstellung eines umfänglich beschriebenen Bildungsweges wachgerufen wird.3 Der Frage nach bildungsrelevanten T hemen in Cassians Werk geht erstmals Philip Rousseau gezielt in „Ascetics, Authority and the Church“ (1978) nach, der Cassian mit den ägyptischen Wüstenvätern, Hieronymus und Martin von Tours vergleicht und fragt, wie jeweils (Lehr-)Autorität konstruiert, aber auch transformiert wird. Ebenfalls vergleichend und einen konkreten, in der vorliegenden Studie auf Bildungsprozesse bezogenen, Begriff untersuchend arbeitet Heinrich Holze in „Erfahrung und T heologie im frühen Mönchtum“ (1992). Einem sehr strikten analytischen Schema folgend vergleicht er Cassians Darstellung der Bedeutung von ‚Erfahrung‘ mit den ägyptischen Mönchsvätern und 2 Auf die Forschung zum T hema ‚(monastische) Bildung‘ wird unter 3.1 einzugehen sein. 3 Vgl.
Chadwick 1968, 82–109.162; Stewart 1998, 40–42.
1.1 Zum Stand der Forschung zu Johannes Cassian
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Benedikt von Nursia. Auch wenn die gewählte Form der Präsentation hier einige Besonderheiten der Darstellung Cassians unscharf werden lässt, so wird anhand dieser Arbeit doch die entscheidende Scharnierposition, die Cassian zwischen Ost und West einnimmt, deutlich. Steven D. Driver („John Cassian and the Reading of Egyptian Monastic Culture“, 2002) fragt ebenfalls gezielt nach dem literarischen Transfer östlich-monastischen Wissens und seiner Rezeption im lateinischsprachigen Raum, womit er primär den zweiten Aspekt des einleitend entwickelten Dreifachfokus berührt: die Frage, wie sich (literarisches) Bildungshandeln anhand der Collationes vollzieht. Vergleichbar ist der Ansatz von Richard Goodrichs „Contextualizing Cassian“ (2007), der jedoch stärker die Zielregion des durch Cassians Werk vollzogenen literarischen Transfers in den Blick nimmt, indem er Cassian, sein Vorgehen und seine T heologie im südgallischen kirchlich-monastischen Kontext verortet. Goodrichs Ergebnisse gehen dabei weit über den Zusammenhang der vorliegenden Arbeit hinaus und erweisen sich als besonders aufschlussreich, wenn das Fortwirken des cassianschen Werkes im westlichen Mönchtum in den Blick genommen wird. Auch Augustine M. C. Casiday („Tradition and T heology in John Cassian“, 2007) bearbeitet einen traditionsgeschichtlichen Aspekt: Er widmet sich der Frage, wie Cassians Positionierung im sog. Semipelagianischen Streit sowohl als theologische Eigenleistung als auch als wohlüberlegte Verbindung verschiedenster Traditionen gesehen werden kann. Dass er darüber hinaus die T hemen ‚Prayer‘ und ‚Christology‘ thematisiert, zeigt bereits an, wie sehr die verschiedenen Aspekte der Lehre Cassians einander bedingen und durchdringen. Zwei Arbeiten aus dem Jahr 2012 haben sich als besonders aufschlussreich für die vorliegende Untersuchung erwiesen: Zum einen Christopher J. Kellys Buch „Cassian’s Conferences. Scriptural Interpretation and the Monastic Ideal“ und zum anderen ein Aufsatz von Rebecca Krawiec („Monastic Literacy in John Cassian: Toward a New Sublimity“). Kelly untersucht anhand von vier Beispielen, wie Cassian in den Collationes Schriftauslegung betreibt und wie dieses Vorgehen jeweils zu „Transformative Knowledge and Experiential Transmission“ – so der Titel seines Fazits – beiträgt. Eine ähnliche Fragestellung, jedoch aus einem gänzlich anderen Blickwinkel, bearbeitet Krawiec: Auch sie fragt nach Transformation, jedoch nach der Transformation traditioneller Bildung in Cassians monastischem Werk, und entwickelt daran anschließend ein Konzept, das das einleitend genannte Zitat auf den Punkt bringt: eine ars monastica in Analogie zu anderen (weltlichen) artes (s. 3.2). Schließlich ist die Arbeit von Niki Kasumi Clements („Sites of the Ascetic Self: John Cassian and Christian Ethical Formation“, 2020) zu nennen, die nicht nur die m.W. aktuellste Monographie zu Cassian darstellt, sondern über ihren Leitbegriff „Formation“ auch in unmittelbarer Nähe zur vorliegend verhandelten Frage steht: Clements gibt als Ziel ihrer Untersuchung an, die Darstellung konkreter (körperlicher und ethischer) Praktiken in Cassians Collationes im Blick auf ihren Beitrag zur Formung des
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1. Einleitung
Selbst („self-cultivation“4) analysieren zu wollen.5 Dabei betont sie, dass Cassian keinen Prozess der bloßen Verinnerlichung beschreibe, sondern auf eine ausgleichende Integration der zahlreichen, den Menschen prägenden Faktoren bedacht sei („Integration, not Interiorizing, Selves“).6 Dieses Anliegen bindet Clements im Rahmen ihres Fazits in beeindruckender Weise an eine Reihe individueller, sozialer, kultureller und theologischer Fragmentierungen, die Cassians Umwelt prägten („Anxieties across the Mediterranean“).7 Blickt man auf die hier skizzierte Cassianforschung der vergangenen gut fünfzig Jahre, wird deutlich, dass ein Großteil der Arbeiten um Fragen der Vermittlung kreist: Dabei wurden allerdings meist nur Einzelaspekte, oft im Vergleich zu anderen Texten der Spätantike, untersucht. Gemeinsam ist allen Arbeiten, dass sie Cassians Rolle als Mittler zwischen Ost und West, zwischen verschiedenen (Bildungs-)Traditionen sowie zwischen den Anfängen des Mönchtums und seinem Fortleben in Gestalt des westlichen (benediktinischen) Mönchtums betonen. Doch fehlt es bislang an einer umfassenden Monographie, die die gesamten Collationes einer eingehenden Analyse unterzieht und so die verschiedenen, im Vorherigen skizzierten Einzelaspekte zu einer Gesamtdarstellung verbindet. Um diesen Schritt bemüht sich die vorliegende Untersuchung. Dass dabei das Konzept monastischer Bildung als Schlüssel zum Verständnis der Collationes gewählt wird, ist – wie gezeigt – durch die vorhergehenden Forschungsbeiträge gewissermaßen präfiguriert: Besonders die Arbeiten von Krawiec und Clements machen deutlich, dass die Collationes bzw. die durch sie geleistete Vermittlung sehr präzise mit Begrifflichkeiten der Bildungsforschung gefasst werden können. Beide Arbeiten betonen allerdings sehr stark einen je einzelnen Aspekt des für die vorliegende Untersuchung leitenden Dreifachfokus: Krawiec fokussiert v.a. das Bildungshandeln Cassians in Analogie zu anderen Bildungstraditionen, während Clements den Begriff „Formation“ vor allem interpretierend nutzt, dabei jedoch durch die starke Betonung konkreter Praktiken den Bildungsbegriff m. E. nicht umfänglich ausschöpft (s. 3.1.2). In der vorliegenden Studie werden hingegen alle drei Perspektiven zusammengebracht, woraus sich ein umfassendes Gesamtverständnis der Collationes erarbeitet lässt. Neben den kurz vorgestellten Monographien und Aufsätzen zu Johannes Cassian, die alle an entsprechender Stelle der vorliegenden Untersuchung noch gründlicher ausgewertet werden, ist schließlich auf eine Debatte einzugehen, die die Cassian-Forschung seit der Jahrtausendwende beschäftigt: die in zwei umfassenden Monographien P. Tzamalikos’ dargelegte Auffassung, dass Cassian gar nicht Cassian sei.8 P. Tzamalikos argumentiert, dass es sich bei dem latei4
Clements 2020, 19. Vgl. Clements 2020, 16. 6 Vgl. Clements 2020, 172 f. 7 Vgl. Clements 2020, 166–168. 8 Tzamalikos 2012a und 2012b. 5
1.1 Zum Stand der Forschung zu Johannes Cassian
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nischen Quellentext, der auch dieser Arbeit zugrunde liegt, lediglich um eine von zahlreichen Interpolationen durchzogene Übersetzung eines ursprünglich griechischen Textes handle.9 Als tatsächlichen Autor der Collationes möchte er stattdessen einen Mönch des 6. Jahrhunderts aus der Laura des Sabas annehmen, der (auch) den Namen Cassian / Kasianos trägt und dessen Werk Tzamalikos in einer griechischen Handschrift (MS Meteora 573) zu finden glaubt.10 P. Tzamalikos nimmt an, dass „the real Cassian, the Sabaite monk of Scythopolis and spiritual offspring of Sabas, was entirely eclipsed by an anachronistic contrivance called ‚John Cassian‘, otherwise un known to the entire East. ‚Abba Cassian‘ of the Apophthegmata and ‚abba Cassian‘ of Cyril of Scythopolis is one and the self-same person. … T he text of Cassian is a genuine part of an uninterrupted chain of the Greek literature, with technical terms and striking parallels of earlier Greek authors, both in language and notions. T here is no way for this to be a translation, either from Latin or from any other language.“11
Dabei bedient er sich einer Reihe von Argumenten, die so oder ähnlich auch in der vorliegenden Untersuchung vorkommen werden, hier jedoch um Cassians Prägung durch die griechischsprachige monastische T heologie des Ostens und seine beachtliche Transferleistung nachzuweisen, nicht um ihn willkürlich aus seinem zeitlichen und räumlichen Kontext zu reißen:12 Tzamalikos argumentiert bspw., dass Sprache und Stil Cassians auf eine hohe griechische Bildung deuteten; dies ist jedoch m. E. ebenfalls (oder sogar besser) durch die Zweisprachigkeit, in der Johannes Cassian aufwuchs und ausgebildet wurde (s. 2.1), zu erklären.13 Auch das auf Bildungsvorgänge zielende Argument: „the pedagogy flowing from his text is not an invention of his own, but opinions by the fathers of old …, 9 Vgl. Tzamalikos 2012a, 391. Als solche Interpolationen klassifiziert P. Tzamalikos z. B. alle Hinweise und Bezugnahmen auf Cassians eindeutig im Südgallien des 5. Jahrhunderts zu verortende Adressaten und Auftraggeber (vgl. aaO., 392 f.; s. u. 2.3.1). 10 Vgl. Tzamalikos 2012a, 391; Belege für seine T hese meint P. Tzamalikos v.a. in Arbeiten des 17. (Andreas Schottus) und 19. (Franz Diekamp) Jahrhunderts zu entdecken (vgl. aaO., 392 f.). 11 Tzamalikos 2012a, 394 f. 12 Tzamalikos 2012a, 400 diskutiert diese unterschiedlichen Schlussfolgerungen, die aus vergleichbaren Argumenten gezogen werden können, im Gegenüber zu O. Chadwick (die Tatsache, dass es sich bei dessen Werk weder um die aktuellste noch die gehaltvollste Darstellung zu Cassians T heologie handelt, ist wiederum bezeichnend für den Aussagegehalt der Forschung Tzamalikos’, s. u.) und kommt zu dem Schluss, dass dieser die vermeintlichen Interpolationen im Text übersehen habe und es versäume, die traditionelle Verortung Cassians in der lateinischen Literatur und Kultur kritisch zu hinterfragen. Offenkundige Beziehungen zwischen Cassian und der benediktinischen Tradition, die O. Chadwick aufweist, zitiert Tzamalikos, allerdings ohne sie kritisch zu würdigen oder in sinnvolle Beziehung zu seiner eigenen Arbeit zu setzen. 13 Vgl. Tzamalikos 2012a, 395 f., kritisch hierzu auch Stewart 2015, 376. Dahlman 2020, 99 befürwortet ebenfalls eine Zweisprachigkeit des Autors und argumentiert sogar, dass „it would therefore not be strange to think that Cassian wrote in both Greek and Latin, and that he could have translated and revised his own works.“
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1. Einleitung
but also influenced by earlier writers“14 beweist m. E. nicht zwangsläufig, dass Cassian nicht im Westen für ein nicht ausschließlich monastisches Publikum (s. 2.3.1) geschrieben haben könnte: Eher im Gegenteil, zahlreiche Situationsbeschreibungen (s. 3.3) und Erklärungen von Lehr-Lern-Situationen (s. z. B. 5.3 und 5.4) lassen gerade vermuten, dass Cassian etwas beschreibt, das seinen Adressaten nicht unmittelbar geläufig war. Über diese Offensichtlichkeiten hinaus widersprechen verschiedene Rezensio nen und Bezugnahmen renommierter Forscher:innen der T hese Tzamalikos’ einhellig: So benennt C. Stewart die Tatsache, dass P. Tzamalikos nicht zu erklären weiß, weshalb die lateinische Fassung so viel länger als ihr vermeintliches Original ist und weshalb zentrale Passagen (coll. 5 zur Achtlasterlehre [s. 4.2] oder coll. 9 f. zum Gebet [s. 5.6]) in der griechischen Version nicht enthalten sind.15 Zudem weist er darauf hin, dass im griechischen ‚Kasianos‘ nahezu alle Passagen, die eng an Evagrius Ponticus (s. 2.2.3) angelehnt sind, fehlen, was wiederum für eine bewusste Auslassung in dieser Version – eher als für eine absichtliche Hinzufügung in der lateinischen – spreche.16 Auch im Blick auf die Zitation der Bibel kommt C. Stewart zu einem anderen Ergebnis als P. Tzamalikos: Selbst in den Überschüssen, die ausschließlich in der lateinischen Version begegnen, werde deutlich, dass deren Autor (auch) mit dem griechischen Text der Septuaginta vertraut war und es sich nicht um eine bloße Übersetzung handle (s. hierzu auch die einleitenden Bemerkungen unter 5.5).17 B. Dahlman ergänzt kritisch, dass zahlreiche Ausschnitte aus Cassians Werk bereits in den ältesten Sammlungen der Apophthegmata Patrum erhalten seien (Ende des 5. Jahrhunderts, s. 2.2.1), also bereits bekannt waren, lange bevor der von Tzamalikos imaginierte Kasianos lebte und vermeintlich schrieb.18 Vielleicht am kritischsten und damit treffendsten äußert sich A. M. C. Casiday: „Tzamalikos’s attribution is supported by a welter of arguments that are methodologically flawed, marred by needless polemic, and not engaged with relevant scholarship.“19 14
Tzamalikos 2012a, 395. Vgl. Stewart 2015, 374 f. 16 Vgl. Stewart 2015, 375. 17 Vgl. Stewart 2015, 375; Tzamalikos 2012a, 395 f. versucht hingegen zu erläutern, dass es offensichtlich sei, dass sein ‚Kasianos‘ direkt aus dem Hebräischen zitiere, was m. E. weder am Text ersichtlich wird, noch historische Anhaltspunkte, weder im lateinischen Mönchtum des 5. Jahrhunderts noch im östlichen Mönchtum des 6. Jahrhunderts, hat. 18 Vgl. Dahlman 2020, 98. In Dahlman 2018, 291–294 macht sie zudem deutlich, dass die vorfindlichen griechischen Fragmente der Collationes vermutlich Übersetzungen einer früheren, noch unvollständigen lateinischen Version sind, die von Cassian und / oder einer zweiten Hand erst später zur überlieferten lateinischen Fassung ergänzt wurde. So kann sie nicht nur Lücken im griechischen Text erklären, sondern auch einmal mehr deutlich machen, dass die griechische Fassung sehr viel älter sein muss, als von P. Tzamalikos propagiert. 19 Casiday 2014, 120. 15
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2. T hematische Vorklärungen: Johannes Cassian – Asket und Weltenbummler, Schüler und Lehrer In diesem Kapitel sind die Grundlagen zu erörtern, die notwendig sind, um die in Kapitel drei bis sechs angestellten Überlegungen zum T hema „Monastische Bildung am Beispiel der Collationes“ einordnen zu können. Um zu verstehen, wie und mit welchem Ziel Cassian Bildungsprozesse beschreibt, anstößt und begleitet, ist es unabdingbar, zunächst seine eigene (Bildungs-)Biographie in groben Zügen nachzuvollziehen. Hierbei ist als erstes Johannes Cassians monastischer und kirchlicher Werdegang nachzuzeichnen (2.1). Anschließend ist genauer zu untersuchen, welches die zentralen Lehrerfiguren und Lehrkontexte sind, die Cassian nicht nur theologisch, sondern auch im Blick auf sein Lehrhandeln geprägt haben (2.2). Nachdem Cassians Rolle als Schüler vielfältiger Traditionen herausgearbeitet ist, wird unter 2.3 seine Tätigkeit als Lehrer für das südgallische Mönchtum fokussiert. Hier werden zunächst seine Adressaten in ihrem Umfeld in den Blick genommen (2.3.1), bevor die drei Werke Cassians vorgestellt werden (2.3.2). 2.1 Biographische Hinführung Johannes Cassians Biographie muss aus einer Reihe verschiedener Quellen zusammengefügt werden; weder gibt es eine Vita Cassiani, noch zeigt er sich selbst besonders auskunftsfreudig.1 Dieser Umstand, sowie die Tatsache, dass auch in der Zusammenschau aller möglichen Informationen einige Lücken im Lebenslauf bleiben, hat dazu geführt, dass es nicht nur verschiedene T heorien über die Herkunft Cassians gibt (s. u.), sondern sogar den Versuch, den lateinischschreibenden Autor des 5. Jahrhunderts für überlieferungsgeschichtlich sekundär zu erklären und seine Werke lediglich als falsch zugeordnete, lateinische Übersetzungen des ‚Sabaiten Kasianos‘ aus dem 6. Jahrhundert zu interpretieren.2 Trotz dieses zunächst ernüchternden Befundes ist es möglich, relevante Rahmendaten und Stationen des Lebens Cassians relativ zweifelsfrei zu rekonstruieren (s. u.) und diese in einem zweiten Schritt (s. 2.2) theologisch zu kontextualisieren. 1 Vgl. Stewart 1998, 3; sowie ausschließlich zum T hema der Biographie Cassians Frank 1995. 2 Vgl. Dahlman 2020, 97. Die hier angedeutete T hese P. Tzamalikos’ wurde bereits unter 1.1 umfassender diskutiert und widerlegt.
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2. T hematische Vorklärungen
Neben den Selbstzeugnissen in den Instituta und Collationes, die vor allem den Lebensabschnitt Cassians zwischen 385/6 und 399 n. Chr., seine Lehrzeit bei den ägyptischen Wüstenvätern, in stark idealisierter Weise darstellen, gibt es nur wenige zeitgenössische Quellen, die direkt auf Cassian Bezug nehmen:3 Hier ist erstens Palladius zu nennen, der in Dialogus de vita Joannis Chrysostomi (408 n. Chr.) berichtet, dass „der Presbyter Germanus zusammen mit dem Dia kon Cassian von der Partei des Johannes [Chrysostomus]“4 ein Schreiben zu Chrysostomus’ Verteidigung nach Rom überbrachte. Zweitens sind drei Briefe Papst Innozenz’ zu nennen, die (einen) Cassian erwähnen, zunächst noch als Diakon, später dann als (Mit-)Presbyter.5 Drittens ist auf die rufschädigende Darstellung Prospers von Aquitanien zu verweisen, der sich in Contra Collato rem (432 n. Chr.) offensichtlich gegen Cassian als Verfasser der Collationes wendet, jedoch ohne dessen Namen zu erwähnen (zur thematischen Einordnung s. 4.4.1). Und zuletzt ist Gennadius von Marseille zu nennen, der zumindest die Eckdaten von Cassians Leben in De viris illustribus (ca. 495 n. Chr.) aufführt. Ein Großteil der Darstellung des Gennadius beschränkt sich auf die Nennung der Unterkapitel der Instituta und der Collationes, in Bezug auf die Biographie sind lediglich Anfang und Ende der Notiz von Interesse:6 „Cassian, von skythischer Herkunft, in Konstantinopel von Bischof Johannes dem Großen zum Diakon ordiniert und Presbyter in der Nähe Marseilles, gründete dort zwei Klöster, eines für Männer und eines für Frauen, die bis heute bestehen. [Es folgt eine Inhaltsangabe der inst. und coll.] … und schließlich schrieb er auf Anfrage des Erzdiakons 3
Vgl. Stewart 2015, 374. Hübner 2021, 93; Palladius, v. Chrys. 3,8 (FC 90, 92 Hübner): Γερμανὸς πρεσβύτερος ἅμα Κασσιανῷ διακόνῳ τῶν Ἰωάννου. 5 Vgl. Stewart 1998, 14; Innozenz I, VI,1 (405 n. Chr.; FC 58/2, 416 f. Sieben), XV,1 (um 415 n. Chr.; FC 58/2 Sieben, 466 f.), XVI (um 415 n. Chr.; FC 58/2, 472 f. Sieben). G. Dunn spricht sich dagegen aus, alle Briefe auf Johannes Cassian zu beziehen, seiner Argumentation folgend handelt es sich um zwei Cassiane (die jedoch beide von dem Cassian der T hese Tzamalikos’ zu unterscheiden sind): „T he only conclusion that seems reasonable to draw from the evidence is that there were two Cassians: one, the Cassian who was a deacon of Constantinople (and visited Rome as indicated in Palladius and Innocent’s letter in Sozomen) and then became a presbyter of Marseille (perhaps heading to Gaul as early as the beginning of 405), with his friend German moving to Africa, and the other, an otherwise unknown presbyter of Antioch who took a letter to Rome and Innocent’s replies (Epistulae 19 and 20 [nach Zählung von FC 58/2 Sieben = XV und XVI]) to Antioch, which healed that new schism between those two churches.“ (Dunn 2015, 14). M. E. ist diese Schlussfolgerung jedoch kaum aus den drei überlieferten Briefen zu ziehen, sodass sie lediglich als eine von vielen Hypothesen, die um Cassians Aufenthaltsort zwischen 404 und 415 n. Chr. (vgl. Dunn 2015, 6–10) kreisen, gelten kann. Aufgrund der unklaren bzw. sehr dürftigen Quellenlage für Cassians Aufenthaltsort zu Beginn des 5. Jh. ist m. E. eher Stewart 1998, 15 zu folgen, der zu dem Schluss gelangt, dass es sich hierbei um eine Reihe von „uncertainties“ handelt und aufgrund der Quellenlage keine endgültige Entscheidung für eine der Hypothesen zu fällen ist. 6 Vgl. Frank 1995, 183. 4
2.1 Biographische Hinführung
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Leos, des späteren Bischofs der Stadt Rom, sieben Bücher gegen Nestorius über die Inkarnation des Herrn, und so wie er dieses in der Nähe Marseilles schrieb, endete auch sein Leben dort während der Herrschaft des T heodosius und des Valentinian7.“8
Aus dieser recht knappen Quellenlage haben Forscher:innen folgende Stationen und präziseren Daten von Cassians Biographie hergeleitet: Hiernach wurde Cassian (der den monastischen Namen ‚Johannes‘ seinem Geburtsnamen erst später hinzufügte)9 in den 360er Jahren in eine wohlhabende Familie hineingeboren, die an der Ostküste des Schwarzen Meeres lebte.10 Wie Cassian selbst in coll. 14,12 (s. 3.1.1.1) mit Bedauern festhält, hat er als junger Mann umfassende Kenntnisse der paganen Literatur erworben. Dieser Schulzeit sind nicht nur seine profunden Kenntnisse der lateinischen und griechischen Sprache zuzuschreiben,11 sondern auch die Anfänge seiner Freundschaft zu Germanus, der ihm nicht nur ein wichtiger Reisebegleiter werden sollte, sondern später auch zu einer zentralen Figur in den Collationes stilisiert wird (s. 3.3).12 7 T heodosius II. (im Osten) und Valentinian III. (im Westen) herrschten gemeinsam zwischen 425 und 450 n. Chr. (vgl. Frank 1995, 183). 8 Gennadius, vir. ill. 61 (PL 58, 1094–1096): CASSIANUS, natione Scytha, Constanti nopolim a Iohanne Magno episcopo diaconus ordinatus, apud Massiliam presbyter, condidit duo id est virorum et mulierum monasteria, quae usque hodie extant. … et ad extremum, rogatus a Leone archidiacono postea urbis Romae episcopo, scripsit adversus Nestorem De incarnatione Domini libros septem, et in his scribendi apud Massiliam et vivendi finem fecit T heodosio et Valentiniano regnantibus. 9 Eine alternative Herkunft des Namens versucht Chadwick 1968, 9 herzuleiten: Er argumentiert, dass der Name „Johannes“ Cassian erst literarisch beigeordnet wurde, um sein enges Verhältnis zu Johannes Chrysostomus auszudrücken. 10 Vgl. Stewart 1998, 4 f. Die Region der Dobrudscha auf dem Gebiet des heutigen Rumäniens als tatsächlichen Geburtsort Cassians anzunehmen ist nicht nur wegen der Notiz des Gennadius wahrscheinlich, sondern auch deshalb, weil diese Region durch Zwei sprachigkeit gekennzeichnet war, was wiederum Cassians Bilingualität begründen würde (s. u., vgl. aaO., 6). Ebenfalls für diese Herkunfsregion argumentiert H.-I. Marrou, der auf epigraphische Markierungen des 2. und 3. Jahrhunderts verweist, die den Familiennamen Cassian / Κάσιαν enthalten (vgl. Zelzer 1991, 163 mit Anm. 4). Dennoch argumentiert K. Zelzer grundlegend gegen eine Herkunft Cassians aus der Dobrudscha: Er verweist darauf, dass für den Donauraum keine so hohe lateinische Bildung anzunehmen sei, dass sich die stilistische Nähe der Collationes zu Ciceros Dialogen (s. hierzu 3.2) plausibel machen ließe (Zelzer 1991, 162 f.). Weiter argumentiert K. Zelzer, dass die Landschaftsschilderung der Heimat Cassians in coll. 24 keine Rückschlüsse auf einen konkreten Ort erlaube, sondern vielmehr in topischer Weise auf eine antike Idealvorstellung Bezug nehme (aaO., 164). Außerdem gibt er zu bedenken, dass Gennadius von Marseille in De viris illustribus (s. o.) vor allem Landsmänner, keine Zugezogenen, porträtiert habe (aaO., 165). Ebenfalls auf Gennadius nimmt zur vorliegenden Frage Frank 1995, 190 f. Bezug, der erläutert, dass – wenn man die Herkunft Cassians von Scythia Minor nach Südgallien verlegen wollte – die Formulierung natione Scytha als Hinweis auf die quasi mentalitätsgeschichtliche Herkunft Cassians in der Wüste Sketis (s. u.) verstanden werden könnte. 11 Vgl. Stewart 1998, 4–6. 12 Vgl. Stewart 1998, 6.
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2. T hematische Vorklärungen
Gemeinsam mit Germanus verließ Cassian die Heimat und reiste nach Bethlehem, wo beide kurzzeitig in ein Kloster eintraten. Da Hieronymus’ Klostergründung in Bethlehem (386 n. Chr.) von Cassian nicht erwähnt wird, ist davon auszugehen, dass Cassian und Germanus zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Weg in die Ägyptische Wüste waren.13 Das Ende des Ägyptenaufenthaltes Cassians ist mit einer Eskalation der Origenistischen Streitigkeiten (399 / 400 n. Chr.) in Verbindung zu bringen.14 Die drei Teilbände der Collationes bilden verschiedene zwischen den genannten Rahmendaten bereiste Regionen Ägyptens inklusive der dort ansässigen Altväter ab: Im Blick auf die Chronologie der Erzählung ist der zweite Teilband dabei der älteste, in ihm wird von den ersten Stationen der beiden Reisenden im Nildelta berichtet, namentlich werden die Orte T hennesus (314,13) und Panephysis (315,22) genannt.15 Von dort geht es weiter in die Sketis (7,13), dem Handlungsort des ersten Teilbandes.16 Der dritte Teilband schließlich bündelt Erzählungen von Altvätern aus verschiedenen Regionen.17 Nachdem Cassian die ägyptische Wüste verlassen musste, gelangte er nach Konstantinopel.18 Dort fand er gemeinsam mit anderen Anhängern einer origenistisch-monastischen T heologie Zuflucht im Umfeld des Bischofs Johannes Chrysostomus. Cassian selbst äußert sich nur beiläufig zu seiner Zeit in Konstantinopel,19 einige Eckpunkte lassen sich jedoch aus anderen Quellen erschließen: So ist anzunehmen, dass Cassian in der Zeit zwischen 400 und 403 n. Chr., dem Zeitpunkt der ersten Exilierung des Johannes Chrysostomus, von diesem zum Diakon geweiht wurde.20 Die Zusammenarbeit zwischen Cassian und Chrysostomus scheint von Vertrauen und Wertschätzung geprägt gewesen zu sein:21 So ist nicht nur überliefert, dass Cassian gemeinsam mit Germa13
Vgl. Stewart 1998, 6 f. Vgl. Stewart 1998, 8. Zu den Anfängen dieses Streits, die (u.a.) um eine anthropomorphitische Vorstellung von Gott kreisen, äußert Cassian sich ausführlich in coll. 10 (s. 5.6.4). Weiterführend zum origenistischen Streit s. 2.2.2. 15 Vgl. Stewart 1998, 8 f. 16 „Sketis“ ist dabei meist konkret auf die monastische Siedlung Wadi al-Natrun zu beziehen, seltener ist die angrenzende Kellia mitgemeint (vgl. Stewart 1998, 10). 17 So liegt Diolcos (coll. 18) auch in Nähe der Nilmündung, während coll. 21–23 erzählerisch in der Sketis situiert sind. 18 Vgl. Stewart 1998, 12 f.; Rousseau 1978, 172 schlägt hingegen vor, dass Cassian Ägypten aus relativ freien Stücken verließ, um in seine Heimat am Schwarzen Meer zurückzukehren und auf dem Weg den von ihm intellektuell bewunderten Johannes Chrysostomus kennen zu lernen. 19 Lediglich in c. Nest. 7,31 (CSEL 17, 389,19–24 Petschenig / Kreuz) verweist er auf Chrysostomus und bezeichnet sich als dessen eifrigen Schüler: Unde ego quoque ipse, humi lis atque obscurus nomine sicut merito, licet mihi inter eximios Constantinopolitanae urbis antistites locum magistri usurpare non possim, studium tamen discipuli affectumque prae sumo. adoptatus enim a beatissimae memoriae Iohanne episcopo in ministerium sacrum atque oblatus deo. 20 S. o. zu Gennadius; vgl. Stewart 1998, 150 Anm. 105. 21 Vgl. Broc 2003, 35 f. 14
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nus für die Aufsicht des Kirchenschatzes von Konstantinopel – der 404 n. Chr. trotzdem einem verheerenden Feuer zum Opfer fiel – zuständig war,22 sondern auch, dass Chrysostomus ihn beauftragte, gemeinsam mit Palladius, dem späteren Biographen des Bischofs, und Germanus ein Schreiben zur Verteidigung des Chrysostomus an Papst Innozenz I in Rom zu überbringen.23 Von allen Stationen auf Cassians Lebensweg ist über die Zeit zwischen 404 und 415 n. Chr., zwischen dem Aufbruch in Konstantinopel und der Ankunft in Marseille, am wenigsten bekannt (s. o. Kapitel 2, Anm. 5). Es ist zu vermuten, dass Cassian während dieser Zeit in Rom zum Presbyter geweiht wurde24 und eine so enge Bekanntschaft mit dem späteren Papst Leo I. schloss, dass dieser ihm gut zwanzig Jahre später eine Streitschrift gegen Nestorius anvertrauen sollte. Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass sich in dieser Zeit die Spur Germanus’ verliert, was darauf hindeutet, dass dieser in Rom blieb und Cassian allein nach Marseille weiterzog.25 In Marseille angekommen gründete Cassian nicht nur, wie Gennadius berichtet (s. o.), zwei Klöster, sondern wandte sich auch in theoretischer Weise der monastischen Praxis und T heologie zu, indem er De institutis coenobiorum et de octo principalium uitiorum remediis (Instituta, inst.) und die Collationes Patrum (Collationes, coll.) verfasste (s. 2.3.2). Cassian war Teil eines weit verzweigten bischöflich-monastischen Netzwerkes (s. 2.3.1) und wurde von seinen literarischen Gesprächspartnern als Experte für das ägyptische Mönchtum hochgeschätzt. Cassians Tod in Marseille ist lediglich grob anhand der o. g. externen Bezeugungen zu fassen: Es ist davon auszugehen, dass er zur Abfassung von Prospers Contra Collatorem noch am Leben war (terminus post quem = 432 n. Chr.), jedoch vor dem Ende der Herrschaft von T heodosius und Valentinian verstarb (terminus ante quem = 450 n. Chr).26 2.2 Cassian als Schüler Wie die facettenreiche Biographie Cassians bereits erahnen lässt, gibt es eine Vielzahl theologischer Vorbilder und Lehrer, auf die Cassian explizit oder implizit Bezug nimmt und die sein Denken und (Lehr-)Handeln in eindrücklicher Art und Weise geprägt haben. Im Folgenden sind zuerst die in den Collationes aus22
Vgl. Brändle 1999, 133; Stewart 1998, 14 hält diese Tatsache für nicht sicher belegt. Vgl. Brändle 1999, 138; Chadwick 1968, 32 interpretiert diese Reise als eine weitere Flucht Richtung Westen vor den origenistischen Streitigkeiten, die mittlerweile auch Konstantinopel beherrschen. 24 Frank 1995, 184 f. erläutert, dass die Wendung apud Massiliam presbyter, die bei Gennadius zu finden ist (s. o.) offenlasse, wo die Weihe stattgefunden habe. Auch K. S. Frank hält Rom deshalb für den wahrscheinlichsten Ort. 25 Vgl. Stewart 1998, 13–15. 26 Vgl. Stewart 1998, 24. C. Stewart weist hier darauf hin, dass im Blick auf das biolo gische Alter Cassians ein Tod Mitte der 430er Jahre wahrscheinlich ist. 23
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2. T hematische Vorklärungen
führlich zu Wort kommenden Altväter Ägyptens zu kontextualisieren: Während unter 5.3.2 ihre narrative Darstellung als Lehrerfiguren untersucht wird, soll es hier zunächst um eine historische Einordnung gehen (2.2.1). Daran anschließend werden in Grundzügen die theologischen Positionen der drei Lehrer dargestellt, die Cassian – sei es in Form monastischer Tradition oder auch persönlich – am offensichtlichsten geprägt haben: Origenes, Evagrius Ponticus und Johannes Chrysostomus (2.2.2–4).27 Alle drei werden in den Collationes nicht namentlich genannt, was einerseits mit der literarisch-narrativen Gestalt des Werkes zusammenhängt, andererseits auch mit der zeitgenössischen Umstrittenheit zumindest der origeneischen und evagrianischen Lehren erklärt werden kann.28 2.2.1 Die Altväter Ägyptens Die Lehrtradition, die Cassians Lehrhandeln am offensichtlichsten geprägt hat, ist die der Altväter Ägyptens: Die Collationes sind als Reden eben dieser Väter in fiktiver Mündlichkeit gestaltet und in den Rahmenerzählungen (s. 3.3) wird ihr Leben und Lehren narrativ entfaltet. Die Betonung muss dabei allerdings auf dem Moment der ‚Gestaltung‘ und der ‚Narrativität‘ liegen: Cassians Vorgehen als Autor ist weder primär von historio- noch von hagiographischem Interesse geprägt, vielmehr geht es ihm um die Vermittlung ideal(isiert)er Lehrbildungen.29 Dies hat einerseits zur Folge, dass sich in den Reden der Altväter immer wieder anachronistische Anspielungen auf die konkrete Situation, in die hinein die Collationes verfasst wurden, finden lassen (s. exemplarisch 4.4.2.4) und dass es andererseits schwer fällt, die von Cassian erzählerisch porträtierten Altväter konkreten historischen Zusammenhängen zuzuordnen, da ein Großteil von ihnen in kaum einer anderen Quelle zu finden ist.30 Dennoch gibt es zahlreiche Anspielungen, die deutlich machen, in welcher Tradition Cassian selbst sein Lehrhandeln begründet wissen möchte. Einerseits werden Altväter und monastische Vorbilder namentlich genannt, die aus anderen Quellen wohlbekannt sind: So wird bspw. erzählerisch auf Antonius Bezug genommen31 und an anderer Stelle werden zwei Antonius zugeschriebene Logien zitiert.32 In coll. 19,9 rekurriert der ansonsten unbekannte Abbas Johannes 27 Auch wenn (besonders) unter 4.4.1 zu zeigen sein wird, wie stark Augustin Cassians Position beeinflusst hat, ist er hier nicht als Lehrer im eigentlichen Sinne zu verhandeln, da er nicht den jungen Cassian geprägt hat, sondern vielmehr während Cassians Zeit in Marseille als (literarischer) Gesprächspartner diente (s. hierzu ausführlich Ramsey 1993, 5–15). 28 Vgl. Stewart 1998, 36. 29 Vgl. Chadwick 1968, 18–20. 30 Eine umfassende Einordnung, über welchen Altvater sich welche Rückschlüsse ziehen lassen, nimmt Stewart 1998, 133–140 vor. Chadwick 1968, 20 lässt sich gar zu der Formulierung, dass es sich bei einem Großteil um „obscure men“ handle, hinreißen. 31 Coll. 2,2, s. 5.1.2 und 6.3. 32 Coll. 9,31, s. 5.6.3.
2.2 Cassian als Schüler
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auf die vier bekannten Mönche (Abbas Moyses, Abbas Paphnutios und die beiden Makarioi), denen es als einzigen gelungen sei, vollständige Vollkommenheit (s. 5.2.2 und 6.3) zu erreichen.33 Anderseits ist die Form der Collationes als solche (s. hierzu auch 2.3.2.2 und 3.2) als eindeutige Reminiszenz an das Milieu und die Lehrtradition, die ab dem 6. Jahrhundert in der Sammlung der Apophthegmata Patrum Niederschlag gefunden haben (s. u.), zu verstehen.34 Die Tradition, auf die Cassian sich so eindrücklich bezieht, geht auf den „erste[n] Mönch“ 35, Antonius (250–356 n. Chr.), zurück und ist geprägt durch den Rückzug von der Welt, radikale Vereinzelung (daher die Bezeichnung μοναχός) in möglichst entlegenen Gebieten, den dortigen Kampf gegen die Dämonen (s. 4.2.4), eine strenge asketische Praxis und intensives Gebet (s. 5.6). Als Ziel dieser Lebensform kann nicht nur die Vorbereitung bzw. der Vorgriff aufs Eschaton gelten, sondern auch und gerade die entschiedene imitatio Christi.36 Die von Antonius vorgelebte Art des Daseins in vollkommener Ausrichtung auf Gott37 fand rasch zahlreiche Bewunderer und Nachahmer, wurde aber auch modifizierend adaptiert: Hier ist vor allem an Pachomius zu denken, den Begründer gemeinschaftlichen (koinobitischen) monastischen Lebens, der das von Antonius vorgelebte hohe Ideal mit praktischen, d. h. sowohl wirtschaftlichen als auch pädagogischen, und biblischen (koinonia als Ideal der Apostelgeschichte) Überlegungen zusammenbrachte.38 Zwischen diesen beiden Polen der radikalen Vereinzelung (Antonius) und der monastischen Gemeinschaft (Pachomius) entwickelte sich bald eine Vielzahl monastischer Schattierungen; so gab es nicht nur überzeugte Anachoreten / Eremiten und Koinobiten, sondern auch Semi-Anachoreten, die in lockeren Zusammenschlüssen und dennoch für sich lebten.39
licet utrumque perfecte abbatem Moysen atque Pafnutium duosque Macarios noue rimus possedisse (543,19 f.). Die beiden Erstgenannten sind mit den Altvätern aus coll. 1 f. (Moyses) und coll. 3 (Paphnutios) gleichzusetzen. Die hier formulierte Hochachtung vor diesen beiden würde erklären, weshalb sie die Sammlung der Collationes eröffnen dürfen. Hinter den beiden ‚Makarioi‘ verbergen sich vermutlich Macarius von Ägypten und Macarius von Alexandria, die z. B. auch in Palladius, h. Laus. 17,1 unter diesem Sammelbegriff aufgeführt werden (vgl. Ramsey 1997, 685). 34 Vgl. Chadwick 1968, 20 f. 35 So der Titel von Gemeinhardt 2013a. 36 Vgl. von Lilienfeld 1994, 152–154 und Köpf 2002b, 1415. Mit dem Begriff imitatio Christi ist auf die Vorstellung angespielt, dass, da es mit dem Ende der Christenverfolgung keine Möglichkeit zum Martyrium mehr gibt, nun die Mönche in die Position der entschiedensten Christen rücken, die bereit sind, nicht nur für Christus zu sterben, sondern sogar ihr gesamtes Leben Gott zu widmen. 37 Über dieses informiert ausführlich die Vita Antonii des Athanasius (vgl. Gemeinhardt 2018). 38 Vgl. Harmless 2004, 122–132. 39 Vgl. Gemeinhardt 2021c, 708 f. 33
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2. T hematische Vorklärungen
Aus diesen monastischen Anfängen erwuchs in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts ein reger monastischer – jedoch bewusst nicht institutionalisierter (s. 3.1.1) – ‚Lehrbetrieb‘, als dessen Schüler und Zeuge auch Johannes Cassian gelten kann und dessen Gestalt sich lediglich aus den deutlich später zusammengestellten Apophthegmata Patrum (s. o.) rekonstruieren lässt. Diese begegnen sowohl in einer alphabetischen als auch einer systematischen Sammlung und enthalten mehr als 1000 Sprüche von ca. 130 berühmten Vätern der ägyptischen Wüste, vorrangig der Sketis, die auf nahezu alle Aspekte des monastischen Lebens eingehen.40 Die Struktur, die all diesen kurzen Sentenzen und Erzählungen zugrunde liegt, ist ähnlich: Ein jüngerer Mönch nähert sich einem älteren und bittet ihn um ein Wort bzw. einen Rat. Der Ältere antwortet dem Jüngeren darauf i.d.R. sehr knapp, manchmal nur mit einem einzigen Bibelvers. Begründungen und Erklärungen fehlen meist gänzlich.41 Dieses Lehrsetting, das hier lediglich angerissen werden kann,42 zeigt, dass es vor allem von drei Faktoren geprägt war (s. hierzu ausführlich auch 5.5.1): Spontaneität bzw. Situativität (der Altvater reagiert in der Situation individuell auf das Anliegen des Ratsuchenden), Oralität (der Altvater ‚gibt ein Wort‘, auch das Bibelwort erlangt erst durch das in-die- Situation-gesprochen-Werden finale Bedeutung für den Schüler; s. auch 5.5.1)43 und Charisma (der Schüler traut dem Altvater aufgrund dessen Erfahrung, Alter oder Lebensweise eine besondere Lehrautorität zu; s. auch 5.3.2). Da eine erste, deutlich kleinere Sammlung von Vätersprüchen bereits Eva grius Ponticus (s. 2.2.3) zuzuschreiben ist,44 ist davon auszugehen, dass Cassian das beschriebene Lehrsetting nicht nur aus eigener Erfahrung kannte, sondern durch seinen Lehrer bereits mit ersten Versuchen, dieses für die Nachwelt festzuhalten, vertraut war. Diese doppelte (praktische und literarische) Prägung, sowie die Herausforderung, das monastische Lernen, Denken und Wissen der ägyptischen Wüste für eine südgallische Leserschaft anschlussfähig zu machen, mag erklären, wie aus den äußerst knappen Vätersprüchen die voluminösen Colla tiones werden konnten, wie Spontaneität und Oralität von Tradition und Literatur abgelöst wurden.
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Vgl. Harmless 2004, 169 f. Vgl. Harmless 2004, 171. 42 Harmless 2004, 170 verweist auf die umfangreiche Forschung, die im 20. Jahrhundert zu den Apophthegmata getrieben wurde. 43 „Vater, gib mir ein Wort“ ist der gebräuchliche Auftakt eines solchen Lehrgespräches (vgl. Harmless 2004, 171). 44 Vgl. Bunge 2008, 297 f. 41
2.2 Cassian als Schüler
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2.2.2 Origenes, Origenismus und origenistischer Streit Unter 2.1 wurde bereits deutlich, dass Cassian und Germanus die ägyptische Wüste aufgrund der origenistischen Streitigkeiten verlassen mussten und anschließend Zuflucht im pro-origenistischen Umfeld Konstantinopels zur Zeit des Bischofs Johannes Chrysostomus fanden. Dieser Umstand sowie zahlreiche Anspielungen auf das Werk des Origenes innerhalb der Collationes (s. u.) machen deutlich, dass Origenes (185–253/4 n. Chr.) natürlich kein persönlicher Lehrer Cassians war, wohl aber durch (literarische und mündliche) Tradition großen Einfluss auf ihn hatte. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass ‚der‘ origenistische Streit vielmehr ein Sammelbegriff für eine Reihe theologisch-monastischer Streitfragen des späten 4. Jahrhunderts ist, die oft nur noch indirekt mit ihrem Namensgeber in Beziehung gebracht werden können.45 Oft wurde die Bezeichnung „origenistisch“ lediglich genutzt, um einen theologischen Gegner zu diskreditieren.46 Zentrale T hemenkomplexe, um die gestritten wurde, waren u.a. die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Vater und Sohn,47 das Problem der (anthropomorphen) Gestalt Gottes (s. 5.6.4) oder die Frage, ob und welche Bedeutung die (vergäng liche) Körperlichkeit des Menschen für die Wahrnehmung und Entwicklung seines (wahren) Selbst haben kann.48 Diese exemplarisch aufgeführten T hemenkomplexe deuten bereits darauf hin, dass auf der Metaebene auch zur Diskussion stand, wie theoretisch bzw. abstrakt der Mönch T heologie treiben sollte und ob dazu gar ein gewisser Grad an Bildung von Nutzen sein könnte (s. 3.1.1). Zu der auch Cassian betreffenden Eskalation des Streits kam es 399 n. Chr. mit dem Festbrief des Bischofs T heophilus von Alexandrien, auf den Cassian zu Beginn von coll. 10 Bezug nimmt.49 In diesem Schreiben wandte der Bischof sich entschieden gegen die Anthropomorphitarum haeresia (287,8), was ihm wiederum von einem Großteil der ägyptischen Mönche den Vorwurf einbrachte, sich zum Gegner der Heiligen Schrift zu machen. Als der kluge Kirchenpolitiker T heophilus bemerkte, was er mit diesem Schreiben angerichtet hatte, das die mittlerweile einflussreiche und recht große Gruppe der Wüstenmönche gegen ihn aufgebracht hatte, änderte er seine Auffassung grundlegend und stritt fortan gegen die „Origenisten“ rund um die „langen Brüder“.50 Dabei erklärte er 45
Vgl. Clark 1992, 6 f. Vgl. Williams 1995, 415 f. 47 Hier ist vor allem auf Epiphanius zu verweisen, der in seinem Panarion omnium hae resium versucht, Origenes zum Wegbereiter des ‚Arianismus‘ zu erklären (vgl. Lyman 1997, 445–451). 48 Vgl. Clark 1992, 4 f. 49 Vgl. Ramelli 2020. 50 Vgl. Brändle 1999, 107 f. Als „lange Brüder“ werden Ammonius, Dioscurus, Eusebius und Euthymius bezeichnet, origenistische Mönche von beachtlicher Körpergröße, die sich als wortführend im Streit gegen T heophilus erwiesen und nahezu zeitgleich mit Cassian 46
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2. T hematische Vorklärungen
die vermeintliche Häresie des Origenes zur unmittelbaren Ursache der in vielen Klöstern schwelenden Unstimmigkeiten,51 was dazu führte, dass etwa 300 origenistische Mönche gewaltsam aus den ägyptischen Mönchssiedlungen vertrieben wurden.52 Origenes’ T heologie, auf die sich die streitenden Parteien des 4. Jahrhunderts mehr oder weniger explizit beriefen, wird nachfolgend lediglich im Blick auf die Punkte referiert, die in offensichtlicher Weise Cassians Werk beeinflussen: Die mit Sicherheit populärste Bezugnahme Cassians auf Origenes ist im mehrfachen Schriftsinn zu finden. Hier kann einerseits auf die klare, theoretische Darlegung eines drei- bzw. vierfachen Schriftsinnes verwiesen werden (s. 5.5.2) und andererseits auf die praktische Anwendung bestimmter Interpretationsmuster, wie etwa der allegorischen Auslegung, die die Wüstenwanderung Israels mit dem individuellen Fortschritt des Mönches vergleicht (s. 4.2.2). Etwas weniger offensichtlich, aber nicht minder bedeutsam ist der Einfluss von Origenes’ Anthropologie auf Cassians Darstellung der Voraussetzungen monastischer Bildung: Unter 4.1.1 wird zu zeigen sein, dass die Konzeption eines interior homo – einem zentralen Punkt der cassianschen Bildungsvorstellungen – zu großen Teilen auf Origenes zurückgeht. Auch Cassians Position in Fragen der Willensfreiheit (s. 4.4.1), einer bedeutsamen Zuspitzung der Rede vom Inneren Menschen, ist zweifelsfrei auf Origenes zurückzuführen. Dabei ist jedoch festzustellen, dass Cassian Origenes’ Denken zwar aufnimmt, jedoch nicht unreflektiert kopiert, sondern bewusst und unter Berücksichtigung weiterer Traditionen und situativer Umstände weiterdenkt. Diese Beobachtung lässt überlegen, zu welchem Grad Cassian tatsächlich mit den Schriften des Origenes vertraut war (eine Lektüre wäre bspw. während seines Aufenthalts in Konstantinopel denkbar) oder ob es sich vielmehr um eine Beeinflussung durch eine allgemeine(re) origentistische T heologie, wie sie z. B. durch Cassians vielleicht prägendsten Lehrer, Evagrius Ponticus (s. 2.2.3) vertreten wurde, handelt. 2.2.3 Evagrius Ponticus Treffender als O. Chadwick könnte man Evagrius Ponticus’ (345–399 n. Chr.) Rolle in Cassians theologischer Entwicklung kaum beschreiben: „One Origenist [s. 2.2.2] was not only the Origenist of the desert above all others, but the
aus der ägyptischen Wüste nach Konstantinopel flohen, um dort bei Johannes Chrysostomus Zuflucht zu suchen (s. auch 2.1 und 2.2.4; vgl. Casiday 2006, 14 und Brändle 1999, 104–110). Hübner 2021, 49 weist darauf hin, dass der Sinneswandel des T heophilus weniger kirchenpolitisch motiviert gewesen sei, als vielmehr durch Angst vor gewaltbereiten An thropomorphiten. 51 Vgl. Casiday 2006, 14. 52 Vgl. Ramelli 2020.
2.2 Cassian als Schüler
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leading Greek theorist of the monastic life.“53 Genau wie Origenes findet jedoch auch Evagrius keine namentliche Erwähnung in den Collationes, zentrale Passagen wie die Achtlasterlehre (s. 4.2.3) oder die Konzeption des geistigen Aufstiegs über πρακτική und θεωρητική zur scientia spiritalis (s. 6.2) gehen jedoch zweifelsfrei auf ihn zurück, wie an den entsprechenden Stellen der vorliegenden Untersuchung zu zeigen sein wird. Teils wird in der Forschung sogar diskutiert, ob Evagrius unter dem Pseudonym Photin einen Gastauftritt in coll. 10,3, dem Exkurs über den anthropomorphitischen Streit, habe (s. 5.6.4). Umfassend hat R. Marsili zur Abhängigkeit Cassians von Evagrius Ponticus gearbeitet und kommt zu dem Schluss, dass Cassians T heologie auf den gleichen Säulen baue wie die des Evagrius („Purificazione e visione, carità e contempla zione“54) und dass Cassian somit als der Begründer einer evagrianisch-mystischen Spiritualität im lateinischen Sprachraum zu gelten habe.55 C. Stewart merkt jedoch an, dass Cassian weit mehr als ein „translator“ 56 evagrianischer Gedanken in die westliche Welt war und dass seine Weiterentwicklung bestimmter Lehrstücke fast noch bedeutsamer sei als deren bloße Weitergabe. Bevor er durch theologische Werke bekannt wurde, hatte Evagrius, der Sohn eines Chorbischofs, eine traditionelle pagane Bildung genossen, wobei er sich als besonders begabter Rhetoriker hervortat.57 Während seiner Ausbildungszeit in Neocaesarea schloss er Bekanntschaft mit Gregor von Nazianz und Basilius von Caesarea, wobei letzterer ihn vermutlich für das monastische Leben begeisterte.58 379 n. Chr. folgte Evagrius seinem Lehrer Gregor von Nazianz nach Konstantinopel, der ihn dort zum Diakon weihte.59 Aufgrund einer unglücklichen Affäre mit der Frau eines hohen Beamten schien es Evagrius 381 n. Chr. geboten, die Hauptstadt zu verlassen.60 Er brach zunächst nach Jerusalem auf, wo er Bekanntschaft mit Melania der Älteren und Rufin von Aquileia machte und sein monastisches Gelübde erneuerte.61 Evagrius reiste, angezogen von der Weisheit 53 Chadwick 1968, 25. Kalvesmaki / Young 2015, 2–4. machen sich hingegen dafür stark, Evagrius weder auf das Label ‚Origenist / Häretiker‘ noch auf seine Tätigkeit als monastischer Schriftsteller zu reduzieren. Vielmehr müsse auch der Teil seines Lebens, der ihn als „cosmopolitan intellectual“ erscheinen lässt, berücksichtigt werden. 54 Marsili 1936, 158. 55 Vgl. Marsili 1936, 164. 56 Vgl. Stewart 1998, 36. 57 Vgl. Casiday 2006, 6. 58 Vgl. Casiday 2006, 6 f.; vgl. Konstantinovsky 2009, 12–15 zur theologischen Verbindung zwischen Evagrius und den Kappadokiern. AaO., 18 f. wird diskutiert, ob das „Origenistische“ an Evagrius’ Werk auch als „kappadokisch“ gewertet werden könnte. 59 Vgl. Konstantinovsky 2009, 13. 60 Vgl. Guillaumont 1982, 568. 61 Vgl. Casiday 2006, 8 f.; Melania und Rufin gründeten und leiteten klösterliche Gemeinschaften in Jerusalem und repräsentieren eine origenistische / bildungsaffine monastische T heologie, die sich u.a. in einer intensiven Auseinadersetzung mit der Heiligen Schrift ausdrückte (vgl. Henry 1998, 461 f.).
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2. T hematische Vorklärungen
der Altväter, nach Ägypten, wo er zunächst Teil der monastischen Gemeinschaft der Nitria war und dann in die Kellia weiterzog. So lernte er zunächst einen strukturierten Tagesablauf mit Handarbeit und Psalmgebet kennen, später beschäftigte er sich verstärkt mit der Heiligen Schrift, für die bereits Rufin sein Interesse geweckt hatte.62 In diese Zeit ist auch die Bekanntschaft zwischen Evagrius und Cassian, der als direkter Schüler des Evagrius gelten kann, zu datieren.63 Dies zeigt sich an Grundmotiven der monastischen T heorie Cassians, aber auch daran, dass und wie Evagrius das Mönchsleben als Bildungsprozess auffasste. A. M. C. Casiday arbeitet eine Definition von Evagrius religiösem Bildungsverständnis heraus, die sich zu großen Teilen auch für Cassians Werk als anschlussfähig erweist: „For Evagrius, theology is an undertaking that occurs within a community (it is social), as a learned and experienced teacher instructs a disciple (pedagogical) about how to live (practical) in such a way as to be constantly oriented toward God (contemplative). T he foundations of Evagrian theology are therefore edifying dialogue and the habit of moral reform, both of which facilitate communion with God.“64
Im Verlauf der vorliegenden Untersuchung wird deutlich, dass Cassian nicht nur inhaltlich auf seinen Lehrer Bezug nimmt, sondern auch dessen soeben skizziertes Bildungsverständnis adaptiert und einen sozialen wie pädagogisch durchdachten Entwurf der Ausrichtung des praktischen und kontemplativen Lebens auf Gott hin bietet. 2.2.4 Johannes Chrysostomus Origenes und Evagrius Ponticus stehen als Cassians theologische Lehrer und Vorbilder mit ihrem Einfluss auf sein Werk durch den mehrfachen Schriftsinn und den stufenweisen Aufstieg zur Vollkommenheit offensichtlich vor Augen, auch wenn sie nicht namentlich bzw. nur verklausuliert genannt werden. Wie aber verhält es sich mit Johannes Chrysostomus? In Cassians monastischen Werken findet dieser keine Erwähnung, anders verhält es sich mit der später entstehenden christologischen Streitschrift De incarnatione.65 Dennoch lassen sich m. E. bestimmte Überlegungen und Argumentationswege der Collationes ebenfalls eher auf seine Zeit in der Kaiserstadt Konstantinopel als auf den Aufenthalt in der ägyptischen Wüste zurückführen.66 62
Vgl. Casiday 2006, 9–11. Vgl. Casiday 2006, 11 64 Casiday 2006, 7. 65 S. o. Kapitel 2, Anm. 19. 66 Dem widersprechen Rousseau 1978, 170 f.: „It may well be true that Chrysostom had no direct literary influence on Cassians’s works“, und Chadwick 1968, 31: „But his dependence upon Chrysostom was rather personal than literary. If he read the works of Chrysostom he does not reveal the knowledge in his own books.“ Dem ist m. E. entgegenzu63
2.2 Cassian als Schüler
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C. Broc weist diese chrysostomischen Einflüsse für De incarnatione nach,67 einige ihrer Argumente lassen sich jedoch ebenso auf die Collationes übertragen. Dies gilt besonders für ihre Beobachtungen zur schriftbezogenen Rhetorik, die Chrysostomus und Cassian in vergleichbarer Weise anzuwenden wissen.68 Sie beschreibt, wie Chrysostomus biblische Figuren narrativ derart präsentiert, dass diese scheinbar direkt – und natürlich ablehnend – auf häretische Positionen reagieren.69 Diesen erzählerischen Zug findet sie exemplarisch in De incarnati one contra Nestorium 2,6, hier lässt Cassian Zacharias (Lk 1,35) Argumente für eine Bezeichnung Marias als theotokos vorbringen. Ganz ähnlich und mit einer Reihe weiterer Beispiele argumentiert M.-A. Vannier.70 Auch sie bezieht sich vorrangig auf Parallelen zwischen De incarnatione und einer Schriftauslegung im Stil des Chrysostomus. Hieraus zieht sie jedoch einige Schlussfolgerungen, die von allgemeinerer Gültigkeit sind: So hält sie beispielsweise fest, dass Cassians Schriftauslegung sich zwar vorrangig aus einer alexandrinischen Tradition im Stile des Origenes speise, aber auch deutlich sichtbar antiochenische Züge trüge, die auf Chrysostomus zurückgingen.71 Einen Unterschied zwischen Cassian und Chrysostomus sieht sie darin, dass Chrysostomus den Kontext der je zu zitierenden oder zu predigenden Perikope noch stärker berücksichtigt als Cassian. Dieser wiederum reflektiere stärker als Chrysostomus über die verschiedenen Wege der Schriftauslegung (s. 5.5, bes. 5.5.3).72 Diese exemplarischen Beobachtungen lassen vermuten, dass Cassian von Chrysostomus vor allen Dingen eines gelernt hat: Die Kunst des bildhaften und mitreißenden – quasi predigtartigen – Erzählens.73 Es drängt sich die Vermutung auf, dass Cassian während seiner vier Jahre in Konstantinopel nicht nur die geschliffene Argumentation von Chrysostomus erlernt, sondern auch grund legende pädagogische Überlegungen übernommen hat. Dieses Konzept einer stellen, dass deshalb keine direkten literarischen Bezüge zu erkennen sind, da ein Großteil der theologischen Auseinandersetzung Cassians mit Chrysostomus mündlich – sei es durch das Hören von dessen Predigten oder im Gespräch zwischen Bischof und Diakon – stattgefunden haben wird. 67 Broc 2003, 39–44. 68 Vgl. Broc 2003, 41 f. 69 Vgl. Broc 2003, 41. 70 Vannier 1995; in Bezug auf die Beispiele sei besonders auf 458 f. verwiesen: Hier schlüsselt Vannier auf, wie sich in De incarnatione contra Nestorium polemische, an die Schrift und an andere Autoritäten gebundene Argumente zueinander verhalten. 71 Vgl. Vannier 1995, 456.461. 72 Vgl. Vannier 1995, 456.461; Vannier verweist hier auf coll. 14,8, was m. E. jedoch genauso auf coll. 8,3 zu beziehen wäre (s. 5.5.2). 73 Zu Chrysostomus pädagogisch-motivierter Erzähltechnik vgl. Heyden 2014b, bes. 58–65. Auf Heyden 2014b Bezug nehmend untersucht Lorgeoux 2019, 135–142 anhand konkreter Beispiele die Erzähltechnik des Chrysostomus in unterschiedlichen Zusammenhängen und kommt u.a. zu dem Schluss, dass Chrysostomus bewusst über „Möglichkeiten und Strategien einer Wiedererzählung reflektiert“ habe (aaO., 143).
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2. T hematische Vorklärungen
„Divine Pedagogy“ des Chrysostomus arbeitet D. Rylaarsdam74 so präzise heraus, dass sich auch hier Parallelen zu Cassians pädagogisch-erzählerischem Vorgehen in den Collationes erkennen lassen: Rylaarsdam präsentiert Chrysostomus als einen „Christian philosopher who sought to transform classical paideia“75, wobei er ein besonderes Gewicht darauf legt, dass Chrysostomus „adopted and adapted the conventions of Greco-Roman rhetoric in his exegesis“76, um sodann zu zeigen, dass sich ein vergleichbares Vorgehen nicht nur für die Exegese, sondern für die gesamte T heologie des Chrysostomus nachweisen lässt. Zentral ist dabei der Begriff der „adaptability“77, der Anpassungsfähigkeit bzw. Anwendungsbezogenheit von Vorstellungen und Methoden, die von der traditionellen paideia auf das Christentum übertragen werden. Rylaarsdam identifiziert dabei ein „creative adjustment of the pedagogical categories of philosophical rhetoric in order to depict the character and economy of god“ 78. Traditionelle pagane Strategien und Methoden der Auslegung und Vermittlung von Schrift(en) dienen dabei vor allem einem Ziel: der Überzeugung der Hörenden.79 Hieran wird bereits deutlich, dass Chrysostomus’ Einfluss auf Cassians Gesamtwerk keinesfalls unterschätzt werden darf, auch wenn sich keine so offensichtlichen thematischen Parallelen wie zu Evagrius und Origenes ziehen lassen: Während deren Einfluss besonders anhand bestimmter Lehrstücke und Argumente deutlich wird, ist Chrysostomus’ Prägung m. E. eher in Stil und Struktur der Collationes – quasi in der Rhetorik – zu finden. 2.3 Cassian als Lehrer Bisher wurde rückblickend dargestellt, welche Personen und theologisch-monastischen Strömungen Cassian geprägt haben. Nun ist der Blick auf das Umfeld der Adressaten Cassians zu richten und zu fragen, in welche Kontexte hinein Cassian schreibt und wen Cassian durch sein Werk, besonders natürlich durch die Collationes, prägt (2.3.1). Dabei werden nicht nur die Adressaten, die Cassian in den Prologen nennt, in den Blick zu nehmen sein, sondern auch das weitere Umfeld des Mönchtums in Südgallien zu Beginn des 5. Jahrhunderts. Cassians Selbstdarstellung als monastischer Lehrer wird an dieser Stelle nur kurz angerissen, um unter 5.3.1 genauer untersucht zu werden. Nachdem so das Sett ing, in dem die drei literarischen Werke Cassians entstanden sind, erschlossen wurde, werden diese im Blick auf Entstehung, Gattung und Inhalt näher betrachtet (2.3.2.1–2.3.2.3). 74
Rylaarsdam 2014. Rylaarsdam 2014, xii. 76 Rylaarsdam 2014, 4. 77 Rylaarsdam 2014, 5. 78 Rylaarsdam 2014, 5. 79 Vgl. Rylaarsdam 2014, 7.
75
2.3 Cassian als Lehrer
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2.3.1 Cassian in Südgallien – Umfeld und Vernetzung Auch wenn Cassian selbst seine Leserschaft im Prolog der Instituta anderes glauben machen möchte (s. u.), gab es, als Cassian um 415 n. Chr. in Marseille eintraf (s. 2.1), in der Region und ganz Gallien bereits ein vielfältiges monastisches Leben: Im Folgenden wird auf das Martinsmönchtum, das sich in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts rund um Tours, genauer: um das Kloster Marmoutier, ausbreitete und das Inselmönchtum von Lérins, das um 410 n. Chr. durch Honoratus (s. auch unten zum zweiten Prolog der Collationes) begründet wurde und bereits großes Interesse an einer Adaption ägyptisch-monastischer Gepflogenheiten zeigte, einzugehen sein. Über Leben und Wirken des Martin von Tours (316–397 n. Chr.) informieren die Schriften des Sulpicius Severus, der Martins Vita noch vor dessen Tod verfasste und damit die älteste Beschreibung einer monastischen Gemeinschaft in Gallien bietet.80 Am Beispiel Martins entwickelt er das Ideal des Mönchsbischofs,81 das für die monastische wie für die kirchliche Tradition in (Süd-)Gallien prägend werden sollte: Martin, von Jugend an zu einem asketischen Leben hingezogen, wurde 370 n. Chr. gegen seinen Willen zum Bischof von Tours geweiht.82 Aber auch nach der Bischofswahl zeigte er sich weltlichem Ruhm und Prunk gegenüber immun83 und begründetet stattdessen außerhalb von Tours, sehr abgelegen, ein Kloster, in dem sich alsbald achtzig Brüder sammelten, die auf Eigentum verzichteten, genau wie auf jede Art der Handarbeit, ausgenommen von Schreibarbeiten, die außerhalb des Gottesdienstes keine Gemeinschaft pflegten und die in Gebet und Demut lebten.84 M.-E. Brunert zeigt, wie Sulpicius Severus sich bei der Schilderung dieser monastischen Gemeinschaft Motiven (z. B. Einsamkeit, strengste Askese, Wundertätigkeit) bedient, die bspw. aus der Vita Antonii (s. 2.2.1) bekannt sind, und diese zu überbieten bemüht ist, um seinen Helden Martin noch heller strahlen zu lassen.85 Dabei ist jedoch zu bedenken, dass sowohl der Autor Sulpicius Severus als auch seine Adressaten die bewunderten Ideale lediglich aus der Literatur86 kennen und diese vor ihrem 80
Vgl. Brunert 1994, 145.170. Dieses Phänomen an sich ist nicht neu, Brunert 1994, 163 f. verweist auf diverse Parallelen sowohl in der östlichen Tradition, wie auch in der westlichen, als deren prominentester Vertreter mit Sicherheit Augustin mit der Gründung des Klerikerklosters in Hippo zu gelten hat. Allerdings macht sie deutlich (aaO., 164), dass es sich bei Sulpicius’ Darstellung um den ersten Niederschlag dieses Phänomens in einer Heiligenvita handelt, bislang sei diese Gattung „asketisch lebenden Anachoreten“ vorbehalten gewesen. 82 Vgl. Brunert 1994, 163. 83 Exemplarisch macht Sulpicius Severus dies in Mart. 20 deutlich, indem er beschreibt, wie Martin die Tischgemeinschaft mit Kaiser Maximus verweigert. 84 Sulpicius Severus, Mart. 10; Pietri 1992, 195 sieht in dieser Lebensgestaltung Anklänge an die Pachomius-Regeln (s. 2.2.1). 85 Supl. Sev., dial. 1,26,1; vgl. Brunert 1994, 166–170. 86 Es ist davon auszugehen, dass weder Martin selbst noch sein Biograph direkten Kon81
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2. T hematische Vorklärungen
eigenen Hintergrund87 weiterverarbeiten, sodass das Martinsmönchtum – wie Sulpicius Severus es schildert – primär als westliche Reflexion, nicht als umfassende Adaption – wie es bei Cassian der Fall ist – eines Ideals zu verstehen ist. Ebenso interessiert an den ägyptisch-monastischen Ursprüngen zeigt sich die andere zentrale monastische Gründergestalt der südgallischen Spätantike – Honoratus von Arles: Wie sein Neffe, Schüler und Biograph Hilarius von Arles im Sermo de Vita S. Honorati episcopi Arelatensis berichtet,88 hat Honoratus als junger Mann selbst eine Reise unternommen, um die bewunderten Altväter aus nächster Nähe zu erleben.89 Inspiriert von diesen, gründete er schließlich um 410 n. Chr.90 die monastische Gemeinschaft auf Lerinum / Lérins, der kleineren von zwei Cannes vorgelagerten Inseln – auch hier ist, wie bei Martin, der Wunsch nach größtmöglichem Rückzug zu erkennen.91 F. Jung verweist auf die sehr schmale Quellenlage und die Tatsache, dass es sich bei dem zitierten Sermo nicht primär um eine Beschreibung der Gemeinschaft von Lérins, sondern um eine Lobrede auf ihren Gründer handelt.92 Dennoch lässt sich anhand einiger Anhaltspunkte rekonstruieren, wie das Leben auf Lérins in etwa ausgesehen haben mag: Es ist von einer recht großen, feststehenden Gemeinschaft93 auszugehen, die immer wieder von zahlreichen Besuchern und Reisenden, die sich von der charismatischen Leitfigur des Honoratus angezogen fühlten, ergänzt wurde.94 F. Jung relativiert die T hese F. Prinz’, dass diese Beobachtung ein Indiz dafür sei, dass Lérins als „Flüchtlingskloster“, in dem sich vor Barbareneinfällen Fliehende gesammelt hätten, gedient habe. Zwar sei die zeitliche Parallelität takt zu den bewundernd-überbietend dargestellten Traditionen der ägyptischen Wüstenväter hatten. Sulpicius Severus stammte aus einer wohlhabenden Familie in Aquitanien, war hochgebildeter Anwalt und entschloss sich erst nach der Bekanntschaft mit Martin (393/4 n. Chr.) und Paulinus von Nola auf seinem Landgut ein durch maßvolle Askese geprägtes christliches Leben zu führen (vgl. Brunert 1994, 145 f.). 87 Brunert 1994, 149–151 argumentiert, dass Sulpicius Severus nicht nur Bewunderer, sondern auch Kritiker Martins adressiert habe. Hier sind nicht nur Bischöfe zu vermuten, sondern auch solche Menschen, die bisher eher der „unnützen Philosophie“ (aaO., 150), als dem christlichen Glauben anhingen. Adressiert wurden vor allem die „gebildeten Kreise der Oberschicht“ (ebd.), die mit einer gehobenen Sprache vertraut waren (s. hierzu auch Kapitel 3, Anm. 49). 88 Honoratus lebte von ca. 370–430 n. Chr., Hilarius von 401–449 n. Chr.; zum verwandtschaftlichen, didaktischen und spirituellen Verhältnis der beiden vgl. Jung 2013, 20 f., der Sermo wurde am ersten Todestag des Honoratus gehalten (vgl. Jung 2013, 39). 89 Hilarius von Arles, V. Hon. 12–14; ausführlich zu dieser Reise und der Frage, wohin sie Honoratus genau geführt haben mag, s. Kapitel 5, Anm. 32. 90 Vgl. Jung 2013, 93. 91 Vgl. Jung 2013, 83–85. 92 Vgl. Jung 2013, 96; zur Frage, ob und ab wann von einer feststehenden Klosterregel ausgegangen werden kann, vgl. Jung 2013, 100–103. 93 Wobei nicht zweifelsfrei geklärt werden kann, ob diese von Beginn an koinobitisch lebte oder ob für die Anfänge des Leriner Inselmönchtums nicht eher ein lockerer, semi-anachoretischer Zusammenschluss anzunehmen ist (vgl. Jung 2013, 99 f.). 94 Vgl. Jung 2013, 97.
2.3 Cassian als Lehrer
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des Schwindens römischer Strukturen in den nördlichen Landesteilen und des Wachsens der Gemeinschaft von Lérins nicht zu leugnen, jedoch dürften darüber die inhaltlichen / spirituellen Beweggründe der Zufluchtsuchenden nicht vergessen werden.95 Das Leben der Gemeinschaft von Lérins war strikt hierarchisch organisiert und auf die zentrale Leitfigur ausgerichtet, deren Autorität jedoch nicht primär institutionell verankert, sondern charismatisch begründet war.96 Ein wichtiger Aspekt des gemeinschaftlichen Lebens auf Lérins war die rege Lehrtätigkeit des Oberen, der jedoch nicht nur monastisches Wissen, sondern auch eine „klassisch-aristokratische Bildung“97 zu vermitteln wusste.98 Von diesen beiden zentralen Gestalten – Martin und Honoratus – ausgehend, entwickelten sich im 5. Jahrhundert zwei große, monastische Strömungen in Gallien: Das aquitanische Mönchtum und das Rhonemönchtum, in deren Schriften so gut wie keine Bezugnahmen aufeinander zu entdecken sind.99 Dennoch scheint es übereilt, aus diesem Sachverhalt sich nahezu feindlich gegenüberstehende ‚Gegenbewegungen‘ konstruieren zu wollen,100 vielmehr erscheinen sie als regional und situationsbedingt unterschiedlich ausgeprägte Antworten auf vergleichbare Fragen und Bedürfnisse: Diese ergaben sich u.a. aus den Umbrüchen, die mit dem Ende der römischen Herrschaft über Gallien, das mit dem Einfall der Goten aus dem Norden 405/6 n. Chr. begann, einhergingen.101 Als Folge der beginnenden Umbrüche verloren sichergeglaubte soziale, politische und kulturelle Strukturen an Bedeutung. Staatliche Karrierechancen schwanden und die dorthin führenden Bildungsvorstellungen verloren an Erfolgsaussichten. An die Stelle der paideia, die für ein erfolgreiches Durchschreiten der römischen Ämterlaufbahn notwendig war (s. 3.1.1), traten neue Ideale, wie das oben am Beispiel Martins beschriebene Leitbild des Mönchsbischofs, die die entstehenden Klöster zu karrierefördernden Bildungseinrichtungen werden ließen. Am Beispiel von Lérins wird deutlich, dass es sich hierbei nicht unbedingt um einen radikalen Bruch, sondern vielmehr um eine Integration bekannter (Bildungs-)Vorstellun 95 Vgl. Jung 2013, 98; umfassender, aber mit ähnlichem Ergebnis, wird diese T hese bei Kasper 1991, 147–152 diskutiert; vgl. Prinz 21988, 47–58. 96 Vgl. Jung 2013, 104. Kasper 1991, 60 f. macht deutlich, dass diese Konstruktion von Autorität stärker östlichen als westlichen Vorbildern folgt. 97 Jung 2013, 122. 98 Auch Greschat 2006, 334 f. hebt hervor, dass sich die Schriften aus dem Umfeld von Lérins durch eine hohe Bildungsaffinität auszeichnen, was sie wiederum von dem zuvor ausgemachten Vorbild der Wüstenväter (s. hierzu 3.1.1) deutlich unterscheidet und auf die Herkunft ihrer Verfasser aus der aristokratischen Oberschicht verweist. Weitere zentrale Elemente des monastischen Lebens auf Lérins waren – ähnlich wie bereits am Beispiel Martins geschildert – Besitzverzicht, eine intensive Gebetspraxis, gemeinsamer Gottesdienst sowie Demut bzw. Gehorsam gegenüber dem Oberen, während Handarbeit eine eher untergeordnete Rolle spielte (vgl. Jung 2013, 118–122). 99 Vgl. Jung 2013, 124 f. 100 Vgl. Jung 2013, 124 in Abgrenzung z. B. zu Puzicha 2010, 14–18. 101 Vgl. Goodrich 2007, 11.
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2. T hematische Vorklärungen
gen in neue (monastische) Lebensformen handelt. R. Goodrich bringt dies auf den Punkt: „T heir [Hilarius und Sulpicius Severus, s. o.] works were attractive models, mapping a new heavenly cursus honorum, one that did not end in death, but rather allowed the elite man or woman to grasp their highest honours for eternity. In a world where traditional prerogatives and perquisites were under siege, this presentation of an alternate career must have been extremely attractive.“102
Trotz dieser mannigfaltigen monastischen Voraussetzungen, auf die Cassian in den Prologen der Collationes (s. u.) explizit Bezug nimmt, imaginiert er im Prolog der Instituta zunächst noch ein monastisches Vakuum, um den seiner Einschätzung nach gravierenden Qualitätsunterschied zwischen den vorhandenen monastischen Einrichtungen und der Tradition, die er zu überliefern gebeten wurde, zu markieren:103 „In einem Gebiet ohne Klöster willst du die Lebensweise der Orientalen und Ägypter einführen. … Du möchtest, daß ich die Lebensweise der Klöster, die wir in Ägypten und Palästina kennenlernen konnten und wie sie uns von den Vätern übergeben wurde, in hilflosem Stil niederschreibe … Du willst das einfache Leben der Heiligen in einfacher Weise für die Brüder im neuen Kloster dargelegt haben.“104
Der Auftraggeber der Instituta, dem gegenüber Cassian seine Vorbehalte gegenüber dem gallischen Klosterwesen so zum Ausdruck bringt, ist Castor von Apt. Über Castor ist wenig bekannt, außer dass er offensichtlich Bischof von Apta Julia war, während Cassian die Instituta verfasste (ca. 420 n. Chr.) und verstarb, bevor der erste Teilband der Collationes abgeschlossen war (ca. 425 n. Chr., s. u.).105 R. Goodrich arbeitet heraus, dass Castor von Apt damit als Schlüsselfigur zu gelten hat, die Cassian Stimme und Bedeutung im südgallisch-monastischen Diskurs des frühen 5. Jahrhunderts verlieh.106 Cassian selbst vergleicht sein Verhältnis zu Castor von Apt in eindrücklicher Weise mit dem zwischen Hyram und Salomo (1Kön 5): Castor wird dabei zu Salomo, dem Erbauer des Tempels, und Cassian zu Hyram, dem aus dem Ausland hinzugezogenen Helfer und Ratgeber, der Salomo bei der Umsetzung seiner göttlich inspirierten Pläne unterstützt (Praef. 1). So macht Cassian einerseits deutlich, dass nicht er, sondern allein Gott Urheber des zu vermittelnden Wissens ist (s. 5.3.1), dass aber andererseits ohne 102
Goodrich 2007, 31; ähnlich auch Leyser 1994, 80. Vgl. Stewart 1998, 17. 104 Frank 1975, 115; Johannes Cassian, Inst. Praef. 3 (CSEL 17, 4,8–17 Petschenig / Kreuz): in prouincia siquidem coenobiorum experti Orientalium maximeque Aegyptiorum uolens instituta fundari … me quoque elinguem et pauperem sermone atque scientia, ut aliquid ad explementum tui desiderii de inopia sensus mei conferam, poscis praecipisque ut instituta monasteriorum, quae per Aegyptum ac Palaestinam custodiri conspeximus, ita ut ibi nobis a patribus tradita sunt. 105 Vgl. Goodrich 2007, 33 (Anm. 5). 106 Vgl. Goodrich 2007, 37; ausführlich zu den Prologen ders. 2005. 103
2.3 Cassian als Lehrer
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seine tatkräftige Unterstützung dieses Wissen nicht in die Tat umgesetzt werden kann.107 Im weiteren Verlauf des Prologs der Instituta verweist Cassian auf monastische Literatur, die ihm und offensichtlich auch seinem Adressaten bekannt gewesen sein dürfte: „Es kommt noch hinzu, daß über dieses T hema große und durch ihren Stil und ihr Wissen ausgezeichnete Männer schon viele Bücher geschrieben haben. Ich verweise nur auf die heiligen Basilius und Hieronymus und einige andere.“108
Den Mehrwert seiner eigenen Arbeit beschreibt Cassian diesen geschätzten Vorgängern und Vorbildern gegenüber folgendermaßen: „Was unsere Vorgänger noch gar nicht behandelt haben – zumal sie ja Dinge zu beschreiben versucht haben, die sie mehr vom Hörensagen als aus eigener Erfahrung kannten –, das will ich nun für eine noch ungebildete Klostergemeinschaft und für Mönche, die wirklich danach verlangen, darlegen.“109
Damit nutzt der Autor Cassian eine doppelte Strategie der Autorisierung, um sich dem Umfeld, in dem und für das er schreibt, zu empfehlen: Durch wertschätzende Darstellung seines Auftraggebers erweist er diesem einerseits Respekt, macht aber durch den biblischen Vergleich mit Salomo und Hyram zugleich deutlich, weshalb sein Gegenüber unbedingt auf seine Hilfe angewiesen ist. Andererseits grenzt er sich in doppelter Weise von monastischen Vorläufern ab, indem er das bereits in Gallien existierende monastische Leben kurzerhand für nichtig erklärt und Vorgängern, die bereits über das östliche monastische Leben berichteten, abspricht, dieses tatsächlich aus eigener Erfahrung (s. 5.4) getan zu haben.110 Die große Distanz zwischen Cassian und seinem monastischen Umfeld, die im Prolog der Instituta noch in vielfältiger Weise greifbar wird, schwindet durch die drei Prologe der drei Teilbände der Collationes hindurch immer mehr: Cassian tritt nun mit verschiedenen monastischen und kirchlichen Autoritäten ins literarische Gespräch und Bezugnahmen zwischen den Teilbänden (s. u.) lassen einen dazwischenliegenden regen Austausch, der nicht schriftlich fixiert ist, ver107
Vgl. Goodrich 2005, 415 f. 1975, 116; Johannes Cassian, inst. praef. 5 (CSEL 17, 5,15–17 Petschenig / Kreuz): huc accedit, quod super hac re uiri et uita nobiles et sermone scientiaque praeclari multa iam opuscula desudarunt, sanctum Basilium et Hieronymum dico aliosque nonnullos. Baumeister 2009, 196 f. erläutert, dass hierbei „vor allem an die lateinische Übersetzung des sog. Kleinen Asketikons des Basilius durch Rufinus von Aquileia und an die Übertragung pachomianischer Texte zu denken ist, die Hieronymus 404 in Betlehem nach griechischen Vorlagen anfertigte, die selbst wieder auf koptische Originale zurückgingen.“ 109 Frank 1975, 117; Johannes Cassian, inst. praef. 7 (CSEL 17, 6,5–8 Petschenig / Kreuz): quae omnimodis intacta relicta sunt ab anterioribus nostris, utpote qui audita potius quam experta describere temptauerunt, uelut rudi monasterio et in ueritate sitientibus intimabo. 110 Vgl. Goodrich 2007, 39 f. 108 Frank
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2. T hematische Vorklärungen
muten. Auch seine Einschätzung vorfindlicher monastischer Gemeinschaften wird zunehmend positiv (s. dazu ausführlich 5.2.1). Im ersten Prolog macht Cassian deutlich, dass die Collationes sich explizit als Fortsetzung der Instituta verstehen und ebenfalls von Castor von Apt in Auftrag gegeben wurden: „Das Versprechen, welches ich dem hochverehrten Bischof Castor im Vorwort zu den Bänden, welche die Grundlage klösterlichen Lebens und die Heilmittel für die acht Hauptlaster der Menschheit mit Gottes Hilfe in zwölf Büchern behandeln, gegeben habe, ist nun – soweit mein schlichtes Talent dies zuließ – jedenfalls eingelöst. … Bischof Castor nämlich, glühend im unvergleichlichen Eifer nach Heiligkeit, hatte verlangt, dass ich ihm diese Unterredungen [d. h. die Collationes] in möglichst originalem Wortlaut niederschreibe … .“111
Da allerdings der Auftraggeber vor Fertigstellung der Collationes verstarb, musste Cassian sich auf die Suche nach anderen Personen machen, denen er sein Werk zur weiteren Verbreitung widmen konnte, die Wahl fiel auf Leontius und Helladius.112 Leontius, dem Cassian einen Eifer für die monastische Sache attestiert, der mit dem des Verstorbenen vergleichbar ist,113 war vermutlich Bischof von Fréjus und wird im Prolog als beatissimus papa (3,17) bezeichnet, während Helladius ein sanctus frater (ebd.) ist. Helladius wird auch im zweiten Prolog der Collationes erwähnt, hier allerdings schon als episcopos (312,1), nicht länger als frater.114 Gewidmet ist dieser zweite Teilband Honoratus und Eucherius, zentralen Gründer- bzw. Leiter figuren des Inselmönchtums von Lérins. Den Wechsel der Adressaten erklärt R. Goodrich folgendermaßen: Während die Instituta und der erste Teilband der Collationes sich an Bischöfe, denen Interesse an monastischen Neugründungen unterstellt wird, richten, scheinen diese Werke ebenso die Aufmerksamkeit bereits bestehender Gemeinschaften geweckt zu haben, sodass diese nun ebenfalls adressiert werden, wodurch eine wachsende Reichweite der Lehre Cas sians erkennbar wird.115 Honoratus und Eucherius werden zunächst als Leiter eines großen Koinobions beschrieben, die tagtäglich ihre Brüder unterweisen (311,8). Hier wird kein vollständiges ‚monastisches Vakuum‘ mehr imaginiert, wie noch in den Instituta (s. o.), sondern vielmehr die Aufgabe beschrieben, eine 111 Ziegler 2011, 53; Debitum, quod beatissimo papae Castori in eorum uoluminum prae fatione promissum est, quae de institutis coenobiorum et de octo principalium uitiorum reme diis duodecim libellis domino adiuuante digesta sunt, in quo tenuitas nostri suffecit ingenii, utcumque sarcitum est… quas ille inconparabili flagrans studio sanctitatis simili sibi iusserat sermone conscribi (3,2–6.13–15). 112 Vgl. Goodrich 2005, 422. 113 Baumeister 2009, 197 sieht in ihm sogar einen leiblichen Bruder Castors von Apt. 114 Kontrovers wurde diskutiert, zum Bischof welcher Stadt er erhoben wurde (vgl. Stewart 1998, 153 [Anm. 161]); s. hierzu auch unter 4.4.1 die Diskussion, ob und wie sich coll. 13 anhand der (möglichen) Bischofsherrschaft des Honoratus datieren lässt. 115 Vgl. Goodrich 2005, 426.
2.3 Cassian als Lehrer
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Art Handbuch bereitzustellen, das Lehrer existierender monastischer Gemeinschaften in ihrer Aufgabe unterstützt. Ein zweiter Grund für die Abfassung wird im direkten Anschluss genannt: Durch die Collationes hofft Cassian, eine leibhafte (corporalis 311,11) Reise nach Ägypten ersetzen zu können, da er, indem er einen literarischen Raum schafft, in dem eine persönliche Begegnung mit dem ägyptischen Mönchtum möglich ist, seinen Adressaten die Notwendigkeit einer gefahrvollen Seereise (periculosa navigatio 311,19) abnimmt.116 Bereits in diesem zweiten Prolog wird auf den geplanten dritten Teilband der Collationes (coll. 18–24) verwiesen, dessen Adressaten in Stoechadibus (312,9 f.)117 leben. In dem letzten der drei Prologe werden die Adressaten als Jovinian, Minervus, Leontius und T heodorus konkretisiert.118 Das Ziel dieses dritten Teilbandes beschreibt Cassian dabei folgendermaßen: Nicht weniger als eine ‚Real präsenz‘ der Altväter soll durch die Lektüre der Collationes ausgelöst werden: Wer immer sie in einem beliebigen monastischen Kontext rezipiert, nimmt die Väter selbst in sein Kellion auf, um sich mit ihnen zu ‚unterhalten‘ und auf dem Weg zu monastischer Vollkommenheit führen zu lassen.119 Der Blick auf die Adressaten sowie auf exemplarische Auszüge aus den Prologen der Instituta und der Collationes macht deutlich, wie intensiv Cassian sich in den 420er Jahren in Südgallien vernetzte: Nachdem er in Castor von Apt seinen ersten „patron“120 gefunden hatte, stand er bald mit einer Vielzahl kirchlicher (Bischof Leontius und Bischof Helladius) und monastischer (Klostervorsteher und Gründer verschiedener Inselgemeinschaften) Autoritäten im literarischen Austausch. Das Wachstum der Collationes über drei Teilbände (s. u.) sowie implizite Vor- und Rückverweise zeigen, wie gefragt Cassians schriftstellerisches Werk war und dass es offensichtlich aktiv rezipiert wurde. Verortet man Cassians Adressaten und Auftraggeber geografisch, wird deutlich, dass sich Cassians Einfluss nicht auf Marseille und das direkte Umland beschränkte, sondern gut 250 km der südgallischen Mittelmeerküste umschloss und sich – mit Julia Apta – auch etwas 100 km ins Landesinnere erstreckte.121 116 Unter 5.2.1 wird ausführlicher dargelegt, welche Kenntnisse Honoratus tatsächlich zuzutrauen sind bzw. ob er selbst das monastische Leben Ägyptens erfahren hat. 117 D. h. auf den Stoichaden, den heutigen Îles d’Hyères. 118 Diese vier sind aus keiner anderen Quelle bekannt (vgl. Goodrich 2005, 429). 119 quibus hoc praecipuum contulit praecedens uestri laboris industria, ut parati iam atque in isdem exercitiis deprehensi facilius praecepta seniorum atque instituta suscipiant, ipsosque in cellulas suas auctores conlationum cum ipsis conlationum uoluminibus recipien tes et cotidianis quodammodo cum eis interrogationibus ac responsionibus conloquentes non propriis adinuentionibus arduam istam et incognitam ferme in hac regione adpetant uiam, sed periculosam etiam illic, ubi iam tritissimi calles et innumera praecedentium exempla non desunt, anachoreseos disciplinam illorum potius praeceptis capere consuescant, quos in om nibus et antiqua traditio et longae experientiae instruxit industria (503,21–504,11). 120 Goodrich 2005, z. B. 422. 121 Diese Beobachtung lässt R. Goodrich die Frage aufwerfen, ob Cassian tatsächlich von Marseille aus gewirkt habe. Denn sei dies so gewesen, wäre es erstaunlich, fast schon
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2. T hematische Vorklärungen
Die aufgezeigten Entwicklungen des (süd-)gallischen Mönchtums sowie die geografische und theologische Verortung der Adressaten Cassians machen deutlich, wie vielfältig vernetzt Cassian war: Er hatte nicht nur, wie unter 2.2 gezeigt, eine Vielzahl verschiedener Traditionen im Gepäck, sondern brachte diese zudem in einem Umfeld zur Anwendung, das von unterschiedlichsten Interessenlagen und Umbrüchen gezeichnet war. Cassians Collationes sind an der Schnittstelle von Ost und West, von (semi-)anachoretischen (Martin) und koinobitischen Traditionen (Honoratus) in Gallien sowie von monastischen und bischöflichen Auftraggebern zu verorten und versuchen, in genau dieser pluralen und instabilen Situation Orientierung zu bieten. 2.3.2 Werke 2.3.2.1 De institutis coenobiorum et de octo principalium uitiorum remediis Die Instituta, Cassians monastisches Erstlingswerk (um 420 n. Chr.), mit dem er den ersten Versuch unternimmt, seine Erfahrung mit dem ägyptischen Wüstenmönchtum nach Südgallien zu transferieren, bestehen aus zwölf Büchern: Die ersten bieten die Grundlagen eines monastischen Regelwerkes, während in Buch 5–12 die acht Hauptlaster untersucht werden.122 Der Begriff Instituta beschreibt in Cassians Sprachgebrauch nicht nur praktische Aspekte der ‚Einrichtungen‘ des monastischen Lebens, sondern auch seine Lehrbildungen und ist somit sowohl für koinobitische als auch für anachoretische Kontexte anschlussfähig.123 Während auf die Darstellung der acht Hauptlaster in den Instituta im Vergleich zu den Collationes unter 4.2.1 genauer einzugehen sein wird, ist der Blick nun vorrangig auf die ersten vier Bücher und die dort benannten, für Cassian wichtigen, Grundzüge des monastischen Lebens zu richten: Das erste Buch thematisiert die Kleidung des Mönches, das zweite beschäftigt sich mit nächtlichem Gebet und Psalmengesang, das dritte mit dem Gottesdienst des Tages und das vierte schließlich zählt die Regeln für die Novizen auf.124 Dabei wird besonderes Augenmerk auf die T hemen Demut und Gehorsam gelegt, die nur im Gegenüber zu einem Älteren erlangt und eingeübt werden können.125
beleidigend, dass Proculus, Bischof von Marseille, in keinem der Prologe Erwähnung findet (vgl. Goodrich 2005, 431 f.). 122 Vgl. Stewart 1998, 29. Zum Vergleich der Darstellung der acht Hauptlaster in den Instituta und den Collationes s. 4.2.1. 123 Vgl. Stewart 1998, 29 f. 124 K. S. Frank zeigt im Detail auf, dass viele dieser Regeln Parallelen im pachomianischen Mönchtum aufweisen. Auch deutliche Parallelen zum späteren Text der Apophtheg mata Patrum sind zu erkennen (vgl. Frank 1975, 410–412). 125 Vgl. Driver 2002, 74 f.
2.3 Cassian als Lehrer
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Das vierte Buch der Instituta schließt mit einer Rede des Abbas Pinufius, die im Stil ihrer Darstellung bereits den Collationes ähnelt: In scheinbar direkter Rede gibt Cassian eine Rede des Abbas an die Novizen wieder, die er selbst so oder ähnlich mehr als zwanzig Jahre vor Abfassung der Instituta gehört hat. Auf diese Weise nimmt er sich selbst als Autor bewusst zurück und berichtet nicht länger über seine eigene Erfahrung, sondern ermöglicht es seinen Adressaten, so direkt wie möglich eine eigene Erfahrung mit den Worten der Väter zu machen.126 Nicht nur durch diese stilistische Parallele ist der enge Zusammenhang der beiden monastischen Werke Cassians bereits angezeigt, auch durch direkte Verweise bereitet Cassian seine Leser auf eine Fortsetzung in den Collationes vor: Im zweiten Kapitel der Instituta heißt es bspw., dass hier die äußeren Anfänge der Ausführungen zum Gebet geboten würden, eine stärker auf die Innerlichkeit des Menschen zielende Fortführung sei im Folgewerk zu erwarten.127 2.3.2.2 Collationes Patrum Die Collationes Patrum entstanden in drei Teilen zwischen 425 und 429 n. Chr. und verstehen sich selbst als Fortsetzung der Instituta, wie mehrere Rückverweise deutlich machen.128 Bei den Collationes handelt es sich um ein monastisches Lehrbuch (s. 3.2) in Dialogform. In 24 Collationes129 beantworten 15 Altväter die Fragen des jungen Cassian und seines Reisebegleiters Germanus bzw. nehmen Situationen des vorübergehenden gemeinschaftlichen Lebens zum Anlass, theologische und anthropologische Hintergründe des monastischen Lebens zu reflektieren. Zumeist beginnen die Collationes mit einer kürzeren oder längeren Situationsbeschreibung (s. 3.3), die auf ein Stichwort oder eine kurze Frage des Germanus hinführt, wodurch der jeweilige Altvater zu einer umfänglichen Antwort veranlasst wird. Germanus ist es auch, der Zwischenfragen stellt oder den Altvätern durch Missverständnisse Anlass bietet, zu detaillierteren Erklärungen anzusetzen. Das jüngere Selbst Cassians, das hier als zweiter Protagonist und Erzähler begegnet, ist stiller Beobachter und kommt nur höchst selten selbst zu Wort, was den Passagen, in denen dies geschieht, wiederum eine besondere Betonung verleiht. 126 Vgl. Driver 2002, 75 f. und ausführlich 3.3 u.a. zum Konzept der ‚fiktiven Mündlichkeit‘ das auch für die Collationes leitend ist. 127 Johannes Cassian, inst. 2,9 (CSEL 17, 25,4–9 Petschenig / Kreuz): siquidem hi libelli, quos in praesenti cudere domino adiuuante disponimus, ad exterioris hominis obseruantiam et institutionem coenobiorum conpetentius aptabuntur, illi uero ad disciplinam interioris ac perfectionem cordis et anachoretarum uitam atque doctrinam potius pertinebunt. 128 Z. B. in praef. I (s. 4.1.2) oder im Kontext des Gebets (s. 5.6). 129 In coll. 24,1 wird die Anzahl der präsentierten Unterredungen mit den 24 Ältesten, die in der Apokalypse ihre Kronen vor dem T hron niederlegen (Offb 4,10), in Verbindung gebracht.
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2. T hematische Vorklärungen
Die Collationes thematisieren alle Bereiche des monastischen Lebens, die den fortgeschrittenen Mönch betreffen. Der Status des „Fortgeschrittenen“ wird im Prolog des ersten Teilbandes dergestalt definiert, dass nun der Fokus vom äußeren Menschen (der in den Instituta offenbar zu Genüge behandelt wurde) auf den Inneren Menschen (s. 4.1) gerichtet wird.130 Anstelle konkreter Regeln zum monastischen Tagesablauf werden nun Hintergründe des monastischen Seelenlebens diskutiert, mit dem Ziel, den Aufstieg zum Höchsten zu ermöglichen. Dabei werden die in den Unterredungen behandelten T hemen immer komplexer und spezifischer: Während Teilband I erwartbare T hemen monastischen Lebens131 behandelt und, sofern sich das in der pauschalen Sicht auf zehn Collationes behaupten lässt, recht nah an der Lehre der Altväter bleibt, wird die T hemenwahl in Teilband II spezifischer und zeigt stärkere Tendenzen zur Ak tualisierung.132 Teilband III scheint, vor allem durch die Wiederaufnahme bereits behandelter T hemen,133 aber auch durch entsprechende Formulierungen,134 auf aufgetretene Rückfragen zu reagieren. 2.3.2.3 De incarnatione Domini contra Nestorium Das dritte und letzte Werk Cassians, „Über die Inkarnation des Herrn gegen Nestorius“ (430 n. Chr.), hebt sich in vielerlei Hinsicht von den Instituta und den Collationes ab: Während diese beiden sich mit Mönchtum in Praxis und T heorie befassen, – einem T hema, für das Cassian aus gezeigten Gründen zweifellos als Experte gelten kann –, wendet er sich nach Abschluss der Collationes der Christologie zu. Blickt man auf die Rezeption dieses Werkes in der gängigen Forschungsliteratur, gewinnt man den Eindruck, dass Cassian sich auf diesem 130 Diese Zuordnung von Anfängern und Fortgeschrittenen, von äußerem und Innerem Mensch hat teils zu dem Missverständnis geführt, dass die Instituta als an Koinobiten gerichtet und die Collationes als ausschließlich für Anachoreten abgefasst verstanden wurden (z. B. Weaver 1996, 93 und Demacopoulos 2007, 121). Wie im Blick auf die Adressaten der Prologe deutlich wurde und unter 5.2 noch weiter auszuführen ist, richten sich jedoch beide Werke an Mönche in beiden Lebensformen und zielen darauf, Ideale der traditionell höchstgeschätzten, anachoretischen Lebensform auch im Kontext des Koinobions zur Anwendung zu bringen. 131 Z. B. discretio (coll. 2), Achtlasterlehre (coll. 5.7) und Gebet (coll. 9 f.). 132 Während in Teilband I vorrangig monastisches Leben behandelt wird, schwenkt der Fokus in Teilband II in Richtung einer monastischen T heologie: So werden hier nicht nur grundlegende Klärungen zur scientia spiritalis und dem mehrfachen Schriftsinn vorgenommen (coll. 14), sondern es wird auch entschieden Position in den umstrittenen Fragen nach menschlichem Willen und göttlicher Gnade bezogen (coll. 13). 133 Z. B. coll. 22 als Rekurs auf coll. 5 und coll. 23 als Rekurs auf coll. 13. 134 Z. B. coll. 21,10: Hier wendet sich Cassian als Autor, nicht als Erzähler (s. u.) an sein Publikum, um klarzustellen, dass es sich bei der Lebensbeschreibung des T heonas nicht um den unterschwelligen Aufruf zur Ehescheidung, sondern allein um einen wahrheitsgetreuen Bericht handelt.
2.3 Cassian als Lehrer
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T hemenfeld – vorsichtig formuliert – eher durch weniger Expertise ausgezeichnet habe.135 Während die Instituta und Collationes über ihre Adressaten klar in Südgallien zu verorten sind, ist De incarnatione globaler angelegt: Auftraggeber ist Leo I. (s. 2.1), der Cassian vermutlich in Vorbereitung des Konzils von Ephesus (431 n. Chr.) um eine Widerlegung der nestorianischen Christologie gebeten hat.136 Cassian versucht jedoch nicht nur, christologisch Position gegen Nestorius’ Ablehnung des Begriffs θεοτόκος zu beziehen, sondern sich gleichzeitig vehement gegen pelagianische Vorstellungen137 zu wenden und attackiert auch die seinerzeit sehr umstrittene Christologie des Leporius.138 De incarnatione besteht aus sieben Büchern, „wobei Buch eins in die neue Häresie kurz einleitet sowie einen Ketzerkatalog einbindet, und die Bücher zwei bis fünf dem Aufweis der rechten biblischen Lehre dienen, wonach sowohl der historische Jesus (Buch zwei und drei) als auch der Präexistente (Buch vier und fünf) Gott ist. Ab Buch sechs geht Johannes Cassian ausführlich auf einzelne Gedanken des Nestorius ein, wobei er im Buch sechs insbesondere vom antiochenischen Symbol her argumentiert, während Buch sieben vor allem Väterargumente nutzt, um Nestorius nachzuweisen, daß er eine Irrlehre vertritt.“139
Die Christologie, die Cassian vertritt, ist nicht streng systematisch angeordnet, sondern kann vielmehr als „ständig kreisende Bewegung um das Hauptthema – daß Christus wahrer Gott sei“140 aufgefasst werden, ein Weg der Darstellung, der m. E. auf Cassians monastischen Hintergrund und den damit verbundenen Hang zur immer tieferen Meditation des Gleichen zurückgeführt werden kann. 135 Z. B.: „If the Institutes and Conferences had been lost, and Cassian were judged solely on the basis of this treatise, he would be dismissed as a second-rate theologian“ (Stewart 1998, 23). 136 Vgl. Clements 2021. 137 Dies ist an dieser Stelle insofern bemerkenswert, als dass De incarnatione zwei Jahre vor Prospers von Aquitanien vernichtendem Urteil über Cassian in Contra Collatorem (s. 2.1) entstand. 138 Vgl. Stewart 1998, 22. Leporius war erst Mönch, dann Presbyter. Über ihn ist wenig bekannt, außer, dass sich 417/8 n. Chr. in Gallien ein Streit an seiner Christologie entzündete. Zudem berichtet Gennadius (s. 2.1), dass Leporius vorgeworfen wurde, pelagianischen Lehren anzuhangen, was wiederum erklärt, weshalb Cassian diese T hemen in De incarna tione contra Nestorium verbindet (vgl. Krannich 2005, 13; aaO., 54 wird erläutert, weshalb Pelagius nicht nur für anthropologische und soteriologische Fragen relevant ist, sondern auch für christologische). Die umstrittene Christologie des Leporius verneinte, dass Maria Gott geboren habe, er wollte in Jesus Christus lediglich einen von Gott begabten Menschen sehen und so die Vorstellung, dass Gott am Kreuz gelitten habe, vermeiden. Diese Einstellung aus Jugendjahren widerlegte Leporius selbst in seinem libellus emendationis, in dem er mit Hilfe der Lehre von der Idiomenkommunikation die beiden Naturen Christi in Einklang bringt (vgl. Krannich 2005, 71). 139 Krannich 2005, 78 f. AaO., 79–81 findet sich zudem eine Feingliederung des Werkes inklusive Inhaltsangabe. 140 Krannich 2005, 81.
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2. T hematische Vorklärungen
Dabei vergisst Cassian fast vollständig zu erwähnen, dass Christus nicht nur wahrer Gott, sondern auch wahrer Mensch gewesen sei, was seiner Argumentation eine gewisse Einseitigkeit verleiht.141 Den Moment der Inkarnation beschreibt er als aduentus Dei, hält dabei aber fest, dass dies, trotz aller analytischer Annäherungsversuche, ein Geheimnis bleibe, das lediglich im Glauben zu fassen sei,142 womit abermals ein zentraler Gedanke seiner monastischen T heologie berührt ist, wie im Verlauf dieser Arbeit zu zeigen sein wird. Abschließend ist mit C. Stewart festzuhalten, dass De incarnatione vielleicht keine christologische Glanzleistung ist, dafür jedoch höchst aufschlussreich, wenn nach Cassian als Lehrer gefragt wird: Wie der Kontext der Entstehung dieses Werkes zeigt, war Cassian weit über die Grenzen eines engen, südgallisch-monastischen Netzwerkes hinaus bekannt und als theologische Autorität mit Kompetenz, auch weit über das Mönchtum hinausgehend, anerkannt.143 Damit hat er in dem gut einen Jahrzehnt, in dem er von Marseille aus wirkte, nicht nur seinen Wirkungskreis, sondern auch sein theologisches Portfolio in eindrücklicher Weise erweitern können. 2.4 Rückschau und Ausblick Spitzt man die zuvor gesammelten Beobachtungen hinsichtlich des einleitend formulierten Dreifachfokus der Arbeit zu, ergibt sich folgendes Bild: Der Blick auf Cassian als Schüler und Lehrer in Kontexten, die sowohl geografisch als auch frömmigkeitsgeschichtlich kaum unterschiedlicher sein könnten, lässt bereits erahnen, welch immense Transferleistung er mit seinen monastischen Werken vollbringt: Es gelingt ihm nicht nur, monastische Traditionen des Ostens, die – wie am Beispiel des origenistischen Streits deutlich wurde – nur schwerlich miteinander zu verbinden scheinen, zu einer facettenreichen Collage von Impressionen, die zeigen, wie vielschichtig ‚das‘ Mönchtum ‚des‘ Ostens war, zusammenzufügen. Sondern diese monastische Collage projiziert er auch noch in eine Situation hinein, die kaum weniger komplex ist: Wie der Blick auf die verschiedenen monastischen Strömungen, die Cassian bei seiner Ankunft in Marseille bereits vorfindet, gezeigt hat, ist es Cassians Anliegen, ein bestehendes Ideal nicht unreflektiert zu übertragen, sondern es vielmehr für eine Gruppe von Adressaten anschlussfähig zu machen, die sich einem großen (politischen) Umbruch gegenübersah, der sich am Horizont deutlich abzeichnete und zu dessen Bewältigung geistliche Ressourcen hilfreich sein würden. All diesen tradi tionsgeschichtlichen Einflüssen, in deren Kontext Cassians Collationes sich entwickelt haben, ist gemeinsam, dass sie mehr oder weniger explizit und in un141
Vgl. Krannich 2005, 105 f. Vgl. Krannich 2005, 106. 143 Vgl. Stewart 1998, 23. 142
2.4 Rückschau und Ausblick
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terschiedlichen Graden der Zustimmung Bildungsvorgänge thematisieren und z. T. auch anleiten. Dabei ist davon auszugehen, dass Cassian von seinen Lehrern und theologischen Vorbildern – und zu einem gewissen Maß auch in Antizipation der Vorkenntnisse und Potenziale seiner südgallischen Adressaten – nicht nur bestimmte inhaltliche Aspekte der Auseinandersetzung mit (traditioneller) Bildung übernommen hat, sondern dass auch sein Lehrhandeln unter dem Einfluss der verschiedenen Traditionen steht. Dabei sind die folgenden prägenden Faktoren in unterschiedlicher Gewichtung hinter den Collationes zu vermuten: – ein spontanes, mündliches und geistgeleitetes Lehrsetting, wie es für die Anfänge des ägyptischen Mönchtums charakteristisch ist, – Elemente einer schulförmigen, ‚wissenschaftlichen‘, platonisch inspirierten T heologie (Origenes), – die explizit monastische Adaption derselben (Evagrius Ponticus), – die homiletisch-rhetorische Tradition des Johannes Chrysostomus, – die bewusste Einbindung von Elementen traditioneller Bildung in einen monastischen Kontext (Lérins). Da in diesem hinführenden und kontextualisierenden Kapitel noch keine Quellenanalyse im engeren Sinne vorgenommen wurde, ist der dritte Aspekt des Dreifachfokus (Bildung als Interpretament der Collationes) bisher kaum zum Tragen gekommen. Bevor dies vorbereitend unter 3.1 eine Definition des der Arbeit zugrunde liegenden Bildungsbegriffs erfolgt, ist jedoch bereits jetzt festzuhalten, dass sich die Frage nach Bildung (bzw. ihrer Ablehnung, T hematisierung und Umsetzung) als Vergleichspunkt, der sich auf alle genannten Kontexte gewinnbringend beziehen lässt, erwiesen hat.
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3. T heoretische und methodische Grundlagen Der Titel der vorliegenden Arbeit lautet „Monastische Bildung. Johannes Cas sians Collationes Patrum“ – was aber ist „monastische Bildung“, weshalb ist diese Formulierung auf den ersten Blick vielleicht widersprüchlich und mit welchen (modernen) Bildungsbegriffen1 wird in der vorliegenden Arbeit operiert? Diesen Fragen ist zunächst in einem methodischen Zweischritt nachzugehen: Nach einigen einführenden Hinweisen zu einer möglichen Verhältnisbestimmung von ‚Bildung‘ und ‚Religion‘2 wird zu fragen sein, wie sich das Verhältnis von Mönchtum und Bildung historisch fassen und bestimmen lässt (3.1.1). Anschließend ist die Perspektive zu ändern und es werden Elemente eines zeitgenössischen Bildungsbegriffs aufgezeigt, die sich für die unter 4. beginnende Quellenanalyse als aufschlussreich erwiesen haben (3.1.2). Die Klärung dieser theoretischen Grundlagen wird helfen, das unter 2. Dargestellte im Blick auf spätantike Bildungsvorstellungen noch präziser einzuordnen und den einleitend beschriebenen Dreifachfokus der Arbeit (s. 1) zu schärfen. Anschließend ist in zwei exkursartigen Kapiteln zum einen darauf einzugehen, inwieweit eine gattungsgeschichtliche Ähnlichkeit zwischen Cassians monastischen Werken und Lehrbüchern traditioneller, paganer Bildung festzustellen ist und wie diese auf R. Krawiec zurückgehende T hese das unter 3.1.1 zur Transformation von paideia Dargestellte stützt (3.2). Zum anderen wird – ebenfalls auf Form und Gattung der Collationes schauend – zu untersuchen sein, wie das zuvor als lehrbuchtypisch identifizierte dialogische Setting um narrative Passagen ergänzt wird und wie sich die Collationes in ihrer besonderen Gestalt mit Hilfe von aus der Narratologie entlehnten Begrifflichkeiten noch präziser fassen lassen (3.3).
1 Verweisend auf Schröder 2019, 68 ist hier bewusst der Plural ‚Bildungsbegriffe‘ gewählt, denn: „man [wird] schon bei einem flüchtigen Zugriff nicht des einen modernen Bildungsbegriffs ansichtig, sondern einer Vielzahl von Kontexten, in denen von ‚Bildung‘ die Rede ist. Das Spektrum reicht vom philosophischen Essay über die pädagogische T heo riebildung bis hin zum schulpolitischen Statement. Nicht minder zahlreich sind die Bil dungskonzepte, die nicht selten gegeneinander profiliert wurden und entsprechend unterschiedliche Akzente gelten machten.“ 2 In Anlehnung an die Arbeit des Göttinger Sonderforschungsbereiches 1136 („Bildung und Religion in Kulturen des Mittelmeerraums und seiner Umwelt von der Antike bis zum Mittelalter und zum Klassischen Islam“); s. sfb1136.uni-goettingen.de.
3.1 Monastische Bildung – historische und zeitgenössische Aspekte einer Definition 37
3.1 Monastische Bildung – historische und zeitgenössische Aspekte einer Definition Im o. g. Sonderforschungsbereich wurde der Frage nachgegangen, wie Bildung und Religion3 in den spätantiken Kulturen des Mittelmeerraumes einander beeinflussten, einander bedingten, aber auch miteinander konkurrierten. P. Gemeinhardt spricht von den beiden Begriffen ‚Bildung‘ und ‚Religion‘ als den „Brennpunkte[n] einer Ellipse“4 und macht so die enge Beziehung und gleichzeitige Eigenständigkeit der beiden Faktoren, die entscheidend für die soziale und kulturelle Formung spätantiker Gesellschaften waren, deutlich.5 Während ‚Religion‘ dabei in vielgestaltigen Ausprägungen betrachtet wird, ist ‚Bildung‘, der andere Brennpunkt der Ellipse, entweder als auf die jeweilige Religion ausgerichtete (Aus-)Bildung verstanden oder mit den an paganen Texten und Praktiken orientierten artes liberales und einer ἐγκύκλιος παιδεία in Verbindung gebracht worden: Letztere Begriffe beschreiben eine in sich schlüssige Folge von (Aus-) Bildungsetappen, 6 die den freien Mann zu einem vollwertigen Mitglied der Gesellschaft werden lässt und ihm Rang, Ruhm und Reichtum verheißt.7 Demgegenüber erfährt die Frage nach Bildung und Religion eine perspektivierende Zuspitzung, wenn statt nach beiden Institutionen als zunächst voneinander unabhängigen Größen nach ‚religiöser Bildung‘ gefragt wird: Diese zielt „formaliter [auf] die Initiation in eine Religionsgemeinschaft … [und] materialiter [auf] die Vertrautheit mit Inhalten solcher Bildung, die teils nicht von Menschen, sondern von Gott oder Göttern vermittelt wird.“8
Der Titel der vorliegenden Monographie („Monastische Bildung…“) legt nahe, dass besonders der zweite dargestellte Zugang, die perspektivierende Zuspitzung auf ‚religiöse Bildung‘ im Fokus steht. Aber auch die o. g. Ellipse, die ‚Bildung‘ 3 Beide
Begriffe werden dabei bewusst den Umstand reflektierend gebraucht, dass es sich um „neuzeitlich geprägte […] Begriff[e]“ (Gemeinhardt 2017, 169, zum Bildungsbegriff s. 3.1.2) handelt. Dies hat zur Folge, dass eine Untersuchung des T hemas über eine Betrachtung quellensprachlicher ‚Bildungsbegriffe‘ (z. B. institutio, eruditio) hinausgehen muss. 4 Gemeinhardt 2017, 166. 5 Vgl. Gemeinhardt 2017, bes. 171. 6 I.d.R. ist hier ein dreistufiges Schulsystem (Elementarunterricht, Grammatik- und Rhetorik) gemeint, wobei jedoch kaum jemand alle drei Stufen linear durchlaufen haben wird. Während im Elementarunterreicht (anhand zentraler paganer Texte, bspw. von Homer und Vergil) grundlegende Lese-, Schreib- und Rechenkompetenz vermittelt wurde, bereiten Grammatik- und Rhetorikunterricht stärker auf eine (gehobene) Rolle im öffentlichen Leben vor (vgl. Gemeinhardt 2021b, 66 f.). 7 Vgl. Gemeinhardt 2017, 168; die zentrale Rolle der paideia unterstreicht auch Urbano 2018, 237: „More than education and culture, paideia was a durable and molding complex of ideas and practices internalized through technical and social practices that shaped the lives of the educated elite and produced ‚symbolic power‘, an authority rooted in social prestige, which, in Antiquity, could also transfer into social and political authority.“ 8 Gemeinhardt 2017, 172.
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3. T heoretische und methodische Grundlagen
und ‚Religion‘ sowohl verbindet als auch trennt, wird Berücksichtigung finden, besonders dann, wenn auf die im nachfolgenden Kapitel (3.1.1) dargestellte (topische) Bildungsskepsis, die gerade in den Anfängen der monastischen Literatur Niederschlag fand, einzugehen ist. Die Ausrichtung der beiden Fragestellungen bringt P. Gemeinhardt folgendermaßen auf den Punkt: „Nimmt man Bildung und Religion als Gegenüber in den Blick, so ist Religion [hier: Mönchtum] Gegenstand und Ziel von Bildungsprozessen – in Form einer sozial vermittelten Praxis, in literarischer Präsentation, als T hema intellektueller Reflexion oder als methodisch geleitete Auslegung normativer Texte. Hingegen ist Bildung für Religion als Ausbildung für religiöse Vollzüge einer Gruppe, als Trägerin von Bildungsgütern mit Bezug auf religiöse Praxis und Vorstellungen, als Set von reflexiven Kompetenzen oder als Vermittlung eines rationalen Umgangs mit normativen Texten bedeutsam.“ 9
Neben dieser grundlegenden Fragestellung, die deutlich macht, in welch weites Feld von Begrifflichkeiten und Überlegungen „Monastische Bildung“ einzuzeichnen sein wird, ist diese einleitenden Bemerkungen abschließend auf eine Reihe von Ergebnissen bzw. weiteren Leitkriterien des Sonderforschungsbereiches 1136 zu verweisen, denen unter 3.1.2 theoretisch vertiefend nachzugehen sein wird bzw. die an anderer Stelle der Arbeit praktisch zur Anwendung kommen werden:10 – Bildung kann als anthropologische Grundkategorie, die letztendlich auf Selbst- und Gotteserkenntnis zielt, gelten (s. 3.1.2.1 und 3.1.2.3, sowie 4.).11 – Bildung zeichnet sich durch Selbstbezüglichkeit, Selbsttätigkeit und Nicht induzierbarkeit aus12 und geht – mit fließenden Übergängen – so über Erziehung und Sozialisation hinaus (s. 3.1.2.2).13 – Bildung ist nicht von der Einzelperson allein durchführbar, sondern durch ihre kommunikativen und reflexiven Züge (auch) auf externe (Lehr-)Autoritäten angewiesen (s. bes. 5.3).14 – Bildung kann sowohl auf mündlicher Unterweisung als auch auf schrift lichen Quellen basieren, die wiederum häufig die Oralität der ursprünglichen Lehr-Lern-Situation fingieren (s. 3.2, 3.3 und 5.5).15 – Bildung ist mehr als Wissen, sie beinhaltet zudem den Erwerb umfassenderer Kompetenzen, die notwendig sind, um Teil einer bestehenden Institution zu werden. Dabei entscheidet sie über Gemeinschaftszugehörigkeit und kann 9
Gemeinhardt 2017, 171. Bezug genommen wird hier vor allem auf den Sammelband „Was ist Bildung in der Vormoderne?“ und die in diesem enthaltenen einführenden und abschließenden Bemerkungen des Herausgebers (= Gemeinhardt 2019a und Gemeinhardt 2019b). 11 Vgl. Gemeinhardt 2019a, 10. 12 Vgl. Gemeinhardt 2019a, 20. 13 Vgl. Gemeinhardt 2019a, 28 f. 14 Vgl. Gemeinhardt 2019b, 459 f. 15 Vgl. Gemeinhardt 2019b, 463. 10
3.1 Monastische Bildung – historische und zeitgenössische Aspekte einer Definition 39
damit inkludierenden oder exkludierenden Charakter haben (s. bes. 5.2 und 5.4).16 – Bildungsprozesse sind durch höhere Ziele, die weder klar umrissen, noch prüfbar oder zu einem sichtbaren Ende zu bringen sind, gekennzeichnet (s. 5.6, 6., bes. 6.3).17 Anhand dieser einleitenden Bemerkungen wird bereits deutlich, dass die monastische Bildung, nach der in den Collationes zu fragen sein wird, weit mehr als die Beschreibung konkreter Lehr-Lern-Zusammenhänge ist: Bildung erscheint als umfassendes Konzept, das nach Potentialen und Faktoren der Prägung und Gestaltung des Selbst fragt. Dabei stehen verschiedene Konzepte von Bildung nebeneinander, die wiederum verschiedene Antworten auf die Frage, was der Mensch ist und wohin er sich zu entwickeln vermag, geben. Dass Bildung – bei aller unterschiedlicher inhaltlicher Ausprägung und Zielsetzung – dabei stets in ähnlichen Formen verläuft, wird nachfolgend zu zeigen sein. 3.1.1 Monastische Bildung – ein Widerspruch in sich? Während das (Kloster-)Mönchtum spätestens seit Beginn des Mittelalters als In stitution, die Bildungsinhalte tradiert, Kompetenzen vermittelt und Lehr-Lern- Situationen auch weniger elitären Gesellschaftsschichten (s. o.) eröffnet, gelten kann,18 ist für die Anfänge des Mönchtums, auf die auch Cassian explizit Bezug nimmt, oft ein gänzlich anderes, bildungskritisches Bild gezeichnet worden. Dabei ist bedenkenswert, dass ein Großteil der Quellen, die über die Ursprünge des Mönchtums in der ägyptischen Wüste berichten, dies nicht aus der Situation heraus, sondern nachträglich und zu einem gewissen Grad idealisierend bzw. hagiographierend tun. So etwa verfasst Athanasius die Vita des Antonius erst nach dessen Tod, die Sammlung der Apophthegmata Patrum fand erst im 6. Jahrhundert ihre endgültige Form (s. 2.2.1).19 Die nachfolgend skizzierte Bildungsskepsis dieser Werke ist also, wie zu zeigen sein wird, nicht (ausschließlich) realitätsabbildend, sondern auch und primär als Stilmittel, das das Mönchtum von den sozialen und kulturellen Bedin16 Vgl. Gemeinhardt 2019b, 453 f. 465. Jedoch: „Kompetenzen spielen mit Wissen zusammen, da letzteres die Verfügung über Wissensbestände, aber auch den kompetenten Umgang damit betrifft.“ (AaO., 461). 17 Vgl. Gemeinhardt 2019b, 455.457. 18 Vgl. Gemeinhardt 2013b, 441. 19 Gerade in der älteren Forschung zum Mönchtum wurde das stilisierende Moment des Motives der Bildungsskepsis oft übersehen, die Quellen wurden häufig als authentische Zeugnisse aufgefasst (vgl. Rubenson / Larsen 2018, 2 in kritischer Abgrenzung von K. Heussi, H. Dörries und H.-I. Marrou). Ein anderes, deutlich weniger plakatives Bild zeigt sich bereits, wenn man in die Antoniusbriefe als Beispiel für ein wahrhaft zeitgenössisches Dokument ohne nennenswertes hagiographisches Interesse blickt (vgl. Rubenson 1990, 42).
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3. T heoretische und methodische Grundlagen
gungen seiner Umwelt abzugrenzen bemüht ist, zu verstehen.20 Denn neben anderen zentralen Zielen und Motiven (s. 2.2.1) zeichneten sich die ersten M önche vor allem durch ihre radikale Abkehr von der Welt und den Rückzug aus allen gesellschaftlichen Normen und Verpflichtungen aus.21 Selbstverständlich wurden in diesem Zuge auch die an paganen Texten ausgerichteten Inhalte der ἐγκύκλιος παιδεία vehement abgelehnt.22 Exemplarisch ist hier die Darstellung des jungen Antonius zu nennen, der jegliche weltliche Buchstabenbildung verweigert: „Als er aber heranwuchs, ein Junge wurde und im Alter voranschritt …, weigerte er sich, Bildung zu erwerben, denn er wollte sich vom gewohnten Umgang mit anderen Kindern fernhalten. Sein ganzes Begehren richtete er darauf – wie geschrieben steht –, ‚unverbildet in seinem Haus zu weilen‘ (Gen 25,27).“23
Auch in den Apophthegmata Patrum dominiert das Ideal des ἀγράμματος / idiota, der bewusst nichts von der Welt wissen will: „Es sagte einer zu Abbas Arsenios: Warum haben wir, die wir von solch (guter) Erziehung und Weisheit sind, nichts; diese Bauern aber, die Ägypter, haben solche Tugenden erworben? Es sagte ihm Abbas Arsenios: Wir haben von unserer weltlichen Erziehung nichts. Die Bauern aber, die Ägypter, haben wegen ihrer eigenen Mühen die Tugenden erworben.“24
Einen Höhepunkt fand das monastische Ringen um einen angemessenen Grad der (Nicht-)Bildung im Konflikt um den richtigen Umgang mit bzw. Gebrauch der Heiligen Schrift im Mönchtum. Hier standen sich nicht nur pagane Bildung und Mönchtum gegenüber, sondern auch innermonastische Rezeptionen bzw. Nutzbarmachungen der Ersteren: Während auf der einen Seite (theologisch) 20 H. Rydell Johnsén zeigt, dass das dargestellte Ideal der Ungebildetheit keine Erfindung der frühen monastischen Autoren ist, sondern auf eine geprägte Tradition zurückgeht: Bereits im Epikureismus und Kynismus galt das Einüben eines tugendhaften Lebens mehr als der Erwerb (abstrakter) Bildung in Gestalt der artes liberales. Dadurch, dass die ersten über das Mönchtum berichtenden Autoren ausgerechnet ein philosophisches Ideal übernehmen, nutzen sie tradierte Bildungsinhalte, um auf erzählerischer Ebene Bildung abzulehnen, wodurch m. E. deutlich wird, wie stark topisch die vermeintliche Unbildung der ersten Mönche gedacht werden muss (Rydell Johnsén 2018b, 230–235). 21 Dies unterstützend argumentiert Bagnall 2018, 76, dass das Motiv der Nicht-Bildung eng verwandt mit dem Motiv der Armut ist. 22 Vgl. Gemeinhardt 2007, 260. 23 Gemeinhardt 2018, 109; Athanasius, V. Anton. 1,2 f. (FC 69, 108,5–9 Gemeinhardt): Ἐπειδὴ δὲ καὶ αὐξήσας ἐγένετο παῖς καὶ προέκοπτε τῇ ἡλικίᾳ, γράμματα μὲν μαθεῖν οὐκ ἠνέσχετο, βουλόμενος ἐκτὸς εἶναι καὶ τῆς πρὸς τοὺς παῖδας συνηθείας. Τὴν δὲ ἐπιθυμίαν πᾶσαν εἶχε, κατὰ τὸ γεγραμμένον, ὡς ἄπλαστος οἰκεῖν ἐν τῇ οἰκίᾳ αὐτοῦ. 24 Schweitzer 2012, 32; AP/G Arsenios 5 (PG 65, 88 f.): Εἶπέ τις τῷ μακαρίῳ Ἀρσενίῳ· Πῶς ἡμεῖς ἀπὸ τοσαύτης παιδεύσεως καὶ σοφίας οὐδὲν ἔχομεν, οὗτοι δὲ οἱ ἀγροῖκοι καὶ Αἰγύπτιοι τοσαύτας ἀρετὰς κέκτηνται; Λέγει αὐτῷ ὁ ἀββᾶς Ἀρσένιος· Ἡμεῖς ἀπὸ τῆς τοῦ κόσμου παιδεύσεως οὐδὲν ἔχομεν· οὗτοι δὲ οἱ ἀγροῖκοι καὶ Αἰγύπτιοι ἀπὸ τῶν ἰδίων πόνων ἐκτήσαντο τὰς ἀρετάς.
3.1 Monastische Bildung – historische und zeitgenössische Aspekte einer Definition 41
hochgebildete Mönche im Anschluss an Origenes (s. 2.2.2) eine Technik der Schriftauslegung, die sichtbare Anleihen an der paganen Schrifthermeneutik nahm, vertraten, standen auf der anderen Seite weniger gebildete Mönche, die stärker auf die Faktoren der Geistgabe und des Wortsinnes bauten (s. ausführlich 5.5.1). Neben diesen idealtypischen Darstellungen, die Diskurse über den Umgang mit paganer Bildung und über die Konstituierung christlicher Heiligkeit miteinander zu verbinden suchen,25 stehen zahlreiche Beobachtungen der jüngeren Forschung, die deutlich machen, dass ein Großteil der Mönche nicht so bildungsfeindlich war, wie einige Quellen glauben machen wollen, sondern dass sie bewusst Methoden adaptierten und Inhalte modifizierten, um die ihnen bekannte, traditionelle Bildung für ihre neuen Lebensideale fruchtbar zu machen.26 S. Rubenson zeigt auf, dass bereits die frühen monastischen Gemeinschaften (z. B. des Pachomius und des Basilius) schulähnliche Züge trugen bzw. als Vorläufer eines christlichen Schulsystems (s. o.) gelten können:27 Die immer klarer hervortretende, institutionalisierte Form des monastischen Zusammenlebens und -lernens lehnte sich dabei an Methoden und Strukturen, die aus der klassischen paideia stammten, an und leitete so durch die gänzlich neuen Inhalte eine erste Transformation derselben ein.28 S. Rubenson benennt die folgenden Elemente, die monastische und traditionelle Bildung verbinden: Ausreichende Rückzugsmöglichkeiten und Muße, um sich mit ungestörter Aufmerksamkeit dem Lernen und dem spirituellen Fortschritt zu widmen, die Methodik der Imitation, der Rezeption und der Memoration sowie das Bestreben, Wissen zu systematisieren und so durch die genannten Methoden zur Anwendung gelangen zu lassen.29 Wie diese Systematisierung und Anwendung monastischen Wissens sich vollzogen hat, erläutert L. Larsen: Sie zeigt anhand eines breiten archäologischen Befundes auf, wie sich monastische Schultexte, ihre „Graeco-Roman counterparts“30 traditioneller Bildung detailliert nachahmend, gestaltet haben. Tatsächlich lassen sich für die Etappen eines Bildungskanons, der sich traditionell an paganen Texten vollzog, zahlreiche Beispiele finden, in denen exemplarisch „Psalms replace lines drawn from Homer“31, um im monastischen Kontext grammatische Grundlagen (s. 3.2) zu legen und zugleich eine biblische Basis des monastischen 25
Vgl. Gemeinhardt 2019c, 249. sei generell auf den 2018 erschienenen Sammelband „Monastic Education in Late Antiquity. T he Transformation of Classical Paideia“, herausgegeben von L. Larsen und S. Rubenson, verwiesen, aus dem im Folgenden zentrale Erkenntnisse summierend dargestellt werden. 27 Vgl. Rubenson 2018, 13–16. 28 Vgl. Rubenson 2018, 30. 29 Vgl. Rubenson 2018, 31 f. 30 Larsen 2018, 122. 31 Larsen 2018, 123. 26 Hier
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3. T heoretische und methodische Grundlagen
Lebens zu schaffen. Larsen hebt im Blick auf monastisches Bildungsstreben besonders den Zusammenhang von „text and context, content and form“32 hervor, und betont, dass die Art, in der sich monastische Bildung vollzieht, einerseits von der gewählten Lebensform (s. 5.2) abhängt, dass aber andererseits die (Lebensund Lern-)Form von den (biblischen) Inhalten bestimmt wird (s. 3.1.2). Diese allgemeineren Überlegungen spitzt E. Muehlberger im Blick auf die Verwendung rhetorischer Methoden in Evagrius Ponticus’ asketischem Werk zu. Da Evagrius als direkter Lehrer und Inspirationsquelle Cassians gelten kann (s. 2.2.3), sind die Ergebnisse ihrer Forschung im Folgenden knapp darzustellen: E. Muehlberger konzentriert sich vor allem auf die Technik der Ethopoeia, d. h. „extended and often affectively charged speaking in the persona of a character drawn from literature“33, die häufig in Handbüchern der Rhetorik (s. 3.2) zur Anwendung kommt. Sie zeigt anhand von Beispielen aus dem Protrepticus und dem Paraeneticus auf, wie Evagrius seine Schüler anleitet, aus der Perspektive biblischer Figuren zu sprechen und deren Sichtweise zu übernehmen (zur Perspektivierung bzw. Fokalisierung s. auch 3.3 und 5.5.3).34 Auf diese Weise kann – anders als durch eine distanzierte Betrachtung – „pathos“35, d. h. direkte und umfassende emotionale Beteiligung des Lernenden, geweckt werden, ein Bestreben, dem im Blick auf Cassian unter 5.4 (Erfahrung) nachzugehen sein wird. E. Muehlberger argumentiert, dass die Technik der Ethopoeia bei Evagrius gezielt dann zum Einsatz kommt, wenn er bei seinem Schüler Schwierigkeiten in Disziplin und Gebet, modern gesprochen: Konzentrationsprobleme, ausmachen konnte.36 Aus dieser Fallstudie zieht sie die Schlussfolgerung, dass „Evagrius and other Christians in Late Antiquity did not consider the exercises of the rhetorical curriculum to be foreign to the practice of Christianity.“37 Was hier anhand von drei Beispielen präsentiert wurde, formuliert C. Bay pauschalisierend, aber dafür pointiert, folgendermaßen: „Classical paideia was a construct of education based upon a certain corpus of literature that prepared aristocrats for participation in high culture. Roman Egyptian monks developed a similar system, likewise based upon a particular literary corpus that prepared ascetics for participation in Christian holiness. If Classical paideia facilitated social ascent, Monastic paideia enabled spiritual ascent.“38
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Larsen 2018, 123. Muehlberger 2018, 183 34 Vgl. Muehlberger 2018, 183; Beispiele aus dem Protrepticus aaO., 183–187 und aus dem Paraeneticus aaO., 189–192. 35 Muehlberger 2018, 188. 36 Vgl. Muehlberger 2018, 193. 37 Muehlberger 2018, 192. 38 Bay 2014, 334. 33
3.1 Monastische Bildung – historische und zeitgenössische Aspekte einer Definition 43
Es wird deutlich, dass sowohl traditionelle als auch monastische Bildung anhand vergleichbarer, an bestimmten Textcorpora orientierten, Methoden darauf zielen, ein Subjekt zum Aufstieg – sei er sozial oder geistlich – zu befähigen. Hier ist besonders darauf hinzuweisen, dass zwar die Formen der weltlichen und monastischen Bildungsprozesse einander zu gleichen scheinen, sie sich aber sowohl in ihrem Inhalt als auch ihrem Ziel unterscheiden. Im Folgenden wird zu untersuchen sein, wie Cassian genau diesen Sachverhalt, der in älteren monastischen Quellen lediglich implizit zur Anwendung kommt, aber kaum thematisiert wird, in den Collationes explizit darstellt. 3.1.1.1 Die T hematisierung des Bildungsproblems innerhalb der Collationes In Collatio 14, die Abbas Nesteros über die scientia spiritalis (397,3; s. 6.2) sprechen lässt, rechnet Cassian (jung)39 im zwölften Kapitel persönlich mit seiner Bildung, d. h. mit dem ihn prägenden Vorwissen, ab. Anders als in anderen Col lationes ist es nicht Germanus, den der Autor Cassian auf die Lehre der Altväter antworten lässt, sondern sein jüngeres Ich.40 Cassian (jung) reagiert auf die vorhergehende Ansprache des Nesteros in coll. 14,1–11, die um die verschiedenen Arten des Wissens, πρακτική und θεωρητική (s. 6.2), die Arten der Schriftauslegung (s. 5.5.2.2), das geistliche Wissen und die damit verbundene Erneuerung des Geistes kreist. Das Gehörte lässt Cassian (jung) in tiefe Zerknirschung verfallen.41 Die Unterweisung des Nesteros hat Cassians Zweifel an seiner Eignung zum Mönchsein noch verstärkt, denn nicht nur die Blindheit der Seele (animae captiuitates 414,2), die dem Menschen ohne sein Zutun zukommt, sondern auch seine erworbene Kenntnis der Literatur (notitiam litterarum 414,4 f.) scheint nun zwischen ihm und der monastischen Vollkommenheit (s. 6.3) zu stehen. Cassian zählt in coll. 14,12 in klimaktischer Form auf, wie sich die traditionelle Bildung immer tiefer in seinen Geist gefressen und ihn wortwörtlich infiziert hat: Zunächst sei es der Eifer eines Pädagogen gewesen (instantia paed agogi 414,5), dann habe ihn die ununterbrochene Beschäftigung mit Lesen so zermürbt (continuae lectionis macerauit intentio 414,5 f.), dass seine Gedanken zuletzt von den Versen der Dichter wie angesteckt (mens mea poeticis illis velut infecta 414,6 f.) waren. Letztendlich führt diese, wenn auch lange zurücklie39
Zur Unterscheidung von „Cassian (jung)“ und „dem Autor Cassian“ s. 3.3. ego … inquam (413,23 f.). Dass Cassian selbst antwortet, ist ausgesprochen selten, für gewöhnlich legt er die Antworten der Reflektorfigur Germanus (s. 3.3) in den Mund. Dass der Autor hier gewissermaßen selbst das Wort ergreift, zeigt, für wie bedeutend er dieses Problem nicht nur für seine Adressaten, sondern auch für die eigene monastische Existenz erachtet. Inhaltlich erinnert die Passage deutlich an Hieronymus’ Klage über seine ciceronianische Vorbildung, die ihm den Blick auf das Wesentliche verstellt (Hieronymus, ep. 22,30,4; vgl. Gemeinhardt 2007, 431–439). 41 Ad haec ego occulta primum conpunctione permotus ac deinde grauiter ingemescens (413,23 f.). 40
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3. T heoretische und methodische Grundlagen
gende, intensive Auseinandersetzung mit der paganen Literatur dazu, dass der Geist sich nicht einmal in der Gebetszeit von ihren Inhalten lösen kann: In einer parallelen Konstruktion stellt Cassian dar, wie das Psalmgebet und die Bitte um Sündenvergebung von obszönen Gedichten und kämpferischen Heldengedichten verdrängt werden.42 Es ist eine wahre Bilderflut (phantasmatum imagina tio 414,12), die den Geist ununterbrochen mit Beschlag belegt (semper inludens 414,12 f.). Der junge Cassian kennt keine Hilfsmittel gegen diesen Zustand, nicht einmal das tägliche Weinen, das ein probates Mittel gegen die nicht aktiv erworbenen Laster zu sein scheint (s. 5.3.2.2), will gegen diese Literaturinfektion helfen (cotidianis fletibus non possit expelli 414,14). Abbas Nesteros aber weiß Hilfe. Er zeigt Cassian und Germanus in coll. 14,13 ein „schnell wirkendes Heilmittel“ (efficax remedium 414,16) auf: Er empfiehlt, Methoden und Kompetenzen, die seinen Schülern aus der traditionellen Bildung vertraut sind, umzuwidmen, nicht länger die paganen Inhalte zu rezipieren, sich wohl aber erprobte Formen zu Nutze zu machen. Die traditionelle Bildung habe Eifer und Durchhaltevermögen (eandem diligentiam atque instantiam 414,17) trainiert, diese erworbenen Kompetenzen seien nun auf geistliche Schriften (spi ritalium scripturam 414,18 f.) und nicht länger auf pagane Literatur zu richten. Die hier als Lösung des Problems präsentierte methodische Parallele zwischen paganer und monastischer Bildung wird bereits in coll. 14,1 vorbereitet. Dort heißt es zu Beginn der Rede des Nesteros: „Es gibt in dieser Welt viele Arten von Wissen, so unterschiedlich wie die Künste und Unterrichtsfächer. Auch wenn sie entweder völlig nutzlos sind oder nur augenblicklichen Annehmlichkeiten des Lebens dienen, so gibt es dennoch kein Wissen, das nicht seinen eigenen Lehrplan oder seine eigene Methode hätte, wodurch diejenigen, die es beherrschen wollen, sich dieses [Wissen] aneignen können. Wenn also jene Künste, will man in ihnen vorankommen, durch sichere und je eigene Zielvorgaben ausgerichtet werden, um wie viel mehr liegt auch dem Unterricht in unserer Religion und ihrer Erklärung eine bestimmte Reihenfolge und Methode zugrunde – strebt sie [unsere Religion] doch danach, das Verborgene unsichtbarer Geheimnisse zu schauen und erstrebt nicht einen Gewinn in der Gegenwart, sondern die Vergütung mit dem Lohn der Ewigkeit.“43
42 psallentique uel pro peccatorum indulgentia supplicanti aut inpudens poematum me moria suggeratur aut quasi bellantium heroum ante oculos imago uersetur (414,9–11). 43 Ziegler 2014, 137; multa quidem scientiarum in hoc mundo sunt genera, tanta siqui dem earum quanta et artium disciplinarumque uarietas est. sed cum omnes aut omnino inutiles sint aut praesentis tantum uitae conmodis prosint, nulla est tamen quae non habeat proprium doctrinae suae ordinem atque rationem, per quam ab expetentibus possit adtingi. si ergo illae artes ad insinuationem sui certis ac propriis lineis diriguntur, quanto magis reli gionis nostrae disciplina atque professio, quae ad contemplanda inuisibilium sacramentorum tendit arcana nec praesentes quaestus, sed aeternorum retributionem expetit praemiorum, certo ordine ac ratione subsistit (398,13–24).
3.1 Monastische Bildung – historische und zeitgenössische Aspekte einer Definition 45
Dass Cassian die Rede des Nesteros ohne weitere Einleitung mit diesen Worten beginnen lässt, verleiht ihnen besonderes Gewicht. Es scheint, dass alles, was es über das geistliche Wissen zu sagen gibt, von den hier formulierten Vorannahmen abhängt. Diese Prämissen lassen sich wie folgt bündeln: Durch eine Vielzahl verschiedener Künste (artes) und Unterrichtsfächer (disciplinae) lässt sich jeweils eigenes Wissen (scientia) erwerben. Jedes dieser Wissensgebiete hat eine eigene Lehrmethode, die unumgehbar ist, will man Erfolg haben. Dieses gilt auch und besonders für die religionis nostrae disciplina. Damit wird diese zwar einerseits in unmittelbare (methodische) Nähe zu anderen artes gerückt, andererseits verweist Cassian auch gleich auf deren kategoriale Verschiedenheit, indem er das Ziel der weltlichen artes in der Gegenwart verankert, das Ziel der ars monastica44 jedoch in der Zukunft liegend sieht. Die methodische Parallele zwischen klassischer und monastischer Bildung begegnet nicht nur hier. Bereits in coll. 1,2 lässt Cassian Moyses sagen: „Alle Künste und Wissenschaften haben ein bestimmtes erstes, vorläufiges Ziel und ein letztes, höchstes Ziel. Dies berücksichtigend erträgt ein jeder, der sich ernsthaft um ein Können bemüht, gleichgültig, welche Fertigkeit er beherrschen will, alle Mühen und Gefahren und jeden Schaden mit Gleichmut und gern.“45
Diese Aussage führt in ihrem Kontext zu einer Reflexion über vorläufige und endgültige Ziele (s. 6.1), illustriert aber auch, wie ähnlich monastische und pa gane Bildung funktionieren. Beide werden ohne Unterschied als ars und scientia tituliert, die nicht nur gleichermaßen in verschiedenen Stufen durchschritten und erlangt werden können, sondern auch den gleichen Einsatz und die gleiche Leidensbereitschaft erfordern. Die Wortverbindung artes ac disciplinae verweist auf eine weitere Ausführung dieses Vergleichs. In coll. 2,11 ist es ebenfalls Moyses, der konstatiert: „Auch alle Künste und Wissenschaften, die vom menschlichen Geist erfunden wurden und die zu nichts weiter dienen, als dieses Leben angenehm zu gestalten, können ja von keinem recht verstanden werden ohne Unterweisung durch einen Lehrer, obwohl man sie [diese Künste] mit Händen greifen und mit den Augen sehen kann. Wie töricht ist es da, zu glauben, allein diese [Kunst] benötige keinen Lehrer, die doch unsichtbar und verborgen ist, derer man nur mit reinstem Herzen ansichtig wird“.46 44
Dieser Kunstbegriff geht auf R. Krawiec zurück und wird unter 3.2 erläutert. 2011, 58; Omnes, inquit, artes ac disciplinae scopon quendam, id est desti nationem, et telos, hoc est finem proprium habent, ad quem respiciens uniuscuiusque artis industrius adpetitor cunctos labores et pericula atque dispendia aequanimiter libenterque sustentat (8,4–8). 46 Ziegler 2011, 100; et enim cum omnes artes ac disciplinae humano ingenio repertae et quae nihil amplius quam uitae huius temporariae conmodis prosunt, licet manu palpari queant et oculis peruideri, recte tamen a quoquam sine instituentis doctrina nequeant con prehendi, quam ineptum est credere hanc solam non egere doctore, quae et inuisibilis et oc culta est et quae non nisi corde purissimo peruidetur (51,27–52,6). 45 Ziegler
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3. T heoretische und methodische Grundlagen
Hier ist nicht nur abermals ein gravierender Unterschied zwischen paganer und monastischer Bildung benannt – sichtbare und menschengemachte Künste stehen der einen, verborgenen Kunst gegenüber –, sondern auch ein weiteres ter tium comparationis gefunden: Unabhängig davon, welche Inhalte gelernt werden sollen, braucht es einen guten Lehrer (doctor), der diese zu vermitteln weiß. Eine diametrale Verschiedenheit weltlicher und geistlicher artes wird lediglich das Gesamtwerk abschließend in coll. 23,21 benannt. Dort lässt Cassian Abbas T heonas – im eindeutigen Widerspruch zu den Altvätern in coll. 1 f. und 14 – sagen: „Damit wir dies also einsehen und fruchtbar bewahren können, lasst uns umso inniger die Barmherzigkeit des Herrn erflehen, uns zu unterstützen, dies zu vollbringen, was keineswegs wie andere menschliche Fertigkeiten durch vorheriges Verstehen von Worten, sondern vielmehr durch vorausgehendes Tun und vorherige Erfahrung erlernt wird“.47
Hier wird die zuvor erschlossene Parallele zwischen traditioneller und monastischer Bildung relativiert. Die Annahme, dass monastische und weltliche artes in ähnlicher Weise zu erlernen sind, lässt sich in dieser vorletzten Collatio nicht mehr explizit finden. Um monastische Bildung zu erlangen, braucht es keine Einsicht des Verstandes (ratio), sondern eine Erschließung durch Tun (actus) und Erfahrung (experientia; s. 5.4). Die Methode des Wissenserwerbs scheint an dieser Stelle erstmals stärker von dem angestrebten Lernziel als von allgemein didaktischen Überlegungen bestimmt zu sein, sodass die Verschiedenheit weltlicher und monastischer Bildung deutlicher hervortritt als ihre Gemeinsamkeiten. Dieser Wandel ist m. E. mit dem Fortschritt, den der die Collationes lesende Mönch erlebt, zu begründen: Zu Beginn sind alle Hilfsmittel, selbst solche, die der paganen Bildung entlehnt sind, recht, um eine zügige und zielführende Aneignung der (neuen) monastischen Inhalte zu ermöglichen. Sind diese jedoch verinnerlicht, beginnen sie für sich zu wirken, und der Mönch braucht keine externen didaktischen Stützen mehr. Auf diese Weise inszeniert Cassian eine Transformation von paideia, die in älteren Quellen lediglich angedeutet wurde (s. 3.1.1 mit S. Rubenson).48 Die zitierten Passagen der Collationes machen deutlich, dass Cassian bereits einen Prozess der Aneignung und Nutzbarmachung traditioneller Bildung reflektiert, der in älteren monastischen Quellen (s. 3.1.1) zwar das Handeln der Autoren prägte, aber nicht auf Ebene der Geschichte oder Erzählung (s. 3.3) thematisiert wurde. Cassian diskutiert Fragen, die zuvor lediglich in topischer Weise 47 Ziegler 2015, 206; quapropter ut haec intellegere et fructuose tenere possimus, miseri cordiam domini, ut nos ad perficienda haec adiuuet, adtentius inploremus, quae nequaquam ita ut ceterae humanae artes praecedente quadam ratione uerborum, sed actu potius et expe rientia praeeunte discuntur (671,6–10). 48 Dieser T hese wird im abschließenden Kapitel (s. 6.3), das das Ziel der perfectio mit anderen monastischen Zielen ins Gespräch bringt, erneut nachzugehen sein.
3.1 Monastische Bildung – historische und zeitgenössische Aspekte einer Definition 47
verneint wurden, offen und regt seine Adressaten so an, bewusst bekannte Bildungstechniken und -ideale mit neuen, fremden Inhalten zu verknüpfen. Hierdurch zeigt er sich selbst, exemplarisch in coll. 14,12, sowohl als Kenner als auch als Opfer traditioneller Bildung und schafft so ein hohes Identifikationspotential für seine Leser (s. auch 3.3 zum Begriff der ‚Reflektorfigur‘).49 Zudem lässt sich am Beispiel der Frage nach Vereinbarkeit von Bildung und Mönchtum hervorragend das Ineinander von Form und Inhalt der Collationes aufzeigen: Wie unter 3.2 nachzuweisen sein wird, bedient sich Cassian bei der Abfassung der Collationes geprägter Formen paganer Lehrbücher, um so eine Lehre, die ihre Ursprünge in einem gänzlich anderen Kontext hat, einem traditionell gebildeten Adressatenkreis zugänglich und anschlussfähig zu machen. Damit wählt er als Autor eine Vorgehensweise, die er zudem den Protagonisten seines monastischen Lehrbuches in den Mund legt, um den Adressaten eine individuelle Verknüpfung bekannter und neuer Bildungswege zu erleichtern. Damit vollzieht Cassian auf didaktischer Ebene exakt das, was er die Altväter innerhalb der Collationes mehrfach als lernpsychologische Einsicht und Ausgangssituation der konkreten Situation, in die hinein er schreibt, formulieren lässt, nämlich die Vermittlung neuer, d. h. monastischer, Inhalte unter (temporärer) Zuhilfenahme vertrauter, i.d.R. paganer, Lehr-Lern-Wege. 3.1.2 Monastische Bildung – Aspekte eines modernen Bildungsbegriffs Einleitend wurde bereits festgehalten, dass für die vorliegende Studie nicht nur die inhaltliche Untersuchung des Verhältnisses von Mönchtum und traditioneller Bildung (wie unter 3.1.1 und 3.1.1.1 umrissen) von Bedeutung sein wird, sondern auch die analytische Anwendung verschiedener Aspekte moderner Bildungsbegriffe, um Intention und Vorgehen des Autors Cassian präziser fassen zu können. Hierzu haben sich drei Zugänge als besonders aufschlussreich erwiesen: Der Begriff ‚Bildung‘ stammt aus dem Spätmittelalter und wurde zunächst in enger Verbindung mit einer Vorstellung der Gottebenbildlichkeit definiert und gebraucht (s. 3.1.2.1), um schließlich zu einem der entscheidenden Schlagworte der Aufklärung und des Neuhumanismus zu werden.50 Gegenwärtig begegnet ‚Bildung‘ in einer Vielzahl von Zusammenhängen, oftmals auf ‚Aus-Bildung‘ reduziert oder synonym verwendet in Kontexten, die eigentlich von Erziehung 49 Diese Entwicklung ist nicht nur im Blick auf Cassians ägyptische Vorbilder, sondern auch auf seine gallisch-monastischen Vorgänger und Zeitgenossen (s. 2.3.1) bemerkenswert: So lehnt Sulpicius Severus in der Praefatio der Vita Martini seine eigene rhetorische Bildung zu Gunsten eines allein dem Glauben entspringenden Wirkens ab (vgl. Huber-Rebenich 2010, 107) und auch seinen Helden Martin stilisiert er als homo inlitteratus (Sulpicius Severus, Mart. 25,8; Huber-Rebenich 2010, 68). Huber-Rebenich 2010, 108 arbeitet jedoch heraus, wie konträr sich diese inhaltlichen Akzentsetzungen zum hohen und anspielungsreichen Stil des Sulpicius Severus verhalten. 50 Vgl. z. B. Schröder 22021, 155–159; oder ausführlicher Koselleck 2006, 105–154.
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3. T heoretische und methodische Grundlagen
sprechen.51 Selbstverständlich sind auch das Aspekte des Bildungsbegriffs, allerdings umfasst dieser noch ein viel weiteres Bedeutungsspektrum (s. 3.1.2.2). Für die Frage nach religiöser bzw. hier zugespitzt: monastischer Bildung ist besonders die Frage nach einer Entwicklung des Selbst im Gegenüber zu einer anderen, in diesem Fall göttlichen, Instanz, das Erlangen der Fähigkeit zur (Selbst-) Reflexion von Bedeutung (s. 3.1.2.3). 3.1.2.1 Bildung und imago dei Der Ursprung des Begriffs ‚Bildung‘ liegt in der deutschsprachigen christlichen Mystik des Spätmittelalters. Laut Meister Eckhart ist ‚Bildung‘ als ein Dreiklang aus ‚Entbilden, Einbilden und Überbilden‘ zu verstehen.52 Dabei ist die Grundannahme, dass der Mensch während der Schöpfung nach dem Ebenbild Gottes geformt oder eben gebildet wurde. Mit dem Sündenfall kommt es zu einem Verlust der Ebenbildlichkeit, der Mensch ‚entbildet‘ sich. Deshalb ist es notwendig, dass Gottes Ebenbild dem Menschen wieder ‚eingebildet‘ wird. Dieser Prozess kann bis zu der mystischen Einung mit Gott geführt werden, die Meister Eckhart dann als von Gott ‚überbildet werden‘ beschreibt.53 Hinter dieser dreifachen Denkfigur steht eine doppelte Begründung: eine biblische und eine philosophische. Die biblischen Bezüge sind zuerst Gen 1,27 („Und Gott machte den Menschen. Nach dem Bilde Gottes machte er ihn, männlich und weiblich machte er sie.“) und dann 2Kor 3,18 („Wir alle aber spiegeln mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wider, und wir werden verwandelt in sein Bild von einer Herrlichkeit zur andern von dem Herrn, der der Geist ist.“).54 Während Gen 1,27 den schöpfungsgemäßen Soll-Zustand darstellt, beschreibt 2Kor 3,18, wie dieser nach seinem Verlust durch den Sündenfall wiederhergestellt werden kann, nämlich indem Gott eine (Rück-)Verwandlung des Menschen in sein Bild wirkt. Die beiden biblischen Bezugnahmen machen deutlich, dass es sich bei ‚Bildung‘ in ihrem ursprünglichen Wortsinne immer um einen Relationsbegriff handelt: Bildung ist etwas, das Gott am Menschen wirkt.55 Bildung beschreibt kein Sich-Aneignen von Fertigkeiten, sondern eine grundlegende Verwandlung des Inneren des Menschen im Gegenüber zu Gott.56 Aber nicht nur biblische, sondern auch platonische Gedanken haben diesen ersten Bildungsbegriff mitgeprägt: die Ideenlehre und der Gedanke von Urbild und 51
Vgl. Borst 2011, 14–16. Vgl. Schweitzer 2014, 29 f. mit Meister Eckhart, Das Buch der göttlichen Tröstung 2 (106–135, bes. 117 Quint). 53 Vgl. Gemeinhardt 2019a, 9 f. und Schweitzer 2014, 29 f. 54 Vgl. Schweitzer 2014, 30. Zu exegetischen Überlegungen der atl. und ntl. Belegstellen vgl. Groß 2013, 885–889 und van Kooten 2013, 889–891. 55 Vgl. Gemeinhardt 2019a, 10. 56 Vgl. Schweitzer 2014, 32. 52
3.1 Monastische Bildung – historische und zeitgenössische Aspekte einer Definition 49
Abbild.57 Auch dieser zweiten Begründung liegt ein Beziehungsgeschehen zugrunde, das dem zuvor dargestellten ähnelt: Ohne Urbild ist kein Abbild möglich und dennoch wird das Abbild nie mit dem Urbild identisch sein, sondern ihm nur ähneln.58 Zwar soll nachfolgend keine direkte Analogie zwischen der spätmittelalterlichen Mystik und Cassians Collationes konstruiert werden, eine signifikante Parallele ergibt sich jedoch aus der Frage, wie die imago dei, ihr Verlust und die Möglichkeit ihrer Wiederherstellung im Kontext monastischer Bildung in den Collationes thematisiert werden.59 Antworten auf diese Frage werden zeigen, dass bereits die Collationes in Ansätzen ein Phänomen beschreiben, dass knapp tausend Jahre später als ‚Bildung‘ bezeichnet werden sollte: Die durch das Christusgeschehen eröffnete Möglichkeit zur (Rück-)Formung zum Bilde Gottes ist auch für Cassian ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu monastischer Vollkommenheit, dem Ziel monastischer Bildung (s. 6.3). Die Grundlage für eine Verbindung von monastischer Bildung und Gottebenbildlichkeit wird bereits in coll. 1,14 gelegt. In dieser Collatio lässt Cassian Abbas Moyses auf die Suche nach Bestimmung und Ziel des Mönchtums (s. 6.1) gehen. In coll. 1,14 stellt Moyses Überlegungen zu einem möglichen Leib-Seele-Dualismus und dessen Konsequenzen an. Dabei wird die Seele des Menschen nicht nur als sein wertvollster Teil (pretiosiorem hominis portionem 23,31) definiert, sondern auch als der Teil, in dem Bild und Gleichnis Gottes zu finden sind (in qua etiam imago dei … ac similitudo consistit 23,31–24,1). Dabei fällt auf, dass diese Zusammensetzung der Seele präsentisch formuliert wird: Weder ein Verlust der Ebenbildlichkeit noch die Notwendigkeit, sie wieder einzubilden wird an dieser Stelle diskutiert, sondern vielmehr die Tatsache, dass es einen Teil des Menschen gibt, der Gottes Ebenbild trägt. Ebenfalls präsentisch lässt Cassian in coll. 7,22 Abbas Serenus argumentieren: Die Schöpfung nach Gottes Ebenbild (… hominum qui ad imaginem dei creati sunt 201, 14 f.) ist an dieser Stelle das ausschlaggebende Argument dafür, dass ohne göttliche Erlaubnis keine Prüfung 57
Vgl. Schweitzer 2014, 30 f. dieser Stelle erfolgt eine Beschränkung der Betrachtung auf die theologischen Ursprünge des Bildungsbegriffs in der spätmittelalterlichen Mystik. Auf diese Anfänge der Begriffsdiskussion folgt bald eine ‚Ent-T heologisierung‘ des Begriffs (vgl. Schröder 22021, 156), die sich in der Diskussion um Bildung ab dem 18. Jh. verstärkt (vgl. Koselleck 2006, 122–137). Aber selbst, wenn Bildung nicht mehr primär theologisch, sondern anthropologisch betrachtet wird, bleiben die zentralen Elemente der Relation, der Dynamik und der Unverfügbarkeit erhalten. 59 Zu verschiedenen Interpretationsmustern von imago und similitudo in der altkirchlichen T heologie vgl. Havsteen 2016, 893–898. Es ist bemerkenswert, dass Cassian (mit einer Ausnahme) stets von imago und similitudo als scheinbar einer zusammenhängenden anthropologischen Grundvoraussetzung spricht. Eine Unterscheidung der beiden Begriffe, wie sie andernorts zu finden ist, ist ihm fremd. Auch in der Frage, ob die Ebenbildlichkeit mit dem Sündenfall verloren ist oder nicht, bleibt er unbestimmt und wählt den Mittelweg einer verletzten Ebenbildlichkeit (s. u. zu coll. 5,6). 58 An
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3. T heoretische und methodische Grundlagen
des Menschen durch Dämonen stattfinden kann. Auch hier ist die Ebenbildlichkeit eine Tatsache und kein Sollzustand. Ein möglicher Verlust und eine mögliche Wiederaneignung der Ebenbildlichkeit werden hingegen in coll. 5,6 diskutiert. Dort lässt Cassian Abbas Serapion im Zuge einer Adam-Christus-Typologie darstellen, dass allein Jesus Christus im Besitz eines unbeschädigten Ebenbildes ist (incorruptam imaginem dei ac si militudinem possidens 124,21 f.). Adam hingegen war nur kurze Zeit im Besitz dieses intakten Ebenbildes (inuiolata dei imagine 124,23 f.), bevor er dieses verletzte – wohlgemerkt nicht verlor – und sich in die Laster verstrickte (…in quibus post praeuaricationem mandati imagine dei ac similitudine uiolata suo iam uitio deuolutus inuolitur 124,25 f.). Auch wenn es nicht die Hauptintention dieser Col latio ist (s. hierzu ausführlich 4.2.2), einen Zusammenhang von Ebenbildlichkeit und Widerstandskraft gegen die Laster darzustellen, so ist es doch bemerkenswert, dass die Argumentation über die Verschiedenheit von Jesus Christus und Adam genau dort ihren Ausgang nimmt. Die drei bis hierher zitierten Passagen zeichnen ein passives Bild der imago dei: Sie ist eine anthropologische Voraussetzung monastischer Existenz und damit auch der diese formenden Bildung. Über die imago dei wird eine Verbindung des Menschen mit Gott geschaffen, die sich menschlicher Aktivität oder Einflussnahme entzieht. Die imago dei ist nicht sichtbar, sondern beschreibt den mit Gott verbundenen Teil des Inneren des Menschen.60 Da der Innere Mensch, die ihn beeinflussende Faktoren und seine Ausrichtung auf Gott hin ein zentrales T hema der Collationes sind (s. 4.1), rückt über diese Verbindung auch die insgesamt nur neunmal begrifflich belegte imago dei in den Fokus. Die Tatsache, dass sich alle neun Belege der imago dei in den ersten elf Collationes finden, bestärkt das Argument, dass sie eine Grundvoraussetzung monastischer Bildung ist, jedoch nicht unbedingt Gegenstand weiterführender theologischer Betrachtung. Erst in coll. 11 lässt Cassian Abbas Chaeremon erklären, wie der Mönch auf seinem Weg zur monastischen Vollkommenheit mit dem ihm innewohnenden Bild Gottes in Beziehung treten und sich auf dieses Bild hin formen kann. In coll. 11,6 werden Gründe aufgezählt, die einen Menschen dazu veranlassen können, sich von den Lastern abzukehren. Als dritter Grund wird die Leidenschaft für das Gute oder die Liebe zur Tugend genannt (affectus boni ipsius amorque uirtutum 317,20). Während die ersten beiden Gründe als weltlich bzw. menschlich klassifiziert werden, ist dieser dritte Grund göttlich, er „gehört insbesondere zu Gott und zu denen, die das Bild und Gleichnis Gottes aufgenommen haben“61 (tertium specialiter dei est et eorum qui in sese imaginem die ac similitu 60 Gegen eine Umkehr des Gedankens einer (körperlichen) imago dei des Menschen hin zu einer anthropomorphen Vorstellung von Gott wendet Cassian sich vehement in coll. 10,3–5; vgl. Stewart 1998, 88. 61 Ziegler 2014, 65.
3.1 Monastische Bildung – historische und zeitgenössische Aspekte einer Definition 51
dinem receperunt 318,13 f.). Diese hat Gott durch das Einprägen seines Abbildes – auf das auch eine Annahme durch den Menschen (recipere) folgen muss – so verändert, dass er ihnen den Willen zum Guten geschenkt hat. Dieser Argumentationsgang geht über die Verknüpfung von imago dei und Innerem Menschen hinaus und macht die Ebenbildlichkeit zu einer Grundvoraussetzung in der Frage nach der Übereinstimmung von menschlichem und göttlichem Willen sowie nach dem Zusammenwirken von Willen und Gnade (s. 4.4). Ganz ähnlich argumentiert coll. 11,9. Dort heißt es, dass der, der durch die Liebe zum Bild und Gleichnis Gottes gelangt ist, Freude am Guten haben wird.62 Zuvor wurde wiederholt caritas als Grundbewegung und Ziel des monastischen Fortschritts benannt (s. 6.1.1.2).63 Nun wird ihr ein noch höheres Ziel, nämlich das Erreichen von Bild und Gleichnis Gottes übergeordnet. Dieses wird wenig später abermals gesteigert (s. auch 6.3). Auch in coll. 11,9 heißt es, dass in denjenigen, die das Gebot des Evangeliums (an dieser Stelle mit Mt 5,44 als Feindesliebe konkretisiert) erfüllen, nicht nur als Lohn Bild und Gleichnis Gottes erkennbar werden (non solum imaginem dei et similitudinem praeferamus 323,9 f.), sondern sie gar zu Söhnen Gottes erklärt werden (mit Mt 5,45; verum etiam filii nuncu pemur 323,10 f.).64 Der Zusammenhang von Liebe und Ebenbildlichkeit wird erneut in coll. 11,14 thematisiert. Auch dort ist es das Bild Gottes, zu dem man über den Gipfel der Liebe emporsteigt (fastigium caritatis, per quam, …, ad imaginem dei similitudinemque conscenditur 331,25–27). Liest man die beiden dargestellten Argumentationszweige der Collationes zur imago dei nebeneinander, fühlt man sich unweigerlich an die oben dargestellte, doppelt biblische Begründung von Meister Eckharts Bildungsbegriff erinnert: Auf der einen Seite ist die Ebenbildlichkeit etwas, das dem Menschen durch sein Menschsein innewohnt. Auf der anderen Seite ist dieser anthropologische Grundzug durch den Sündenfall und seine Folgen verdeckt. Deshalb ist es ein entscheidendes Ziel monastischer Bildung, (wieder) zu diesem Bild hindurchzugelangen, es gewissermaßen so lange zu polieren, bis es wieder klar erkennbar ist und damit Gott und der göttliche Wille für den Menschen sichtbar werden. Von hier aus legen sich unmittelbar die nächsten beiden Aspekte eines modernen Bildungsbegriffs nahe: Einerseits ist mit der imago dei die Frage nach (Selbst-)Bildung und Bildung als Relationsbegriff aufgeworfen. Diese Frage wird im nächsten Abschnitt (s. 3.1.2.2) durch den Versuch, Sozialisation, Erziehung und (Selbst-)Bildung voneinander abzugrenzen und sie anschließend wieder zu einem umfassenden Bildungsbegriff zusammenzusetzen, weiterverfolgt. Ande62 per hanc itaque caritatem quisque ad imaginem dei similitudinemque peruenieret, bono iam propter boni ipsius delectabitur voluptatem (322,19–21). 63 Zu caritas als Äquivalent zum ersten Ziel monastischer Bildung, der puritas cordis s. 6.1.1 und vgl. Stewart 1998, 43–45. 64 Zu diesem Zusammenhang vom zweiten Ziel monastischer Bildung (Gottesschau) und Sohnschaft s. 6.1.2 und 6.3.
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3. T heoretische und methodische Grundlagen
rerseits liegt es bereits auf semantischer Ebene nahe, im Kontext von Bild / Abbild / Ebenbild auch nach ‚Spiegelbild‘, d. h. nach Reflexion, zu fragen, was in Abschnitt 3.1.2.3 geschehen wird. 3.1.2.2 Sozialisation, Erziehung und (Selbst-)Bildung Bereits in der Spätantike gab es nicht den einen Begriff für das, was hier mit ‚Bildung‘ umschrieben wird, sondern eine ganze Reihe von Begriffen, die die verschiedenen Facetten des Sachverhalts abbilden.65 Auch der heute gebräuchliche Bildungsbegriff umfasst (mindestens) drei Komponenten: Sozialisation, Erziehung und – im engen Wortsinne – Selbst-Bildung. Letzterer steht in der vorliegenden Untersuchung im Fokus, ist aber ohne die beiden anderen Begriffe nicht denk- oder durchführbar, weshalb zunächst ‚Sozialisation‘ und ‚Erziehung‘ definiert werden, bevor die (Selbst-)Bildung in Abgrenzung zu diesen beiden in den Blick genommen wird. Der Begriff ‚Sozialisation‘ beschreibt ein unbeabsichtigtes und größtenteils sogar unbewusstes Aneignen kultureller und sozialer Standards zur Integration in eine Gesellschaft.66 Der Sozialisation liegt keine sachbezogene Absicht und kein pädagogisches Konzept zugrunde, sie erfolgt durch Imitation von Verhaltensmustern mit dem Ziel der Partizipation. Traditionen werden unreflektiert übernommen und weitestgehend unkritisch fortgeführt.67 Elemente der Sozia lisation, z. B. das „Erfahrungs- und Umgangslernen“68 sind ebenfalls prägend für den Prozess der (Selbst-)Bildung (s. u.), jedoch mit dem entscheidenden Unterschied, dass auf der Stufe der Sozialisation noch keine Reflexion, keine Frage nach dem Selbst oder dem Warum, innerhalb dieser Vorgänge stattfindet.69 Anders als die Sozialisation erfolgt die Erziehung absichtsvoll. ‚Erziehung‘ beschreibt einen transitiven und affirmativen Prozess, dem ein klares Verhältnis zwischen Subjekt (Erzieher:in) und Objekt (zu Erziehendem:r) zugrunde liegt.70 Erziehung erfolgt oft in einem institutionell geprägten Rahmen, häufig in einem schulischen Setting. Sie zielt auf das Einüben von Verhaltensmustern und das Aneignen von Wissensbeständen. Dabei kann es auch um einen mess- und prüfbaren Fortschritt der Adressat:innen des Erziehungsprozesses gehen.71 Diesem liegt ein klares Ziel zugrunde, nach dessen Erreichen der Prozess als abgeschlos65 Vgl. Gemeinhardt 2019a, 19 f.24 f. Dort werden nicht nur eruditio und παιδεία voneinander abgegrenzt, sondern auch die verschiedenen Bedeutungsebenen der (ἐγκύκλιος) παιδεία aufgefächert. Auch Schröder 22021, 155 verweist auf die Pluralität und damit Definitionsunschärfe des Bildungsbegriffs. 66 Vgl. Borst 2011, 21. 67 Vgl. Gemeinhardt 2019a, 20 f. 68 Benner 2012, 232. 69 Vgl. Borst 2011, 22. 70 Vgl. Hörner 2008, 10. 71 Vgl. Gemeinhardt 2019a, 20.
3.1 Monastische Bildung – historische und zeitgenössische Aspekte einer Definition 53
sen betrachtet wird.72 Erziehungsprozesse sind dabei operationalisierbar, d. h. sie können bewusst durch ihre Akteure gestaltet und getaktet werden.73 Anders als die Erziehung ist die (Selbst-)Bildung gerade durch ihre lebenslängliche Unabschließbarkeit gekennzeichnet.74 Sie bezieht sich nicht primär auf das (überprüfbare) Aneignen von Wissen oder Fähigkeiten zu einem konkreten (politischen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen) Zweck, sondern auf das Wachstum des Inneren Menschen.75 Dabei zielt die (Selbst-)Bildung vor allem auf die Ausbildung eines Selbst-Bewusstseins und auf das Erreichen einer Reflexions- und Kritikfähigkeit.76 (Selbst-)Bildung als dritte Komponente des Bildungsprozesses bezieht sich stets auf die vorhergehenden Etappen; eine Neuverortung des Selbst gegenüber der Umwelt ist nicht möglich, ohne (durch Erziehung) etwas über diese Umwelt gelernt zu haben oder ohne (durch Sozialisation) eingespielter Teil von ihr zu sein.77 Auch wenn Bildung nicht wie Sozialisation oder Erziehung von außen gesteuert wird, so braucht sie doch einen Impuls, der sie auslöst, der das Individuum dazu anregt, über sein ‚Selbst‘ in Relation zu anderen und zu seiner Umwelt nachzudenken und daran zu wachsen.78 Das Entwickeln eines besseren Verständnisses für das Selbst im Gegenüber zum Anderen oder zur Umwelt lässt stark an die im vorherigen Abschnitt skizzierten Überlegungen zur Wiedereinbildung der imago dei denken – auch hier wird das Selbst im Blick auf ein Gegenüber und eben durch dieses Gegenüber verwandelt. Ebenfalls im Kontext der imago dei wurde bereits von Bildung als einem Relationsbegriff gesprochen. Dies bedeutet, dass nicht nur ein Wachstum 72
Vgl. Drinck 2008, 92 f. Vgl. Gemeinhardt 2019a, 20. 74 Vgl. Drinck 2008, 92 f 75 Vgl. Borst 2011,14 f. und Schweitzer 2014, 170–176. 76 Vgl. Gemeinhardt 2019a, 21 f. Mit der Formulierung des „Selbst“-Bewusstseins ist ein Punkt angestoßen, der aufgrund unterschiedlicher Bedeutungszumessung der Konzeptionen von „Selbst“ und „Individualität“ zwischen Spätantike und Gegenwart näher zu betrachten ist: Bereits im griechischen Sprachgebrauch der Antike ist die Rede von ἑαυτοῦ und σεαυτοῦ – beispielsweise in der Aufforderung des delphischen Orakels zur Selbsterkenntnis. Diese ist aber nicht ohne gleichzeitige bzw. vorhergehende Gotteserkenntnis möglich, in Abgrenzung zu der das Selbst erst begreifbar wird – Selbsterkenntnis muss mit Beziehungserkenntnis einhergehen (vgl. Gemeinhardt 2019a, 13 f.). 77 Vgl. Borst 2011, 26. 78 Zu Erfahrungen mit der Umwelt, die einen Reflexions- und damit auch einen Bildungsprozess auslösen s. 3.1.2.3. Die Irritation durch einen Umweltimpuls löst zunächst einen Vorgang des ‚Lernens‘ aus, der – wie Borst 2011, 19 darlegt – integraler Bestandteil von ‚Bildung‘ ist. Anders als Sozialisation, Erziehung und (Selbst-)Bildung beschreibt er aber kein Beziehungsgeschehen, sondern die Tätigkeit eines Einzelnen im Zuge eines solchen Beziehungsgeschehens, weshalb er an dieser Stelle nur untergeordnet betrachtet wird. Als weitere Unterscheidung führt Borst 2011, 20 an, dass sich zwar alle drei Komponenten des Bildungsbegriffs aus Lernprozessen speisen, dass das aber nicht im Umkehrschluss bedeutet, dass jeder Lernprozess – der zunächst nur auf den Umgang mit dem jeweiligen Umweltreiz zielt – auch zur umfassenden Bildung des Menschen beiträgt. 73
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3. T heoretische und methodische Grundlagen
des Selbst Ergebnis einer lebenslänglich andauernden (Selbst-)Bildung ist, sondern davon aus- und damit einhergehend auch eine Veränderung der Sicht auf die Umwelt und eben auch auf die Dinge, die den Bildungsprozess angestoßen und begleitet haben.79 Dieses Phänomen auf den Punkt bringt eine ausgesprochen knappe Definition des Bildungsbegriffs durch T h. Adorno: „Bildung ist nichts anderes als Kultur nach der Seite ihrer subjektiven Zueignung.“80 Verbindet man diese Aussage mit den zuvor getroffenen Überlegungen zur imago dei leuchtet ein, dass die Bildung des Selbst nur durch Anverwandlung und Zueigenmachen von etwas, das zunächst außerhalb des Menschen steht, erfolgen kann – der Mensch wird facettenreicher und damit zu einer neuen, vertieften Interaktion mit seinem Gegenüber oder seiner Umwelt fähig. Es hat sich gezeigt, dass Sozialisation ‚nebenbei‘ erfolgt, Erziehung meist innerhalb eines institutionellen Rahmens stattfindet und (Selbst-)Bildung auf diesen ersten beiden Stufen aufbaut und sie in individueller Weise fortführt. Es ist auch deutlich geworden, dass eine Arbeitsdefinition von Erziehung und Sozialisation recht schnell gefunden ist, während Bildung nicht nur in ihrem Vollzug, sondern auch in ihrer Beschreibung vielgestaltiger ist. Was hier für die Definition moderner Begrifflichkeiten festgestellt wird, gilt umso mehr für die Beschreibung vergleichbarer Prozesse in spätantiken Quellentexten: Während Beschreibungen und Anleitungen zu praktischen Lernprozessen verhältnismäßig häufig begegnen, sind Beschreibungen von (Selbst-)Bildungs- und Reflexionsprozessen seltener anzutreffen, was nicht zuletzt daran liegt, dass ein derart individuenbezogenes Denken der Spätantike wenig geläufig ist.81 Umso bemerkenswerter ist es, dass die Collationes alle drei Bereiche bereits auf Ebene der Erzählung (s. 3.3) abdecken: In den Rahmenhandlungen wird nicht nur von der Sozialisation, die Cassian (jung) und Germanus durch das langjährige Leben bei und mit den verschiedenen Altvätern durchlaufen haben, berichtet, sondern durch die erfahrungsstiftende Funktion dieser Rahmenhandlungen wird auch bei Cassians Leserschaft ein Vertraut-Werden mit den Lebensstandards der ägyptischen Wüstenväter ausgelöst. Vergleichsweise selten sind Passagen in den Collationes zu finden, die sich als erziehender Text bzw. Text, der Erziehung beschreibt, klassifizieren lassen. Diese sind m. E. in Cassians Gesamt79 Mit dieser Deutung sind bereits Fragen der Reflexion, wie sie unter 3.1.2.3 thematisiert werden, genauer genommen des learning cycle, berührt. 80 Adorno 1972, 91. 81 Vgl. Gemeinhardt 2019a, 21 und Gemeinhardt 2019b, 448 f. Möchte man im Blick auf die Spätantike doch von Individualität oder Individualisierung reden, ist dies m. E. mit der folgenden Adaption der Begrifflichkeiten an die zeitgegebenen Umstände mit Gemeinhardt 2019b, 448 f. folgendermaßen möglich: „Unter diesen Voraussetzungen ist schon für die Vormoderne von ‚Individualisierung‘ zu sprechen – allerdings nicht im Sinne des autonomen Selbstentwurfes des denkenden Subjekts, sondern primär in der Zumutung der Selbst-Reflexion in Verbindung mit einer bewussten Übernahme (und durchaus auch Umgestaltung) zugedachter sozialer Rollen und Profile.“
3.1 Monastische Bildung – historische und zeitgenössische Aspekte einer Definition 55
werk verstärkt in den ersten vier Kapiteln der Instituta – die stark an monastische Regelwerke erinnern – zu verorten und können somit in den Collationes als gegeben vorausgesetzt werden.82 Der größte Teil der Collationes beschäftigt sich mit dem, was hier und im Folgenden als monastische (Selbst-)Bildung beschrieben wird: der Entwicklung des Inneren Menschen im (reflektierten) Gegenüber zu Gott.83 Diese Zuordnung – Instituta: Äußerer Mensch, Collationes: Innerer Mensch – nimmt Cassian selbst im ersten Prolog der Collationes vor (s. 4.1.2) – das bestätigt die Möglichkeit und Sinnhaftigkeit der Verwendung der modernen Begrifflichkeit von Bildung zur Analyse dieser Konstellation. 3.1.2.3 Reflexion als zentrales Element der (Selbst-)Bildung Im vorhergehenden Abschnitt wurde Reflexionsfähigkeit bereits als ein, wenn nicht sogar das entscheidende Kriterium der komplexesten Stufe des gesamten Bildungsprozesses, den ein Mensch durchlaufen kann, der Selbstbildung, beschrieben. Nun ist nach zweierlei zu fragen: Zum einen, was Reflexion allgemein gesprochen im Bildungskontext eigentlich bedeutet, und zum anderen, welche Funktion die Reflexion im Rahmen der (religiösen) Selbstbildung, wie sie in den Collationes beschrieben wird, hat. Der Begriff ‚Reflexion‘ wurde in den vergangenen Jahrzehnten in den Bildungs- und Erziehungswissenschaften häufig thematisiert. Eine knappe Definition, die zum Weiterdenken anregt, bietet W. Hilzensauer: „Reflexion (von reflectere) bedeutet soviel wie zurückbeugen, also (im übertragenen Sinne) eine Position oder Haltung einzunehmen, die es einem ermöglicht, Dinge von einem anderen Standpunkt oder aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. … Reflexion wird auf der einen Seite als Grundprinzip für die Entwicklung der Kompetenz gesehen … und ist die Basis für eine Selbstbestimmung im Lernprozess.“84
Exemplarisch kann eine Anwendung dieses Reflexionsbegriffs auf konkrete Lehr-Lern-Zusammenhänge am Beispiel des learning cycle nach D. A. Kolb dargestellt werden.85 Dieser geht von der Grundannahme aus, dass Lernen über zwei Transformationsmodi geschieht: Zum einen wird aus einer aktiven Handlung 82 Eindrücklich illustrieren lässt diese T hese sich mit einem Blick auf das monastische Gebet, wie es in den jeweiligen Werken Cassians geschildert wird: Die Instituta wollen zum Stundengebet anleiten, das nicht nur institutionell gefügt, sondern vor allem ‚von außen‘ vermittel-, kontrollier- und prüfbar ist. In den Collationes hingegen wird das individuelle, verinnerlichte, immerwährende Gebet beschrieben (s. 5.6.5 und vgl. inst. 2,9, wo Cassian selbst diese Unterscheidung benennt). 83 Dieser Aspekt wird unter dem Begriff „Bildsamkeit“ als zentraler Grundbegriff der allgemeinen Pädagogik bei Benner 2014, 26–31 verhandelt, wobei betont wird, dass dieser Begriff theologische und pädagogische Aspekte in einmalige Nähe zueinander rücke. 84 Hilzensauer 2008, 2. 85 Dieses wurde jedoch vielfach kritisch rezipiert, um anschließend modifiziert und fortgeführt zu werden: Kritikpunkte sind, dass Umwelteinflüsse (s. o. zur Sozialisation)
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3. T heoretische und methodische Grundlagen
auf abstraktes Wissen, das dieser Handlung zugrunde liegt bzw. aus ihr folgt, geschlossen (Induktion). Zum anderen kann vorhandenes abstraktes Wissen im Zuge einer aktiven Handlung angewendet werden (Deduktion). Beide Vorgänge sind nicht als Alternativen zu betrachten, sondern vielmehr als wechselwirksamer Kreislauf.86 Dieser erstreckt sich laut Kolb über vier Stufen:87 – Auftreten einer konkreten Erfahrung – Beschreibung, Kommunikation und Reflexion der Erfahrung – abgeleitete T heoriebildung anhand dieser Erkenntnisse – Übertragung der T heorie auf eine neue praktische Erfahrung. Es wird betont, dass Reflexion, umschrieben als ein Überdenken und Beurteilen der gemachten Erfahrung (s. 5.4), ein entscheidender Schritt im Lernprozess ist. Reflexion wird durch das Erleben einer Situation, also durch einen äußerlichen Impuls, ausgelöst, dann aber individuell fortgeführt, d. h. aus einem Erlebnis können von verschiedenen Personen verschiedene Schlussfolgerungen gezogen werden. Um den Reflexionsprozess auszulösen, bedarf es in der Regel einer kontrollierten Lernumgebung bzw. einer Lehrperson, da ein selbstständiges Lernen / Reflektieren bei den wenigsten Lernenden vorausgesetzt werden kann.88 Um zu verstehen, wie die beschriebene Reflexion genau funktioniert bzw. welche Arten von Reflexion im Detail zu unterscheiden sind, ist der Blick nun auf zwei aktuelle Konzepte, die den Reflexionsbegriff jeweils dreiteilen, zu lenken. Die Darstellungen von drei Stufen der Reflexion ähneln sowohl dem zitierten learning cycle nach Kolb als auch einander, heben jedoch je unterschiedliche Aspekte hervor, sodass es lohnend ist, beide gemeinsam zu betrachten: T. Jenert unterscheidet erstens problemorientierte Reflexion, zweitens lern- und verhaltensbezogene Reflexion und drittens ziel- und identitätsbezogene Reflexion.89 A. T hielsch unterscheidet in Anlehnung an D. Schön erstens ‚reflection on action‘, zweitens ‚reflection in action‘ und drittens ‚reflection anticipating action‘.90 Beide Konzepte beschreiben eine sich steigernde Komplexität der Reflexion: Jenert stellt dar, dass die erste Stufe der Reflexion konkret problemlösend angelegt ist, der:die Reflektierende fragt sich, was ihr:ihm helfen könnte, eine vergleichbare Situation bei erneutem Auftreten besser zu lösen. Diese Reflexion ist allein auf den Gegenstand, nicht auf die Person der:des Reflektierenden bezogen. Den Bezug der Reflexion auf die Handlung / den Gegenstand betont auch ebenso unbeachtet bleiben wie individuelle Lerntypen bzw. Lernstile; vgl. Hilzensauer 2008, 4. 86 Kolb / Frey 1975, zitiert nach Jenert 2008, 7. 87 Vgl. Hilzensauer 2008, 4. 88 Vgl. Hilzensauer 2008, 1; s. 3.1.2.2 zum äußeren Anstoß der (Selbst-)Bildung. 89 Vgl. Jenert 2008, 6–13. 90 Vgl. T hielsch 2019, 10–13.
3.1 Monastische Bildung – historische und zeitgenössische Aspekte einer Definition 57
T hielschs reflection on action. Der Fokus liegt dabei auf den Schlüssen, die aus einer in der Vergangenheit liegenden Handlung gezogen werden können. Stärker auf die Kompetenz der:des Handelnden zielt die zweite Stufe der Reflexion. Laut Jenert lautet die Grundfrage, die sich die:der Lernende nun stellt, wie sie:er aus der Situation lernt und wie sie:er sich in einer vergleichbaren Situation verhalten sollte, d. h. es geht neben dem Kompetenzerwerb auch um die Ausbildung einer Strategie. Noch konkreter formuliert es T hielsch: Ihre zweite Stufe reflection in action beschreibt das Vermögen, eine Situation nicht nur im Nachgang zu beurteilen, sondern das eigene Verhalten bereits, während man sich in der Situation befindet, aufgrund zuvor gemachter Erfahrungen und durch Rückgriff auf vorhandenes Wissen, zu adjustieren. Die dritte Stufe beschreibt jeweils eine Reflexion, die weniger problem- oder gegenstandsorientiert, sondern stärker auf das Individuum und seine persönlichen Ziele bezogen ist. Jenert formuliert dies so, dass die:der Lernende nun fragt, wozu sie:er eigentlich lernt. Diese identitäts- und zukunftsbezogene Fragestellung wird von T hielsch noch einmal stärker an die Handlung gebunden: Ihr reflection anticipating action beschreibt eine Reflexion, die zwar ebenfalls in die Zukunft gerichtet ist, aber nicht, wie Jenert es beschreibt, nach dem allgemeinen Wert des Lernprozesses für die:den Einzelnen fragt, sondern nach dem Vermögen, Lösungsstrategien zu entwickeln, bevor sich eine konkrete Situation, in der diese anzuwenden sind, auftut und damit noch stärker an Jenerts zweite Stufe denken lässt. Weshalb Reflexion für die Bildung von fortgeschrittenen Lernenden so zentral ist, beschreibt A. T hielsch im Blick auf die gegenwärtige Hochschuldidaktik folgendermaßen: „Lernen braucht Reflexion. Durch Reflexion wird Wahrgenommenes ergründet und erlangt Bedeutung, wird abstrakte Information in Relation zu konkret erlebten Situationen gesetzt und werden vorhandene Wissenskonzepte hinterfragt und bearbeitet. Durch Reflexion kann ein Lernimpuls die Qualität erhalten, um auf bestehende Sinnkonstrukte einzuwirken. … der Reflexion [kommt] die Aufgabe zu, das Abstrakte einer Information mit der Erfahrung aus einer konkreten Situation in Verbindung zu setzen und beidem in Ergänzung zueinander einen neuen Wert für das Wissenskonstrukt einer Person zu geben.“ 91 „Ein solcher Reflexionsimpuls ist es, der in der Begegnung mit dem Anderen ausgelöst wird.“92
Ganz Ähnliches beschreibt P. Gemeinhardt im Blick auf Bildung und Religion in der Spätantike:
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92
T hielsch 2019, 10. T hielsch 2019, 13.
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3. T heoretische und methodische Grundlagen
„Von Bildung ist wiederum da zu sprechen, wo der oder die Einzelne zur Reflexion, möglicherweise sogar zur Kritik vorgegebener und angeeigneter Praktiken gelangt oder jedenfalls gelangen soll. … Die Reflexion des eigenen Selbst im Gegenüber zu Gott ist wiederum im Vergleich zum praktischen Lernen ein selteneres Phänomen, dessen Beschreibung methodisch anspruchsvoll ist.“ 93
Es ist frappierend, wie sehr sich diese beiden Zitate, obwohl sie aus so unterschiedlichen Kontexten stammen, doch ähneln. Beide benennen die (Fähigkeit zur) Reflexion als zentrales Element des Bildungsprozesses, dabei dient die Reflexion immer dem Ziel, bestehendes Wissen und bestehende Weltsichten zu hinterfragen und zu modifizieren. Auch ohne sich auf die drei Stufen der Reflexion nach Jenert oder T hielsch zu beziehen, unterscheidet Gemeinhardt in analoger Weise zwischen der „Reflexion … angeeigneter Praktiken“ und „Reflexion des eigenen Selbst“. T hielsch und Gemeinhardt stimmen darin überein, dass man nicht allein reflektieren kann. Wenn T hielsch von der „Begegnung mit dem Anderen“ spricht, bietet sich hier eine vorzügliche, wenn auch ungewollte, sprachliche Parallele zu Gemeinhardts „Reflexion … im Gegenüber zu Gott“. Die unter 4. beginnende Analyse der Collationes wird zeigen, dass Cassian großen Wert darauf legt, seine Adressaten zu einer bewussten und eigenständigen Reflexion ihres monastischen Daseins zu befähigen. Er ist bestrebt, nicht nur Handlungsanweisungen zu geben, sondern diese auch so zu begründen, dass verständlich wird, wie uns weshalb eine Handlung situationsgeboten ist. Dabei agiert Cassian nicht nur retrospektiv oder im Blick auf eine bestimmte Situation, sondern hat ein Ziel im Blick, das am ehesten der dritten beschriebenen Stufe der Reflexion ähnelt: Er möchte das notwendige Hintergrundwissen vermitteln, das ein jeder Mönch braucht, um in Situationen der Anfechtung, die ihn zum Gebrauch seiner Unterscheidungsfähigkeit (s. 5.1) drängen, richtig zu Handeln. Die Einsicht in das, was gut und richtig ist, erfolgt dabei selbstverständlich verbunden mit einer Einsicht in das Gute schlechthin – Gott –; womit der letztgenannte Punkt, die Reflexion im Gegenüber zum Anderen ebenfalls als integraler Bestandteil der Collationes erscheint. 3.2 Die Collationes als monastisches Lehrbuch in Analogie zu anderen Lehrbüchern der (Spät-)Antike Rebecca Krawiec legt 2012 in ihrem Aufsatz „Monastic Literacy in John Cassian: Toward a New Sublimity“ dar, weshalb die Struktur der Collationes offensichtliche und eindrückliche Parallelen zu spätantiken paganen Lehrbüchern erkennen lässt und wie Cassian die Gattungen der klassischen Bildungsliteratur nutzt, um seine Lehre der monastischen Vollkommenheit zu strukturieren.94 Krawiec 93
94
Gemeinhardt 2019a, 21. Krawiec 2012.
3.2 Die Collationes als monastisches Lehrbuch in Analogie zu anderen Lehrbüchern
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argumentiert, dass Cassian sich eines bestimmten, geprägten Sprachgebrauchs bediene, der an seine Zielgruppe, die südgallische, männliche Elite, angepasst sei.95 Dieser Sprachgebrauch orientiere sich an zwei Gattungen der klassischen Bildung: Die Form des grammatischen Handbuchs sei stilistisches Vorbild für die Instituta gewesen, während die Collationes sich an Handbücher für Rhetorik anlehnten. Diese ‚Handbuchartigkeit‘ diene dem Zweck, eine ars monastica in Analogie zu anderen artes zu definieren und damit die vorhandene Struktur von Bildungserwerb, die Cassians Zielpublikum bekannt gewesen ist, aufrecht zu erhalten und mit neuen Inhalten zu füllen. Konkret wird dies als re-fashioning eines bestehenden Bildungsideals bezeichnet.96 Wie genau funktioniert dieses re-fashioning laut Krawiec? Es gibt zwei Möglichkeiten, wie in der Antike Grammatik gelernt wurde: Entweder anhand eines beispielhaften Lehrtextes oder anhand einer Liste mit Phänomenen.97 Entweder wird von Buchstaben über Silben und Wörter hin zur Rede gelehrt, oder die genannten Phänomene werden deduktiv aus einer bestehenden Rede erschlossen.98 Gelernt wird vorrangig durch ein Kopieren und Memorieren der Texte; dies kann durch eine Darstellung im Frage-Antwort-Schema (Erotapokriseis) erleichtert werden.99 Eine Aufgabe der Grammatik-Handbücher ist es, die Grenzen des (sprachlich) Akzeptablen aufzuzeigen – alles darüber hinaus erscheint so als „barbarism“100. Diese Grenzziehung sowie die Vollmacht über die Auswahl der gegebenen Beispiele verleihen dem Autor grammatischer Handbücher eine hohe Autorität, die den Werdegang seiner Schüler prägt.101 Offensichtlich lassen sich hier Parallelen zu den Instituta, aber darüber hinaus durch die dialogische Darstellungsform auch schon zu den Collationes, ziehen: Cassian möchte die Grenzen des monastisch Akzeptablen aufzeigen und dies dem monastischen „barbarism“, der in Gallien seiner Meinung nach herrscht (s. 2.3.1), entgegensetzen. Dazu bedient er sich sowohl einer induktiven Technik, indem er zunächst in den Instituta monastisches Regelwerk der ägyptischen Klöster aufzeigt, um sodann in den Collationes zur deduktiven Herleitung monastischen Wissens aus den Altväterreden aufzufordern. Der Aufbau von Handbüchern der griechischen wie der lateinischen Rhetorik folgt einem festeren Schema. Dieses wurde, einmal ausgebildet, über die Jahrhunderte tradiert und abgesehen von kleineren Umstellungen des Inhalts kaum
95
Vgl. Krawiec 2012, 765. Vgl. Krawiec 2012, 767.773. 97 Vgl. Chin 2008, 12. 98 Vgl. Chin 2008 12 f. 99 Vgl. Chin 2008, 14.; zur Entstehung, Gestaltung und christlichen Aneignung des Erotapokriseis-Schemas vgl. Dörrie / Dörries 1966, 347–370. 100 Chin 2008, 16. 101 Vgl. Chin 2008, 17. 96
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3. T heoretische und methodische Grundlagen
überarbeitet.102 Anhand dieses Schemas wird Abfassung, Aufbau und Präsentation einer überzeugenden Rede gelehrt. Handbücher der Rhetorik weisen stets einen systematischen Aufbau auf, der dazu führt, dass die einzelnen Vorschriften nur innerhalb ihrer Ordnung zugänglich sind.103 Diese Ordnung besteht in der Regel aus einer Begriffspyramide: An ihrer Spitze steht die Kunst der Rede, untergliedert in verschiedene Begriffe. Auf jeden Begriff folgt seine Definition, dann erst folgt die eigentliche Behandlung des jeweiligen T hemas.104 In einem gewissen Maße lässt sich diese Grundstruktur in den Collationes wiederfinden: Ihr Aufbau ist systematisch. Als Spitze, in Analogie zur Redekunst, ist die zu erstrebende Vollkommenheit auszumachen. Jede Collatio hat ein T hema, vergleichbar mit dem einen Begriff, der erklärt werden muss. Was dann folgt, ist allerdings wenig systematisch, eine klare Definition des jeweiligen „T hemas“ fehlt in den meisten Collationes, vielmehr handelt es sich um eine Umschreibung bzw. Beschreibung, die es dem Leser ermöglicht, an eigene Erfahrungen anzuknüpfen bzw. diese überhaupt erst zu generieren, um sodann zu einer eigenen, individuellen „Definition“ des „Begriffs“ zu kommen.105 Mit Hilfe dieses Handbuch-Vergleiches kann R. Krawiec auch das Verhältnis der beiden monastischen Werke Cassians zueinander definieren: In einer ersten Stufe werden durch die Instituta T hemen und Inhalte mit dem Ziel, sie zu memorieren, aufgelistet, zudem wird hier eine narrative Verbindung zwischen der Lehrautorität – R. Krawiec spricht von der Autorität der Altväter, m. E. ist es eher die Autorität Cassians als Lehrbuchautor, die etabliert werden soll – und den Lesern geschaffen.106 Die darauf aufbauenden Collationes zielen – so R. Krawiec – durch ihr Dialogformat darauf, dem Leser eine authentische Replikation der von Cassian gemachten Erfahrung zu ermöglichen und damit eine vergangene bzw. räumlich und zeitlich nicht mehr zugängliche Tradition für die Nachwelt festzuhalten. Dieses Ansinnen und das dafür gewählte Dialogformat lässt R. Krawiec eine Parallele zwischen den Collationes und Ciceros De oratore ziehen.107 Parallelen zwischen De oratore und den Collationes sind durch das dialogische Format und die Absicht, Erfahrungen zu stiften, nicht von der Hand zu weisen, allerdings ist fraglich, ob De oratore als beispielhaftes Rhetoriklehrbuch gewertet werden kann: Bereits Cicero selbst räumt in einem Brief, über De oratore reflektierend, ein, dass er sich im Dialogformat eher an Aristoteles als an den üblichen Vorschriften orientiere.108 De oratore erscheint damit weniger als Handbuch der 102
Vgl. Fuhrmann 1984, 76. Vgl. Fuhrmann 1984, 75. 104 Vgl. Fuhrmann 1984, 75. Zur exemplarischen Ausgestaltung einer solchen Ordnung vgl. ebd. 77 f. 105 S. auch 3.3 zum Stichwort Experientiality. 106 Krawiec 2012, 775 f. 107 Vgl. Krawiec 2012, 777. 108 Vgl. Nüßlein 2007, 445. 103
3.3 Die Collationes als erzählender Text
61
Rhetorik im oben beschriebenen Sinne als eine ausführliche theoretische Reflexion über Fragen der Rhetorik.109 Aber auch wenn der Vergleich zwischen den Collationes und der engen Gattungsbezeichnung des rhetorischen Handbuchs m. E. geweitet werden muss, ist es lohnend, das Krawiec’sche Gedankenspiel noch weiter zu verfolgen: Denn als nächstes zeigt sie, dass die Collationes eine fortgeschrittenere Art des Lernens adressieren als die Instituta. Dies verdeutlichst R. Krawiec, indem sie den Lehrer der Grammatik / der Instituta als „simply a man of ratio and memoria“, die Lehrer der Rhetorik / der Collationes hingegen als „artists“ beschreibt.110 Die Kunst Rhetorik bildet Redekünstler aus, die ihre Kunst der geschliffenen Rede in Perfektion beherrschen. Dieses trianguläre Schema überträgt R. Krawiec auf das von Cassian gelehrte Mönchtum, wonach die ars monastica den Abbas hervorbringt, der als ‚Kunstwerk‘ die „goals of monasticism“ erreicht.111 Diese „goals“ definiert R. Krawiec vor allem als die Aneignung einer „monastic literacy“. Dabei geht es nicht nur um eine Kenntnis der Texte, sondern vielmehr darum, mit dem Gelesenen in Interaktion zu treten und zuzulassen, dass der Leseprozess den Leser verändert.112 Dieser Effekt, dass das Gelesene und Gelernte auch dann, wenn es nicht aktiv abgerufen wird, einen Einfluss hat, lässt R. Krawiec darauf schließen, dass monastisches Lernen mehr als ein Handwerk ist, dass ihm auch eine spirituelle, dem Zugriff des Menschen entzogene Komponente innewohnt.113 Anhand dieser strukturellen Betrachtung der monastischen ‚Lehrbücher‘ Cassians wurde deutlich, wie intensiv er selbst die methodische Vergleichbarkeit der verschiedenen Künste und Disziplinen, die er den Altvaterfiguren immer wieder in den Mund legt (s. 3.1.1.1), zur Anwendung bringt. Hier ist eine Transformation traditioneller Vorstellungen und Konzepte von paideia zu beobachten (s. 3.1.1), die bereits von einem hohen Grad der Verschmelzung der beiden elliptischen Brennpunkte ‚Mönchtum‘ und ‚Bildung‘ zeugt und ‚monastische Bildung‘ als umfängliche Weiterentwicklung traditioneller Bildung (s. 3.3.1) erscheinen lässt. 3.3 Die Collationes als erzählender Text: Eine Betrachtung unter narratologischen Gesichtspunkten Wie unter 2.3.2.2 bereits dargelegt wurde, bestehen die Collationes zu großen Teilen aus Altvaterreden, die von kurzen, dialogischen Einwürfen des Germanus unterbrochen werden und von kürzeren oder längeren erzählenden Rahmenhandlungen umschlossen sind. Mit Hilfe der vorgeblich direkt gesproche109
Vgl. Andersen 2001, 13–15. Krawiec 2012, 777. 111 Vgl. Krawiec 2012, 777 f. 112 Vgl. Krawiec 2012, 778 f. 113 Vgl. Krawiec 2012, 780 f. 110
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3. T heoretische und methodische Grundlagen
nen Väterworte, die den Großteil des zu untersuchenden Textes ausmachen, soll zweierlei erreicht werden: Zum einen steht die Autorität der gesammelten Altväterworte, die nicht nur durch ihre Summe, sondern auch durch ihr Alter, die des Autors Cassian überbietet, im Zentrum. Zum anderen ermöglicht das Dialogische den Adressaten Cassians, die Unterweisung direkt zu „erfahren“, so als säßen sie mit den Protagonisten Germanus und Cassian (jung) zusammen zu Füßen der Altväter.114 Diese Technik, die sich an antike Vorbilder, wie z. B. das unter 3.2 bereits thematisierte Werk Ciceros, De oratore, anlehnt und deren Übertragung in die monastische Literatur K. S. Frank am Beispiel der Collatio nes mit dem Begriff „Fiktive Mündlichkeit“ eindrücklich beschreibt, zeichnet sich durch die folgenden Charakteristika aus: „Fiktive Mündlichkeit ist [….] ein Stück Literatur, das unmittelbar wiedergegebene Mündlichkeit sein will. Sie gibt vor, eine tatsächlich gehaltene Rede oder ein tatsächlich stattgefundenes Gespräch schriftlich festzuhalten. Sie will einfach verschriftlichte Mündlichkeit sein. Diese vorgetäuschte Mündlichkeit kann ein ganzes Buch bestimmen oder nur bestimmte Teilstücke eines Werkes, etwa eingefügte Reden oder Gespräche, die wörtlich wiedergegeben werden. Sie ist keine Erfindung der monastischen Literatur, auch keine Neuschöpfung der christlichen Literatur, sondern in der klassischen Literatur der Antike vorgegeben. Ihre bevorzugte Ausdrucksform ist der Dialog, aber auch die fiktive Rede.“115
Das Fiktive, das diesen Väterworten anhaftet, wird durch die die Reden der einzelnen Väter einleitenden Rahmenerzählungen unterstrichen: Jede Collatio, in der ein neuer Altvater zur Rede ansetzt, wird von einer kürzeren oder längeren narrativen Situationsbeschreibung, die häufig auf biographische Details des im Folgenden ‚redenden‘ Altvaters eingeht, eingeleitet. In den Rahmenhandlungen beschreibt Cassian (jung) als Erzähler, wie er und Germanus die nachfolgend geschilderte Situation erlebt haben, wie ihr Reiseweg aussieht, wo sie während der Unterweisung sitzen und welch karge Mahlzeit sie anschließend mit dem Altvater teilen. Teils wird aber auch die Vorgeschichte der Altväter weit über das hinaus, was Cassian (jung) und Germanus in der konkreten Situation der Unterweisung erfahren haben, erzählt.116 Vergleicht man die Entwicklung der Rahmenerzählung über die drei Teilbände der Collationes hinweg, zeigt sich, dass sie in der Tendenz nicht nur länger, sondern auch vielschichtiger werden. Zudem lässt sich beobachten, dass die Rahmenerzählungen besonders dann detailreich ausgestaltet werden, wenn sie einen Altvater vorstellen, der über ein T hema spricht, das besonders komplex oder kontrovers ist. Besonders ausführlich werden Chaeremon (coll. 11–13) und T heonas (coll. 21–23) eingeführt. Beide streifen mit den Fragen nach Wille und 114 Vgl. Holze 1992, 141–147; Kelly 2012, 3.14. Zur „Erfahrung“ als wichtiger Kategorie monastischer Bildung s. auch 5.4. 115 Frank 1997, 53. 116 Zwei Beispiele sind ausführlich untersucht in Schenk 2020, 127–134.
3.3 Die Collationes als erzählender Text
63
Gnade (Chaeremon) bzw. der Frage nach einer möglichen Sündlosigkeit des Menschen (T heonas) T hemen, in denen die von Cassian dargestellte Position strittig ist (s. 4.3 und 4.4). Diese T hese hält auch einer Gegenprüfung Stand: So wird z. B. Abbas Isaak, der in coll. 9 f. über ein unstrittiges Kernthema des monastischen Lebens, das Gebet, spricht, gar nicht erzählerisch eingeführt, er beginnt seine ‚Rede‘ direkt. Serapion (coll. 5, Laster) und Nesteros (coll. 14 f., Schriftauslegung und geistliches Wissen) werden mit jeweils nur einem Satz, der ihre große Tugendhaftigkeit lobt (121,6 f.) bzw. die Klarheit der im Nachfolgenden wiedergegebenen Ausführung preist (398,9–11), eingeleitet. Diese Rahmenerzählungen, die m. E. eine erfahrungsstiftende Wirksamkeit der Unterredungen mit den Wüstenvätern (im engeren Sinne der dialogischen Teile) in Südgallien erst ermöglichen, wurden in der bisherigen Forschung kaum beachtet: C. Stewart beschränkt sich diesbezüglich auf die Feststellung, dass „these historical elements create the framework for his writings“117 und geradezu vernichtend fällt das Urteil von O. Chadwick aus: „T he little narratives at the beginning and the end of each homily are the scantiest of conventional frames.“118 Um die Collationes in Gänze fassen zu können, ist es jedoch notwendig, nicht nur den Inhalt der Reden der Altväter zu beleuchten, sondern auch ihre narrative Einbettung und damit die Funktion der Rahmenhandlungen zu betrachten. Gerade in der älteren Forschung lässt sich häufig beobachten, dass die Collati ones als ungebrochener Zeitzeugenbericht verstanden werden.119 Das trägt jedoch der literarischen Gestaltung des Werkes nicht hinreichend Rechnung. Um zu verstehen, wie die „fiktive Mündlichkeit“ der Collationes genau funktioniert und wie es möglich ist, Altväterworte, die sowohl zeitlich als auch räumlich weit entfernt von den Adressaten ihren Ursprung haben, als Maßstab für die Entwicklung der gallischen Klosterlandschaft zu nutzen, ist es m. E. ausgesprochen aufschlussreich, Cassians erzählerisches Vorgehen und damit die Absicht, die hinter dem Zusammenspiel von Rahmenhandlung und Altvaterrede steht, näher zu beleuchten. Um den lokalen und temporalen Transfer, aber auch die durch Cassian vorgenommene Aktualisierung und Transformation der Altväterworte prägnant beschreiben zu können, hat sich eine Auswahl an Fragestellungen der Narratologie als ausgesprochen hilfreich erwiesen.120 117
Stewart 1998, 27. Chadwick 1968, 20. 119 Dies wirft schon Rousseau 1978, 222 (mit Anm. 6) Chadwick 1968 vor; s. auch Kapitel 3, Anm. 19. 120 Zur Frage, wie und unter welchen Herausforderungen Konzepte und methodische Ansätze der modernen Literaturwissenschaft für die Analyse spätantiker Quellen fruchtbar gemacht werden können, vgl. Brunhorn / Gemeinhardt / Munkholt Christensen 2020, 8–14; zudem sei besonders auf die aaO., 18–20 zum T hema formulierten T hesen hingewiesen, die auf den möglichen Zusammenhang von Hagiographie und Narratologie zuge118
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3. T heoretische und methodische Grundlagen
Im Folgenden werden vier Konzepte der Narratologie und verwandter T hemengebiete (die T heorie des Worldmaking nach N. Goodman; die Frage nach Erzählebene und Fokalisierung nach G. Genette; die Unterscheidung von diegetischem und mimentischem Modus nach F. K. Stanzel; das Konzept von pri mary / secondary narrator nach I. J. F. De Jong) kurz theoretisch umrissen, um sodann ihre Anwendbarkeit auf die Collationes zu skizzieren. Es folgt eine Zusammenfassung und die tabellarische Darstellung der verschiedenen erzählerischen Stufen der Collationes, die nicht nur ihren Inhalt klarer hervortreten lässt, sondern auch die Intention des Autors Cassian erhellt. Die T heorie des Worldmaking geht in ihrem Ursprung auf das Buch „Ways of Worldmaking“, das der Philosoph Nelson Goodman 1978 veröffentlichte, zurück. Wie dieser konstruktivistische Ansatz auf Literatur und Medien angewendet werden kann, untersucht der Sammelband „Cultural Ways of World making“121. Goodmans Grundannahme ist, dass es nicht die eine Welt, sondern unzählige und individuelle Versionen der Welt bzw. Perspektiven auf das, was die Einzelperson für ihre Welt hält, gibt.122 Dabei unterscheidet er fünf Tech niken, die notwendig sind, um sich eine Weltsicht zu konstruieren: – Komposition und Dekomposition – Gewichtung einzelner Faktoren – Anordnung einzelner Faktoren – das Aufgeben einzelner Aspekte der eigenen Welt und ein Ersetzen dieser durch neue Gesichtspunkte – eine aktualisierende Anpassung bestehender Annahmen123 Auch wenn Goodman sein Konzept nicht auf Literatur bezieht, sondern vereinzelt Beispiele aus Kunst und Malerei anbringt, lässt sich bereits erahnen, dass diese fünf Aspekte auch Potential für die erzählerische Gestaltung verschiedener Welten aufweisen. Kritisch anmerken lässt sich zu dieser Aufzählung, dass Faktoren, die unzweifelhaft ebenfalls die Weltsicht des:der Einzelnen prägen und über das Individuelle, das Goodman beschreibt, hinausgehen, ausgeblendet werden: Nämlich bestehende Werte, vorhandenes Wissen und Geschichte. Geschichte ist hierbei sowohl als Teil des vorhandenen Wissens zu verstehen, als auch als Sammelbegriff für die äußeren Umstände, unter denen die eigene Weltkonstruktion erfolgt.124 Eine entsprechende Aktualisierung und Zuspitzung des Konzepts von Goodman im Hinblick auf literaturwissenschaftliche Fragestellungen, wie sie besonschnitten sind, jedoch auch auf einen nicht primär hagiographisch orientierten Text wie die Collationes (s. hierzu Schenk 2020, 123) übertragen werden können. 121 Nünning / Nünning / Neumann 2010. 122 Vgl. Goodman 1978, 1–5. 123 Vgl. Goodman 1978, 7–17. 124 Vgl. Nünning / Nünning 2010, 2 f.
3.3 Die Collationes als erzählender Text
65
ders die Beiträge von A. Nünning und V. Nünning im genannten Sammelband vornehmen, erweitert die Kategorien, durch die nun explizit eine ‚erzählte‘ Welt entsteht, um acht weitere Komponenten: – Situiertheit, d. h. die Frage nach Lebens- und Wirkensumständen der Adressat:innen und des:der Autor:in – die gewählte Struktur der Erzählung – Narrativität als Modus des Denkens und Verstehens, der eine gewisse Übereinstimmung zwischen Adressat:innen und Autor:in in Bezug auf den hermeneutischen Umgang mit der vorliegenden Erzählung voraussetzt – Bezogenheit (Referentiality) und Selbst-Reflektiertheit (Self-Reflexivity), d. h. die Fakten der vorliegenden Erzählung sind nicht als absolut wahr anzusehen, sondern es ist nach ihrer Wahrheit in Bezug auf das Individuum (d. h. den:die Erzähler:in in seiner:ihrer beschriebenen Situation) zu fragen – Polyvalenz, d. h. die Berücksichtigung verschiedener kultureller Hintergründe, die die Weltsicht von Autor:in und Adressat:innen geprägt haben und somit auch das Verständnis der vorliegenden Erzählung beeinflussen können – durch die Erzählung transportierte Werte – Eigenheiten der gewählten Gattung – Perspektivierung und Experientiality125 Im Blick auf die zahlreichen Facetten, die beschreiben, wie eine Weltsicht entsteht und modifiziert wird, liegt es auf der Hand, dass Erzählungen ein hervorragendes Instrument darstellen, um ein Worldmaking anzustoßen, wobei immer berücksichtigt werden muss, dass dieses narrative Wordmaking nie in einen leeren Raum hinein erfolgt, sondern stets aus einer Synchronisierung verschiedener bereits existierender Weltsichten besteht.126 Für das Beispiel der Collationes heißt das, dass Cassian, dessen Weltsicht sich aus der Begegnung mit verschiedenen monastischen Kulturen und theologischen Lehrern speist, bemüht ist, die Weltsicht seiner Adressaten, die nur das südgallische Kirchen- und Klosterwesen kennen, zu erweitern und so zu einer Neuordnung und Ergänzung bestehender Annahmen anzuregen. M. E. ist hierbei entscheidend, dass die Collationes keine Sammlung an Vorschriften sind, die die ‚neue Welt‘ klar umreißen, sondern vielmehr ein narratives Angebot unterbreiten, durch das die Adressaten unter Berücksichtigung der neu erworbenen kompositorischen Elemente ihre eigene, individuelle Welt entstehen lassen und erweitern können. Zwei Faktoren, die V. Nünning nennt (s. o.), sind dabei besonders gewinnbringend, um das, was die Lektüre der Collationes – und besonders der Rahmener125 Vgl. V. Nünning 2010, 223–236. Der Begriff Experientiality, der auf M. Fludernik (s. auch Fludernik 42013, 160 f.) zurückgeht, bleibt hier unübersetzt, da er sich, wie später zeigen sein wird, bestens als Analysekriterium für die Collationes und die ihnen innewohnende erfahrungsstiftende Funktion geeignet ist. 126 Vgl. A. Nünning 2010, 191 f.
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3. T heoretische und methodische Grundlagen
zählungen – bei ihren Adressaten auslöst, zu verstehen: Self-Reflexivity und, mit M. Fludernik, Experientiality.127 Self-Reflexivity bedeutet, das bereits Dargestellte ergänzend, dass die Bezüge, die innerhalb einer Erzählung eröffnet werden, zwar in sich schlüssig sind, aber nicht unbedingt an die ‚reale‘ Welt, die Welt der Adressat:innen, anschließen müssen. Experientiality heißt, dass mit der Erzählung kognitive Parameter der Adressat:innen angesprochen werden müssen, die denen, die sie aus ihrer Welt bereits kennen, entsprechen, um so zu einem Verständnis der Erzählung beizutragen.128 Diese beiden Faktoren zusammenbringend lässt sich das Ziel der Collationes und insbesondere ihrer Rahmenhandlungen wie folgt beschreiben: Die Worte der Altväter sind in sich und in der Welt, in der die Pro tagonisten der Erzählung, Cassian (jung) und Germanus, sich bewegen, schlüssig, allerdings nicht zwingend mit dem Erfahrungshorizont der Adressaten der Col lationes zu vereinen (Self-Reflexivity). Diese Tatsache ist hinderlich für ein tieferes Verständnis der Altväterworte, das wiederum notwendig ist, um eine nachhaltige Aktualisierung des Weltbildes der Adressaten anzuregen (Experientiality). Dieses Hindernis überwindet Cassian mit Hilfe der Rahmenerzählungen, die es den Adressaten erlauben, sich in den Reflexionsprozess des Erzählers Cassian (jung) und der Altväter einzuklinken und die Worte der Väter so ebenfalls in Bezug auf ihr eigenes Selbst zu reflektieren. Hierbei handelt es sich freilich um einen von Cassian vorbereiteten, angeleiteten und gesteuerten Reflexionsprozess: Nicht nur die Auswahl und Anordnung der die Selbstreflexion seiner Adressaten auslösenden Väterworte liegt bei ihm, sondern auch die Gestaltung der fiktiven Lehrsituationen durch die Parameter, die er in den Rahmenerzählungen anspricht.129 Diese Lenkung der Adressat:innen durch den:die Autor:in, die unausgesprochen erfolgt, lässt sich mit Hilfe der von G. Genette entwickelten Analysekategorien Erzählebene und Fokalisierung näher betrachten.130 Der Literaturwissenschaftler G. Genette unterscheidet drei Ebenen eines erzählenden Textes: die Geschichte (histoire), die Erzählung (récit) und die Narration (narration). Dabei beschreibt „Geschichte“ den Inhalt dessen, was erzählt wird. Der greifbare narrative Text, der Diskurs, ist die „Erzählung“. Die „Narration“ beschreibt den Vorgang, in der die Erzählung (real oder fiktiv) durchgeführt wird.131 Die Col lationes als schriftliche Quelle sind in dieser Kategorisierung primär als „Erzählung“ zu verstehen, der Inhalt der Reden der Altväter erfolgt auf der Ebene der „Geschichte“. Durch die Prologe und einige Einschübe wird jedoch auch die erstmalige „Narration“, die Situiertheit der Erzählung in ihrem südgallischen Kontext, greifbar. 127
Vgl. V. Nünning 2010, 227–229.234–236. Vgl. Carraciolo 2013. 129 Vgl. A. Nünning 2010, 201 f.204. 130 Vgl. A. Nünning 2010, 205. 131 Vgl. Genette 2010, 12. 128
3.3 Die Collationes als erzählender Text
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Die Ebene der Erzählung bezeichnet Genette auch als die „diegetische Ebene“. Dabei kann er fünf verschiedene diegetische Ebenen, auf denen (verschriftlichte) Erzählung stattfindet, unterscheiden: die homodiegetische Ebene (der:die Erzähler:in ist eine Figur auf diegetischer Ebene), die heterodiegetische Ebene (der:die Erzähler:in ist keine Figur der Handlung), die autodiegetische Ebene (Hauptfigur der Erzählung und Ich-Erzähler:in sind identisch); die intradiegetische Ebene (eine eingeschobene Erzählung eine:r Protagonist:in, der von dem:der Erzähler:in unterschieden ist) und zuletzt die extradiegetische Ebene (Erzählung durch eine:n allwissenden Erzähler:in, der:die zwar keine Figur der Handlung ist, aber dennoch präzise Kenntnisse über die Hintergründe der Handlung hat).132 Diese Unterteilung macht deutlich, dass ein Großteil der Collationes, nämlich alles, was in Gestalt der „Fiktiven Mündlichkeit“ (s. o.) erscheint, auf intradiegetischer Ebene angesiedelt ist. Die Rahmenhandlungen hingegen variieren in der Wahl der Erzählebene: Meist bewegt sich der Erzähler Cassian (jung) auf homodiegetischer Ebene und beschreibt, wie er und Germanus die Lebenssituation der Altväter erfahren haben. Teils weitet er seine erzählende Wahrnehmung aber auch, indem er auf extradiegetischer Ebene über die Vorgeschichte der Altväter berichtet, ohne dass diese Erzählung durch einen intradiegetischen second-nar rator (s. u.) eingeführt und damit auf eine hypodiegetische Ebene, eine untergeordnete Erzählebene, verschoben würde. Eng an die Unterscheidung der vielzähligen Ebenen einer Erzählung ist Genettes Konzept der Fokalisierung angelehnt: Er unterscheidet interne Fokalisierung (Erzähler:in und Charaktere sind identisch bzw. haben das gleiche Wissen), externe Fokalisierung (der:die Erzähler:in hat keinen Einblick in Gedanken und Gefühle seiner:ihrer Charaktere) und Nullfokalisierung (der:die Erzähler:in weiß mehr als die Charaktere und fungiert als auktoriale:r Erzähler:in).133 Bei der Fokalisierung handelt es sich um einen von Genette geprägten Neologismus, der die zuvor für diesen Sachverhalt gebräuchlichen Begriffe „Perspektive“ und „point of view“ ablöst.134 Während das Konzept der Perspektive, aus der erzählt wird, eng mit dem:der Erzähler:in (s. u.) verbunden ist, ist das Konzept der Fokalisierung davon gelöst. Fokalisierung fragt nicht danach, wer erzählt, sondern „wer sieht?“135 – um es also sprachlich mit dem zuerst aufgeführten philosophisch-literaturwissenschaftlichen Konzept in Verbindung zu bringen: Wessen Weltsicht wird während der Erzählung eingenommen? Durch die Collationes hindurch lassen sich verschiedene Fokalisierungen beobachten: Ein Großteil der Rahmenhandlungen findet in externer Fokalisierung statt. Auch wenn Autor / Erzähler (zu deren Verhältnis s. u.) der Collationes und Protagonist der Rahmenhandlungen identisch sind, gibt Cassian (alt) sich den132
Vgl. Fludernik 2010, 217.221.223 f. Vgl. Genette 2010, 121–124. 134 Vgl. Niederhoff 2009, 115. 135 Vgl. Niederhoff 2009, 117 f. 133
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3. T heoretische und methodische Grundlagen
noch in der Beschreibung der Erlebnisse seines jüngeren Selbst und seines Reisegefährten zurückhaltend. Zwar spricht er in der ersten Person Plural von Germanus und sich, verzichtet aber darauf, eigene, später gewonnene Erfahrungen hinzuzufügen oder die Erlebnisse seines jüngeren Selbst zu kommentieren. D. h. die Weltsicht, aus der heraus ein Großteil der Rahmenerzählungen erfolgt, ist die eines jungen, unerfahrenen monastischen Wanderschülers, der voller Staunen den Altvätern begegnet, um sich im Erstkontakt von ihrer Lehre begeistern zu lassen. Aber es lassen sich auch – vorrangig im dritten Teilband der Colla tiones – Beispiele für eine Nullfokalisierung finden: Dies ist dann der Fall, wenn Biographisches, ja Hagiographisches aus dem Leben der Altväter ergänzt wird, das die extern fokalisierte Betrachtung des jungen Cassian überschreitet. Exemplarisch ist hier die Rahmenhandlung von coll. 21 zu nennen, in der nach einem extern fokalisierten Beginn ein längerer Abschnitt über die Jugendzeit des T heonas folgt, der nicht von einem second narrator (s. u.) eingeführt wird und der zudem um umfängliche Zitate im Zusammenhang mit der Bekehrung des jungen T heonas ergänzt ist, und sich somit sicher der Kenntnis des Charakters Cassian (jung) entzieht. Die Weltsicht, die mit dem Gebrauch der Nullfokalisierung eingenommen wird, ist die eines guten Kenners der Hintergründe des ägyptischen Mönchtums, d. h. Cassian (alt). Dabei darf die Nullfokalisierung nicht ohne weiteres mit der Perspektive des Autors oder der des Erzählers der Prologe gleichgesetzt werden. Cassian wählt die Nullfokalisierung in den Rahmenhandlungen dann, wenn ihm die externe Fokalisierung seines jüngeren Selbst ergänzungsbedürftig erscheint bzw. wenn die Rahmenhandlung es anbietet, einen weiteren theologischen Akzent zu setzen, der nicht in der Unterredung im engen Sinne unterzubringen ist. Denn während diese den Transfer zwischen ägyptischem und gallischem Mönchtum explizieren, macht Cassian als Erzähler mit Nullfokalisierung dies nicht deutlich, er reichert die Erzählung um Hintergrundwissen an, ohne jedoch in einen explizit belehrenden Sprachgebrauch zu verfallen. Neben einer Unterteilung der Ebenen und Fokalisierungen der Erzählung kann auch eine Unterscheidung ihrer Modi durchgeführt werden. Erzählmodi sind seit der Antike bekannt und lassen sich auf verschiedenste Weise unterscheiden. Für den hier zu untersuchenden Kontext ist eine relativ einfache Unterscheidung von diegetischem und mimetischem Modus hilfreich: Im diegetischen Modus wird beschrieben und erzählt, im mimetischen Modus szenisch, beispielsweise durch direkte Rede, dargestellt.136 Diese Grundsatzunterscheidung ergänzt Stanzel um die Unterscheidung von Erzähler- und Reflektorfigur: Die Erzählerfigur agiert ausschließlich im diegetischen Modus, kommentiert, sortiert und wertet das, was sie erzählt, offensichtlich und in für den:die Leser:in nachvollziehbarer Weise (vgl. oben zur Leserlenkung im Zuge des World making). Die Reflektorfigur hingegen reflektiert die Vorgänge auf Ebene der Ge136
Vgl. Stanzel 2008, 190–196.
3.3 Die Collationes als erzählender Text
69
schichte scheinbar nur für sich selbst. Der:die Leser:in erhält – vermittelt durch eine extradiegetische Erzählerfigur – Einblick in die Gedanken der Reflektorfigur. Hierbei erfolgt die Leserlenkung subtiler, da nicht explizit gemacht wird, dass gerade eine überlegt strukturierte Wiedergabe von Ereignissen oder Gedanken erfolgt.137 Die Collationes nach diegetischem und mimetischem Modus zu klassifizieren, ist leicht: Die Rahmenhandlungen erfolgen im diegetischen Modus, während die dialogischen Unterredungen der Altväter mit den Protagonisten ein Beispiel für den mimetischen Modus sind. Die Tatsache, dass dieser Sachverhalt bisher weitestgehend übersehen wurde, lässt umso aufmerksamer auf die Ergebnisse einer Funktionsanalyse der verschiedenen Erzählmodi in den Collationes schauen (s. u.). Etwas diffiziler gestaltet sich die Frage nach Erzähler und Reflektorfiguren in Bezug auf die Collationes, denn während Cassian (jung) in den Rahmenhandlungen eindeutig als Erzählerfigur, die die nachfolgenden Unterredungen für seine Leser einordnet und strukturiert, fungiert, ist die Funktion der Altväter in dieser Kategorisierung schwieriger zu bestimmen. Da sie im mimetischen Modus agieren, sind sie keine wirklichen Erzählerfiguren. Die Altväter sind aber auch keine wirklichen Reflektorfiguren, da nicht ein auktorialer Erzähler in Nullfokalisierung ihre Gedanken und Gefühle für den Leser ausbreitet, sondern scheinbar sie selbst einen Teil ihrer Gedankenwelt gegenüber den Protagonisten der Erzählung und so vermittelt auch den Lesern offenbaren. Als Reflektorfigur im Vollsinne der o. g. Definition erscheint hingegen Germanus, dem Cassian all die Nachfragen, Bedenken und Missverständnisse in den Mund legt, die er bei seinen Adressaten vermutet und der damit das vielleicht höchste Identifikationspotential aller in den Collationes auftretenden Figuren besitzt. Eine Unterscheidung der verschiedenen Stimmen in den Collationes, die nicht wie das Konzept von Stanzel gleichzeitig nach ihrer dem Modus geschuldeten Funktion fragt, sondern zunächst deskriptiv vorgeht, ist die Unterscheidung von primary narrator und secondary narrator nach De Jong:138 In den meisten Erzählungen begegnet mehr als ein:e Erzähler:in. Der:die Erzähler:in, der:die die Lesenden in die Erzählung hineinführt und in dieser Funktion auch die anderen Erzähler:innen vorstellt bzw. auftreten lässt, ist der primary narrator. Die von ihm:ihr eingeführten secondary narrators erzählen meist einzelne Geschichten, bevor das Wort an den primary narrator zurückgegeben wird. Es liegt auf der Hand, die Altväter mit der Terminologie von De Jong als secondary narrators zu bezeichnen, während Cassian der primary narrator ist. Die Vielzahl der se condary narrators bietet die Möglichkeit, eine Vielfalt an Inhalten und Standpunkten zu thematisieren, ohne dass Autor oder Erzähler hierfür unmittelbar zur Verantwortung gezogen werden könnten bzw. sich um eine Harmonisierung 137
138
Vgl. Stanzel 2008, 194. Vgl. De Jong 2014, 19 f.
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3. T heoretische und methodische Grundlagen
der einzelnen Reden bemühen müssten. Zudem wird so das Weiterreisen von einem Altvater zu einem anderen durch die Vielzahl der sprechenden Stimmen abgebildet. Aber auch aus diesem scheinbar simpleren Konzept ergeben sich Fragen, nämlich welchem Cassian die Aufgabe des primary narrators zukommt: Cassian (alt), der in den Prologen zu Wort kommt und als Erzählerfigur so gestaltet ist, dass er mit dem Autor Cassian identisch wirken soll, oder Cassian (jung), der als vom Autor klar getrennte Erzählerfigur einen Großteil der Rahmenhandlungen gestaltet? Dies leitet zur Frage nach dem Verhältnis von Autor und Erzähler über, die am Beispiel der Collationes auf verschiedene Weise beantwortet werden kann: Zwar sind Autor und Erzähler identisch – Cassian (alt) und Cassian (jung) –, allerdings handelt es sich nicht um eine Autobiographie im eigentlichen Sinne. Denn dies würde voraussetzen, dass die Identität von Autor und Protagonist zum T hema gemacht wird, sodass der Fokus des Autors auf seinem (jüngeren) Ich und dessen Werdegang liegt.139 Wie oben im Zusammenhang mit der Fokalisierung jedoch bereits gezeigt, lässt Cassian sein jüngeres Ich das Geschehen mit den Augen eines jungen und unerfahrenen Mönches betrachten und nimmt (in der Nullfokalisierung) nur vereinzelt Ergänzungen, die sein Wissen zum Zeitpunkt der Abfassung der Collationes in die Erzählung einfließen lassen, vor. Es geht ihm nicht primär darum, die eigene monastische Entwicklung nachzuzeichnen oder sein gesammeltes Wissen offensiv darzulegen, sondern vielmehr darum, Erfahrungen und Begegnungen aus seiner Vergangenheit für seine Adressaten zugänglich und nachempfindbar zu machen. Was jedoch stark an eine Autobiographie erinnert, ist die Tatsache, dass Autor und Erzähler beide Johannes Cassian heißen. Das führt zu der Frage, wie viele Cassians in den Collationes eigentlich begegnen: Bislang war in diesem Kapitel die Rede von Cassian (jung) als Erzähler der Rahmenhandlungen auf homodiegetischer Ebene und Cassian (alt). Cassian (alt) wurde bisher etwas unscharf sowohl für den Erzähler / Verfasser der drei Prologe als auch für denjenigen, der die nullfokalisierten Ergänzungen der Rahmenhandlungen einbringt, gebraucht. Dass diese beiden ‚alten Cassians‘ noch einmal zu unterscheiden sind, macht coll. 21,10 deutlich: Hier folgt auf die Erweiterung der eigentlichen Rahmenhandlung um einen nullfokalisierten Einschub (Cassian alt I) eine weitere Ebene, in der sich Cassian (alt II) in ähnlichem Duktus wie in den Prologen an seine Adressaten wendet, um mögliche Missverständnisse abzuwehren. Aber ist dieser Cassian (alt II) mit dem Autor zu identifizieren oder ebenfalls eine Erzählerfigur, wenn auch eine stark der Realität entlehnte? Das Konzept des:der Autor:in als Urheber:in eines Textes, der in jedem Fall von dem Inhalt seines 139
Vgl. Holdenried 2000, 19–23.
3.3 Die Collationes als erzählender Text
71
Textes zu trennen ist, ist ein modernes Konzept, sodass Cassian und seine Adressaten fraglos die Identität von Autor und Erzähler der Prologe sowie einiger Einschübe befürwortet hätten.140 M. E. ist allerdings bedenkenswert, dass auch Cassian (alt II) von dem Autor Cassian geschaffen wurde, um bestimmte Inhalte zu einem bestimmten Zweck in einer bestimmten Gestalt zu übermitteln. Cassian (alt II) ist es jedoch auch, der die Grenzen zwischen Erzählung und Narration (s. o.) zu verwischen beginnt, indem er seine Leser zum einen an den Gründen der Entstehung der Collationes teilhaben lässt und zum anderen auf vermutlich zeitgenössische Kritik seiner Lehre reagiert (coll. 21,10). Damit lässt sich die erzählerische Struktur der Collationes wie folgt zusammenfassen: Ebene
Funktion und genutzte narrative Mittel
a) Reden der Altväter (der mit Abstand umfangreichste Teil und Kern der Collationes)
– mimetischer Modus – fiktive Mündlichkeit – Reflexion monastisch-theologischer T hemen
b) Rahmenhandlungen I (in [fast] jeder Collatio, in der ein neuer Altvater zu reden beginnt)
– homodiegetische Erzählung durch Cassian (jung) – Stiften von Experientiality und Ermöglichen des Einstiegs in die diegetische Self-Reflexivity – Implizite Verlinkung von erzählter Welt und Erfahrung der Adressaten
c) Rahmenhandlungen II (selten, vermehrt in Teilband II und III (Cassian alt I))
– Ergänzung der homodiegetischen Rahmenhandlungen um extradiegetische und nullfokalisierte Einschübe – Sicherstellung, dass die Leser die vom Autor intendierten Reflexions impulse aus den Worten der Altväter entnehmen – Ergänzung dessen, was die Altväter präsentieren
d) Notizen des „Autors“ (Prologe und einzelne Einschübe von Cassian (alt II))
– Abbild des ersten Narrationsvorganges – Explizite Verlinkung von erzählter Welt und Welt, in die hinein erzählt wird
140
Vgl. Schönert 2009, 1–5.
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3. T heoretische und methodische Grundlagen
Damit ist die Frage, ob sich mit Hilfe von Analysekriterien der Narratologie neue Erkenntnisse über Gestalt und Intention der Collationes gewinnen lassen, eindeutig zu bejahen. Selbstverständlich müssen Fragestellungen, die vor allem im Blick auf Romane des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden, gezielt für die Analyse eines spätantiken Texts, der sich selbst nicht als erzählenden Text, sondern als fiktiven Dialog darstellt, angepasst werden; dann aber schärfen diese Fragestellungen eindeutig die Wahrnehmung dafür, wie der monastische Transfer zwischen Ägypten als Ursprungsland des Mönchtums und Südgallien als kulturell grundlegend von Ägypten unterschiedener Region, in der dennoch die gleichen Ideale etabliert werden sollen, funktionieren kann. Zudem tritt nach einer Betrachtung der Collationes unter den genannten Perspektiven der Unterschied zwischen Instituta und Collationes noch einmal stärker hervor. Während Cassian in den Instituta keinen Hehl daraus macht, als Lehrer mit Wahrheitsanspruch aufzutreten (s. 2.3.1 und 5.3.1), agiert er in den Collationes deutlich subtiler: Zwar erscheint er auch hier als Mittler zwischen den übereinzubringenden monastischen Welten, allerdings weniger autoritativ oder regulierend, sondern vielmehr im Modus eines vielfältigen Angebots an Material, mit dessen Hilfe er seine Adressaten zur eigenständigen Reflexion und zum Gewinnen eigener monastischer Erfahrungen anregen möchte. 3.4 Rückschau und Ausblick In diesem Kapitel wurde deutlich, wie vielschichtig der zentrale analytische Begriff der vorliegenden Monographie („Monastische Bildung“) ist: Es hat sich gezeigt, dass Bildung weit mehr als konkrete Lehr-Lern-Zusammenhänge bzw. deren Inhalte bezeichnet. Bildung erscheint vielmehr als das Hineinwachsen des Menschen in einen bestimmten, in diesem Fall religiösen, Kontext, die Entwicklung und Entfaltung des Selbst im Gegenüber zu Gott und schließlich die reflektierte Einsicht in diese, den ganzen Menschen mit all seinen Facetten betreffenden, Vorgänge. Der historische Rückblick auf die Bildungsthematik bzw. -problematik zur Zeit der Anfänge des Mönchtums hat gezeigt, dass – auch wenn die Inhalte, anhand derer Bildung in der Spätantike üblicherweise vollzogen wurde, in monastischen Kreisen mehr als umstritten waren und deshalb oft in topischer Weise abgelehnt wurden – bekannte Formen und Methoden traditioneller Bildung auch im Mönchtum zur Anwendung kamen, wobei sie mit neuen, biblischen Inhalten in Verbindung gebracht und gefüllt wurden. Anders als seine monastischen Vorbilder bringt Cassian dieses Phänomen bewusst zur Sprache und nicht nur verstohlen zur Anwendung – man könnte gar die T hese wagen, dass sich in dem unter 3.1.1.1 Präsentierten die erste theoretisch-kritische monastische Auseinandersetzung mit dem T hema Bildung finden lässt. Dass dieses Vorgehen nicht nur als (ein) T hema in den Collationes behandelt wird, sondern auch in ihrer Gestaltung Anwendung fand, hat sich unter 3.2 gezeigt: Der dort präsentierten T hese R.
3.3 Die Collationes als erzählender Text
73
Krawiecs ist – mit, wie gezeigt, leichten Modifikationen – zuzustimmen, womit die Collationes sich als bewusst gestaltetes, monastisches Lehrbuch präsentieren. Die Feststellung der Lehrbuchartigkeit der Collationes hat den Blick bereits auf ihre besondere Form gelenkt: Dieser wurde unter 3.3 weiter nachgegangen, um zu zeigen, wie erzählerisch geschickt Cassian den unter 2. aufgezeigten zeitlichen, räumlichen und kulturellen Unterschied zwischen Ägypten und Südgallien überbrückt, d. h. wie sich Bildung durch die Collationes narratologisch vollzieht. Im Blick auf den einleitend beschriebenen Dreifachfokus der vorliegenden Untersuchung wurde dabei Folgendes deutlich: Cassian thematisiert Bildung nicht nur situationsbezogen oder im Blick auf ihre konkrete Umsetzung (s. 4 und 5), sondern auch in theoretischer Reflexion. Er intendiert und vollzieht mit den Collationes in bewusster Weise einen Bildungsprozess und legt das auch seinen Adressaten gegenüber offen. Dies gibt bereits Hinweise auf sein konkretes Bildungshandeln, zu dessen Rekonstruktion die narratologische Analyse der Col lationes entscheidende Aspekte beigetragen hat: Durch die erzählerische Gestaltung des Werkes befähigt Cassian seine Adressaten, eine eigene und individuelle Erfahrung mit den dargestellten Inhalten zu machen. Er stellt die Altväter und die von ihnen vertretenen Inhalte in einer Weise dar, die eine selbsttätige und ergebnisoffene Auseinandersetzung ermöglicht. Schließlich wurde unter 3.1 deutlich, wie Bildung als interpretierende Kategorie an die Collationes herangetragen werden kann: Mit ihrer Hilfe können sämtliche Vorgänge, die eine reflektierte Entwicklung des Selbst auf ein höheres Ziel hin be- und umschreiben, erfasst und strukturiert dargestellt werden. Die Verwendung eines differenzierten Bildungsbegriffes trägt dazu bei, das Ineinander verschiedener Faktoren deutlich werden zu lassen und zu verstehen, wie Form und Inhalt, Weg und Ziel einander bedingen – eine Erkenntnis, die für die nachfolgende Analyse des Textes der Collationes leitend sein wird.
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4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung Cassian verfasst die Collationes im Blick auf den Menschen in seiner Beziehung zu Gott, nicht im Blick auf Gott in seiner Beziehung zum Menschen, arbeitet also unter einem streng anthropologischen Fokus.1 Mit den Collationes verfolgt Cassian vorrangig ein pädagogisches Ziel, wie er selbst in den drei Prologen herausstellt (s. 2.3.2.2 und 5.3.1). Dabei geht es ihm weniger um eine syste matisch-theologische Darstellung, sondern vielmehr um eine Erklärung der Gott-Mensch-Beziehung, ausgehend von konkreten Situationen. Es kristallisiert sich über die 24 Collationes hinweg ein Menschenbild heraus, das facettenreich um immer neue Aspekte und Variationen bereits bekannter Motive ergänzt wird. Zuvor wurde herausgearbeitet, dass (Selbst-)Bildung eng mit (Selbst-)Reflexion einhergeht (s. 3.1.2.2 und 3.1.2.3). Dabei geht es nicht um eine Reflexion der Lebensweise oder der Alltagsgestaltung – beides wurde in den Instituta hinreichend thematisiert, wie Cassian selbst im ersten Prolog der Colla tiones feststellt – sondern um die innere Haltung und Ausrichtung des Mönchs, gewissermaßen um das zum Aufstieg notwendige Mindset. Das zentrale Bild, das Cassian hierfür wählt, ist der interior homo, der Innere Mensch (s. 4.1). Dieser ist in seiner Entwicklung in Ausrichtung auf Gott allerdings nicht ungestört, denn immer wieder wird er durch Laster und Dämonen von seinem Weg abzubringen versucht (s. 4.2). Abstrakter als die konkrete Rede von Lastern und Dämonen, aber in eine vergleichbare Richtung zielend sind verschiedene Vorstellungen von Sünde und Sünden (s. 4.3). Den Kampf gegen all diese negativen Kräfte kann der Mönch weder allein im Vertrauen auf die eigene Willensstärke noch allein auf die göttliche Gnade gewinnen, ein Zusammenspiel zwischen beiden Akteuren ist an dieser Stelle entscheidend. Die Frage nach Wille und Gnade ist nicht nur auf Ebene der Erzählung ein zentraler Punkt der Anthropologie Cassians, sondern stellt auch auf Ebene der Narration eine der deutlichsten Bezugnahmen auf sein südgallisches Umfeld dar (s. 4.4). 1
Casiday 2007, 215 f. 259 argumentiert, dass Cassians Ansatz vorrangig christologisch sei. M. E. ist dies nur teilweise zutreffend: Selbstverständlich bilden die Gottesschau und die Einung mit Christus das Ziel der gesamten Lehre Cassians (s. 6.1.2). Allerdings beginnt er seine Unterweisung nicht bei diesen beiden Akteuren des monastischen Bildungsprozesses, etwa durch ausgefeilte christologiche Reflexionen, sondern bei dem Menschen und all seinen Fragen, Fehlern und Schwierigkeiten, die dann – erst in einem zweiten Schritt – durch Christus gelöst und beantwortet werden.
4.1 Der Innere Mensch
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4.1 Der Innere Mensch 4.1.1 Der traditionsgeschichtliche Hintergrund Die Vorstellung vom interior homo bzw. ἔσω / ἐντὸς ἄνθρωπος begegnet vor Cassian in zahlreichen christlichen und nichtchristlichen Kontexten, sie kann als ein Brückenschlag zwischen antiker Philosophie und altchristlicher T heologie gesehen werden.2 Allerdings ist zu beobachten, dass Platon, der aus philosophischer Perspektive das elaborierteste Konzept des Inneren Menschen3 bietet, und Paulus, der erstmals eine christliche Definition dieser Vorstellung ausarbeitet, unterschiedliche Überlegungen mit der Begrifflichkeit verbinden.4 Eine bewusste gemeinsame Rezeption dieser beiden Traditionslinien ist erst bei Clemens von Alexandrien und Origenes festzustellen.5 Die Annahme, dass Cassian sich folglich auch auf dieser Linie befindet und sowohl platonische als auch paulinische Annahmen mitführt, wenn er vom interior homo spricht, liegt nahe. Zum Inneren Menschen im Neuen Testament und zu den philosophischen Vorläufern dieser Tradition werden nachfolgend zentrale Argumentationsstränge aufgezeigt, die ein präziseres Verständnis der Rede vom interior homo in den Collationes ermöglichen.6 Platon spricht prominent in Politeia IX,589b, einem Abschnitt, in dem es vorrangig um das Tun und den Nutzen der δικαιοσύνη geht, vom ἐντὸς ἄνθρωπος. Hierbei handelt es sich um eine begriffliche Neuprägung. Zwar kennen Platons Umwelt und seine Schüler eine ähnliche Vorstellung, bezeichnen sie aber anders, teils einfach als αὐτός.7 Platon beschreibt drei Teile dessen, was sich unter der nach außen sichtbaren Hülle des Menschen abspielt: Im Inneren gibt es ein vielköpfiges Monster, einen Löwen und einen Menschen. Ziel ist es, dass der (Gesamt-)Mensch seinen Ιnneren Menschen stärkt, sodass dieser es mit dem Monster aufnehmen und es gar mit Hilfe der Kraft des Löwen zähmen kann. Der Ιnnere Mensch macht sich damit, im Idealfall, die beiden anderen Akteure untertan und ihre Kraft zu Nutze – nur so ist gerechtes Handeln möglich. Das Phänomen, das hier als Innerer Mensch beschrieben wird, findet eine Analogie in Phaidros 246a–257d. Dort zeichnet Platon das Bild des Wagenlenkers; so beschreibt er die Seelen, die über den Himmel fahren, bevor sie im menschlichen Körper gefangen sind. Der Wagenlenker ist das Vernunftwesen, das λογιστικόν. Er versucht, zwei Pferde, ein gehorsames (θύμος) und ein bockendes (ἐπιθυμία), 2
Vgl. Markschies 1994, 1. „Innere Mensch“ wird im Folgenden im Unterschied zum „äußeren Menschen“ als feststehender Terminus für eine bestimmte Vorstellung gebraucht und daher großgeschrieben. 4 Vgl. Markschies 1998, 267. 5 Vgl. Markschies 1998, 267. 6 Z. B. Heckel 1993; Jewett 1971; Burkert 1998. 7 Vgl. Markschies 1994, 6. 3 Der
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4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung
zu dirigieren. Gelingt dieser Ausgleich der drei Seelenteile nicht, stürzt die Seele zur Erde und wird somit bestraft. Die beiden platonischen Bilder der Seele bzw. des Inneren des Menschen gleichen einander in der Dreiteilung so stark, dass mit guten Gründen angenommen werden kann, dass der ἐντὸς ἄνθρωπος der Politeia mit dem λογιστικόν des Phaidros gleichzusetzen ist.8 Zudem verweist die Rede vom Inneren und äußeren Menschen auf die platonische Ideenlehre, wobei der Innere Mensch die Funktion des „seinsstiftenden Urbilds“9 innehat. Der äußere Mensch hingegen ist die bloße, vergängliche und letztlich bedeutungslose Erscheinungsform des Inneren.10 Paulus nutzt eine andere Formulierung, er spricht vom ἔσω ἄνθρωπος. Dieser Begriff fällt zuerst in 2Kor 4,1611, dann in Röm 7,22 f.12, gerade die zweite Stelle wird in den Collationes breit rezipiert (s. 4.3). Allerdings ist für beide Belegstellen eine je eigene Interpretation des Begriffs anzunehmen:13 In der Auseinandersetzung mit der korinthischen Gemeinde nutzt Paulus den ἔσω ἄνθρωπος, um die tägliche Erneuerung des Inneren Menschen im Gegensatz zum allmählichen Verfall des äußeren Menschen zu beschreiben. Dabei werden die Bedeutung und das Vermögen des Inneren Menschen jedoch theologisch begründet und damit gleichzeitig begrenzt: Die tägliche, gottgewirkte Erneuerung ist notwendig, da der Mensch eben nicht aus sich heraus anhaltend gut sein kann14 – anders Platon, der dem Inneren Menschen als wertvollstem Seelenteil Göttlichkeit zuschreibt.15 Der ἔσω ἄνθρωπος wird in 2Kor 4,18 mit den Begriffen τὰ μὴ βλεπόμενα und αἰώνια in Verbindung gebracht, während der ἔξω ἄνθρωπος als τὰ βλεπόμενα und πρόσκαιρα beschrieben wird. Der Innere Mensch hat Bedeutung für die Ewigkeit, während der äußere Mensch mit dem Verlassen dieser Welt ausgedient hat. Häufig wird angenommen, dass Paulus sich in 2Kor 4,16 eines bekannten „catchword“ bediene, um so seine Gegner durch den Gebrauch und die Variation eines bekannten Motivs für sich zu gewinnen.16 8
Vgl. Markschies 1998, 268; Wolter 2014, 458. Heckel 1993, 25. 10 Vgl. Heckel 1993, 25. 11 „Darum werden wir nicht müde; sondern wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert.“ 12 „22 Denn ich habe Freude an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen. 23 Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das widerstreitet dem Gesetz in meinem Verstand und hält mich gefangen im Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist.“ 13 Vgl. Markschies 1998, 280. 14 Bultmann 1980, 204 beschreibt dies als „das durch das pneuma verwandelte Ich“. 15 Vgl. Heckel 1993, 146. 16 Vgl. z. B. Jewett 1971, 398.460; Heckel 1993, 146. Teils wird aber auch eine spontane Neuprägung in Unkenntnis der platonischen Terminologie angenommen, dies würde die geringfügig abweichende Formulierung erklären (vgl. Markschies 1994, 4; Schmeller 2010, 276 f.). Würde man dieser Hypothese folgen, läge das Innovationspotential, beide Konzepte zusammenzustellen, noch stärker bei den frühchristlichen T heologen (s. u.). 9
4.1 Der Innere Mensch
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In Röm 7,22 f. steht nicht die tägliche Erneuerung des Inneren Menschen, sondern seine Haltung zum Gesetz im Fokus. Während er sich κατὰ τὸν ἔσω ἄνθρωπον am Gesetz Gottes freut, verspürt er ein anderes Gesetz, das seines Körpers, das dem νοῦς widerstreitet. Auf den ersten Blick könnte man diese Aussage für eine Parallelisierung von νοῦς, dem menschlichen Denkvermögen, und Ιnnerem Menschen halten. Eine nähere Betrachtung zeigt jedoch, dass Paulus hier auf unterschiedlichen anthropologischen Ebenen argumentiert: Der νοῦς ist lediglich eine Funktion des Inneren Menschen, kein gleichwertiges Kon strukt.17 Der Ιnnere Mensch ist dem äußeren noch unterlegen, er kann sich zwar bemerkbar machen indem er das Gute will, aber dies nicht zur Durchführung bringen; das Schlechte, das fleischliche Gesetz, siegt. Der Innere Mensch rückt damit in ideengeschichtliche Nähe zum Gewissen bzw. begründet dies.18 Zudem illustrieren diese Verse, wie die Sünde – ausgedrückt durch die Gesetzmäßigkeiten des Fleisches – das Ich, den Inneren Menschen, lähmt und unfrei macht und damit verhindert, dass er so sein kann, wie er eigentlich angelegt ist. Dieser Widerspruch, diese innere Zerrissenheit, wird erst im Licht des göttlichen Gesetzes, mit Bekanntwerden des Guten, sicht- und erlebbar.19 Nachpaulinisch erfährt der Ιnnere Mensch eine recht breite Rezeption.20 Hinführend zur cassian’schen Verwendung des Begriffs soll der Blick nun vorrangig auf Clemens von Alexandrien und in dessen Nachfolge Origenes gelenkt werden, bei denen eine Verbindung der beiden Traditionen nachgewiesen werden kann: Im Paidagogos referiert Clemens zunächst die platonische Dreiteilung der Seele. „Da nun die Seele aus drei Teilen besteht, so ist die Denkkraft (τὸ νοερόν), die auch λογιστικόν genannt wird, der [I]nnere Mensch, der über den sichtbaren Menschen hier herrscht; jenen selbst aber leitet ein anderer, Gott. Die Leidenschaft (τὸ θυμικόν) aber, die etwas Tierisches ist, wohnt nahe bei der Raserei; vielgestaltig ist aber das dritte, das Begehrungsvermögen (τὸ ἐπιθυμητικόν), mehr noch als der Meergott Proteus veränderlich; es nimmt bald diese, bald jene Gestalt an und macht sich für Unzucht und Wollust und Schändung bereit.“21 17
Vgl. Markschies 1998, 281 und Wolter 2014, 459. Vgl. Heckel 1993, 192 f.; Kobusch 2006, 71. T h. Kobusch geht sogar noch einen Schritt weiter und identifiziert das Gewissen vollständig mit dem Inneren Menschen bzw. beschreibt dessen praktische Seite mit diesem Begriff. Diese praktische Seite des Inneren Menschen ist für ihn das, was z. B. Origenes als ἡγεμονικόν, Entscheidungsvermögen (s. 4.4.1), bezeichnet. 19 Vgl. Heckel 1993, 194 und Markschies 1998, 281. 20 Die Vorstellung des Eigentlichen, Inneren, gefangen in einer äußerlichen, fleisch lichen Hülle begegnet in verschiedenen gnostischen Strömungen. Hier ist aber noch keine gezielte Synthese platonischer und paulinischer Motive zu erkennen, sondern lediglich ein freies Assoziieren über Begrifflichkeiten (vgl. Heckel 1993, 221–226; Markschies 1998, 283– 287 mit diversen Beispielen; Markschies 1994, 9). 21 Stählin 1934, 135; Clemens von Alexandrien paid., 3,1,2 (SC 158, 12 Mondésert u.a): Τριγενοῦς οὖν ὑπαρχούσης τῆς ψυχῆς τὸ νοερόν, ὃ δὴ λογιστικὸν καλεῖται, ὁ ἄνθρωπός ἐστιν 18
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4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung
Dabei findet Clemens für den Ιnneren Menschen eine neue Formulierung (ὁ ἄνθρωπος ἐστιν ὁ ἔνδον) und setzt ihn direkt mit dem λογιστικόν gleich. Der Innere Mensch steht, anders als die beiden anderen Seelenteile, unter der Herrschaft Gottes. Das Gegenstück zum Ιnneren Menschen ist für ihn der sichtbare Mensch (φαινόμενος ἄνθρωπος). Die zu erstrebende Herrschaft Gottes / des Inneren Menschen findet in Pai dagogos 3,1,5 einen weiteren Vergleichspunkt, den λόγος: „Jener Mensch aber, in dem der Logos wohnt, verändert sich nicht, verstellt sich nicht, hat die Gestalt des Logos, wird Gott ähnlich, ist schön, will sich nicht künstlich schön machen; er ist die wahre Schönheit; denn auch Gott ist diese; zu Gott wird aber jener Mensch, weil er will, was Gott will.“22
Damit ist – durch die Einwohnung des Logos in eine erniedrigte, fleischliche Gestalt – nicht nur ein Vergleich zum Philipperhymnus geschaffen (wie Clemens ihn in Paidagogos 3,2,2 explizit macht), sondern auch die Möglichkeit einer „Vergöttlichung“ des Menschen aufgezeigt, wenn dieser es schafft, dem Logos zur Vorrangstellung zu verhelfen und so in den göttlichen Willen einzustimmen, eine engere Verknüpfung christlicher und platonischer Vorstellungen ist m. E. kaum vorstellbar.23 Den „Höhepunkt bei der Verwendung der Metapher vom ‚[I]nneren Menschen‘ in der griechischen christlichen Literatur der Spätantike“24 stellt jedoch Origenes dar. Der Innere Mensch begegnet mehrfach in Origenes’ Werk, bereits für die Auslegung der Schöpfungsgeschichte ist er zentral: Nach dem Bilde Gottes wird nicht etwa der leibliche Mensch (corporalis homo), sondern ganz spezifisch der Innere Mensch (interior homo) geschaffen.25 Dieser Innere Mensch wird näher klassifiziert als inuisibilis et incorporalis et incorruptus atque inmortalis.26 Dennoch können auch dem Inneren Menschen körperliche Sinne und mit Körperteilen vergleichbare Eigenschaften zugeschrieben werden; dies dient vor allem dazu, ὁ ἔνδον, ὁ τοῦ φαινομένου τοῦδε ἄρχων ἀνθρώπου, αὐτὸν δὲ ἐκεῖνον ἄλλος ἄγει, θεός· τὸ δὲ θυμικόν, θηριῶδες ὄν, πλησίον μανίας οἰκεῖ· πολύμορφον δὲ τὸ ἐπιθυμητικὸν καὶ τρίτον, ὑπὲρ τὸν Πρωτέα τὸν θαλάττιον δαίμονα ποικίλον, ἄλλοτε ἄλλως μετασχηματιζόμενον, εἰς μοιχείας καὶ λαγνείας καὶ εἰς φθορὰς ἐξαρεσκευόμενον. 22 Stählin 1934, 136; Clemens von Alexandrien, paid. 3,1,5 (SC 158, 14 Mondésert u.a): Ὁ δὲ ἄνθρωπος ἐκεῖνος, ᾧ σύνοικος ὁ λόγος, οὐ ποικίλλεται, οὐ πλάττεται, μορφὴν ἔχει τὴν τοῦ λόγου, ἐξομοιοῦται τῷ θεῷ, καλός ἐστιν, οὐ καλλωπίζεται· κάλλος ἐστὶ τὸ ἀληθινόν, καὶ γὰρ ὁ θεός ἐστιν· θεὸς δὲ ἐκεῖνος ὁ ἄνθρωπος. 23 Vgl. Markschies 1994, 11. Markschies verweist hier nicht nur erhellend auf Platons T heaitetos, 176 b 1–3 als direkten Vergleichstext, sondern merkt auch an, dass sich hier über den Inneren Menschen in der Darstellung des Clemens Parallelen zu Vorstellungen der Gottebenbildlichkeit (s. 3.1.2.1) ziehen lassen (vgl. Markschies 1994, 11 [Anm. 55]). 24 Markschies 1994, 11. 25 Origenes, hom. in Gen. 1,13 (Orig.WD 1/2, 50,12.16 Habermehl); vgl. Markschies 1994, 11 (Anm. 56). 26 Origenes, hom. in Gen. 1,13 (Orig.WD 1/2, 50, 16 f. Habermehl).
4.1 Der Innere Mensch
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eine größtmögliche Analogie zum äußeren Menschen herzustellen.27 Der Innere Mensch wird aber nicht nur metaphorisch mit dem äußeren verglichen, sondern auch immer wieder in Beziehung zur Seele gesetzt bzw. mit ihr identifiziert. In Origenes’ Gesamtwerk lassen sich sowohl Belege für eine vollständige Identifikation von Seele und Innerem Menschen28, als auch Belege dafür, dass die Seele nur ein Teil des Inneren Menschen ist, finden.29 Diese scheinbare Inkonsistenz ist jedoch eine für das Denken des Origenes stimmige Äquivokation, die dem Blickwinkel geschuldet ist: Die Einheitlichkeit der Psyche / des Inneren Menschen rückt bei der Betrachtung der Präexistenz in den Blick, die Mehrgliedrigkeit, die den Weg für Widersprüchlichkeiten bereitet (s. o. zu Paulus), dann, wenn es um die Seele in ihrer irdischen Existenzform geht.30 Aber nicht nur in systematischen Überlegungen spielt der Innere Mensch eine Rolle, auch in der konkreten ethischen Praxis ist er – laut Origenes – zu beachten und zu pflegen: Die Homilien zu Numeri XXIV,2 beginnen mit einer Auslegung von 2Kor 4,16 (s. o.). Der Innere Mensch wird hier als Sitz der Tugenden sowie des Verständnisses von Wissenschaften und als Ort der täglichen Erneuerung des Abbildes Gottes dargestellt. Diese ‚Aufgabenbeschreibung‘ sowie die Feststellung, dass es Gott war, der dem Inneren Menschen seine Form gab, machen deutlich, weshalb es so wichtig ist, den Inneren Menschen mit Sorgfalt zu pflegen, indem man nach Tugend strebt: Kümmert man sich nicht ausreichend um seinen Inneren Menschen, ist es nicht möglich, göttliche Unterweisung zu empfangen, die Weisheit Gottes zu suchen oder sich um Schriftverständnis zu bemühen.31 Auch im Mönchtum vor Cassian wird der Innere Mensch bereits thematisiert: In den Homilien des Pseudo-Makarios32 wird auf eine Vorstellung des Inneren Menschen Bezug genommen, die stark an in den Collationes verhandelte Aspekte (s. u.) erinnert: 27
Vgl. Markschies 1998, 290 f. Die hier aufgeführten Beispiele zeigen, dass Origenes keinem festen Schema folgt, sondern die Körperteile und Sinneswahrnehmungen des Inneren Menschen im Hoheliedkommentar und dem Dialog mit Heraclides anhand unterschiedlicher Bibelstellen begründet. K. Rahner konnte nachweisen, dass diese Vergleichsreihe im Ursprung auf Origenes zurückgeht (vgl. aaO., 291). 28 Z. B. Origenes, Cels. 7,38 (FC 50,5, 1256,8 f. Fiedrowicz): Καὶ ἄνθρωπος μὲν οὖν, τουτέστι ψυχὴ χρωμένη σώματι, λεγομένη „ὁ ἔσω ἄνθρωπος“ ἀλλὰ καὶ „ψυχή“. 29 Z. B. wird die Seele in Origenes, sel. in Ps 102,1 (PG 12, 1560) als τὰ ἐντὸς τοῦ ἔσω ἄνθρωπος bezeichnet (vgl. Markschies 1994, 12). 30 Vgl. Karpp 1950, 188 f. 31 Origenes, hom. in Num. 24,2 (SC 461, 168,176–180 Doutreleau): Nam qui ‚interiorem hominem‘ non excolit, qui illius curam non gerit, qui virtutibus eum non instruit, moribus non adornat, divinis institutionibus non exercet, sapientiam Dei non quaerit, scientiae scrip turarum operam non impendit… 32 Diese sind auf die Zeit zwischen 383 und 399 n. Chr. zu datieren und im persisch-römischen Grenzraum zu lokalisieren (vgl. Illert 2013, 5–7). Eine literarische Bezugnahme Cassians auf Pseudo-Makarios ist durchaus anzunehmen, wie Stewart 1998, 115 im Blick auf das Gebet festhält.
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„Es ist aber nötig, dass ihr Verstand [sc. von Menschen, die sich in Entsagung üben] und der [I]nnere Mensch anständig ist, dass er ein wagemutiges Herz hat, dass das Denken und der Wille tapfer und anständig sind. (Es kommt darauf an), dass er Waffen des Krieges ergreift, voll Vertrauen in den Krieg zieht und tapfer ist und dort einen Kampf liefert. … Diese Dinge werden im [I]nneren Menschen vollbracht, denn sie sind Bewegungen der Seele, damit sie ein lebendiges Herz haben. … Denn man muss ein neues Herz erwerben, einen himmlischen Verstand im [I]nneren Menschen, eine göttliche Seele in der Seele, einen Leib im Leib, damit der Mensch doppelt wird.“33
Dieses Zitat zeigt, weshalb die platonisch-paulinische Metapher des Inneren Menschen besonders im Mönchtum höchst anschlussfähig war: Nicht nur lassen sich mit ihrer Hilfe die inneren Kämpfe des angefochtenen Mönches verbildlichen, auch lässt sich mit Hilfe dieser Metaphorik das Konzept der Neubildung / Erneuerung von Seele, Herz und Geist gemäß einem göttlichen Vorbild greifbar machen. 4.1.2 Der Innere Mensch in den Collationes – die Texte In 25 Kapiteln der Collationes wird der Ιnnere Mensch, teils mehrfach, genannt. Ein Großteil der Belegstellen zum interior homo entfällt dabei auf den ersten Teilband. Im zweiten Teilband gibt es nur eine Belegstelle (coll. 16,22). Der Großteil der Belegstellen im dritten Teilband findet sich im Rahmen einer Auslegung vom Röm 7 im Zusammenhang der Frage nach möglicher Sündlosigkeit. Während es in den Instituta vorrangig um die äußerlichen und sichtbaren Verhaltensweisen der Mönche ging, kündigt Cassian im Prolog des ersten Teilbandes der Collationes an, nun zur unsichtbaren Gesinnung des Inneren Menschen übergehen zu wollen.34 Den beiden Menschen werden gleich zu Beginn verschiedene Formen des Gebets zugeordnet: Während der äußere Mensch methodisch mit dem Einhalten des kanonischen Gebets zu Genüge beschäftigt ist, ist der Innere Mensch in der Lage, zum immerwährenden Gebet fortzuschreiten (s. 5.6.6). Weiter noch wird der Unterschied zwischen äußerem und Innerem Menschen durch einen Jakob-Israel-Vergleich ausgeführt: Anhand der Instituta 33 Illert 2013, 127; Pseudo-Makarios, hom. 3,10,3,4 (TU 72; 56,4–15 Klostermann / Bert hold): εὑρίσκεις δὲ ἀποταξαμένους νοσερὰν ψυχὴν ἔχοντας τὸν νοῦν αὐτῶν νόσον ὡς ἐν μετεώρῳ εἰσὶ κεχαυνωμένοι, ῥεμβόμενοι. χρὴ δὲ αὐτῶν τὸν νοῦν καὶ «τὸν ἔσω ἄνθρωπον» γενναῖον εἶναι, θαρσηρὰν ἔχειν καρδίαν, τὸν λογισμὸν καὶ τὴν προαίρεσιν ἀνδρείαν καὶ γενναίαν, ἵνα λάβῃ ὅπλα πολέμου καὶ τεθαρρηκὼς κατέλθῃ εἰς πόλεμον καὶ ἀνδρίσηται καὶ ποιήσῃ ἐκεῖ ἀγῶνα, ἵνα ἔχῃ τόνον καὶ ἀθλητικὸν νοῦν. ταῦτα δὲ ἐν τῷ ἔσω ἀνθρώπῳ ἐπιτελεῖται· ψυχῆς γάρ ἐστι κινήματα, ζῶσαν ἵνα ἔχῃ καρδίαν. πολλοὶ γάρ εἰσιν ἔξωθεν ἔχοντες τὸ σχῆμα καὶ ὁ νοῦς αὐτῶν ἐξυδαρωμένος, ἀνόστως ῥεμβόμενος. δεῖ γὰρ κτήσασθαι καρδίαν καινήν, νοῦν ἐπουράνιον ἐν τῷ ἔσω ἀνθρώπῳ, ψυχὴν θείαν ἐν τῇ ψυχῇ, σῶμα ἐν σώματι, ἵνα γένηται διπλοῦς ὁ ἄνθρωπος. 34 proinde ab exteriore ac uisibili monachorum cultu, quem prioribus digessimus libris, ad inuisibilem interioris hominis habitum transeamus (4,13–15).
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konnten die Adressaten Cassians bereits lernen, fleischliche Laster zu unterwerfen. Dieser Fortschritt wird mit dem Namen Jakobs verbunden, während der mit dem Studium der Collationes zu erwartende Kompetenzerwerb zur „Würde Israels“ – also zu einer Gottesbeziehung auf höherer Ebene – führt.35 Nach dieser allgemeinen Absichtserklärung, den Inneren Menschen zum T hema und Ziel der nachfolgenden Unterweisung zu machen, widmet Cassian sich in coll. 3 der Funktion des Inneren Menschen auf dem Weg zur Vollkommenheit. In coll. 3,7 geht es um die dreifache Absage an die Welt, die bestenfalls in einer vollständigen Reinigung des Geistes von allem Irdischen und Fleischlichen gipfelt. Diese kann allerdings nur gelingen, wenn die Entsagung sowohl 35 … et de canonicarum orationum modo ad illius quam apostolus praecipit orationis perpetuae iugitatem ascendat eloquium, ut quisquis iam superioris operis lectione Iacob illius intellegibilis nomen carnalium uitiorum subplantatione promeruit, nunc etiam non tam mea quam patrum instituta suscipiens diuinae iam puritatis intuitu ad meritum et ut ita dixerim dignitatem transiens Israhelis, quid in hoc quoque perfectionis culmine debeat obseruare si militer instruatur (4,15–23). Ein weiterer Verständnishinweis im skizzierten Sinne begegnet in coll. 12,11, die direkt auf Praef. I zurückgreift: Wieder ist vom Aufstieg von Jakob zu Israel die Rede, hier jedoch wird erläuternd hinzugefügt, dass dieser intellectualis (351,27) zu verstehen sei. Während Jakob noch mit den Lastern kämpft, hat er nach dem Kampf, der ihm Gottes Segen und den neuen Namen Israel eingebracht hat, eine beständige Ausrichtung des Herzens errungen. Es folgen weitere Erklärungen des Namens Israel: Israel wird der genannt, der Gott schaut (id est in eo qui uidens deum 352,6 f.), der vor Gott als äußerst rechtschaffen gilt (rectissimus dei est 352, 7 f.) und der Gott nicht nur bekannt ist, sondern bei ihm einen großen Namen hat (non solum notus, sed etiam magnum nomen est eius 352,8 f.). Israel als der, der Gott schaut, begegnet, in etwas anderer Formulierung, auch in coll. 5,23. Diese – wie zu zeigen sein wird – geprägte Auslegung des Namens nimmt ihren Ursprung in Gen 32,23–33, dem Kampf am Jabbok. Zunächst ist es Jakob, der in einem harten Kampf um Gottes Segen ringt, dann Israel, der nach dem Erhalt dieses Segens – und seines neuen Namens – den Ort des Geschehens Pnuel nennt, da er dort das Angesicht Gottes geschaut hat. Diese Auslegung des Namens geht auf Philo von Alexandrien zurück (somn. 2, 173; vgl. Sheridan 2012b, 320) und wird dann von Clemens von Alexandrien als erstem christlichen Schriftsteller übernommen. Clemens beschreibt Jakob als einen, der sich noch um Askese bemüht, während Israel als klar Sehender beschrieben wird (Clemens von Alexandrien, str. 4,22,135,1 [GCS 15/4, 308,5 Stählin/Früchtel]: διορατικὸς οὗτός ἐστιν ὁ γνωστικός; vgl. Sheridan 2012b, 327). Zudem konkretisiert Clemens Jakobs Partner im Ringkampf als den Logos, der in dieser Auseinandersetzung als Pädagoge an seinem menschlichen Gegenüber wirkt (paed., 1,7.57.1; vgl. ebd.). Diese im Übergang von Jakob zu Israel sichtbar werdende pädagogische Wirksamkeit des Logos wird von Origenes, anders als die anderen Elemente der Allegorie, nicht übernommen (vgl. Sheridan 2012b, 328. Genau wie Clemens spricht Origenes von Israel als διορατικὸς [princ. 4,3,8,12]). Ein erster monastischer Beleg für Israel als den, der Gott schaut, findet sich in den Antoniusbriefen, in denen Antonius Horsiesius als „Israeliten“ bezeichnet (vgl. Sheridan 2012b, 330). Auch vor Cassian wurde diese Allegorie des Namens Israel bereits in der lateinischsprachigen T heologie genutzt, z. B. bei Ambrosius oder Hieronymus, aber niemals zuvor so explizit zum Leitkriterium um einen spirituellen Aufstieg zu beschreiben, gemacht (vgl. Sheridan 2012b, 332–334). Damit geht die Jakob-Israel-Metaphorik m. E. über die Bedeutung hinaus, die C. Kelly ihr beimisst. Für ihn liegt die Bedeutung lediglich in der einmaligen Allegorie, die untrennbar mit dem Inneren Menschen verbunden ist und ausschließlich dazu dient, auf die Maria-Martha-Allegorie (s. 6.1) vorzubereiten (vgl. Kelly 2012, 25 [Anm. 16]).
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den äußeren Menschen als auch sein Inneres betrifft; solange der Innere Mensch noch in die Laster verstrickt ist, kann der äußere nicht von ihnen frei werden.36 Hier ist die Reihenfolge der Entsagungen bemerkenswert: Nicht wie zu erwarten ist es das Fleisch, das den Geist hemmt, sondern der Geist, der eine gelingende fleischschliche Entsagung unmöglich macht. Hier klingt bereits die große Bedeutung, die der willentlichen Entscheidung für den monastischen Lebensweg an späterer Stelle noch ausführlicher beigemessen wird, an (s. hierzu 4.4.2). In coll. 3,8 kommt es zu einer Identifikation des Inneren Menschen mit der Seele (anima).37 Dabei ist der entscheidende Punkt, dass der Innere Mensch, geprägt durch die Lebensweise des diesseitigen Gesamtmenschen, den Körper überdauern und gemäß den erworbenen Tugenden – oder der nicht abgelegten Laster – seinen Platz in der Ewigkeit zugewiesen bekommen wird.38 Zwar trennt der Tod den Inneren vom äußeren Menschen, die Seele vom Körper, nicht aber den Inneren Menschen von seinen Taten. Diese werden als propriae diuitiae nostrae (80,6 f.) bezeichnet und entscheiden, ob ihr Urheber zur Vollkommenheit gelangen kann (ad perfectionem possumus peruenire 80,8; s. 6.3) oder vielmehr an den ewigen Tod gebunden ist (inligati aeterna morte multari 80,9). An dieser Stelle wird deutlich, wie sehr Cassian – zumindest im ersten Teilband der Colla tiones – einer platonischen Verwendung der Metapher vom Inneren Menschen verbunden ist.39 Eine neue Facette des Inneren Menschen lässt Cassian Abbas T heodor in coll. 6,10 durch die Auslegung von Ri 3,15 (s. u.) aufzeigen. Der Makrokontext dieser Passage kreist um eine Dreiheit von Kategorien, die auf alle Aspekte des (monas36 …nihil mihi proderit exterioris hominis abrenuntiatio atque conbustio interiore adhuc uitiis pristinis inuoluto, eo quod simplicem substantiam mundi huius primae conuersionis feruore contemnens, quae nec bona esse nec mala, sed media definitur, uitiosi cordis noxias facultates similiter abicere non curarim nec adtingi dominicam caritatem… (78,27–79,5). 37 Das Kapitel einleitend ist die Rede noch vom interior … homo (79,11 f.), nachfolgend wird in Bezug auf dieses Konzept durchgängig von anima gesprochen (79,14.22; 80,4.7), der Begriff interior homo fällt kein zweites Mal. 38 Festinare igitur omni debemus instantia, ut interior quoque noster homo uitiorum suorum diuitias quas in anteriore conuersatione contraxit uniuersas abiciat atque dispergat. quae corpori atque animae iugiter cohaerentes propriae nostrae sunt, ac nisi adhuc in hoc corpore constitutis nobis abiectae fuerint et abscisae, post excessum nos non desinent co mitari. ut enim uirtutes uel ipsa caritas, quae earum fons est, in hoc saeculo conquisita post finem quoque huius uitae pulchrum ac splendidum amatorem suum reddit, ita uitia ad illam perennem commorationem obfuscatam mentem quodammodo coloribus taetris infectamque transmittunt (79,11–21). 39 Die in coll. 3,8 angedeutete Seelenwanderung lässt stark an Platons Phaidon 80c–82b denken: Dort heißt es, dass der Leib vergänglich, die Seele hingegen ewig sei und auch die Trennung vom Leib überdaure (80d). Dabei entscheide das, was die Seele während sie im Leib gefangen war, erleiden musste, darüber, ob sie in reinem oder unreinem Zustand weiterziehen kann (81b). Wer nach einem tugendhaften Leben gestrebt habe, könne nach dem Tod an einen guten Ort gelangen (82a).
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tischen) Lebens anwendbar sind: Das Gute, das Böse und das Mittelmäßige.40 Coll. 6,10 spitzt diese Frage insofern zu, als es um die Vereinbarkeit von Gut und Böse innerhalb eines (heiligen) Menschen geht. Cassian lässt Abbas T heodor darlegen, dass jeder Mensch im Inneren eine linke Seite, der diverse negative Attribute zugeordnet werden, und eine rechte, positive, Seite habe. Da es unmöglich sei, diese anthropologische Grundvoraussetzung abzulegen, müsse das Ziel sein, die linke Seite seines Inneren Menschen so zu trainieren, dass sie wie die rechte funktioniert, dass also der Zustand einer „Doppelrechtshändigkeit“ (ἀμφοτεροδέξιοι, id est ambidextri 162,27) erreicht wird. Dies kann nur gelingen, wenn der Mönch sich beider Seiten bewusst ist, sich von der rechten nicht zum Hochmut verführen lässt und an der linken stetig gegen die dort angreifenden Versuchungen kämpft. Nach dieser theoretischen Grundlegung der Zweiseitigkeit des Inneren Menschen beschreibt T heodor zwei prototypische Doppelrechtshänder aus dem Alten Testament: Hiob und Joseph. Das Bild der Doppelrechtshändigkeit entspringt einer freien und interpretierenden Übersetzung der LXX: Im hebräischen Text von Ri 3,15 f. ist die Rede davon, dass Ehud aufgrund seiner Linkshändigkeit eine besondere Kampftechnik beherrscht, die ihm zu überragenden Siegen verhilft. Die LXX hingegen verändert den Wortlaut von „Linkshändigkeit“ zu ἀμφοτεροδέξιον „doppelt-rechtshändig“. Dies ist dem kulturellen Hintergrund der Griechisch sprechenden Übersetzer, für die alles Linke negativ konnotiert ist, geschuldet.41 Dieser von der LXX geprägte Begriff wird im frühen Christentum rezipiert, vor allem bei Origenes, in dessen Tradition auch Cassians Gebrauch der Vorstellung zu verorten ist.42 In den Homilien zum Richterbuch legt Origenes die auch von Cassian herangezogene Stelle und ihren Kontext wie folgt aus: Der neugewählte Richter Israels ist ein doppelter Rechtshänder, da an ihm nichts Verwerfliches, ‚Linkes‘ zu finden ist. Origenes spricht von zwei Seiten, die bei diesem Mann beide idealtypisch und damit ‚rechts‘ sind: Glauben und Taten.43 Diese Beobachtung lässt Origenes schlussfolgern, dass alle Heiligen als ambidextri bezeichnet werden
40 Coll. 6,3: Tria sunt omnia quae in hoc mundo sunt, id est bonum, malum, medium (155,27 f.). 41 Vgl. hierzu ausführlich Ruppert 2015, 137–139. Traditionell wird die rechte Seite mit den Attributen günstig, glückbringend und ehrenhaft verbunden, sie ist die Seite, die als religiös relevant gilt (z. B. zur Rechten Gottes sitzen). Allerdings scheint hier ein kultureller Unterschied zwischen griechischem und lateinischem Sprachraum zu bestehen: Während in Griechenland im Vogelflugorakel die rechte Seite die glückverheißende war, war es im lateinischen Sprachraum andersherum (vgl. Grundmann 1935, 37–39). Cassian ist hierdurch jedoch m. E. nicht zum „Griechen“ zu machen, vielmehr erscheint er durch diese Verwendung von rechts / links als Rezipient des Origenes (s. u.). 42 Vgl. Ruppert 2015, 144 f. 43 Origenes, in lib. iud. hom. 3,5 (SC 389, 110,16 f. Messié u.a.): in utraque parte dexter est, in fide dexter est, in actibus dexter est.
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können. Das komplette Gegenteil stellt der Teufel mit seiner Gefolgschaft dar, die Origenes folgerichtig als ambisinistri bezeichnet.44 Bei aller Ähnlichkeit ist doch zu beobachten, dass Cassian die Vorstellung des Origenes weiterentwickelt und ihr eine bis dahin unbekannte Dynamik verleiht:45 Sowohl Cassian als auch Origenes reden von zwei Seiten. Während die beiden Bereiche, die laut Origenes das Leben eines Menschen ausmachen – Glauben und Taten – beide gut / rechts oder schlecht / links sein können, gibt es bei Cassian in beiden Bereichen beständig eine linke und eine rechte Seite. Der Innere Mensch Cassians muss in andauernder Bewegung um einen ständigen Ausgleich der beiden Seiten bemüht sein, da es nicht möglich ist, eine dieser beiden Seiten gänzlich abzulegen. Genau das hat aber der ideale Richter in der Auslegung des Origenes erreicht, er hat nichts Linkes mehr an sich. Während Origenes gerade diesen Zustand zum Kriterium für Heiligkeit macht, geht Cassian die Sache differenzierter an und spricht auch den beiden ‚Beispielheiligen‘ Hiob und Joseph die Existenz einer linken Seite des Inneren Menschen nicht ab, befindet lediglich, dass sie diese erfolgreich ‚umerzogen‘ haben. So definiert er auch das Ziel für seine Leser: Auch sie können Doppelrechtshänder werden, indem sie lernen, gute wie schlechte Situationen – sowie Regungen der linken und rechten Seite des Inneren Menschen – als Erziehung zum Heil und Möglichkeit, sich in Geduld zu üben, anzunehmen und ihre rechte Hand so immer stärker werden zu lassen.46 Nach dieser theoretischen Darlegung der Zwiegespaltenheit des Inneren Menschen in coll. 6 geht es in coll. 7 wieder auf eine praxisorientiertere Ebene: Im Gespräch mit Abbas Serenus, das um den geistlichen Kampf und den Angriff von Dämonen kreist, wird der Innere Mensch als Dreh- und Angelpunkt des gesamten geistlichen Kampfes und des Weges zur Vollkommenheit dargestellt. In der Rahmenhandlung, mit der Cassian Abbas Serenus vorstellt, wird der Innere Mensch klar als ein Leitmotiv dieser Collatio erkennbar: Nicht nur die Haupttugend des Serenus, die erfolgreiche Reinigung von allen Leidenschaften, wird seinem von Gott unterstützten Inneren Menschen zugeschrieben47, sondern auch die erste Frage, die Serenus den beiden Reisenden stellt, gilt dem Zustand ihres Inneren Menschen – und veranlasst diese dadurch zur Klage.48 in lib. iud. hom. 3,5 (SC 389, 110,23 Messié u.a.). Vgl. Ruppert 2015, 144–146. 46 ad hoc siquidem tantum utiles sunt, ut pro tempore nos exerceant et erudiant ad salu tem ac perfectos ad patientiam reddant (166,14–16). 47 …uelut suauissimo gustu puritatis accensus in maiorem sitem zelo castitatis exarsit et intentioribus coepit ieiuniis atque obsecrationibus incubare, ut mortificatio passionis huius, quae interiori homini suo dono dei fuerat adtributa, ad exterioris etiam puritatem eatenus perueniret, ut ne ipse quidem uel illo simplici ac naturali motu qui etiam in paruulis atque lactantibus excitatur ulterius pulsaretur,… (180,7–13). 48 qui cum a nobis de qualitate cogitationum nostrarum et interioris hominis statu tran 44 Origenes, 45
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Coll. 7,3 führt die Klage von Cassian und Germanus weiter aus und erläutert, was sie in der Formung ihrer Inneren Menschen bisher versäumt haben. Auch wenn Dauer und Intensität ihres bisherigen Wüstenaufenthalts vermuten lassen könnten, dass sie die Vollkommenheit bereits erreicht haben, ist ihnen bisher lediglich ihr Versagen bzw. die Fehlbarkeit ihrer Inneren Menschen vor Augen geführt worden.49 Sie konnten bisher weder die zuvor am Beispiel des Serenus beschriebene Reinheit erlangen, noch ihr Wissen festigen.50 Damit ist nicht nur der intellektuelle Aspekt, den Origenes mit einer Vorstellung des Inneren Menschen verbindet, über den Begriff scientia aufgenommen, sondern auch ein erster Hinweis auf den Ausgangspunkt zweier Konzepte des geistigen Aufstiegs – der Herzensreinheit als erstes Ziel und der scientia spiritalis (s. 6.1.1 und 6.2) – im Inneren des Menschen gegeben. Coll. 7,3 sticht nicht nur inhaltlich dadurch hervor, dass sie den Inneren Menschen zum Ausgangspunkt aller weiteren anthropologischen Überlegungen erklärt, sondern unterstreicht dies auch durch ihre besondere narrative Gestalt: Das übliche Schema aus Rahmenhandlung, Rede des Altvaters und Rückfragen des Germanus (s. 3.3) wird zu Gunsten einer umfänglichen Klage der Protagonisten der Rahmenerzählung (Cassian (jung) und Germanus) aufgebrochen, diese wird der Rahmenerzählung, die Biografisches zu Abbas Serenus berichtet (coll. 7,1 f.), und dem Beginn der Rede des Germanus (coll. 7,3) zwischengeschaltet. Nullfokalisiert gibt Cassian umfassende Einblicke in die Gedanken und Zweifel, die Germanus und sein jüngeres Ich ob ihrer eigenen Unvollkommenheit überfallen. Dabei wird zunächst in der 1. Pers. Pl. berichtet (z. B. disce remus 181,13), bald aber in die 1. Pers. Sg. (z. B. ut sciam quid esse non possum 181,25) gewechselt. Während Germanus in allen Collationes als Reflektorfigur dient, lässt der Autor Cassian die Figur seines jüngeren Ichs nur sehr selten zu Wort kommen, sodass diesen Passagen große Eindringlichkeit verliehen wird. Es fällt auf, dass dies vor allem dann vorkommt, wenn das „Ich“ Cassians Zweifel an der eigenen Tauglichkeit äußert oder vom Altvater nachdrücklich ermahnt wird (s. auch 3.1.1.1). Coll. 7,5 und 7,8 thematisieren den Inneren Menschen als Angriffspunkt des Teufels und anderer Feinde: Während coll. 7,5 erzählt, wie der Panzer des Glaubens und der Liebe (1 T hess 5,8) den Inneren Menschen vor den iacula diaboli (186,23) schützt, betont coll. 7,8, dass auch der, der einen kampferprobten Inquillissima conpellatione quaesisset uel quid nobis ad eius puritatem tanti temporis heremi habitatio contulisset, his eum querimoniis adorsi sumus (181,7–10). 49 Subputatio temporum ac solitudinis habitatio, cuius contemplatione conicis interioris hominis perfectionem nos consequi debuisse, hoc solummodo contulit nobis, ut disceremus quid esse nequeamus, non tamen fecit esse quod esse contendimus (181,11–15). 50 nec enim aut desideratae puritatis fixam stabilitatem aut robur aliquod firmitatis nos hac scientia nouimus adsecutos, sed tantummodo confusionis ac pudoris augmenta (181,15– 17).
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neren Menschen hat, nicht leugnen kann, dass die Angriffe der Feinde immerwährend (iugiter 189,23) sind. Diese Beobachtung wird in coll. 7,15 zum Anlass genommen, über das Verhältnis und den Zusammenhang von Innerem und äußeren Menschen zu reflektieren: Hier stellt Abbas Serenus fest, dass die unreinen Geister (spiritus inmundi 194,4 f.) nicht ins Innere des Menschen blicken könnten, sondern dessen Regungen und Schwachstellen lediglich am äußeren Menschen ablesen könnten. An dieser Stelle sei an coll. 3,7 und coll. 7,2 erinnert, die beide den Ursprung jeder Handlung im Inneren Menschen verorten, der äußere Mensch folgt dem Inneren darin lediglich. Ebenfalls über den Einklang von Innerem und äußerem Menschen berichtet coll. 16,22 (s. u.). In coll. 7,16 wird abermals die Reihenfolge, in der der Mensch einem Laster erliegt, thematisiert: Die Geister tasten den Inneren Menschen ab, um seine größte Schwachstelle zu finden; sobald als Folge dessen eine körperliche Reaktion einsetzt, können sie das als Erfolg für sich verbuchen.51 Vereinzelt begegnet der Innere Mensch auch in den beiden nachfolgenden Collationes: In coll. 8,3 spricht Abbas Serenus über die Auslegung heller und dunkler Stellen der Heiligen Schrift (s. 5.5.2.1). Dabei betont er die Notwendigkeit einer allegorischen Auslegung, um schwer verständliche Stellen zur nahrhaften Speise für den Inneren Menschen werden zu lassen.52 Hier wird der Innere Mensch abermals als nicht nur spirituelles Zentrum des Menschen, sondern auch als Ort tiefergehender (intellektueller) Erkenntnisse, die wiederum den Weg zur Schau Gottes bereiten, herausgestellt. In coll. 9,21 spricht Abbas Isaak über die Notwendigkeit, das Herz des Inneren Menschen (cor interioris nostri hominis 269,23) durch die tägliche Speise des Gebets zu stärken. Diese Stelle ist in dreierlei Hinsicht interessant: Erstens wird der Innere Mensch hier in vollständiger Analogie zum äußeren Menschen dargestellt, indem von seinem Herzen gesprochen wird; dies ist eine Aufteilung, die weit über die zuvor genannte in linke und rechte Seite hinausgeht und deutlich an Origenes erinnert. Zweitens besteht eine lose Stichwortverbindung zu coll. 8,3 über die Speise / das Essen (cibus 219,28; esus 269,23) des Inneren Menschen: hier durch das Gebet, dort durch eine korrekte Schriftauslegung. Und zum Dritten wird durch die Formulierung des täglichen Stärkens hier erstmals eine explizit paulinische Vorstellung des Inneren Menschen, der laut 2Kor 4,16 (s. o.) täglich erneuert werden muss, formuliert. 51 … ita hi quoque, ut thesaurum nostri cordis explorent, uelut harenas quasdam sug gestiones nobis noxias inspargentes, cum secundum illarum qualitatem adfectum corporeum uiderint emersisse, uelut quodam de intimis conclauibus prodeunte tinnitu quid sit recondi tum in adytis interioris hominis recognoscunt (195,17–22). 52 quaedam autem si allegorica explanatione extenuata non fuerint et spiritalis ignis examinatione mollita, nullo modo ad salutarem interioris hominis cibum sine corruptionis labe peruenient magisque ex eorum perceptione laesio quam utilitas aliqua subsequetur, ut est illud:… (219,26–220,2).
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Die einzige Collatio des zweiten Teilbandes, die den Inneren Menschen erwähnt, ist coll. 16,22. Bevor jedoch im Zusammenhang von Freundschaft und Zorn, dem T hema der Collatio, die Sprache konkret auf den interior homo kommt, führt Cassian zwei weitere Bilder an, die das Innere des Menschen näher bestimmen: Zunächst stellt er heraus, dass die Absichten eines anderen Menschen nicht nur an seinen Taten zu messen seien, sondern auch an seiner Gesinnung (qualitas mentis et propositum 456,15; zu letzterem Begriff s. auch 4.4.1), die wiederum nur mit dem Innersten des Herzens abzuwiegen sei (intimus cor dis 456,17 f.). Dann geht es um die für Freundschaft essentiellen Tugenden der Geduld und Sanftmut, die im Innersten der Seele, unseres inneren Heiligtums (in intimis animae nostrae adytis 456,22 f.) angesiedelt sind. Dieses Konzept der Innerlichkeit lässt das Innere des Menschen dem Allerheiligsten des Tempels vergleichbar erscheinen.53 Direkt im Anschluss kommt die Sprache wirklich auf den Inneren Menschen: Abbas Joseph legt Mt 5,3954 so aus, dass das Hinhalten der anderen Wange, nachdem man auf die rechte geschlagen wurde, nur so verstanden werden kann, dass damit die andere rechte Wange, die des Inneren Menschen, gemeint sei. Hier ist nicht nur ein direkter Anschluss an coll. 6,10 zu erkennen, sondern auch eine Parallele zu Augustin und Hieronymus:55 Augustin formuliert in De mendacio liber unus 27, dass es sich bei der „anderen Wange“ um die Wange im Herzen handle.56 Hieronymus formuliert in seinem Matthäuskommentar noch entschiedener, dass es sich bei der „anderen Wange“ keinesfalls um die linke Wange – die kein Gerechter habe – handle, sondern um die „andere rechte“.57 Cassian nun lässt Joseph den Übertrag von der äußeren auf die innere Wange noch weiter ausführen: Es geht ihm vor allem um die Zustimmung des Inneren Menschen zur äußerlichen Demütigung. Damit ist eine asketische Haltung, die nicht nur 53 Vgl. Ziegler 2014, 248. Das aus dem Griechischen entlehnte adytum begegnet in den Collationes sieben Mal: coll. 1,22; 7,13; 7,16; 9,3; 10,9; 16,22; 22,3 und damit gehäuft in der Nähe der Belegstellen für den Inneren Menschen. Damit verwendet Cassian den Begriff des Allerheiligsten in einer Weise, die griechischsprachigen Autoren der Spätantike geläufig war (vgl. Lampe 2001, 37): Hier war es nicht unüblich, mit diesem Begriff nicht nur einen kultischen Bereich des Tempels, sondern allgemein auch Verborgenes und Innerliches des Menschen, den Ort seiner Kontemplation und den Sitz der Gottebenbildlichkeit zu beschreiben. Dieses Konzept wird – wenn auch mit anderer Terminologie – in coll. 14 im Zuge der Rede von der scientia spiritalis wieder aufgenommen (s. 6.2). 54 „Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.“ 55 Vgl. Ziegler 2014, 248 f. 56 Augustin, mend. 24 (CSEL 41, 447,14–20 Zycha): uelut cum legimus in euangelio: ac cepisti alapam, para alteram maxillam. exemplum autem patientiae nullum quam ipsius domini potentius et excellentius inuenimus. at ipse, cum alapa percussus esset, non ait: ecce altera maxilla, sed ait: si male dixi, exprobra de malo. si autem bene, quid me caedis ubi os tendit illam praeparationem alterius maxillae in corde faciendam. 57 Hieronymus, comm. Matt. 1,265 (SC 242, 124 Bonnard): non jubemur sinistram prae bere sed alteram, hoc est alteram dextram. Justus enim sinistram non habet.
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nach außen die Form wahrt, sondern auch aus tiefstem Inneren dieser demütigen Form entspricht, gemeint. Die eigentliche Kunst ist es nicht, den Unmut nicht nach außen dringen zu lassen, sondern ihn im Innern des Herzens (inte rior cordis 457,9 f.) gar nicht erst aufkommen zu lassen. Dieses Kapitel ist somit erneut für die Frage nach dem Verhältnis von Innerem und äußerem Menschen relevant: Während es zuvor in coll. 7,15 f. darum ging, ob und wie die Regungen des Inneren Menschen am Äußeren abzulesen sind, liegt der Fokus nun darauf, die Einheit von Innerem und äußerem Menschen zu wahren: Es wird als verwerflich dargestellt, Demut und Askese nur oberflächlich zu betreiben und sie allein mit dem äußeren Menschen zu praktizieren, während der Innere Mensch nicht ‚bei der Sache‘ ist. Coll. 18,16 schließt – sofern man nur die Ausführungen über den Inneren Menschen betrachtet – an coll. 7 an. Es geht wieder um die Abwehr von Versuchungen und Angriffen des Teufels. Das einzig wirksame Mittel, das Abbas Pia mun hiergegen präsentieren kann, ist, den Inneren Menschen zu stärken. Alle Maßnahmen zur Abwehr der Laster, die an äußere Bedingungen anknüpfen, wie der Verlass auf ein Leben in Einsamkeit oder der Schutz durch die Brüder, sind dagegen wirkungslos solange das Innere des Menschen nicht tonangebend beteiligt ist.58 Diese Verinnerlichung wird im Fortgang von coll. 18,16 weiter ausgeführt, wobei Lk 17,2159 eine gewisse Stichwortverbindung zu coll. 16,22, in der das Innere des Menschen als Allerheiligstes des Tempels beschrieben wird, darstellt. Aber nicht nur Göttliches wird mit Lk 17,21 im Inneren des Menschen verortet, sondern mit Mt 10,3660 auch die Wohnung seiner ärgsten Feinde, die durch diese Nähe wissen, wie der Mensch am besten zu Fall zu bringen ist.61 Dass Gutes wie Schlechtes gleichermaßen im Inneren des Menschen wohnen, lässt nicht nur an die zwei Seiten (coll. 6,10), sondern auch an die platonische Dreiteilung der Seele denken. Damit verschiebt diese Collatio, deren Hauptziel es ist, über die verschiedenen Arten des Mönchtums und ihre Vor- und Nachteile zu informieren, den gesamten monastischen Kampf um die Vollkommenheit hin zum Inneren Menschen. Nachdem in coll. 22,3 und coll. 22,6 die Bedeutung der Pflege und Ernährung (fotus ac pabulum 625,20) des Inneren Menschen für eine gelingende und anhaltende Keuschheit, die nur in dieser Reihenfolge auch den äußeren Menschen erreichen kann, betont wird, beginnt in coll. 22 die Auslegung von Röm 7,22 f., 58 si omne praesidium patientiae nostrae omnemque fiduciam non in interioris hominis nostri uiribus, sed in cellulae claustris aut in solitudinis recessu sanctorumue consortio uel cuiusquam quae extra nos sit rei praesidio conlocemus (526,19–22). 59 „Man wird auch nicht sagen: Siehe, hier!, oder: Da! Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ 60 „Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein.“ 61 sicut enim regnum dei intra nos est, ita inimici hominis domestici eius. nemo enim mihi magis quam sensus meus, qui mihi est uere intimus domesticus, aduersatur (527,14–17).
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die sich auch in coll. 23 fortsetzt.62 Am Beispiel des Paulus wird gezeigt, dass selbst der vollkommenste Mensch nicht in der Lage ist, dem Kampf zwischen Geist und Fleisch zu entkommen. Dies erinnert an coll. 6,10 und die dort heraus gestellte Notwendigkeit, beide Seiten des Inneren Menschen in Gleichgewicht und Einklang zu bringen. Dass der Mensch sich in einem beständigen Kampf, einem beständigen Zerrissensein findet, das wiederum die Sorge um den Inneren Menschen erst notwendig macht, begründet Cassian mit der anthropologischen Grundannahme des Sündenfalls, die weniger den äußeren als zuerst den Inneren Menschen betrifft (s. 4.3). Versucht man an diesem Punkt, die verschiedenen Traditionen, die Cassians Bild vom Inneren Menschen prägen, zusammenzubringen, lässt sich festhalten, dass er die platonische T hese, dass das Innere des Menschen aus verschiedenen, guten und schlechten Teilen, die in permanentem Kampf miteinander stehen, auf christlichen Boden stellt, indem er diesen Sachverhalt an den Sündenfall koppelt und den Inneren Menschen damit zum Opfer der ererbten Sündhaftigkeit macht. Auch zu Beginn der finalen Collatio (coll. 24) ist der Innere Mensch noch einmal T hema und rahmt so mit dem Prolog des ersten Teilbandes die gesamten Collationes. Coll. 24 ist mit De mortificatione (672,3) überschrieben und erzählt, wie Abbas Abraham als letzter Gesprächspartner versucht, Cassian und Germanus zu einer endgültigen Entsagung von der Welt zu verhelfen. Dabei hebt er in coll. 24,2 besonders die beharrliche und tägliche Entsagung hervor, wodurch abermals 2Kor 4,16 angespielt wird. In coll. 24,3 wird das Ziel der monastischen Bemühungen, an denen Cassian und Germanus sich abarbeiten, als wachsame Sorge um die Reinheit des Inneren Menschen (qui de interioris hominis puri tate peruigilem sollicitudinem gerit 677,17 f.) beschrieben und anschließend als ein Fernbleiben von Zerstreuung näher spezifiziert. Dieser Gedanke wird in coll. 24,4, in der es darum geht, dass es Anfängern (rudes 678,20) oft besonders schwerfällt, die extreme Abgeschiedenheit der Wüstenregionen Kalamos und Porphyrion zu ertragen, weiter ausgeführt: Der Grund hierfür sei, dass sie nicht gelernt hätten, die Unruhe ihres Inneren Menschen (interioris hominis motus 678,23 f.) abzulegen, indem sie alle Gedanken, die sie vom Ziel ihrer monastischen Bemühungen fernhalten, zum Verstummen bringen. 4.1.3 Die Bedeutung des Inneren Menschen für die monastische Bildung Die Vorstellung eines Inneren Menschen ist der zentrale Punkt in Cassians monastischem Bildungskonzept. Cassian nutzt ein traditionsgeschichtlich breit verankertes Konstrukt, das sowohl aus der Philosophie als auch aus der T heologie 62 Ausführlich wird auf die hier verhandelten Fragen nach Möglichkeit und Unmöglichkeit von Sündlosigkeit unter 4.3.2 eingegangen, an dieser Stelle ist das Augenmerk lediglich auf weitere Aspekte, die Cassians Vorstellung des interior homo klarer hervortreten lassen, zu richten.
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wohl bekannt ist. In groben Zügen folgt seine Darstellung des Inneren Menschen dabei der seines theologischen Lehrers Origenes, der bereits platonische und paulinische Elemente verband. Darüberhinausgehend setzt Cassian jedoch auch eigene Akzente, wie oben exemplarisch an der Dynamisierung des Konzepts der Doppelrechtshändigkeit gezeigt wurde. Der Innere Mensch ist der Teil des Menschen, an dem die Gottebenbildlichkeit genau wie ihr Verlust durch den Sündenfall deutlich wird, der es vermag zu dieser zurückzukehren und so Gott nahe zu kommen. Aber nicht nur für die göttlichen, auch für die dämonischen Mächte (4.2) zeigt der Innere Mensch sich empfänglich. Diese Zerrissenheit kennzeichnet den Kampf des Inneren Menschen, ein Motiv, mit dem Cassian wiederholt den Kern des monastischen Lebens beschreibt.63 Auch hier steht eine fortwährende Dynamik des Inneren Menschen im Fokus: Solange er eine Einheit mit dem äußeren Menschen bildet, ist es nicht möglich, ihn endgültig und ausschließlich auf Gott auszurichten, dieses muss – deutlich mit 2Kor 4,16 – täglich erneut erfolgen. Der Innere Mensch wird dabei teils mit der Seele des Menschen identifiziert und so kann Cassian platonisch inspiriert darstellen, dass der Innere Mensch den äußeren überdauern wird und bereits jetzt über das ewige Geschick des Individuums entscheidet. Der Innere Mensch ist nicht nur der Ort der (möglichen) Gotteserkenntnis und der Schauplatz des täglichen monastischen Kampfes, er wird auch mit dem Allerheiligsten des Tempels (und damit der Wohnstatt Gottes) verglichen. Er ist das spirituelle Zentrum des Gesamtmenschen, der Teil, der es vermag, nach puritas cordis (6.1.1) und scientia spiritalis (6.2) zu greifen. Dem Inneren Menschen gelten alle Bemühungen im Blick auf Schriftauslegung (5.5) und Gebet (5.6). Diese kurze Rückschau verdeutlicht, dass alle Prozesse und Ziele monastischer Bildung, die in den Collationes thematisiert werden, auf die Formung und Verbesserung des Inneren Menschen zielen. Cassian selbst drückt dies bereits im ersten Prolog aus, wenn er betont, den Fokus nun vom äußeren Menschen (der in den Instituta zur Genüge behandelt wurde) auf den Inneren Menschen richten zu wollen. Dies ist m. E. so zu interpretieren, dass der Mönch zunächst einer gewissen äußeren Erziehung bedarf, bevor er zu stärker innerlichen Prozessen der (Selbst-)Bildung fortschreiten kann. Dass dieses Fortschreiten von der Erziehung zur (Selbst-)Bildung unbedingt notwendig ist und dass Mönch-Sein niemals beim Einhalten bestimmter äußerer Regeln verbleiben darf, wird wiederholt am Beispiel des Inneren Menschen deutlich: Erfolgreich, d. h. auf eine Wiedereinbildung Gottes und den Eintritt ins Gottesreich zielend, ist ein monastisches Leben erst dann, wenn sich Innerer und äußerer Mensch im Einklang befinden, wenn der Mönch die gewählte Lebensform nicht bloß erträgt oder gar widerwillig vortäuscht, sondern von ganzem Herzen will. 63
Und das sich in leichter Variation im Streit um die Willensfreiheit (4.1.4) manifestiert.
4.2 Laster und Dämonen
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4.2 Laster und Dämonen 4.2.1 Die Stellung der Laster im monastischen Bildungskonzept der Collationes Die Lehre von den acht Hauptlastern ist ein wiederkehrendes und umfänglich bearbeitetes T hema in Cassians Gesamtwerk.64 Bereits in den Instituta widmet er acht Kapitel den Lastern, in den Collationes nimmt er das T hema nun wesentlich elaborierter wieder auf.65 In den Instituta werden die Laster über acht Kapitel (inst. 5–12) in aufsteigender Reihenfolge, beginnend mit der gastrimargia und endend mit der superbia, behandelt. Anders als in den Collationes ist das Verhältnis der Laster zueinander hier kein T hema. In den Collationes ist der Kampf gegen die Laster, der bestenfalls in ihrer vollständigen Überwindung66 mündet, nur eines von mehreren Konzepten, die Cassian nutzt, um den Prozess monastischer Bildung zu illustrieren, in den Instituta stellt die Überwindung der Laster den Höhepunkt der Unterweisung dar. Mit Ausnahme von coll. 1367 wird in jeder Collatio der Begriff uitium mehrfach verwendet. Dabei fällt auf, dass gut die Hälfte aller Belege auf den ersten Teilband der Collationes entfällt und der Anteil durch die beiden anderen Teilbände hindurch immer weiter abnimmt. Das lässt darauf schließen, dass dieses T hema als zentrales T hema gleich zu Beginn von Cassians Lehrtätigkeit in Marseille zur Sprache kam, jedoch nicht endgültig abgeschlossen wurde, wie bspw. der umfassende Rekurs in coll. 22 belegt. 64 Dennoch ist spezifische Literatur zum T hema selten: Die jüngste Veröffentlichung, die sich grundlegend mit diesem T hema befasst, stammt von L. Wrzol aus dem Jahr 1923/4. L. Wrzol arbeitet umfangreich zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund der Laster, auch über Evagrius hinaus, verzichtet aber weitestgehend auf eine detaillierte Analyse entscheidender Collationes oder eine Einordnung des T hemas in Cassians Gesamtwerk. Einschlägige Literatur zu Cassian beschränkt sich zumeist auf den Verweis, dass Cassian die Achtlasterlehre von Evagrius mit leichten Modifikationen rezipiert. So z. B. Chadwick 1968, 94–96; Stewart 1998 verweist lediglich in einer Fußnote (179, [Anm. 23]) auf weitere Literatur, vorrangig zu Evagrius’ Lasterlehre, allerdings füllt er diese Lücke mit dem 2003 erschienenen Aufsatz „John Cassian’s Schema of Eight Principal Faults and his Debt to Origen and Evagrius“; Holze 1992 streift die Achtlasterlehre immer wieder, vorrangig dann, wenn es um die Frage der Sünde des Menschen geht, räumt aber ein, dass eine detaillierte Untersuchung den Rahmen seiner Arbeit sprengen würde (aaO., 223), Guy 1961 räumt den Lastern zwar viel Platz ein, beschränkt sich aber darauf, den Inhalt der unverbundenen Lasterlehre der Instituta wiederzugeben (aaO., 79–117). Der Abschnitt zu Cassians Achtlasterlehre in De Vogüé 2002 geht darüber hinaus und bietet viele Denkanstöße, bleibt aber selektiv. Relativ umfassend schreibt Schneider 1993 zur Lasterlehre, allerdings dem Fokus seiner Arbeit entsprechend hauptsächlich mit Blick auf eine moralisch-praktische Nutzbarkeit. 65 Vgl. Kelly 2012, 82; Wrzol 1923, 386 f. 66 Wobei die gastrimargia eine Sonderolle als nie vollständig überwindbar einnimmt, s. u. 67 Dieser Befund unterstreicht die im unter 4.4.2.4 ausführlich zu beschreibende Andersartigkeit dieser Collatio.
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4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung
Allerdings gibt es Collationes, die für die Frage nach einer dezidierten Lasterlehre Cassians aussagekräftiger sind als andere: Zuerst ist hier coll. 5 zu nennen, die die Gestalt der Laster auf mehreren Ebenen entfaltet und ihre Verquickung miteinander darstellt. Die anderen Collationes, die wie die oben genannte coll. 22 auf coll. 5 zurückgreifen, beinhalten zwar Akzentuierungen und Entwicklungen der eigentlichen Lasterlehre, die coll. 5 in Anlehnung an die Instituta formuliert, jedoch keine grundsätzlichen Widersprüche.68 Bevor coll. 5 die Laster in ihren detaillierten Erscheinungsformen in den Blick nimmt, trifft coll. 4 (De concupiscentia carnis ac spiritus 96,3) die notwendigen Vorklärungen, um zu verstehen, weshalb der Mönch so sehr von den Lastern angefochten wird. Zunächst lässt Cassian Abbas Serenus in coll. 4,2 beschreiben, wie das Erleben der acedia (die er umschreibt und nicht bei ihrem Namen nennt), das Mönchsein unerträglich schwer werden lässt. Für diese Anfechtung nennt und erläutert er in coll. 4,3 f. drei mögliche Gründe: Erstens die eigene Nachlässigkeit, zweitens der Kampf des Teufels gegen den Mönch und drittens eine Prüfung durch Gott (de neglegentia nostra aut de inpugnatione diaboli aut de dispensatione domini ac probatione 99,1–3). Die Angriffe durch Laster, die auf Gott zurückgehen, werden in coll. 4,4 doppelt begründet: Zum einen dienen sie dazu, die eigene, menschliche Schwäche einzusehen und dadurch noch stärker auf Gott zu vertrauen und zum anderen soll durch die Mühe, die der Kampf bereitet, die bereits erworbene Reinheit noch höher geschätzt werden. Coll. 4,7 hält fest, dass die Angreifbarkeit des Menschen ihm seit dem Sündenfall naturgegeben (naturaliter adtributum 102,16 f.) ist, er also keine Möglichkeit hat, dem Kampf auszuweichen – das ist aber auch gut so, denn ohne den Kampf hätte der Mensch keine Möglichkeit, sich zu verbessern. In coll. 4,8 überträgt Germanus diesen Sachverhalt auf eine andere Ebene anthropologischer Kategorien, indem er die Hin- und Hergerissenheit des menschlichen Willens zwischen Geist und Fleisch auf eben diesen andauernden Kampf gegen die Laster zurückführt. Dieser Zustand wird von Abbas Daniel weiter ausgeführt, um in coll. 4,19 mit neuen Begrifflichkeiten belegt zu werden, die an die platonische Dreiteilung der Seele, wie sie in der Betrachtung des Inneren Menschen (s. 4.1.1) zum Tragen kam, denken lassen, jedoch an dieser Stelle paulinisch69 begründet werden: Die menschliche Seele kann drei Zustände aufweisen, fleischlich, psychisch oder geistig. Der durchschnittliche Mönch hat dem Fleischlichen entsagt, strebt nach dem Geistigen und ist damit dem Psychischen zuzuordnen. In diesem ‚Zwischenzustand‘ ist er allerdings höchst angreifbar für die Laster, da er dazu neigt, sich auf das bereits Erreichte etwas einzubilden, obwohl er von der wahren Vollkommenheit ‚Laster-Collationes‘ im engeren Sinne sind coll. 4 f., coll. 7 f., coll. 12, coll. 22. 1Kor 3,2 als Beleg für die fleischliche Seele, 1Kor 2,14 als Beleg für den psychischen Teil der Seele und 1Kor 2,15 als Beleg für den geistigen Teil der Seele (vgl. auch 5.5.2 zu Origenes’ Rekurs auf den körperlichen, seelischen und geistigen Teil Aspekt des Menschen im Rahmen der Schriftauslegung). 68
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noch weit entfernt – und damit im negativsten Sinne des Wortes lau – ist. Im Blick auf die Laster gesprochen heißt das, dass der Kampf gegen sie nach den ersten erfolgreichen Entsagungen immer anspruchsvoller, da weniger offensichtlich, wird (coll. 4,19–21). 4.2.2 Anordnung und Definition der Laster in den Collationes (coll. 5) Cassian kennt acht Laster, deren Gestalt und Systematik sowie ihre Präsentation in den Collationes im Folgenden zu analysieren ist: Gastrimargia, fornicatio, fi largyria, ira, tristitia, acedia, cenodoxia und superbia (coll. 5,2) Diese werden in coll. 5,3 f. nach verschiedenen Aspekten kategorisiert. Cassian benennt zwei Hauptarten von Lastern: Zum einen die, die in der Natur des Menschen angelegt sind, sodass dieser nicht verhindern kann, dass sie aufbrechen (gastrimar gia) und zum anderen Laster, die nicht natürlich im Menschen angelegt, sondern durch Sozialisation erworben sind (filargyria). Weiterhin unterscheidet er vier Unterkategorien: Einige Laster sind nicht ohne Beteiligung des Körpers möglich (gastrimargia, fornicatio), andere hingegen schon (cenodoxia, superbia). Manche finden ihren Auslöser außerhalb des Menschen (filargyria, ira), andere haben innerliche Ursachen (tristita, acedia). Zwar wird jedes Laster in mindestens eine Kategorie eingeordnet, manche Kategorien werden aber nur beispielhaft illu striert,70 d. h. es steht den Adressaten der Collationes offen, eine weitere Systematisierung vorzunehmen. Je nach Kategorie müssen die Laster unterschiedlich bekämpft werden: Manche lassen sich allein durch geistige Anstrengung71 heilen (ira, tristitia), die Bekämpfung anderer erfordert zudem eine strenge körperliche Askese (gastri margia, fornicatio). Diese Beobachtung führt zu einer weiteren Zweiteilung der Laster in fleischliche (carnalia), die eine doppelte Bekämpfung erfordern, und geistliche (spiritalia), denen die ‚einfache‘ Bekämpfung im Geiste genügt. Damit ergibt sich in der Gesamtsicht auf die acht Hauptlaster eine zunehmende Verinnerlichung: Auf die beiden primär körperlichen Laster folgen die beiden, die von äußeren Umständen, meist anderen Menschen, ausgelöst werden. Dann schreitet die Betrachtung zu den Lastern fort, die ihre Beweggründe im Innern des Betroffenen haben. Den Abschluss bilden die beiden Laster, die auf rein geistiger Ebene ausgelöst und vollzogen werden. Auf diesen ersten Versuch, die acht Laster zu kategorisieren und zu ordnen, verbunden mit den ersten Hinweisen zur Bekämpfung, folgt eine längere Adam-Christus-Typologie (coll. 5,4–6), in der Cassian vergleicht, wie einerseits 70 Z. B. werden nur die gastrimargia und die filargyria als Beispiele für die beiden Hauptkategorien genannt. Wie sich die verbleibenden sechs Laster in dieses Schema fügen, bleibt offen. 71 Diese wird als simplicitas cordis spezifiziert (123,22), eine Anspielung auf das erste Ziel der Herzensreinheit (s. 6.1.1).
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Adam den Lastern der gastrimargia, cenodoxia und superbia erlegen ist (Gen 3,5) und wie demgegenüber Jesus in der Versuchungserzählung (Mt 4,1–11 und Lk 4,1–13) all diesen Lastern widersteht.72 In der lukanischen Fassung findet Cassian in der zweiten Versuchung, dem Versprechen von Macht im Gegenzug für die Anbetung des Teufels, nicht das Laster der cenodoxia, sondern der filargyria dargestellt. Trotz dieser Abweichung folgen alle drei parallel gestellten Versuchungserzählungen dem Muster, das Cassian zuvor präsentiert hat: Der Kampf beginnt mit dem durchweg körperlichen Laster der gastrimargia, das Ursache aller nachfolgenden Laster ist, und gipfelt im Kampf gegen das größte Laster, das endgültig über das Schicksal des Versuchten entscheidet, die superbia. Als entscheidender Aspekt dieser Typologie wird in coll. 5,5 benannt, dass Jesus den gleichen Versuchungen ausgesetzt wurde, wie der Rest der Menschheit, diesen aber widerstehen konnte, weil er ohne Sünde war (Hebr 4,15). In coll. 5,6 ergänzt Cassian dieses Zitat mit Röm 8,3 um den Hinweis, dass Christus dem Fleisch der Sünde nur ähnlich und nicht gleich gewesen sei. Genau wie Adam zu dem Zeitpunkt seiner eigenen Versuchung trägt Jesus das unbeschädigte Ebenbild Gottes (incorruptam imaginem dei ac similitudinem possidens 124,22) und zeigt damit, wie Adam sich hätte verhalten können und sollen (coll. 5,6). Anders als der Rest der Menschheit im Gefolge von Adams Sündenfall wird Jesus nicht gegen seinen Willen (nolens 126,3) vom aculeus concupiscentiae (126,2 f.) angestachelt. Durch diese fehlende Gier73 findet der Teufel keinen Punkt, an dem seine Versuchung gewinnbringend ansetzen kann. Mit Hilfe dieser Typologie macht Cassian deutlich, dass es in der Natur des Menschen, der die Ebenbildlichkeit und damit Sündlosigkeit verloren hat, liegt, angreifbar zu sein. Zwar kann und soll der Mensch sich am Vorbild des sündlosen und damit versuchungsresistenten Jesus Christus orientieren und hoffen, durch die Gnade Gottes im Kampf gegen die Laster ebenso unterstützt zu werden wie dieser, aber der Mensch kann nicht davon ausgehen, die Laster aus eigener Kraft, allein durch eigene Willensanstrengung, zu bekämpfen. Wer das von sich zu behaupten versucht, beweist nur eines: Dass er der superbia bereits zu Opfer gefallen ist. Mit diesem Argumentationsschritt wird die Aktivität des Menschen im Kampf gegen die Laster unter einen gewissen Vorbehalt gestellt: Auch wenn die Wortwahl, die den Menschen im Gegenüber der Laster beschreibt, durchweg aktiv und zu großen Teilen nahezu (wett-)kämpferisch ist (s. u.), ist es doch ein entscheidender Punkt, dass der Mensch diesen Kampf nicht allein, sondern ausschließlich mit göttlichem Beistand für sich entscheiden kann. Diese Argumentationsschleife bindet die Achtlasterlehre enger an die von Cassian angestellten 72 Diese Typologie wird ganz ähnlich, allerdings mit einem stärkeren Fokus auf die wahre Menschlichkeit Jesu ohne die damit verbundene Sündhaftigkeit in coll. 22,9–12 wiederholt. 73 Die concupiscentia als Auslöser für die differenzierten Laster wird in coll. 4 umfassend dargestellt (s. o.).
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Überlegungen zu menschlichem Willensvermögen und göttlichem Gnadenbeistand (s. 4.2.2), als es in der (evagrianischen) Tradition der Lasterlehre (s. u.) angelegt ist. Der christologische Exkurs wird in coll. 5,7 abrupt beendet, Cassian räumt ein, nun zur vorgenommenen Reihenfolge zurückkehren zu wollen, nachdem der Exkurs ihn genötigt habe, von dieser abzuweichen (proposueramus ordine disseramus 127,18). Tatsächlich knüpft er mit der erneuten Darlegung von geistigen und körperlichen Lasterursachen (coll. 5,7) exakt an coll. 5,3 an. Coll. 5,8 nimmt die ebenfalls bereits bekannte Fragestellung nach innerer und äußerer Verursachung der Laster wieder auf, wobei die spezielle Stellung der filargyria besonders betont wird: Diese sei das einzige Laster, das nicht in der Natur des Menschen angelegt sei (quod autem extra naturam sit filargyria 128,13 f.), sondern erworben werde, denn es seien sogar Volksstämme (gentes 128,25) bekannt, denen die Habsucht völlig unbekannt sei. Das Gegenbeispiel stellt die ira dar, die als seminarium (128,8) im Menschen angelegt ist. Das erworbene Laster der filargyria wird als besonders gefährlich für Mönche, die tepidi und male fun dati (128,22) sind, dargestellt – also vor allem für Mönche zu Beginn ihrer monastischen (Aus-)Bildung. Fortgeschrittenere Mönche hingegen, die sich in der Anachorese zu üben versuchen, werden vor allem von den Lastern, die im Inneren des Menschen ausgelöst werden, tristitia und acedia, getroffen (coll. 5,9).74 Auf diese Betrachtung einzelner Laster folgt eine zweite summarische und systematisierende Darstellung: In coll. 5,10 hält Cassian fest, dass die Laster in einer engen Verkettung (concatenatio 129,25) miteinander stehen. Sobald das gemäß der o. g. Reihenfolge vorhergehende Laster zu stark wird, löst es das folgende aus. Diesen Zusammenhang kann Cassian mit Sicherheit von den ersten sechs Lastern behaupten. Cassian spricht von exuberantia (129,26) und abun dantia (130,1), wodurch er die Abfolge der Laster quasi naturgesetzlich erschei74 Ein ähnlicher Versuch einer Unterteilung der Laster gemäß ihrer Ursache, jedoch nach anderen Kategorien erfolgt in coll. 24,15: Hier greift Cassian auf die platonische Lehre von den drei Seelenteilen, die bereits in seiner Konzeption des Inneren Menschen Verwendung fand (vgl. 4.1.2), zurück. Je nachdem, welcher der drei Seelenteile krankt, brechen unterschiedliche Laster auf: Wenn die vitiorum pestis (691,18) das λογικóν ergreift, treten ceno doxia, elatio, invidia, superbia, praesumptio, contentio und haeresis auf. Wenn das θυμικóν erkrankt, kommt es zu furor, inpatientia, tristitia, acedia, pusillanimitas und crudelitas. Wird das ἐπιθυμικόν angegriffen, treten gastrimargia, fornicatio, filargyria, avaritia und desideria noxia terrenaque auf (691,18–24). Markiert sind die Laster, die in coll. 5 als die acht Hauptlaster eingeführt wurden. Hier stehen sie gleichrangig neben einer Vielzahl weiterer Laster, die nicht – wie z. B. in coll. 5,11 f. (s. u.) – als Folgeerscheinungen der Hauptlaster gekennzeichnet sind. Liest man diese Passage parallel zu coll. 4,19, in der ebenfalls mit der Bedeutung der Seelenteile für eine besondere Angreifbarkeit durch bestimmte Laster argumentiert wird (s. o.), wird deutlich, welche Laster für Cassians Adressaten, die die erste Entsagung bereits hinter sich haben, die Vollkommenheit aber noch nicht erreicht haben, von besonderer Bedeutung sind (zum Zusammenhang der Seelenteile und Laster vgl. auch Schneider 1993, 36 f.).
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nen lässt: Weder wird hier ein diabolisch-dämonischer Einfluss noch eine individuelle menschliche Neigung zum einen oder anderen Laster behauptet. Diese Erkenntnis lässt den Kampf gegen die Laster verhältnismäßig leicht erscheinen, wie Cassian mit zwei Beispielen aus der Natur belegt: Ein Fluss lässt sich am leichtesten von der Quelle her zum Versiegen bringen, ein Baum dadurch abtöten, dass man seine Wurzeln zerstört.75 D. h., dass die Laster am einfachsten streng linear zu bekämpfen sind, beginnend bei den fleischlichen, über die, die durch äußere Impulse ausgelöst werden, hin zu denen, die durch innere Bewegung ausgelöst werden. Gegenläufig verhalten sich allerdings die letzten beiden, geistig ausgelösten Laster, Ruhmsucht und Hochmut: Ihnen zu verfallen ist man eher geneigt, wenn die ersten sechs Laster bereits zu guten Teilen überwunden sind. Je weiter man fortschreitet und je erfolgreicher man die ersten sechs Laster bekämpft hat, desto stärker wird gleichzeitig die Versuchung durch cenodoxia und superbia – an diesem Punkt wird die eben aufgezeigte Konsekutivität ins Gegenteil verkehrt. Vom positiven Nutzen der cenodoxia, den Cassian in coll. 5,12 darlegt (s. u.) ist hier noch nicht die Rede. Zusätzlich zur dargestellten Verkettung teilt Cassian am Ende von coll. 5,10 die Laster in Paare mit größtmöglicher Ähnlichkeit ein. Diese Verwandtschaft (je zwei Laster sind familiaris 131,11) umfasst gemäß der bekannten Reihenfolge gastrimargia und fornicatio, filargyria und ira usw. Nachdem die Verkettung der Laster umfänglich geklärt ist, beginnt Cassian in coll. 5,11 f. zu jedem Laster zwei bis drei Unterarten aufzuzählen. Besonders ausführlich werden dabei die Spielarten der gastrimargia und der fornicatio behandelt: Von den verschiedenen gastrimargiae werden Verbindungslinien zu anderen Lastern wie der acedia und der filargyria gezogen – die zuvor dargestellte Reihenfolge der Laster scheint er an diesem Punkt zu vernachlässigen. Den verschiedenen Formen der fornicatio setzt Cassian eine umfangreiche Sammlung neutestamentlicher Zitate entgegen; auf dieses didaktisch-sprachliche Mittel verzichtet er in der Darstellung der anderen sieben Laster weitestgehend. Während die Untergruppen der übrigen Laster eher deskriptiv-narrativ dargestellt sind, findet Cassian für die drei Arten des Zorns griechische Fachtermini: θυμóς (133,24), ὀργή (134,1) und μῆνις (134,4).76 Umfassend beschäftigt Cassian sich in coll. 5,12 mit dem partiellen Nutzen der cenodoxia (s. o.). Zu Beginn der monastischen Laufbahn kann sie hilfreich (utilis 134,15) sein, wenn es darum geht, einen Anreiz zu finden, die ersten sechs Laster zu überwinden. Cassian verdeut75 facilius enim cuiuslibet arboris noxia latitudo ac proceritas exarescet, si antea radices eius quibus innititur uel nudatae fuerint uel succisae, et infestantes umores aquarum con tinuo siccabuntur, cum generator earum fons ac profluentes uenae sollerti industria fuerint obturatae (130, 5–10). 76 Hierbei handelt es sich um einen der offensichtlichsten Verweise auf Evagrius (Evagrius Ponticus, pract. 12), vgl. De Vogüé 2002, 218.
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licht dies, indem er darlegt, dass es in jedem Fall besser ist, (vorübergehend) der cenodoxia zu verfallen, als sich der fornicatio hinzugeben (135,1–3). Dieses Phänomen wird durch eine Beispielerzählung aus hic eremus (135,14), also der Sketis (7,13), illustriert: Hier lässt sich beobachten, dass einige Mönche im Koinobion ohne Schwierigkeiten fünf Tage fasten konnten, es nun in der Anachorese aber keinen Tag ohne Nahrung aushalten, schlicht deshalb, weil die extrin sische Motivation durch das Lob und die Anerkennung durch die Brüder fehlte.77 Nach dieser Beispielerzählung kommt Cassian erneut auf die zuvor dargestellte Verhältnisbestimmung von fornicatio und cenodoxia und die Frage, welches dieser Laster nun schwerer wiege, zurück und relativiert: Zwar ist es vorübergehend besser, der cenodoxia als der fornicatio zu dienen, jedoch sollte nicht in diesem Zustand verharrt werden: Cassian bringt einen Vergleich mit dem aus Ägypten in die Fremdherrschaft der Assyrer verschleppten Volk Israel (2Kön 24): Zwar seien die Israeliten so ihren vordringlichsten Peinigern entgangen, aber nun noch weiter von ihrem Heimatland (d. h. dem erstrebten Zustand der Vollkommenheit) entfernt als zuvor. Nachdem die Laster nun in ihrer vielfältigen Gestalt und Verknüpfung bekannt gemacht sind, wird in coll. 5,13 f. der Kampf gegen sie eröffnet. Coll. 5,13 stellt die in coll. 5,10 so klar dargestellte Abfolge der Laster in Frage, indem es heißt, dass jeder Einzelne in individueller Weise und unterschiedlicher Reihenfolge von den Lastern angegriffen werde, wobei je eines besonders stark ausgeprägt sei.78 Das führt in coll. 5,14 zu einer klaren Handlungsanweisung: Jeder müsse zunächst erforschen, welches sein größtes Laster sei, um dann gezielt bei diesem den Kampf zu beginnen. Wie das genau funktioniert, erläutert Cassian nachfolgend in einem dreistufigen ‚Schlachtplan‘: Erstens muss das betreffende Laster aufs Genaueste erkannt werden (z. B. anhand der in coll. 5,11 f. aufgelisteten Unterarten), um sodann alle Kraft auf die Bekämpfung dieses einen Lasters zu richten. Zweitens wird die Art der Bekämpfung geschildert: Diese hat mit Pfeilen des Fastens (ieiuniorum … spicula 137,7 f.) und Geschossen von Seufzern (gemituum tela 137,9) zu erfolgen. Drittens ist jeder Kampf vergebens, wenn er nicht durch ein beständiges unter Tränen an Gott gerichtetes Gebet unterstrichen wird.79 Der dritte Schritt des ‚Schlachtplanes‘ leitet zu einer Warnung, die 77 Ganz ähnlich argumentiert coll. 8,1: Dort wird im Zuge der Rahmenerzählung berichtet, dass dem täglichen Gemüse der Mönche jeweils ein Tropfen Öl beigegeben wird. Nicht wegen des Geschmacks – dazu bräuchte es deutlich mehr als einen Tropfen – sondern um zu verhindern, dass sich jemand aufgrund des gänzlichen Ölverzichts der superbia hingibt. Dieser Trick sei deshalb notwendig, weil je verborgener, d. h. ohne menschliche Zeugen, die Entsagung stattfinde, desto raffinierter die Versuchung auftrete. 78 et cum constet omnes ab omnibus inpugnari, diuerso tamen modo et ordine singuli laboramus (137,1 f.). 79 Vgl. coll. 14,12 (s. 3.1.2): Auch hier wird auf das „tägliche Weinen“ als Heilmittel gegen die Laster Bezug genommen, im Kampf gegen die im Gedächtnis verhafteten Bilder der traditionellen Bildung versagt es allerdings.
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4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung
in der Intention der Adam-Christus-Typologie in coll. 5,4–6 gleicht, über: Jeder Kampf ist zum Scheitern verurteilt, solange man nicht einsieht, dass es nicht die eigene Mühe war, die zum Sieg geführt hat. Der erste Argumentationsgang schließt mit der lernpsychologischen Aufmunterung, dass der Kampf gegen die verbleibenden Laster umso leichter erscheinen wird, je härter der erste gefochten wurde. Diese Aussage wird mit einer weiteren Beispielerzählung unterstrichen, die nicht nur nicht-biblisch, sondern auch nicht religiös ist: Cassian berichtet vom pancarpum (137,26 f.), dem antiken Tierkampf, in dem die Kämpfer zuerst das gefährlichste Tier töten, um es dann mit den anderen aufzunehmen. Dieses Bild ist mit einer erneuten Warnung verbunden, nämlich der, auch im ersten und härtesten Kampf die übrigen wilden Tiere / Laster nicht aus den Augen zu verlieren, da auch sie jederzeit angreifen können. Das Ende von coll. 5,14 kehrt noch einmal zur ersten Warnung, der Warnung davor, den Sieg über die Laster sich selbst und nicht Gott zuzuschreiben, zurück.80 Cassian unterstreicht durch ein Zitat von Dtn 7,21–2381, dass es allein Gott ist, der die feindlichen Völker (bzw. die Laster) seinem Volk ausliefert, damit sie von diesem geschlagen werden können. Dieses Bild des göttlichen Beistandes im Kampf gegen gegnerische Völker zieht sich durch die nachfolgenden Kapitel (coll. 5,15–19). Dabei bietet coll. 5,15 zunächst eine fünffache, mit alttestamentlichen Zitaten illustrierte, Variation der Warnung, sich von erfolgreich besiegten Lastern nicht zum Hochmut führen zu lassen. In coll. 5,16 wird mit Dtn 7,1 f. präzisiert, dass es genau sieben Völker sind, die Gott dem Volk Israel nach dem Auszug aus Ägypten zu unterwerfen versprach.82 Dass diese Völker, wie es im lateinischen Text heißt, multo maioris numeri (141,6 f.9 = Dtn 7,1 Vulgata) sind, erklärt Cassian damit, dass es mehr Laster als Tugenden gäbe, dass aus der einen Wurzel der Laster (radix 141,16) ein siebenfacher Zündstoff (septenarius fomes 141,15), der wiederum in unzähligen Unterarten begegnet, entstehe. Nachdem coll. 5,16 weiterhin nicht nur die diversen Spielarten der Laster – in leichter Variation zu coll. 5,12 – sondern auch eine Reihe weisheitlicher und paulinischer Zitate, die vor den Lastern warnen, nennt, endet sie unvermittelt mit einer weite80
Vgl. De Vogüé 2002, 220. „21 Du wirst nicht vor ihrem Angesicht verwundet werden, da der Herr, dein Gott, bei dir ist, ein großer und starker Gott. 22 Der Herr, dein Gott, wird diese Volksstämme vor deinem Angesicht nach und nach vertilgen. Du wirst sie nicht schnell vernichten können, damit das Land nicht zur Wüste wird und die wilden Tiere bei dir nicht zu zahlreich werden. 23 Und der Herr, dein Gott, wird sie in deine Hände übergeben und er wird großes Verderben über sie bringen, bis er sie vernichtet hat.“ 82 „1 Wenn aber der Herr, dein Gott, dich in das Land hineingeführt hat, in das du hineingehst, um es zu erben, wird er große und viele Volksstämme vor dir hinweg schaffen – den Chettäer und den Gergesäer und den Amorräer und den Kanaanäer und den Pherezäer und den Heväer und den Jebusäer – sieben Völker, zahlreich und stärker als ihr –, 2 und der Herr, dein Gott, wird sie dahingeben in deine Hände, und du wirst sie schlagen und sie völlig vernichten, du sollst keinen Vertrag mit ihnen schließen, noch sollst du dich über sie erbarmen.“ 81
4.2 Laster und Dämonen
99
ren Definition der Laster: Diese seien schon allein deshalb multo maioris numeri als das Tugendhafte, als Israel, als der gegen sie kämpfende Mönch, weil sie nicht wie dieser fleischlich und irdisch, sondern substantiell unterschieden, nämlich spiritalis atque aeria … substantia (143,18 f.) sind.83 Es ist jedoch nicht diese Spezifikation der Daseinsform der Laster, sondern die widersprüchliche Anzahl von sieben zu besiegenden Völkern und acht zu schlagenden Lastern, die Germanus in coll. 5,17 zur Nachfrage veranlassen. Darauf lässt Cassian Abbas Serapion eine plausible Antwort geben: Da sich Dtn 7 an diejenigen richtet, die bereits aus Ägypten ausgezogen sind, ist das erste Laster bereits überwunden, es liegen nur noch sieben vor ihnen. Das stellt, so Cassian, eine direkte Parallele zur dargestellten Gesprächssituation dar: Alle Pro tagonisten (Cassian (jung), Germanus und Serapion) haben sich bereits aus den Fesseln der Welt (saeculus laqueus 144,5 f.) befreit und so durch Entsagung das erste Laster der gastrimargia überwunden. Ein weiterer Unterschied zwischen Ägypten und den restlichen sieben zu unterwerfenden Völkern ist, dass die Is raeliten zwar aus Ägypten fliehen konnten, ihnen das Land jedoch nicht als Eigentum gegeben wurde. Genau so hat der Mönch mit der gastrimargia zu verfahren: Auch wenn sie weiterhin existent ist, muss er sich doch so weit wie möglich von ihr fernhalten – was nicht ausschließt, dass er manchmal sehnsuchtsvoll an sie zurückdenkt, so wie die Israeliten an die Fleischtöpfe Ägyptens. Die Parallele von Ägypten zur gastrimargia wird in coll. 5,19 weiter ausgeführt: Anders als für die restlichen sieben Völker ist im göttlichen Heilsplan für Ägypten nicht die vollständige Vernichtung vorgesehen. Auch nach der Flucht in die heremus uirtutum (144, 23) stellt die bestehende Nähe Ägyptens / der gastrimargia eine nicht vollständig auszulöschende Versuchung dar, allein schon, weil die Sorge um den Lebensunterhalt auch in der Wüste der Tugenden eine zwingende Notwendigkeit darstellt. Als sei die Allegorie zur besonderen Stellung der gastrimargia noch nicht eindrücklich genug, folgen in coll. 5,20 f. zwei nichtbiblische Beispielerzählungen: In coll. 5,20 verweist Cassian, wohlweislich anonym, auf Evagrius (similitudine designatur 146,3) und zeichnet auf der Bildebene das Gleichnis eines Adlers, der so hoch über den Wolken kreist, dass alles Irdische und Sterbliche seinen Augen entzogen ist.84 Doch auch der Adler wird immer wieder vom Hunger gedrängt, die Wolkendecke zu durchstoßen um Nahrung zu suchen und sich so mit den morticina cadauera (146,6 f.), mit denen, die dem Irdischen noch nicht entsagt haben, gemein zu machen. Auf der Sachebene erläutert er, dass dies zeige, dass die gastrimargia keineswegs ausgelöscht werden könne, sondern lediglich gut im Zaum zu halten sei. 83 Zur Tatsache, dass die Laster teils in personifiziert-dämonisch-geistiger Gestalt begegnen s. u. 4.2.4. 84 Vgl. Evagrius Ponticus, spir. mal. 1,14 (PG 79, 1145): Νηστεύοντος προσευχή, νεοσσὸς ἀετοῦ ἀνιπτάμενοσ, ἡ δὲ τοῦ κραιπαλοῦντος βαρυνομένη τῶ κόρω καθέλκεται.
100 4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung In coll. 5,21 bringt Cassian die erste der beiden Beispielerzählungen in den Collationes, in denen er einen Altvater mit weltlichen Philosophen disputieren lässt, vor.85 Der Altvater ist so von einer simplicitas Christiana (146,13) gekennzeichnet, dass er von den Philosophen zunächst für einen Bauern gehalten wird. Umso überraschter sind sie, als sie das nachfolgende Bildwort (figura 146,14) des Altvaters nicht sofort zu deuten wissen: Er erzählt, dass sein verstorbener Vater ihm viele Schuldner vererbt hätte. Nach und nach konnte er fast alle Schulden tilgen, sodass er Ruhe vor ihnen hatte. Einer allerdings ließ sich selbst durch tägliche Zahlungen nicht abspeisen. Auf Nachfrage löst er das Bild auf: Der verstorbene Vater stelle die menschliche Natur dar, die ihn zwar prägte und ihm eine Verstrickung in zahlreiche Laster bescherte, von der er sich aber, nachdem Gott ihm ein desiderium libertatis (146,21) eingehaucht habe, zu befreien begonnen hat. Durch die renuntiatio (146,22) an die Welt konnte er einen Großteil der Gläubiger auszahlen, d. h. sich aus einem Großteil der ererbten Verstrickungen lösen. Lediglich die gastrimargia fordere nach wie vor jeden Tag ihr Tribut, obwohl er bemüht sei, ihren Einfluss so gering wie möglich zu halten. Die Ausführungen des Altvaters werden von den Philosophen lobend anerkannt, sie gestehen ihm zu, die prima philosophiae pars (147,3), nämlich die Ethik, adprime (147,4), vorzüglich, verstanden zu haben, obwohl ihm eine saecularis eruditio (147,5) fehle. Ähnlich wie am Ende der Adam-Christus-Typologie folgt auch hier eine Art redaktionelle Notiz, die ankündigt, nach dem gastrimargia-Exkurs nun zu gene ralis vitiorum cognatio (147,8 f.) zurückkehren zu wollen. Die angekündigte Fortsetzung der Untersuchung der Verwandtschaft der Laster beginnt in coll. 5,22 mit einer erneuten allegorischen Auslegung alttestamentlicher Landverheißungen (Gen 15,18–21).86 Anders als zuvor in der Auslegung von Dtn 7,1 f. werden andere findet sich in coll. 24,21, wodurch das Grundnarrativ, dass die monastische Bildung über die weltliche siegt, einen Rahmen um einen Großteil der Collationes bildet. Als Vorbild für diese Art von Beispielerzählung kann Athanasius, V. Anton. 72–80 gelten. 86 Andernorts wird in den Collationes ebenfalls auf Israel als das verheißene Land eingegangen: Coll. 3,10 zitiert gleich dreimal auf engem Raum Gen 12,1, die Landverheißung an Abraham (ueni in terram, quam tibi monstrauero 83,5 f. 14 f. 18 f.). Diese Verheißung gilt dem, der die drei Stufen der Absage an die Welt beschritten hat. Ihm ist es erlaubt, das verheißene Land als Belohnung (remuneratio ac praemium 83,9) für die Verbannung aller Leidenschaften (expulsio passionum cunctarum 83,11 f.) schon in diesem Leib in Besitz zu nehmen (in hoc corpore possidetur 83,12). So wird die alttestamentliche Landverheißung nicht nur aktualisiert, sondern auch verinnerlicht, eine Verbindung zum präsentischen Anbruch des Gottesreiches im Einzelnen (s. 6.1.2) wird explizit gemacht. Die entscheidende Pointe liegt allerdings darin, dass es sich um eine Verheißung handelt, deren Anstoß und Vollendung bei Gott, nicht beim Menschen liegt. Die Figur der alttestamentlichen Landverheißung wird aktualisierend in Cassians Gegenwart übersetzt als Einhauchung (inspiratio 83,22), die den Beginn des monastischen Weges darstellt, und Erleuchtung (inluminatio 83,24), die sein Ende markiert. 85 Die
4.2 Laster und Dämonen
101
nicht dem Volk Israel sieben Stammesgebiete, sondern Abrahams Nachkommen zehn Länder verheißen. Auch hier ist Cassian nicht verlegen, die Abweichung von der eigentlichen Achtzahl der Laster durch einen geschickten Kniff zu erklären: Er ergänzt zu den bekannten Lastern noch Götzendienst (idololatria 147,13) und Gotteslästerung (blasphemia ebd.). Diesen beiden Lastern sind – allegorisch gesprochen – diejenigen verhaftet, die noch im intellectualis Aegyptus (147,16) leben, allerdings lassen sie diese Laster hinter sich, sobald sie die gastrimargia besiegen und damit die heremus spirtialis (147,18) betreten. D. h., dass in dem Moment, da das erste Laster überwunden wird, die Annahme des rechten Glaubens bekannt wird. Dieser rechte Glaube wird von Cassian, die Allegorie verlassend, expliziert: Er beinhaltet die Erkenntnis Gottes (notitia dei 147,14), die Gnade der Taufe (gratia baptismi 147,14) und eine Ablehnung der blasphemia Iudaeorum (147,15). Während die Erkenntnis Gottes als Ziel spirituellen Wachstums in den Collationes nicht wundert, sind die beiden anderen Aspekte dessen, was mit dem ersten Schachzug im Kampf gegen die Laster vorausgesetzt bzw. erworben wird, umso überraschender: In dieser Passage begegnet eine der sehr seltenen Erwähnungen der Taufe in den Collationes.87 Die vehemente Abgrenzung gegen die nichtchristliche Blasphemie erinnert an coll. 14,11, in der herausgearbeitet wird, wie das richtige Schriftverständnis zur Abgrenzung des rechten Glaubens beiträgt (s. 6.2).88 Fast scheint es, als sei Cassian bestrebt, seine Ausführungen zum monastischen Leben hier für einen weiteren Adressatenkreis, über den engen Klosterkontext hinaus, anschlussfähig zu machen. Coll. 5,23 kehrt auf die Bildebene zurück: Das Bild der einzunehmenden Gebiete wird auf die innere Landkarte des Menschen übertragen. So wie jedes zu besiegende Volk über einen bestimmten Landstrich herrscht, herrscht jedes Laster über einen bestimmten Bereich des Herzens (cor 147,23). Eins nach dem anderen werden die Laster nun von Israel, dem Synonym der Tugenden (…Israhelem, id est contemplationem rerum summarum atque sanctarum 147,24 f.) vertrieben. Die Israel-Metapher wird am Ende von coll. 5,23 näher erläutert, dort heißt es, dass es die animae videntis deum seinen, die als wahre filii Israhelis zu gelten hätten (148,10 f.).89 Zuvor ordnet Cassian fast jedem der zu vertreibenden Laster eine Komplementärtugend, die den Platz des jeweiligen Lasters einnehmen soll, zu: Concupiscentia / fornicatio wird durch castitas ersetzt, furor durch patientia, tristitia mortem operans durch salutaris et plena gaudio tristitia, acedia durch 87 Insgesamt achtmal (coll. 5,22; 10,2; 14,8; 20,8; 21,31.34.; 23,15 (2x)). Ein anderer Kontext, in dem die Frage nach Taufe relevant wird, sind Sünde und Buße (s. 4.3.1). 88 Dort sogar nach drei Seiten, gegen paganen Aberglauben (superstitio gentilium 412,11), jüdischen Aberglauben (Iudaismi superstitio 412,25) und häretische Irrlehren (haeretici dogmatis adulterium 413,12 f.). 89 Diese Parallelisierung erinnert stark an den Prolog des ersten Teilbandes, in dem es heißt, dass der Blick nun vom äußeren auf den Inneren Menschen, von Jakob zu Israel gelenkt werden soll (s. 4.1.2), und macht die dort noch abstrakt erscheinende Formulierung verständlicher. Ausführlich hierzu s. u.
102 4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung fortitudo, superbia durch humilitas (148,3–8). Drei Laster fehlen in diesem Katalog: die gastrimargia, deren Sonderrolle zuvor schon deutlich markiert wurde, die filargyria und die cenodoxia. Was zuvor als ira eingeführt wurde, begegnet nun unter dem Namen furor. Die tristitia hebt sich in gewisser Weise von den anderen Lastern ab, da hier die Komplementärtugend nicht wirklich komplementär ist, sondern vielmehr eine Spielart des vermeintlichen Lasters darstellt. Nachdem Cassian erklärt hat, welches Laster mit welcher Tugend zu ersetzen ist, spezifiziert er, wie der Vorgang des Ersetzens im Detail aussieht: Nachdem die Laster von ihren Plätzen (loca, id est adfectus 148,9) vertrieben wurden, kann sich dort die jeweils entgegengesetzte Tugend ansiedeln. Hier ist besonders die Formulierung adfectus bemerkenswert: Durch sie wird eine statische Vorstellung des Prozesses ausgeschlossen. Adfectus bezeichnet einen dynamischen Prozess und ist etwa mit Zuneigung zu übersetzen. Coll. 5,24 erklärt, wie es dazu kommen konnte, dass die Gebiete des Herzens zu Unrecht von den Lastern besetzt sind. Zunächst zeichnet Cassian in Anlehnung an Gen 9 f. nach, dass schon zu ältester Zeit Gebiete, die dem einen Sohn Noahs zugesprochen waren, widerrechtlich von einem anderen seiner Söhne besetzt wurden. So verhält es sich auch mit dem menschlichen Herzen, das von Gott ursprünglich dazu angelegt wurde, die Tugenden zu beherbergen, das nach dem Sündenfall aber von kanaanitischen Völkern, sprich Lastern, besetzt wurde. Nachdem nun über zehn Kapitel eine allegorische Auslegung verschiedener Landverheißung- und Landnahmeszenen geübt wurde, bringt coll. 5,25 erstmals ein illustratives Beispiel aus den Evangelien: Mit Mt 12,43–4590 wird auf die Gefahr, dass einmal ausgetriebene Laster zurückkommen können, und das gar noch schlimmer als zuvor, hingewiesen. Als Beispiel wird wieder einmal die gastrimargia angeführt, die auch nach der eigentlichen Überwindung immer wieder Raum fordert – dieser Forderung nachzugeben würde heißen, auch den übrigen Lastern wieder Eintritt zu gewähren und sich zu Sünden, die schlimmer sein werden als je zuvor (deteriora peccatorum 149,25), verführen zu lassen. Diese Beobachtung, dass ein von den Lastern gereinigtes Herz nicht nur anfällig für eine Rückkehr der bösen Geister ist, wenn es nicht sofort mit Tugenden wieder aufgefüllt wird, sondern dass es mit der Rückkehr der Laster noch größeren Schaden nehmen wird als zuvor, formuliert coll. 5,26 noch einmal in frei gewählten Altvater-Worten, ohne die Anlehnung an Mt 12. Dabei kommt es zu einer aufschlussreichen Näherbestimmung der besonderen Rolle der gastri 90
„43 Wenn der unreine Geist von einem Menschen ausgefahren ist, so durchstreift er dürre Stätten, sucht Ruhe und findet sie nicht. 44 Dann spricht er: Ich will wieder zurückkehren in mein Haus, aus dem ich fortgegangen bin. Und wenn er kommt, so findet er’s leer, gekehrt und geschmückt. 45 Dann geht er hin und nimmt mit sich sieben andre Geister, die böser sind als er selbst; und wenn sie hineinkommen, wohnen sie darin; und es wird mit diesem Menschen am Ende ärger, als es vorher war. So wird’s auch diesem bösen Geschlecht ergehen.“
4.2 Laster und Dämonen
103
margia: …gastrimargia per sese non esset noxia, nisi intromitteret grauiores alias passiones (150,13 f.). Die gastrimargia an sich ist, so wird es zumindest an dieser Stelle dargestellt, gar nicht das Problem, vielmehr ist sie lediglich die Pforte, durch die die anderen Laster im Menschen Fuß fassen können. Das führt Cassian dazu, Serapion eine klare Handlungsanweisung für die angehenden Mönche in den Mund zu legen: Die vollständige Reinheit der Vollkommenheit lässt sich nicht allein durch körperliches Fasten (ieiunium corporale 150,18) erreichen. Dieses ist lediglich eine Trainingsstufe, um den Geist zu schulen, auch mit den schwerwiegenderen Lastern fertig zu werden. Merkwürdig unverbunden folgt coll. 5,27:91 Hier geht es um ein T hema, das bereits in coll. 5,10 und coll. 5,13 ausführlich behandelt wurde, nämlich die Frage, in welcher Reihenfolge die Laster zu bekämpfen sind. Coll. 5,27 argumentiert mit coll. 5,13 gegen coll. 5,10: Hier heißt es, dass die Reihenfolge der zu fechtenden (Wett-)Kämpfe (concertatio 150,25) individuell sei, ein jeder müsse mit dem Laster, das ihn am meisten trifft, beginnen. Cassian lässt Serapion betonen, dass nicht jeder gleichermaßen von allen Lastern angegangen werde, sondern die Anfechtung höchst unterschiedlich ausfalle – manche seien am stärksten durch das dritte, andere durch das vierte oder fünfte Laster angegriffen.92 An dieser Stelle werden die Laster nicht mehr, wie zuvor, bei ihrem Namen genannt, sondern schlicht nummeriert, was im Vergleich zur restlichen coll. 5 ein sprachliches Novum darstellt. Die Darstellung der acht Hauptlaster in den Collationes erscheint – besonders zu Beginn von coll. 5 – ausgesprochen systematisiert und strukturiert. Mit Hilfe klarer Kategorien, Gruppierungen und Beschreibungen versucht Cassian, der Vielzahl von Anfechtungen, denen der Mönch sich tagtäglich ausgesetzt sieht, Herr zu werden. Diese Präsentation überrascht insofern, als im Blick auf andere T hemen (z. B. 4.3 und 4.4) die Beobachtung gemacht wurde, dass Cassian eben kein systematischer T heologe sein will, sondern bestehende theologische Denkfiguren im Angesicht aktueller (praktisch-)theologischer Herausforderungen transformiert. Aber auch diese Collatio, die so systematisch beginnt, wird zunehmend von theologischer und narrativer Freiheit Cassians geprägt.93 Wie die nachfolgende Tabelle illustriert, beginnt Cassians Darstellung auf einer stark systematischen Ebene, die – nach dem Exkurs in coll. 5,4–6 – bis coll. 5,14 (mit kleineren Ausnahmen) durchgehalten wird. Dann folgen elf Kapitel, die größtenteils um eine allegorische Auslegung verschiedener Landverheißungen aus dem Pentateuch 91
Vgl. De Vogüé 2002, 222. … ita ut alium necesse sit aduersus uitium quod tertium ponitur primum exercere con flictum, alium contra quartum siue quintum (150,26–28). 93 Der ungefähr mittige Bruch dieser Collatio fällt auch De Vogüé 2002, 215 ins Auge, für ihn hebt sich der erste, streng systematische, stark evagrianisch geprägte Teil deutlich vom eigentlich Ziel und Sprachduktus der Collationes ab. 92
104 4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung kreisen. Coll. 5,27, die mit coll. 5,1 die Rahmenerzählung bildet, schließt auf sachlicher Ebene deutlich besser an coll. 5,14 als an coll. 5,26 an, sodass der allegorisch-beispielhafte Block umso einschubartiger erscheint. 5. Nichtbiblische (14) 20 f. Beispiele 4. Allegorische 15– 22– Schriftauslgung 19 24 3. Biblische 4–6 25 f. Beispiele 2. Systematische Darstellung der Laster und ihrer Bekämpfung 1. Rahmen- erzählung
2 f.
7–9
10 11 f. 13 f.
(23)
1 27
In coll. 5,15–19 findet eine stringente Auslegung einer biblischen Erzählung, streng genommen zweier Verse des Deuteronomiums, statt. Dies hat im Blick auf die gesamten Collationes Seltenheitswert, da Cassian sonst eher geneigt ist, eine Kompilation verschiedener Zitate zu nutzen, um einen Sachverhalt zu illustrieren.94 Hier illustriert er seine Argumentation zur besonderen Stellung der gastri margia nicht nur, sondern leitet die Argumentation vielmehr aus einer detaillierten allegorischen Auslegung von Dtn 7,1 f. ab. Dabei beeindruckt besonders, wie präzise die Allegorie auf die Lebenswelt ihrer Adressaten, sowohl auf Ebene der Erzählung als auch der Narration, bezogen wird. Die allegorische, bzw. dort eher tropologische, Identifikation des Mönchs mit Israel ist bereits im ersten Prolog der Collationes angelegt: Dort heißt es, dass im vorigen Werk, also den Instituta, bereits gelehrt wurde, wie durch die Unterwerfung der fleischlichen Laster (car nalia uitia 4,19), der Name Jakobs zu verdienen sei. Im vorliegenden Werk, den Collationes, solle es nun noch einen Schritt weiter gehen, sodass die Würde Israels erworben werden könne. Diese Metapher spirituellen Wachstums wurde bereits im Kontext des Perspektivwechsels vom äußeren hin zum Inneren Menschen (s. 4.1.2) erwähnt, soll nun aber – auch unter Berücksichtigung von coll. 5,22–24 – näher betrachtet werden. Eine Identifikation der nach Gott strebenden Seele mit dem nach dem verheißenen Land strebenden Gottesvolk ist – genau wie die Achtlasterlehre (s. u.) – keine eigenständige Erfindung Cassians. Bereits Origenes, der in Fragen der 94
Zu den verschiedenen Methoden des Schriftgebrauchs in den Collationes s. 5.5.2 f.
4.2 Laster und Dämonen
105
Schriftauslegung stets als eine Hauptquelle Cassians in Betracht zu ziehen ist, nutzt dieses Bild in vielfacher Gestalt.95 Allerdings variiert Cassian die allego rische Auslegung des Origenes recht frei. Wo Origenes sich an topographischen Merkmalen Israels abarbeitet und in De principiis 4,3,8 entsprechend eine „Landkarte der Seele“96 entwirft, gibt Cassian im Prolog mit dem Jakob- Israel-Bild lediglich ein Stichwort. Dieses Stichwort ist im Prolog auch weniger an das Land Israel als an die Person Israel – jedoch auch als Sinnbild für die im Aufstieg begriffene menschliche Seele – geknüpft. Auch in coll. 5 zeigt Cassian wenig Interesse an der Gestalt des verheißenen Landes, sondern vielmehr an dem Weg dorthin, auf dem zahlreiche Feinde durch Gottes Hand ausgeschaltet werden. Zudem ist es bemerkenswert, dass Cassian in seinen Israel-Allegorien eine präfigurierende Bezugnahme auf Jesus Christus gänzlich ausspart.97 Auch ein Verweis auf Mose als geistigen Führer – der als solcher in der Allegorie eine hervorragende Vorlage für die Altväter bilden würde – fehlt in coll. 5.98 Diese Beobachtungen lassen schlussfolgern, dass Cassian weniger den göttlichen Heilsplan für die gesamte Menschheit fokussiert, sondern vielmehr die göttliche Unterstützung zum individuellen Heilsfortschritt in den Mittelpunkt seiner Argumentation rückt. 4.2.3 Der traditionsgeschichtliche Hintergrund von Cassians Achtlasterlehre Cassian selbst lässt Serapion feststellen, dass es sich bei der Achtlasterlehre um ein Konzept handelt, das auf eine alte, allgemein bekannte Tradition fußt (cunc torum absoluta sententia est 143,25): Die Lehre von den acht Hauptlastern ist einer der Aspekte in Cassians Konzept monastischer Bildung, in dem seine Anlehnung an Evagrius Ponticus am stärksten sichtbar wird (s. 2.2.3).99 Aber bereits Evagrius greift auf eine geprägte Tradition zurück und ist somit nicht als Begründer der Lasterlehre anzusehen.100 Im Praktikos und in De octo spiritibus malitiae entwirft und entfaltet Evagrius eine Darstellung der acht Hauptlaster, die der Cassians zweifellos zugrunde liegt, jedoch an einigen Punkten Unterschiede aufweist:101 Die Unterschiede beginnen schon bei der Bezeichnung der 95
Vgl. Heyden 2014a, 87–97; Kelly 2012, 82–85. Heyden 2014a, 90 mit Schockenhoff 1990, 79 f. 97 Anders z. B. Or., hom.in Jos. 1,1; vgl. Heyden 2014a, 93. 98 Vgl. Kelly 2012, 82 f. 99 Vgl. Harmless 2004, 322; Stewart 2003, 205–219; Brakke 2006, 51–70 mit einer ausführlichen Darstellung der Lasterlehre des Evagrius. 100 Vgl. Wrzol 1923, 387; Harmless 2004, 322. Brakke 2006, 57 macht jedoch deutlich, dass unklar bleibe, woher genau Evagrius sein Wissen beziehe, z. B. bei Origenes würde die Anzahl und Bezeichnung der Laster noch stärker variieren. 101 Auf die sehr freie Aneignung der evagrianischen Tradition geht auch Wrzol 1923, 388 ein. 96
106 4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung Achtzahl dessen, was den Menschen angeht. Während Cassian von acht uitia (s. o.) spricht, handelt es sich in seiner mutmaßlichen literarischen Vorlage um λογισμοί bzw. παθή.102 Im Gegensatz zum neutralen λογισμοί ist uitia ein deutlich negativ konnotierter Begriff.103 Während Evagrius die Laster bzw. Gedanken stärker rational – wie in der ersten Bezeichnung bereits angelegt – denkt und sie folgerichtig meist im νοῦς verortet,104 wählt Cassian einen, wie es scheint, ganzheitlicheren Ansatz, indem er sie den Menschen im Herzen (cor) und der Seele (anima) angreifen lässt. Auch die Erklärungsmuster, mit denen Evagrius und Cassian die Frage, weshalb der Mensch / Mönch mit den Lastern in Konflikt gerät, antworten, unterscheiden sich: Für Evagrius liegt es auf der Hand, dass die λογισμοί quasi eine Naturgewalt sind, die den Menschen ohne sein Zutun angreifen.105 Cassian hingegen begründet differenzierter, dass die Laster entweder ein Angriff des Teufels oder eine Prüfung durch Gott sein können, teils aber auch schlicht in Folge der menschlichen Lauheit auftreten.106 Die Reihenfolge und Gewichtung der Laster wird von Cassian ebenfalls variiert: Während bei Evagrius ὀργή auf λύπή folgt (pract. 6), kehrt Cassian die Reihenfolge um, tristitia folgt auf ira. Der Grund für diese Umstellung liegt m. E. in Cassians Gruppierung der Laster in solche, die auf äußere Beweggründe zurückgehen und solche, die ihren Auslöser im Inneren des Menschen haben: Wenn er zuerst die von außen ausgelöste ira nennt und dann die von innen kommende tristita, wird sein Konzept einer zunehmenden Verinnerlichung (s. o.) nicht unterbrochen. Uneinig sind sich Evagrius und Cassian auch in der Frage, welches Laster als das schlimmste gelten muss: Während für Evagirus die ἀκηδία das größte Übel darstellt107, spricht Cassian dieses meist der superbia, seltener der filargyria zu.108 Diese Gewichtung hängt eng mit den Ziel, das Evagrius und 102 Z. B. Evagrius Ponticus, pract. 6 (SC 171, 506 Guillaumont / Guillaumont) und Evagrius Ponticus, spir. mal. 1,2 (PG 79, 1145). 103 Vgl. Stewart 2003, 212. 104 Z. B. Evagrius Ponticus, pract. 63–66 (SC 171, 650 Guillaumont / Guillaumont): Ἔρρωται νοῦς μηδὲν τῶν τοῦ κόσμου τούτου παρὰ τὸν καιρὸν τῆς προσευχῆς φανταζόμενος. Νοῦς σὺν Θεῷ πρακτικὴν κατορθώσας καὶ προσπελάσας τῇ γνώσει ὀλίγον ἢ οὐδ’ ὅλως τοῦ ἀλόγου μέρους τῆς ψυχῆς ἐπαισθάνεται, τῆς γνώσεως αὐτὸν ἁρπαζούσης μετάρσιον καὶ χωριζούσης τῶν αἰσθητῶν. 105 Evagrius Ponticus, pract. 6 (SC 171, 508 Guillaumont / Guillaumont): τῶν οὐκ ἐφ᾿ ἡμῖν ἑστι. 106 S. o. zu coll. 4,3 u.ö. 107 Am besten zu übersetzen mit „Überdruss“, aber auch die scheinbar konträren Eigenschaften von Langeweile und Rastlosigkeit sind in diesem Begriff eingeschlossen (Evagrius Ponticus, De oct. spir. 13 f.). Prominentestes Beispiel, in welcher Gestalt die ἀκηδία begegnen kann, ist der Mittagsdämon (Evagrius Ponticus, pract. 12). 108 Evagrius Ponticus, pract. 12. Die filargyria wird von Cassian im Zuge der Adam-Christus-Typologie (coll. 5,6) als Wurzel allen Übels bezeichnet (filargyriam …, quam radicem esse malorum omnium 126,26–127,1), vermutlich, weil in diesem Kontext deutlich wird, dass Adam es war, der das einzige ‚menschengemachte‘ Laster in die Welt gesetzt hat (coll. 5,7).
4.2 Laster und Dämonen
107
Cassian mit ihren jeweiligen Unterweisungen erreichen wollen, zusammen: Für Evagrius ist das erste Ziel des monastischen Daseins, größtmögliche, wenn nicht gar vollständige ἡσυχία bzw. die daraus resultierende, stoisch geprägte, ἀπάθεια.109 Erst nach dieser Zwischenstufe folgt in einem zweiten, deutlich vom ersten getrennten Schritt die Kontemplation, die θεωρία.110 Cassian hingegen lehrt seine Schüler einliniger, über πρακτική und θεωρητική fortzuschreiten, die Vorstellung der ἀπάθεια geht in Cassians Konzept der puritas cordis auf.111 Nicht nur inhaltlich, sondern auch in der Form der Darstellung unterscheiden sich Cassian und Evagrius zu einem gewissen Maße: Während Cassian, zumindest in den Collationes auf eine enge Verknüpfung der Laster untereinander setzt, stehen die Gedanken bei Evagrius größtenteils unverbunden (und damit ähnlich wie in den Instituta Cassians) nebeneinander. Dies mag einerseits didaktische Gründe haben: Im Praktikos möchte Evagrius, wie Cassian in den In stituta, eine praktische Handreichung zum monastischen Leben geben, hierfür genügt es, die Laster zu kennen und vor ihnen gewarnt zu werden. In De octo spiritibus malitiae geht es, wenn auch ausführlicher, zunächst ebenfalls um eine Präsentation der Laster, bevor dann Heilmittel, meist biblischer Natur, genannt werden. In den Collationes geht es nicht darum, Handwerkszeug für ein asketisches Leben zu erwerben, sondern darum, das asketische Leben, das Cassians Adressaten bereits führen, durch ‚Expertenwissen‘ zu vertiefen und auf eine höhere Ebene zu führen, nicht das wie, sondern das warum steht im Fokus. Andererseits ist die so unterschiedliche Darstellungsform schlicht der Gattung der Texte geschuldet: Während Evagrius mit seiner sentenzenartigen und sehr bildreichen Sprache vor allem darauf zielt, die Heilmittel der Laster memorierbar und damit in der entsprechenden Situation abrufbar zu machen, bettet Cassian die Lasterlehre in mehrere lange Lehrgespräche und ordnet sie in sein Konzept monastischer Bildung ein.112
Z. B. Evagrius Ponticus, pract. 2, vgl. Guillaumont 1982, 566; Harmless 2004, 347 f. Zur Frage, wie diese unterschiedliche Zielsetzung mit den verschiedenen Lebensformen, in denen sich Evagrius’ und Cassians Adressaten befinden, zusammenhängen, d. h. wie sich praktizierte monastische Lebensform und T heorie monastischer Bildung bedingen, s. 5.2. 111 Cassian vermeidet das Wort ἀπάθεια nicht nur, weil er um die theologische Anstößigkeit seines Vorbilds Evagrius weiß, sondern auch, weil der Begriff schnell missverständlich wirkt, wie bspw. Hieronymus Kritik, dass eine vollständige ἀπάθεια entweder eine Versteinerung oder Vergöttlichung der Seele bedeuten würde, die Cassian höchstwahrscheinlich bekannt war, beweist. Die cassiansche Formulierung, die der ἀπάθεια am nächsten kommt, ist die der Herzensreinheit (puritas / simplicitas cordis) (vgl. Stewart 1998, 42 f., s. ausführlich 4.3.2 und 6.1.1). 112 Vgl. Stewart 2003, 207 f. 109
110
108 4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung 4.2.4 Dämonen Das, was bisher mit dem Begriff Laster bezeichnet wurde, begegnet z. T. auch unter anderen stärker personifizierten Bezeichnungen: Adversarii, Diabolus, Spiritus, Daemones und Cogitationes. All diese Daseinsformen und Zwischenformen sind unterschiedlich akzentuiert, haben aber dennoch das gleiche Ziel – bzw. umschreiben die selbe Gefahr wie die oben dargestellte Achtlasterlehre: den Menschen durch vielgestaltige Versuchung vom Streben nach Vollkommenheit abzubringen. Dabei lässt sich mit Blick auf die evagrianische Tradition festhalten, dass λογισμοί und δαίμονες, Gedanken und Dämonen, bei Cassian also uitia, bzw. im Wortlaut cogitationes, und daemones, nahezu deckungsgleich verwendet werden.113 Coll. 7 (De animae mobilitate et spiritalibus nequitiis 177,3) soll deshalb keiner detaillierten Analyse unterzogen werden, wie zuvor die zentrale Laster-Collatio, coll. 5, vielmehr soll versucht werden, die ausführlich dargestellte Lasterlehre und ihre Bedeutung für die monastische Bildung an entscheidenden Punkten zu schärfen. Coll. 7,4 thematisiert die Verantwortlichkeit des Menschen für seine cogi tationes (z. B. 183,23): Es ist eine grundlegende Eigenschaft des menschlichen Geistes, nicht unbeschäftigt sein zu können (numquam potest otiosa consistere 183,10 f., s. 3.1.1.1). Es obliegt dem Einzelnen, durch ausdauernde Übung und Praxis (donec longo exercitio usuque adsuefacta diuturno 183,13 f.) zu erfahren und zu lernen (experiatur et discat 183,15), wie er welche Inhalte so aufbereiten kann, dass sein Geist entweder im richtigen Maße angeregt oder ihm zur Ruhe verholfen wird. Es ist die Aufgabe des Einzelnen, sein Herz durch zu Gott hindurchdringende Gedanken (pertigentes ad deum cogitationes 184,7) zum Aufstieg (ascensus ebd.) zu rüsten bzw. seine Schuld, es durch irdische und fleischliche Gedanken (ad terrena scilicet et carnalia conruentes 184,8) zum Abstieg (descensus ebd.) zu zwingen. Coll. 7,8 wendet sich den adversarii (189,23) zu, die ein jeder kennt, der Erfahrung mit den Kämpfen des Inneren Menschen hat (quicumque interioris homi nis experti sunt pugnas 189,24). Dabei ist es vor allem wichtig, dass diese Feinde zwar zur Sünde verführen, aber nicht zur Sünde zwingen können, d. h. es steht dem Menschen frei, sich gegen die Feinde zur Wehr zu setzen.114 Vom diabolus (190,13, der an dieser Stelle quasi als Kommandoführer der verschiedenen adver sarii dargestellt wird) kann nur der Mensch getäuscht werden, der ihm freiwillig zustimmt (uoluntatis adsensum 190,14 f.). Genauso freiwillig kann der Mensch in diesem Kampf aber auch auf die Hilfe Gottes vertrauen. Hier wird nicht nur
113
Vgl. Harmless 2004, 323. Brakke 2006, 245 weist darauf hin, dass der so beschriebene Kampf gegen die Laster / Dämonen nur möglich ist, wenn zugleich von einem freien Willen des Menschen ausgegangen wird. 114
4.2 Laster und Dämonen
109
die Verbindung von Dämonen und Innerem Menschen (s. 4.1.2) deutlich, sondern auch die Rolle, die der Wille des Menschen (s. 4.4) hierbei spielt. Coll. 7,9–16 kreist um die Besessenheit eines Menschen mit spiritus (inmundi) (z. B. 191,14). Cassian lässt Serenus im Dialog mit Germanus darlegen, dass der menschliche Geist aufgrund der qualitativ ähnlichen Beschaffenheit stets geneigt ist, sich mit anderen, z. T. schädlichen, Geistern zu verbinden. Dabei ist die Verbindung jedoch nie so vollständig, dass von einer Durchdringung der Substanz der menschlichen Seele (ut in animae ipsius penetrans substantiam 191,28) mit den (unreinen) Geistern gesprochen werden könnte. Was Serenus in coll. 7,12 am Beispiel der (unreinen) Geister einführt, überträgt er in coll. 7,13 auf den (Heiligen) Geist: Zwar ist genauso wie bei den Geistern davon auszugehen, dass der Geist dem menschlichen Fleisch beigemischt (admiscere 192,17) werden kann, jedoch ist es genauso unmöglich, dass eine vollständige Vereinigung (unire 192,18) stattfindet – denn diese ist der Trinität vorbehalten (quod soli est possibile trini tati 192,19 f.).115 Ab coll. 7,17 geht es um die daemones (z. B. 195,23) im Wortsinne. Hier ist die bisher größte Ähnlichkeit zur Achtlasterlehre zu finden: Die Dämonen sind höchstspezialisiert, ein jeder löst eine andere Leidenschaft im Menschen aus (coll. 7,17). Dabei arbeiten sie zielgerichtet und in einer bestimmten Ordnung zusammen, um den Menschen zu Fall zu bringen (coll. 7,18 f.). In coll. 7,32 begegnet auch der durch Evagrius bekannte Mittagsdämon (meridianus daemon 212,10 f.). Anfänger werden von schwächeren Dämonen heimgesucht, je weiter jemand im Spirituellen fortschreitet, desto stärkere Gegner drohen ihm (coll. 7,20). Würde der Mensch allein, ohne den Beistand Christi, dessen Rolle als die eines Schiedsrichters und Anführers (arbiter atque … praesidens 197,23) beschrieben wird, gegen die Dämonen in den Kampf ziehen wollen, hätte er von vornherein verloren (coll. 7,20). Neu ist die Innenperspektive der Dämonen: Auch sie haben mit Ängsten und Traurigkeit zu kämpfen, vor allem dann, wenn ihnen ein ebenbürtiger Kämpfer in Gestalt eines sanctus perfectusque (198,4) entgegentritt (coll. 7,21). Ohnehin kann ein Dämon nur so viel Macht über einen Menschen ausüben, wie Gott ihm zugesteht. Dieses Phänomen wird dreifach biblisch illustriert: Hiob wird von Gott in die Hände des Bösen gegeben, die Geister können im Matthäusevangelium nur deshalb in die Schweine einfahren, weil Gott es ihnen gebietet (Mt 8) und der Gottessohn wird nur deshalb ausgeliefert, weil Gott es so beschlossen hat (Joh 19,11; coll. 7,22). Dieser Punkt wird in coll. 7,28 noch einmal aufgenommen und unterstrichen: Hier heißt es, dass niemand ohne Erlaubnis Gottes von den Dämonen versucht wird (quod sine dei permissu nullus ab eis omnino temp 115 Bei diesem Zitat handelt es sich um einen der seltenen, im weitesten Sinne trinitätstheologischen Exkurse innerhalb der Collationes. Der zweite findet sich in coll. 8,5 und ist damit auch Serenus zuzuschreiben.
110 4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung tetur 207,6 f.). Mehr noch, jede Versuchung dient im Grunde einem guten Zweck, Gott wird als Arzt und Zuchtmeister (medicus … et … paedagogus 207,9 f.) mit Weitsicht über das Lebensende hinaus116 dargestellt. Coll. 7,31 spezifiziert, dass nicht die, die momentan besessen oder angefochten scheinen, Mitleid verdienen, sondern die, denen diese Prüfung und damit die Möglichkeit sich zu beweisen, verwehrt bleibt, womit den Lastern bei aller Lästigkeit doch eine gute – weil päd agogisch wertvolle – Komponente eingeräumt wird. 4.2.5 Die Bedeutung der Lehre von Lastern und Dämonen für die monastische Bildung Während die Rede vom Inneren Menschen die Collationes deutlich von den In stituta abgrenzt (s. 4.1), stellt die Achtlasterlehre eine Verbindung zwischen beiden monastischen Werken Cassians dar. Die Art, wie Cassian sie dabei in den Collationes präsentiert, ist bezeichnend für den Fortschritt, den er bei den Adres saten der Collationes (anders als noch in den Instituta) bereits voraussetzt. In seinem zweiten monastischen Werk setzt Cassian alles daran, nicht nur zu erklären, wie man mit den Schwierigkeiten des monastischen Lebens umgehen sollte, sondern auch aus welchem Grund und zu welchem Ziel sie den menschlichen Bemühungen entgegengesetzt werden. Mehrfach wird dabei erläutert, dass die Laster den Menschen meist aus einem pädagogisch-prüfenden Grund treffen: Sie bieten die Möglichkeit, den Inneren Menschen im Kampf zu erproben und zu stärken und ihn so seiner Bestimmung – Gott – näher zu bringen. Hierbei nutzt Cassian wiederholt eine agonistische Metaphorik, die den Mönch zu Aktivität auffordert. Dem steht – beinahe paradox – die wiederholte Warnung gegenüber, keinesfalls Stolz auf den erfolgreichen Kampf zu entwickeln, sondern den Sieg über die Laster als Gottes Gnadenwerk anzuerkennen. Es wurde deutlich, dass bei Gott nicht nur der Ursprung der Prüfung, sondern auch der Beistand, sie zu meistern, liegt. Damit ist bereits deutlich auf die Frage des Zusammenspiels von menschlichem Willensvermögen und göttlicher Gnade (s. 4.4) vorverwiesen und das dialogische Moment monastischer Bildung betont. Cassians Lasterlehre, die in coll. 5 zentral entfaltet, in coll. 4 durch Überlegungen zur concupiscentia vorbereitet und in coll. 7 f. um Erwägungen zu Dämonen ergänzt wird, zeigt dabei eindrücklich, in welcher Weise Cassian Traditionen zielgruppenorientiert transformiert: Deutlich ist seine Anlehnung an Evagrius Ponticus zu erkennen, wobei ebenso klar ersichtlich ist, dass er dessen Ausführungen nicht einfach kopiert, sondern mit Bedacht überarbeitet und dabei um eine logische, rational nachvollziehbare Darstellungsform bemüht ist. 116 ut discedentes ex hoc mundo uel purgatiores ad uitam aliam transferantur uel poena leuiore plectantur, qui secundum apostolum traditi sunt in praesenti Satanae in interitum carnis, ut spiritus saluus fiat in die domini nostri Iesu Christi (207,11–15).
4.3 Sünden, Sünde und Sündlosigkeit
111
Jedoch wird in coll. 5 ebenfalls deutlich, wie schwer es Cassian fällt, bei dieser stringenten Darstellungsform zu bleiben, sie wird immer wieder durch scheinbar spontane Beispiele und Allegorien unterbrochen – hier scheinen sich die monastischen Lehrtraditionen, denen Cassian sich verpflichtet fühlt (s. 2.2), zu vermischen. Besonders bemerkenswert ist dabei die allegorische Auslegung der Wüstenwanderung Israels, die einerseits auf die Verbindung von Innerem Menschen und Israel aus dem ersten Prolog (s. 4.1.2) rekurriert und es so andererseits ermöglicht, auch in Südgallien eine monastische ‚Wüstenerfahrung‘ (über das Stichwort heremus spiritalis / uirtutum eingeleitet) zu machen.117 Großen Wert legt Cassian darauf, den Zusammenhang zwischen den einzelnen Lastern nachvollziehbar zu machen. Die Frage, welches Laster das gefährlichste sei, wird dabei unterschiedlich beantwortet: Meist ist es die superbia, manchmal die gastrimargia, der stets eine Sonderrolle eingeräumt wird, und einmal auch die filargyria. An anderer Stelle wird zudem argumentiert, dass diese Frage individuell verschieden sei und jeder Mönch von einem anderen Laster besonders angegangen würde. Insgesamt lässt sich jedoch bei der Reihenfolge der Laster eine Tendenz zur Verinnerlichung bzw. Vergeistigung erkennen. Damit passen sich die Laster in perfider Weise dem Fortschritt des Mönches an: Während der Anfänger im Koinobion bereits mit dem Kampf gegen die körperlichen Laster vollauf beschäftigt ist, können die geistigen Laster auch den weit fortgeschrittenen Anachoreten noch trickreich zu Fall bringen. In diesem Zusammenhang streift Cassian auch Fragen monastischer Motivation: Im Koinobion ist es recht leicht, durch die Anerkennung der Brüder extrinsisch motiviert den Kampf gegen die Laster zu führen, Cassian räumt hier sogar einen vorübergehenden Nutzen der cenodoxia ein. Tritt der Mönch jedoch in eine anachoretische Lebensform über, braucht er eine starke intrinsische Motivation, die kaum anders als durch einen bereits gestärkten Inneren Menschen (4.1) und damit durch das ‚Gott-Wollen‘ (4.4.2) gedacht werden kann. 4.3 Sünden, Sünde und Sündlosigkeit Auf den ersten Blick scheint es, als sei die Betrachtung des T hemenkomplexes der Sünde(n) die logische, wenn auch stärker theoretisierende, Fortführung der Lasterlehre (s. 4.2). Zudem bereitet dieser T hemenkomplex, auch wenn er entstehungsgeschichtlich nachgeordnet ist (s. u.), den Hintergrund, vor dem Cassians Positionierung zu Wille und Gnade (s. 4.4), die die vorliegende Betrachtung der anthropologischen und theologischen Voraussetzungen monastischer Bildung beschließen wird, zu verstehen ist. Anders als z. B. Augustin, dessen Überlegungen zu Sünde, Wille und Gnade Cassian bekannt waren, wie Hinweise in coll. 13 belegen (s. 4.4.3), entwickelt 117 S. hierzu
auch 3.3 zum Worldmaking und 5.4 zur Erfahrung.
112 4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung Cassian keine explizit eigenständige Sündenlehre als Grundlage der Überlegungen zu Willen und Gnade. Es ist vielmehr bemerkenswert, dass knapp zwei Drittel aller Belege für peccare / peccatum innerhalb der Collationes auf den dritten Teilband entfallen, wobei eine starke Konzentration dieses Wortfeldes in coll. 20–23 zu entdecken ist.118 Fast scheint es, als ob Cassian, möglicherweise bedingt durch Gespräche und Rückfragen, bemüht wäre, eine theoretische Grundlage des zuvor über die konkreteren Zusammenhänge von Wille und Gnade Präsentierten nachzureichen. Diese T hese wird u.a. durch die Beobachtung gestützt, dass im dritten Teilband der Collationes explizit auch andere T hemen des ersten Teilbandes wieder aufgenommen werden.119 Aber auch innerhalb des dritten Teilbandes ist eine konstante Fortentwicklung des cassianschen Sündenverständnisses zu beobachten: Während coll. 20 sich ausschließlich Sünden (im Plural) widmet und diese Formulierung nahezu äquivalent zu den Lastern gebraucht, sodass die Sünden des Menschen als etwas erscheinen, das abgelegt bzw. durch Tugenden ersetzt werden kann, rückt ab coll. 21 der abstraktere Begriff der Sünde (im Singular) in den Fokus der Betrachtung. Diese Entwicklung schlägt sich auch in den Überschriften von coll. 20 (Über das Ziel der Buße und den Beweis der Rechtfertigung, De paenitentiae fine et satisfac tionis indicio 553,3) und coll. 23 (Über die Sündlosigkeit, De anamarteto 637,3)120 nieder. Während coll. 20 sich noch optimistisch in Bezug auf die Möglichkeit einer vollständigen Bekämpfung der Sünden zeigt, die das zu erreichende Ziel der Bußpraxis darstellt, negiert coll. 23, dass der Mensch sich aus der durch Adam erworbenen Sündenverstrickung gänzlich lösen kann. Um diese Entwicklung der Sichtweise näher in den Blick zu nehmen, werden im Folgenden coll. 20 f. und coll. 23 genauer untersucht. 4.3.1 Sünden und Buße (coll. 20) Coll. 20 nimmt ihren Ausgang nicht bei einer Betrachtung der Sünde(n), sondern bei der Beschäftigung mit der Buße (paenitentia, z. B. 557,5). Dabei ist bemerkenswert, dass hier vom letzten bzw. höchsten Ziel der Buße (finis, z. B. 557,5) gesprochen wird, wodurch an die Rede von erstem und letztem Ziel des Mönchtums allgemein in coll. 1 (s. 6.1) erinnert wird. In coll. 20,4 lässt Cassian Abbas Pinufios auf das bei seinen Adressaten bereits bekannte Wissen zur Buße Bezug
Ähnliches lässt sich für crimen feststellen, hier entfällt gut die Hälfte aller Vorkommen auf den dritten Teilband. 119 So wird z. B. coll. 5 (Lasterlehre) in coll. 22 exemplarisch vertieft, die generelle Zielsetzung des Mönchtums aus coll. 1 f. wird in coll. 18 in der Zuspitzung auf die Zielsetzung der verschiedenen monastischen Lebensformen wieder aufgenommen. 120 Cassian selbst übersetzt den griechischen, allerdings transkribierten Begriff ana marteti (651,4) in coll. 23,7 mit inpeccantia (651,4). 118
4.3 Sünden, Sünde und Sündlosigkeit
113
nehmen, das nicht nur mündlich, sondern auch schriftlich überliefert ist.121 Auch wenn hier auf Ebene der Geschichte natürlich Cassian (jung) und Germanus adressiert sind, ist auf Ebene der Narration eine Bezugnahme auf die Adressaten Cassians in Südgallien zu erahnen. Hier wird, ähnlich wie in coll. 13 (s. 4.4.2.4), implizit auf den Disput über die augustinische Gnadenlehre angespielt. Coll. 20,4 konkretisiert die Intention der Collatio folgendermaßen: Es gehe nicht darum, zu ergründen, wie Buße beschaffen sein müsse, sondern darum, ihr Ziel sowie Anzeichen für ihren Erfolg festzustellen – ein T hema, das alle anderen Quellen bisher vernachlässigt hätten.122 Auf diese Zielformulierung folgt in coll. 20,5 eine erste Definition von Buße, die die zuvor genannten Spezifika tionen berücksichtigt: „Restlose und vollkommene Buße heißt, die Sünden, die uns reuen und die ihre Zähne in unser Gewissen beißen, nicht mehr zuzulassen. Das Zeichen für Genugtuung und Nachlass: auch unsere Aufregung darüber aus dem Herzen vertrieben zu haben.“123
Stellt man diese Definition um und fragt nach ihrem Aussagegehalt bzgl. der Frage nach Sünde(n), ergibt sich, dass der Mensch diese bemerkt bzw. vorgehalten bekommt, und zwar in dem Moment, da sich sein schlechtes Gewissen regt. Schweigt das Gewissen, d. h. hat der Mensch das erste monastische Ziel, die Ruhe / Reinheit des Herzens (s. 6.1.1), erreicht, kann er dies als Zeichen dafür nehmen, dass er genug Buße getan hat und von seinen Sünden losgesprochen wurde. Das Gewissen wird im Folgenden nahezu personifiziert, indem es als Prüfer und Spion (examinator paenitentiae et index indulgentiae 558,23) beschrieben wird.124 Dem Gewissen kommt dabei die Rolle zu, den Menschen schon jetzt – noch im Fleische – den Freispruch von seinen Sünden erkennen zu lassen, nicht erst am Tag des Gerichts.125 121 itaque de paenitentiae exoratione uel merito multi non solum dictis, uerum etiam scriptis plurima uulgauerunt (557,23 f.). 122 denique non de paenitentiae qualitate, sed de eius fine ac satisfactionis indicio solliciti id quod ab aliis praetermissum est sagacissima interrogatione disquiritis (558,6–8). 123 Ziegler 2015, 105; paenitentiae plena et perfecta definitio est, ut peccata, pro quibus paenitudinem gerimus uel quibus nostra conscientia remordetur, nequaquam ulterius ad mittamus. indicium uero satisfactionis et indulgentiae est affectus eorum quoque de nostris cordibus expulisse (558,10–14). 124 Eine nahezu parallele Formulierung findet sich in coll. 21,22: „Denn in unserem Gewissen hat sich auf seinem T hron der unbestechliche und wahrhaftige Richter niedergelassen, der sich als Einziger niemals über den Stand der Reinheit unseres Herzens täuscht, wenn auch alle anderen sich irren“ (etenim residet in conscientia nostra incorruptus quidam ac uerus iudex, qui nonnumquam super statu puritatis nostrae cunctis errantibus solus ipse non fallitur 596,3–5). Diese Formulierung lässt – auch wenn keine Handschrift es belegt – überlegen, ob es in coll. 20 zu einer Verschreibung von iudex zu index gekommen ist. 125 quamobrem uerissimus quidam examinator paenitentiae et index indulgentiae in conscientia residet nostra, qui absolutionem reatus nostri ante cognitionis et iudicii diem ad huc nobis in hac carne commorantibus detegit et finem satisfactionis ac remissionis gratiam pandit (558,22–27).
114 4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung Aus dieser Definition resultiert in coll. 20,7 eine Unterscheidung der Menschheit in zwei Gruppen: Zum einen gibt es die Menschen, die noch Buße tun (ad huc agentibus paenitentiam 560,2) und täglich unter Tränen ihre Schuld bekennen (ex confessione culparum lacrimarum imber extinguat 560,8). Zum anderen diejenigen, deren „Erinnerung … durch unablässiges Seufzen betäubt“126 wurde, sodass – durch Gottes Erbarmen – der Stachel des Gewissens (conscientiae spina 560,11) bereits gezogen wurde. Diese Unterscheidung der Menschen in solche, die bereits Vergebung erfahren haben, und solche, die darauf noch durch andauernde Buße hinarbeiten, wird von Cassian so dargestellt, dass jeder seiner Leser sich zweifelsfrei einer – wenn auch vermutlich der zweiten – Gruppe zuordnen kann.127 Zentrales Motiv ist es dabei, wie oben bereits zitiert, das Vergessen (obliuio 560,14 f.) einer jeglichen Erinnerung an die Laster, ein Tilgen (delere 561,1.3) derselben. Sie können nicht ungeschehen gemacht werden, aber ihnen kann die Geltung abgesprochen werden. Der Gedanke einer bewusst herbeigerufenen Erinnerung an begangene Sünden, um sie daran anschließend auszureißen (extrudere 566,2),128 wird in coll. 20,9 thematisiert und entschieden abgelehnt: Ein erfolgreicher Kampf ist nur dann möglich, wenn die gegnerischen Gedanken plötzlich und unerwartet ins Bewusstsein ihres Opfers gelangen. Eine gezielt herbeigeführte Erinnerung hingegen wäre ein willentliches erneutes Zusammentreffen mit dem Schmutz der Welt (sordibus mundi 566,4) und würde zu einem Ersticken am Gestank der Laster führen (praefocans faetore uitiorum 566,4 f.). Der Kampf gegen die Sünde besteht also zu großen Teilen darin, sie zu vergessen bzw. sie aus der Erinnerung zu verbannen. Das macht deutlich, wie innerlich und individuell Cassian das Problem der Sünde hier betrachtet: Sie ist kein unabwendbarer oder unleugbarer Zustand, in dem sich ein jeder Mensch bis zu seiner möglichen Gnadenrettung durch Gott befindet, sondern ein persönliches und aus eigenem Antrieb (wenn auch mit göttlicher Unterstützung) zu lösendes Problem. Dies erläutert ein weiteres Zitat aus coll. 20,9 eindrücklich: „Es ist ja unmöglich, dass sich der Geist mit guten Gedanken beschäftigt, wenn [der führende Teil des Herzens verfallen ist] zum Blick auf Schändliches und Irdisches.“129
Ziegler 2015, 107; recordatio fuerit consopita (560,11). Diese Konstruktion von Identität und Gemeinschaft durch eine klare Markierung von In-Group und Out-Group erinnert stark an Cassians Vorgehen in coll. 8,3 (s. 5.5.2.1, bes. Kapitel 5,) Anm. 226. 128 Das Motiv des Ausreißens lässt an den Verweis auf den rabiaten Kampf gegen die Laster mit Jer 1,10 in coll. 14,3 (s. 6.2), der ein vierfaches Ausreißen fordert, denken. Dort wird tatsächlich im Wortlaut auf den entsprechenden Vulgata-Text Bezug genommen, während hier nur sinngemäß daran erinnert wird. 129 Ziegler 2015, 112; inpossibile namque est mentem bonis cogitationibus inmorari, cum principale cordis ad turpes atque terrenos intuitus fuerit deuolutum (567,1–4). 126
127
4.3 Sünden, Sünde und Sündlosigkeit
115
An dieser Stelle wird abermals deutlich, dass Sünde für Cassian im Grunde bedeutet, das Falsche zu denken, das Falsche in seinem Herzen zu bewegen. Das Zitat verbindet verschiedene Bilder des geistigen Aufstiegs, die in ihrer Summe Cassians Grundverständnis menschlicher Fehlbarkeit ausdrücken: Zum einen wird an das Bild der ewig mahlenden Mühle des Herzens aus coll. 1,18 (s. 6.1.1, ähnlich auch in coll. 14,12, s. 3.1.1.1) erinnert. Dort heißt es, dass der Geist des Menschen zwangsläufig immer mit irgendetwas beschäftigt sei und es lediglich in der Hand des Menschen liege, zu entscheiden, ob mit guten oder schlechten Inhalten. Zum anderen wird das Bild des Inneren des Menschen als Allerheiligstes, als Wohnstatt Gottes und damit als Ort der internen Gottesschau, das bereits in coll. 14,9 und coll. 16,22 (s. 6.2 und 4.1.2) thematisiert wird, in Erinnerung gerufen. Hierfür findet Cassian an dieser Stelle den Begriff principalis cordis. G. Ziegler verweist darauf, dass diese Formulierung die größtmögliche lateinische Annäherung an das griechische ἡγεμονικόν (s. 4.4.1) darstelle, sodass hier eine Vorrangstellung des höchsten Seelenteils als Umschreibung für den Zustand der Sündlosigkeit formuliert werde.130 Coll. 20,8 eröffnet einen neuen Argumentationsgang. Hier geht es um die Sühne der Sünde (expiatio criminis 561,12), die nicht nur durch die Gnade der Taufe (baptismi gratia 561,9) oder das Geschenk des Martyriums (martyrii do num 561,10), sondern auch durch viele andere Früchte der Buße (paenitentiae fructus 561,11) möglich ist. Dies ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Zum einen setzt Cassian hier zu einer Liste an, die die anderen möglichen „Früchte der Buße“ in acht Hinsichten131 konkretisiert, wodurch er genau das tut, was er am Anfang der Collatio noch abgelehnt hatte: er erläutert die mögliche Beschaffenheit der Buße. Zum anderen handelt es sich hier um eine der sehr seltenen Belegstellen innerhalb der Collationes, in denen Taufe132 (s. auch 4.2.2) und Martyrium133 erwähnt werden. Dabei kommt es allerdings zu einer überraschenden Gewichtung, indem einerseits das Martyrium höher eingeschätzt wird (il lud pretiosissimum martyrii donum 561,10) als die Taufe, die als allgemein, d. h. 130
Vgl. Ziegler 2015, 249 (Anm. 16). So ist ein Lossprechen von den eigenen Sünden möglich als Frucht einer barmherzigen Gnade (per elemosynarum fructum 561,19); durch den Strom der Tränen (per lacri marum profusionem 561,22); durch das Bekennen der Vergehen (per criminum confessio nem 562,2); durch Bedrängnis des Herzens und des Leibes (per adflictionem quoque cordis et corporis 562,6 f.); durch eine Besserung des Lebenswandels (per emendationem morum 562,9 f.); durch das Eingreifen der Heiligen (intercessione sanctorum 562,17 f.); als Lohn für Barmherzigkeit und Glauben (nonnumquam misericordiae ac fidei merito labes excoquitur uitiorum secundum illud 562,25 f.); durch Nachsicht und Vergebung anderen Menschen gegenüber (per indulgentiam nihilominus ac remissionem nostram ad indulgentiam nostrorum facinorum peruenitur 563,6 f.). 132 Insgesamt achtmal (coll. 5,22; 10,2; 14,8; 20,8; 21,31.34; 23,15 (2x)). 133 Insgesamt siebenmal (coll. 2,8; 3,7; 6,1; 11,12; 15,2; 18,7 und an der vorliegenden Stelle), dabei meist im historischen Sinne und nicht als konkrete Option verstanden. 131
116 4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung nicht besonders hervorhebenswert (generalis 561,9), erscheint.134 Andererseits werden diese beiden, im Leben eines Christenmenschen einmaligen, Ereignisse ohne Gewichtung oder Abstufung in eine Reihe mit den beliebig vielen anderen Früchten der Buße – die anscheinend zu einer vergleichbaren Lossprechung von den Sünden führen – gestellt. Als Ursache, weshalb der Mensch überhaupt in die Situation kommt, sich – auf verschiedenstem Wege – von den Sünden befreien zu müssen, nennt coll. 20,8 die Schwäche des Fleisches (infirmitas carnis 563,13). Diese mache es oftmals nötig, einen mehrfachen und wiederholten Anlauf auf einem der zuvor aufgezeigten Wege zu unternehmen, um Vergebung zu erfahren. Hierbei handelt es sich innerhalb von coll. 20 um den einzig konkreten Hinweis auf den Ursprung der Sünde, sonst steht primär der Umgang mit ihr im Zentrum. Neben der Vielzahl der zuvor genannten Auswege wird nun noch einmal auf zwei – betont niedrigschwellige – Möglichkeiten, das eigene Gewissen zu erleichtern, eingegangen: Zum einen das unaufhörliche Flehen zu Gott (iugis supplicatio 564,11), das es einem erspart, sich vor Menschen bloßstellen zu müssen.135 Zum anderen wird die im Vater Unser genannte Vergebung gegenüber den eigenen Schuldigern als mögliches Werkzeug genannt. Deutlich schärfer und vehementer wird hingegen am Ende von coll. 20,8 argumentiert: Quasi in sprachlicher Anlehnung an das das Kapitel einleitende Martyrium ist hier mehrfach vom Schwert (des Glaubens / des Geistes, vgl. Eph 6,17), mit dem es Blut zu vergießen gilt, die Rede. Das Motiv des Blutes (sanguis 561,10; 565,8.11.14 f.) wird mit Hebr 9,22136, 1Kor 15,50137 und Jer 48,10 (= 31,10 LXX)138 begründet und – im Gegensatz zum am Anfang der Collatio stehenden Ideal des realen Blutzeugnisses – auf eine geistige Ebene übertragen. Erfolgversprechende Buße muss also – in Analogie zum Martyrium – einmalig, durchaus schmerzhaft und unhintergehbar sein, die zuvor genannten acht Optionen (s. Kapitel 4, Anm. 131) scheinen nun vielmehr den Weg zu diesem Punkt zu markieren und 134 Diese Gewichtung könnte, den Hinweis auf allseits bekannte (und zu revidierenden) Schriften zum T hema in coll. 20,4 (s. o.) aufnehmend, als weitere Spitze gegen Augustin gelesen werden, der die (Kinder-)Taufe als zentrales und einziges Instrument gegen jegliche Sünd(en)verstrickung postuliert (vgl. Drecoll 2007a, 179–183). 135 quodsi uerecundia retrahente reuelare ea coram hominibus erubescis, illi quem latere non possunt confiteri ea iugi supplicatione non desinas ac dicere ei: iniquitatem meam ego agnosco: et peccatum meum coram me est semper (564,9–13). Hier besteht zumindest ein indirekter Widerspruch zu der in coll. 2 dargelegten Auffassung von Buße / Beichte. Dort wird gerade die Notwendigkeit, alles – auch die schändlichsten Gedanken – mit einem Altvater zu teilen, betont (s. 5.1). 136 „Und es wird fast alles mit Blut gereinigt nach dem Gesetz, und ohne dass Blut ausgegossen wird, geschieht keine Vergebung.“ 137 „Das sage ich aber, liebe Brüder, dass Fleisch und Blut das Reich Gottes nicht ererben können; auch wird das Verwesliche nicht erben die Unverweslichkeit.“ 138 „Verflucht, wer die Werke des Herrn nachlässig ausführt, wer sein Schwert vom Blut befreit.“
4.3 Sünden, Sünde und Sündlosigkeit
117
die Bereitschaft, sich voller Überzeugung und mit allen Konsequenzen zum Glauben zu bekennen, vorzubereiten. Während zuvor auf einer relativ abstrakten, geistigen Ebene argumentiert wurde, wendet sich coll. 20,11 konkreten Beispielen zu, um die geforderte Distanzierung von allen schlechten Gedanken / Auslösern von Sünden zu illustrieren. Dabei werden zwei der acht Hauptlaster (s. 4.2.2) namentlich genannt (fornicatio 568,5 und superbia 568,13), drei weitere werden umschrieben (die Fresssucht, die Gier und der Zorn). Diese faktische Gleichsetzung von Sünden und Lastern mündet in folgender Feststellung, die wieder das Vergessen hervorhebt: „Um also jegliche Sünde auslöschen zu können, muss zuerst ihre Ursache und die Gelegenheit, durch die oder derentwegen sie begangen wurde, abgeschnitten werden. Durch dieses Heilmittel [stößt] man auch zweifelsohne zum Vergessen vergangener Verbrechen [vor].“139
Dieses Heilmittel des Vergessens wird jedoch in coll. 20,12 sogleich relativiert, indem darauf hingewiesen wird, dass es lediglich für die Hauptsünden (capita lia crimina 568,19 f.) von Bedeutung sei. Sich von diesen durch Umkehr (conuer satio 568,21) abzuwenden, sei das Ziel der Buße (ita etiam paenitentia accipit finem 568,22 f.). Dieses gesamte Satzgefüge ist im Indikativ Präsens formuliert, sodass weder der Zeitpunkt noch die grundsätzliche Möglichkeit der aktiven Abkehr von den Hauptsünden in Zweifel steht. Es schließt eine Formulierung an, die zwei Deutungen zulässt: ceterum ab istis minutis (568,23). Entweder ist das so zu verstehen, dass es neben den benannten Hauptsünden (die zuvor weitestgehend mit den Hauptlastern in Verbindung gebracht wurden), noch andere Sünden gibt, die jedoch im Vergleich klein sind. Oder aber so, dass das, was von diesen Hauptsünden nach der erfolgreichen Umkehr noch übrigbleibt, so gering ist, dass es den Mönch höchstens noch zu kurzem Straucheln, aber nicht mehr zu Fall bringen kann. Für anhaltende Einflussnahme dieser Klein- bzw. Restsünden kennt Cassian eine ganze Reihe von Gründen: „Ob durch Unachtsamkeit, durch Vergessen, ob in Gedanken oder in Worten, ob heimlich oder unter Zwang, durch die Gebrechlichkeit des Fleisches oder die Befleckung im Schlaf – wir verfallen ihnen jeden Tag, unfreiwillig oder mit willentlicher Zustimmung immer wieder.“140
2015, 113; et ita ut unumquodque peccatum possit extingui, causa atque oc casio per quam uel ob quam admissum est debet primitus amputari. isto enim curationum remedio ad obliuionem quoque admissorum criminum sine dubio peruenitur (569,15–18). 140 Ziegler 2015, 114; aut enim per ignorantiam, aut per obliuionem, aut per cogitationem, aut per sermonem, aut per obreptionem, aut per necessitatem, aut per fragilitatem carnis et somnii pollutionem singulis diebus uel inuiti uel uolentes frequenter incurrimus (569,25– 569,4). 139 Ziegler
118 4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung An diesem Zitat sind vor allem zwei Formulierungen bemerkenswert: Zum einen wird das zuvor mehrfach positiv herausgehobene Vergessen (obliuio) nun in seiner negativen Konsequenz, dass auch die guten Gedanken wieder vergessen werden können, herausgestellt. Und zum anderen wird hier – am Ende von coll. 20 – erstmals auf die Bedeutung des menschlichen Willens für seine Sünden angespielt. Während die ersten elf Kapitel der Collatio sich recht entschieden für eine Möglichkeit der selbsttätigen Abkehr von der allein durch das Zulassen schlechter Gedanken verursachten Sünde ausgesprochen haben, werden nun erste Zweifel laut: „Wir mögen uns mit noch so großer Umsicht und Wachsamkeit vor ihnen [den Sünden] hüten, wir geraten doch in sie mit der Selbstverständlichkeit eines Naturgesetzes, wir können sie nicht völlig vermeiden.“141
In diesem Zusammenhang fällt auch erstmals das Zitat von Röm 7,19142, das – inklusive seines Kontextes – leitend für die nachfolgend dargestellten Überlegungen in coll. 23 ist. 4.3.2 Die (Un-)Möglichkeit der Sündlosigkeit (coll. 21 und coll. 23) Bevor aber die Auslegung von Röm 7 in coll. 23 näher in den Blick genommen wird, ist dieser kurz auf coll. 21 zu lenken, denn dort findet erstmals der eingangs beschriebene Wechsel von den Sünden (als Taten des Einzelnen) zu der Sünde (als abstrakte Größe, die über den Menschen herrscht) statt. Die zentrale Frage formuliert dabei Germanus in coll. 21,31, bezugnehmend auf das in coll. 21,30 vorgebrachte Zitat von Röm 6,41143: „Denn wenn er [T heonas] verkündet, dass alle, die dem Evangelium glauben, vom Joch und der Herrschaft der Sünde frank und frei sind, wie kann nahezu in allen Getauften die Herrschaft der Sünde mächtig sein entsprechend dem Wort des Herrn, das lautet: ‚Jeder, der Sünde tut, ist Knecht der Sünde‘ (Joh 8,34).“144
141 Ziegler 2015, 114; tanta enim in his facilitate tamquam naturali lege prolabimur, ut, quantalibet circumspectione atque custodia caueantur, non possint ad plenum ista uitari (569,11–13). 142 „Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.“ 143 et idcirco necessarium reor, ut primum diligentius inquiramus quodnam sit proposi tum uel uoluntas legis uel quae gratiae disciplina atque perfectio, ut consequenter ex his seu dominationem peccati seu expulsionem eius possimus agnoscere (607,6–10). 144 Ziegler 2015, 147; cum enim cunctos qui euangelio credunt a iugo et dominatione pec cati liberos atque alienos esse pronuntiet, quomodo paene in omnibus baptizatis uiget domi natio peccatorum secundum sententiam domini qua ait: omnis qui facit peccatum seruus est peccati? (606,18–22)
4.3 Sünden, Sünde und Sündlosigkeit
119
Mit der Antwort, die Cassian T heonas darauf geben lässt, zeigt sich dieser der problematischen Situation durchaus bewusst, sie wird als von Unerfahrenen unverstehbar und unvermittelbar eingestuft (cuius uim licet sciam ab inexpertis nec tradi posse nec percipi 606, 24 f.). Das Wesen der Sünde erkennen zu wollen, setzt voraus, dass sowohl Gesetz als auch Gnade des Herrn zuvor erkannt wurden.145 Bereits hier ist ein gravierender Unterschied zu coll. 20 zu erkennen, die mit völliger Sicherheit davon ausgeht, dass jeder Adressat weiß, für welche seiner Sünden, die sich zweifelsfrei aus dem Katalog der acht Hauptlaster ergeben, er Buße zu tun hat. Auf diese die Spannung steigernde Einleitung von coll. 21,32 folgen vier Beispiele, in denen T heonas jeweils ein Exempel für das Gesetz des Alten Testaments und dessen freiwillige Überbietung im Neuen Testament gegenüberstellt. Diese Beispiele führen ihn in coll. 21,33 zu der Schlussfolgerung, dass in dem, der sich beständig in der gnadengeleiteten Überbietung des Gesetzes durch höhere Tugenden übe, die Sünde nicht mehr herrsche (non ergo dominatur in eo peccatum 608,14 f.). Der Herrschaft der Sünde entronnen zu sein, drückt sich hier folgendermaßen aus: „Weder kann er Verbotenes begehren noch Gebotenes verachten. Sein ganzes Sinnen und all seine Sehnsucht strecken sich immerfort nach der göttlichen Liebe aus.“146
Damit ist – wenn auch mit einer ganz anderen Hinführung und einer wesentlich abstrakteren Begrifflichkeit – der Zustand der entmachteten Sünde ganz ähnlich definiert wie in coll. 20: Sie hat keinen Einfluss mehr auf die Gedanken des Menschen und zieht diese nicht mehr von der Schau Gottes ab. Während coll. 20 diesen Zustand relativ eindeutig an vom Menschen ausgehende Aktivität gebunden hat (der Mensch muss ausreißen, der Mensch muss vergessen, s. o.), betont coll. 21 deutlich stärker das Mitwirken von Gnade und Evangelium. Auf den Punkt bringt dies coll. 21,34: „Wer auch immer danach strebt, Vollkommenheit, wie das Evangelium sie lehrt, zu erfassen, der wird, der Gnade unterstellt, nicht von der Herrschaft der Sünde niedergehalten. Denn unter der Herrschaft der Gnade zu stehen[,] bedeutet zu erfüllen, was die Gnade gebietet. Wer sich jedoch nicht der vollkommenen Erfüllung des Evangeliums unterwerfen will, soll nicht im Unwissen darüber sein, dass er nicht unter der Gnade steht, mag er sich auch als getauft und als Mönch betrachten. Vielmehr wird er noch immer von den Fesseln des Gesetzes gebunden, von der Last der Sünde zu Boden gepresst.“147
145 et idcirco necessarium reor, ut primum diligentius inquiramus quodnam sit proposi tum uel uoluntas legis uel quae gratiae disciplina atque perfectio, ut consequenter ex his seu dominationem peccati seu expulsionem eius possimus agnoscere (607,6–10). 146 Ziegler 2015, 148; nec potest aut uetita concupiscere aut imperata contemnere, cuius totum studium totumque desiderium diuino amori semper intentum (608,17–19). 147 Ziegler 2015, 150 f.; Quisquis ergo perfectionem euangelicae studuerit tenere doctri nae, hic sub gratia constitutus peccati dominatione non premitur: hoc est enim esse sub gratia, quae a gratia mandatur inplere. quicumque uero perfectionis euangelicae plenitudini sub
120 4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung An diesem Zitat sind vor allem drei Dinge bemerkenswert: Erstens beginnt es mit Vokabular, das einerseits das Herauslösen aus der Sündenherrschaft in engen Zusammenhang mit dem gesamtmonastischen Streben nach Vollkommenheit (perfectio) stellt und andererseits auf die mehrfach, bspw. in coll. 1 und coll. 14 (s. 3.1.2) thematisierte Vergleichbarkeit dieses Prozesses mit allen anderen Künsten und Wissenschaften (studere, doctrina) verweist. Zweitens wird auch hier, wie bereits in coll. 20,8, auf die Taufe angespielt. Auch hier wird diese in gewissem Sinne relativiert, indem sie als nicht alleinwirksam für ein Stehen unter der Gnade beschrieben wird – dazu braucht es zusätzlich ein entsprechendes Handeln. Und drittens wird das unter der Gnade Sein eng an die willentliche Entscheidung / Zustimmung des Menschen hierzu gebunden: Wenn der Mensch nicht will (nolle), besteht keine Möglichkeit, das Evangelium in der bereits erwähnten perfectio zu erfüllen, womit ein Entkommen aus der Herrschaft der Sünde ausgeschlossen ist. Auch wenn coll. 23 hier vorrangig im Blick auf die in ihr enthaltenen Ausführungen zum T hema Sünde untersucht wird, ist bereits an dieser Stelle kurz – vorverweisend auf 4.4 – auf ihre Bedeutung im südgallischen Konflikt um Wille und Gnade148 hinzuweisen: Einigen Forschenden erscheint sie ausschließlich als längliche Kommentarliteratur,149 während andere in ihr das Zentrum von Cassians antipelagianischer Argumentation sehen.150 So hebt É. Rebillard hervor, dass Cassians Argumentation in coll. 23 sowohl Kenntnis augustinischer als auch pelagianischer Positionen vermuten lässt, ohne dabei exakte Parallelen oder Bezugnahmen benennen zu können. Jedoch sieht er tendenziell eher eine Ablehnung pelagianischer Elemente und eine Zustimmung zu Augustin, gerade zu dessen Predigten, wodurch dem Praxisbezug der Collationes Rechnung getragen werde.151 Dieser Einschätzung folgt auch S. Squires, der Cassian in einem Atemzug mit Augustin, Hieronymus und Orosius nennt und in diesen die klaren Gegner eines pelagianischen Vertrauens auf eine mögliche Sündlosigkeit sieht.152 Dies ist deshalb bemerkenswert, da es bedeuten würde, dass Cassian in coll. 23 deutlich weniger optimistisch auf das Vermögen des Menschen zu seinem Heil blickt, als er es noch in coll. 13153 tut, was ein weiteres Mal auf die Entwicklung, iectus esse noluerit, non ignoret se, quamuis baptizatus sibi uideatur ac monachus, non esse sub gratia, sed legis adhuc uinculis praepeditum peccati pondere praegrauari (610,27–611,6). 148 Weshalb dieser m. E. nicht als Semipelagianischer Streit bezeichnet werden sollte, wird unter 4.4.1 ausgeführt. 149 So z. B. Ramsey 1997, 785. 150 So z. B. Rebillard 1994, 198; vgl. auch Squires 2013, 419. 151 Vgl. Rebillard 1994, 209. Zur eigenständigen Positionierung Cassians zwischen Augustin und Pelagius (bzw. seinen Schülern) s. 4.4.3. 152 Vgl. Squires 2013, 411. 153 Die ihm Prosper von Aquitaniens Vorwurf, ein Feind Augustins und der Gnade zu sein (s. 4.4.1), einbrachte.
4.3 Sünden, Sünde und Sündlosigkeit
121
die Cassians T heologie in der sukzessiven Entstehung der Collationes durchläuft, verweist. Die zentrale Frage, die coll. 23 einleitet und durchzieht, ist, wie ein scheinbar vollkommener Heiliger wie der Apostel Paulus, einen Text wie Röm 7,19–23 habe formulieren können: „19 Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. 20 Wenn ich aber tue, was ich nicht will, vollbringe nicht mehr ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt. 21 So finde ich nun das Gesetz: Mir, der ich das Gute tun will, hängt das Böse an. 22 Denn ich habe Freude an Gottes Gesetz nach dem [I]nneren Menschen. 23 Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das widerstreitet dem Gesetz in meinem Verstand und hält mich gefangen im Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist.“154
Die Lösung, die Cassian Abbas T heonas anbieten lässt und die auf den ersten Blick ein wenig paradox scheint, lautet, dass es gerade ein Zeichen von Vollkommenheit sei, die eigene Sündhaftigkeit in der dargestellten Weise wahrzunehmen und zu reflektieren.155 Ein Sünder hingegen würde nicht einen Zwiespalt zwischen Geist und Fleisch empfinden, sondern sich mit beiden Naturen (utriusque naturae 640,13) leidenschaftlich der Sünde widmen. Bereits hier, im ersten Kapitel von coll. 23, wird ein erster Erklärungsversuch für den Ursprung der Sünde geboten: Beide Naturen des Menschen gingen auf einen gemeinsamen Urheber (auctor … naturae 640,13–15), Gott, zurück. Die Sünde jedoch, die entweder eine oder beide dieser Naturen in ihrer Gewalt habe, stamme aus dem Menschen(-herz) selbst (ex corde 640,13; ex eo 640,14). Wie sich dies auf das monastische Leben auswirkt, wie es überhaupt zu erklären und mit dem festgestellten Zwiespalt innerhalb des Menschen umzugehen ist, erläutert coll. 23 in vier argumentativen Blöcken. Erstens geht es in coll. 23,2–6 recht abstrakt-platonisch um das Verhältnis von Gut und Böse, von Geist und Körper, sowie die notwendige Ausrichtung auf das höchste aller Güter, auf Gott. Coll. 23,7–10 erläutern zweitens den titelgebenden Begriff anamarteton (651,4). In coll. 23,11–13 wird drittens intensiv auf Adam und den Sündenfall als Anfang allen Übels eingegangen. Die abschließenden Kapitel (coll. 24,14–21) bemühen sich viertens um eine Synthese der zuvor dargestellten drei Gedankengänge, wobei diese durch eine bündelnde Rückfrage der Germanus in coll. 23,14 eingeleitet wird, die in coll. 23,15 von Abbas T heonas als großer Fortschritt der Erkenntnis gelobt wird, wodurch markiert ist, dass nun ein noch tieferes Vordringen in die Materie möglich ist und erfolgen wird.156 coll. 23,1 (638,23–640,22). E contrario euidenter ostendunt peccatorum personae haec non posse omnimodis co nuenire, sed ad solos quae dicta sunt adtinere perfectos et eorum tantum qui apostolorum merita subsequuntur congruere castitati (639,9–13). 156 Non parum uestra profecit opinio (660,20). 154 Vgl. 155
122 4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung Der zentrale Gedanke des ersten Blocks wird in coll. 23,4 formuliert: „Wie unser Gutsein, schaut man auf die Güte da oben, sich in Bösesein wandelt, so wird auch unsere Gerechtigkeit im Vergleich mit der göttlichen Gerechtigkeit gleich dem Tuch einer Unreinen eingeschätzt, wie der Prophet Jesaja sagt [Jes 64,6].“157
D. h. je weiter der Geist des Menschen sich Gott nähert, desto verdorbener erscheint im Vergleich seine eigene, weltliche Existenz. Oder im Umkehrschluss: Je verwerflicher und damit korrekturbedürftiger einem der eigene Lebenswandel erscheint, desto mehr ist dies ein Indiz dafür, Gott bereits näher gekommen zu sein. Diese Erkenntnis relativiert den Wert der Tugenden in der Sündenbekämpfung, die in coll. 20 als probates Heilmittel dargestellt wurden: „Aus diesem Grund also werden die Verdienste aller Tugenden, die ich vorhin aufgezählt habe, obwohl sie an und für sich gut und wertvoll sind, dennoch im Vergleich mit dem Leuchten der T heoria geschwärzt.“158
Je mehr der Mensch sich aktiv um Vollkommenheit und Tugendhaftigkeit bemüht, desto mehr erkennt er, dass all diese Bemühungen zum Scheitern verurteilt sind, da die Gedanken – wie oben bereits dargestellt – doch immer wieder von der Schau Gottes abdriften. Dieses Phänomen wird in coll. 23,7 erstmals konkret betitelt: „In dieses Durcheinander stürzt uns gewiss die Tatsache, dass wir die Kraft des [anamarteton], das heißt der Sündlosigkeit, überhaupt nicht kennen. Wir meinen, überhaupt keine Schuld aus de[n] müßigen und schlüpfrigen Ausflüchten unserer Gedanken auf uns zu laden…“159
Was aber ist diese Sündlosigkeit und warum ist sie den Menschen unbekannt? Diese Fragen beantwortet coll. 23,8: Vollständige Sündlosigkeit würde bedeuten, niemals auch nur das kleinste bisschen von der strikten Ausrichtung der Gedanken auf Gott abzuweichen. Das jedoch ist keinem Menschen, sondern allein dem Herrn und Retter (nullusque … hominum exepto domino et saluatore 653,1), Jesus Christus, möglich gewesen. Diese Feststellung habe auch jetzt (etiamnunc 653,1) – im Blick auf verschiedene Heilige, wie exemplarisch Paulus – nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Im Gegenteil, es sei eben gerade ein Kennzeichen von Heiligkeit, in der Schau Gottes schon so weit fortgeschritten zu sein, dass man 157 Ziegler 2015, 182; denique sicut bonitas nostra supernae bonitatis intuitu in malitiam uertitur, ita etiam iustitia nostra diuinae conlata iustitiae panno menstruatae similis deputa tur dicente Esaia propheta (644,13–16). 158 Ziegler 2015, 183; ita igitur et uniuersarum merita uirtutum, quae superius conpre hendi, cum per se bona atque pretiosa sint, tamen theoreticae claritatis conparatione fuscan tur (645,8–10). 159 Ziegler 2015, 188; Haec sane nos in hunc errorem causa praecipiat, quia anamarteti, id est inpeccantiae ipsius uirtutem penitus ignorantes existimamus nullam omnino culpam ex istis otiosis ac lubricis cogitationum excursibus nos posse contrahere (651,3–6).
4.3 Sünden, Sünde und Sündlosigkeit
123
sich in dessen Reflexion als Sünder erkenne und darüber in heilsame Reue verfalle (coll. 23,10).160 Argumentativ bietet dieser Block gegenüber dem ersten nur einen geringen Fortschritt, der sich in der – immer noch nicht wirklich begründeten – Unterscheidung von dem einen, einzigen Sündlosen Jesus Christus und allen Heiligen, die im Licht des einen ihre Fehler immer klarer erkennen, ausdrückt. Sprachlich wird dieses Phänomen hier aber erstmals durch das griechisch-lateinische Begriffspaar anamarteton – inpeccantia ausgedrückt: M. Sheridan stellt dar, dass es sich bei inpeccantia um einen lateinisch-christlichen Neologismus handelt, der auf Hieronymus zurückgeht.161 Dieser habe den Begriff erstmals in der Diskussion um die Unzulässigkeit einer sich auf Evagrius berufenden Vorstellung von ἀπάθεια genutzt, um so auszudrücken, dass ἀπάθεια = anamarteton = inpeccan tia nichts anderes als ein Irrglaube sei.162 Dass auch Cassian eine Vorstellung der inpeccantia verwirft bzw. als Heuchelei verurteilt, wird sich im Folgenden zeigen. Ob dies Rückschlüsse auf seine Bewertung der Vorstellung einer vollständigen ἀπάθεια, die er stets den Begriff vermeidend umschreibt (s. 6.1.1.1), zulässt, wird zu prüfen sein. Der dritte argumentative Block setzt in coll. 23,11 bei der Frage an, wie es sein könne, dass der Innere und der äußere Mensch (die ja beide auf den gleichen Schöpfer zurückgehen, wie coll. 23,1 betont hat, s. 4.1.2) so unterschiedlichen Gesetzen unterworfen seien – einerseits dem Gesetz Gottes und andererseits dem der Sünde (Röm 7,22 f.). Dass das Gesetz Gottes direkt vom Schöpfer der beiden Teile des Menschen stammt, liegt auf der Hand. Anders verhält es sich mit dem Gesetz der Sünde (lex peccati 656,1): Sein Urheber (auctor 656,2) ist ein Mensch, durch dessen Schuld (praeuaricatio 656,2) es in die gesamte Menschheit hineingebracht wurde (humano generi … induxit 656,1 f.) und der deswegen die in Gen 3,17–19163 dargestellte und hier zitierte Strafe erfahren hat. Es fällt ins Auge, 160 Cum ergo semet ipsos cotidie sentiant sancti terrenae cogitationis pondere prae grauatos ab illa mentis sublimitate decidere et inuitos … sed adfectu se pronuntient peccato res et ueniam pro omnibus, quae cotidie superati fragilitate carnis incurrunt, a gratia domini iugiter postulantes ueras paenitentiae lacrimas indesinenter effundant (654,11–13.19–22). 161 Vgl. Sheridan 2012c, 336 f. 162 Vgl. Sheridan 2012c, 336 f.; Hieronymus, in Ier. 4 (CSEL 59, 220,18–221,9 Reiter): multis et de toto huc orbe confluentium turbis et sanctorum fratrum monasteriique curis occupatus commentarios in Hieremiam per interualla dictabam, ut, quod deerat otio, super esset industriae, cum subito heresis Pythagorae et Zenonis ἀπάθειας et ἀναμαρτησίας, id est ‚inpassibilitatis‘ et ‚inpeccantiae‘, quae olim in origene et dudum in discipulis eius Grunnio Euagrioque Pontico et Iouiniano iugulata est, coepit reuiuescere et non solum in occidente, sed et in orientis partibus sibilare et in quibusdam insulis, praecipueque siciliae et rhodi, macu lare plerosque et crescere per dies singulos, dum secreto docent et publice negant. 163 „Zu Adam aber sagte er: Weil du auf die Stimme deiner Frau gehört hast und von dem Baum gegessen hast, von dem ich dir befohlen habe, von diesem als einzigem, von ihm nicht zu essen, sei die Erde verflucht in deinen Arbeiten. Unter Schmerzen wirst du sie (die Erde) essen alle Tage deines Lebens. 18 Dornen und Diesteln wird sie dir aufgehen lassen
124 4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung dass an dieser Stelle mit auctor für den Urheber der anhaltenden Sündenverstrickung der Menschheit derselbe Begriff gewählt wird, mit dem zuvor Gottes Schöpferhandeln (640,14) beschrieben wurde. Dies betont die Macht dessen, was der Mensch in die Welt gebracht hat. Coll. 23,11 belässt es bei diesen Anspielungen, weder wird der Name Adams genannt noch der Sündenfall selbst erwähnt. Vielmehr liegt der Fokus hier auf der Strafe für das Vergehen, das erst in coll. 23,12 in den Blick rücken wird: dem Fluch zur Arbeit im Schweiße des Angesichts. Diesen verbindet Cassian mit der täglichen – aus oben genannten Gründen oft unbefriedigenden – Mühe des Heiligen um ein tugendhaftes Leben.164 Coll. 23,12 nimmt die Ursache der Sündenherrschaft über die Menschheit in den Blick. Dabei ist die Rede von einem Verkauf an die Sünde (uenundatio illa peccati 656,24), einem verderblichen Geschäft (negotiatio damnosa 656,26) und einem trügerischen Handel (fraudulentum conmercium 657,1). Dieser Zweifel Adams (dubio Adae 656,25), mit der er seine natürliche Freiheit aufgibt (a natu rali libertate discessit 657,9 f.), hat Konsequenzen für den Rest der Menschheit: „Alle seine Nachkommen hat er, verführt von der Überredungskunst der Schlange, für den Genuss der verbotenen Speise verkauft. So hat er sie unter das Joch der ewigen Knechtschaft verkauft … In dieser Bedingung gefangen hat er nicht ohne seine Schuld die nachfolgenden Generationen derselben Knechtschaft, deren Sklave er geworden war, unterstellt. Was könnte eine Verbindung von Unfreien anderes hervorbringen als Unfreie?“165
An dieser Stelle formuliert Cassian erstmals eindeutig die Vorstellung einer Ursünde, die von Adam ausgelöst durch alle nachfolgenden Generationen weitergereicht wird. Im Folgenden nennt er zwei Ursachen, einmal dafür, dass es überhaupt zum Sündenfall kam, und einmal dafür, dass Gott seine Schöpfung nicht gleich wieder von diesem Übel befreit hat. Der Grund für den Selbstverkauf der Menschheit war – laut Cassian – die Gier nach Essen (edacis concupiscen tia 657,22). Der dahinterstehende Wunsch nach Erkenntnis (Gen 3,5 f.166) wird und du wirst die Grünpflanzen des Feldes essen. 19 Im Schweiß deines Angesichts wirst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zur Erde, aus der du genommen wurdest; denn Erde bist du und zu Erde wirst du zurückkehren.“ 164 omne igitur humanum genus huic generaliter legi sine ulla exceptione subicitur. nul lus enim est quamuis sanctus, qui supra dictum panem non cum sudore uultus sui et sollicita cordis intentione percipiat (656,13–16). 165 Ziegler 2015, 193 f.; omnem enim prolem suam serpentis persuasione seductus inliciti cibi perceptione distractam iugo perpetuae seruitutis addixit (657,1–3) … qua deinceps con dicione constrictus non inmerito omnem posteritatis suae progeniem perpetuo eidem cuius effectus est seruus subdidit famulatu. quid enim aliud seruile coniugium potest procreare quam seruos? (657,11–15). 166 „5 Gott nämlich wusste, dass an dem Tag, da ihr von ihm esst, eure Augen geöffnet werden, und ihr werdet wie Götter sein, indem ihr Gut und Böse erkennt. 6 Und die Frau sah, dass der Baum gut als Nahrung und dass er für die Augen gefällig anzusehen und prächtig ist für das Verstehen, und sie nahm und aß von seiner Frucht. Und sie gab auch ihrem Mann mit ihr und sie aßen.“
4.3 Sünden, Sünde und Sündlosigkeit
125
nicht erwähnt. Vielmehr zieht Cassian hier eine, wenn auch durch die gewählte Begrifflichkeit nur indirekte, Verbindungslinie zwischen dem ersten Hauptlaster (gastrimargia, s. 4.2.2) als dem individuellen Tor zur Sünde und der Fresssucht als dem Einlass für die allgemeine Sündhaftigkeit der Menschheit. Diese kann nicht ohne Weiteres wieder aus der Welt geschafft werden, da das ein Eingriff in die dem Menschen mit der Schöpfung geschenkte Freiheit des Willens wäre und zudem Gottes seit Ewigkeit beschlossenem Plan zur Rettung der Menschheit durch Jesus Christus zuwiderlaufen würde.167 Letztere zielt darauf, die Menschheit aus den Fesseln der Sünde zu befreien und sie wieder in den ursprünglichen Stand der Freiheit zurückzuversetzen.168 Coll. 23,13 benennt das beschriebene Phänomen als ersten Fluch Gottes über die Menschheit (dei prima maledictio 658,27). Die Absolutheit – ein Fluch für alle, keine gezielte Strafe für den Einzelnen – dieser Formulierung sowie die Kennzeichnung als „erstes“, lassen erwarten, dass darauf etwas „zweites“, ebenso universales, folgt. Bevor dies aber ausgeführt wird, beschreibt Cassian erneut, wie jeder Einzelne an jedem Tag die Folgen der von Adam geschaffenen Sünde zu spüren bekommt: „…, so dass wir das Gute, das wir wollen, nicht tun können, weil wir, gewaltsam getrennt von der Erinnerung an den höchsten Gott, getrieben sind, zu denken, was der menschlichen Gebrechlichkeit entspricht, und, obwohl wir vor Liebe zur Reinheit brennen, sogar ohne es zu wollen und oft von den natürlichen Brandpfeilen, von denen wir lieber nichts wissen möchten, getroffen werden.“169
Dieses Zitat stellt eine bemerkenswerte Zuspitzung des bereits mehrfach genannten Römerbriefausschnittes auf das monastische Leben, wie Cassian es lehrt, dar: Das Gute, wovon der Mönch immer wieder abkommt, wäre die beständige Ausrichtung der Gedanken (memoria) auf Gott, die allein von einem reinen Herz ausgehen kann. Diese Reinheit wird aber immer wieder durch natürliche Reize (incentiuum naturale), die der Mönch eigentlich gar nicht kennen / denken möchte, unterbrochen. Dies führt zu einer schlimmen und unheilvollen Trennung (pessimum ac lugubre diuortium 659,8) von Gott. 167 malum enim fuerat si concessae libertatis beneficium reuocasset, iniustum si liberum hominem potentia sua opprimens atque captiuans libertatis acceptae pontificium exequi non siuisset, cuius salutem in futura tunc saecula reseruauit, ut recto ordine conpleretur statuti temporis plenitudo (657,25–658,1). 168 oportebat enim eius subolem tamdiu sub auita condicione durare, quousque eam de originalibus uinculis liberatam in antiquum libertatis statum prioris domini gratia pretio sui sanguinis reformaret, quam potuit etiam tunc saluare, sed noluit, quia eum decreti sui inrumpere sanctionem aequitas non sinebat (658,1–6). 169 Ziegler 2015, 195; ut bonum quod uolumus agere nequeamus, dum diuulsi a memo ria summi dei ea quae humanae fragilitatis sunt cogitare conpellimur, dum puritatis amore flagrantes incentiuis naturalibus, quae penitus ignorare uellemus, etiam inuiti plerumque conpungimur (659,1–5).
126 4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung Es gibt aber einen Ausweg, der mit dem o. g. ersten Fluch Gottes über die gesamte Menschheit korrespondiert: die tägliche Gnade Christi (cotidiana gratia Christi 659,22). Diese ist der Grund dafür, dass Paulus sich selbst als Sünder bezeichnen und dennoch als Heiliger gelten kann. Denn durch Christus steht allen Menschen die Möglichkeit offen, um Vergebung für ihre Sünden zu bitten und diese gewährt zu bekommen (vgl. Röm 8,1 f.).170 Wie oben bereits erwähnt, leitet eine bündelnde Rückfrage des Germanus (coll. 23,14) den vierten und letzten großen Block von coll. 23 ein. In seiner Funktion als Reflektorfigur bringt Germanus hier einerseits auf den Punkt, was Cassians Adressaten bis hierher verstanden haben sollten, und formuliert zum anderen mögliche Missverständnisse und Rückfragen, die Cassian bei seinen Rezipienten an dieser Stelle der Argumentation noch vermutet. So lässt er Germanus betonen, dass das zuvor Dargelegte nicht für solche gelte, die noch völlig in ihrer Sündhaftigkeit verstrickt seien und auch keine reuige Anstrengung unternähmen, sich daraus zu befreien. Vielmehr gelte es für solche, die sich des Zwiespaltes, in dem sie stecken und aus dem sie sich eben nicht aus eigener Kraft befreien können, bewusst seien.171 Der Sachverhalt, dass der Mensch überhaupt rettungsbedürftig ist, wird doppelt begründet: Einerseits ist von einem Naturgesetz (lex naturalis 660,13) die Rede, andererseits von der Macht der Gewohnheit, die durch ein heftiges Bemühen um die Tugenden zwar gemildert, aber nicht gebrochen werden kann (usus enim et frequentia deliquendi 660,12). Diese beiden Erkenntnisse werden von T heonas zu Beginn von coll. 23,15 sehr gelobt. Auch er betont noch einmal, dass diejenigen, die sich als Sünder erkennen, sich bereits von der breiten Masse der hoffnungslosen Sünder abgelöst hätten und auf dem Weg zur höchsten in der Welt möglichen Heiligkeit seien.172 Nachdem dies nun endgültig geklärt scheint, wendet T heonas sich der Frage nach der für diesen Zustand notwendigen Gnade zu: Er unterscheidet Taufgnade (gratia baptismatis 660,27) und tägliche Gnade (cotidia gratia 660,28). Während die Taufe bereits in coll. 20 und coll. 21 erwähnt, dort aber nicht unbedingt als von entscheidender Bedeutung herausgestellt wurde, wird sie nun stärker betont: 170 lex enim spiritus uitae in Christo Iesu liberauit me a lege peccati et mortis: id est co tidiana gratia Christi omnes sanctos suos ab hac lege peccati et mortis, in qua iugiter nolen tes incurrere coguntur, cum remissionem debitorum suorum dominum deprecantur, absoluit (659,20–23). 171 Neque eorum qui capitalibus criminibus inplicantur neque apostoli uel illorum qui ad eius profecere mensuram hoc dicimus congruere posse personis, sed de his proprie hoc intellegi debere censemus, qui post dei gratiam agnitionemque ueritatis a carnalibus se uitiis abstinere cupientes antiqua adhuc consuetudine uelut naturali lege in membris suis uiolentissime do minante ad inolitam passionum concupiscentiam pertrahuntur (660,5–12). 172 quos quoniam a peccatorum iam numero segregastis, consequens est ut etiam fidelium atque sanctorum paulatim coetibus inseratis (660,24–26).
4.3 Sünden, Sünde und Sündlosigkeit
127
„Wer nämlich nach der Taufe und dem Wissen um Gott jenem Leib des Todes verfällt, der soll wissen, dass er nicht durch die tägliche Gnade Christi, das heißt durch leichte Vergebung, die der Herr in jedem Augenblick, wenn wir ihn darum bitten, unseren Irrungen zu schenken bereit ist, gereinigt werden muss, sondern durch lange Betrübnis der Reue und schmerzliche Strafe. Andernfalls muss er dafür dem Gericht des ewigen Feuers übergeben werden.“173
Dieses Zitat verbindet die Vorstellung der Taufgnade mit dem Wissen um Gott (scientia dei), das sprachlich in großer Nähe zur scientia spiritalis (s. 6.2) steht. Mit der Gnade der Taufe werden also das Wissen darum, wie der Mensch sich – eigentlich – zu verhalten habe, die Erkenntnis, dass er dies aus eigener Kraft nicht schaffen kann, und das Angebot der täglichen Gnadenhilfe im Kleinen erlangt. Wer aber getauft, d. h. wider besseres Wissen und obwohl er – im Vertrauen auf die tägliche Gnade – anders könnte, sündigt, gelangt nicht mehr ohne weiteres zur Vergebung, sondern nur durch anhaltende und heftige Reue und Buße (s. o. zu coll. 20). Dieser doppelte Gnadenbeistand wird jedoch vom Gesetz der Sünde (lex peccati 662,1 f.), das im Herzen des Menschen angesiedelt ist, von dort aus auf seinen Körper wirkt und so sichtbar wird, konsequent zu boykottieren versucht, was hier als Beschreibung des „Todesleibes“ (Röm 7,24; corpus mortis 663,25) dient. Nachdem coll. 23,15 im Weiteren bereits genannte Punkte wiederholt und bündelt, bspw. das Abdriften von einer anhaltenden Gottesschau als Konsequenz und Marker der Sünde, kommt coll. 23,16 wieder auf den „Todesleib“ zu sprechen: Dieser erscheint nun quasi als der Erdanker, der den Menschen an das Irdische bindet und ihn davon abhält, sich dem Ziel seiner Betrachtung vollständig zu nähern.174 Auf diese Feststellung folgend legt Cassian T heonas eine Auslegung von Röm 7,25175 in den Mund, die in ihrer sprachlichen Detailverliebtheit bemerkenswert ist: Konkret geht es um drei Worte des Paulus, itaque ego ipse (664,11), um das Bekenntnis, mit dem Paulus – am eigenen Beispiel – den inzwischen hinreichend bekannten Zwiespalt des Menschen beschreibt. Für die Auslegung dieses Teilverses wird sowohl auf die Ausdrucksweise (elocutio 664,13) als auch auf den vertrauten Umgangston (genus familiaris 664,13), den Paulus hier gebraucht, eingegangen. Dass Paulus diesen bewusst wähle, wenn er auf sich selbst als Vorbild verweisen möchte (uult se specialiter designare 664,14), wird 173 Ziegler 2015, 197 f.; quisquis enim post baptismum et scientiam dei in illud mortis corpus inruerit, sciat se non cotidiana gratia Christi, id est facili remissione, quam momentis singulis exoratus dominus noster erroribus nostris donare consueuit, sed aut diuturna adflic tione paenitudinis ac poenali dolore purgandum aut certe pro his in futurum aeterni ignis suppliciis addicendum (661,9–15). 174 hoc est corpus mortis, quod a caelesti eos intuitu retrahens ad terrena deducit, quod psallentes eos atque in oratione prostratos uel humanas effigies uel sermones uel negotia uel actus facit superfluos retractare (663,24–664,3). 175 „Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn! So diene ich nun mit dem Verstand dem Gesetz Gottes, aber mit dem Fleisch dem Gesetz der Sünde.“
128 4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung mit Hilfe von fünf Parallelstellen aus 2Kor und Gal belegt. Auf diese folgt eine ausführliche Paraphrase dessen, was Paulus mit diesen drei Worten eigentlich wirklich habe sagen wollen (ut expressisus cum emphasi pronuntietur 664,22): „…als wollte er sagen: ‚der, von dem ihr wisst, dass er ein Apostel Christi ist, den ihr mit aller Hochachtung verehrt, von dem ihr glaubt, dass er der Größte und Vollkommenste ist, in dem Christus spricht. Ich gestehe, dass ich zwar mit dem Geist dem Gesetz Gottes diene, dem Fleisch nach jedoch dem Gesetz der Sünde.‘“176
Damit ist die Frage, die coll. 23 eingeleitet hat, nämlich für wen Paulus hier eigentlich spricht, endgültig und mit Hilfe einer ausgefeilten exegetischen Methodik geklärt. Das führt sowohl zu Beginn von coll. 23,17 als auch von coll. 23,18 zu zwei eindeutigen Statements: Zunächst heißt es, dass „alle Heiligen wegen dieser Gebrechlichkeit ihrer Natur unter täglichem Seufzen von den Stacheln … gequält“177 werden. Dann, „[d]ass niemand in diesem Leben, sei er auch heilig, unbelastet von den Sündenschulden ist“178. Als biblische Illustration dieses wie ein Oxymoron anmutenden sündhaften Heiligen dient in coll. 23,17 die Berufung des Jesaja (Jes 6,5): Diesem werde erst im Blick auf den himmlischen Hofstaat bewusst, dass er der Reinigung bedarf.179 Die glühende Kohle, mit der Jesaja die Zunge gereinigt wird, sodass er seinen Dienst versehen kann, wird am Ende von coll. 23,17 als Typologie der in Röm 7,25 als Heilmittel beschworenen Gnade gedeutet.180 Coll. 23,18 argumentiert über die Feststellung der Tatsache, dass ein Heiliger immer auch ein Sünder sei, hinaus, dass ein jeder Widerspruch dagegen lediglich der Erweis von Hochmut und Heuchelei sei. Das Kapitel schließt – in Anlehnung an Koh 7,20181 – mit der Feststellung, dass ein Sünder, der sich seine Schuld und Ziegler 2015, 201; ut expressius cum emphasi pronuntietur itaque ego ipse, id est quem nostis esse apostolum Christi, quem tota suspicientia ueneramini, quem creditis summum esse atque perfectum et in quo loquitur Christus, cum mente seruiam legi dei, carne tamen legi peccati seruire me fateor (664,22–26). 177 Et idcirco cotidianis suspiriis sancti omnes pro hac substantiae suae fragilitate con puncti (665,8 f.). 178 Neminem uero in hac uita quamuis sanctum inmunem esse a debitis peccatorum (667,25 f.). 179 qui, sicut arbitror, labiorum suorum inmunditiam ne tunc quidem fortasse sensisset, nisi ueram perfectionis et integram puritatem contemplatione dei meruisset agnoscere, cuius intuitu pollutionem suam sibi ante incognitam repente cognouit (665,25–666,1). 180 itemque quod sequitur in propheta et ecce uolauit ad me unus de Seraphin, et in manu eius carbunculus (sine calculus), quem forcipe tulerat de altari. et tetigit os meum, et dixit: ecce hoc tetigi labia tua, et auferetur iniquitas tua, et peccatum tuum mundabitur tale est ut Pauli uideatur ore prolatum, qui ait: gratia dei per Iesum Christum dominum nostrum (667,12–19). 181 „Denn es gibt keinen gerechten Menschen auf der Erde, der (nur) Gutes tun und nicht sündigen wird.“ 176
4.3 Sünden, Sünde und Sündlosigkeit
129
die Notwendigkeit des göttlichen Gnadenbeistandes eingestehe, in diesem Moment schon als Gerechter zu gelten habe.182 Der hochmütige Irrglaube, sündlos sein zu können, wird auch in coll. 23,19 thematisiert. Das Kapitel nimmt seinen Anfang bei der bereits aus coll. 23,7 bekannten, lateinisch-griechischen Doppelformulierung anamarteton, id est inpeccantiam (668,26). Darauf folgen alltägliche Beispielsituationen, in denen ehrlicherweise jeder Mönch eingestehen müsste, immer wieder mit den Gedanken abgeschweift zu sein und so dem Gesetz der Sünde nachgegeben zu haben. Anschließend wird argumentiert, dass diese Selbstwahrnehmung als Sünder auch mit wachsendem Fortschritt des Geistes (magis profecerit mens humana 669,13) nicht schwächer werde, da mit der zunehmenden Erkenntnis des Guten, im Spiegel von dessen Reinheit (per speculum suae puritatis inspiciet 669,15; s. hierzu auch 3.1.2.3), die eigene Unzulänglichkeit immer klarer und erdrückender wird: „Je ehrlicher nämlich sein Blick, desto mehr entdeckt er. Ein untadeliges Leben bereitet sich größeren Schmerz. Eine Besserung des Lebenswandels und eine aufmerksame Nachahmung der Tugenden vervielfachten Seufzen und Klagen. Niemand kann sich wirklich zufriedengeben mit der Stufe des Fortschritts, die er erreicht hat. Je mehr jemand im Geist gereinigt wurde, desto schmutziger sieht er sich und findet eher Gründe zur Demut als zur Überheblichkeit. Je hurtiger einer zu Höherem emporsteigt, umso genauer sieht er voraus, wie weit das Ziel noch entfernt ist.“183
In sechs Varianten wird hier die Kernaussage der gesamten Collatio aufgefächert: Je pessimistischer man den eigenen Fortschritt einschätzt, desto weiter ist man eigentlich schon gekommen. Das führt – bevor coll. 23,21 mit praktischen Hinweisen fortfährt, wie mit dem neuerworbenen Wissen umzugehen ist – zu der Schlussfolgerung: „Deshalb: Wenn wir sagen, ‚wir haben keine Sünde‘, haben wir die Wahrheit, das ist Christus, nicht in uns. Was anderes gewinnen wir, als dass wir mit diesem Bekenntnis bestätigen: Aus Sündern sind wir zu Verbrechern und Pflichtvergessenen geworden.“184
182 qui tamen cum pronuntietur inmunis a noxa esse non posse, iustus esse nihilominus non negatur (668,23–25). 183 Ziegler 2015, 205; plura siquidem denotat sincerior obtutus paritque sibi maiorem re prehensionis dolorem inreprehensibilis uita et multiplicat gemitus atque suspiria emendatio morum et aemulatio adtenta uirtutum. nemo enim illo in quo profecerit gradu potest esse contentus et quantum quis fuerit mente purgatior, tanto se sordidiorem uidens magis humi litatis quam elationis inuenit causas, quantoque pernicius ad sublimiora conscenderit, tanto amplius praeuidet sibi superesse quo tendat (669,18–26). 184 Ziegler 2015, 205; itaque si dicentes nos non habere peccatum ueritatem, id est Christum non habemus in nobis, quid aliud proficimus, nisi ut nos hac ipsa professione ex peccatoribus sceleratos atque impios adprobemus (670,2–5).
130 4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung 4.3.3 Die Bedeutung von Sünden, Sünde und Buße für die monastische Bildung Der intensive Blick auf die T hematisierung von Sünden und Sünde im dritten Teilband der Collationes hat deutlich gemacht, weshalb es überhaupt monastische Bildung braucht. Ähnlich wie zuvor am Beispiel der Laster und Dämonen (4.2) wurde ersichtlich, dass der Mönch sich in einem ständigen Kampf gegen das Böse, das nun in Gestalt der infirmitas carnis erscheint, befindet. Das Ziel des Mönches muss es sein, sein Denken von diesen negativen Einflüssen zu befreien bzw. sie zu vergessen (oblivisci) und so das eigene Gewissen zur Ruhe185 zu bringen. Coll. 20 zeigt sich zunächst optimistisch, dass dem Mönch dies durch vielfältige Möglichkeiten der Buße gelingen kann, auch Taufe und Martyrium werden diskutiert. Dabei scheint Cassian besonders an der Vorstellung der vorsätzlichen Entschlossenheit,186 die es zum Martyrium braucht, Gefallen zu finden. Während coll. 20 die individuellen Sünden, die den Mönch täglich auf die Probe stellen, thematisiert, wenden coll. 21 und coll. 23 sich der abstrakteren Vorstellung der (Ur-)Sünde zu, die der Mönch nicht aus eigener Kraft überwinden kann. Dabei wird genau das als Voraussetzung und Ziel monastischer Bildung markiert: Der Mönch muss zunächst verstehen, dass er ein Sünder ist, der sich nicht aus eigener Kraft aus dieser Verstrickung zu befreien vermag. Erst wenn ihm seine eigene Sündhaftigkeit im Gegenüber Gottes bewusst geworden ist, kann er den nötigen Antrieb verspüren, sich seinem Gegenüber, Vorbild und Retter zur Heiligkeit anzunähern. Neben Selbsterkenntnis, Selbstreflexion und Selbsttätigkeit (zumindest bis zu einem gewissen Grad, in Kooperation mit Gottes Gnade, s. 4.4) wird so auch das Moment der Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen thematisiert – da der Mensch immer (zumindest zu einem immer kleiner werdenden Teil) Sünder bleiben wird, bedarf er der andauernden (wieder Ein-)Bildung Gottes. Aber nicht nur inhaltlich, im Blick auf die durch die Collationes vermittelte Vorstellung von monastischer Bildung, hat sich die vorgenommene Untersuchung des Sünde(n)begriffs als aufschlussreich erwiesen, sondern auch im Blick auf Cassians Bildungshandeln durch die Collationes: Erstens ist bemerkenswert, dass Cassian dieses T hema erst im dritten Teilband in den Fokus stellt, was m. E. mit É. Rebillard und S. Squires nicht anders denn als Reaktion auf kritische Rezeptionen von coll. 13 (s. 4.4.1) zu verstehen ist. Cassian bemüht sich, über das T hema der Sünde eine noch tiefergehende, theologische Fundierung des v.a. im zweiten Teilband über Wille und Gnade Dargestellten zu schaffen. Hier wird deutlich, dass im Verlauf der Entstehung der Collationes nicht nur T hemen zirkulär wieder aufgenommen, sondern auch intensiviert werden. Zweitens sind die Dieses Motiv ist eng verwandt mit der puritas cordis (s. 6.1.1). Hier zeigt sich bereits die in 4.1.4 herauszuarbeitende, große Bedeutung des menschlichen Willens und Wollens für die monastische Bildung. 185 186
4.4 Wille und Gnade
131
unterschiedlichen Akzentuierungen in coll. 20 (Abbas Pinufios) und coll. 21.23 (Abbas T heonas) aufschlussreich im Blick auf die narrative Gestaltung der Col lationes: Cassian nutzt verschiedene Altvaterfiguren, um verschiedene Aspekte eines T hemas zur Diskussion zu stellen. So kann er auf den ersten Blick inkohärente Herangehensweisen und Standpunkte präsentieren und seine Adressaten so zu einer selbstständigen Reflexion herausfordern. Schließlich sticht drittens die ausgefeilte exegetische Technik in coll. 23 ins Auge: Es entsteht der Eindruck, dass, je komplexer das zu behandelnde T hema ist, desto feinschrittiger mit und am Bibeltext argumentiert wird – dies deckt sich mit dem in coll. 14 Dargestellten, dass die Anfänge des Mönchtums (πρακτική) durchaus vielgestaltig sein können, seine Vervollkommnung (θεωρητική) jedoch ausschließlich durch sorgfältige Schriftauslegung erreicht werden kann (s. 6.2 und 5.5). 4.4 Wille und Gnade Eng mit dem unter 4. 3 untersuchten T hema der Sündhaftigkeit des Menschen hängt die Frage nach Wille(nsfreiheit) und der Gnade Gottes zusammen, wie oben bereits anklang. Während die Sünde eine anthropologische Grundvoraussetzung darstellt,187 handelt es sich bei dem Willen des Menschen um den Aspekt seines Daseins, an dem die Folgen dieser Grundvoraussetzung spürbar werden. Während die Sünde, zumindest ihrer Darstellung in coll. 23 folgend (s. o.), eine Tatsache, die zu akzeptieren und mit der umzugehen ist, darstellt, ist der Wille stärker – bis zu welchem Maße gab Anlass zu kontroversen Diskussionen (s. u.) – form- und beeinflussbar. Damit kann er – ähnlich wie der Innere Mensch (4.1) – als ein Zielpunkt monastischer Bildungsbemühungen gesehen werden. Zudem ist dieser T hemenkomplex von großer Relevanz, wenn nach Cassians Bildungshandeln, nach Transfer und Transformation von verschiedenen Traditionen zu fragen ist. Daher ist zunächst kursorisch auf den traditionsgeschichtlichen Hintergrund dieser Fragestellung zu schauen (4.4.1), bevor unter 4.4.2 untersucht wird, wie Cassian sich in den Collationes dem T hema nähert. 4.4.1 Der traditionsgeschichtliche Hintergrund – von der antiken Philosophie bis zum ‚(Semi-)Pelagianischen Streit‘ Aus einer neuzeitlichen Perspektive betrachtet, vereint der Willensbegriff drei Komponenten: Zum ersten bezeichnet der Wille die Fähigkeit des Menschen, zielgerichtet und bewusst nach etwas zu streben. Zum zweiten ermöglicht es der Wille dem Menschen, sich bewusst und frei zwischen verschiedenen Optionen
187 Weshalb dieses T hema auch zuerst behandelt wurde, obwohl es in den Collationes erst nach der Frage nach dem (freien) Willen zur Sprache kommt.
132 4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung zu entscheiden. Und zum dritten beinhaltet der Wille den Antrieb, die getroffene Entscheidung umzusetzen.188 In der griechischsprachigen Antike gab es keinen Begriff, der all dies vereint hätte, vielmehr wird, je nach Aussageintention, einer der Aspekte mit einem eigenen Begriff versehen und in das Zentrum gerückt. So betont z. B. Platon in der Rede vom θυμός den dritten der o. g. Aspekte besonders, lässt dagegen aber die Frage, wovon die vorhergehende Entscheidung abhängt, offen.189 Deutlich differenzierungsfreudiger zeigt sich Aristoteles, der gleich vier Willensbegriffe kennt, die der gezeigten modernen Definition recht nahe kommen ohne jedoch den menschlichen Willen im Vollsinne zu beschreiben: Βούλησις bezeichnet das zielgerichtete Streben, dem eine rationale Überlegung zugrunde liegt, ἑκούσιον bezeichnet die Freiheit einer Handlung, die keinen äußeren Zwängen unterliegt, προαίρεσις ist seine Bezeichnung für eine Entscheidung zwischen verschiedenen Varianten, besonders wichtig im Zusammenhang mit dem Erwerb von Tugenden190 und zuletzt ἐφ’ ἡμῖν, das die Verantwortlichkeit des Menschen für seine Handlung benennt.191 Ebenfalls ohne einheitlichen oder umfassenden Willensbegriff ist die Stoa,192 dennoch prägt sie einen weiteren Begriff, der für die nachfolgenden Überlegungen wichtig ist: αὐτεξούσιον, was die Selbstmächtigkeit und Eigenständigkeit des menschlichen Handelns unter größtmöglicher Nicht-Beeinflussung durch die vier Hauptaffekte bezeichnet und somit Überlegungen zur Willensfreiheit vorausgeht.193 In der biblischen Tradition spielen konkrete Fragen nach ‚Wille‘ oder ‚Willensfreiheit‘ zunächst keine prominente Rolle, wohl aber werden Verantwortung für das eigene Tun und verschiedene Abstufungen von Absicht thematisiert:194 Entscheidungen und (Un-)Freiheit des Willens werden im Alten Testament in verschiedenen Kontexten angespielt, jedoch nie explizit zum T hema gemacht: so z. B. in Gen 3 (s. 4.3), im Rahmen verschiedener Darstellungen von Tun-Ergehen-Zusammenhängen oder im Kontext prophetischer Verstockungsaufträge.195 Erst im Neuen Testament, genauer in den Paulusbriefen, wird das T hema der Unfreiheit des Willens (besonders Röm 7, s. 4.3.2) und der damit korrespondie-
188
Vgl. Ch. Horn 2005, 736. Vgl. Achtner 2010, 18 f., Ch. Horn 2005, 764. 190 Zum Fortleben dieses Aspektes in der christlichen Tradition vgl. Lorgeoux 2017, 119–126. 191 Vgl. Achtner 2010, 16–24. 192 Vgl. Ch. Horn 2005, 765. 193 Vgl. Achtner 2010, 22–24. 194 Vgl. Pesch 2004, 76 f. 195 Vgl. Pesch 2004, 77 f. Den Zusammenhang von Verstockung und Willensfreiheit thematisiert auch Origenes (s. u.) dahingehend, dass es sich hierbei weniger um Beispiele für einen strikten Determinismus als um Exempel eines punktuellen, göttlich-pädagogischen Wirkens am Menschen handle (vgl. Fürst 2017, 112 f.). 189
4.4 Wille und Gnade
133
renden, notwendigen Gnade Gottes explizit gemacht.196 Neben dem menschlichen Willen begegnet auch der göttliche Wille, den es zu erkennen gilt und in den einzustimmen ist.197 In der frühchristlichen T heologie spielte das T hema ‚Wille‘ zunächst nur eine untergeordnete Rolle,198 in nennenswerter Weise änderte sich dies erst mit Origenes: Dieser argumentiert entschieden dafür, dass der Wille des Menschen über Entscheidungsfreiheit verfüge.199 Diese Freiheit nimmt laut Origenes ihren Ursprung im Vorherwissen Gottes, der in seinem Heilsplan die Freiheit und die Entscheidungen seiner Geschöpfe vorherwissend berücksichtigte, sodass der Wille zur Rettung und die Entscheidungsfreiheit des Menschen in keinem Widerspruch stehen.200 Seine Überlegungen zur Willensfreiheit formuliert Origenes nicht nur in Ablehnung eines gnostischen Determinismus,201 sondern auch unter Berücksichtigung „sämtliche[r] Philosophenschulen“202. Grundlegend für die Fähigkeit zur freien Entscheidung ist dabei die menschliche Vernunft, die es vermag, sich von durch Sozialisation oder Erziehung erworbenen Fehlern abund Gott zuzuwenden. Dies ist freilich nicht leicht, dennoch ist es möglich, das Entscheidungsvermögen (προαίρεσις) durch Übung (ἄσκησις) in die richtige Richtung zu lenken.203 Die Freiheit des „Wählen-Könnens und Wählen-Müssens“204 wird zu einer der Grundannahmen der Anthropologie des Origenes, diese Freiheit ist es, in der sich das Bild Gottes im Menschen ausdrückt.205 Dennoch weiß auch Origenes um den menschlichen Hang zur Willensschwäche206 196 Vgl. Pesch 2004, 78 und Achtner 2010, 40 f. Nahezu euphorisch äußert sich W. Achtner zur Bedeutung der paulinischen Darstellung: „In der T heologie des Paulus wird zum ersten Mal der gesamte Horizont des Willensproblems aufgerissen, das Verhältnis von Wille und Gnade, das Verhältnis von Wille und Gesetz und schließlich das Verhältnis von göttlicher Providenz und Prädestination“ (aaO., 49). 197 Vgl. Markschies 2005, 1561 f., unter dieser Hinsicht wird – auch in den Collationes – häufig auf Mt 26,30 angespielt („Und er ging ein wenig weiter, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst!“). 198 Vgl. Markschies 2005, 1561. 199 Vgl. Fürst 2017, 111. Belege für diese Argumentation lassen sich in zahlreichen Werken des Origenes finden, Beispiele finden sich bei Fürst 2017, 115–117. 200 Vgl. Benjamins 1994, 120 f. 201 Vgl. Fürst 2017, 113. 202 Fürst 2017, 114. 203 Vgl. Fürst 2017, 115. 204 Fürst 2017, 118. 205 Vgl. Fürst 2017, 118. Über diesen Gedanken lassen sich nicht nur Brücken zur Frage nach der imago dei (s. 3.1.2.1), sondern auch zum Inneren Menschen (4.1) schlagen: Mit der Vorstellung des „Mensch-Mensch“ in hom. in Gen. 5,4 (homo homo im Gegensatz zu serpens homo oder equus homo, vgl. Fürst 2017, 118 f. mit einem ausführlichen Zitat der Passage) rekurriert Origenes auf den Einklang von äußerem und Innerem Menschen, der notwendig ist, um ein ‚bestialisches‘ Verhalten abzulegen und ein menschenwürdiges, gott ähnliches anzunehmen. 206 Vgl. Fürst 2017, 118.
134 4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung und die Tatsache, dass der Mensch ohne göttlichen Gnadenbeistand nicht in der Lage wäre, von seiner Freiheit Gebrauch zu machen.207 Auch im östlichen Mönchtum wurden die Frage der Willensfreiheit thematisiert, jedoch in einer gänzlich anderen Stoßrichtung als später in der Debatte rund um Augustin und Pelagius (s. u.): Cassians monastischen Lehrern ging es weniger um präzise Definitionen, als um ethische Konsequenzen. Auf der einen Seite wird die Notwendigkeit des Wollens und der willentlichen Anstrengung zum Heil herausgestellt, auf der anderen Seite wird stets betont, dass dies nur in Kooperation mit Gottes Gnade zu einem irgendwie gearteten Erfolg führen könne – auf diese Art konnte der superbia, dem Stolz auf die Eigenleistung (s. 4.2), Einhalt geboten werden.208 Ein etwas anders Bild, sowohl sprachlich als auch im Blick auf die theologische Akzentuierung zeigt sich im lateinischen Westen: Hier ist die Rede entweder von uoluntas oder arbitrium, teils ergänzt durch propositum. Voluntas bezeichnet das Streben, während arbitrium das Entscheidungsvermögen bzw. den Prozess der Entscheidung bezeichnet.209 Dabei zeigt sich die uoluntas als der abstraktere, übergeordnete Begriff, der das Grundvermögen des Menschen bezeichnet und der das konkretere arbitrium beeinflusst. Dies lässt sich hervorragend an einer Formulierung Cassians zeigen: liberae uoluntatis arbitrio (365,12 f. u.ö.) – die uoluntas (Wille) drückt sich, so sie denn frei ist, in der Ausübung des arbitrium (Entscheidung) aus. Noch eine Ebene tiefer ist das propositum anzusiedeln, das einen ganz konkreten, vom arbitrium unter Leitung der uoluntas getroffenen, Handlungsvorsatz beschreibt.210 T heologische Brisanz entwickelt die Frage nach dem menschlichen Willen und seiner (Un-)Freiheit im Streit zwischen Augustin und Pelagius (bzw. dessen Schülern). Dieser Streit, der 411 n. Chr. in Karthago ausbricht, wird im Südgallien der 420er Jahre mit neuer Schärfe fortgeführt und in der Forschung häufig unter der irreführenden Bezeichnung ‚Semipelagianischer Streit‘ behandelt,211 207 Vgl. Fürst 2017, 124 f. Jedoch: „Diese Dialektik von Gnade und Freiheit bestimmte Origenes nicht näher, weil menschliches Erkennen hier an seine unüberwindliche Grenze stößt“ (aaO., 126). 208 Vgl. mit Verweis auf Athanasius, V. Anton. 20 und „all the sources of the Egyptian desert“ Chadwick 1968, 110 f., auch Stewart 1998, 78 betont, wie stark diese Position Cas sians Argumentation geprägt hat. 209 Vgl. Ch. Horn 2005, 768 und Georges 2013, 414 f.5065. 210 Vgl. Georges 2013, 3907 f. 211 Irreführend ist diese Bezeichnung deshalb, da sie impliziert, dass jede Kritik an Augustin mit einer Zustimmung zum Standpunkt des Pelagius verbunden sein muss und andersherum. Die Diskussion, an der sich auch Cassian so lebhaft beteiligt, war jedoch um einiges eigenständiger und komplexer und entzündete sich an drei Fragen, die für die vielfältige monastische Landschaft rund um Marseille und Lérins von zentraler Bedeutung waren: Erstens wie der Anfang des Glaubens beschrieben werden kann, zweitens wie Prädestination zu denken ist und drittens, ob Gottes Rettungswillen nur einigen oder allen Menschen gilt (vgl. Heil 2007, 558 f.). Leyser 2009, 761 f. verweist neben den genannten in-
4.4 Wille und Gnade
135
sodass das nachfolgend Dargestellte als direkte Überleitung zur Analyse der Col lationes zu verstehen ist. Augustins Werk beinhaltet keine systematische Darstellung zum T hema des menschlichen Willens, sondern verhandelt es situationsgebunden in verschiedenen Zusammenhängen. Zudem ist eine deutliche Entwicklung seines Standpunktes zu beobachten:212 Während Augustin in De libero arbitrio (387–395 n. Chr.) noch von der Freiheit des Willens überzeugt ist,213 wandelt sich seine Einschätzung etwa ab dem Zeitpunkt seiner Bischofswahl (396 n. Chr.).214 In Ad Simplicianum beginnt er anhand einer Auslegung von Röm 9, eine Vorstellungswelt aus Universalität der Sünde, dadurch unfreiem Willen und der daraus folgenden unbedingten Notwendigkeit einer Prädestinationslehre zu entwickeln.215 Ebenfalls eine Auslegung des Römerbriefs, diesmal Röm 7, führt Augustin in Confessiones 8 dazu, den menschlichen Willen aufgrund der Erbsünde als unheilbar zerrissen darzustellen – er geht soweit, von (mindestens) zwei Willen, einem guten und einem bösen, auszugehen.216 Ohne vorausgehende göttliche Hilfe ist dieser gespaltene Wille nicht in der Lage, sich in irgendeine, geschweige denn die richtige, Richtung zu bewegen.217 Die Gegenposition zu Augustin wird von Pelagius, einem aus Britannien stammenden und in Rom lebenden und lehrenden Asketen, vertreten.218 Anlass haltlichen Aspekten zudem darauf, dass es sich bei „Semipelagianismus“ um eine anachronistische Bezeichnung aus dem späten 16. Jh. handelt, die versucht, Prozesse der Spätantike zu kategorisieren, und dabei deren Dynamik übersieht. 212 Vgl. Djuht 2009, 881 und Mühlenberg 2011, 451 f. Augustins vielfältige Positionierung zum T hema kann hier lediglich im Blick auf die zentralsten Punkte präsentiert werden, ausführlich vgl. z. B. Karfiková 2012. 213 Z. B. Augustin, lib. arb. 2,3 (128 Brachtendorf): si enim homo aliquod bonum est et non posset, nisi cum uellet, recte facere, debuit habere liberam uoluntatem, sine qua recte facere non posset. 214 Diesen Wendepunkt in Biographie und Lehre Augustins begründet Leyser 2009, 763 folgendermaßen: „Augustine’s writings on predestination in the last years of his life must be understood in the context of his determination, manifest throughout his career as a bishop, to combat spiritual elitism.“ 215 Z. B. Augustin, Simpl. 1,2,21 (CCSL 44, 53,740–742 Mutzenbecher): liberum uolun tatis arbitrium plurimum ualet, immo uero est quidem, sed in uenundatis sub peccato quid ualet?; vgl. Wetzel 2009, 798 f. Zum dramatischen Bruch, den Ad Simplicianum in Augustins Gesamtwerk bzgl. der Gnadenlehre darstellt vgl. Drecoll 2007b, 488–492. Prädestination bedeutet für Augustin – im Unterschied zu dem zuvor über das Vorwissen bei Origenes Dargestellten –, dass Gott vor aller Zeit eine Gnadenwahl trifft und so über die Erlösung des Menschen entscheidet, vereint also ein reines Vorherwissen und eine zusätzliche Vorherbestimmung (vgl. Evans 1997, 111). 216 Augustin, conf. 8,5,10 (CCSL 27, 120,17–19 Verheijen): ita duae uoluntates meae, una uetus, alia noua, illa carnalis, illa spiritalis, confligebant inter se atque discordandodissipa bant animam meam. 217 Vgl. Horn 2007, 485–487. 218 Vgl. TeSelle 2009, 633. Eine umfassende Darstellung der Standpunkte des Pelagius und seiner Schüler (mit Betonung der Tatsache, dass es sich hierbei um verschiedene T heo-
136 4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung dessen, was später ‚Pelagianischer Streit‘ genannt wird, ist die Frage der Notwendigkeit der Kindertaufe und davon ausgehend die Frage der Ur- und Erbsünde, woran, wie oben gezeigt, die Fragen nach freiem oder unfreiem Willen sowie Gnade und Erwählung Gottes, hängen. Urheber dieses Streites, der mit der Verdammung des Namensgebers endet, ist der Pelagius-Schüler Caelestius.219 Pela gius selbst pflegte zunächst einen höflichen Briefwechsel mit Augustin.220 Das Verhältnis der beiden begann sich erst 415 n. Chr. zu verschlechtern, als Augustin mit De natura et gratia kritisch auf Pelagius’ Schrift De natura reagierte, in der dieser die T hese aufgestellt hatte, dass der Mensch sündlos sei und dass die Gnade Gottes sich darüber hinaus in der Wahlfreiheit des Menschen abbilde.221 Auf der Synode von Diospolis (415 n. Chr.) versuchte Pelagius daraufhin, sich zu verteidigen, indem er sich von Caelestius distanzierte.222 Trotzdem wurde er 417 n. Chr. exkommuniziert.223 Als Reaktion darauf verfasst er seinen Libellus fidei, der sich nach wie vor deutlich dafür ausspricht, dass es dem Mensch möglich sei, aus eigenem Antrieb nach der Gnade Gottes zu greifen.224 In Fragen der Willensfreiheit schlägt Pelagius nun einen moderateren Ton an, hält aber daran fest, dass der Mensch sowohl die Freiheit zum Sündigen, als auch die Freiheit zum Nichtsündigen besitze.225 Pelagius wird daraufhin durch Papst Zosimus rehabilitiert, diese Rehabilitation wird von den afrikanischen Bischöfen unter Führung Augustins jedoch so vehement angefochten, dass Pelagius 418 n. Chr. erneut verurteilt wird.226 Eine Zuspitzung erfährt die augustinische Gnadenlehre in De correptione et gratia (426/7 n. Chr.), einer Antwort auf Bedenken, die aus dem nordafrikanischen Kloster Hadrumetum gegenüber De gratia et libero arbitrio (426/7 n. Chr.) laut geworden waren und die den Sinn von Strafen und Ermahnungen bzw. mologen mit je unterschiedlicher Akzentsetzung handelt), zugeschnitten auf Cassians spätere Stellungnahme dazu findet sich in Casiday 2007, 74–94. 219 Vgl. Drecoll 2007a, 179. 220 Vgl. Löhr 2007, 183. 221 Z. B. Augustin, nat. et gr. 3,3 (CCSL 60, 235,8–16 Urba / Zycha): natura quippe homi nis primitus inculpata et sine ullo uitio creata est; natura uero ista hominis, qua unusquisque ex Adam nascitur, iam medico indiget, quia sana non est. omnia quidem bona, quae habet in formatione, uita, sensibus, mente, a summon deo habet creatore et artifice suo. uitium uero, quod ista naturalia bona contenebrat et infirmat, ut inluminatione et curatione opus habeat, non ab inculpabili artifice contractum est, sed ex originali peccato, quod commissum est libero arbitrio. ac per hoc natura poenalis ad uindictam iustissimam pertinet.; vgl. Löhr 2007, 184. 222 Vgl. Löhr 2010, 64–70. 223 Vgl. Löhr 2007, 184–186. 224 Pelagius, Libellus fidei 13 (PL 45, 1718): Liberum sic confitemur arbitrium, … nos vero dicimus, hominem semper et peccare, et non peccare posse; ut semper nos liberi confiteamur esse arbitrii. 225 Vgl. Löhr 2007, 186 f. Diesen Gedanken führt Pelagius in seiner Epistula ad Deme triadem (FC 65 Greshake) weiter aus und verbindet ihn hier explizit mit Aspekten eines asketischen Lebens; vgl. auch Casiday 2007, 86 f. 226 Vgl. Löhr 2007, 187.
4.4 Wille und Gnade
137
nastischem Bemühen im Allgmeinen, wenn doch ohnehin alles allein Gottes Gnadenwerk sei, hinterfragten.227 Augustin hält dieser Position gegenüber fest, dass zwischenmenschliche Zurechtweisungen Teil des durch Vorsehung bestimmten göttlichen Gnadenhandelns seien und den Willen des Zurechtgewiesenen so nötigenfalls in die richtige Richtung lenken könnten.228 Die Diskussion um Willensfreiheit und göttliche Gnade, deren Anfänge hier nur in groben Zügen skizziert werden konnten, wird in der südgallisch-monastischen Landschaft fortgeführt, dabei ist jedoch zu beobachten, dass „[t]he monks of Southern Gaul, undoubtedly more learned than their African confrères in Hadrumetum [s. o.], whose disturbance hardly ranks as a controversy, found that some of Augustine’s assertions on the question of grace were intransigent and unacceptable“229.
Auch wenn diverse andere Akteure beteiligt waren, kann doch Cassian als der „Star“230 der südgallischen Positionierungen zum T hema gelten: Oft wurde coll. 13 (s. u.) als direkte Antwort auf Augustins De correptione et gratia verstanden.231 Das ist aber, wenn man den zweiten Block der Collationes anhand von Honoratus’ Bischofsherrschaft auf 426 datiert (s. 2.3.2.2), unwahrscheinlich, denn dann hätte Cassian etwa zwei Jahre vor Augustin geschrieben. O. Chadwick versuchte 1945 dieses Problem durch eine Revision der Bischofslisten zu lösen,232 A. M. C. Casiday hält es hingegen für wahrscheinlicher, dass coll. 13 bereits zwei Jahre im Umlauf war, bevor Prosper Tiro von Aquitanien (s. u.) sie zur Kenntnis nahm und an Augustin weiterleite.233 Das würde bedeuten, dass Augustin mit corrept. nicht nur den Mönchen von Hadrumetum, sondern auch – wenigstens indirekt – Cassian geantwortet hätte. Eine weitere – rezeptionsgeschichtlich folgenreiche – Antwort auf Cassians Positionierung verfasste Prosper Tiro von Aquitanien mit Contra collatorem (432 227 Vgl. Ogliari 2003, 70–72. Dieser Auseinandersetzung geht ein Konflikt über die augustinische Gnadenlehre anhand mehrerer Briefe voraus (vgl. Weaver 2009, 411 f.) 228 Z. B. Augustin, corrept. 9 (CSEL 92, 227,30–34 Folliet): qui si correptione compunctus salubriter ingemit, et ad similia bona opera uel etiam meliora reuertitur, nempe hic apertis sime utilitas correptionis apparet. sed per hominem correptio siue ex caritate sit siue non sit, tamen ut correpto prosit, non nisi per deum fit. ; vgl. Lössl, 2007, 341. 229 Ogliari 2003, 91. Dieses Zitat verdeutlicht einerseits erneut, wie unzutreffend die Bezeichnung ‚Semipelagianismus‘ ist, da es in Südgallien zu einer durchaus eigenständigen Reaktion auf Augustin kommt. Zum anderen ist m. E. bemerkenswert, dass D. Ogliari hier herausstellt, dass die Reaktion des südgallischen Mönchtums als Erweis eines gewissen Bildungsgrades gesehen werden kann, so auch die Formulierung, dass der Widerstand gegen Augustin sich v.a. aus Kreisen einer „religious élite“ (aaO., 106) entwickle. 230 Ogliari 2003, 118. 231 Vgl. Casiday 2007, 112 f. 232 Indem er einen nicht näher bestimmten „Euladius“ vor Honoratus einfügt (vgl. Casiday 2007, 113). 233 Vgl. Casiday 2007, 112–115.
138 4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung n. Chr.).234 Dabei fällt Cassians Name nie,235 die Intention Prospers ist jedoch unmissverständlich:236 „Demnach hat ein gewisser priesterlicher Mann [= Cassian], der in der Diskussion jene übertrifft, mit denen er lebt, ein Buch, das den Titel De protectione Dei [= coll. 13] trägt, herausgegeben, in dem er einen gewissen Abbas einführt, der die Gnade Gottes und den freien Willen erörtert; es wird deutlich, dass jener [= Cassian] selbst [diese] Meinung gutheißt und unterstützt: So ist jetzt nicht jener [Abbas] unsere Aufgabe, der zufällig seine so beschaffenen Meinungen entweder bestreitend zurückweisen oder korrigierend auflösen würde, sondern dieser, der zum Instrument der Feinde der Gnade Gottes wird, weil er bemüht ist, eine so beschaffene Lehre vorzubringen.“237
Prospers, hier nur durch ein einzelnes Beispiel belegtes, harsches Urteil über Cassian sollte weitreichende Folgen haben: Auf der Synode von Orange (529 n. Chr.) wurde die in Marseille vertretene Vorstellung einer aktiven Mitwirkung zum eigenen Heil verurteilt und eine augustinische Erbsündenlehre angenommen.238 Dies hatte zur Folge, dass Cassian im Westen vorerst nicht der Rang eines Heiligen zuerkannt wurde und dass sein Werk zudem im Decretum Gelasia num de libris recipiendis et non recipiendis als apokryph erklärt wurde.239 4.4.2 Wille und Gnade in den Collationes Bevor nun Cassians Position in der Frage nach Wille, Gnade und Erwählung im oben beschriebenen Konflikt verortet werden kann und zu fragen ist, wie sich diese Ergebnisse auf Cassians monastisches Bildungskonzept auswirken, sollen zunächst die Collationes einer gründlichen Untersuchung zur Verwendung von uoluntas240 unterzogen werden. Vorliegende Untersuchungen zur Frage nach 234 Darüber hinaus sind drei Briefe von Prosper und einem nicht näher zu bestimmenden Hilarius an Augustin überliefert, die alle in ähnlicher Weise Cassian bezichtigen, Urheber einer antiaugustinischen Irrlehre zu sein. Augustin antwortet auf diese Briefe mit den Schriften De praedestinatione sanctorum und De dono perseverantiae (vgl. Stewart 1998, 20). 235 In vergleichbarer Art und Weise verfährt Cassian mit seinen theologischen Gegnern (s. u.). 236 Ausführlich zum Verhältnis zwischen Prosper und Cassian s. Hwang 2010. 237 Übersetzung DS; Prosper Tiro von Aquitanien, c. coll. 2,1 (PL 51, 218) Igitur in libro cujus praenotatio est, de Protectione Dei, vir quidam sacerdotalis, qui disputandi usu inter eos, quibus cum degit, excellit, abbatem quemdam introducit de gratia Dei et libero arbitrio disserentem, cujus se per omnia probasse ac suscepisse ostendit sententiam: ut jam non cum illo nobis sit negotium, qui forte tales opiniones suas aut negando refutaret, aut corrigendo dilueret; sed cum isto, qui ad instrumentum inimicorum gratiae Dei, talem studuit proferre doctrinam. 238 Vgl. Macqueen 1977, 8 f. 239 Vgl. Stewart 1998, 21; decr. Gel. 5,7 (TU 38/4, 57,322 von Dobschütz): opuscula Cas siani presbyteri Galliarum apocrypha. 240 Diesen Begriff nutzt Cassian in den Collationes 154 mal, während die konkrete Entscheidungsfindung der uoluntas, das arbitrium, 92 mal genannt wird. Für die Frage nach monastischer Bildung ist primär die uoluntas als anthropologische Grundvoraussetzung,
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Wille und Gnade bei Cassian neigen dazu, sich auf eine mehr oder weniger vollständige und meist kontextlose Zitatensammlung aus coll. 13 zu beschränken.241 Da dies m. E. zu kurz greift, wird coll. 13 hier an das Ende der Untersuchung gerückt (4.4.2.4). Zuvor werden die Belegstellen aus den übrigen 23 Collationes in drei thematischen Kategorien gesammelt, um so zum einen der 13. Collatio einen Rahmen zu geben und zum anderen, zu untersuchen, in welchen weiteren Argumentationszusammenhängen der Willensbegriff zum Tragen kommt. Dabei ist die erste Kategorie im Grunde eine Negativkategorie, da sie mit „Die Abtötung des Eigenwillens“ überschrieben ist und eine Nützlichkeit des menschlichen Willens auf dem Weg zur Vollkommenheit ablehnt (4.4.2.1). Als zweites wird der menschliche Wille im Spannungsfeld von göttlichen und dämonischen Einflüssen untersucht (4.4.2.2). Die dritte Kategorie stellt die Untersuchung der uoluntas in Abhängigkeit und Zusammenspiel mit anderen anthropologischen Voraussetzungen dar (4.4.2.3). 4.4.2.1 Die Abtötung des Eigenwillens Die Abtötung (mortificatio) des Eigenwillens wird in coll. 3,1 erstmals als Ziel monastischer Bemühungen formuliert, hier jedoch nicht weiter ausgeführt. Das geschieht erstmals und umfassend in coll. 16, um in coll. 18 f. im Kontext der verschiedenen monastischen Lebensformen (s. 5.2.2) weiter ausgeführt zu werden. Auf Grund der bis dahin eher schmalen Beweislage recht überraschend, wird die Abtötung des Eigenwillens am Ende von coll. 24 als finales Ziel der gesamten Collationes stilisiert. Coll. 3 behandelt die Abtötung des Eigenwillens in der Rahmenerzählung, nicht in der Unterredung im engeren Sinne. Hier schreibt Cassian sie Abbas Paphnutios als monastische Tugend schlechthin zu, die durch das Einüben von Demut und Gehorsam ausgelöst wurde und die Auslöschung aller Laster und damit die Vollkommenheit nach sich zieht.242 Der Text unterstreicht durch die symmetrische Wortstellung die Schlüsselfunktion der mortificatio: Während humilitas und oboedientia die eine Bildhälfte darstellen, befinden sich auf der anderen Seite (das Auslöschen der) vitia und (der Erwerb der) uirtutes. Die erste Bildhälfte beschreibt den aktiven und initiativen Part des Mönchs, die zweite Bildhälfte hingegen den passiven, verinnerlichten Teil, der ein göttliches Zutun erfordert. Der Übergang von der einen auf die andere Bildhälfte wird durch die es zu formen bzw. erfolgreich zu nutzen, gilt, von Interesse. Dennoch wird aufgrund der engen Verbindung der beiden Begriffe hin und wieder auch das arbitrium in die Betrachtung einbezogen. 241 Eine positive Ausnahme stellt Casiday 2007 dar, auch er beurteilt den alleinigen Fokus auf coll. 13 kritisch: „… the famous (or notorious) Conference 13.“ (AaO. 100). 242 humilitatis namque et oboedientiae disciplina omnes suas mortificans uoluntates et per hanc extinctis uniuersis uitiis cunctisque uirtutibus consummatis (68,6–8).
140 4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung die mortificatio des Eigenwillens, deren Urheberschaft – noch menschlich oder schon göttlich – damit anzufragen ist, markiert. Coll. 16 illustriert, wie sich die Abtötung des Eigenwillens konkret ausgestalten kann. Hier wird sie im Kontext von zwischenmenschlicher Freundschaft wie folgt beschrieben: Eine gelingende Freundschaft fußt auf similitudo uirtutum (440,21), die voraussetzt, dass eine Verschiedenheit von Wünschen oder eine Gegensätzlichkeit des Wollens abgelegt wird.243 Dieser harmonische Zustand kann nur erreicht werden, indem der Eigenwille abgetötet wird. Die Abtötung des Eigenwillens wird in dieser Collatio als eine Folge des Ablegens von Lastern dargestellt, womit die Reihenfolge von coll. 3 verändert wird.244 Das Ziel, dem die mortificatio des Willens nun dient, ist hier neubestimmt als harmonisches Zusammenleben (mental, nicht unbedingt lokal) mit den Brüdern.245 Diese Überlegungen werden in coll. 16,4–6 weiter ausgeführt, wobei coll. 16,5 einen Aspekt, der in coll. 16,3 bereits anklingt, vertieft: Dem Willen (uoluntas 442,11) wird hier der Vorsatz (propositum 442,11 f.) als weitere anthropologische Ebene beigeordnet. Coll. 16,6 gibt Zeugnis von Cassians durchaus kreativem Umgang mit der Schrift: Gelingende monastische Freundschaft heißt, nicht dem eigenen Willen, sondern dem Willen des Bruders zu dienen – eine geschickte Collage der Bruderliebe der Apostelgeschichte mit Joh 6,38.246 Gerade das Zitat von Joh 6,38247 weist darauf hin, dass hinter aller menschlicher Willensabtötung ein anderer, größerer Wille steht. Die Überlegungen, die Cassian Abbas Joseph in coll. 16 anstellen lässt, kommen in coll. 18 f. zur Anwendung: In coll. 18,7 heißt es, dass das größte Problem der Sarabaiten248 sei, dass sie auch hinter Klostermauern noch ihrem Eigenwillen frönen und sich nicht den Vätern unterordnen könnten bzw. wollten.249 Dies gipfelt in der Feststellung, dass – neben einer Vielzahl anderer Vergehen 243 cuius semel initum foedus nec desideriorum uarietas nec contentiosa disrumpet con trarietas uoluntatum (440,26 f.) Im weiteren Verlauf der Collatio noch weiter zugespitzt: et idcirco in his tantum indisrupta potest dilectio permanere, in quibus unum propositum ac uoluntas, unum uelle ac nolle consistit (441,17–19). 244 festinandum est uobis, ut expulsis primitus uitiis mortificetis proprias uoluntates (441,20–22). 245 apud deum namque morum cohabitatio, non locorum, unita fratres habitatione co niungit, nec potest umquam pacis integritas custodiri, ubi uoluntatum diuersitas inuenitur (442,1–4). 246 Vgl. Ziegler 2014, 178. 247 „Denn ich bin vom Himmel gekommen, nicht damit ich meinen Willen tue, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.“ 248 Zu dieser verachtenswerten Mönchsklasse s. 5.2.2. 249 illi autem qui districtionem ut diximus coenobii declinantes bini uel terni in cellulis commorantur, non contenti abbatis cura atque imperio gubernari, sed hoc praecipue pro curantes, ut absoluti a seniorum iugo exercendi uoluntates suas ac procedendi uel quo pla cuerit euagandi agendiue quod libitum fuerit habeant libertatem, etiam amplius in operibus diurnis quam hi qui in coenobiis degunt diebus ac noctibus consumuntur, sed non ea fide eodemque proposito (514,18–25).
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– es schließlich die Lauheit des Eigenwillens sei, der sie in die Hölle stürzen lässt.250 Vorbildlich sind hingegen die Koinobiten, deren vornehmstes Ziel ( finis 542,14, s. 6.1) es ist, ihren Eigenwillen zu töten. Diesen Vorgang rückt Cassian in coll. 19,8 in die Nähe von Mt 6,34251 (…nihil de crastino cogitare 542,16), wodurch dem Eigenwillen die negative Bedeutungsebene des mangelnden Gottvertrauens und einer übergroßen Sorge um das eigenverantwortete Fortkommen hinzugefügt wird. Dieser Gedanke wird am Ende der finalen Collatio wieder aufgenommen: Nachdem Abbas Abraham in coll. 24,26 zunächst darüber spricht, dass das Verlassen der Heimat und der Familie zu einem Aufgehobensein in einer universalen Familie von Brüdern (s. o. zu coll. 16) führt, wird schließlich das Klammern an weltlichen Besitz und das gegenwärtige Leben mit dem Beharren auf den Eigenwillen verglichen.252 Es ist Aufgabe jedes Mönches, Begierden und Eigenwillen aus der Seele zu entfernen und zu töten (ab anima sua subtraxerit ac morti ficauerit 709,12 f.). Eine derart plastische Umschreibung des Umgangs mit dem Willen begegnet erstmalig hier, kurz vor Ende der Collationes, und wird sogleich um Zitate von Jes 58,3 und 58,13 f. ergänzt.253 Die beiden Jesaja-Zitate zielen darauf ab, die Unvereinbarkeit von ‚richtigem‘ Gottesdienst und ‚richtigem‘ Erfüllen des göttlichen Willens mit einem Durchsetzen von Eigeninteressen abzubilden. Ergänzt werden sie um das bereits bekannte Zitat von Joh 6,38 (s. o. zu coll. 16), das auch hier zu einem Erfüllen des göttlichen, nicht des eigenen Willens aufruft – und damit die Abtötung des Eigenwillens zum Kriterium der Christusnachfolge macht. 4.4.2.2 Menschlicher Wille, göttlicher Wille und dämonischer Wille Weit häufiger als die Aufforderung zur Abtötung des Eigenwillens begegnet die Darstellung des menschlichen Willens als Spielball zwischen göttlichen und dämonischen Einflüssen. Dabei ist der offensichtlich schnell beeinflussbare Wille 250 hos arbitrii sui tepor ad inferna demergit (516,2 f.) Hier scheint Cassian uoluntas und arbitrium synonym zu benutzen. 251 „Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.“ 252 perditio nostra est oblectatio uitae praesentis et ut expressius dicam exsecutio deside riorum uoluntatumque nostrarum (709,10–12). 253 Jes 58,3 „Wie kommt es, dass wir gefastet haben, und du hast es nicht gesehen? Dass wir unsere Seelen gedemütigt haben, und du hast es nicht gemerkt? Denn an den Tagen eures Fastens erfüllt ihr euch eure Wünsche und treibt (auch) alle eure Abhängigen an.“ Jes 58,13 f. „Wenn du von den Sabbaten deinen Fuß fernhälst, an diesem heiligen Tag deinen Wünschen nachzugehen, und du die Sabbate ‚Freudenvoll‘ nennen wirst, ‚Heilige deinem Gott‘ (dann) wirst du deinen Fuß nicht zur Arbeit erheben und aus deinem Mund kein Wort im Zorn sprechen und du darfst voll Vertrauen auf den Herrn sein, und er wird dir zu den guten Dingen des Landes verhelfen und dich mit dem Erbe deines Vaters Jakob nähren; denn der Mund des Herrn hat dies gesprochen.“
142 4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung Urheber guter und schlechter Gedanken, die wiederum Entscheidung und Handlung des Menschen und damit sein spirituelles Fortkommen bestimmen. Bereits in coll. 1 wird dieser T hemenkomplex durch eine Frage des Germanus eingeführt: In coll. 1,16 fragt er Abbas Moyses, wie es sein könne, dass gegen seinen Willen Gedanken in seinen Geist eindringen (irrepere 26,9). Er stellt fest, dass es nicht nur schwer sei, sie zu vertreiben (expellere 26,9), sondern dass die erste Schwierigkeit sei, sie überhaupt zu erkennen (intellegere ac deprehendere 26,10), da der menschliche Geist ihnen beständig ausgesetzt sei. Dieser Auftakt zum zweiten T hemenkomplex bietet zwei neue Erkenntnisse: Zum einen wird der menschliche Wille in der mens, nicht in der anima (s. o.) verortet, wodurch er eine rationalere Facette zeigt. Zum anderen hingegen scheinen sich die Vorgänge, in die der menschliche Wille eingebunden ist, einer rationalen Wahrnehmung zu entziehen, da es zu einem Eindringen fremder Gedanken ohne das Wissen des betroffenen Mönches kommen kann. Diese Wahrnehmung wird wenig später von Abbas Moyses verifiziert und erläutert: In coll. 1,19 stellt er dar, dass die Gedanken, die im Mönch anzutreffen sind, drei Ursprünge haben können. Entweder kommen sie von Gott, vom Teufel oder vom Menschen selbst (id est ex deo, ex diaboli et ex nobis 27,28 f.).254 Alle drei Gedankenströme haben eine Vielzahl von Funktionen und Ursachen, für den hier zu untersuchenden Zusammenhang ist aber vor allem der göttliche Wille von Bedeutung, da er hilft, den menschlichen Vorsatz und Willen (propositum uoluntatemque 28,4 f.) auf bessere Taten (ad meliores actus 28,5) auszurichten. Diese Funktion, die Abbas Moyses als letzte in einer langen Reihe von Funktionen göttlicher Gedankeneinflüsse nennt, wird als einzige der Funktionen mit einer Vielzahl biblischer Beispiele belegt, sodass die göttliche Einflussnahme mit dem Ziel, den menschlichen Willen zum Guten zu wenden, ein besonderes Gewicht bekommt.255 Ein aufschlussreicher Exkurs zum T hema menschlicher Wille findet sich in coll. 4,13 f.: Hier betont Abbas Daniel, dass die uoluntas keine ausschließlich anthropologische Voraussetzung sei, sondern dass auch Dämonen und unreine Geister sich mit ihr herumschlagen müssten. Dämonen und unreine Geister werden als gefallene Engel (de eminentiore angelorum ordine deuoluti 109,13 f.) beschrieben, die im Gegensatz zum Menschen keinen fleischlichen Leib haben, der sie daran hindern würde, ihren Willen sofort und uneingeschränkt umzusetzen. Damit haben diese, anders als der Mensch, keine Entschuldigung für ihre mala uoluntas (109,25), was zur Folge hat, dass sie keine Vergebung erfahren können. Dieser Exkurs schafft es, dem sonst oft als problematisch dargestellten Konflikt zwischen Wille und Fleisch eine positive Wendung zu verleihen, die in coll. 4,15 ausgeführt wird: Der dem Menschen eigene Wettstreit von Geist und 254 Hier ist eine offensichtliche Parallele in coll. 4,3 f. (s. 4.2.1) zu finden, die in vergleichbarer Weise auf den vielfältigen Urspung der Laster eingeht. 255 Est 6; Ps 85,9; Sach 1,14; Joh 14,23; Mt 10,20; 2Kor 13,3. Alle diese Zitate zielen darauf, das Wirken Gottes / Christi im richtig handelnden Menschen deutlich zu machen.
4.4 Wille und Gnade
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Fleisch hat die Funktion eines diligentissimus paedagogus (110,6), indem er einerseits als Gewissen (conscientia 110,15) fungiert, das dem Willen hilft, extreme fleischliche Gelüste zu unterbinden, und zum anderen als Schutzfunktion gegen Hochmut dient, indem das immer wiederkehrende Verfehlen des Fleisches, den Willen reu- und demütig hält. Coll. 4 zeigt, dass eine Trennung in Wille = gut und Fleisch = schlecht zu kurz greift: Das Beispiel der Dämonen beweist, dass auch und gerade der Wille allein, wenn er nicht durch das Fleisch gebunden ist, großen Schaden anrichten kann. Kritischer wird der menschliche Wille in coll. 7,8 bewertet: Hier argumentiert Abbas Serenus, dass es durchaus möglich wäre, die Täuschung des Teufels abzuwehren, wenn ihr nicht freiwillig zugestimmt würde.256 In dieser Collatio wird die Schuld für die eigene Lasterhaftigkeit nicht wie zuvor den angreifenden Dämonen oder der menschlichen Natur, die nicht anders kann als zu sündigen, sondern dem freien Willensentschluss (suae uoluntatis adsensum 190,14 f.), sich dem Teufel hinzugeben, zugeschrieben. Diese eindeutige Verfehlung des menschlichen Willens wird von Germanus in einer Rückfrage (coll. 7,9) relativiert. Er stellt fest, dass die Einmischung der Dämonen in die menschliche Gedankenwelt so subtil sei, dass es häufig schwerfalle zu unterscheiden, welche Gedanken auf äußere, dämonische Einflüsse zurückzuführen seien und welche dem eigenen Willen entsprängen (vgl. coll. 1,19). Dieses Phänomen findet seinen Höhepunkt in der Besessenheit, die soweit gehen kann, dass der Besessene nicht seine eigenen uoces et gestus uoluntatesque (191,19) zeigt, sondern die des ihm innewohnenden Dämons. Damit lässt coll. 7 die Frage, ob die uoluntas an sich schlecht sei bzw. sein könne oder ob ihre negativen Regungen immer auf eine (unbewusste) Besessenheit durch unreine Geister zurückzuführen sei, offen. Dieser Frage wird sich in coll. 8,6 angenommen: Abbas Serenus schließt aus, dass die uoluntas und die natura eines Menschen aus sich heraus schlecht sein könnten, da dies heißen müsste, dass der Schöpfer absichtlich Böses in die Welt gesetzt und der Mensch gar keine Möglichkeit, sich zum Guten zu wenden, hätte. Die Option, dass Gott den Menschen als schlecht geschaffen oder auch nur die Geistwesen von vornherein in ihrer Negativität gedacht hätte, wird hier mit dem Zitat von Gen 1,31 (omnia quae fecit deus, bona valde 222,11 f.) vehement ausgeschlossen, wodurch die grundsätzliche anthropologische Ausrichtung des Menschen zum Guten deutlich gemacht wird. Die göttliche Mitarbeit an der menschlichen Willensbildung wird in coll. 11 f. betont: In coll. 11,8 hebt Chaeremon hervor, dass die gute Tat nur dann von Wert ist, wenn sie freiwillig (uoluntarius 321,12)257 um des Guten (bonum 321,12) wil256 constat ergo neminem posse a diabolo decipi nisi illum, qui praebere ei maluerit suae uoluntatis adsensum (190,13–15). 257 Die Freiwilligkeit, die Voraussetzung für gute Taten ist, wird erneut in coll. 21,29 thematisiert und mit dem Zitat von Hebr 7,19 („denn das Gesetz brachte nichts zur Vollendung –, und eingeführt wird eine bessere Hoffnung, durch die wir Gott nahen.“) begründet.
144 4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung len und nicht aus Angst vor Strafe oder um einer zu erwartenden Belohnung willen, ausgeführt wird. Was sich hinter dem hier abstrakt Guten verbirgt, erläutert er in coll. 11,9: Das Gute, nach dem der menschliche Wille sich ausrichten kann, ist die Erkenntnis und Befolgung des göttlichen Willens – fügt man sich ihm, kann man durch die willentliche Übereinstimmung zum Bild und Gleichnis Gottes (imago similitudoque 322,19 f.; s. 3.1.2.1) zurückkehren. Diese Collatio bezieht drei semantische Ebenen in den Willensbegriff ein: Erstens beinhaltet er die Motivation, die hinter einer monastischen Tat steht. Zweitens wird das Gute, nach dem der menschliche Wille sich ausrichten kann, als göttlicher Wille, in den es einzustimmen gilt, definiert. Und drittens ist es der Wille des Menschen, der über seinen Fortschritt zur Vollkommenheit, so man das Wiedererlangen der Gottebenbildlichkeit mit dem Ziel monastischer Bildung gleichsetzen will, entscheidet. 4.4.2.3 Der Wille und andere anthropologische Voraussetzungen Die dritte zu untersuchende Kategorie klingt bereits an, wenn im Zusammenhang von coll. 4 das Zusammenspiel bzw. das Gegeneinander von Wille und Fleisch im Unterschied zur ungebrochenen Macht des Willens bei den Dämonen besprochen wird (s. o.). In dieser dritten Kategorie gilt es zu klären, wo im Menschen der Wille anzusiedeln ist (über die bereits gefundenen Lokalisierungen hinaus, s. o.) und wie er mit anderen Regungen des Inneren Menschen zusammenhängt. Ganz klar antwortet Abbas Daniel in coll. 4,8 f. auf diese Frage, indem er den Willen zwischen Geist und Fleisch verortet, wodurch der Wille die dritte Komponente, die es im Kampf gegen die Laster zu berücksichtigen gilt, darstellt. Dabei ist der Wille selbst quasi willenlos, da er zwischen den Begierden der beiden anderen anthropologischen Komponenten schwankt bzw. zerrieben zu werden droht.258 Anders formuliert coll. 4,12, dort heißt es, dass der Wille sich in der Waage (statera 107,14) zwischen Fleisch und Geist befinde. Durch diese beständige Instabilität neigt der Wille zu einer mit Offb 3,15 f.259 begründeten Lauheit, da er weder allein an den Lastern Freude finden kann, noch allein in den TugenEin Dienst an Gott, der sich auf das im Gesetz Gebotene beschränkt, hat keinen Wert, da er nicht uoluntarie offerens (605,6) ist, d. h. keinen Eigenanteil des Menschen enthält. 258 tres enim res hic indicari uidentur, prima carnis aduersus spiritum pugna, secunda spiritus aduersus carnem concupiscentia, tertia uoluntas nostra, quae uelut media conloca tur, de qua dicitur: ut non quaecumque uultis illa faciatis. (coll. 4,8 103,4–8) nunc ergo opus est nobis, ut prius duarum concupiscentiarum uim, id est carnis et spiritus, agnoscamus, et ita demum quae uoluntas sit nostra, quae inter utraque posita est, discutere ualeamus, deinde quid possit uoluntatis nostrae non esse similiter discernamus. (coll. 4,9 103,25–104,2) 259 „15 Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach dass du kalt oder warm wärest! 16 Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.“
4.4 Wille und Gnade
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den Ruhe. Damit ist der Ursprung der Lauheit (tepor 106,18), deren Hinderlichkeit für die monastische Bildung wiederholt in den Collationes hervorgehoben wird, geklärt und mit der Willensthematik verknüpft.260 Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, was oben bereits im Kontext dämonischer Willensregungen aufgezeigt wurde: Der Zwischenexistenz des Willens zwischen Fleisch und Geist kann auch eine durchaus positive pädagogische Funktion in Form des Gewissens zugeschrieben werden. In coll. 6,4 verknüpft Abbas T heodor den Willen bzw. die Willensschwäche eng mit der Sündhaftigkeit des Menschen: Zunächst wird hier Sünde als Trennung von Gott (separatio a deo 158,7) definiert, um sodann auszuschließen, dass sie einem Menschen anders als durch seinen eigenen, beschädigten Willen (cor rupta uoluntas 158,12) und die Trägheit seines Herzens (cordis ignauia 158,12) zukommen kann. Bisher war stets die Rede von ‚dem‘ Willen, so als sei er etwas, das bei allen Menschen von ähnlicher Gestalt und Funktion sei. Mit dieser Annahme räumt Abbas Chaeremon in coll. 11,12 auf, indem er betont, dass nicht alle die Krone der Vollkommenheit (perfectionis corona 326,14) in vergleichbarer Gestalt erreichen könnten (s. 6.3), da nicht alle den gleichen Willen dazu mitbrächten. In dieser Aussage wird der Wille von zwei weiteren Faktoren, die beeinflussen, wie weit das Individuum sich der Vollkommenheit annähern kann, gerahmt: den Tugenden und dem Eifer (uirtus aut uoluntas aut feruor 326,15). Auch Gott nimmt in der Förderung des Individuums didaktisch durchdacht Rücksicht auf die jeweilige Gestalt des Willens und fördert bzw. fordert ihn durch je unterschiedliche Aspekte der Schrift (s. 5.5.2) zu unterschiedlichen Graden der Vollkommenheit (diversos perfectionum gradus 326,12) heraus. 4.4.2.4 Das Zusammenspiel von menschlichem Willen und göttlicher Gnade in coll. 13 Der Gesprächspartner von Cassian und Germanus in coll. 13 (De protectione dei) ist Abbas Chaeremon, der bereits coll. 11 (De perfectione) und coll. 12 (De castitate) bestritten hat. Obwohl es sich damit bei coll. 13 um die Fortsetzung eines Gesprächsgangs handelt, schaltet Cassian der Unterredung noch eine kleine ‚Zwischenrahmenhandlung‘ (s. 3.3) vor. In dieser betont er die Dringlichkeit der nachfolgenden Unterweisung: Im Nachgang der Unterweisung des vorigen Tages sieht Germanus sich in große Besorgnis (ingens scrupulus 362,14) gestürzt, da Chaeremon dort erläuterte, dass alles menschliche Mühen um das Gute nicht von Erfolg gekrönt werden könne, wenn nicht Gott sein munus (362,20) dazu gäbe. Die nachfolgende Rede des Chaeremon wird als spontane und dringliche (sogar das allmorgendliche Gebet mit Psalmengesang wird gekürzt, um Germa260
Vgl. Macqueen 1977, 17.
146 4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung nus und Cassian aus ihrer Ungewissheit zu befreien) Reaktion auf die Nachfrage, die Germanus in coll. 13,2 formuliert, dargestellt. Germanus zeigt sich entrüstet und empfindet es als ausgesprochen ungerecht, dass die mühsame Arbeit, die er auf dem Weg zur Vollkommenheit auf sich genommen hat, ohne Vergütung bleiben soll – er zieht den Vergleich zu einem Landwirt, der seine Ernteerträge in direkter Kausalität auf seine Anstrengungen zurückführen kann. Germanus fungiert an dieser Stelle einmal mehr als Reflektorfigur (s. 3.3) und verbalisiert Missverständnisse, die Cassian bei seinen Adressaten vermutet.261 Chaeremon macht gegenüber Germanus in coll. 13,3 deutlich, dass ohne göttliche Hilfe (adiutorium dei 363,9) alle Anstrengung vergeblich bleiben müssen. Eindeutig warnt er davor, sich einen eigenen Beitrag zur göttlichen Gnade anzumaßen – dies sei ein klares Indiz für eine Verstrickung in das Laster der super bia (363,22). Um diese Aussage zu unterstreichen, rekurriert Chaeremon wenig später auf die menschliche uoluntas: Diese sei zwar Urheberin der guten Taten, allerdings müsse berücksichtigt werden, dass sowohl der Anfang des geheiligten Willens (initia sanctae uoluntatis 364, 17) von Gott eingegeben (inspirare 364,17) sei, als auch die Kraft und Gelegenheit zur Durchführung auf ihn zurückgehe. Mit dieser Antwort ist Germanus nicht glücklich. In coll. 13,4 merkt er besorgt an, dass das die Vernichtung der freien Entscheidung nach sich zöge (ad destruc tionem liberi tendit arbitrii 365,8 f.). Sein Beispiel, dass es auch Heiden gäbe, die in Keuschheit lebten – und damit den Beweis brächten, dass ein gutes Leben auch ohne Gottes Zutun möglich sei –, wehrt Chaeremon in coll. 13,5 als albern (inep tus 365,20) ab, da die vermeintliche Keuschheit mancher Philosophen keinesfalls mit wahrer christlicher Enthaltsamkeit zu vergleichen sei. Wie sich Wille, menschliche Gebrechlichkeit (fragilitas 367,8.29), menschlicher Vorsatz (propositum 368,1) und göttliches Erbarmen (miseratio 368,2) am konkreten Beispiel des monastischen Lebens zueinander verhalten, erläutert Chaeremon in coll. 13,6: Selbst wenn der Mensch aufgrund einer guten Willensregung den Vorsatz fasse, Hunger, Durst, Schlafmangel und andauernde Arbeit auf sich zu nehmen, gäbe es doch eine in seiner Natur angelegte Gebrechlichkeit (deren Ursprung an dieser Stelle nicht erläutert wird), die ihn davon abhalte, das zu tun, was er eigentlich will – er könne den schönsten Plan nicht umsetzten, wenn er nicht von Gott die Kraft zur Ausführung (uirtus perficiendi 368,1) geschenkt (donare 368,2) bekomme. Coll. 13,7 beinhaltet eine offensichtliche Spitze gegen Augustins Prädestinationslehre:262 Gleich zu Beginn lässt Cassian Chaeremon eindeutig klarstellen, 261 Rebillard 1994, 205 spitzt diese Beobachtung im Sinne der in 4.3 angerissenen Debatte folgendermaßen zu: „Les objections de Germain à l’interprétation de T héonas ne sont pas très différentes de celles de Pélage.“ Bereits hier wird deutlich, dass Cassian Chaeremon gewiss keine „gnadenfeindliche“ Position (so der Vorwurf Prospers, s. o.) in den Mund legen wird. 262 Vgl. Goodrich 2012, 1223.
4.4 Wille und Gnade
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dass es Gottes Absicht (propositum dei 368,28) sei, alle Menschen zum ewigen Leben zu retten und niemanden sterben zu lassen. Diese Erwählung aller belegt er vierfach biblisch.263 Die (augustinische) Vorstellung, dass nur einige Menschen erwählt seien, bezeichnet Cassian hier als ingens sacrilegus (369,14) – wohlweislich ohne ihren Urheber namentlich zu nennen. Die Konsequenz einer Prädestinationslehre im augustinischen Sinne wäre, dass man dann auch annehmen müsste, dass nur einige sowohl mit der Ursprungs- als auch mit der aktuellen Sünde (originale vel actuale peccatum 370,4) beladen seien. In dem Konzept, das Cassian dagegenhält, kommt dem Willen des Menschen, sich retten zu lassen, eine immense Bedeutung zu: Zwar reicht der kleinste Funke (quantulacumque scintilla 369,1 f.) eines guten Willens, zur Not wird er sogar von Gott selbst im menschlichen Herzen entfacht, aber es braucht die uoluntas des Menschen zu seiner Rettung. Dies betont er abermals in coll. 13,8: Es reicht der kleinste Anfang (ortus 371,23) eines guten Willens, um von Gott gestärkt, erleuchtet und zum Heil angespornt zu werden. Coll. 13,9 ist in erster Linie eine Sammlung von Schriftzitaten,264 die belegen, dass Gottes Gnade und die Freiheit der menschlichen Entscheidung nur in Kooperation denkbar sind.265 Diese Kooperation entzieht sich allerdings der menschlichen Einsicht (humana ratio 372,7) und vollzieht sich manchmal auf verschlungenen Wegen. So wird plötzlich dem bereits ausgeführten Beispiel der Erweckung und Stärkung eines guten Willens ein negatives Gegenstück gegeben: Gott kann den Menschen nicht nur zum Heil führen, sondern ihn auch vom Weg zum Unheil wieder abbringen, indem er ihn von dem Willen, der ihn zur Sünde neigen lässt, befreit.266 Coll. 13,10 setzt die Sammlung von Schriftzitaten zur Frage nach Willensfreiheit und ihren Grenzen fort. Zwölf Schriftzitate werden gegeneinandergestellt, wobei immer ein Zitat, das die Freiheit (Prov 4,23), Kraft (Ps 118,112), Fähigkeit (Jes 52,2), Aufgabe (Mt 11,28), Motivation (1Kor 9,24) und Existenz (Phil 2,12) 263 1Tim 2,4: „[Gott], welcher will, dass alle Menschen gerettet werden und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.“ Mt 18,14: „So ist’s auch nicht der Wille bei eurem Vater im Himmel, dass auch nur eines von diesen Kleinen verloren werde.“ 2Sam (= 2Kön LXX) 14,14: „Denn dein Sohn ist tot, und wie man das Wasser, das ausgegossen wird auf die Erde, nicht wieder einsammeln kann, ebenso wenig gibt es Hoffnung für seine Lebenskraft. Und doch hat der König dies ersonnen, denjenigen (auch weiterhin) zu verstoßen, der von ihm verstoßen wurde.“ Ez 33,11: „Sage zu ihnen: ‚So wahr ich lebe‘ sagt der Herr, ‚ich will nicht den Tod der Gottlosen, wie (ich will), dass sich der Gottlose von seinem Weg abwendet und dass er lebt. Wendet euch von eurem Weg durch Abwendung ab! Weshalb sterbt ihr, Haus Israel?‘.“ 264 Röm 9,16; Phil 2,13, Eph 2,8 f, Jak 4,8, Joh 6,44, Ez 18,31. 265 nisi quod in his omnibus et gratia dei et libertas nostri declaratur arbitrii, quia etiam suis interdum motibus homo ad uirtutum adpetitus possit extendi, semper uero a domino indigeat adiuuari? (373,20–24). 266 peccare cupientibus explendae copiam subtrahat uoluntatis (372,13 f.)
148 4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung des freien Willens betont, einem Zitat, dass die Schwäche (Phil 4,7; Ps 140,3; Joh 6,44; Joh 3,27; Phil 2,13) bzw. Gebrechlichkeit des Willens (Ps 145,7) hervorhebt, vorausgeht. Die Intention hinter dieser Liste ist es nicht, eine der beiden Perspektiven (freier Wille vs. schwacher Wille, der nur in Abhängigkeit von göttlicher Gnade existiert) zur richtigen zu erklären, sondern die Dialektik beider Optionen und ihre Folgen für den Menschen aufzuzeigen. Um dies zu verdeutlichen, sei der Blick kurz auf das letzte Pärchen gelenkt: Im Philipperbrief können sowohl Belege für den freien Willen „schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern“ (Phil 2,12) als auch für seine Schwäche, bzw. Angewiesenheit auf Gott „Denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.“ (Phil 2,13) gefunden werden. Durch die kontextuelle Nähe dieser beiden Zitate ist besonders eindrücklich dargestellt, dass es kein ‚Entweder-Oder‘ ist, sondern dass der Mensch bewirkt, weil Gott wirkt und umgekehrt. Was hier anhand von Schriftzitaten, beinahe ohne Erklärung, dargeboten wurde, wird in coll. 13,11 von Chaeremon in eigene Worte gekleidet: Gnade und Wille sind indiscrete permixta atque confusa (375,23 f.), wobei die entscheidende Frage ist, wer den Anfang macht: Gott oder der Mensch? Dass diese Frage so nicht zu beantworten ist, erläutert Cassian an vier biblischen Beispielen: Der Anfang des Guten Willens kann nicht aus dem Menschen allein kommen, wie die Beispiele von Paulus (Apg 9) und dem Zöllner (Mt 9) belegen. Aber er kann auch nicht nur von Gott ausgehen, wie die Beispiele von Zacchäus (Lk 19) und dem Räuber am Kreuz (Lk 23) zeigen. Cassian zieht – nach einer Reihe weiterer biblischer Beispiele – die Schlussfolgerung, dass beide Positionen gleichermaßen korrekt und in ihrer Spannung anzunehmen seien. Sein Argument ist dabei nicht in erster Linie ein inhaltliches, sondern mehr ein um orthodoxen Frieden bemühtes: Denn würde einer der beiden Aspekte zu Gunsten des anderen fallen gelassen, würde dies an der ecclesiasticae fidei regula (377,19) rühren, was ausgeschlossen scheint. Was schon coll. 13,7 andeutet, führt coll. 13,12 aus: Die Frage nach Schöpfung und Sündenfall.267 Auch hier lässt sich wieder eine Reaktion auf Augustin vermuten: Der Mensch wurde, so Cassian, mit einem freien Willen geschaffen, der es ihm sowohl erlaube, Böses zu tun, als auch nach dem Guten zu streben. Letzteres sei in ihm seit der Schöpfung angelegt, ersteres erwarb er erst mit dem Sündenfall – allerdings ohne die ursprüngliche Fähigkeit, nach Gutem zu streben, dadurch zu verlieren.268 Die Bosheit der Menschen sei damit nicht in der Natur des Menschen angelegt, sondern allein seinem Willen zuzuschreiben.269 In Vgl. hierzu auch ausführlich coll. 23 (s. 4.3.2). concepit ergo Adam post praeuaricationem quam non habuerat scientiam mali, boni uero quam acceperat scientiam non amisit (378,18–20). 269 et ne forte hanc eorum caecitatem aliquis naturae, non uoluntati possit adscribere (379,7 f.). 267
268
4.4 Wille und Gnade
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der Natur eines jeden Menschen ist durch seine Geschöpflichkeit die Anlage zur Tugendhaftigkeit gegeben – diese braucht jedoch Gottes Hilfe, um zum Durchbruch zu gelangen.270 Als sei dies nicht Beweis genug für Cassians T hese vom freien Willen, verweist Cassian zusätzlich auf den Hirt des Hermas, der in mand. 6,2 die T heorie des guten und des schlechten Engels, die dem Menschen bei jeder Entscheidung zur Seite stünden, präsentiert.271 In dieser Entscheidung ist der Mensch aber nicht allein auf sich gestellt, sondern wird von Gottes Gnade unterstützt, wie Cassian Chaeremon in coll. 13,13 ausführen lässt. Der Gnade Gottes werden dabei vier Aufgaben am menschlichen arbitriium zugewiesen: cooperari, adiuuare, protegere und defendere (382,25– 383,1). Vom Menschen wird dabei erwartet, dass er zumindest den Ansatz eines guten Willens (conatus bonae uoluntatis 383,1 f.) zeigt, sodass Gott nicht in den Verdacht kommt, seine Gnade an Schlafende (dormienti 383,2) oder Träge (inerti 383,3) zu verschwenden, wodurch sie irrational (383,5) erscheinen würde. Dennoch ist und bleibt die Gnade Gottes ein Geschenk ohne Gegenleistung (gra tuitus 384,6), das durch keine menschliche Anstrengung verdient werden kann. Die göttliche Gnade hat dabei auch einen pädagogischen Aspekt, der immer dann zum Vorschein kommt, wenn ein Glaubender geprüft wird – exemplarisch hierfür ist Hiob. Mit Hilfe der matthäischen Heilungsgeschichten illustriert Cassian in einem zweiten Beispiel, dass das aus göttlicher Gnade gemachte Angebot manchmal freiwillig überboten werden müsse, um dem wahren Glauben Ausdruck zu verleihen. Das dritte Beispiel ist die Prüfung des Glaubens Abrahams in Gen 22, der u.a. als Beweis dient, dass nur der Wille solcher auf die Probe gestellt wird, deren Glaubensstärke sich der prüfende Gott gewiss ist.272 Coll. 13,14 schließt die Reihe der Exempel mit einem nichtbiblischen Beispiel, in dem das Wirken von Gnade und Gnadenentzug zur Prüfung des Gläubigen mit einer Amme verglichen wird, die ein Kleinkind das Laufen lehrt und es dabei immer ein bisschen weiter herausfordert, bis es den aufrechten Gang beherrscht. Am Ende von coll. 13,14 werden zwei Optionen des (monastischen) Fortschritts aufgemacht, die gleichwertig nebeneinanderstehen: Gott allein weiß und entschei270 dubitari ergo non potest inesse quidem omni animae naturaliter uirtutum semina beneficio creatoris inserta: sed nisi haec opitulatione dei fuerint excitata, ad incrementum perfectionis non poterunt peruenire (380,19–22). Diese Argumentation wird in coll. 23,12 (s. 4.3.2) fortgeführt und intensiviert. 271 adiacere autem homini in quamlibet partem arbitrii libertatem etiam liber ille qui dicitur Pastoris apertissime docet, in quo duo angeli unicuique nostrum adhaerere dicuntur, id est bonus ac malus, in hominis uero optione consistere, ut eligat quem sequatur. et idcirco manet in homine liberum semper arbitrium, quod gratiam dei possit uel neglegere uel amare (380,25–381,4). Dabei ist davon auszugehen, dass Cassian den Hirt des Hermas nicht als autoritativen Text, vergleichbar mit dem Rang der Bibel, versteht, ihn jedoch für durchaus nützlich, z. B. als Teil der Liturgie, erachtet (vgl. Tornau / Cecconi 2014, 5). 272 sed utique nec temptari eos iustitia domini permisisset, nisi parem in eis resistendi scisset inesse uirtutem, qua possent aequitatis iudicio in utroque merito uel rei uel laudabiles iudicari (386,28–387,3).
150 4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung det, wer es gerade nötig hat, von seiner Gnade getragen zu werden (gratiae suae gestet 388,24 f.) und wem es gerade eher hilft, sein liberae uoluntatis arbitrium (388,25) – durch Anfechtung – zu trainieren.273 Coll. 13,15 deutet diesen Sachverhalt als Erklärung dessen, was bereits in coll. 13,9 anklingt: Der Unerforschlichkeit bzw. Uneinsichtigkeit der göttlichen Wege und Wendungen für die menschliche ratio. Illustriert wird dies anhand verschiedener Berufungs- und Erwählungsgeschichten aus dem Neuen Testament: Manche werden gegen ihren Willen, allein aus Gnade (spontanea gratia 389,6) erwählt (praelegere 389,6), so z. B. Petrus und Paulus (389,5.10).274 Bei anderen ist der Wille bzw. Glaube Voraussetzung, wie anhand der Heilungserzählungen in Mt 8 f. erläutert wird. So wie in coll. 13,7 Kritik an Augustins Prädestinationslehre geübt wird, wird in coll. 13,16 Pelagius’ Position kritisch in den Blick genommen – allerdings auch wieder, ohne seinen Namen zu nennen. Cassian verwehrt sich dagegen, dass der freien Entscheidungskraft (liberum arbitrium 391,4) des Menschen ein so großes Potential zugetraut wird, dass man mit einer Zuteilung der göttlichen Gnade gemäß menschlicher Handlung rechnen könnte. Während die augustinische Meinung als sacrilegus (s. o.) bezeichnet wird, wird nun die pelagianische Ansicht, dass der Mensch sich göttliche Gnade verdienen könne, als infidelitas (391,7) gekennzeichnet. Illustriert wird dies erneut durch eine lange Reihe von Heilungsgeschichten, wobei besonders die letzte (Joh 5,8) die unüberbrückbare Differenz von dem, was der Mensch zu wollen vermag und dem, was die göttliche Gnade geben kann, deutlich macht: Der Gelähmte, der eigentlich nur ein finanzielles Almosen will, bekommt etwas, das seine Vorstellungskraft, und damit auch seine Möglichkeit, es überhaupt zu wollen, übersteigt: die Fähigkeit zu Laufen. Coll. 13,17 fasst die verschiedenen Wirkweisen Gottes am Menschen zum Heil noch einmal zusammen und benennt innumeri (393,1 – streng genommen sind es fünf): Bereits Wollende werden zu noch größerer Begeisterung entflammt (in citare flagrantiam 393,3), Unwillige werden angetrieben (conpellere 393,4), die Erfüllung bestehender guter Wünsche wird unterstützt (desiderata … adiuuare 393,5), heilige Wünsche werden eingehaucht (sancti desiderii inspirare 393,6) und Anfang sowie Durchführung guter Werke werden geschenkt (initium … vel perseuerantiam condonare 393,7). Dieses Wissen (scientia 393,20) um göttliche Wirkweisen am Menschen wird jedoch gleich mit Röm 11,33 f. eingeschränkt: Gottes Wirken ist nicht mit menschlicher Vernunft (ratio 393,23; mens 393,24) zu fassen – jeglicher Versuch muss als profana audacia (394,1) gekennzeichnet werden, wodurch abermals der kategoriale Unterschied zwischen göttlichem Gnadenhandeln und menschlichen Willensentscheidungen betont ist. 273 Dieser individuell-pädagogische Ansatz des göttlichen (Gnaden-)Handelns findet sich auch in coll. 11,12 (s. o.). 274 Vgl. wieder coll. 13,9, anders coll. 13,8, die die unbedingt notwendige Willensbeteiligung des Menschen stark macht.
4.4 Wille und Gnade
151
Coll. 13,18 liefert keine neuen Erkenntnisse zur Frage nach dem Verhältnis von freiem Willen und Gnade, es werden erneut die verschiedenen Wirkweisen der Gnade am Willen des Menschen aufgezählt. Coll. 13,18 ist jedoch insofern aufschlussreich, dass sie eine klare Einschätzung des in Gallien tobenden Konflikts über Augustin und Pelagius aus monastischer Perspektive bietet: Einleitend formuliert Cassian, dass die Leitfrage der Collatio nicht durch loquacia verba (394,14), sondern nur unter Leitung einer ausgeprägten experientia (394,14)275 beantwortet werden könne. Welche der beiden Herangehensweisen er für sich beansprucht, und welche er den übrigen Diskutanten zuweist, liegt auf der Hand. Die geschwätzigen Gegner Cassians, die sich auf keinen monastischen Erfahrungsschatz berufen können, werden gegen Ende des Kapitels erneut als Negativfolie herangezogen, nun wird ihr Diskussionsverhalten als eine inanis disputatio verborum (395,20) beschrieben. Dagegen hebt sich die perfectio cordis (395,20), aus der heraus die catholici patres (395,19) sprechen können, positiv ab.276 In einem Dreischritt wird erläutert, weshalb (nur) in der monastischen Praxis die richtige Einsicht über Gottes Gnade erlangt werden kann. Erstens erfährt der Mönch, dass jeder, der von der göttlichen Gnade entflammt ist – warum sollte man sonst die monastischen Strapazen auf sich nehmen wollen? –, dabei immer sein liberae uoluntatis arbitrium (395,23 f.) behält. Dies zeigt sich zweitens darin, dass es gewisse Übungen (exercitia 395,25) gibt, an denen der Mönch seine Entscheidung prüfen und erproben kann. Drittens erfährt er es als Geschenk Gottes, wenn er in den durch die Übungen erstrebten Tugenden beständig bleiben kann, ohne dass dieses jedoch zum Zwang (captiuitas 395,28) wird. Eine Zusammenfassung der gesamten Collatio bietet Cassian am Ende dieser Aufzählung: [Dei] protegat atque confirmet, non ut auferat quam semel ipse concessit arbitrii liberta tem (395,30–396,1). Dieses scheinbare Paradox kann jedoch nur ein monastisch Erfahrener in seiner ganzen Komplexität erfassen, da er bereits gelernt hat, dass der Modus der Erkenntnis von göttlichen-menschlichen Beziehungen nicht die Vernunft (intellectum 396,4 f.), sondern der Glaube (fides 396,4 f.) ist. 4.4.3 Cassians Willensbegriff zwischen (Semi-)Augustinismus, (Semi-)Pelagianismus und (monastischer) Eigenständigkeit Cassians Willensbegriff ist von vielfältigen Aspekten geprägt, dabei aber in sich konsistent. Das harsche Urteil, das A. Hwang in dieser Frage fällt, ist daher m. E. unzutreffend: 275
Zur Erfahrung als zentraler Kategorie monastischer Bildung s. 5.4. Bezeichnung der Altväter als catholici patres korreliert in gewisser Weise mit der Betonung der Bedeutung des Gelehrten für die ecclesiasticae fidei regula (s. o. zu coll. 13,11): Beide Formulierungen stellen qualitative Begriffe dar, die deutlich machen, dass dem Mönchtum eine Bedeutung für die Gesamtheit des Christentums zukommt. 276 Die
152 4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung „When taken together, Cassian’s disparate and conflicting remarks on the nature and role of the human will in the economy of salvation are unclear and not a little confusing.“277
Vielleicht wirken die Belege, die sich, wie gezeigt, auf die gesamten Collationes verteilen, auf den ersten Blick wenig strukturiert, eine systematisch-theologische Darstellung zur Frage nach Willen und Gnade war aber auch nicht Cassians Absicht. Vielmehr trifft er seine Aussagen über den Willen vor dem spirituellen Hintergrund des östlichen Mönchtums und in den Kontext eines konkreten, westlichen Konfliktes hinein. In der Diskussion, die zu Cassians Zeit in Marseille tobte, war auch kein systematischer Leitfaden zum Willen, sondern eine pointierte Stellungnahme zu(r) gegnerischen Position(en) gefragt. Auch wenn in der Forschung oft auf Prospers Einschätzung, dass es sich bei Cassian um einen ‚Semipelagianisten‘ der übelsten Sorte handle, vertraut wurde,278 wird doch bei genauerer Betrachtung von Cassians Werk klar, dass er sich gegen Pelagius’ Aussagen zum Vermögen des menschlichen Willens genauso verwehrt wie gegen Augustins Prädestinationslehre.279 Cassians Lehre von Wille und Gnade ist mehr als eine bloße Reaktion auf Augustin.280 Dies wird m. E. schon daran deutlich, dass Cassian der Frage nach dem Sündenfall (s. 4.3) überraschend wenig Platz einräumt – hätte er eine fundamentale Augustinkritik im Sinn, würde er doch bei dessen Hauptargument und nicht bei den Folgeerscheinungen ansetzen.281 Kritik an Augustins Position wird vorranging in coll. 13 geäußert, andere Aussagen wie die in coll. 3 oder coll. 23 sind hingegen auch vor dem Hintergrund einer augustinischen Prädestinations- und Sündenlehre denkbar.282 Die Kritik, die Cassian an der augustinischen Position übt, dient vor allem einer Legitimation des Mönchtums und seiner menschlichen Bemühungen um geistlichen Fortschritt: Würde Cassian eingestehen, dass göttliche Gnade und 277
Hwang 2010, 96. So z. B. noch Achtner 2010, 78 f. 279 Vgl. Casiday 2007, 73 und Stewart 1998, 25. Etwas vorsichtiger ist Ogliari, der feststellt, dass die Mönche von Marseille eventuell pelagianischem Gedankengut gegenüber nicht ganz immun waren (vgl. Ogliari 2003, 106). 280 Vgl. Ogliari 2003, 128 f. 281 Zum Verhältnis von Cassian und Augustin vgl. auch Weaver 1994, 115 f. R. H. Weaver bringt Unterschiede und Gemeinsamkeiten hier wie folgt auf den Punkt: „T hree elements clearly have shaped Augustine’s account: a predestination that assures that grace is not given for merit; the radical effects of the fall that account for the will’s inability to force itself to delight in that in which it clearly ought to delight; perseverance that maintains a continuing delight in the good. … For Cassian … [a]gain three elements can be seen to have shaped his account: the universal will for salvation as God offers aid to all involved in the struggle; self-initiating human agency that is presupposed by the disciplines of the struggle; the longing for stability as undeviating devotion to God. … For the former, love for God, which was the gift of the Holy Spirit, was the precondition of the Christian life. For the latter, love for God, which was the attainment of disciplined struggle, was the culmination of monastic life.“ 282 Vgl. Casiday 2007, 117. 278
4.4 Wille und Gnade
153
damit überhaupt die Möglichkeit, erfolgreich nach der perfectio zu streben, nur einigen Erwählten gegeben sei, würde es seine Schüler und Leser demoralisieren. Die Kritik, die Cassian an einer pelagianischen Position übt, wird ebenfalls erst unter Berücksichtigung von Cassians östlich-monastischem Hintergrund einsichtig: Er kritisiert die übergroße Hochschätzung des menschlichen Willens nicht aus einer primär augustinischen Position heraus, die am durch die Erbsünde bedingten anthropologischen Unvermögen ansetzt, sondern stärker praktisch motiviert, um – wie seine Lehrer – monastischem Hochmut Einhalt zu gebieten. Damit wird deutlich, dass Cassian sich um eine aus dem Mönchtum heraus begründete Abwehr beider Extrempositionen bemüht. Dies jedoch nicht nur mit dem Blick nach innen, der fragt, wie sich Wille und Gnade argumentativ in ein monastisches Bildungskonzept einbinden lassen (s. u.), sondern auch mit dem Anspruch, dieser Position außerhalb der monastischen Welt, gegenüber der Kirche in Gallien, Legitimation zu verleihen. Oder wie A. M. C. Casiday – ebenfalls schon mit einem Blick auf das spezifisch Monastische in Cassians Argumentation – es auf den Punkt bringt: „None of this means that Cassian was an Augustinian. But all of it means that he did not devote his energy to the tasks for which Prosper blasted him – undermining Augustin, introducing Pelagianism by the backdoor, and generally fomenting disquiet. Instead, Cassian was preoccupied with a different, ascetic task: cultivating a kind of humility inconsistent with Pelagian preaching.“283
4.4.4 Die Bedeutung von Wille und Gnade für die monastische Bildung Zur Beantwortung der Frage nach monastischer Bildung trägt die vorhergehende Untersuchung von Cassians Darstellung des menschlichen Willens und der göttlichen Gnade in dreierlei Hinsicht bei: Erstens profiliert sich Cassian als Lehrer der Mönche im Speziellen und der Kirche im Allgemeinen. Zweitens verrät seine Darstellung der theologischen Positionen, die er ablehnt, viel über seine narrative Strategie. Und drittens wird durch inhaltliche Akzentuierungen des Zusammenspiels von (freiem) Willen und Gnade das Konzept monastischer Bildung, das durch die Collationes vermittelt wird, um entscheidende Facetten ergänzt. In der oben beschriebenen Diskussion, die im Südgallien der 420er Jahre aufbricht, wird Cassian als T heologe und Lehrer greifbar. Zwar verlässt er das narrative Setting der Altvater-Unterredungen nicht, aber in diesem wird eine Aktualität und Ansprache gegenwärtiger Gegenpositionen deutlich, wie bei kaum einem anderen T hema der Collationes. Auch wenn weder Augustin noch Pelagius namentlich genannt werden, verrät Cassian durch die Darstellung ihrer Argumente, dass er mit diesen nicht nur vertraut ist, sondern sich auch in der Lage 283
Casiday 2007, 118.
154 4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung und Position sieht, sie argumentativ zu dekonstruieren. Hierbei kommt es m. E. zu einer Überblendung der verschiedenen Traditionen, die Cassian auf seiner Reise durch den Mittelmeerraum kennengelernt hat: Er verbindet Grundaussagen östlich-monastischer Spiritualität mit einer theologischen Debatte, die zur Zeit der Abfassung der Collationes höchst aktuell in Gallien fortgeführt wurde. Das alles aber nicht, um sich einer der streitenden Parteien zuzuordnen, sondern mit dem Vorsatz, einen eigenen, monastisch gefärbten und begründeten Standpunkt in die Debatte einzubringen. Damit erhebt sich Cassian über die Rolle, die er sich selbst zu Beginn der Collationes zugeschrieben hat: Er ist nicht länger allein Sprachrohr der Altväter, sondern auch ein eigenständiger theologischer Denker. Als solcher ist er sich durchaus auch der Welt außerhalb des Klosters bewusst, er argumentiert mit Rücksicht auf kirchliche Lehren, allerdings in dem Bewusstsein, dass die spirituellen Erfahrungen der monastischen Tradition der Glaubensregel der Kirche zwar inhaltlich ähnlich, im Grunde aber überlegen sind. Wie bereits erwähnt, bettet Cassian seine Argumentation in das bestehende narrative Setting der Collationes ein und äußert sich nicht unabhängig von diesen, etwa in Briefform, zum Streit um die Willensfreiheit. Um eine gewisse chronologische und narrative Kohärenz zu wahren, werden Augustin und Pelagius von den Protagonisten der Collationes nicht namentlich genannt. Es fällt auf, dass die zu entkräftenden Argumente (meist pelagianischer Prägung) oft der Reflektorfigur Germanus in den Mund gelegt werden, um daraufhin von einem Altvater als töricht entlarvt und dekonstruiert zu werden. Dass Cassian sich in dieser Frage des Altvater-Vehikels bedient und nicht etwa in den Prologen (als Autor) oder zumindest den Rahmenhandlungen (als Erzähler) selbst Stellung bezieht, liegt daran, dass er so die Argumente durch Alter, (vermeintliche) Tradition und Autorität des Altvaters zu stärken hofft. Dies benennt Cassian explizit, wenn er die monastischen Väter als catholici patres darstellt, deren Worte aufgrund ihres monastischen Erfahrungsschatzes Gewicht haben. Inhaltlich akzentuieren die Überlegungen zu Willensfreiheit und Gnade die Vorstellung monastischer Bildung, die Cassian durch die Collationes vermittelt, folgendermaßen: Ähnlich wie bereits unter 4.1 im Blick auf den Inneren Menschen dargestellt, wird die Formung bzw. das Training des Willens hin zum Guten, hin zur Einstimmung in den göttlichen Willen, als zentrales Ziel eines jeden monastischen Bildungsprozesses gekennzeichnet. Dabei wird nun jedoch herausgestellt, dass eine derartige Bildung weder allein durch menschliche (Willens-)Anstrengung, noch ausschließlich durch göttliche Gnade zum Ziel gelangen kann. Vielmehr müssen menschliches und göttliches Handeln aufeinander abgestimmt werden; Gott wird dabei mehrfach als kluger Pädagoge dargestellt, der in das Innere seines Schülers zu schauen und ihm so individuelle Förderung zukommen zu lassen vermag.
4.5 Rückschau und Ausblick
155
4.5 Rückschau und Ausblick Im Blick auf die theologischen und anthropologischen Voraussetzungen monastischer Bildung wurde deutlich, weshalb der Mönch in Cassians Darstellung Bildung bedarf, aber auch, dass und weshalb es sich hierbei um einen unabschließbaren Prozess handelt: In jedem der vier untersuchten Aspekte hat sich gezeigt, wie dichotom bzw. positiv formuliert: dynamisch Cassians Menschenbild ist. Nicht nur stehen Innerer und äußerer Mensch, Geist und Fleisch in beständigem Widerstreit, selbst der Innere Mensch als solcher ist in eine linke und eine rechte Seite unterteilt und benötigt die tägliche Erneuerung durch Gott, um seine gute, Gott zugewandte, Seite stärken zu können. Ebenso kämpfen Laster und Tugenden um ihren Platz im Herzen des Mönches und es wird deutlich, dass dieser, solange er lebt und somit beständig dem ersten Laster, der gastrimargia ausgesetzt ist, diesen Kampf nie endgültig zu Gunsten der Tugenden entscheiden kann. Auch der Wille des Menschen ist zwischen Geist und Fleisch, zwischen göttlichem und dämonischem Einfluss, angesiedelt, wodurch ihm mehrfach die selbstprüfende und entscheidungsgenerierende Funktion des Gewissens zugeschrieben wird.284 Diesen Zustand begründet Cassian mit der Ursünde, einem Zustand, aus dem der Mönch sich nie ganz befreien kann, den er aber zumindest erkennen kann und sogar erkennen muss: Es ist die Einsicht in die eigene Sündhaftigkeit – die auf Selbstreflexion fußende Selbsterkenntnis, die eine erneute und vertiefte Reflexion ermöglicht (s. 3.1.2.3) –, die ihn zur Heiligkeit führen kann. Die Erkenntnis, Reflexion und Besserung der eigenen Sündhaftigkeit mit all ihren Konsequenzen ist möglich, weil der Mensch als Geschöpf Gottes dessen imago trägt (s. 3.1.2.1), die ihm Einlass in die göttliche Sphäre erlaubt. In jedem der vier Abschnitte, am stärksten im letzten, wurde deutlich, dass der Mönch die skizzierten Herausforderungen weder allein meistern muss noch kann: In je individueller Gestalt erfährt er genau den Gnadenbeistand Gottes, dessen er gerade bedarf, der ihn ggf. aber auch anspornt und herausfordert. Hieran wird deutlich, dass (monastische Selbst-)Bildung ausschließlich im Gegenüber und in der Reflexion Gottes stattfinden kann. Im Blick auf den einleitend skizzierten Dreifachfokus der vorliegenden Untersuchung wird deutlich, dass Bildungsprozesse in den bislang untersuchten Passagen der Collationes nur indirekt bzw. auf einem sehr abstrakten Level der Selbst-Bildung thematisiert wurden: Cassian geht kaum konkret darauf ein, wie der Mönch mit der erkannten Dynamik seines Daseins umzugehen hat. Stattdessen begründet Cassian umfassend, weshalb Handlungs- bzw. Bildungsbedarf besteht. Dies wiederum ist aufschlussreich für die Frage, wie Bildung zur An wendung kommt, wie Cassian also als Lehrer agiert: Das Hauptaugenmerk der Collationes liegt darauf, den Adressaten Einsicht in die Hintergründe konkreter 284 Mit dieser Entscheidungsfähigkeit ist bereits auf die monastische Grundtugend der discretio (5.1) angespielt.
156 4. T heologische und anthropologische Voraussetzungen monastischer Bildung Lehr-Lern-Prozesse zu vermitteln. Cassian zielt nun weniger auf eine Anleitung zu konkreten Handlungen, sondern befähigt seine Adressaten, Situationen und Probleme selbst zu erkennen und zu deuten, um so anschließend eigene Handlungsstrategien zu entwickeln. In der Auseinandersetzung mit Cassians theologischen und anthropologischen Konzepten wird demnach deutlich, dass ein Vokabular, das einem neuzeitlichen Bildungsdiskurs entlehnt ist (s. 3.1), gut geeignet scheint, um Cassians Anthropologie mit all ihren aufgezeigten Entwicklungspotentialen deskriptiv und interpretierend zu fassen: Die Dynamik des monastischen Daseins verdankt sich letztlich der fruchtbaren Spannung von Selbstgegebenheit und Fremdtätigkeit, die im Imago dei-Begriff enthalten ist – der Wurzel des neuzeitlichen Bildungsbegriffs.
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung Im vorhergehenden Kapitel wurde erarbeitet, weshalb der Mensch in der Darstellung Cassians der Bildung bedarf und welche zentrale Rolle das Miteinander von Gott und Mensch für diese Art der Bildung spielt. Daran anschließend ist nun zu fragen, wie sich diese Bildung vollzieht, welche konkreten Methoden und Prozesse der monastischen Bildung Cassian benennt und beschreibt. Dabei liegt der Fokus nicht nur darauf, wie Cassian die zuvor skizzierten theologischen und anthropologischen Voraussetzungen monastischer Bildung in konkrete Vorgänge überführt, sondern auch, wie sich innerhalb dieser Vorgänge die verschiedenen Traditionen, denen Cassian sich verpflichtet fühlt, verbinden (s. 2.2 und 2.3). Hierbei wird zunächst auf die grundlegendste aller monastischen Lernmethoden bzw. Tugenden, die discretio, einzugehen sein (5.1). Unter 5.2 wird der Frage nachgegangen, welches Lehr-Lern-Setting Cassian empfiehlt bzw. wie er (erfolgreiche) monastische Bildung mit den verschiedenen monastischen Lebensformen verknüpft. Ähnlich, allerdings personenorientierter, ist die Fragestellung unter 5.3 gelagert: Hier gilt es zu untersuchen, wie Cassian den idealen Lehrer und dessen Interaktion mit seinen Schülern beschreibt. Unter 5.4 ist die eigentliche Lehrmeisterin des Mönchtums, die hinter all den konkret beschriebenen, zwischenmenschlichen Gefügen steht, in den Blick zu nehmen: die Erfahrung. Schließlich werden unter 5.5 und 5.6 die zentralen Methoden monastischer Bildung thematisiert: Schriftauslegung und Gebet. In der Untersuchung der Schriftauslegung wird noch einmal intensiv auf die Frage nach der Verknüpfung der verschiedenen monastischen (Bildungs-)Vorstellungen, auf die Cassian sich bezieht, einzugehen sein. Das Gebet hingegen leitet bereits zu dem nachfolgenden Kapitel (6.) über, das bestrebt ist, die Grenzen des menschlich Erreichbaren im monastischen Bildungsprozess auszuloten. 5.1 Discretio Traditionell wird discretio als die monastische Grundtugend schlechthin verstanden.1 Sie beschreibt keinen Prozess im engeren Sinne, sondern vielmehr eine Kompetenz, die grundlegend für alle anderen Prozesse ist bzw. sogar den Nutzen und das Ziel aller anderen Prozesse begründet.2 In dieser Funktion wird die 1
Vgl. z. B. Demacopoulos 2007, 112 f. Summa 1992, 15–17 zum Zusammenhang von discretio und monastischer Zielausrichtung. 2 Vgl.
158
5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
Analyse des discretio in den Collationes auch in der vorliegenden Untersuchung den übrigen, konkreteren Methoden und Prozessen vorgeschaltet. 5.1.1 Der traditionsgeschichtliche Hintergrund Seine vielfältige Wirkungsgeschichte3 entfaltet der Begriff ausgehend von 1Kor 12,8–114: Die Gabe, „die Geister zu unterscheiden“ erscheint hier in einer Reihe mit vielfältigen anderen Charismen5 und spielt auf die Schwierigkeit an, wahre und falsche Prophetie bzw. die in ihrem Hintergrund wirksamen Geister zu erkennen, zu unterscheiden und der Leitung des göttlichen Geistes zu vertrauen.6 Der erste christliche T heologe, der den Begriff näher untersucht und zugleich stärker individualisiert und verinnerlicht als Paulus, der im Blick auf in der Gemeinde begegnende prophetische Gestalten argumentiert, ist Origenes:7 „Hieraus ergibt sich auch ein deutliches Unterscheidungsmerkmal für die Feststellung, wann eine Seele von der Anwesenheit eines guten Geistes beinflußt wird: nämlich wenn sie durch die Inspiration, welche über sie kommt, keine Verwirrung und kein Außersichsein des Geistes erleidet und nicht die freie Willensentscheidung verliert … .“8
Dass Origenes hier gelingende discretio mit freier Willensentscheidung (bzw. der gelingenden Einstimmung des freien Willens in die Inspiration eines guten Geistes) in Verbindung bringt, macht deutlich, wie eng diese Tugend / Kompetenz mit der positiven Entwicklung der im vorherigen Kapitel aufgezeigten, anthro3 Der Übersichtlichkeit halber beschränkt sich die vorliegende Untersuchung auf eine traditionsgeschichtliche Untersuchung im Blick auf Cassians direkte Lehrer bzw. Vorbilder, Origenes, Evagrius und die Vita Antonii. Zur weiterführenden Begriffsgeschichte sei auf Lienhard 1980 und Hense 2016 verwiesen. 4 „8 Dem einen wird durch den Geist ein Wort der Weisheit gegeben; dem andern ein Wort der Erkenntnis durch denselben Geist; 9 einem andern Glaube, in demselben Geist; einem andern die Gabe, gesund zu machen, in dem einen Geist; 10 einem andern die Kraft, Wunder zu tun; einem andern prophetische Rede; einem andern die Gabe, die Geister zu unterscheiden (διακρίσεις πνευμάτων); einem andern mancherlei Zungenrede; einem andern die Gabe, sie auszulegen. 11 Dies alles aber wirkt derselbe eine Geist, der einem jeden das Seine zuteilt, wie er will.“ 5 Mit Hilfe des Begriffs χαρίσματα weist Paulus den Gnaden- und Geschenkcharakter der genannten Tugenden und Fähigkeiten besonders aus (vgl. Schrage 1999, 137). Anders argumentiert Hense 2016, 30, ausgehend von einem vergleichenden Blick auf die übrigen Briefe des Paulus: „According to Paul, discernment is not only offered as a divine gift, but must also be acquired through learning.“ 6 Vgl. Schrage 1999, 156. Zu einer Kontextualisierung dieser zentralen Passage innerhalb der paulinischen Briefliteratur s. Hense 2016, 14–34. 7 Vgl. Lienhard 1980, 512. 8 Görgemanns / Karpp 31992, 597.599; Origenes, princ. 3,3,4 (596.598 Görgemanns / Karpp): Unde et ex hoc manifesta discretione dinoscitur, quando anima melioris spiritus praesentia moveatur, id est, si nullam prorsus ex imminenti adspiratione obturbatio nem vel alienationem mentis incurrat nec perdat arbitrii sui iudicium liberum.
5.1 Discretio
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pologischen Voraussetzungen monastischer Bildung (s. 4.4) verbunden ist.9 Diesen Gedanken nimmt Origenes später in den Predigten zu Exodus und Numeri auf und betont dort noch stärker den Geschenkcharakter, der der discretio als Geistgabe, die wiederum zur Einstimmung in ihren Ursprung befähigt, eignet.10 Zu einem Hauptthema des Mönchtums wird die discretio im Rahmen der Vita Antonii:11 Sie ist nicht nur ein zentrales T hema der Rede an die Mönche (V. Anton. 16–43),12 sondern wird auch wiederholt herangezogen, um das Herausragende an Antonius’ Lebenswandel, besonders im Zuge seines erfolgreichen Kampfes gegen die Dämonen, zu betonen.13 Dabei lassen sich entscheidende Nuancierungen im Vergleich zu Origenes’ Darstellung beobachten: „T here is a notable difference between Origen’s understanding of discernment of spirits and that in the Vita Antonii. For Origen, discernment was a gift which enabled its recipient to distinguish between good and evil spirits. For Athanasius in the Vita, although he mentions good spirits once or twice, discernment is essentially concerned with the various kinds of evil spirits, their distinguishing characteristics, and the proper remedy against each.“14
Die Entwicklung, die sich im Vergleich des Rekurses auf 1Kor 12,10 bei Origenes und in der Vita Antonii entdecken lässt, kommt in Evagrius Ponticus’ Werk zu einem Höhepunkt: Der „most significant theoretician of monasticism“15 nutzt den Begriff διακρίσεις nicht einmal, entwickelt dafür aber eine umfangreiche, die auf die praktische Umsetzung der Unterscheidung der Geister zielt.16 Er reflektiert nicht – wie Origenes es tut – über die Verbindung von Inspiration, dis cretio und freier Entscheidung / Zustimmung zur göttlichen Geistgabe, sondern 9
Vgl. Lienhard 1980, 514. Z. B. Origenes, hom. in Ex. 3,2 (SC 32, 92,31–36 Borret): Non est sine sancti spiritus gratia huiusmodi os et verba discernere; et ideo in divisionibus spiritalium gratiarum additur etiam hoc, quod datur quibusdam ‚discretio spirituum‘.Ergo spiritalis est gratia, per quam spiritus discernitur, sicut et alibi dicit Apostolus: „probate spiritus, si ex Deo sunt“ und Origenes, hom. in Num. 27,11 (SC 461, 320,606–608 Doutreleau): Idcirco denique et inter dona spiritalia unum ex donis sancti Spiritus esse memoratur ‚discretio spirituum‘; vgl. Lienhard 1980, 513. 11 Gemeinhardt 2018, 74 f. führt aus, dass die Unterscheidung (der Dämonen), wie sie in der Vita Antonii thematisiert wird, in den Antoniusbriefen noch stärker verinnerlicht, auf Selbsterkenntnis und Erkenntnis der eigenen Antriebe zielend, begegnet. 12 Z. B. Atha na sius, V. Anton. 22,3 (FC 69, 168,3–8 Gemeinhardt): Διὸ καὶ πολλῆς εὐχῆς, καὶ ἀσκήσεώς ἐστι χρεία·ἵνα τις, λαβὼν διὰ τοῦ Πνεύματος χάρισμα διακρίσεως πνευμάτων, γνῶναι δυνηθῇ τὰ κατ’ αὐτούς·καὶ τίνες μὲν αὐτῶν εἰσιν ἔλαττον φαῦλοι, τίνες δὲ ἐκείνων φαυλότεροι, καὶ περὶ ποῖον ἐπιτήδευμα ἕκαστος αὐτῶν ἔχει τὴν σπουδὴν, καὶ πῶς ἕκαστος αὐτῶν ἀνατρέπεται καὶ ἐκβάλλεται. 13 Vgl. Lienhard 1980, 515 f.; z. B. Athanasius, V. Anton. 44,1 (FC 69, 208,3–6 Gemeinhardt): πάντες τε ἐπείθοντο καταφρονεῖν τῆς δαιμονικῆς ἐπιβουλῆς, θαυμάζοντες τὴν δοθεῖσαν παρὰ τοῦ Κυρίου Ἀντωνίῳ χάριν εἰς τὴν διάκρισιν τῶν πνευμάτων. 14 Lienhard 1980, 517. 15 Lienhard 1980, 522. 16 Vgl. Demacopoulos 2007, 112 f. und Lienhard 1980, 522. 10
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
verfasst vielmehr eine Anleitung, um die bösen Geister, die falsche Inspiration, treffsicher zu erkennen und zu meiden (mit Beispielen s. 4.2.3). Die drei Beispiele zeigen, welch weiter Spielraum sich in der Interpretation des Pauluszitates öffnet: Die Auslegungen changieren zwischen Selbsterkenntnis bzw. Einsicht in die Antriebe des eigenen Denkens und Handelns (Origenes) auf der einen Seite und praktischen Hinweisen zum Erkennen und zur Abwehr negativer Einflüsse (Evagrius), deren erfolgreiche Anwendung gelingendes monastisches Leben kennzeichnet (Antonius), auf der anderen. Im Folgenden wird zu zeigen sein, dass Cassian alle genannten Ausprägungen der Interpretation kombiniert und so eine eigene Deutung des Begriffs discretio schafft, die praktische und theoretische Elemente verbindet. 5.1.2 Discretio in den Collationes Bereits im vorherigen Kapitel (s. 4.2.3) hat sich gezeigt, dass Cassian die praxisbezogenen Überlegungen zur discretio des Evagrius Ponticus im Rahmen seiner Lasterlehre in modifizierter Form übernimmt. Jedoch verbleibt Cassians Beschäftigung mit dem T hema der Unterscheidung der Geister nicht bei der bloßen Anwendung, er reflektiert es zudem in stärker theoretischer Weise, die deutlich macht, dass es (auch) ein Ziel der Collationes ist, über Hintergründe, Grundlagen und Ziele monastischer Bildung zu informieren. Umfassend wird die discre tio in coll. 2 erläutert. Gesprächspartner ist hier, wie in der ersten Collatio, Abbas Moyses, wodurch das T hema der Unterscheidung der Geister in inhaltliche Nähe zu der eröffnenden Rede über das erste und das letzte Ziel des Mönchtums (s. 6.1) tritt.17 In coll. 2,1 lässt Cassian Abbas Moyses durch eine Anspielung auf 1Kor 12,8– 11 (s. o.) erklären, dass die Gabe der Unterscheidung (der Geister) (discretio spiri tuum 39,26 f.; discretionis munus 40,1) nicht mit anderen Tugenden, die sich der eifrig bemühte Mensch selbst aneignen könne, zu vergleichen sei. Als höchste geistige Gnadengabe (diuinae gratiae maximum praemium 40,2) ist sie kein Verdienst, sondern ein Geschenk. Mit der Herleitung aus 1Kor wird die discretio in eine Reihe mit anderen dort notierten Gnadengaben wie der Weisheit (sermo sa pientiae 39,23 f.) oder der Wissenschaft (sermo scientiae 29,24) gestellt. Coll. 2,2 gibt eine Diskussion, die Abbas Moyses in der Schülerschar des Antonius miterlebt hat, wieder (s. auch 6.3).18 Auf verschiedene Vorschläge seiner 17
Vgl. Mulley 2016, 119. E. Mulley sieht sogar einen noch engeren Zusammenhang der beiden Collationes: „Conference One describes which goal should be achieved by discernment, whereas Conference Two explains different aspects of discernment.“ (AaO., 124). 18 Vorausschauend auf das nach der Begründung von Lehrautorität fragende Kapitel (5.3) ist hier besonders auf die nahtlose Sukzession über mehrere Lehrerfiguren zu den Ursprüngen des Mönchtums zu verweisen: Der schreibend lehrende Cassian beruft sich auf seinen Lehrer Moyses, der wiederum auf „den“ Lehrer der Mönche, Antonius, rekurriert.
5.1 Discretio
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Schüler, wie man sich vor der vielgestaltigen Versuchung durch den Teufel schützen könne, erwidert Antonius in einer im Wortlaut eingeschobenen Rede, dass das einzig wirksame Schutzmittel die discretio sei. Diese helfe, die einmal begonnenen Tugendwerke beizubehalten und die Balance zwischen übertriebenem Eifer und Hochmut auf der rechten, sowie ein Abdriften zu den Lastern der linken Seite beizubehalten.19 Mit dieser Antwort auf die Frage, wie monastische Vollkommenheit zu erreichen sei, überbietet bzw. summiert Antonius die Antwortversuche seiner Schüler, die verschiedene monastische Tätigkeiten, wie bspw. Fasten, als probate Methoden vorschlagen, und macht so abermals deutlich, dass discretio das übergeordnete Ziel allen monastischen Strebens ist. Diese Absicherung nach beiden Seiten mit Hilfe der discretio wird auch in coll. 2,16 noch einmal erwähnt und mit 2Kor 6,720 erläutert. Coll. 2,17 spitzt das Bild abermals zu und spricht von einem Krieg nach zwei Seiten (bellum adversa rii factione 60,17 f.): Während auf der linken Seite die körperlichen Laster lauern, drohen auf der rechten Seite die geistigen Laster (s. hierzu 4.2). Discretio als Maßhalten und als Balanceakt wird in coll. 23,9 erneut aufgenommen und hier ganz konkret mit dem Bild eines Seiltänzers (funambulus 653,12) illustriert. Über die wiederholte Erwähnung einer linken und rechten Seite, zwischen denen zu balancieren ist, ist eine Verbindung zur Rede von den beiden Hälften / Händen des Inneren Menschen in coll. 6,10 gegeben (s. 4.1.2). Dort wird das bewusste Abwägen zwischen den verschiedenen inneren Impulsen des Menschen als Tätigkeit des Gewissens beschrieben. Hier wird deutlich, dass Cassian – ähnlich wie Origenes – eine verinnerlichte und individualisierte Deutung der discretio vertritt, die jedoch stärker auf das Gleichgewicht nach beiden Seiten, als auf die korrekte Entscheidung für die eine Seite (s. o.) zielt.21 Mit Mt 6,2222 wird die discretio als Auge und Leuchte des Körpers (oculus et lucerna corporis 41,30) bezeichnet. Diese Formulierung bietet Anknüpfungspunkte sowohl an die verschiedenen Begrifflichkeiten der Gottesschau und der Lenkung des geistigen Blicks als auch an die dort mehrfach thematisierte Lichtmetaphorik (s. 6.1.2). Coll. 2,3 schiebt als Beispiel für einen sichtbaren Mangel an discretio das wiederholte Scheitern der Könige im Alten Testament ein, bevor coll. 2,4 die Lichtmetaphorik wieder aufnimmt und daran anschließend weitere 19 nec enim alia lapsus eorum causa deprehenditur, nisi quod minus a senioribus instituti nequaquam potuerunt rationem discretionis adipisci, quae praetermittens utramque nimie tatem uia regia monachum docet semper incedere et nec dextra uirtutum permittit extolli, id est feruoris excessu iustae continentiae modum inepta praesumptione transcendere, nec oblectatum remissione deflectere ad uitia sinistra concedit, hoc est sub praetextu gubernandi corporis contrario spiritus tepore lentescere (41,21–29). 20 per arma iustitiae quae a dextris sunt et a sinistris (59,28–60,1). 21 Diese Entwicklung Cassians gegenüber seinem theologischen Vorbild wurde bereits umfassend am Beispiel von coll. 6,10 diskutiert (s. 4.1.2). 22 „Das Auge ist das Licht des Leibes. Wenn dein Auge lauter ist, so wird dein ganzer Leib licht sein.“
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
Synonyme, die die Notwendigkeit und Wirkweise der discretio illustrieren, darlegt. So wird die discretio zunächst als Sonne (sol 43,6), dann als Lenkerin des Lebens (gubernatio 43,8 f.) und schließlich als Rat (consilium 43,9) umschrieben. Als Gegenbeispiel wird der Mönch, dem die discretio fehlt, mit einer Stadt, deren Mauern geschleift sind und die so allen Feinden freie Angriffsfläche bietet, verglichen. Auf diesen negativen Vergleich folgen erneut drei positive Attribute: Dis cretio ist zusammengesetzt aus Weisheit, Einsicht und Verstand (sapientia … in tellectus sensusque 43,18 f.). Nachfolgend, gewissermaßen antithetisch zum Bild von der geschleiften Stadt, formuliert Cassian, dass es nur mit Hilfe der discre tio gelingen kann, ein inneres Haus, in dem geistige Schätze gesammelt werden können, zu erbauen (sine quibus nec interior nostra aedificari domus nec spiritales poterunt diuitiae congregari secundum illud 43,19–21). Hier können zwei Parallelen mitgedacht werden, einerseits die zunehmende Kultivierung des Inneren Menschen durch die Tätigkeit des Lehrers als Baumeister, der (geistiges) Wissen als Baumaterial für dieses innere Haus in seinen Schülern ablagert (s. 5.3.2.4) sowie andererseits die abstrakte Metaphorik des ‚Turmes der Tugenden‘ (s. 6.3). Schließlich formuliert Cassian – abermals zuspitzend –, dass die Bedeutung der discretio für das monastische Leben von ebenso großer Bedeutung sei wie das Wort Gottes (ut etiam uerbo dei eiusque uirtutibus coaptetur secundum illud 43,29 f.). Geleitet von Gottes Wort und der discretio kann der Mönch den Weg zum Gipfel der Vollkommenheit nicht nur finden, sondern auch unfallfrei erklimmen. Coll. 2,4 schließt mit einem dritten Trikolon, das die discretio zur Mutter, Wächterin und Lenkerin aller anderen Tugenden erklärt (omnium namque uirtutum generatrix, custos moderatrixque discretio est 44,12 f.). An diese theoretische Grundlegung schließt eine Reihe von nichtbiblischen Beispielerzählungen an, die beschreiben, wie teils namentlich bekannte, teils anonyme Mönche aufgrund fehlender discretio vom rechten monastischen Weg abgekommen sind und dabei schlechtestenfalls sogar ihr Leben verloren haben. Daran anschließend wird ganz praktisch diskutiert, wie ein junger, unerfahrener Mönch discretio erlangen bzw. erlernen kann. Hierfür braucht es zweierlei, wie Abbas Moyses in coll. 2,10 f. erläutert: Einerseits ist discretio nicht ohne Demut zu erreichen (discretio non nisi uera humilitate conquiritur 48,11 f.) Andererseits kann auch diese Demut nicht vollständig allein eingeübt werden, sondern nur unter der Aufsicht und mit Hilfe von Älteren. Vor diesen muss der junge Mönch all seine Gedanken vollständig offenlegen, was einerseits sein Vermögen, sich zu demütigen herausfordert und ihm andererseits vor Augen führt, wie Gedanken und Taten von Experten unterschieden und beurteilt werden.23 Hiermit ist bereits zu zwei der nachfolgenden Teilkapitel übergeleitet, in denen einerseits die 23 Die Notwendigkeit des kommunikativen Aspekts beim Erwerb der discretio macht auch Foucault 2014, 384 stark: „Ein Dreieck: auf den anderen hören, sich selbst betrachten, mit dem anderen über sich sprechen.“
5.1 Discretio
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Vorstellung monastischen Erfahrungslernens (s. 5.4) und andererseits die konkrete Interaktion zwischen Schüler und Lehrer untersucht werden (s. 5.3). 5.1.3 Die Bedeutung der discretio für die monastische Bildung Die Fähigkeit, die Geister (bzw. deren Einflussnahme auf den Inneren Menschen) zu erkennen und nach gut und böse zu unterscheiden, wird als Gnadengabe, Sonne, Lenkerin, Rat, Weisheit, Einsicht, Verstand, Mutter und Wächterin aller anderen Tugenden und damit des gesamten monastischen Lebens erklärt. Es ist deutlich geworden, dass eine positive Entwicklung der im vorherigen Kapitel dargestellten, anthropologischen Voraussetzungen monastischer Bildung nicht anders, als durch Erwerb und erfolgreiche Anwendung der discretio möglich ist. Gegen Ende der Textanalyse wurde bereits angedeutet, dass ein Großteil der im Folgenden zu untersuchenden, konkreten Methoden monastischer Bildung letztlich auf das Einüben der discretio zielt. Dies macht deutlich, dass die Entwicklung einer selbstständigen Unterscheidungsfähigkeit – gemeinsam mit der im vorherigen Kapitel herausgearbeiteten Formung des Inneren Menschen und Lenkung des Willens auf Gott – als ein Ziel monastischer Bildung verstanden werden muss. Gleichzeitig wurde – wie das Beispiel der Stadt mit geschleiften Mauern eindrücklich illustriert – deutlich, dass eine jede Entwicklung des Mönches ausgeschlossen ist, wenn dieser nicht zumindest über ein gewisses Maß an discretio verfügt, was diese wiederum zur grundlegenden Kompetenz, die alle weiteren Entwicklungsschritte hin zu einer vollkommeneren discretio erst ermöglicht, macht. An dieser doppelten Perspektive auf die discretio wird das zirkuläre Moment (monastischer) Bildung greifbar, ähnlich wie zuvor bereits im Blick auf die Sündhaftigkeit des Menschen: Je weiter der Mönch im Erwerb der discretio voranschreitet, desto bestrebter ist er, sie zu verfeinern und zu intensivieren. Die Tatsache, dass discretio nicht allein, sondern nur im Gegenüber eines erfahreneren Altvaters eingeübt werden kann, betont das dialogische Element (monastischer) Bildung. Bereits erwähnt wurde die Kombination praktischer und theoretischer Perspektiven, die Cassian in Anlehnung an seine verschiedenen Vordenker und Vorbilder auf das T hema der discretio wirft: Hier ist m. E. bemerkenswert, dass coll. 2 in abstrakter Weise mit einer Auslegung von 1Kor 12,10 beginnt, um sich dann über drei begriffsdefinierende Trikola allmählich praktischeren Aspekten des T hemas zu nähern. Vollumfänglich zur Anwendung – in der Gestalt, in der Cassians Lehrer Evagrius die discretio auslegt – kommt es erst in coll. 5 (s. 4.2.2). Diese Beobachtung unterstreicht, dass Cassian seine Adressaten nicht nur zu konkreten Bildungsvollzügen anleiten bzw. erziehen will, sondern sie darüber hinaus befähigen möchte, die Hintergründe solcher Vollzüge zu verstehen und somit zur (Selbst-)Bildung voranzuschreiten.
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
5.2 Verschiedene Arten des Mönchtums Zu Beginn der Collationes wird deutlich, dass hier, über das in De institutis coeno biorum Dargestellte hinausgehend, eine neue Stufe des monastischen Lebens in den Blick genommen wird. Nach dem äußeren Menschen rückt nun der Innere Mensch in den Fokus, nachdem vormals der cultus (4,14) im Mittelpunkt stand, geht es nun primär um den habitus (4,15).24 Dies ist allerdings nicht so zu verstehen, dass die Instituta sich (ausschließlich) an koinobitisch lebende Mönche richten, die Collationes hingegen an Mönche in einer anachoretischen Lebensform. Vielmehr ist es wahrscheinlich, dass beide monastischen Werke Cassians sich an beide Zielgruppen – sofern denn in Gallien überhaupt von einer vollständigen Anachorese ausgegangen werden kann – richten.25 Auf Gegensätze und Gemeinsamkeiten dieser beiden monastischen Lebensformen wird in jedem der drei Prologe eingegangen. Zudem werden sie in coll. 18 und 19 explizit thematisiert. Dabei entsteht der zunehmende Eindruck, dass beide Lebensformen einander nicht ausschließen, sondern vielmehr bedingen und ergänzen. Inwieweit sich aus der Art, in der Cassian die beiden Lebensformen thematisiert und adressiert, Rückschlüsse über seine Vorstellung von monastischer Bildung ziehen lassen, wird im Folgenden zu zeigen sein. Zudem wird dieses Kapitel klären, welche institutionellen und zumindest auf den ersten Blick historischen Vorannahmen Cassian mitführt, wenn er von Anachorese / Eremitentum oder Koinobion spricht. 5.2.1 Verschiedene Arten des Mönchtums – die Darstellung in den Prologen Bevor die drei Prologe der Collationes in den Blick genommen werden, liegt eine kurze Rückschau in den Prolog der Instituta nahe: Denn bereits hier vergleicht Cassian die monastischen Lebensformen, die er in Gallien beobachten kann, mit denen, die er in ägyptischer Tradition als ideal wahrnimmt. Cassian betont, dass er in einer bedeutenden, alten Tradition stehe, während in Südgallien Willkür und Bequemlichkeit die Gestaltung des monastischen Lebens prägen würden: „Wenn mir auffallen sollte, daß hierzulande ein Kloster nicht nach dem Beispiel der Vorfahren und nach altem Brauch, sondern nach dem Urteil des einzelnen Klostergründers mit Abstrichen oder Zusätzen eingerichtet wurde, so werde ich gemäß jener Ordnung, die wir in früher gegründeten Klöstern Ägyptens oder Palästinas kennengelernt haben, das entschieden wieder hinzufügen oder entfernen. Ich glaube nämlich nicht, daß eine Neugründung hier im Westen, in Gallien, etwas Vernünftigeres oder Besseres finden könnte als jene Bestimmungen, nach denen seit den ersten Tagen der Apostelpredigt 24 Vgl. Rousseau 1978, 178 f.; 4.1 untersucht die Bedeutung des Inneren Menschen innerhalb der Collationes näher. 25 Vgl. Rousseau 1978, 177 und Mathisen 1994, 208. Zur Frage nach Cassians Adressaten und deren Lebensform s. 2.3.
5.2 Verschiedene Arten des Mönchtums
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von heiligen und geistlichen Vätern Klöster gegründet wurden, die bis auf unsere Zeit Bestand haben.“26
Hier eröffnet Cassian einen Vergleich zwischen gallischen Klosterneugründungen und traditionellen, bis auf die Urgemeinde zurückführbaren Lebensformen.27 Noch steht nicht – wie später in den Collationes (s. u.) – eine Verhältnisbestimmung von gemeinschaftlichem und vereinzeltem Leben im Mittelpunkt. Stattdessen wird als höchstes Ideal ein gemeinschaftliches Leben nach östlichem Vorbild propagiert. Weniger die Art der Lebensform als das Alter und der Ursprung der Tradition, die die gewählte Lebensform begründet, scheint von Bedeutung zu sein. Pädagogisch reflektiert und von einem gewissen Realismus zeugend räumt Cassian im Prolog der Instituta jedoch ein, dass Abstriche und Adjustierungen des Ideals notwendig seien, da das Klima und die Lebensweise (s. 2.3.2.1) in Gallien doch stark von den in Ägypten vorfindlichen Umständen zu unterscheiden seien.28 Ein beinahe rivalisierender Vergleich der Lebensformen wird erstmals im ersten Prolog der Collationes angesprochen: Hier scheint es, als ob Cassian die Lebensform der Anachoreten deutlich höher schätzen würde. In praef. I wird in paralleler Satzstellung dem Koinobion die uita actualis zugeordnet, während zur Anachorese die contemplatio dei gehört.29 Über die Bewohner des Koinobions ist lediglich zu erfahren, dass sie eine congregatio (4,8) bilden und in dieser etwas einüben bzw. trainieren (exercere 4,8). Die Anachoreten hingegen werden als inaestimabiles uiri (4,8 f.) stilisiert, die nach einem bestimmten Ziel streben (intenti sunt 4,9). Deutlich klassifiziert Cassian den Anachoreten gegenüber dem 26 Frank 1975, 117 f.; Johannes Cassian, inst. praef. 8 (CSEL 17, 6,21–7,2 Petschenig / Kreuz): in eo quoque tuis praeceptis satisfacere studebo, ut, si quid forte non secundum typum maiorum antiquissima constitutione fundatum, sed pro arbitrio uniuscuiusque in stituentis monasterium uel deminutum uel additum in istis regionibus conprobauero, se cundum eam quam uidimus monasteriorum regulam per Aegyptum uel Palaestinam anti quitus fundatorum fideli sermone uel adiciam uel recidam, nequaquam credens rationabilius quippiam uel perfectius nouellam constitutionem in occiduis Galliarum partibus repperire potuisse quam illa sunt instituta, in quibus ab exordio praedicationis apostolicae a sanctis ac spiritalibus patribus fundata monasteria ad nos usque perdurant. 27 Der Vergleich mit der Urgemeinde wird in coll. 18,5 ausgeführt, s. 5.2.2. Dort erklärt Cassian auch, wie sich aus dem gemeinschaftlichen Ideal der Urgemeinde ein Ideal der Vereinzelung entwickeln konnte. 28 Johannes Cassian, inst. praef. 9 (CSEL 17, 7,2–9 Petschenig / Kreuz): illam sane mode rationem opusculo huic interserere praesumam, ut ea, quae secundum Aegyptiorum regulam seu pro asperitate aerum seu pro difficultate ac diuersitate morum inpossibilia in his regio nibus uel dura uel ardua conprobauero, institutis monasteriorum, quae per Palaestinam uel Mesopotamiam habentur, aliquatenus temperem, quia, si rationabilis possibilium mensura seruetur, eadem obseruantiae perfectio est etiam in inpari facultate. 29 quantum a coenobiis anachoresis et ab actuali uita, quae in congregationibus exercetur, contemplatio dei, cui illi inaestimabiles uiri semper intenti sunt, maior actuque sublimior est (4,7–9; Hervorhebungen DS). Das Verhältnis von tätigem Leben und Gottesschau wird unter 6.1 näher betrachtet.
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
Koinobiten als maior und sublimior (4,9). Weiterhin korreliert Cassian in praef. I das Leben in größtmöglicher Einsamkeit (solitudo vastissima 5,10) mit der Empfänglichkeit für die Erleuchtung der Sinne (inluminatio sensuum 5,12) – oder im Umkehrschluss: Ein mittelmäßiger Lebenswandel (mediocritas consuetudinis 5,14) macht es unmöglich, die Erfahrungen der Wüstenväter nachzuvollziehen und so zur vollkommenen Erleuchtung zu gelangen. Die Nicht-Anachoreten, die am Nachvollzug und Verständnis dessen, was die Anachoreten mit erleuchteten Sinnen wahrgenommen haben, scheitern, werden als inexpertus und inerudi tus bezeichnet (5,13). Diese Darstellung bietet eine Begründung, weshalb so viel Wert auf die Lebensform zu legen ist und wie cultus und habitus (s. o.) zusammenhängen: Cassian stellt im ersten Prolog der Collationes dar, dass monastische Bildung, die nach dem höchsten Ziel der Gottesschau strebt, eng mit der Erfahrung, die ein Mönch macht, zusammenhängt (s. 5.4). Eine Entwicklung des Inneren (habitus) ist nicht möglich, ohne dass das Äußere (cultus) beteiligt ist. Dem Äußeren – verbunden mit dem tätigen Leben des Koinobions – wird dabei jedoch klar die Rolle des Mittels zum Zweck – dem Zweck, auf die Gottesschau (contemplatio) und die Erleuchtung (inluminatio) vorzubereiten – zugewiesen. Um über die hier skizzierten Stufen innerhalb des Mönchtums aufsteigen zu können, ist es notwendig, sich zunächst eifrig um eine Lebensweise, die derjenigen der Vorbilder ähnelt, zu bemühen.30 Das Aufstreben vom Koinobion hin zur Anachorese ist ebenfalls in praef. II ein T hema. Auch wenn Honoratus dem großen Koinobion von Lérins vorsteht und damit bereits vielen als Vorbild für ein tugendhaftes Leben dient (s. 2.3.1), wünscht er sich dennoch ergänzende und erweiternde Unterweisung durch die Worte der Anachoreten.31 Eucherius übertrifft Honoratus noch in dessen (theoretischer) Bewunderung der Wüstenväter, indem er eine Pilgerfahrt nach Ägypten plant, um dem dort scheinenden sol iustitiae (311,13 f.) möglichst nahe zu kommen und das damit in scharfem Kontrast stehende, unter (metaphorischer) Eiseskälte erstarrte, Gallien hinter sich zu lassen (frigoris Gallicani rigore torpen tem 311,12 f.).32 Letzterem Vorhaben steht Cassian kritisch gegenüber, er äußert Propositum simili studio et conuersatione suscipere (5,17 f.). unus quidem uestrum ingenti fratrum coenobio praesidens congregationem suam, quae cotidiano sanctae conuersationis uestrae docetur intuitu, illorum quoque patrum praeceptis optet institui… (311,7–10). 32 Die Frage, wie theoretisch die Bewunderung, die Honoratus und Eucherius den Wüstenvätern entgegenbringen, ist, hängt davon ab, wie der Reisebericht in Hilarius von Arles, V. Hon. 12–14 verstanden wird: Als das östlichste Ziel, das Honoratus erreicht, werden namentlich lediglich die Gestade Achaias (Hilarius von Arles, V. Hon. 14 [184 Jung]: Achaici litoris) genannt. Teils wurde diskutiert, ob Honoratus vermeintliche Reise zu den Ursprüngen des Mönchtums aus unbekannten Gründen bereits in Griechenland scheiterte (vgl. Jung 2013, 79). M. E. ist dies plausibel, da nur so die Collationes als literarischer Ersatz für eine leibliche Reise – so wie Cassian es im Prolog angibt (s. auch 2.3.2.2 und 3.3) – gedeutet werden können. Nähme man eine andere, von Jung präsentierte T hese an, nämlich, dass die Reise des Honoratus von Hilarius nur deshalb nicht weiter ausgeführt werde, um 30
31 …
5.2 Verschiedene Arten des Mönchtums
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die Hoffnung, Eucherius durch die Abfassung von sieben weiteren Collationes davon abbringen zu können, sich auf eine gefährliche Seereise zu begeben.33 Diese Beobachtung lässt schlussfolgern, dass Cassian es für durchaus möglich hält, dass die Erfahrungen und die Lebensweise, die laut praef. I notwendig sind, um die spirituellen Einsichten der Anachoreten nachzuvollziehen, nicht an ein reales, körperliches Leben und Lernen in der Wüste gebunden sind, sondern dass ein Erfolg einzig von der richtigen Unterweisung – die er mit den Collatio nes nun gibt und die damit auch im Koinobion (bspw. des Honoratus) ermöglicht wird – abhängt. Dass die anachoretische Geisteshaltung der Wüste in gewissem Sinne erlernbar und nicht nur erfahrbar ist,34 deutet bereits die Zusammenstellung der Begriffe inexpertus und ineruditus (5,13) in praef. I an. Der zweite Prolog der Collationes nimmt noch – wie der erste – eine spirituelle Überlegenheit der anachoretischen Lebensform an, zeigt jedoch – anders als der erste – Optionen auf, wie die Geisteshaltung der bewunderten Wüstenväter auch im Koinobion eingeübt werden kann. Die in praef. I und II geäußerte Überlegenheit des Anachoretentums gegenüber dem Koinobitentum wird in praef. III nicht aufgehoben, aber abgeschwächt.35 Von den vier Personen, denen der dritte Teil der Collationes gewidmet ist (s. 2.3.2.2), scheinen nur drei die Hochschätzung des Anachoretentums zu teilen. Über Jovinian, Minervus und Leontius heißt es, dass sie durch ihre Unterweisung nicht nur die coenobialis professio (503,10 f.) fördern, sondern auch den Durst nach der anachoretica sublimitas (503,11 f.) wecken. Dies kann als weiteres Indiz dafür genommen werden, dass eine anachoretische Geisteshaltung nicht nur durch anachoretische Lebensumstände, sondern auch durch richtige Anleitung (unter koinobitischen Lebensumständen) eingenommen werden kann. Der Vierte, T heodorus, hingegen sorgt dafür, dass die egregia disciplina (503,8 f.) des Koinobitentums nach den antiquae uirtutes (503,9) auch in Gallien begründet wird.36 Gemäß praef. II handelt es sich bei den vier Adressaten des dritten Teils der Collationes um Mönche von den Stöchadischen Inseln; dem dort praktizierten Koinobitentum scheint Cassian an dieser Stelle einen höheren Wert als dem im restlichen Gallien beizumessen – von der o. g. Eiseskälte oder gar von der in Prolog der Instituta formulierten Geringschätzung ist hier kaum noch etwas zu seinen Ruhm nicht im Gegenüber der Altväter zu mindern, müsste man Cassian genau diese Absicht unterstellen (vgl. ebd.). K. Greschat argumentiert, dass coll. praef. II der einzige Hinweis auf eine durch Eucherius geplante Ägyptenreise sei, dass ihm Lérins Wüste genug sei und dass die vorliegende Notiz Cassians deshalb primär als erzählerisches Mittel zu verstehen sei (vgl. Greschat 2006, 327 f.). 33 …et secundo tam periculosae nauigationis necessitas demeretur (311,19 f.). 34 Zum Zusammenhang dieser und weiterer Wege des Erkenntnisgewissen bzw. monastischen Fortschritts s. 5.4. 35 Vgl. Rousseau 1978, 180. 36 Damit würde sich T heodorus um genau das Ziel verdient machen, das Cassian im Prolog der Instituta formuliert (s. o.).
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spüren.37 Im Folgenden erläutert Cassian, dass die Collationes in beiden monastischen Lebensformen fruchtbar rezipiert werden können (ut utrique professioni … conueniant 503,14–17). Charakterisiert werden diese Lebensformen zum einen als lobenswerte Unterordnung unter die Gemeinschaft und zum anderen als ein Entweichen in die nähere Umgebung der Koinobia, um dort zu versuchen, die Sehnsucht nach einem anachoretischen Leben zu stillen.38 Hier wird deutlich, dass beide Lebensformen in Gallien sich im Verhältnis zum Koinobion definieren. Damit weisen sie eine gewisse Verwandtschaft auf, sodass der dritte Teil der Collationes die Unterweisung für beide Lebensformen vollenden kann. 5.2.2 Verschiedene Lebensformen als T hema der Unterredung mit den Altvätern (coll. 18 f.) Es hat sich gezeigt, dass das T hema der Verhältnisbestimmung von koinobitischer und anachoretischer Lebensform in allen drei Prologen der Collationes thematisiert wird, wobei eine Entwicklung in Bezug auf die Beurteilung des Verhältnisses der beiden monastischen Lebensformen zu beobachten ist: Während zu Beginn eine klare Überordnung der Anachorese begegnet, wird das Koinobion im dritten Prolog zunehmend wertschätzend betrachtet. Auf Ebene der Geschichte, d. h. in Gestalt von Altvaterworten, begegnet das T hema der verschiedenen Lebensformen erst im dritten Teilband, in coll. 18 f. Grundsätzlich ist die Tendenz zu beobachten, dass Teilband II und III die grundlegenden T hemen des ersten Teilbandes fortführen und vertiefen. Coll. 18 f. jedoch nehmen ein gänzlich neues T hema auf, das bisher nur in den Prologen in der oben skizzierten Weise behandelt wurde, was m. E. auf zwischenzeitliche Rückfragen zum T hema schließen lässt. In coll. 18 lässt Cassian Abbas Piamun vier Arten von Mönchen sowie die Ursprünge der monastischen Idee beschreiben. In coll. 19 lässt er Abbas Johannes über sein eigenes Erreichen der Vollkommenheit, sowohl als Koinobit als auch als Eremit, sowie über die Gründe für seine letztendliche Entscheidung für das Koinobitentum, sprechen. Abbas Piamun wird als Ältester und Presbyter aller in der Region um Diolcos lebenden Anachoreten eingeführt (506,20 f.). Bevor er beginnt, die vier Arten von Mönchen im Einzelnen zu erläutern, warnt er davor, monastische Bemühungen zu leicht zu nehmen: Unabhängig davon, für welche der Lebensformen man 37
Die positive(re) Einschätzung des Mönchtums auf den stöchadischen Inseln mag der Tatsache geschuldet sein, dass dort Koinobiten und Anachoreten gemeinsam bzw. nebeneinander gelebt haben. Ripart 2017, 137 verweist allerdings darauf, dass über das konkrete Leben auf dieser Inselgruppe wenig bekannt ist. 38 … id est ut non solum hi qui adhuc per congregationes laudabili subiectione perdurant, sed etiam illi qui haud longe a uestris coenobiis secedentes anachoretarum sectari gestiunt disciplinam, pro condicione locorum ac status sui mensura plenius instruantur (503,17–21).
5.2 Verschiedene Arten des Mönchtums
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sich entscheidet, müssen die Richtlinien der Meister – genau wie in jeder anderen Kunst oder Wissenschaft, in der man nach Perfektion39 strebt – genauestens eingehalten werden.40 Er rät dazu, das von den Vätern Gelehrte und an ihnen Beobachtete auszuführen, selbst wenn der Grund sich (noch) nicht erschließt. Denn immer folgt das Wissen erst auf eine Erfahrung im Tun41 – eine von vornherein theoretische Herangehensweise ist, unabhängig vom angestrebten monastischen Ziel, zum Scheitern verurteilt.42 Nach dieser Einführung, die methodisch grundlegt, wie eine monastische Lebensform einzuüben ist, beginnt in coll. 18,4 eine Betrachtung der inhaltlichen Vorzüge der möglichen Lebensformen. Abbas Piamun gibt zunächst an, im Folgenden über drei Formen des Mönchtums reden zu wollen:43 Die Koinobiten, von denen es in Ägypten viele gibt und die sich vor allem durch die Unterordnung unter Abt und Gemeinschaft auszeichnen, die Anachoreten, die, nachdem sie die Vollkommenheit im Koinobion erreicht haben, die Einsamkeit der Wüste suchen – diese Lebensform gibt er als sein eigenes Ziel und das seiner Zuhörer an – und zuletzt die zu verachtende Art der Sarabaiten.44 Keine dieser Mönchsarten ist ohne Kenntnis ihrer Ursprünge zu verstehen, so Piamun. Er beginnt seine Darlegung mit den Koinobiten, deren Lebensform er auf die Jerusalemer Urgemeinde (Apg 4,32–37) zurückführt. Allerdings räumt er ein, dass dieses urgemeindliche Ideal der gelebten (Güter-)Gemeinschaft aufgrund des zu raschen Wachstums der Gemeinde schnell erkaltete.45 Als Ursache nennt er wiederholt den Zustrom von Heiden, die sich zu Christus bekennen wollten, ohne ihren Besitz abzugeben. Dies führte dazu, dass diejenigen, denen es mit dem Glauben ernst war, die Städte verließen, um dort die Lebensform der 39
Zur Frage, wie diese „Perfektion“ weiterhin inhaltlich zu füllen ist, s. 6.3. quisque hominum, o filii, cuiuslibet artis peritiam adsequi concupiscit, nisi omni cura atque uigilantia eius se quam nosse desiderat disciplinae studiis manciparit ac perfectissi morum quorumque opificii ipsius uel scientiae magistrorum praecepta atque instituta se ruauerit, frustra inanibus uotis eorum similitudinem exoptat adtingere, quorum curam at que industriam detractat aemulari (507,17–23). 41 per operis experientiam etiam scientia rerum omnium subsequetur (508,20 f.). 42 Diese grundlegende Feststellung, die auch in coll. 1 und coll. 14 thematisiert wird (s. 1 und 3.1.1.1), nimmt Bezug auf die Zusammenstellung der Begriffe inexpertus und ineruditus – auf die untrennbare Verbindung von Lernen und Erfahrung – im ersten Prolog (s. 5.4). 43 Tatsächlich lässt Cassian Piamun hier von drei Arten sprechen, die vierte, die oben bereits erwähnt wurde, folgt ohne Vorankündigung. 44 tria sunt in Aegypto genera monachorum, quorum duo sunt optima, tertium tepidum atque omnimodis euitandum. primum est coenobiotarum, qui scilicet in congregatione pa riter consistentes unius senioris iudicio gubernantur: cuius generis maximus numerus mo nachorum per uniuersam Aegyptum commoratur. secundum anachoretarum, qui prius in coenobiis instituti iamque in actuali conuersatione perfecti solitudinis elegere secreta: cuius professionis nos quoque optamus esse participes. tertium reprehensibile Sarabaitarum est (509,3–12; Hervorhebungen DS). 45 sed cum apostolorum excessu tepescere coepisset credentium multitudo (510,7 f.) … il lius fidei refrigesceret feruor (510,17). 40
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
Jünger zu praktizieren, die eigentlich für alle Christen empfehlenswert wäre. Sie waren die, die als erste als μονάζοντες (511,7), später konkret als Koinobiten bezeichnet wurden.46 Diese Mönche sind laut coll. 18,5 nicht nur chronologisch, sondern auch in Bezug auf die Gnade die Ersten.47 Sie existierten in dieser Vorrangstellung unangefochten, bis mit den namentlich genannten ersten Anachoreten Paulus und Antonius ein Wandel des monastischen Ideals eintrat.48 Daran anschließend bestimmt coll. 18,6 das Verhältnis von Koinobiten und Anachoreten als Wurzel, die Blüten und Früchte ausbildet.49 Dieses Bild macht deutlich, wie eng der Zusammenhang der beiden Lebensformen ist: Sie stellen keine Alternativen, sondern vielmehr einen organischen, sich entwickelnden Zusammenhang dar. Als Beweggrund für diese Entwicklung wird die Sehnsucht der ersten Anachoreten Paulus und Antonius nach einem höheren Fortschritt und nach der Schau des Göttlichen genannt (desiderio sublimioris profectus contemplationisque divi nae 511,20 f.) – auch wenn Cassian Piamun um das Gerücht, dass Paulus vorrangig seinen Verfolgern entgehen wollte, wissen lässt.50 Die Lebensform (disciplina 511,25) der Anachoreten wird als aliud perfectionis genus (511,25) charakterisiert – sie führt also nicht zu einer besseren, sondern nur zu einer anderen Art der Vollkommenheit als die der Koinobiten. Biblisches Vorbild für diese Art der Lebensführung ist nicht länger die Urgemeinde, sondern es werden Johannes der Täufer (512,4), Elia und Elischa (512,5) genannt. 46 In dieser Rückbindung monastischer Ideale an die Urgemeinde der Apostelgeschichte ist vermutlich eine an den Prolog der Instituta erinnernde Ablehnung des gallischen Mönchtums – charakterisiert durch eine enge Anbindung an kirchliche und aristokratische Strukturen – zu erkennen. Diese gallischen Traditionen (s. 2.3.1) übergeht Cassian bewusst, um eine direkte Linie von der Urgemeinde zu den von ihm präsentierten monastischen Idealen zu zeichnen (vgl. Greschat 2017, 153–155). 47 … non solum tempore, sed etiam gratia primum… (511,11). 48 per annos plurimos inuiolabile usque ad abbatis Pauli uel Antoni durauit aetatem: cuius etiam nunc adhuc in districtis coenobiis cernimus residere uestigia. (511,12–14). 49 De hoc perfectorum numero et ut ita dixerim fecundissima radice sanctorum etiam anachoretarum post haec flores fructusque prolati sunt (511,15–17). Die Rede von Blüten und Früchten, die Stufen des Mönchtums markieren, weist eine gewisse Tradition auf, s. Evagrius Ponticus, spir. mal. 1,1 (PG 79, 1145): Ἀρχὴ καρποφορίας, ἄνθος, καὶ ἀρχὴ πρακτικῆς, ἐγκράτεια. Cassian erweitert das Bild jedoch deutlich, nicht länger bilden Blüten und Früchte die eine Bildhälfte und Enthaltsamkeit und gelingende πρακτική die andere, sondern nun sind die im Koinobion Vollkommenen die, aus denen die Blüte der Anachorese austreibt. Die Enthaltsamkeit wird aus dem Vergleich herausgenommen und die Blüte, das Ziel, von der πρακτική zur Anachorese. 50 Vgl. Hieronymus, V. Pauli 4 f., zu dieser Flucht ausführlich Schulz-Wackerbarth 2017, 180–201: Y. Schulz-Wackerbarth diskutiert hier, wie aus dem auf den ersten Blick überraschenden bzw. nicht sehr heiligen Motiv einer furchtsamen Flucht vor Verfolgern in positiver Wendung ein entscheidendes Moment der hagiographischen Darstellung des ersten Wüstenmönches werden konnte, nämlich indem so seine Entwicklung hin zum Heiligen in den Blick genommen und für die Leserschaft nachvollziehbar wird.
5.2 Verschiedene Arten des Mönchtums
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Die dritte Mönchsgattung, auf die Piamun detailliert eingeht, ist die der Sarabaiten (coll. 18,7).51 Auch wenn sie erst später als die beiden anderen entstand, wird sie mit einem biblischen Beispiel aus der Urgemeinde verbunden: Hananias und Saphira (Apg 5,1–11). Damit sind alle drei Mönchsarten biblisch begründet bzw. haben einen biblischen Vergleichspunkt. Dies dient nicht nur der Anschaulichkeit, sondern primär einer Legitimation des Mönchtums in der von Cassian präsentierten Gestalt: Cassian versucht so, gallischen Kritikern, die die von ihm präsentierte Lebensform mit den um Marseille vorfindlichen Gegebenheiten für unvereinbar halten, von Vornherein die Argumente zu nehmen.52 Der tatsächliche historische Wert dieser monastischen Ursprungserzählungen ist im Gegenüber zu seiner dargestellten ideellen bzw. idealisierenden Funktion zu vernachlässigen.53 Die Sarabaiten trennen sich in Kleingruppen von bestehenden Klostergemeinschaften ab und sorgen fortan selbst für ihren Unterhalt. Dass diese Abart des Mönchtums sich überhaupt ausbilden konnte, führt Piamun darauf zurück, dass die Erinnerung an die Strafe, die Hananias und Saphira für ihr Fehlverhalten von Petrus erhalten haben, nicht mehr präsent gewesen sei. Konkret zählt er die folgenden Fehler der Sarabaiten auf: Sie heucheln die Vollkommenheit des Evangeliums, anstatt sich in Gänze darauf einzulassen; sie ziehen die Reichtümer der Welt der echten Nachfolge Christi vor; sie suchen weder die Zucht der Klöster, noch wollen sie sich dem Willen der Väter unterwerfen oder von ihnen lernen, wie sie ihre Leidenschaften überwinden könnten; sie führen das monastische Leben nur dem Schein nach, im Inneren ihrer sogenannten Klöster, ohne sich dabei den Geboten des Evangeliums unterzuordnen. Die Handarbeit dient ihnen lediglich zur Gewinn- bzw. Genussmaximierung. Selbst wenn die Sarabaiten ihren Überschuss mit den Armen teilen, tun sie dies vorrangig um des eigenen Hochmutes willen.54 Während die Koinobiten sich vor allem durch Geduld und Strenge auszeichnen und sich so täglich der Welt kreuzigen und dadurch zu lebenslangen Märtyrern werden,55 ist es unausweichlich, dass die Sarabaiten 51 C. Cannuyer führt den Begriff der Sarabaiten auf das koptische Wort ‚sarakote‘ zurück. Inhaltlich setzt er sie mit den Gyrovagen, „le mode de vie érémetique les plus primitif“, gleich (Cannuyer 2001, 7). 52 Vgl. Chadwick 1968, 53. 53 M.-A. Vannier arbeitet heraus, dass Cassian sich an diesem Punkt eher als Historiograph, denn als Historiker betätigt: Vieles sei „fantaisiste“ und diene lediglich dem Zwecke, seine „pédagogie de la vie spirituelle“ zu illustrieren (Vannier 2001, 157 f.). Dabei beruft sie sich auf A. de Vogüé, der Cassians Werk in dieser Hinsicht ebenfalls attestiert, eine „fabrication historique“ zu sein (de Vogüé 1996, 88). Auch Alciati 2011, 67–80 beschäftigt sich mit der Frage, wie Cassian sich – rhetorisch stilisiert – einer monastischen Genealogie bedient, um die Autorität seiner Lehrer(figuren) zu sichern. 54 Cassian entwickelt hier einen regelrechten Lasterkatalog der Sarabaiten, der in der Druckausgabe gut eine Seite einnimmt (513,23–514,23). 55 crucifixos huic mundo cotidie uiuosque martyras facit (516,1 f.). Das Motiv des Mönchtums als lebenslangem Martyrium, verbunden mit dem Motiv der Glaubensfestigkeit der
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
aufgrund ihres Eigenwillens lebend in die Hölle stürzen56. Das hier geschilderte Fehlverhalten der Sarabaiten deckt sich in großen Teilen mit der Kritik, die Cassian in den Instituta am gallischen Mönchtum übt.57 Nachdem er diese fehlgeleitete Unterart der Koinobiten am ausführlichsten von allen Formen des Mönchtums beschrieben hat, räumt Piamun in coll. 18,8 deutlich kürzer ein, dass es noch eine vierte Gruppe von Mönchen, in diesem Fall eine Unterart der Anachoreten, gibt. Bei dieser vierten Art handelt es sich um Mönche, die des Koinobions überdrüssig geworden sind und sich deshalb in anachoretischer Manier ein abgelegenes Kellion suchen. Dort erwecken sie lediglich den Anschein, anachoretische Tugenden zu leben, in Wahrheit aber sind sie immo tepor (516,24), weshalb sie anfällig für Laster und Sünde sind. Aus Achtung vor den aufrichtigen Eremiten, mit denen sie leicht zu verwechseln sind, wagt es jedoch niemand, ihren Lebensstil zu kritisieren. Die Schlussfolgerung, die Piamun aus der Betrachtung dieser Lebensform zieht, lautet, dass man, wenn man die Laster versteckt, anstatt sie zu bekämpfen, nicht zur Tugend hindurchgelangen kann, weshalb auch diese Form monastischen Lebens abzulehnen ist (porro uirtutes non occultatione uitiorum, sed expugnatione pariuntur 517,5 f.). Bevor Piamun sich im folgenden Teil von coll. 18 den Tugenden,58 die die Wahl der richtigen monastischen Lebensformen zu erwerben ermöglichen, widmet, beschließt er seine Ausführungen über die verschiedenen Arten des Mönchtums mit einem Votum, das die Relation von Koinobiten und Anachoreten, die in praef. I–III anklang, bündelt: „Da ich sehe, dass ihr von der besten Art der Mönche die Grundregeln dieses Standes euch zu eigen gemacht habt, will heißen, von der lobenswerten Kampfschule der Koinobiten zu den erhabenen Gipfeln der Anachoreten strebt, … .“59
Hier wird mit palaestra und fastigium beiden positiv konnotierten Formen des Mönchtums eine Rolle zugewiesen und gleichzeitig eine untrennbare Verbindung hergestellt: Ein Erklimmen des Gipfels ohne vorheriges Training ist nicht möglich, genauso läuft ein Training ohne Ziel ins Leere bzw. lässt den notwendigen Ernst vermissen. Dabei ist das Koinobion selbst bereits laudabilis (517,20) und damit mehr als ‚nur‘ ein Vorbereitungsinstrument. Cassian lässt Piamun Konfessoren, weist bereits eine gewisse Tradition auf, zahlreiche Beispiele z. B. aus der Vita Antonii nennt Gemeinhardt 2014, 172–175. 56 hos arbitrii sui tepor ad inferna dermergit (516,2 f.). 57 Vgl. Stewart 1998, S. 17 f.: bes. inst. 2.3.4–5; 4.16.3. Zudem formuliert Cassian in dieser Passage in Anlehnung an Hier., ep. 22,34, der nahezu gleichlautende Vorwürfe gegenüber den remnuoth in provincia nostra anbringt (vgl. Sheridan 1981, 301–321 und Cannuyer 2001, 11–14). 58 tranquillitas (coll. 18,12 f.); lenitas (coll. 18,12); mansuetudo (coll. 18,12); patientia (coll. 18,13 f.); desiderium solitudinis (coll. 18,15). 59 Ziegler 2015, 69; Quamobrem quoniam de optimo genere monachorum uideo uos pro fessionis huius arripuisse principia, id est de laudabili coenobiorum palaestra ad excelsa fas tigia anachoreticae tendere disciplinae (517,18–21).
5.2 Verschiedene Arten des Mönchtums
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in coll. 18,10 erklären, dass das Koinobion (coenobium) Gelübde und Lebensform bezeichnet und damit über eine bloße Bezeichnung des Aufenthaltsortes des Mönches (das wäre in cassianischer Terminologie das Monasterion [monas terium]) hinausgeht.60 Vielmehr scheint Piamun das optimum genus monachorum (517,18) nicht in einer der beiden Arten des Mönchtums, sondern vielmehr in der Entwicklung, in dem Aufstreben von der einen zur anderen Art, zu sehen. So zumindest lässt es die von Cassian gewählte Satzstellung vermuten, die Koinobion und Anachorese parallel im Relativsatz, der zur Erklärung des optimum genus monachorum dient, positioniert. Diese Definition fügt sich zu der o. g. Beobachtung, dass die Collationes selbst durch die Aufbereitung von anachoretischem Wissen zur Rezeption im Koinobion an der Schwelle zwischen beiden monastischen Lebensformen stehen. Damit sind sie keiner der beiden Formen exklusiv zuzuordnen, sondern fokussieren vielmehr das nun als optimal definierten Moment der Entwicklung des Einzelnen.61 Dass diese Entwicklung nicht in jedem Fall linear sein muss und dass auch allein im Koinobion Vollkommenheit erlangt werden kann, erklärt coll. 19. Im Kloster des Abbas Paulos treffen Germanus und Cassian auf den antiquissimus senex (535,17) Johannes, der für seine besonders große Vollkommenheit, die hier als Mutter aller anderen Tugenden bestimmt wird, bekannt ist.62 Johannes kennt beide Lebensformen aus Erfahrung, er hat in der heremi libertas (536,5), aber auch unter dem coenobii iugum (536,7) gelebt und sich letztendlich für das Koinobion entschieden. Dieses wird näher definiert als iuniorum scola (536,9), die Johannes letztendlich dem „Gipfel solch hoher Vollkommenheit“63 vorzog, da er sich diesem nicht würdig fühlte. Cassian lässt sein jüngeres Ich ebenfalls die Entscheidung für die Freiheit der Wüste hinterfragen, plötzlich erscheint sie als eine Flucht vor dem Joch des Koinobions, wird als noxia libertatis (535,27), als ein Zugeständnis an den eigentlich abzulegenden Eigenwillen, bezeichnet. Nach diesem überraschenden Perspektivwechsel, der die zuvor so hoch gelobte Lebensform der Anachoreten erstmals kritisch betrachtet, beginnt Johannes seine Un60 quod monasterium nomen est diuersorii, nihil amplius quam locum, id est habitacu lum significans monachorum, coenobium uero etiam professionis ipsius qualitatem disciplin amque designat (517,10–13). 61 Diese Entwicklung von einer klaren Überordnung der Anachorese hin zu einer fast ebenso großen Achtung vor dem Koinobion sieht auch M. Sheridan. Er schlussfolgert, dass Cassian die traditionell ägyptische Sichtweise zugunsten einer individuelleren Betrachtung der Entwicklung des Inneren Menschen aufbricht (vgl. Sheridan 2012a, 310–313). 62 …, scientes eum hac maxime perfectione uiguisse, quae cum sit uirtutum omnium ma ter ac totius spiritalis structurae solidissimum fundamentum, a nostris penitus exulat insti tutis (535,20–23). 63 Ziegler 2015, 85; ille uelut inparem se anachoreticae disciplinae et summitate tantae perfectionis indignum ad iuniorum scolas reuertisse dicebat, si tamen uel ipsorum instituta secundum professionis meritum posset inplere (536,7–11).
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terweisung, indem er zunächst eine Beschreibung des anachoretischen Lebens sowie eine Erklärung, weshalb er sich von diesem abgewandt hat, gibt und das Leitmotiv für die vermeintliche Rückentwicklung vom Eremiten zum Koinobiten folgendermaßen formuliert: „Es ist ja besser, getreu in kleinen als untreu in großen Versprechungen gefunden zu werden“64 . Johannes stellt fest, dass der Weg zur Vollkommenheit, der im Koinobion beschritten werde, ebener sei und weniger schnell zu Hochmut verleite.65 Coll. 19,4 nennt weitere mögliche Schwierigkeiten der Anachorese: An sich sei ein völliges Außer-sich-Sein66 zwar ein erstrebenswertes Ziel, aber zum Teil sei der Geist so mit der Gottesschau beschäftigt, dass er pragmatische Dinge wie die Nahrungsaufnahme völlig vergesse und so nicht nur die Gesundheit des Eremiten gefährde, sondern auch die Feiertage, die wiederum an der Anzahl der noch vorhandenen Brotstücke gezählt würden, aus den Augen verliere. Ein weiteres Hindernis des anachoretischen Lebens, konträr zu der vorhergehend genannten völligen Entfernung von allem Menschlichen, nennt coll. 19,5: Immer mehr Brüder suchten die Einsamkeit der Wüste, sodass die Weite eng werde und das Feuer erkalte, d. h. dass das Außer-sich-Sein durch eine vermehrte Sorge um Zwischenmenschliches begrenzt wird.67 Zusammen mit coll. 19,4 gelesen lässt sich hier erkennen, dass es offenbar nur ein schmaler Grat ist, auf dem die gelingende Askese angesiedelt ist – und hat man diesen erreicht, droht immer noch das Übel des Hochmuts und der Ruhmsucht. Dieser offenbar großen Schwierigkeit versuchte Johannes entgegenzuwirken, indem er sich für das Koinobion entschied, den Ort, an dem es ihm endlich möglich war, die Sorge um den morgigen Tag abzulegen. Denn auch wenn im Koinobion weder Freiheit noch Außer-sich-Sein zu erreichen sind, gelang es ihm hier, das Gebot des Evangeliums zu erfüllen.68 Dies lässt Johannes bzgl. der verschiedenen Lebensformen zu folgendem Schluss kommen, der das Leitmotiv aus coll. 19,3 wieder aufnimmt: 64 Ziegler 2015, 85; melius enim est deuotum in minoribus quam indeuotum in maioribus promissionibus inueniri (536,23–537,2). Ziegler sieht in dieser Passage eine vage Anlehnung an Mt 25,21, eine Passage der Parabel von den anvertrauten Talenten („Da sprach sein Herr zu ihm: Recht so, du guter und treuer Knecht, du bist über wenigem treu gewesen, ich will dich über viel setzen; geh hinein zu deines Herrn Freude!“). 65 Vgl. 536,18–23. Dieses Abwenden von der in ägyptischer Perspektive üblichen Hochschätzung der Anachorese über das Koinobion beschreibt O. Chadwick wie folgt: „In practice Cassian discouraged monks who wanted to become hermits. Only perfect men ought to go into the wilderness. Who will declare himself perfect? Not Cassian. He recognized himself as a beginner.“ (Chadwick 1968, 54). Das lässt die zunehmende Achtung vor dem Koinobion als einen Akt der Demut erscheinen. 66 raptum frequenter excessum (537,17). 67 Das Motiv der Übervölkerung der Wüste ist z. B. aus der Vita Antonii bekannt (vgl. Gemeinhardt 2018, 61–64). 68 si mihi illa libertas ac spiritales denegantur excessus, abiecta tamen crastinae diei peni tus sollicitudine euangelici me praecepti consummatio consoletur (539,3–6).
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„Es ist ja doch ein Elend, sich zum Unterricht in einer Kunst oder Bestrebung zu bekennen und doch überhaupt nicht bis zur Vollkommenheit darin durchzukommen.“69
Coll. 19,6 gibt an, die Vorzüge, die Johannes in der koinobitischen Lebensform sieht, aufzählen zu wollen. Damit verbunden ist dessen explizite Aufforderung an Germanus und Cassian zu erwägen, „ob jener Gewinn der Einsamkeit durch diese Wohltaten aufgewogen werden kann“70. Doch anstatt konkrete Vorteile des Koinobions zu nennen, übt Johannes zunächst deutliche Kritik an der von ihm beobachteten Anachorese:71 Er habe bemerkt, dass die Anachoreten die strengen Fastengebote zunehmend lockern, immer mehr Besitz anhäufen und sich immer häufiger durch Treffen und Gespräche von ihrem eigentlichen Vorhaben ablenken lassen.72 Durch diese zur Gewohnheit werdende Unruhe werde der Geist gehemmt (tamen animum consuetudinariae inquietudinis adsiduitate suspensum expectatio ipsa distendit 540,22 f.), wodurch die Anachorese inhaltsleer werde und es nicht mehr möglich sei, das Aufsteigen des Herzens zu erreichen.73 Das sei zwar auch im Koinobion nicht möglich, aber hier könne immerhin die „Ruhe der Seele und die Stille des Herzens“74 erreicht werden. In anderen Worten formuliert Johannes, dass durch das Leben im Koinobion dem Herzen zwar ein Stück Reinheit genommen werde, aber dennoch Zufriedenheit durch die Erfüllung der Gebote erlangt werden könne. Als biblische Voten für eine Bevorzugung des Koinobions werden Phil 2,875 und Joh 6,3876 angeführt, also die Motive der Erniedrigung und der Unterordnung unter einen anderen (nämlich den göttlichen) Willen aufgerufen. 69 Ziegler 2015, 87; miserum namque est cuiuslibet artis ac studii disciplinam quempiam profiteri et ad perfectionem eius minime peruenire (539,8 f.). 70 Ziegler 2015, 88; uos utrum illa solitudinis lucra his beneficiis ualeant conpensari dige sta narratione perpendite (539,11 f.). 71 Diese Kritik richtet sich weniger gegen das Prinzip der Anachorese, als gegen die unzureichenden Versuche ihrer Umsetzung, die Cassian in Südgallien beobachten musste. Sie gipfelt in der Absehung von Vollkommenheit als höchstem Ziel und ihrer Substitution durch eine lediglich partielle Vollkommenheit (s. 6.3). 72 Diese Beschreibung lässt stark an die in coll. 18,8 angerissene vierte, nur schwer zu erkennende Art von Mönchen denken. 73 atque ita fit, ut anachoreseos illa libertas huiuscemodi nexibus inpedita ad illam cordis ineffabilem alacritatem numquam omnino conscendat ac fructum heremiticae professionis amittat (540,23–26). Dass die Frucht des Eremitentums verloren geht, ist eine Bezugnahme auf coll. 18,6. Dort wurde die Anachorese als Blüte / Frucht aus der Wurzel des Koinobions dargestellt. Man könnte also sagen, dass die von Johannes beobachteten Entwicklungen scheinbar den Herbst des Mönchtums einleiten, das Leben zieht sich aus den absterbenden Früchten in die Wurzel zurück. 74 Ziegler 2015, 89; animae cordisque tranquillitas (541,2); zum Motiv der Ruhe bzw. Reinheit des Herzens s. 6.1.1. 75 „Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.“ 76 „Denn ich bin vom Himmel gekommen, nicht damit ich meinen Willen tue, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.“
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Nachdem somit durch ein Abwägen von Vorsatz und Durchführbarkeit wenn auch keine Gleichwertigkeit, so doch unter praktischen Gesichtspunkten eine Gleichachtung von Koinobion und Anachorese formuliert wurde, wenden sich die folgenden Kapitel von coll. 19 den Zielen der beiden Lebensformen zu. Bevor jedoch konkrete Zielvorstellungen formuliert werden, macht Johannes eine methodische Bemerkung, nach der bei der Zielsetzung nicht einige Herausragende, sondern die Fähigkeiten aller als Maßstab dienen sollen.77 Denn da die Vollkommenheit in einer, oder gar in beiden Lebensformen, nur von sehr wenigen zu erreichen sei, dürfe sie nicht zur Regel gemacht werden. Unter Berücksichtigung der schwachen menschlichen Natur dürfe die Vollkommenheit nicht als nachzuahmendes Beispiel angesehen werden, sondern müsse vielmehr als Wunder erscheinen.78 Unter diesem Vorbehalt lautet die Zielsetzung des Koinobions: „Das letztendliche Ziel des Koinobiten ist, all seinen Eigenwillen zu töten und zu kreuzigen und nach dem heilsamen Gebote der Vollkommenheit des Evangeliums nicht über den morgigen Tag nachzudenken.“79
Das Ziel des Eremiten hingegen ist es „den Geist von allem Irdischen abgezogen zu haben und ihn, sofern menschliche Schwäche es vermag, so mit Christus zu vereinen“80. Die Rede von konkreten Zielen unter Verwendung des Begriffes finis lässt stark an coll. 1,2 denken: Dort allerdings wird das erste Ziel (das des koinobitischen Lebens) mit destinatio bezeichnet, wohingegen finis das höchste Ziel markiert, die durch Anachorese zu erreichende Einung und Gottesschau (s. 6.1.2). Coll. 19,9 wiederholt, dass perfectio (543,11) ein Geschenk Gottes sei und nur wenigen zuteilwerde, die anderen würden nur eine μερικὴ (543,10; s. auch 6.3) erreichen, d. h. eine partielle Vollkommenheit. Denn wahre Vollkommenheit, so der hier neu eingeführte Gedanke, sei erst dann erreicht, wenn jemand in beiden Lebensformen zum Ziel gelangt ist.81 Dies jedoch sei höchst ungewöhnlich, da es in der Regel den Anachoreten an Selbstentäußerung und den Koinobiten an reiner Gottesschau mangle.82 77 non enim a parte minima, id est de consideratione paucorum, sed ex his quae mul torum, immo omnium subiacent facultati, uniuersalis est regula proponenda (542,5–8). 78 nec tam pro exemplo quam pro miraculo proferenda (542,11 f.). 79 Ziegler 2015, 90; finis quidem coenobiotae est omnes suas mortificare et crucifigere uoluntates ac secundum euangelicae perfectionis salutare mandatum nihil de crastino cogi tare (542,14–16). 80 Ziegler 2015, 91; heremitae uero perfectio est exutam mentem a cunctis habere terrenis eamque, quantum humana inbecillitas ualet, sic unire cum Christo (542,26–543,1). 81 is enim uere et non ex parte perfectus est, qui et in heremo squalorem solitudinis et in coenobio infirmitatem fratrum aequali magnanimitate sustentat (543,12–15); s. hierzu ausführlich 6.3. 82 et ideo in utraque professione per omnia consummatum inuenire difficile est, quia nec anachoreta ἀκτημοσύνην, id est contemptum ac priuationem materialium rerum, nec coeno biota theoreticam ad integrum potest adsequi puritatem (543,15–19).
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Coll. 19,10 betont abermals die Gefahr, die Anachorese zu erstreben, ohne das Koinobion erfolgreich durchlaufen zu haben. Das Koinobion wird als Trainingsort, an dem nicht nur die Laster bekämpft werden, sondern auch Geduld eingeübt wird, beschrieben. Erst danach ist der Mönch bereit, Schweigen und Einsamkeit zu ertragen, ohne sie zur Verschleierung seiner Flucht vor der Gemeinschaft zu nutzen – vielmehr noch: Der wahre Grund für das Leben in der Anachorese wird erst mit dem Erreichen der koinobitischen Vollkommenheit ersichtlich. Dieses Problem nimmt Germanus in coll. 19,11 auf, indem er einräumt, selbst die coenobiales disciplinae (545,1) verlassen zu haben, ohne vorher alle Laster abgelegt zu haben. Er gibt zu, die scola (545,5) und palaestra (545,5) unzeitig früh hinter sich gelassen zu haben und nun vor dem Problem zu stehen, wie er ohne die dortige Übung (exercitatio 545,5) Langmut und Geduld einüben und Unbeirrbarkeit des Geistes erwerben könne. Diese Frage, wie Laster, die eigentlich im Koinobion hätten abgelegt werden sollen, nach dem verfrühten Eintritt in die Anachorese beseitigt werden können, beantwortet Johannes in coll. 19,12–16. Dies ist insofern zur Beantwortung der Fragestellung dieses Kapitels interessant, als die Rolle des Koinobions in zwei Bildern zugespitzt wird: In coll. 19,13 heißt es, dass das Koinobion als Arznei diene, die die für das Leben in der Einsamkeit notwendige Gesundheit herstelle.83 Anders formuliert coll. 19,14: Hier ist das Koinobion der exercitationis ignis (549,17), dessen Aufgabe es ist, die Laster auszukochen (excoquere 549,16). Inhaltlich werden beide Bilder ähnlich gefüllt: Laster können nur erkannt und bekämpft werden, wenn man mit ihnen bzw. mit Reizen, die sie auslösen, konfrontiert ist. Dies ist durch die Mitmenschen im Koinobion stets gegeben, in der Einsamkeit der Anachorese müssen derartige Konfrontationen bewusst in Gedanken herbeigeführt werden, um das im Koinobion Versäumte nachzuarbeiten.84 5.2.3 Die Bedeutung verschiedener Lebensformen für die monastische Bildung Der Blick in die drei Prologe der Collationes und in die beiden Unterredungen, die sich explizit mit den verschiedenen monastischen Lebensformen beschäftigen (coll. 18 f.), lässt hinsichtlich der Beschreibung der Rahmenbedingungen monastischer Bildung in den Collationes viererlei erkennen.85 83 in congregationibus initium salutis adquiritur et sani in solitudine esse non possunt nisi quos prius coenobiorum medicina sanauerit, perniciosa rursum desperatione concidimus, ne forte qui inperfecti coenobium reliquimus nequaquam iam in heremo perfecti esse ualeamus (547,18–23). 84 Vgl. coll. 19,6; bes. 551,2–7. 85 Diese Schlussbetrachtung beschränkt sich auf die Lebensformen der Anachorese und des Koinobions. Die Sarabaiten und die Mönche, die eine Anachorese nur vortäuschen, dienen Cassian lediglich als Negativbeispiel, von dem er seine Unterweisung abgrenzt. Es entsteht nicht der Eindruck, dass er Mitglieder dieser Gruppierungen (bzw. der durch die
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Erstens wird bei diesem T hema so sehr wie bei kaum einem anderen sichtbar, wie sich Cassians Position während der knapp fünf Jahre, in denen die Colla tiones entstanden sind (s. 2.3.2.2), gewandelt hat: Während Cassian im ersten Teilband noch eine Position vertritt, die in strikter ägyptischer Tradition stehend eine Vorrangstellung der Anachorese vor einer koinobitischen Lebensform postuliert,86 wandelt sich diese Einschätzung in Teilband II und III immer stärker, bis im dritten Teilband sogar die vermeintliche Rückentwicklung des Johannes – aus der Anachorese in das Koinobitentum – als vorbildlich dargestellt werden kann. Zweitens machen die Adressatennennungen im zweiten und dritten Prolog deutlich, dass Cassian explizit für Koinobiten, genauer: für Klostervorsteher schreibt und dass diese seine Unterweisung erbeten haben, um sie wiederum ihren Schülern, den koinobitisch lebenden Mönchen ihrer Klöster, zu vermitteln. Das zeigt, dass das Ideal der vollkommenen Hingabe an Gott bis hin zu Gottesschau und mystischer unio (s. 6.1.2) nicht länger exklusiv an die anachoretische Lebensform gebunden ist, sondern individuell und inklusiv auch hinter Klostermauern erstrebt werden kann – und dass dies von Cassian befürwortend unterstützt wird.87 Die dafür notwendigen Rahmenbedingungen, die aus geografischen Gründen88 in Südgallien nur schwer zu finden sind, substituiert Cassian mithilfe der in den Collationes geschaffenen narrativen Rahmenbedingungen (s. 3.3 zum Begriff des Worldmaking). Drittens – bzw. eng an zweitens anschließend – stärkt Cassian so die Möglichkeit des individuellen Fortschritts: Dieser ist nicht länger an die anachoretische Lebensform, gar an eine gefährliche Reise nach Ägypten, gebunden, sondern kann innerlich erstrebt werden, auch wenn der Mönch äußerlich im gallischen Koinobion zu verharren gezwungen ist. Diese Verinnerlichung und gewissermaßen auch Individualisierung eines Ideals wird bereits im ersten Prolog durch den angekündigten Blickwechsel vom cultus zum habitus eingeläutet: Nicht länger steht die (gemeinschaftlich) gepflegte Lebensform im Fokus, sondern vielmehr die innere Haltung – und so kann auch der Klosterbewohner lernen, wie ein Einsiedler in der Wüste zu denken, zu glauben und zu fühlen. Viertens wird vermehrt das Zusammenspiel von koinobitischer und anachoretischer Lebensform in den Blick genommen: Das Koinobion erscheint nicht länger als die schlechtere der beiden Optionen, sondern als die notwendige Vorbereitung für den Fortschritt (sei dieser nun tatsächlich räumlich oder nur ägyptischen Beispiele vertretenen gallischen Fehlformen des Mönchtums) adressiert oder konkret im Blick hat, vielmehr hebt er seine Adressaten von diesen ab. Ein ähnlicher Prozess der Zielgruppendefinition durch Exklusion begegnet in coll. 8,3 (s. 5.5.2.1). 86 Vgl. Nürnberg 1988, 67 f.; R. Nürnberg formuliert diese Einschätzung jedoch im Blick auf Cassians Gesamtwerk, ohne eine etwaige Entwicklung zu fokussieren. 87 Vgl. Ripart 2017, 126. 88 Diese Herausforderung formuliert Cassian selbst im Prolog der Instituta (s. o.).
5.3 Lehrer und Schüler
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mental anzunehmen), es wird als unübergehbare scola, exercitatio oder auch als palaestra, als Arena, in der notwendige Fähigkeiten eingeübt werden, beschrieben.89 Dieser immer deutlicher hervortretende Zweischritt lässt an die andernorts beschriebenen Zweischritte von telos und scopos (s. 6.1) sowie von πρακτική und θεωρητική (s. 6.2) denken. Cassian betont, dass in beiden Lebensformen eine je eigene Art der Vollkommenheit zu erreichen ist, und dass es in einigen Fällen sogar besser sei, die vermeintlich geringere Lebensform gründlich zu üben, als in der scheinbar höheren zu versagen oder – schlimmer noch – der Hybris zu verfallen. Diese vier Leitlinien, die sich durch die verschiedene inhaltliche Akzentuierung des T hemas monastischer Lebensformen durch die Collationes hindurch verfolgen lassen, lassen Rückschlüsse zu, zum einen auf Cassians Bildungsverständnis, das er innerhalb der Collationes formuliert, und zum anderen auf sein konkretes Bildungshandeln durch die Collationes. Im Blick auf Cassians Bildungsverständnis lässt sich die scheinbar (s. u.) unabdingbare Verbindung von Erfahrung und Lernen feststellen: Die Inhalte der monastischen Bildung sind unmittelbar an die Erfahrung bestimmter Lebensumstände gebunden, wie es im ersten Prolog heißt: eruditio ist nicht ohne experientia möglich (s. 5.4). Zudem zeigt sich am Beispiel der Lebensformen das, was andernorts in abstraktere Begriffspaare wie telos und scopos gegossen wird: Monastischer Fortschritt ist nicht in selbstgewählten, individuellen Bahnen zu erreichen, sondern nur, indem man die durch Altväter vermittelten Wege, die über bestimmte – erprobte und bewährte – Stufen zur Vollkommenheit führen, beschreitet. Im Blick auf Cassians Bildungshandeln lässt sich eine allmähliche Öffnung bzw. Adaption eines Ideals beobachten. Das Ideal einer bestimmten Lebensform, das Cassian selbst als junger Mönch erfahren hat, wird zu Beginn der Collationes noch ausgesprochen traditionell, d. h. eine klare Überordnung der Anachorese behauptend, formuliert. Im Blick auf die Entwicklung der Vorstellung durch die Collationes hindurch könnte man fast schon von einem inklusiven Ansatz sprechen, der Mönchen, die in den in Südgallien gegebenen Formen leben, Zugang zu den Inhalten, die ursprünglich an eine andere Lebensform gebunden waren, ermöglicht. Cassian ist dabei bemüht, die notwendige Erfahrung der verschiedenen Lebensformen erzählerisch nachzubilden und zu ermöglichen. 5.3 Lehrer und Schüler Die Collationes sind ein monastisches Lehrbuch und dies in vielerlei Hinsicht. Zum einen lassen sich im Blick auf ihre äußere Gestaltung Parallelen zu Lehrbüchern aus paganen Bildungskontexten ziehen, wie unter 3.2 ausführlich dar89 Ripart 2017, 127 beschreibt, wie Cassian dieses Zusammenspiel der Lebensformen am Beispiel der stöchadischen Inselmönche beobachten konnte.
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
gelegt wurde. Zum anderen beschreiben die Collationes auf mehreren Ebenen Lehr-Lern-Situationen und damit sowohl die Voraussetzungen als auch das richtige Verhalten von (monastischen) Lehrern und Schülern. Dabei rekurriert Cassian einerseits auf bekannte Motive der monastischen Tradition, wie strengen Gehorsam und eine enge persönliche Verbindung zwischen Schüler und Lehrer,90 setzt darüber hinaus aber auch eine Reihe eigener Akzente, die auf seine Rolle als Vermittler zwischen Ost und West, zwischen verschiedenen Lehr- und Lerntraditionen abheben. Bereits P. Rousseau hält fest: „Cassian raised other points about authority that show he had moved into a world of doubt, compromise, and structural change“.91 P. Rousseau zeigt sich ausgesprochen kritisch und stellt mehrfach heraus, dass „by Cassian’s day“ das Vertrauen in die traditionelle Autorität der Väter bereits deutlich geschwächt gewesen sei, sodass Cassian neue Strategien der Autorisierung habe entwickeln müssen:92 „T he charismatic brilliance of the pioneer had therefore faded; … [now] authority springs from the group; and from the group seen, not only as a historical succession of authoritative leaders, but as a widespread pool of contemporary insight, experience, and expertise.“ 93
P. Rousseau betont: „their [the elders] judgement was no longer the only source of authority: the Law of God stood as clear alternative, showing how the framework of sanctions and guidance had become not only more rigid but also more broadly based.“ 94
Bevor im Folgenden untersucht wird, wie einerseits in den Rahmenhandlungen (s. 5.3.2) und andererseits innerhalb der Reden der Altväter (s. 5.3.3) idealtypische Lehrer-Schüler-Konstellationen dargestellt werden, ist der Blick zunächst auf Cassian selbst als Lehrer zu lenken (s. 5.3.1). Abschließend (s. 5.3.4) wird u.a. zu fragen sein, wie sich das Ergebnis einer Analyse solcher Texte, die darauf zielen, monastische Lehrerfiguren lebendig darzustellen (s. 3.3) und ihre Autorität so von Ägypten nach Gallien zu übertragen, mit P. Rousseaus kritischer Einschätzung verbinden lassen. 5.3.1 Cassian als Lehrer Im Zuge der Annäherung an die Collationes mit Hilfe erzähltheoretischer Überlegungen wurde bereits erörtert, wie sich Cassians Funktionen als Autor, Erzähler und Figur der Erzählung zueinander verhalten (s. 3.3). Nun aber ist in einem 90 Diese und weitere Motive stellt Rydell Johnsén 2018a, 184 f. im Rahmen eines Forschungsüberblicks zum T hema früher monastischer Lehrerfiguren heraus. 91 Rousseau 1978, 189. 92 Vgl., aaO., 192. 93 AaO., 193. 94 AaO., 196.
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zweiten Schritt zu klären, wie Cassian selbst seine Funktion als lehrender Autor oder unterweisender Erzähler darstellt: Vor allem in den drei Prologen, aber auch in den korrelierenden epilogartigen Sequenzen in Teilband zwei und drei thematisiert Cassian seine Rolle als Vermittler.95 Er selbst sieht davon ab, sich als Lehrer vom Range eines Altvaters darzustellen, sondern betont vielmehr in topischer Art und Weise seine eigene Unwürdigkeit und die Selbstzweifel, die ihn bei der Umsetzung seines Projekts begleiten.96 Eine Häufung derartiger Notizen lässt sich im Epilog des zweiten Teilbandes (coll. 17,30) beobachten, hier thematisiert Cassian wiederholt seine vermeintliche Unbildung (inscitia 499,19; incultus 499,20.23; rusticitas 499,22; inperitus 499,26), die im Gegensatz zu der großartigen Lehre (inlustria patrum scientia atque doctrina 499,18 f.; sublimitas sensuum 499,25), die er zu vermitteln versuche, steht. Bemerkenswert ist hier die Trennung des Lehrers (Cassian) und der durch ihn vermittelten Lehre: Diese führt er direkt auf die Väter zurück, sich selbst hingegen stellt er lediglich als unwürdigen Kommunikator einer ihn an Alter und Hoheit übertreffenden Lehre dar. Dennoch lassen sich in der Aufgabenbeschreibung, die Cassian sich selbst gibt, Elemente identifizieren, die deutlich machen, was für ein Lehrverständnis Cassian verfolgt und wie er seine Rolle als Lehrer und Vermittler abseits einer stilisierten Bescheidenheit versteht: Die Collationes beginnen (Prolog I) und enden (Epilog III) mit einem verbindenden Bild: Zu Beginn heißt es, dass Cassian nun den Hafen des Schweigens (portus silentii 4,3) verlassen müsse, um in das weite Meer (inmensum pelagus 4,3) der nachfolgenden Unterweisungen aufzubrechen.97 Dabei habe der „Nachen des Geistes … [sich] einer gefahrvollen Fahrt 95 Cassians Rolle als schreibender Lehrer wird von Stewart 1998, 39 unter der Überschrift „Cassian the teacher“ folgendermaßen definiert: „Cassian’s whole life prepared him for the task he undertook in Gaul. Deeply rooted in the Christian and monastic traditions he knew from experience and from wide reading, he shaped his monastic theology accord ing to the needs he perceived in his own time and place. T here are many things going on in Cassian’s monastic writings. He portrayed a lost golden age of Egyptian monasticism, wanted to salvage and to propagate Origenist theology, and had definite ideas about the direction of monasticism in southern Gaul. T hrough all these agenda ran his fundamental concern for instruction, his ‚tropological level‘ of intention.“ Diese Definition umfasst sehr präzise, was und weshalb Cassian lehrt, nicht aber wie sein Lehrhandeln sich vollzieht, und auch sein Selbstverständnis als Lehrer wird lediglich gestreift. 96 in quo tenuitas nostri suffecit ingenii (3,5); debitum … deposcit (3,20 f.); necessario hoc mihi uirtus caritatis extorsit (311,15 f.); satisfacere potuerunt (312,2); incultis sermoni bus (499,23 f.) Hanc uobis, o sancti fratres, inlustrium patrum scientiam atque doctrinam nostra ut potuit elucubrauit inscitia: quam etiamsi incultus forsitan sermo confudit potius quam digessit, quaeso ne laudem insignium uirorum reprehensio nostrae rusticitatis euacuet (499,18–22); inperita nostri sermonis (499,26); nam licet summorum patrum flagrantissimos sensus tepida eloquii nostri fauilla contexerit (711,6 f.). 97 Mit dieser Metaphorik bedient Cassian sich erneut eines geläufigen rhetorischen Topos der Spätantike (vgl. Schäublin 1994, 25). Sie findet ebenfalls im Abschluss der zweiten Rede des T heonas (coll. 22,16) Verwendung.
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
über abgründige Tiefen“98 auszusetzen. Im Epilog des letzten Teilbandes wird exakt dieses Bild aufgenommen und sogar noch überboten; die letzten Worte von coll. 24 lauten: „So bleibt mir zuletzt die Bitte, das sanfte Wehen eurer Gebete möge mich, der ich bis zum heutigen Tag im gefährlichsten Sturm hin- und hergeworfen werde, in den aller sichersten Hafen [geistlichen] Schweigens geleiten.“99
G. Ziegler weist darauf hin, dass die lange Seefahrt der Collationes durch diesen Rahmen nicht nur einen runden Abschluss erhält, sondern zudem das Schweigen, aus dem der Autor kommt und in das er sich zurückzukehren sehnt, vertieft wird: Beginnend mit dem bloßen Nicht-Reden, von dem im ersten Teilband die Rede ist, schreitet Cassian fort zum Schweigen im Geiste, einer Anspielung auf das Ideal der Herzensreinheit (s. 6.1.1).100 Diese Metaphorik steht nicht nur in Zusammenhang mit der eingangs erwähnten Bescheidenheitstopik, sondern illustriert zudem, dass Cassian direkt aus der monastischen Praxis heraus lehrt und die Notwendigkeit seiner Lehre zwar einsieht – eventuell sogar als einen Akt der demütigen Unterordnung unter die Wünsche seiner Adressaten betrachtet –, aber keine Freude an ihr empfindet, sondern sich vielmehr nach der Rückkehr in die Kontemplation sehnt.101 Bereits in der Seefahrtsmetapher klingt an, dass der Lehrer sich durch das Gebet seiner Schüler – bzw. der Autor durch das Gebet seiner Adressaten – getragen sieht. Dieser Aspekt wird schon im ersten Prolog erwähnt, in dem Cassian seine Adressaten bittet, das vor ihm liegende Unterfangen durch ihr Gebet zu stützen.102 So wird deutlich, dass in der monastischen Lehr-Lern-Situation nicht nur die Eignung des Lehrers und die Bereitwilligkeit der Schüler für den Erfolg entscheidend sind, sondern dass zudem von einem dritten, göttlichen Faktor auszugehen ist. Dies unterstreicht Cassian, indem er mehrfach betont, dass er selbst nur derjenige sei, durch den die Macht der Liebe (uirtus caritatis 311,16) oder die Gnade Christi (iuuante gratia Christi 503,2) wirke – er sieht sich als denjenigen, der das Feuer, das Christus auf die Erde gebracht habe (Lk 12,49103), weiterreiche (sed ad uos, o sancti fratres, non utique hunc ignem, quem dominus uenit mittere in terram… 711,10 f.).104 98 Ziegler 2011, 54; tanto enim profundioris nauigationis periculis fragilis ingenii cumba iactanda est (4,5–7). 99 Ziegler 2015, 241; superest ut me periculosissima hactenus tempestate iactatum nunc ad tutissimum silentii portum spiritalis orationum uestrarum aura comitetur (711,17–19). 100 Vgl. Ziegler 2015, 262. 101 Hierbei handelt es sich nun um einen klassisch monastischen Topos: Lehre als die eigene Kontemplation durchbrechende und damit beinahe lästige Notwendigkeit findet sich bspw. auch in der Vita Antonii (vgl. Gemeinhardt 2018, 61–64, bes. 63). 102 uestrum igitur est conatus nostros piis orationibus adiuuare (4,10). 103 „Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu werfen; was wollte ich lieber, als dass es schon brennte!“ 104 Dabei heißt es nirgends explizit, dass Gott / Christus der eigentliche, innere Lehrer
5.3 Lehrer und Schüler
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Wie an anderer Stelle deutlich wird, bleibt es jedoch nicht bei den drei beteiligten Parteien Gott – Lehrer (Cassian) – Schüler (Adressaten der Collationes), sondern als vierte Partei treten die Altväter hinzu, die Cassian als die eigentlichen Lehrer, die Urheber der durch ihn vermittelten Unterweisung, herausstellt. Im ersten und dritten Prolog heißt es, dass Cassian die Altväter durch seine Collatio nes beinahe realpräsentisch in die Zellen seiner Adressaten in Südgallien bringen wolle105 und im zweiten, dass er durch sein Werk die reale Reise zu den Altvätern virtuell ermöglichen wolle106 (s. auch 2.3.1). Die Unterscheidung zwischen den Altvätern als den eigentlichen Lehrern und Cassian als ihrem Mittler tritt auch im Epilog von Teilband zwei (coll. 17,30) deutlich hervor, indem Cassian dort die Schlussfolgerung zieht, dass alles Positive, das im vorliegenden Werk zu entdecken sei, das Verdienst der Altväter sei.107 Sowohl die Begegnung mit ihnen als auch den Auftrag, ihre Lehre weiterzutragen, führt Cassian auf Gott zurück.108 Damit scheinen die am Lehr-Lern-Prozess beteiligten menschlichen Akteure (Altväter, Cassian, Adressaten) in einer Traditionskette zu stehen, durch die die von Gott stammende scientia / doctrina109 sukzessive weitergereicht wird. Das, was sich im Moment der Unterweisung zwischen den gewissermaßen die Kettenglieder bildenden Akteuren ereignet, ist ebenfalls durch Gott intendiert (die Begegnung zwischen Cassian und den Altvätern) oder durch Gebet unterstützt (die Unterweisung an Cassians Adressaten). Lehren und Lernen wird damit in Cas sians Darstellung zu einem Prozess, durch den göttliche Lehre unter durch Gott vermittelten Umständen durch menschliche Akteure weitergereicht wird.110
sei, der durch Cassian spreche, wie es z. B. in Augustins De magistro in Anlehnung an das platonische Konzept der Anamnesis prominent begegnet (vgl. Fuhrer 2018, 130). 105 quo tam sancte eas tamque integre quam ab ipsis accepimus explicantes ipsos quodam modo suis institutis incorporatos et quod maius est Latino disputantes eloquio vobis exhibere possimus (4,27–30); ipsosque in cellulas suas auctores conlationum cum ipsis conlationum uoluminibus recipientes (504, 3 f.). 106 et secundo tam periculosae nauigationis necessitas demeretur (311,19 f.). 107 hoc sane omnes ad quorum manus opuscula ista peruenerint moneo, ut quidquid in eis placuerit patrum, nostrum uero sciant esse quod displicet (500,1–4). 108 obtineant itaque orationes uestrae ab eo qui dignos nos uel uisu eorum uel discipulatu uel consortio iudicauit, ut nobis earundem traditionum memoriam plenam et sermonem ad dicendum facilem conferre dignetur (4,23–27). 109 Rousseau 1978, 197 f. macht seine unter 5.3 dargestellte Kritik u.a. an diesem Begriffspaar fest: Das Ideal des charismatischen Lehrers schwinde: „T he implication is that, striving for, and eventually acquiring, the techniques of an expert, the ascetic can depend more on the fruits of his own experience. … T his emphasis on principles, on techniques that had little reference to the personalities involved, shows how the discipline of the spiritual life had come to depend less on the insight and authority of holy men, and more on a sense of corporate tradition, custom and experience.“ (Rousseau 1978, 198). 110 Diese Konzeption lässt an die unter 5.4.1 untersuchte Formulierung „Erfahrung mit der Erfahrung“ denken, die den Glauben nicht (nur) zum Gegenstand, sondern (auch) zum zentralen Werkzeug einer jeden Erfahrung werden lässt.
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
Altväter (Schüler anderer Mönche / T heodidakten und Lehrer Cassians)
Begegnung (schriftlich) und Unter weisung durch Gebet gefördert / gottgegeben
Cassian (Autor, Schüler der Altväter und L ehrer der gallischen Adressaten)
Adressaten der Collationes (Schüler Cassians und Lehrer zukünftiger Genera tionen)
Zukunft
Vergangenheit
Begegnung und Unterweisung gottgegeben
Scientia und doctrina göttlichen Ursprungs
5.3.2 Die Darstellung idealer Lehrer-Schüler-Konstellationen in den Rahmenhandlungen Funktion und Gestalt der Rahmenhandlungen wurden ausführlich unter 3.3 thematisiert. Nun soll der Blick stärker auf den Inhalt dieser Rahmenhandlungen gelenkt werden. In ihnen werden die Altvaterfiguren der Collationes erzählerisch-idealisierend, teils sogar mit hagiographischen Zügen,111 dargestellt. Dabei sind die Altväter nicht nur spirituelle Vorbilder, sondern auch und in erster Linie Lehrerfiguren. In den Rahmenhandlungen wird begründet, weshalb Cassian (jung) und Germanus dem jeweiligen Lehrer Teile ihre Ausbildung anvertrauen (Ebene der Geschichte) bzw. weshalb Cassians Adressaten der Autorität der ihnen bisher unbekannten Altväter trauen sollten (Ebene der Erzählung). Die Rahmenerzählungen, die einen Altvater vorstellen, werden im Folgenden daraufhin untersucht, durch welche Merkmale Cassian den idealen monastischen Lehrer charakterisiert. Diesen Lehrerfiguren begegnen Cassian (jung) und Germanus als Schülerfiguren. Cassian nutzt die Rahmenhandlungen, um nicht nur ideale monastische Lehrerfiguren zu konzipieren, sondern auch um darzustellen, wie die ideale Interaktion zwischen Lehrern und Schülern aussieht. Die Untersuchung der Rahmenhandlungen, in denen die fünfzehn Altväter der Collationes vorgestellt werden, erfolgt nicht chronologisch, sondern anhand eines ‚Kriterienkataloges‘. Dabei wird mit den Eigenschaften, die eine Mehrheit der Rahmenhandlungen prägen, begonnen und mit solchen geendet, die nur vereinzelt oder zur besonderen Hervorhebung eines bestimmten Altvaters genannt werden.
111 Vgl. Schenk 2020, 123 (Anm. 1). In den Rahmenhandlungen werden die Altväter nur vereinzelt und ohne erkennbare Differenzierung der Begriffe als sanctus (Abbas T heodor, coll. 6,1 [154,8]) oder beatus (Abbas Daniel, coll. 4,2 [98,11]) bezeichnet.
5.3 Lehrer und Schüler
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5.3.2.1 Hervorhebung bestimmter Tugenden Es sticht ins Auge, dass nahezu kein Altvater in allen Tugenden vollkommen ist (s. 6.3). Oft werden ein oder zwei Tugenden besonders betont, häufig stehen diese in engem Zusammenhang mit dem T hema der nachfolgenden Collatio. Dadurch erscheinen die Altväter nicht als ‚Universalgenies‘, sondern als bewusst im Blick auf eine Fragestellung zu konsultierende Experten.112 So ist Abbas Daniel (coll. 4), der darüber spricht, der Gier zu entsagen, besonders durch Reinheit und Sanftmut (puritas … mansuetudo 97,18 f.) charakterisiert. Serapion (coll. 5) ist durch die Tugend der discretio (121,7) aus der Masse der erfahrenen Greise (illo coetu antiquissimorum senum 121,6) herausgehoben, was ihn zu einem starken Kämpfer gegen die acht Hauptlaster – das T hema seiner Collatio – macht. Serenus (coll. 7) ist besonders herausragend durch die Tugend der Keuschheit (ita est peculiari beneficio donum castitatis infusum 179,21), was ihn wiederum zum Experten für den geistlichen Kampf macht. Abbas Johannes (coll. 19) ist – wenn auch nicht über eine präzise Tugend, so doch über seinen Werdegang – biographisch eng mit dem T hema seiner Unterredung verbunden: Er hat den Weg aus der Wüste heraus, hin zur Demut des Koinobions gewählt (qui derelicta heremo illi se coenobio summa humilitatis uirtute subdiderat 534,15–17), sodass er als Experte für beide Lebensformen gelten kann (s. 5.2.2). Die hervorstechende Eigenschaft des Abbas Pinufios (coll. 20) ist seine Demut (sancta humilitas 555,4 f.), die durch eine lange biographische Rückschau illustriert wird, die weit über die zuvor beobachtete Nennung der Tugenden hinausgeht: Nicht nur wird auf seine bereits in den Instituta beispielhafte Funktion verwiesen,113 es wird auch erzählt, dass Pinufios in der gesamten Region um Panephysis aufgrund seines hervorragenden Charakters berühmt gewesen sei (tantumque eum omnis illa prouincia uirtutum suarum atque signorum glo ria subleuasset 554,11 f.), sodass er zu befürchten begann, das übermäßige Lob der Menschen würde ihn zur Überheblichkeit verführen und so um den ewigen Lohn bringen.114 Deshalb flieht Pinufios wiederholt aus seinem Kloster um anderswo einen anonymen Neuanfang zu wagen.115 Dabei scheut er auch nicht 112 Damit rekurriert Cassian auf das Vorbild der Apophthegmata Patrum, die „nicht das Bild einer stabilen, dauerhaften Lehrer-Schüler-Beziehung [zeichnen], sondern … aus zahlreichen Miniaturen einzelner Lehrsituationen [bestehen]. … Dabei ist vorausgesetzt, dass der Gefragte als Autorität gilt (sonst trüge er nicht den Titel abbas), dass sich aber zugleich durch das belehrende Wort diese Autorität bestätigen muss“ (Gemeinhardt 2021a, 186). 113 Diese Verbindung wird von Cassian in coll. 20,1 f. mehrfach erwähnt. Vgl. inst. 4,31–43. 114 ut sibi iam uideretur retributione laudis humanae laborum suorum recepisse merce dem, timens ne sibi specialiter inuisa popularis fauoris inanitas fructum praemii uacuaret aeterni (554,12–15). 115 Einmal wird das tagelange, weinende Liegen an der Eingangspforte eines Klosters beschrieben, das z. B. an Pachomius, Praecepta 49 erinnert, ein anderes Mal wird Pinufios konkret als nouicius (555,25) bezeichnet.
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davor zurück, voller Demut die niedrigsten Aufgaben zu übernehmen und sich so immer wieder von neuem den Ruf besonderer Heiligkeit zu erwerben (praeci puae sanctitatis fama 555,16 f.), der ihn dann erneut fliehen lässt. Anders verhält es sich mit Abbas Nesteros (coll. 14). Diesem wird nicht eine besondere Tugend oder ein besonderes Fachgebiet zugewiesen, vielmehr wird betont, dass er ganz allgemein durch großes Wissen ausgezeichnet sei (praeclari in omnibus summaeque scientiae uiri institutio subsequatur 398,10 f.). In coll. 14 ist es nicht der Altvater, der durch ein herausragendes Charaktermerkmal das T hema der Unterredung vorgibt, sondern es sind seine Schüler, die dadurch, dass sie bereits vieles aus der Heiligen Schrift memoriert haben (qui cum sacrarum scripturarum nos aliqua memoriae conmendasse et eorum intellegentiam desi derare sensisset 398,11–13), auf den Kern der nachfolgenden Unterweisung hinweisen. Konträr zu der mehrfach zu beobachtenden Tendenz, dass ein oder zwei he rausragende Tugenden des Altvaters seine Lehrkompetenz begründen oder spezifische Vorkenntnisse der Schüler auf das nachfolgende T hema vorverweisen, verhält sich die Rahmenerzählung in coll. 18, die Abbas Piamun vorstellt. Von ihm heißt es, dass er mit so vielen Tugenden und Taten Zeugnis von Gottes Gnade ablege, dass eine vollständige Aufzählung dieser die Rahmenhandlung sprengen würde. Cassian hält fest, dass es nicht das Ziel sei, alle Wunder Gottes, die an Piamun sichtbar werden, zu berichten. Stattdessen solle aus der breiten Masse von berichtenswerten Dingen das ausgewählt werden, was zu Kunde und Wissen, zur notwendigen Unterweisung für ein vollkommenes Leben, beitrage.116 Hier hebt Cassian (alt) stärker auf seine Funktion als Autor bzw. Herausgeber, der das Bild, das von den Altvätern gezeichnet wird, aktiv formt, ab. 5.3.2.2 Flehen der Schüler und Weigerung des Lehrers Mehrfach wird beschrieben, wie Germanus und Cassian (jung) sich den Lehrerfiguren mit flehender Sehnsucht nach Unterweisung nähern. Oft reagieren die Altväter darauf sehr zurückhaltend, verweigern die Unterredung zunächst und lassen sich erst allmählich, nachdem sie sich von der Ernsthaftigkeit der Absicht ihrer zukünftigen Schüler überzeugt haben, erweichen. Die nachfolgenden Beispiele zeigen, wie bedeutsam bereits das zeitweise gemeinsame Leben von Lehrer und Schüler(n) ist und dass einer verbalen Unterweisung idealerweise eine Zeit schweigender und demütiger Unterordnung unter eine Lehrautorität vorausgeht.
116 non enim de mirabilibus dei, sed de institutis studiisque sanctorum quaedam quae re minisci possibile est nos spopondimus memoriae tradituros, ut necessariam tantum perfectae uitae instructionem (507,7–10).
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So beschreibt coll. 1,1, dass sich Germanus und Cassian (jung) Abbas Moyses unter Tränen bittend nähern (fusis lacrimis posceremus 7,23)117 und sich aufrichtig nach seiner Unterweisung sehnen (fideliter desiderantibus 7,24 f.; perfectionem cupientibus 7,28). Die eigentliche Unterredung in coll. 1,2 beginnt erst, nachdem der Altvater sich durch die Bitten seiner Schüler in spe hinreichend geplagt fühlt (tandem fatigatus precibus nostris ita exorsus est 8,2 f.). Eine gänzlich andere Art, sich dem Altvater zu nähern, beschreibt coll. 3 am Beispiel des Abbas Paphnutios: Zwar nähern sich auch hier Cassian (jung) und Germanus dem Altvater sehnsuchtsvoll (huius igitur magisterio institui cupien tes 68,21), warten jedoch geduldig schweigend ab, bis der Altvater von sich aus das Wort ergreift. Als dieser sie dafür lobt, die Heimat verlassen zu haben, um die Härte der Wüste zu ertragen, bitten Cassian (jung) und Germanus darum, dass sie kein Lob vom Altvater erhalten, um nicht der Überheblichkeit anheimzufallen (non ut ullis quae tamen in nobis non essent laudibus grauaremur aut elatione animi 69,5 f.). Vielmehr sehnen sie sich nach Zerknirschung und Demütigung (conpungi uel humiliari 69,9). Auch Chaeremon (coll. 11), der älteste der drei im zweiten Teilband beschriebenen Väter, gibt sich zunächst – vergleichbar mit Abbas Moyses – sehr zurückhaltend: Cassian (jung) und Germanus bitten um eine Unterredung und um Belehrung (sermo atque doctrina 316,19 f.), um ihre Sehnsucht nach geistiger Unterweisung (spiritalis institutio 316,21) zu stillen. Chaeremon verweigert sich dieser Bitte zunächst, da er meint, dass die Altersschwäche ihm die Glaubwürdigkeit genommen habe: „Das Ansehen eines Lehrers wird nämlich ausgehöhlt, wenn er es nicht durch die Wirkung seines Tuns im Herzen des Schülers verankert.“118
117 Das Motiv des (monastischen) Weinens wurde umfassend von B. Müller untersucht. Ihre Analyse des Weinens (πένθος / κατάνυξις) in den Apophthegmata Patrum (Müller 2000, 132–155) hält abschließend fest: „Zusammenfassend erscheint das Penthos als eine eschatologische und kontemplative Akzentuierung der Demut, welche sich zudem körperlich manifestiert.“ (aaO., 154). Das Weinen im monastischen Kontext ist dabei nicht mit Trauer zu verwechseln (aaO., 144), sondern vielmehr als Indiz für die Einsicht der eigenen Sünde im Gegenüber zu Gottes Gnade anzusehen (aaO., 153). Es ist anzunehmen, dass Cassian seine Aussagen über die weinenden Schüler in dieser Tradition formuliert, sodass ihre Tränen als Bereitschaft zur demütigen Unterordnung unter die Autorität eines Lehrers gesehen werden können. 118 Ziegler 2014, 63; numquam enim erit efficax instituentis auctoritas, nisi eam effectu operis sui cordi adfixerit audientis (317,1–3). Der Frage, ob der Altvater wegen oder trotz seines Alters Autorität ausstrahlen kann, wird unter 5.3.2.3 nachgegangen. Der im monastischen Kontext integrale Zusammenhang von Leben und Lehre reproduziert eine Tradition philosophischer Ethik, die über die geordnete Weitergabe von Traditionen oder das simple Einhalten eines feststehenden Kompetenzprofils hinausragt (vgl. Gemeinhardt 2021a, 189; zum Zusammenhang von Lehre und Leben s. auch 5.2 und 5.4).
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Daraufhin betonen Cassian (jung) und Germanus in coll. 11,5 verwirrt und niedergeschlagen (ad haec nos non mediocri confusione conpuncti 317,4), dass allein die Erfahrung (s. 5.4) der Abgelegenheit der Wüste und die Betrachtung des Altvaters (licet sufficere nobis ad omnem instructionem debeat uel loci istius difficul tas uel ipsa etiam solitaria adhuc uita 317,5–7) ausreichend seien, um hinlänglich unterrichtet und betrübt (satis abundeque instruunt atque conpungunt 317, 8 f.) zu werden. Diese Feststellung lässt die nachfolgende, verbale Unterweisung durch den Altvater noch wertvoller erscheinen, da diese das bloße Lernen durch Anschauung noch steigert. Selbstkritisch schätzen die beiden jungen Mönche ein, dass es bei ihnen vielleicht nicht zur exakten Nachahmung (imitatio 317,11) des Altvaters, wohl aber zu seiner Bewunderung (admiratio 317,12) reiche.119 In diesem Zusammenhang wird zudem diskutiert, ob die Unterweisung durch den Altvater eine zu verdienende Belohnung ist: Cassian konstatiert, dass es wohl kaum die Lauheit seines jüngeren Ichs und Germanus’ sei, die es zu belohnen gelte, wohl aber die Mühe der langen Reise, die sie bis hierher auf sich genommen haben (nam etiamsi reuelatus tibi tepor noster inpetrare id quod expetimus non meretur, debet hoc saltim labor tanti itineris obtinere 317,12–14). Die finale Collatio, die Abbas Abraham einführt, nimmt sowohl das Motiv des Weinens der Schüler als auch das Zögern des Altvaters noch einmal auf: Germanus und Cassian (jung) sind zerknirscht, da sie mit der Versuchung hadern, in die heimatliche Provinz zu ihren Verwandten zurückzukehren und dort ein angenehmes und sorgenfreies Leben zu führen, das kaum mit dem Streben nach monastischem Fortschritt zu vereinen ist. All dies breiten Cassian (jung) und Germanus in aller Schlichtheit (simpliciter 675,10) und unter Tränen (profusis lacrimis testaremur 675,12) vor Abbas Abraham aus. Sie haben erkannt, dass sie der Anfechtung nicht länger allein Stand halten können (nec iam inpugna tionum uim tolerare nos posse 675,10 f.) und daher die Gnade Gottes als Arznei (medicina dei gratia 675,11) benötigen.120 Diese Bekenntnisse lösen bei Abraham ein langes Schweigen aus, das er nur zögerlich beendet, um die Unterweisung zu 119 Die Zusammenstellung der Begriffe admiratio und imitatio verweist auf die immense Bedeutung, die das (zeitweise) Zusammenleben und die dadurch mögliche, ganzheitliche Erfahrung (s. 5.4) des Lebens des Lehrers / Altvaters für eine gelingende Unterweisung hat. Mit dieser Idealvorstellung verweist Cassian nahezu wörtlich auf mehrere Apophthegmata Patrum, die genau dies zum T hema haben (vgl. Rydell Johnsén 2018a, 198 mit Beispielen in Anm. 93–95). 120 Diese Anspielung auf die durch den Altvater verabreichte Medizin der Gnade ist m. E. innerhalb der Rahmenhandlungen die einzig explizite Anspielung auf das Bild des Lehrers als Arzt, das laut Rydell Johnsén 2018a, 194 f. zentral für die Darstellung der Altväter innerhalb der Apophthegmata Patrum ist. Besonders häufig wird dieses Bild traditionell im Kontext der Beichte genutzt (vgl. aaO., 195), auf diese Parallele verzichtet Cassian in coll. 2, die die Beichte im Rahmen des Einübens der discretio thematisiert (s. 5.1), vollständig. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass Cassian die Bezeichnung medicus allein Gott / Christus zuschreibt (vgl. coll. 2,13; 6,11; 7,28; 12,6; 13,18; 19,12), wodurch dessen Position als eigentlicher Urheber einer jeden Lehre (s. 5.3.1) Rechnung getragen ist.
5.3 Lehrer und Schüler
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beginnen (tacitus ille diuque cunctatus atque ad extremum grauiter ingemescens ait 675,12 f.). 121 5.3.2.3 Alter, Erfahrung und Vorbildung des Altvaters Neben den in Abschnitt 5.3.2.1 thematisierten Tugenden wird auch berichtet, dass einige der Altväter entweder – wie es der Name schon sagt – durch ihr Alter, oder aber auch durch besondere Erfahrung oder Vorbildung zum Lehren qualifiziert sind. Das hohe Alter des Abbas wird besonders bei Paphnutios (coll. 3) und Chaeremon (coll. 11) thematisiert: Von Paphnutios heißt es, dass er die neunzig bereits überschritten habe (nonagenariam excessisset aetatem 68,1) und trotzdem darauf bestehe, in seinem von der Kirche weit entfernten Kellion wohnen zu bleiben und sich auch immer noch selbst mit dem notwendigen Wasser zu versorgen. Noch älter ist Abbas Chaeremon: „Zwar hatte er das hundertste Lebensjahr in ungewöhnlicher Geistesfrische überschritten, doch war sein Rücken durch das vorgerückte Alter und die vielen Gebete gekrümmt, sodass er, wie in die früheste Kindheit zurückentwickelt, mit herabhängenden und bis zur Erde reichenden Armen einherging. Uns kam also gleichermaßen sein Antlitz wie seine Art sich zu bewegen sonderbar vor. Doch trotz der beschädigten und abgestorbenen Gliedmaßen hatte er die Strenge seiner früheren Zucht nicht verloren.“122
Aber auch wenn die Beschreibung des ältesten Altvaters im hohen Alter kein Hindernis sieht, ist Chaeremon selbst diesbezüglich deutlich kritischer und verweigert sich der Bitte um Unterweisung zunächst, da er das Gefühl hat, dass die Altersschwäche ihm die Glaubwürdigkeit genommen habe (s. 5.3.2.2). Diese beiden Beispiele zeigen, dass nicht das hohe Alter per se ein Qualitätsmerkmal ist, sondern eher die Fähigkeit, dem Alter zu trotzen. Beide Altväter werden dafür gelobt, dass sie, obwohl sie schon so alt sind, noch voller Tugend und Eifer sind. Konträr zum Konzept des Altvaters verhält sich Daniel (coll. 4), hier wird als herausragendes Merkmal sein junges Alter, trotz dessen er schon so tugendreich ist, genannt: Daniel war jünger als viele andere Mönche (multis iunior esset aetate 97,20), als der zuvor dargestellte Paphnutios ihn zum Diakon (97,20) der Mönchs121 Darin, dass es der Altvater ist, der nach eigenem Ermessen über Schweigen und Reden unterscheidet, zeigt sich in der Lehr-Lern-Situation seine unanfechtbare Autorität (vgl. Gemeinhardt 2021a, 188). 122 Ziegler 2014, 63; nam cum centenarium uitae annum spiritu tantum alacer excessis set, ita dorsum eius temporis fuerat uetustate atque orationum iugitate curuatum, ut quasi in primaeuam redactus infantiam submissis ac protentis terra tenus manibus progredere tur huius igitur et uultum mirabilem et incessum pariter intuentes (siquidem defectis mor tificatisque iam omnibus membris nequaquam censuram praeteritae districtionis amiserat) (316,12–19).
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siedlung machte. Durch seine herausragende Tugendhaftigkeit hat Daniel andere Mönche, die mehr Zeit brauchen, um einen ebenbürtigen Status zu erreichen, überholt. Dass gerade ein trotz des hohen Alters (noch) herausragender Abbas einen trotz seines jungen Alters schon herausragenden Mönch erwählt, macht deutlich, dass nicht die Zahl der gelebten Jahre, sondern die Summe der in diesen Jahren gesammelten Erfahrung für die Autorität des Lehrers konstitutiv ist.123 Neben dem Alter als relativ abstraktem und – wie gezeigt wurde – durchaus kritisch zu beurteilendem Qualitätsmerkmal eines Lehrers werden auch seine allgemeine Erfahrenheit (s. 5.4) und seine Vorbildung thematisiert: Die Erfahrung der Lebensformen ist besonders bei Abbas Johannes (coll. 19) von entscheidender Bedeutung für die nachfolgende Unterweisung (s. auch 5.2.2): Er qualifiziert sich dadurch als Lehrer, dass er sowohl in der Anachorese als auch im Koinobion gelebt und in beiden Lebensformen nach Vollkommenheit gestrebt hat. Zwar ist auch Johannes alt, aber nicht die Zahl der Jahre, sondern die Größe seiner in diesen Jahren erworbenen Demut ist es, die ihn zu einem idealen Lehrer macht: „In diesem Koinobion also fanden wir einen hochbetagten Greis mit Namen Johannes, dessen Worte ebenso wie seine Demut, durch die er alle Heiligen überragte, wir nicht im Stillschweigen übergehen zu dürfen glauben.“124
Alter und Demut begegnen hier nicht als sich bedingende Faktoren, sondern es scheint besonders betonenswert, dass Abbas Johannes trotz seines Alters noch so demütig ist – eine Form der Tugend, die der Erzähler Cassian (jung) sich selbst kaum zutrauen mag: „Daher ist es nicht verwunderlich, dass wir nicht zu ihrem Gipfel emporsteigen können, da wir ja nicht im Stande sind … bis ins Greisenalter in der Zucht des Koinobions auszuharren, … [oder] auch nur zwei Jahre zufrieden das Joch der Unterwerfung zu tragen.“125
123 Genau dieses Argument legt Cassian Abbas Moyses in coll. 2,13 in den Mund (s. 5.3.3.3). Hier spitzt Cassian eine Unterscheidung zu, die bereits in den Apophthegmata Patrum anklingt: Nicht jeder abbas ist automatisch ein geron, d. h. geistliche Autorität und Lehrfunktion sind nicht zwangsläufig – jedoch häufig – an ein hohes Lebensalter gebunden (vgl. Harmless 2004, 177 f.). Rousseau 1978, 196 verbindet diese bei Cassian zu beobachtende Tendenz explizit mit dem hier dargestellten Wandel des Autoritätsideals. Er zeigt eine nahezu exakte Parallele zu Hilarius von Arles, V. Hon. 11 (182 Jung) auf: Et vere erat illis senectus non annis cana sed gratiis, non cariosa artubes sed moribus venusta. 124 Ziegler 2015, 84; in hoc itaque coenobio repperimus antiquissimum senem nomine Iohannem, cuius uerba pariter et humilitatem qua sanctis omnibus praeminebat nequaquam silentio praetereunda censuimus (535,17–20). 125 Ziegler 2015, 84; unde non mirum est nec ad illorum sublimitatem nos posse conscen dere, qui non dicam usque ad senectam in coenobii permanere non possumus disciplina, sed uix biennio subiectionis iugum sustinere contenti (535,23–26).
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Eine ganz eigene Art der Vorbildung, die ihn deutlich von den anderen Altvätern unterscheidet, weist Abbas Joseph (coll. 16) auf: Er entstammt einer angesehenen Familie aus T hmuis, wo er sowohl in der ägyptischen Sprache als auch in der griechischen Rhetorik ausgebildet wurde (et ita non solum Aegyptia, sed etiam Graeca facundia diligenter edoctus 439,4 f.). Dies ist nicht etwa wegen des damit einhergehenden weltlichen Ruhmes von Interesse (der allerdings auch nicht explizit abgelehnt oder ausgeschlossen wird), sondern weil es ihm so möglich ist, ohne Dolmetscher formvollendet zu diskutieren (non ut ceteri per interpretem, sed per semet ipsum elegantissime disputaret 439,7 f.). Dieser pragmatische Umgang mit paganer Bildung stellt eine deutliche Entwicklung traditioneller monastischer (Un-)Bildungsideale (s. 3.1.1) dar und stützt in einem gewissen Maße die von P. Rousseau formulierte T hese eines Wandels der Autorisierungsstrategien (s.o). 5.3.2.4 Auszeichnung des Altvaters durch besondere Attribute Neben herausragenden Tugenden, einem hohen Maß an Alter oder Erfahrung und einer häufig zu beobachtenden Demutshaltung, die sich in der anfänglichen Weigerung zu Lehren ausdrückt, begegnet eine Reihe singulär auftretender, aber in ihrer Prägnanz bemerkenswerter Bilder und Vergleiche, die die Bedeutung des Altvaters herausstellen. Zweimal wird der Prozess der Unterweisung mit dem Errichten eines Bauwerkes verglichen. In coll. 1,1 wird die nachfolgende Unterredung als aedificationis sermo (7,22 f.), als Rede zur Erbauung, bezeichnet. Coll. 19,3 gibt die Aufgabe, die Abbas Johannes an seinen beiden Schülern hat, als aedificatio uestra (537,3 f.) an.126 Eng verwandt mit dem Bild des durch die Unterweisung zu errichtenden Bauwerkes ist das Bild des Altvaters als Türöffner, der über das Tor der Vollkommenheit (ianuam perfectionis 7,26) wacht und es nach eingehender Prüfung für seine Schüler öffnet. Es ist seine Aufgabe, Unwürdige und Unwillige (indigni et fastidiosi 8,1) abzuweisen, da es einem Verrat gleichkäme, diese zu unterrichten (aut iactantiae uitium aut proditionis crimen uideretur 8,1 f.). In coll. 1,1 wird die Zulassung von Cassian (jung) und Germanus zur Unterweisung dadurch begründet, dass sie bereits im Koinobion die Anfänge des geistlichen Kampfes unternommen hätten und daher bereit für weitere Unterweisung seien (cum quo [Germanus] mihi ab ipso tirocinio ac rudimentis militiae spiritalis ita indiuiduum deinceps contubernium tam in coenobio quam in heremo fuit 7,17 f.). 126 Auch wenn diese Metaphorik durch Cassian nicht weiter ausgeführt wird, erinnert sie doch stark an ein Bild, das Kyrill von Jerusalem 1 Kor 3,10–17 auslegend in Prokatechese 11 nutzt, um sein Zusammenwirken als Katechet mit den Katechumenen zu beschreiben: Der Lehrer ist es, der die Steine des Wissens bereitstellt und die Schüler befähigt, aus diesen ein stabiles und funktional geordnetes Fundament des Glaubens zu errichten (vgl. Lorgeoux 2018, 79).
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Im Blick auf Chaeremon (coll. 11) nutzt Cassian ein Bild, das eng an Mt 13,45 f.127 angelehnt ist: Gerade in der T hebais angelangt, treffen Cassian (jung) und Germanus zunächst auf Bischof Archebius, der sich als Mittler betätigt und ihnen den Weg zu den drei Altvätern (Chaeremon, Nesteros und Joseph) des zweiten Teilbandes weist. Archebius betont, dass er selbst aufgrund seiner welt lichen Verstrickung durch das Bischofsamt als Lehrer untauglich sei, den Suchenden aber gern helfen wolle, die „Perle …, von der das Evangelium spricht“128 in Gestalt eines geeigneten Lehrers zu finden. Durch diesen Vergleich erscheint der gute Lehrer nicht länger nur als der Türöffner zum geistigen Wissen und damit zum Himmelreich (s. 6.1.2), sondern als Verkörperung dieses Himmelreiches. Einprägsam ist ebenfalls die Beschreibung der Altväter, mit der der dritte Teilband eingeleitet wird: Dieser schließt chronologisch an den zweiten an (s. 2.3.2.2) und beschreibt die Begegnung mit fünf weiteren Vätern in der Nähe von Diolcos, an einer der sieben Nilmündungen (coll. 18,1). Dort lebt nicht nur eine größere, sondern auch eine vollkommenere Gruppe von Heiligen (amplior atque perfec tior sanctorum numerus 506,10). Cassian berichtet, dass er und Germanus diese aus Neugier (desiderium 506,13) aufgesucht hätten und Erkundungsfahrten (nauigatio inquisitionis 506,17) unternommen hätten, die sich mit dem Verhalten gewinnsüchtiger Kaufleute (uelut cupidissimi mercatores 506,15) vergleichen ließen, die auf der Suche nach dem größten Gewinn (lucrum 506,17) seien. Die Gruppe der Altväter wird mit einer dreifachen Bergmetapher umschrieben: „…erhoben wir unsere Augen, die ringsum Ausschau hielten, zu jenen Bergen, die an ihren Tugendgipfeln erkennbar waren. Da entdeckte der erste Blick … als höchsten Leuchtturm Abbas Piamun, den Ältesten und Priester aller Anachoreten, die dort lebten.“129
Diese Beschreibung korreliert eng mit dem zu Beginn von coll. 2 beschriebenen Aufstieg über einen gespurten Pfad hin zu einem Gipfel (s. 6.3): Als dieser Gipfel, als der höchste Punkt, nach dem zu streben ist, werden nun die zu befragenden Altväter dargestellt. Aufgrund der narratologisch vielfältigen Struktur wurde die Rahmenhandlung von coll. 21, in der Abbas T heonas vorgestellt wird, bereits unter 3.3 umfassend untersucht, sodass hier nur noch kurz auf ein prägendes Moment einzuge127 „45 Wiederum gleicht das Himmelreich einem Kaufmann, der gute Perlen suchte, 46 und da er eine kostbare Perle fand, ging er hin und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte sie.“ 128 Ziegler 2014, 62; credo autem inopiam meam hoc studio aliquatenus subleuandam, si inquirentibus uobis illam euangelicam margaritam, quam ipse non habeo, saltim prouidero ubi eam conmodius conparetis (315,16–19). 129 Ziegler 2015, 59; ubi cum diutissime fluctuantes ad illos uirtutum sublimitate con spicuos montes undique curiosos oculos tenderemus, abbatem Piamun, omnium anachoreta rum illic inhabitantium seniorem eorundemque presbyterum uelut quandam sublimissimam pharum primus circumspectantium notauit intuitus (506,18–507,1; Hervorhebungen DS).
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hen ist: die Umkehr. Anders als bei den anderen Altvätern steht seine Bekehrung (initium conuersionis eius 573,22) zum Mönchtum im Fokus. Nicht das Alter oder die lange Verweildauer im Monasterion sind hier von Bedeutung, sondern die entschiedene Hinwendung zur monastischen Lebensform, selbst gegen den erbitterten Widerstand seiner Ehefrau (coll. 21,9). Anders als die anderen Altväter, die ausschließlich in hohem Alter und großer Vollkommenheit porträtiert werden, begleitet coll. 21,1–11 den Werdegang des T heonas von Beginn an und berichtet auch von dessen Zögern und Zweifeln (coll. 21,8). Auf diese Weise wird nicht nur ein bewundernswertes Vorbild erzählerisch gestaltet, sondern dadurch, dass T heonas’ Weg mit allen Schwierigkeiten geschildert wird, auch ein hohes Identifikationspotential für (junge) Mönche, die selbst noch vor Hindernissen stehen, erschaffen. 5.3.3 Die Darstellung idealer Lehrer-Schüler-Konstellationen in den Reden der Altväter Auch innerhalb der Reden der Altväter wird das T hema der Lehre und ihrer Akteure thematisiert, teils im Zuge von nichtbiblischen Beispielerzählungen aus dem monastischen Kontext, teils als expliziter Teil der Unterweisung. Dass es Teil der Unterweisung durch die Altväter ist, wie zu lernen und zu lehren ist, zeigt die integrale Bedeutung dieser Vorgänge für Cassians Vorstellung von monastischer Bildung: Er legt ebenso viel Wert auf eine nachvollziehbare Darstellung von Bildungsprozessen wie von Bildungszielen, wodurch der pädagogische Gehalt der Collationes bzw. ihre Lehrbuchhaftigkeit (s. 3.2) deutlich unterstrichen wird. Das, was in den Unterredungen im engeren Sinne (im Unterschied zu den Rahmenhandlungen, s. 3.3) über Lehrer und Schüler gelehrt wird, ist häufig eng mit dem Kontext der jeweiligen Collatio verbunden. Die Kontexte wurden und werden an anderer Stelle umfassend dargestellt, hier wird jeweils auf die entsprechenden Teilkapitel verwiesen und der Fokus allein auf das Lehr-Lern-Geschehen gerichtet. 5.3.3.1 Der Lehrer als Wegweiser Gleich zu Beginn der ersten Collatio, in coll. 1,3, als es um die Frage, wie erstes und letztes Ziel des Mönchtums zu bestimmen und zu erstreben sind (s. 6.1), geht, gibt Cassian einen indirekten Hinweis, wie das Verhältnis von Altvater / Lehrer und Schüler dabei zu verstehen ist: Cassian (jung) und Germanus wissen zwar das höchste Ziel ihrer Bemühungen zu benennen (regni caelorum causa haec cuncta tolerari 9,9 f.), können aber auf Nachfrage des Altvaters nicht erklären, wie es erreicht werden kann, sondern müssen ihre Unkenntnis offenbaren (ignorationem confessi simpliciter fuissemus 9,14). Diese Erzählsequenz lässt die Rolle des Lehrers / Altvaters noch schärfer hervortreten: Zwar haben
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die Schüler aus sich heraus den Entschluss gefasst, das Himmelreich erreichen zu wollen, Anfang und Ende des Wegs stehen ihnen also vor Augen, aber wie sie von einem Punkt zum anderen gelangen können, wissen sie noch nicht – eben dafür braucht es den erfahrenen Altvater, der diesen Weg bereits gegangen ist, als Wegweiser. Der Aspekt des ‚Schon-gegangen-Seins‘ verweist zudem auf die Erfahrung als einzig wahre Lehrmeisterin, die zum einen den Worten des Altvaters ihre Autorität verleiht und zum anderen den Schülern als Ziel und Leit faden dient (s. 5.4). 5.3.3.2 Der Lehrer als Vorbild, Ratgeber und Beichtvater In coll. 2,11 spricht Abbas Moyses über die discretio (s. 5.1). Diese, so eine zentrale T hese der Collatio, sei nur im Gegenüber zu einem Altvater, einem erfahrenen Lehrer zu erlernen. Abbas Moyses berichtet beispielhaft, wie er selbst durch Abbas T heon durch die schmerzhafte, aber wahrheitsgemäße Beichte (confes sio 51,12) von der schändlichen Angewohnheit, sich Teile der Mahlzeit für den späteren Genuss aufzusparen, kuriert wurde. Auf das Beispiel folgt eine umfängliche Reflexion der Rolle des Lehrers in diesem Prozess. Diese nimmt ihren Ausgang bei einem ungewöhnlichen Bild, das sich aus Koh 10,11 („Wenn die Schlange beißt, während kein Gemurmel (des Schlangenbeschwörers) ist, fürwahr, derjenige hat keinen Gewinn, der vorsingt.“) speist: Der Beschwörer (incantator 51,13) wird mit einem geistlich kundigen Mann (spiritalis scilicet uir 51,13 f.) verglichen, der als Beschwörungsformel die carmina scripturarum (51,14) anzuwenden weiß.130 Mit Hilfe dieser kann er die teuflischen Gedanken (cogitatio diabolica 51,13), verglichen mit dem Gift der Schlange (uenenum ser pentis 51,15), aus dem Herzen seines Gegenübers ziehen. Das Gegenüber, der Schüler, hat dabei eine klar umrissene Rolle: Er hat dem Vorbild der Älteren (seniorum uestigia 51,18) zu folgen und nicht aufgrund des eigenen Urteils zu entscheiden (neque discernere nostro iudicio praesumamus 51,19). Ohne entsprechende Unterweisung (traditio 51,20; institutio 51,21) ist es nicht möglich, die Methode der discretio vollkommen zu erlernen (perfectam discretionis rationem 51,22). Auch um dies zu unterstreichen, wird die bereits aus coll. 1 bekannte Parallele zu anderen, weltlichen Künsten und Wissenschaften herangezogen (s. 3.1.2): Wenn schon diese nicht autodidaktisch zur Voll130 Auf welche „Formeln“ der Schrift sich Cassian damit bezieht, bleibt unklar. Die Formulierung carmen / carmina scripturarum weist keine traditionsgeschichtlichen Vorbilder auf. Vermutlich geht sie auf eine Formulierung in Sir 44,5 zurück (in pueritia sua requirentes modos musicos et narrantes carmina in scriptura; 3 Die Herrschenden in ihren Königreichen und namhafte Männer von Bedeutung, Ratgeber mit ihrem Verständnis, Künder mit Prophezeiungen: 4 Anführer des Volkes mit Ratschlägen und (mit) Verständnis für das Lernen des Volkes, weise Worte in ihrer Erziehung; 5 sie erforschen die Melodie der Musiker, und sie erzählen Sprichwörter, (die) in der Schrift (stehen)); vgl. Marbach 1994, 1.
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kommenheit zu bringen sind, ist eine solche Herangehensweise für einen angehenden Mönch, der sich um die ars monastica (s. 3.2) bemüht, umso aussichtsloser, da sie unsichtbar im Verborgenen (inuisibilis et occulta 52,5) stattfindet. Der monastische Schüler braucht also ein erfahrenes Gegenüber in Gestalt eines Altvaters (consilia seniorum 51,26), der ihm nicht nur als Vorbild, sondern auch als Ratgeber und Beichtvater dient, mit dem Ziel, sich die Bewertungsmaßstäbe und Lösungen mit der Zeit selbst anzueignen und allmählich in die Position und Urteilsfähigkeit des Altvaters hineinzuwachsen. Neben der bereits erwähnten Demut erscheinen hier die Zeit, die dieser Prozess des Kompetenzerwerbs benötigt, und sein zwingend notwendiger dialogischer Charakter als entscheidende Merkmale.131 5.3.3.3 Schlechte Lehrer Germanus äußert in coll. 2,12 Zweifel an der zuvor (s. 5.3.3.2) geschilderten Lehrmethode: Er berichtet von Vorfällen in Syrien (in Syriae partibus 52,18), wo einem jungen Mönch von einem berühmten Altvater keine Ratschläge gegeben, sondern schwere Vorwürfe ob seines Unvermögens gemacht wurden. Das veranlasst Abbas Moyses dazu, in coll. 2,13 einzuräumen, dass Sorgfalt bei der Wahl des Lehrers geboten ist: Nicht etwa äußere Merkmale wie die grauen Haare (capita canities 53,6) sollten als Indiz für seine (altersbedingte) Vollkommenheit genommen werden, sondern der Blick solle auf den Eifer, den der potentielle Lehrer selbst als junger Mann zum Erreichen seiner Ziele aufgebracht habe, gerichtet werden.132 Es folgt eine sehr umfangreiche Beispielerzählung (53,18–58,4), in der zunächst ein unfähiger Lehrer einen jungen Mönch nahezu in die Verzweiflung treibt, bevor Abbas Apollo (54,16) diesem mit gutem Rat den Weg zur monastischen Zufriedenheit ebnet. Wiederholt wird dabei betont, wie pädagogisch wertvoll es sei, den Schüler nicht in Angst und Schrecken zu versetzen, sondern ihn mitfühlend zu begleiten und seine Sorgen ernst zu nehmen.133 Diese Beispielerzählung zeigt, dass nicht allein das tugendhafte Leben den Altvater zu einem 131 Das, was Cassian hier als Lehrinhalt der Collationes formuliert, sieht Demacopoulos 2007, 112 als Grundintention der literarischen Gestalt der Collationes: „In effect, it is discernment that links the [fifteen] abbas of the Conferences because each is able to impart knowledge of God’s mystery (discretio in action) to his disciples.“ 132 quos laudabiliter uitam suam ac probatissime conperimus in iuuentute signasse nec praesumptionibus propriis (53,9 f.). Diese Mahnung, das bloße Alter nicht als alleiniges Qualitätskriterium eines Lehrers anzusehen, korreliert eng mit der unter 5.3.2.3 untersuchten Darstellung des Alters in den Rahmenhandlungen. 133 disce itaque tuis exemplis laborantibus conpati et periclitantes nequaquam perniciosa desperatione terrere nec durissimis sermonibus asperare, sed potius leni blandaque consola tione reficere (56,21–24). euidenti tamen experimento docuit non modo non exprobrari patefacta cuiusque uitia, sed ne leuiter quidem laborantis dolorem debere contemni (57,20–22).
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guten Lehrer macht, sondern dass zudem ein gewisses Maß didaktischer Kompetenz notwendig ist. 5.3.3.4 Wie aus dem Schüler ein Lehrer wird Bisher wurde in den Beispielen vor allem das Verhältnis von Schüler und Lehrer, geprägt von Demut, Rat und Vorbildfunktion, betrachtet. Coll. 14 geht einen Schritt weiter und beleuchtet die Frage, wann und wie aus einem Schüler ein Lehrer werden kann. Dass dieses überhaupt zum T hema wird, verweist darauf, dass Cassian seine Adressaten an diesem Punkt ihres monastischen Werdeganges sieht: Sie sind keine Anfänger mehr, sondern fühlen sich bereit, selbst nach der Lehrerrolle zu greifen. Diesen entscheidenden Punkt der Unterweisung besonders betonend, ist im Zuge der Darstellung der scientia spiritalis (s. 6.2) ein deutlicher Bruch in coll. 14,9 zu beobachten: Während zuvor durchgängig eine Gruppe in der 2. Pers. Pl. adressiert wurde, lautet die Anrede plötzlich tu, Iohannes (408,11). Das rest liche Kapitel ist auf Ebene der Erzählung ausschließlich an Cassian (jung) gerichtet. Dass dieser selbst – und nicht Germanus – hier als Reflektorfigur stilisiert wird, macht deutlich, wie wichtig dem Autor Cassian das Folgende ist.134 Während zuvor bildreiche Darstellungen und biblische Belege die Rede des Nesteros geprägt haben, folgen nun konkrete Mahnungen und Handlungsanweisungen für den jungen Mönch: Er soll den Studieneifer aufrechterhalten und etwaiger Eitelkeit aufgrund erster Erfolge mit Schweigen begegnen. Er soll stumm den Worten der Väter lauschen, ihren Weisungen folgen und von unnötigen Nachfragen, die nur der Selbstdarstellung dienen, absehen. Zudem wird der monastische Nachwuchs vehement davor gewarnt zu lehren, bevor er nicht selbst im Tun vollkommen ist (s. o.) und es wird ihm nachdrücklich in Erinnerung gerufen, dass menschliche Bildung, die sich beispielsweise in rhetorischer Brillanz ausdrückt, keinesfalls zum Verständnis himmlischen Wissens beizutragen vermag.135 134 Ein vergleichbares erzählerisches Vorgehen ist in coll. 14,12, der Klage über die quälende traditionelle Bildung (s. 3.1.1.1) zu beobachten. 135 obseruate igitur in primis, et maxime tu, Iohannes, cui magis ad custodienda haec quae dicturus sum aetas adhuc adulescentior suffragatur, ne studium lectionis ac desiderii tui labor uana elatione cassetur, ut indicas summum ori tuo silentium. hic est enim primus disciplinae actualis ingressus, ut omnium seniorum instituta atque sententias intento corde et quasi muto ore suscipias ac diligenter in pectore tuo condens ad perficienda ea potius quam ad docenda festines. ex hoc enim cenodoxiae perniciosa praesumptio, ex illo autem fructus spiritalis scientiae pullulabunt. nihil itaque in conlatione seniorum proferre audeas, nisi quod interrogare te aut ignoratio nocitura aut ratio necessariae cognitionis inpulerit, ut quidam uanae gloriae amore distenti pro ostentatione doctrinae ea quae optime norunt interrogare se simulant. inpossibile enim est eum, qui proposito adquirendae laudis humanae studio lec tionis insistit, donum uerae scientiae promereri (408,10–26). caue igitur ne ante actum prosiliens ad docendum in illorum numero deputeris (409,8–10).
5.3 Lehrer und Schüler
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Die Implikation, die hinter dieser Reihe von Mahnungen und Warnungen steht, ist deutlich: Ein monastischer Lehrer wird man, indem man Zeit und Geduld aufbringt, um ein guter Mönch zu werden, nicht indem man aktiv – und womöglich aus ruhmsüchtigen Motiven – nach der Lehrerrolle strebt. Dass dieses Profil zeichnend auch noch einmal explizit auf den Gegensatz von weltlicher und monastischer Bildung eingegangen wird, macht deutlich, wie sehr sich der monastische Lehrer von seinen säkularen Kollegen unterscheidet. Dies gilt nicht nur im Blick auf die zu vermittelnden Inhalte, sondern auch auf die Konstruktion bzw. Zuschreibung von Autorität: Dem monastischen Lehrer wird diese von ratsuchenden Schülern extern zuerkannt, der weltliche Lehrer beansprucht sie für sich selbst, was wiederum dem zentralen Attribut der Demut, das einen Mönch bzw. monastischen Lehrer auszeichnet, zuwiderläuft. 5.3.3.5 Lehre als Kommunikationsgeschehen Nesteros (coll. 14) schließt die Abhandlung über wahres Wissen und Scheinwissen mit einem erneuten Vergleich, der das Wissen sowie die Wissensweitergabe und die daran beteiligten Akteure in den Blick nimmt: Wer den beschriebenen Weg136 in Gänze gegangen ist, ist ein Lehrer, dessen Unterweisung lebendig und fruchtbar (uiuidus fructuosusque 421,19) ist. Er vermag die Saat des heilbringenden Wortes (semenque salutaris uerbi 421,20) bei seinen Schülern zu säen, wo sie, kultiviert durch den Regen des Heiligen Geistes (spiritus sancti imber 421,21 f.), aufgehen wird.137 Auch hier wird das unbedingt notwendige Zusammenwirken göttlicher und (verschiedener) menschlicher Akteure zur Sprache gebracht. Coll. 14,17 nimmt die Frage nach Lehrperson und Vermittlung wieder auf und wiederholt die bereits bekannte Warnung davor, die selbst erarbeitete scientia spi ritalis voreilig oder unbedacht weiterzugeben. Eine Lehrtätigkeit wird an das höhere Alter (aetas maturior 421,27) des Lehrenden gebunden. Der geistige Sinn (spiritalis sensus 422,13) wird zunächst unter Geheimhaltung gestellt (contegere 422,13), bevor die eng umrissenen Gruppen benannt werden, denen er unter ge et ideo cauendum tibi est ne illorum ad docendum inciteris exemplis, qui peritiam dis putandi ac sermonis afluentiam consecuti, quia possunt ea quae uoluerint ornate copioseque disserere, scientiam spiritalem possidere creduntur ab his qui uim eius et qualitatem discer nere non nouerunt (409,20–25). 136 qua coniugatione uirtutum euidentissime nos uoluit erudire de uigiliis atque ieiuniis ad castitatem, de castitate ad scientiam, de scientia ad longanimitatem, de longanimitate ad suauitatem, de suauitate ad spiritum sanctum, de spiritu sancto ad caritatis non fictae prae mia perueniri (421,12–16). 137 In der östlichen monastischen Tradition kann der Heilige Geist als die „ultimative Autorisierungsinstanz“ für vorbildhafte Lehrerfiguren gelten (Gemeinhardt 2021a, 188). Im hier vorliegenden Zitat zeichnet er nicht nur den Lehrer aus, sondern bekommt auch zentrale Bedeutung für das, was sich in der Unterrichtssituation zwischen Lehrer und Schüler ereignet.
198
5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
wissen Voraussetzungen offenbart werden darf: Nur wer angesichts seines früheren Verhaltens Reue und Traurigkeit empfindet (id est his qui pro paenitudine actuum pristinorum maerore atque tristitia deprimuntur 422,20–22), darf das heilbringende Wort (salutare verbum 422,24) erfahren. Coll. 22,1 ergänzt die Bedeutung der Kommunikation zwischen Schüler und Lehrer um einen weiteren Aspekt: „… [der Altvater erwirtschaftet] auch dadurch, dass er sich selbst mit einer Frage aus einandersetzt, sehr großen Zugewinn … Indem er den Zuhörer unterweist, entzündet er sich selbst zur Sehnsucht nach Vollkommenheit. So ist also euer Feuer mein Fortschritt, euer Kummer mein Gewissensbiss.“138
Hier wird betont, dass nicht nur der Schüler Nutzen aus der Unterweisung durch den Altvater zieht, sondern dass die Unterredung auch andersherum von Nutzen sein kann. Abbas T heonas stellt fest, dass ihm selbst ein Gewinn entsteht, wenn er der Bitte seiner Schüler um Unterweisung nachkommt. Diese letzte Beobachtung am Text der Collationes führt zu der T hese, dass das kommunikative Lehr-Lern-Geschehen, das in den Collationes in so vielfacher Weise beschrieben wird, kein unidirektionaler Kommunikationsprozess ist, sondern beiden beteiligten Parteien Nutzen bringt. Diese Beobachtung stärkt die unter 5.3.1 formulierte Annahme, dass ein jegliches Lehr-Lern-Geschehen nicht allein zwischen zwei Menschen stattfindet, sondern durch Gott begründet, angestoßen und begleitet wird, sodass dieser in jeder zwischenmenschlichen Unterweisung mitwirkt und Schüler wie Lehrer voranbringt. 5.3.4 Die Bedeutung von Lehrer-Schüler-Konstellationen für die monastische Bildung Die Untersuchung der Rahmenhandlungen und der Unterredungen im engeren Sinne im Blick auf die in ihnen präsentierten Lehrer-Schüler-Konstellationen hat gezeigt, dass Cassian zwar tief in der beispielhaft durch die Apophthegmata Pat rum vertretenen Tradition des östlichen Mönchtums verwurzelt ist, diese Tradition aber durchaus Transformationsprozessen unterzieht, um sie in Südgallien verständlich und rezipierbar erscheinen zu lassen. So ist das eingangs präsentierte Votum P. Rousseaus – die Collationes seien als Zeugnis dafür zu sehen, dass ein Wandel des Autoritätsideals stattfindet und die Autorität der Altväter zugunsten einer stärker eigenverantwortlichen Strategie der Selbstautorisierung aufgegeben wird (s. 5.3) – m. E. dahingehend zu korrigieren, dass dieser Wandel weniger ein Verblassen der Autorität der Altväter als eine kontextsensible Aktualisierung ihres Einflusses darstellt. 138 Ziegler 2015, 155 f.; uerum etiam in sua disputatione compendia summa consequi tur, non minus semet ipsum ad desiderium perfectionis accendens, dum instruit auditorem. quamobrem uester ardor meus profectus est, uestra sollicitudo mea conpunctio est (616,4–7).
5.3 Lehrer und Schüler
199
Denn ohne die Altväter Ägyptens, die deutlich als die eigentlichen Urheber einer Lehre, die Cassian lediglich weiterträgt, herausgestellt werden, wären die Collationes nicht denkbar. Ihre erzählerische Struktur aus narrativen Rahmenhandlungen und in fiktiver Mündlichkeit erscheinenden Passagen wäre nicht notwendig und nur schwer erklärbar, wenn es Cassian nicht darum ginge, eine bestehende Tradition so originalgetreu wie möglich, aber soweit an die neuen geografischen und kulturellen Umstände angepasst wie nötig, zu transferieren. Cassian beschreibt nicht nur das traditionelle Erotapokriseis-Schema, er nutzt es auch – freilich stark erweitert – zur Gestaltung der Collationes. Hinter dieser Form steht nicht nur die Anerkennung der Autorität des antwortenden Altvaters, sondern sie ist gleichzeitig „didaktisches Mittel und praktischer Bestandteil des Wegs zum Heil: Nur wer sich der Autorität eines ‚Vaters‘ unterwirft und dessen Weisung befolgt, ist auch Gott gehorsam. Die Lehrsituation ist also auch eine Bewährungssituation“139 – und eben diese Möglichkeit zur Bewährung, zur eigenen Erfahrung der Autorität der Altväter (von denen Cassian sich als Autor bewusst unterscheidet), möchte Cassian seinen Adressaten bieten. Die Interaktion zwischen Schüler und Lehrer ist dabei ausgesprochen vielseitig: Sie findet nie unidirektional statt oder geht allein vom Lehrer aus. Es sind immer die Schüler, die durch das Aufsuchen, Bitten und Flehen den Anstoß zur folgenden Unterweisung geben. Mehrfach wurde herausgestellt, dass der Altvater, bevor die eigentliche, verbale Unterweisung beginnt, die Gesinnung und den Lebenswandel der Schüler überprüft, bevor er sich bereitfindet, ihnen den Weg zum Wissen zu eröffnen. Jedoch ist nicht nur mündliche Unterweisung erstrebenswert, auch eine bloße admiratio und der Versuch einer imitiatio des Lebenswandels des Altvaters erscheinen schon als ausgesprochen nützlich. Der Schüler braucht den Lehrer jedoch nicht nur als Vorbild, sondern auch als aktiven Ratgeber, dessen Sichtweise er sich sukzessive zu eigen macht. Gerade zu Beginn der Unterweisung spielt auch die demütige Haltung, in der der Schüler sich dem Lehrer nähert und die ihm hilft, den Eigenwillen abzulegen (s. auch 4.4.2.1), eine wichtige Rolle. So wie die Lehr-Lern-Situation dialogisch zwischen Lehrer und Schüler angelegt ist, verhält es sich auch mit dem Gewinn, der aus dieser Situation erwächst: Sicher dient die Unterweisung vor allem dem Unerfahreneren der beiden Beteiligten, aber auch der Lehrer wird durch die an ihn herangetragene Verantwortung zu noch größerer Vollkommenheit angeregt. Jedoch ist nicht jeder als Lehrer geeignet: Grundvoraussetzung ist ein bereits zurückliegendes, entschiedenes Streben nach Tugend, ein vollkommener Lebenswandel und auch auf Seiten des Lehrers eine gewisse Demut, die beispielhaft in der wiederholt zu beobachtenden anfänglichen Lehrverweigerung sichtbar wird. 139 Gemeinhardt 2021a, 187; vgl. auch aaO. 186 f. mit dem Verweis auf Larsen 2016, 21– 25, die wiederum zeigt, dass es sich bei diesen Formen des monastischen Lehrens und Lernens um traditionelle schulische Lehrmethoden handelt (s. auch 3.1.1).
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
Gelingende Lehre, wie sie in den Collationes geschildert wird, ist jedoch nicht nur ein Dialog, sondern mindestens ein Trialog, eventuell sogar ein Tetralog: Unter 5.3.1 wurde dargelegt, dass der eigentliche Urheber einer jeden doc trina / scientia Gott ist und dass dessen Lehre lediglich von Mensch zu Mensch weitergereicht wird. Das, was in diesem Moment zwischen den Menschen geschieht, geschieht nie ausschließlich zwischen den Menschen: Immer sind Gott und Geist beteiligt, entweder indem die Lehrsituation durch (gemeinsames) Gebet gestärkt wird oder – noch bildhafter – indem der Heilige Geist der durch den Lehrer gelegten Saat zum Aufgehen verhilft. Der Vorschlag eines Tetraloges verweist darauf, dass es meist mehr als einen menschlichen Lehrer braucht, um einen Schüler zur Vollkommenheit zu geleiten: Auf Ebene der Erzählung wird diesem Umstand durch die zahlreichen Experten, die zu unterschiedlichen T hemen zu Wort kommen, Rechnung getragen, auf Ebene der Narration durch das Zeit und Raum überbrückende Wirken Cassians. 5.4 Lernen durch Erfahrung Ein Motiv des Lernens und Lehrens, das zentral für den monastischen Fortschritt scheint, zieht sich durch alle Teilbände: die Erfahrung (experientia). Dabei ist der Erfahrung keine eigene Collatio gewidmet, vielmehr wird sie beständig und kontinuierlich argumentativ eingeflochten.140 Dass erfolgreiche monastische Bildung an die eigene, ganzheitliche Erfahrung, nicht an bloße rationale Einsicht gebunden ist, besitzt sowohl für die Form als auch für den Inhalt der durch Cassian repräsentierten Unterweisung Relevanz:141 Einerseits lässt er die Altväter immer wieder davon sprechen, dass der einzige Weg zur monastischen Vollkommenheit über die eigene Erfahrung und Erprobung bestimmter Lebensund Denkformen führt. Andererseits sind die Collationes durch ihre narratologische Gestaltung so konzipiert, dass sie ein möglichst realitätsgetreues ‚Erfahren‘ der Altväter und ihrer Unterweisung ermöglichen. Der zweite Aspekt – die durch die Collationes ermöglichte Erfahrung – wurde bereits unter 3.3 thematisiert, sodass hier nur noch einmal an Cassians Absichtserklärung im ersten Prolog erinnert sei: Bereits dort wird – dies bindet die beiden erwähnten Ebenen, Geschichte und Narration, gewissermaßen zusammen – ein Konzept des Lernens durch Erfahrung angedeutet: Cassian gibt an, die Altväter im Folgenden so präsentieren zu wollen, dass seine Leser sie sich quodammodo … incorpora tos (4,28 f.) – als echte Menschen – vorstellen könnten. Dies sei notwendig, da Cassian das Begehren seiner Adressaten folgendermaßen einschätzt: desiderat 140 Anders als bei anderen T hemen, die sich in einem Teilband ballen oder aber in einem der ersten beiden Teilbände thematisiert und dann im letzten noch einmal erläuternd aufgegriffen werden, durchzieht das Wortfeld experientia / experiri alle drei Teilbände beinahe gleichstark gewichtet. 141 Vgl. Stewart 1998, 78.
5.4 Lernen durch Erfahrung
201
experiri (5,16) – der Leser wünscht, etwas zu erfahren, aufgrund dessen er zu einer eigenen Beurteilung gelangen könne (uoluerit ueram proferre sententiam 5,16). Es geht also nicht um die Übernahme vorgefertigter Wahrheiten, sondern um eine eigenständige und individuelle Meinungsbildung aufgrund der persönlichen Erfahrung. Innerhalb der Altvaterworte, also auf Ebene der Geschichte, wird experien tia in verschiedenen Zusammenhängen gebraucht. Dabei lassen sich m. E. fünf Verwendungsweisen des Begriffs / Konzepts unterscheiden, die nachfolgend in aufsteigender Häufigkeit bzw. Prägnanz genannt werden: Erstens die Übereinstimmung von eigener und fremder Erfahrung; zweitens – eng an erstens anschließend – die Erfahrung gekoppelt an das Argument einer Altersautorität (zu beiden s. 5.4.2); drittens die feststehende Formulierung der Erfahrung als Lehrmeisterin (experientiae magisterio / experientia docente) (s. 5.4.3); viertens die Erfahrung als notwendiges Element, das zuvor gehörte Altvater- oder Bibelworte bestätigt (s. 5.4.4) und schließlich fünftens das Zusammenspiel von experientia und anderen Wegen der Erkenntnis (s. 5.4.5). Bevor aber diese Facetten eines Erfahrungsbegriffs innerhalb der Collationes analysiert werden, ist im Rahmen eines Exkurses (s. 5.4.1) einerseits zu klären, welche Aspekte aus einer heutigen Perspektive mit den Begriffen Erfahrung und Erfahrungslernen verbunden werden und so die nachfolgende Untersuchung leiten können. Andererseits wird traditionsgeschichtlich zu fragen sein, wodurch Cassians Vorstellung von experientia geprägt wurde. 5.4.1 Exkurs: Der Begriff „Erfahrung“ Der Begriff „Erfahrung“ wird in einer Vielzahl von Kontexten – der Alltagssprache, der Philosophie, den Naturwissenschaften, der Bildungswissenschaften oder gar der T heologie – in höchst unterschiedlicher Ausprägung gebraucht.142 Jedoch gibt es einige Aspekte des Erfahrungsbegriffs, vorrangig aus Philosophie und T heologie, die sich zu einer – im Blick auf Cassians Collationes stimmigen – Arbeitsdefinition zusammenfügen. Begonnen sei diese mit einem Zitat von O. F. Bollnow: „Erst in der nachträglichen Verarbeitung, in der Hineinnahme in das eigene Leben wird das Ereignis zur Erfahrung. Wohl spricht man davon, daß der Mensch Erfahrungen macht, aber was ihm begegnet, ist zunächst ein sinnloses Faktum. Erst indem er es sich deutend aneignet und für sein zukünftiges Verhalten eine ‚Lehre‘ daraus zieht, wird es zur Erfahrung.“143
142 143
Vgl. Holze 1992, 133. Bollnow 2013, 36.
202
5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
Bollnow betont, dass nicht jedes Erlebnis, das dem Menschen im Laufe seines Lebens widerfahre, gleich zu einer Erfahrung würde. Denn diese entsteht erst durch Aneignung und Reflexion. B. Schröder zeigt in einem Aufsatz, der um die zentrale Formulierung „Erfahrung mit der Erfahrung“144 kreist, dass diese Annahme im Grunde auf Kant zurückzuführen sei: „Die empiristische Tradition und auf seine Art auch Kant verstehen Erfahrung als (sinnliche) Wahrnehmung eines äußeren Gegenstandes und deren Weiterverarbeitung kraft des Verstandes.“145
Auch hier tritt deutlich das Zusammenspiel von Wahrnehmung und rationaler Reflexion eines Gegenstandes oder Ereignisses, das aus der Begegnung mit diesem erst eine Erfahrung werden lässt, hervor. Noch präziser formuliert Schröder diesen Sachverhalt mit Rekurs auf Hegel: „Erfahrung ist die Selbstbewußtwerdung des Bewußtseins“146, d. h. eine sich differenzierende und reflektierende Wahrnehmung des Selbst in einer bestimmten Situation. Eine theologische Komponente kann dem Erfahrungsbegriff in dem Moment eingeschrieben werden, da gefragt wird, wie die Weiterverarbeitung bzw. Reflexion des Wahrgenommenen erfolgt: Mit seinen Stichwortgebern Ebeling und Jüngel hält Schröder fest, dass der christliche Glaube erfahrungskonstitutiv sei: Gott sei nicht etwas, das – wie ein Sachverhalt oder ein Gegenstand – wahrgenommen, reflektiert und somit erfahren werden könne, sondern derjenige, der diesen Prozess erst ermögliche, anstoße und vollende, ihm also einen umfassenden Rahmen biete. Indem der Mensch Dinge und Situationen aus einer Haltung des Glaubens heraus reflektiere, ergäben sich neue Einsichten in das Selbst im Gegenüber Gottes und damit auch in Gott selbst. Der Glaube sei also die Grunderfahrung, die alle weiteren Erfahrungen erst anstoße und sich so selbst vertiefe.147 Bis hierher lässt sich also festhalten, dass ein beliebiges Ereignis durch eine (selbst-)reflexive Deutung zur Erfahrung wird und dass es zu einer religiösen Erfahrung wird, wenn diese Deutung unter den Voraussetzungen des (christlichen) Glaubens erfolgt. Was aber unterscheidet diesen so definierten Erkenntnisgewinn durch die eigene (religiöse) Erfahrung von bloßem Wissen, das beispielsweise durch das gehörte oder gelesene Wort erworben wurde? Dieser Frage geht G. Haeffner nach:
144 Dieser Begriff ist gleichermaßen auf G. Ebeling und E. Jüngel zurückzuführen (Jüngel 1972,8; Ebeling 42012, 41 f.). Beide formulieren ihn anscheinend unabhängig voneinander (vgl. Schröder 1998, 277 f.). 145 Schröder 1998, 278. 146 Schröder 1998, 279. 147 Vgl. Schröder 1998, 282–287.
5.4 Lernen durch Erfahrung
203
„Erfahrung ist zunächst einmal etwas Passives … Der eine Gegensatz besteht zum aktiven Erwerb eines Wissens, das die eigene Wissenssphäre nicht verläßt, wie es in der Analyse und Deduktion von schon Gewußtem geschieht. Der andere Gegensatz besteht zum glaubenden Erwerb des Wissens von anderen aufgrund von Hörensagen oder Lernen. In beiden Fällen findet das, was für die Erfahrung charakteristisch ist, nicht statt: das eigene Getroffensein durch die sich meldende Wirklichkeit selbst.“148
Hier treten zwei Aspekte des Erfahrungsbegriffs hervor, die zuvor noch nicht in dieser Deutlichkeit zu vernehmen waren. Erstens wird Erfahrung als passives Geschehen beschrieben: Zwar ‚macht‘ der Mensch eine Erfahrung aktiv, indem er reflektiert und Schlussfolgerungen zieht, der Auslöser dieser Prozesse liegt jedoch außerhalb des Einflussbereiches des Menschen – er wird von einer Situation, einem Eindruck oder einem Erlebnis ‚getroffen‘. Dies gilt zweitens für eine jede Erfahrung, in besonderem Maße aber für die religiöse. Denn die religiöse Erfahrung hat nicht nur ihren Gegenstand (was erfahren wird), sondern auch ihr Reflexionsmoment (wie erfahren und gedeutet wird) außerhalb des Menschen. Anders als der Erwerb von rationalem Wissen, der in absehbaren und steuerbaren Bahnen (quasi in Lehrplänen) erfolgen kann, ist das Entstehen von Erfahrung immer abhängig von Situation, Individuum und göttlicher Kontingenz. Dieser Aspekt lässt den Blick zurücklenken auf die unter 3.1.2.2 erörterte Unterscheidung von Sozialisation, Erziehung und (Selbst-)Bildung, um Parallelen zwischen dem bisher skizzierten Erfahrungsbegriff und der (Selbst-)Bildung aufzuzeigen: Beide sind durch Reflexion und Individualität gekennzeichnet und nicht (oder nur bedingt) von außen steuerbar. Den Zusammenhang von Bildung und Erfahrung expliziert auch G. Haeffner, indem er formuliert, dass Erfahrung sich erst in der Seele des Menschen „bilde“ und deshalb immer subjektbezogen sei.149 Ein solcher moderner, philosophisch-theologisch informierter Erfahrungsbegriff findet auch Anwendung in der Pädagogik, konkret im Konzept des „Erfahrungslernens“. Dieses kann in Grundzügen folgendermaßen definiert werden: „Learning in which the learner is directly in touch with the realities being studied. It is contrasted with the learner who only reads about, hears about, talks about, or writes about these realities but never comes into contact with them as part of the learning process.“150
Aus dieser grundlegenden Definition heraus entwickelte sich eine Reihe von pointierten und anwendungsbezogenen Zuspitzungen, wie beispielsweise der unter 3.1.2.3 dargestellte learning cycle (D. A. Kolb), der beschreibt, wie sich in 148
Haeffner 2004, 16. Vgl. Haeffner 2004, 17.24 f.; hierdurch wird zudem auf die Selbsttätigkeit und Individualität von Prozessen der (Selbst-)Bildung (s. 3.1 und 3.1.2) Bezug genommen. 150 Diese Definition geht auf Keeton / Tate (1978) zurück und ist hier zitiert nach Kolb 2015, xviii. 149
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
zirkulärer Weise aus einem Prozess von Erfahrung, Reflexion und daraus folgender Konzeptualisierung neue Erfahrungen machen lassen. Es wird sich in der Betrachtung der Collationes zeigen und hat sich zu Teilen bereits gezeigt, dass eine Vielzahl der Elemente, die hier als charakteristisch für ein zeitgenössisches Erfahrungslernen genannt werden, ebenfalls zentral für Cassians Bildungshandeln durch die Collationes sind: das Angebot an seine Leser zur eigenständigen Auseinandersetzung mit verschiedenen Lerngegenständen, das die Aktivität der Adressaten fordert, sie zur Reflexion anleitet und durch die Wiederkehr von T hemen und Motiven (nicht zuletzt dem Motiv der experientia) auch zyklisch anmutet. Ein Aspekt des Lernens durch Erfahrung, der in keiner der präsentierten, zeitgenössischen Definitionen zum Tragen kam, der aber für die Collationes von entscheidender Bedeutung ist, ist die Rolle externer Autoritäten: Wie unter 5.4.2 zu zeigen sein wird und generell in der narratologischen Konzeption der Collationes angelegt ist (s. 3.3), ist es für Cassians Vorstellung von monastischer Bildung von zentraler Bedeutung, die eigene Erfahrung mit der erfahrener Altväter zu synchronisieren bzw. von diesen erst zu einer eigenen Erfahrung geleitet zu werden. Dabei ist jedoch zwischen Begleitung und Anstoß durch äußere Faktoren / Lehrer (s. 5.3) und der Selbsttätigkeit des sich unter diesen Faktoren bildenden Mönches zu unterscheiden – erst beide gemeinsam führen zum erstrebten Ziel. Diese Akzentuierung, die Cassians Bildungsvorstellung bei vielen Gemeinsamkeiten doch zu einem gewissen Grad von einem modernen Konzept des Erfahrungslernens abhebt, lässt sich mit einem Blick auf die Tradition (monastischen) spätantiken Erfahrungslernens, in der Cassian steht, erklären. Nun ist zu fragen, welche Vorstellungen von Erfahrung (experientia / πεῖρα / ἐμπειρία)151 im Hintergrund von Cassians eigenem Konzept eines ‚Erfahrungslernens‘ stehen mögen. ‚Erfahrung‘ ist kein T hema, das in der philosophischen Tradition oder einer von der Sprachwelt der Bibel geprägten T heologie eine breite Überlieferungsbasis aufweist, vielmehr ist die Wortfamilie in der Alltagssprache anzusiedeln.152 Erfahrung kommt theologisch dann zur Sprache, wenn „das religiöse Subjekt ins Spiel gebracht und in seiner Funktion betrachtet wird.“153 Das geschieht bei einer Reihe von Autoren eher beiläufig als gezielt, wie das Beispiel Augustins zeigt.154 Der „entscheidende[…] Beitrag“155 zu ei151 Zu Bedeutungsnuancen, vorchristlicher Verwendung und Rezeption der Begrifflichkeiten in biblischen Texten s. Köpf 1980, 14–19. 152 Vgl. Köpf 2002a, 1193. 153 Köpf 1982, 110. 154 Köpf 2002a eröffnet am Beispiel von Augustins Gesamtwerk einen Einblick in dessen Erfahrungsbegriff. Dabei zeigt sich, dass dieser nicht von Augustin selbst systematisch erarbeitet wurde, sondern sich vielmehr aus der nachträglichen Zusammenschau seines Gesamtwerkes unter verschiedenen Kategorien („Wahrnehmen, Erfahren, Erfassen“, „Erfahren und Erkennen“, „Erfahren und Glauben“, „Inhalte des Erfahrens“) ergibt – ähnlich wie nachfolgend auch an Cassians Erfahrungsbegriff herangegangen wird. 155 Köpf 1982, 110.
5.4 Lernen durch Erfahrung
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nem theologischen Erfahrungsverständnis stammt aus dem Mönchtum, dessen Grundausrichtung den Erfahrungsbezug nahezu herausfordert, da monastische Weltabgewandtheit und die damit einhergehende Konzentration auf das Innere, das Selbst und die damit auch die eigene Erfahrung einander bedingen.156 Es ist also davon auszugehen, dass Cassian dort, wo er von Erfahrung spricht, einen Kern der monastischen Tradition (s. 2.2.1), die er in unterschiedlichen Graden der Anpassung an seine Adressaten überliefert (s. 2.3.1), berührt.157 Diesen grundlegenden Beobachtungen folgend, soll nun der Blick auf die Verwendung des Begriffs und der Vorstellung eines monastischen ‚Erfahrungslernens‘ im östlichen Mönchtum gelenkt werden.158 H. Holze stellt in „Erfahrung und T heologie im frühen Mönchtum“159 Belegstellen zum T hema aus den Apophthegmata Patrum vergleichend nebeneinander. Dabei stützt auch er sich auf die von U. Köpf herausgestellten, großen Verbindungslinien von Erfahrung und monastischer T heologie (s. o.).160 Holze hebt hervor, dass dem ägyptischen Mönchtum ein enger Bezug von Leben(serfahrung) und T heologie eignet. Dies gilt nicht nur im Blick darauf, dass Lehre sich erst dann ziemt, wenn sie aus einem Reichtum praktischer Erfahrung hervorgeht (s. 5.3.2.3), sondern auch im Blick auf den Zusammenhang von Logion und eigener Erfahrung (s. 5.5.1): So wie der Altvater ohne die notwendige Erfahrung im Hintergrund kein Logion geben kann, kann der Schüler, der diesen Erfahrungshorizont nicht teilt, es nicht gewinnbringend empfangen.161 Holze verweist in diesem Zusammenhang auf die fast schon formelhafte Wendung λόγος καὶ βίος162, die die enge Verbindung dieser beiden Wege des Erkenntnisgewinns betont, im Zweifel aber das Wort zugunsten der Lebensführung als ganzheitlicher Lernmethode zurückstellt.163 Die 156 Köpf 1982, 110 f. nennt dabei vier Aspekte, an denen sich die Verbindung von Erfahrung und Mönchtum herauskristallisiert: a) die monastische Hinwendung zum Inneren / zur Selbstbetrachtung; b) die dazu notwendige Abkehr von der Welt; c) die Anleitung – durch Gespräche und gemeinsames Leben – durch einen erfahrenen Lehrer; d) den engen Zusammenhang und die gegenseitige Bedingung von Erfahrung und Heiliger Schrift (s. 5.6.7). 157 Vgl. Holze 1992, 141. 158 Eine noch weitere Ausdehnung der Begriffsgeschichte auf die vorchristliche Philosophie wird unter 5.4.2 angerissen. 159 Holze 1992. 160 Holze 1992, 136 (Anm. 21). 161 Vgl. Holze 1992, 135, mit Verweis auf AP/G 276 T heodorus Phermae (PG 65, 189): Ἀδελφός τις ἦλθεν πρὸς τὸν ἀββᾶν Θεόδωρον, καὶ ἤρξατο λαλεῖν καὶ ἐξετάζειν πράγματα, ὧν οὔπω τὴν ἐργασίαν ἐποίει. Καὶ λέγει αὐτῷ ὁ γέρων· Οὔπω εὗρες τὸ πλοῖον, οὐδὲ τὰ σκεύη σου ἔβαλες, καὶ πρὸ τοῦ πλεῦσαι, ἤδη εἰς τὴν πόλιν ἐκείνην ἀπῆλθες. Πρῶτον ὅταν ποιήσῃς τὸ ἔργον, ἔρχῃ εἰς ἃ νῦν λαλεῖς. 162 So beispielhaft bei AP/G 366 Isidorus Pelusiota (PG 65, 221): Ἔλεγεν ὁ ἀββᾶς Ἰσίδωρος ὁ Πηλουσιώτης, ὅτι Βίος ἄνευ λόγου [μᾶλλον] ὠφελεῖν πέφυκεν, ἢ λόγος ἄνευ βίου. Ὁ μὲν γὰρ, καὶ σιγῶν ὠφελεῖ· ὁ δὲ καὶ βοῶν ἐνοχλεῖ. Εἰ δὲ καὶ λόγος καὶ βίος συνδράμοι, ἓν φιλοσοφίας ἁπάσης ἀποτελοῦσιν ἄγαλμα. 163 Vgl. Holze 1992, 136.
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
so zentrale Erfahrung ergibt sich dabei nicht aus einem bloßen ‚Vor-sich-hinLeben‘, sondern aus einer aufmerksamen Selbstbeobachtung und regelmäßigen kritischen Erforschung des eigenen Gewissens.164 Der Mönch, der sich selbst in dieser geforderten aufmerksamen Weise betrachtet, kommt nicht umhin, sich seiner Sündhaftigkeit und damit der Grenzen seiner Erkenntnisfähigkeit bewusst zu werden. Dies – so Holze – führe zwangsläufig zu einer Absage an eine die eigene Erkenntnisfähigkeit überschätzende, spekulative T heologie.165 Nicht nur in den Apophthegmata Patrum, auch in der Vita Antonii ist die Erfahrung ein T hema: Beispielsweise formuliert Athanasius zu Beginn der Rede des Antonius an die Mönche (V. Anton. 16–43), dass zwar die Schrift eine ausreichende Grundlage seiner Lehre bereithalte, er seine nachfolgende Unterweisung jedoch sowohl auf sein Wissen als auch auf seine Erfahrung stütze.166 Ganz ähnlich legitimiert er seine Autorität gegen Ende der gleichen Rede, indem er die vorhergehenden Ausführungen doppelt begründet: Sie fußen sowohl auf seiner Erfahrung als auch auf der Wahrheit.167 Auch hier lässt sich beobachten, dass Antonius mit seinem ganzen Leben für den Inhalt seiner Lehre einsteht: Sowohl Wissen als auch Wahrheit sind nicht zu erlangen bzw. anzunehmen, wenn sie sich nicht biographisch begründen oder rückbinden lassen. Dabei ist jedoch keine Vorrangstellung der Erfahrung behauptet – etwa in dem Sinne, dass sich allein aus ihr Wissen und Wahrheit ergeben würden –, sondern vielmehr stehen diese beiden abstrakten Komponenten durch das verbindende καὶ in sich gegenseitig ergänzendem Dialog mit der Erfahrung. Zudem ist bemerkenswert, dass beide exemplarisch zitierten Passagen das Verb μεταδίδωμι enthalten:168 Dies bedeutet nicht nur „mitteilen“, sondern auch „Anteil geben an“,169 durch die Worte des Antonius werden seine Zuhörer also in die Welt seiner Erfahrung, in sein Erleben und dessen Deutung, mit hineingenommen, wodurch dieser Unterweisung eine wesentlich höhere Relevanz und Lebensbezogenheit als die bloße Mitteilung von Wissen zukommt. Blickt man auf Cassians Lehrer und Vorbilder außerhalb bzw. an den Rändern des ägyptisch-monastischen Kontextes (s. 2.2.2–2.2.4) zeigt sich, dass Erfahrung und das Lernen aus Erfahrung besonders für einen von ihnen zentral sind: Johannes Chrysostomus. Hier zeigen sich deutliche Parallelen zu Cassians Konzept der „Erfahrung als Lehrmeisterin“. Diesen Parallelen ist unter 5.4.3 gezielt nachzugehen. 164
Vgl. Holze 1992, 136 f. Vgl. Holze 1992, 137. Dieses Argument – nun allerdings auf Cassian, nicht auf seine östlichen Vorbilder bezogen – bringt auch Miquel 1968, 146. 166 Athanasius, V. Anton. 16,2 (FC 69, 154,4 f. Gemeinhardt): ἃ οἶδα καὶ ὧν πεπείραμαι μεταδίδωμι. 167 Athanasius, V. Anton. 39,1 (FC 69, 198,5 f. Gemeinhardt); ἀλλ’ ἀπὸ πείρας μεταδίδωμι ἀληθείας πιστεύσητε ταῦτά με διηγεῖσθαι. 168 Vgl. hierzu auch Gemeinhardt 2018, S. 232 f. (Anm. 326). 169 Vgl. Bauer 1988, 1034. 165
5.4 Lernen durch Erfahrung
207
5.4.2 Die eigene Erfahrung und die der anderen (der Älteren) Als erste, hier zu untersuchende, Komponente (s)eines Erfahrungsbegriffs betont Cassian, dass es zu unvollkommenen Ergebnissen führe, wenn Schlussfolgerungen allein auf der eigenen Erfahrung basierend gezogen würden. Auch die Erfahrung anderer (aliorum experientia 182,25), die bisweilen von der eigenen abweichen könne, müsse berücksichtigt werden. Dies wird in coll. 7,4 mit einem Beispiel illustriert, das weder biblisch noch im weiteren Sinne monastisch ist: Nur weil eine Person selbst nicht schwimmen könne, dürfe sie daraus nicht sofort schlussfolgern, dass kein Mensch schwimmen könne – eine solche Feststellung könne nur auf einer breiteren empirischen Basis getroffen werden. An dieser Stelle verweist Cassian indirekt auf eine aristotelische Vorstellung des Erkenntnisgewinns bzw. der Meinungsbildung: Im Eingangskapitel seiner Metaphysik (Met. 981a5–7) erläutert Aristoteles, wie empirisch, d. h. auf Grundlage mehrerer Einzelerfahrungen, generelle Annahmen formuliert werden können.170 Dabei beschreibt Aristoteles einen Vierschritt, der über mehrere Stufen von der bloßen Wahrnehmung (αἴσθησις) zu wahrer Kunstfertigkeit (τέχνη) führt: die Wahrnehmung, die Erinnerung an das Wahrgenommene, die Erfahrung (ἐμπειρία), die das „Übereinzelne“171 erfasst, und schließlich die Kunstfertigkeit, die sich aus der Erfahrung ergibt.172 Die Erfahrung des Einzelnen ist also erst dann von weiterführendem Wert, wenn die Synchronisation mit anderen Erfahrungen ihren überindividuellen Wahrheitsgehalt bestätigt. Auf dieser Grundannahme baut die Wertschätzung der Erfahrung von Älteren auf. Dies wird erstmals und ausführlich in coll. 2,13 thematisiert: Nachdem Grundlegendes zu Alter und Weisheit zur Sprache gekommen ist (s. 5.3.2.3), wird dies mit der Erfahrung der Alten, die den Jüngeren als Inspiration dienen kann (qui ad uiam perfectionis uel suis uel aliorum potuerunt monitis incitari 53,22 f.),173 in Zusammenhang gebracht. Durch uel … uel sind dabei die gegangenen bzw. zu gehenden Lebenswege nicht zwangsläufig hierarchisiert, sondern vielmehr gleichberechtigt und in gegenseitiger Ergänzung nebeneinandergestellt. Diese Zusammenstellung der eigenen und der fremden Erfahrung, explizit der der Älteren, begegnet erneut in coll. 7,23: Auch hier stehen die eigene Erfahrung und die, die von den Älteren überliefert wird, zunächst gleichwertig nebeneinander (experientia nostra et seniorum relatione 201,26 f.). Gegen Ende des Kapitels wird jedoch eine Gewichtung vorgenommen, die der länger zurückliegenden Erfahrung der Älteren die unterstützende Funktion, die Erfahrung der
170
Vgl. Herms 1982, 89. Heß 1970, 61. 172 Vgl. Heß 1970, 61. 173 Auch wenn hier der Begriff experientia nicht fällt, wird doch exakt das Phänomen, sich an der Erfahrung eines Älteren zu orientieren, beschrieben. 171
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Jüngeren zu stärken (qui uidemur pro experientia senectutis aliquatenus roborati 202,14 f.), zuschreibt. Coll. 14,13 wendet das Altersargument in eine leicht andere Richtung. Hier wird nicht länger die Erfahrung der Älteren, sondern das Alter der eigenen Erfahrung angeführt. Je länger diese im Herzen bewahrt und gepflegt wurde, desto wertvoller wird sie: „Wenn dies somit achtsam aufgenommen und im innersten Gemach des Geistes hinterlegt, im Schweigen versiegelt wird, wird es später wie süß schmeckender Wein, der das Herz des Menschen froh macht, wenn er durch das ergraute Haar der Sinne und das hohe Alter der Geduld ausgegoren ist, mit seinem starken Duft aus dem Krug deiner Brust entströmen und wie eine ewige Quelle aus den Adern der Erfahrung und aus den wasser reichen Strömen der Tugenden überreichlich strömen.“174
Dieser Aspekt des Erfahrungsbegriffes überträgt das, was zuvor über die Erfahrung als über Generationen entwickelte und gewachsene Größe festgehalten wurde, auf die Zeitspanne des Lebens und Erfahrungsammelns eines Einzelnen – statt der Altväter wird das eigene Leben zur Grundlage, auf der über das eigene monastische Leben entschieden und geurteilt werden kann. Dies stellt – ähnlich wie es bei der monastischen Grundtugend der discretio zu beobachten ist (s. 5.1) – eine zunehmende Verinnerlichung und Individualisierung monastischer Kompetenz dar. Während zu Beginn noch ein externer Älterer zur Beurteilung verhilft, erlangt der Mönch mit zunehmendem Alter und Erfahrungsreichtum diese Kompetenz selbst in immer höherem Maße. Auch wird hier der Ort, an dem die Erfahrungen zum Reifen aufbewahrt werden, lokalisiert: das Innere des Geistes, das so durch die sich in ihm ansammelnden Erfahrungen geformt und geprägt wird.175 5.4.3 Die Erfahrung als Lehrmeisterin Als zweite Komponente eines cassianschen Erfahrungsbegriffes ist die Wendung der „Erfahrung als Lehrmeisterin“176 zu betrachten. Der Begriff magistra expe rientia fällt in coll. 19,7, in coll. 12,4 heißt es experientiae magisterio (338,24), in coll. 3,7 und coll. 12,16 experientia magistrante (76,2; 359,14). Eng verwandt mit 174 Ziegler 2014, 153; si itaque haec diligenter excepta et in recessu mentis condita atque indicta fuerint taciturnitate signata, postea ut uina quaedam suaue olentia et laetificantia cor hominis, cum sensuum canitie et patientiae fuerint uetustate decocta, cum magna sui fragrantia de uase tui pectoris proferentur et tamquam perennis fons de experientiae uenis et inriguis uirtutum meatibus redundabunt fluentaque continua uelut de quadam abysso tui cordis effundent (415,24–416,4). 175 Dieses zirkuläre Motiv (Erfahrung verändert das Innere des Menschen so, dass neue Erfahrungen ermöglicht werden) lässt abermals an den durch D. A. Kolb definierten learn ing cycle (s. 3.1.2.3) denken. 176 Diese – m. E. sehr treffende – Übersetzung geht auf Ziegler 2011, 121 zurück.
5.4 Lernen durch Erfahrung
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dieser Formulierung ist experientia docente (coll. 12,5 und coll. 12,16), was noch stärker auf das Lernen abhebt als das etwas weiter gefasste magistrare.177 Im lateinischen Sprachraum scheint Cassian diese Formulierung erstmals genutzt und geprägt zu haben.178 Von ihm ausgehend zieht sie sich nicht nur durch verschiedene Klosterregeln,179 sondern wird auch von Gennadius gebraucht, um Cassian zu charakterisieren: „Er schrieb mit der Erfahrung als Lehrmeisterin, nachdem er die Gespräche abgewogen hatte und, um es ganz offen zu sagen, die Worte durch den Verstand entdeckt und die Sprache durch die Tat entwickelt hatte, alles auf, was für den Beruf des Mönches notwendig ist…“180
Dieses Beispiel zeigt, wie einprägsam und stilbildend die von Cassian gefundene Formulierung war: Sie wurde zu dem monastischen Ideal, das Cassians Biographen als erstes in den Sinn kam, als es galt, das Besondere an Cassians Existenz und Wirken hervorzuheben.181 Sucht man nach griechischsprachigen Vorbildern für Cassians lateinische Neuprägung, fällt der Blick schnell auf seinen Weggefährten und Lehrer Johannes Chrysostomus (s. 2.2.4).182 Dieser formuliert häufig mit Hilfe der Verben διδάσκω und μαθητεύω, dass es die Erfahrung sei, die – selbst oder in Kombination mit Worten der Schrift – lehrt. Besonderes Augenmerk ist allerdings auf die personifizierende Formulierung ἡ πεῖρα διδάσκαλος zu richten, die mehrfach innerhalb seines Gesamtwerkes begegnet und als Vorbild für Cassian magistra experientia plausibel erscheint.183 Die nahezu personifizierte Erfahrung als Lehrmeisterin begegnet durch die Collationes hindurch in verschiedenen Ausprägungen. In coll. 3,7 heißt es:
177 Auch G. Ziegler übersetzt und deutet diese beiden Begriffe als nahezu synonym (vgl. Ziegler 2014, 237 und Ziegler 2015, 247). 178 Vgl. Stichwortsuche (experient* magist*) in der llt-a [15.01.2021]. 179 Z. B. Regula Magistri 1,6; dies aufnehmend auch Regula Benedicti 1,6; Benedikt von Aniane, Concordia regularum 1,16; 3,28 f. 180 Gennadius, vir. ill. 61 (PL 58, 1095): Scripsit, experientia magistrante, librato sermone et, ut apertius dicam, sensu verba inveniens et actione linguam movens, res omnium mo nachorum professioni necessarias. 181 Vgl. Miquel 1968, 146. 182 Für Origenes lässt sich eine solche Wortverbindung nur vereinzelt, für Evagrius gar nicht nachweisen (vgl. Stichwortsuche [πειρα* διδασκ* / μαθ*] im TLG [29.03.21]). 183 Ad populum Antiochenum hom. 15,3 (PG 49, 157,46): ἑκάστῳ γὰρ ἡ πεῖρα διδάσκαλος ἀσφαλείας γίνεται; In Genesim hom. 30,3 (PG 53, 277,45 f.): Συνεχώρησε καμεῖν αὐτοὺς καὶ ταλαιπωρηθῆναι, ἵνα τῶν πραγμάτων ἡ πεῖρα διδάσκαλος αὐτοῖς γένηται.; In Genesim hom. 41,1 (PG 53, 375,21): … ἵνα αὐτὴ ἡ πεῖρα διδάσκαλος αὐτῷ γένηται τῶν συμφερόντων; De jejunio serm. 3 (PG 60, 716,4): Κλύδων γὰρ ὡς ἀληθῶς τὰ παρόντα καὶ θάλαττα, καὶ τὸ ἑκάστου πέρας ἄδηλον, ὡς ἡ πεῖρα διδάσκαλος; Catecheses ad illuminandos 8,12 (SC 50, 254,17 Wenger): ὅτι δὲ καὶ κινδύνοις πολλάκις περιέβαλεν ἀφορήτοις τοὺς πολλὴν περὶ αὐτὸν τὴν ἐπιθυμίαν ἔχοντας αὐτὴ τῶν πραγμάτων ἡ πεῖρα διδάσκαλος ἅπασι καθέστηκε.
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„Die Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit dieser Tatsache kann jedoch nur verstehen, wer das Gesagte durch die Erfahrung als Lehrmeisterin zu kennen gelernt hat.“184
Diese im Rahmen der Lehre über eine dreifache Absage getroffene Feststellung, steht in engem Bezug zu dem unter 5.4.4 zu Betrachtenden, der Erfahrung als notwendiger Voraussetzung und Bestätigung jeder anderen Unterweisung. Anders ist coll. 12,4 gelagert. Dort heißt es: „Wir dürfen jedoch sicher sein, dass … wir die andauernde Reinheit der Enthaltsamkeit keineswegs als Lohn für diese Dinge beanspruchen können, sondern nur wenn wir, uns unter Schweiß in ihrem Dienst beharrlich mühend, durch die Erfahrung als unsere Lehrmeisterin gelehrt werden, dass die Unversehrtheit der Reinheit durch die Freigiebigkeit der göttlichen Gnade geschenkt wird.“185
Hier hat die Erfahrung nicht länger eine unterstützende bzw. bestätigende Funktion, sondern ihr wird der Rang des einzig wahren Weges zu monastischer Vollkommenheit eingeräumt. Bei den „Dingen“ von denen sie abgegrenzt wird, handelt es sich um die zahlreichen Einzeltätigkeiten des Asketen (Fasten, Wachen usw.). Nicht diese werden an sich belohnt – so umgeht Cassian mögliche Vorstellungen einer semi-pelagianisch angehauchten Werkgerechtigkeit (s. 4.4.1) –, sondern der Lohn zeigt sich in der aus ihnen resultierenden Erfahrung, die – wie unter 5.4.2 gezeigt wurde – zu einer Verwandlung des Inneren des Menschen führt. Nicht die einzelne Tat des Mönches ist also von Wert für seinen geistigen Fortschritt, sondern die Veränderung seines Selbst bzw. seiner Selbstwahrnehmung durch die Tat. Diese Vorstellung wird im nachfolgenden Kapitel (coll. 12,5) zugespitzt: „Wenn unser Geist, durch tägliche Übung erzogen, zu diesem Stand [ewiger Reinheit] voranschreitet, dann versteht er – die Erfahrung belehrt ihn – die Empfindung jenes Verses, den wir zwar alle wie gewohnt im Psalmgesang beten, dessen Sinn aber nur wenige Erfahrene verstehen … .“186
Dieses Zitat bringt das in coll. 12,4 angedeutete sprachlich auf den Punkt: Während die tägliche Übung erzieht (exercitiis erudita 340,27), lehrt die Erfahrung in einem viel umfassenderen Sinne (experientia docente 340,28). Die Erziehung stellt dabei die Rahmenbedingungen auf, unter denen die weiter gefasste, auf eine 184 Ziegler 2011, 121; cuius rei fidem atque uirtutem nemo nisi is capiet, qui haec quae dicuntur experientia magistrante perceperit (75,29–76,2). 185 Ziegler 2014, 82 f.; Certos tamen esse nos conuenit, quod, licet omnem continentiae districtionem, famem scilicet ac sitem, uigilias quoque et operis iugitatem atque incessabile subeamus studium lectionis, perpetuam tamen castimoniae puritatem horum laborum me rito contingere nequeamus, nisi in his iugiter desudantes experientiae magisterio doceamur incorruptionem eius diuinae gratiae largitate concedi (338,19–25). 186 Ziegler 2012, 85; cumque in hunc statum mens nostra cotidianis exercitiis erudita profecerit, tunc uersiculi illius affectum experientia docente percipiet, quem omnes quidem solita psallendi modulatione concinimus, uirtutem uero eius non nisi pauci expertique per cipiunt (340,26–341,2).
5.4 Lernen durch Erfahrung
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Entwicklung des Inneren zielende, Unterweisung stattfinden kann.187 Während die Erziehung durch Übung zu einem relativen Fortschritt (proficere 340,27) führt, führt die Erfahrung zu einem wesentlich umfänglicheren Begreifen (per cipere 340,28). Das das Zitat abschließende Beispiel zeigt, wie sich die verschiedenen Stufen des Erkennens ganz praktisch äußern: Die, die durch Übung erzogen sind, wissen, wie das Psalmgebet reguliert zu beten ist – die wenigen jedoch, die durch die Erfahrung unterwiesen sind, können sogar zu einem tieferen Verständnis der Psalmverse vordringen (pauci … percipere 341,2). Während bislang die Erfahrung als Ergänzung, Voraussetzung, Bestätigung und Steigerung vieler anderer Wege zu Erkenntnis und Vollkommenheit dargestellt wurde, unterscheidet coll. 12,16 sie deutlich von diesen: „So gut wir konnten, haben wir es nicht mit Worten, sondern mit der Erfahrung als Lehrmeisterin erklärt.“188
Mit diesen Worten beendet Abbas Chaeremon seine Überlegungen zur Keuschheit (De castitate 333,4). Bemerkenswert ist, dass er damit eine längere Rede abschließt, die er durch das zitierte Fazit aus dem Rang bloßer Worte zu einer Unterweisung mit der Erfahrung als Lehrmeisterin erhebt. Unklar bleibt dabei, ob er sich durch diese Formulierung auf seinen eigenen Hintergrund (d. h., dass sich das vorgetragene Wissen aus der eigenen Erfahrung speist) oder auf das, was er bei seinen Hörern durch das Vorgetragene in Erinnerung zu rufen, anzustoßen und auszulösen hofft, bezieht. In jedem Fall ist hier eine klare Abstufung der verschiedenen Erkenntniswege, die der Erfahrung einen weit höheren Rang als der nur mündlichen Unterweisung einräumt, zu erkennen (s. auch 5.4.5). Bisher wurde die Erfahrung abstrakt als magisterio oder mit einem Partizip von magistrare / docere zur Lehrmeisterin. In coll. 19,7 jedoch wird sie durch Germanus vollständig personifiziert als magistra (541,23) bezeichnet: „Niemand dürfte ja bezweifeln, dass keiner darüber wahrheitsgetreuer und vollständiger sprechen kann als derjenige, der beide Arten der Vollkommenheit in langem Einsatz und mit der Erfahrung als Lehrmeisterin erreicht hat und den Wert und das Ziel beider in wahrheitsgetreuer Unterweisung weitergeben kann.“189
Dieses Zitat, das sich auf den Wert verschiedener monastischer Lebensformen (s. 5.2) bezieht, bringt Licht in die am Beispiel von coll. 12,16 aufgeworfene Frage: Hier spricht nicht der Altvater, sondern sein Adressat (auf Ebene der Geschichte) und dieser konkretisiert nun, was er von seinem lehrenden Gegenüber erwartet 187
Diese Beobachtung steht in unmittelbarer Nähe zu dem unter 3.1.2 zu einem modernen Bildungsbegriff Dargestellten. 188 Ziegler 2014, 103; haec de castitatis fine, quantum potuimus, non uerbis, sed expe rientia magistrante digessimus (359,13 f.). 189 Ziegler 2015, 90; nulli namque dubium est neminem de his uel fidelius posse uel ple nius disputare quam illum, qui utramque perfectionem longo usu ac magistra experientia consecutus meritum earum ac finem ueridica potest insinuare doctrina (541,20–24).
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bzw. an ihm schätzt: nämlich den Bericht, der sich aus langjährig erworbener Erfahrung, die allein zur ‚Wahrheit‘ führen kann, speist. Die aufgeführten Belegstellen, die die Erfahrung als Lehrmeisterin beschreiben, erheben diese so zu einer eigenständigen Größe. Sie steht als vermittelnde und letztendlich entscheidende Kategorie zwischen den Bemühungen des Schülers und denen des Lehrers. Eine erfolgreiche Kommunikation der beiden am Lehr-Lern-Prozess beteiligten Parteien ist nur dann möglich, wenn beide über die gemeinsame oder geteilte Erfahrung – gleichsam als eigenständige dritte am Prozess beteiligte Partei – ins Gespräch kommen. Die Erfahrung – nicht der menschliche Lehrer – ist es, die zu einem Wandel des (Selbst-)Bewusstseins des Schülers führt. Dem menschlichen Lehrer kommt lediglich die Aufgabe zu, den Schüler dazu anzuregen, die Wirksamkeit der eigentlichen Lehrmeisterin wahrzunehmen. Beschreibt man die Erfahrung neben Schüler und Lehrer als dritte, am LehrLern-Prozess beteiligte Partei, rückt sie in unmittelbare Nähe zum Göttlichen, dem Element, das gemeinhin in triangulären Prozessen religiöser Bildung neben menschlichen Akteuren als dritter Faktor angenommen wird (s. 5.3.1). Diese Feststellung betont, ähnlich wie die im Exkurs (5.4.1) untersuchte, moderne Formulierung „Erfahrung mit der Erfahrung“, dass die Reflexion eines Bildungsprozesses besonders dann für das hinter ihm stehende, ihn anstoßende und vollendende Göttliche durchscheinend wird, wenn die dem menschlichen Einfluss z. T. entzogene Erfahrung thematisiert wird. 5.4.4 Die Erfahrung als Legitimation von Altvater- und Bibelworten Mehrfach begegnet die Vorstellung, dass die Erfahrung (entweder die tägliche, die eigene oder die Erfahrung als abstrakter Faktor) etwas Anderes, das zuvor dargestellt wurde, bestätigt und damit dessen Wahrheitsgehalt legitimiert. Bei dem zuvor Dargestellten kann es sich dabei entweder um einen Aspekt in der Unterweisung des Altvaters handeln oder aber um ein Bibelwort. Beide entfalten ihre Bedeutung für das Leben des Einzelnen erst dann, wenn sie mit dessen praktischer Erfahrung und seinem Erleben der beschriebenen Situation in Einklang gebracht werden. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass weder das Wort des Altvaters noch das der Heiligen Schrift von Bedeutung für das monastische Leben sein kann, wenn es keine Anknüpfungspunkte in der Lebensrealität des Mönchs findet. Das nur kurz umrissene Phänomen klingt in den Worten Cassians exemplarisch folgendermaßen:
5.4 Lernen durch Erfahrung
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„Dass dies [sc. dass Traurigkeit und Akedia in der Einsamkeit besonders heftig angreifen] sehr wahr ist, wird äußerst leicht aus eigener Erfahrung bestätigen können, wer sich einmal in der Einsamkeit aufgehalten hat und die Kämpfe des Inneren Menschen kennt.“190
Mit dieser Aussage aus coll. 5,9 steht folgende aus coll. 7,8 – nicht nur über die Bezugnahme auf die Kämpfe des Inneren Menschen – in direkter Beziehung: „Gewiss, dass uns unablässig Feinde nachstellen, können diejenigen nicht leugnen, die Erfahrung mit den Kämpfen des Inneren Menschen haben“.191
Diese beiden Zitate belegen, wie wichtig die eigene praktische Erfahrung im geistigen Kampf ist, um die theoretische Unterweisung des Altvaters nachvollziehen und einordnen zu können. Eine Belehrung über die Angriffe der Laster und Dämonen bleibt wirkungslos, wenn ihre Adressaten die beschriebenen Probleme nicht zuvor am eigenen Leibe erfahren haben. Diese Kombination aus vorausgehender Erfahrung und nachfolgender Erklärung des Erlebten präfiguriert beispielhaft den in coll. 14 beschriebenen Zusammenhang zwischen πρακτική und θεωρητική (s. 6.2). Was bisher über das Zusammenspiel von gehörter Unterweisung und gemachter Erfahrung gesagt wurde, kann in coll. 10,11 auch auf das Verständnis von Psalmworten übertragen werden: „Die heiligen Schriften öffnen sich unserem Verstehen ja dann am deutlichsten …, wenn unsere Erfahrung und Erklärung durch die Psalmworte nicht nur übernimmt, sondern ihnen sogar zuvorkommt. … Dann durchdringen wir den Sinn der Worte nicht aufgrund des Wortlautes der Lesung, sondern aufgrund der vorausgegangenen Erfahrung.“192
Einerseits wird hier eine erfahrungsgenerierende Funktion der Psalmworte beschrieben: Sie bieten dem Betenden einen Vorstellungsraum und einen Wortschatz, um seine eigenen Erfahrungen zu verbalisieren und zu deuten. Diese Funktion wird andererseits bald für zweitrangig erklärt, denn noch stärker als die Deutung vom Schriftwort hin zur eigenen Erfahrung wird das umgekehrte Vorgehen betont: Wirkliches Verständnis für die Psalmworte stellt sich erst ein, wenn der Lesende / Betende erkennt, dass dort etwas beschrieben ist, das er so oder ähnlich bereits selbst erlebt hat.193 190 Ziegler 2011, 169; quod esse uerissimum, quisque fuerit in solitudine conmoratus et pugnas hominis interioris expertus, ipsis experimentis perfacile conprobabit (129,19–21). 191 Ziegler 2011, 220; Aduersarios quidem nobis iugiter insidiari, quicumque interioris hominis experti sunt pugnas, dubitare non possunt (189,23–25). 192 Ziegler 2011, 317 f.; tunc enim scripturae diuinae nobis clarius perpatescunt et quo dammodo earum uenae medullaeque panduntur, quando experientia nostra earum non tantum percipit, sed etiam praeuenit notionem, sensusque uerborum non per expositionem nobis, sed per documenta reserantur. … . ut eorum sensus non textu lectionis, sed experientia praecedente penetremus (304,23–305,4.305,21 f.). 193 Diese Wechselwirksamkeit der Erfahrung als Voraussetzung und Ziel der Psalmlektüre spricht auch Köpf 2018, 207 an.
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Schließlich gibt es noch eine dritte Unterkategorie, die Cassian ausschließlich Germanus in den Mund legt. Hier geht es um eine explizite Bestätigung des zuvor Gehörten, die Germanus (als Reflektorfigur für die Adressaten, s. 3.3) in der eigenen Erfahrung findet. So heißt es in coll. 19,13: „Schließlich erleben wir in der täglichen Erfahrung und in dem ununterbrochenen Hin und Her unserer Gedanken alles so, wie es gesagt wurde.“194
Noch etwas deutlicher lässt Cassian Germanus in coll. 24,7 formulieren: „Also nicht allein durch das Beispiel der Gottseligkeit, die auf die Nachahmung der Tugenden der Apostel gegründet ist, sondern auch durch das Zeugnis unserer Erfahrung wurde uns die Zweckmäßigkeit dieser Sache oft bestätigt.“195
Sowohl das vom Altvater gesprochene Wort (coll. 19,13) als auch das in der Heiligen Schrift enthaltene Beispiel der Apostel (coll. 24,7) ist erst dann für das Leben des Mönchs relevant, wenn es mit dessen tatsächlicher Erfahrung korreliert. Damit wird die Erfahrung zu dem Faktor monastischer Bildung, der über die Rezeption externer Zeugnisse entscheidet. Dieses Moment des Entscheidens bzw. Einordnens und Beurteilens lässt die Erfahrung in unmittelbare Nähe zur monastischen Grundtugend der discretio – der Unterscheidungsfähigkeit – (s. 5.1) rücken. 5.4.5 Erfahrung in Relation zu anderen Wegen der Erkenntnis Ein verhältnismäßig großer Anteil der Belegstellen, die experientia / experiri nutzen, bezieht sich auf den Zusammenhang dieses T hemenfeldes mit anderen Wegen der (Gottes-)Erkenntnis. Im vorherigen Kapitel (5.4.4) wurde bereits ein eng verwandtes T hema, die Bestätigung fremder Worte (des Altvaters oder der Bibel) durch die eigene Erfahrung, besprochen. Nun aber soll der Blick auf Kopf, Herz und Seele des Individuums gelenkt werden, in denen die Erfahrung mit anderen Modi des Erkennens und Vermittelns in Beziehung gesetzt wird. Coll. 9,26 korreliert die Erfahrung des Lehrenden mit seiner Fähigkeit, Dinge nachvollziehbar zu erklären: „Wer aber könnte, mag seine Erfahrung auch noch so groß sein, hinreichend die unterschiedlichen Gründe und Ursachen seiner Erschütterung erklären…“196
2015, 95; omnia siquidem cotidiana experientia ac diurnis cogitationum nostrarum motibus ita ut dicta sunt intuemur (547,7–9). 195 Ziegler 2015, 214; etenim non solum exemplo beatitudinis uestrae apostolicarum uirtutum imitatione fundatae, uerum etiam experientiae nostrae testimonio commoditas huius rei nobis saepe conperta est (681,5–7). 196 Ziegler 2011, 290; Quis uero possit diuersitates et causas ipsas atque origines conpunc tionum quantalibet experientia praeditus sufficienter exponere (273,6–8). 194 Ziegler
5.4 Lernen durch Erfahrung
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Anders als es die zuvor untersuchten Passagen vermuten lassen, ist hier die Erfahrung nicht das allein ausreichende Kriterium für eine gelingende Unterweisung. Es scheint ein Unterschied eröffnet zu werden, zwischen der Erfahrung als solcher und der Fähigkeit, sie zu erklären oder auch nur anderen nachvollziehbar mitzuteilen (zur Frage, weshalb die eigene Erfahrung für andere von Interesse ist, s. 5.3.2.3 und 5.4.2). Um die eigene Erfahrung für andere von Nutzen sein zu lassen, braucht es also über diese Erfahrung hinaus noch etwas, das als ‚didaktische Kompetenz‘ bezeichnet werden kann, als die Fähigkeit, das eigene Wissen (als Sammelbegriff für die aus den eigenen Erfahrungen gezogenen Erkenntnisse) zu vermitteln – Erfahrung allein macht also noch keinen guten Lehrer aus. Coll. 10,9 spricht gleich zweimal von der Rolle der Erfahrung im Zusammenhang mit anderen Erkenntnisprozessen: „[Niemand kann Einsicht und discretio gewinnen,] den nicht eine gewissenhafte und nachhaltige Tätigkeit des Geistes und eine hellwache Sorgfalt zur Erforschung der Tiefe dieser Fragen geführt hat und den die beständige Zielausrichtung eines streng geregelten Lebens durch Erfahrung dahin gebracht hat, die Schwelle dieser Reinheit zu betreten und an ihre Tür zu klopfen.“197
Hier rückt die Erfahrung gleichwertig neben zwei andere Wege der Erkenntnis: die Tätigkeit des Geistes (efficax mentis) und die Sorgfalt / den Eifer bei der Erforschung monastischer Fragen (industria ac sollicitudo). Die Erfahrung selbst wird zudem als Konsequenz eines strikt regulierten monastischen Lebens (casti gata uita) gekennzeichnet. Dabei kommt der Erfahrung eine eher vorbereitende Funktion, die die Disziplin mit sich bringt und die das Denken ermöglicht, zu. Dies wird auch im zweiten Zitat aus coll. 10,9 deutlich: „…sondern sozusagen mit den Händen der Erfahrung schon die innere verborgene Kammer des Gebets betastet und einige Teile schon mehr und mehr begreift.“198
Hier wird die Erfahrung verkörperlicht (zu ihrer Personifikation s. 5.4.3). Ganz praktisch können mit ihrer Hilfe Vorgänge des Inneren betastet (palpare), d. h. erfühlt und so ganzheitlich erfasst werden (contingere).199 Die Rede von den Händen, die im Inneren des Menschen wirken, lässt stark an coll. 6,10, die Rede von der linken und der rechten Hand des Inneren Menschen (s. 4.1.2) denken. Im Übertrag bedeutet dies, dass die Erfahrung den Inneren Menschen formt, 197 Ziegler 2011, 309 f.; nec enim de his saltim interrogare, non dicam introspicere atque discernere quispiam praeualebit, nisi quem diligens et efficax mentis industria ac sollicitudo peruigil ad perscrutandam istarum profunditatem prouexerit quaestionum castigataeque uitae iugis intentio per experientiam fecerit actualem adtemptare puritatis huius limina ianuasque pulsare (269,10–16). 198 Ziegler 2011, 310; sed ipsis quodammodo experientiae manibus penetralia eius et inte riora palpare et quaedam membra iam iamque contingere (296,18–20). 199 Palpare als gegenüber contingere ganzheitlicheren Begriff des „Begreifens“ postuliert auch Köpf 2018, 207.
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
der dann wiederum in der Lage ist, sein Innerstes, das Göttliche, langsam zu erspüren. Eine Beiordnung der Erfahrung neben zahlreiche andere Erkenntniswege – ähnlich wie im ersten Zitat aus coll. 10,9 – beschreibt auch coll. 12,8: „Niemand kann dies für sich übernehmen oder beglaubigen, …, der nicht durch lange Erfahrung und Reinheit des Herzens und unter Führung des Wortes des Herrn bis zur Schnittstelle von Fleisch und Geist hindurchgelangt ist.“200
Hier steht die Erfahrung gleichwertig neben der Herzensreinheit als erstem Ziel auf dem monastischen Weg (s. 6.1.1) und dem Wort Gottes. Nur diese drei gemeinsam können den Mönch zur Schnittstelle von Fleisch und Geist, also in die Tiefen der (Selbst-)Erkenntnis seines Inneren Menschen führen (s. 4.1). Zwei weitere Aspekte werden der Erfahrung auch in coll. 13,6 beigeordnet. Diesmal steht allerdings nicht der geistige Aufstieg mit Hilfe der Erfahrung im Fokus, sondern die Bestätigung zuvor präsentierter Inhalte (s. 5.4.4): „Um dies nicht nur mit der bewährten [Methode der Erfahrung] zu belegen, sondern auch durch überzeugende Beweise und Argumente…“201
Während die Bestätigung durch die Erfahrung als „bewährte“ (probata) monastische Methode gekennzeichnet wird, treten neu „Beweise und Argumente“ (indicia et argumenta) hinzu. Diese Zusammenstellung bringt Traditionen des Mönchtums, von dem Cassian berichtet, und Methoden traditioneller Bildungsvorgänge, die seinen Adressaten vertraut sein dürften, miteinander ins Gespräch. Durch non solum … sed etiam werden beide Wege, Erkenntnis zu generieren, nebeneinandergestellt, ohne die eine oder die andere Variante zu bevorzugen. Neben der selbstgetätigten oder der von anderen übernommenen Erfahrung begegnet in coll. 13,18 erstmals der Glaube (fides) als weiterer entscheidender Faktor, um nicht nur sich selbst, sondern auch Gott zu erkennen: Daher ist es durch unzweifelhaften Glauben und – um es einmal so zu sagen – durch handfeste Erfahrung erwiesen, dass Gott, der Herrscher über das All, wie der gütigste Vater und mildeste Arzt ohne Unterschied alles in allem wirkt…“202
Glaube und Erfahrung stehen hier als zwei Wege der Gotteserkenntnis nebeneinander, ohne ausdrücklich miteinander in Beziehung gesetzt zu werden: Weder ist der eine dem anderen übergeordnet noch sind sie als frei wählbare Alter200 Ziegler 2014, 91; Sed haec suscipere uel probare et utrum possibilia an inpossibilia sint certo examine definire poterit nemo, nisi per experientiam longam et puritatem cordis ad confinia carnis ac spiritus uerbo domini dirigente peruenerit (347,10–13). 201 Ziegler 2014, 110; et ut haec eadem non solum probata nobis experientiae disciplina, sed etiam certis indiciis et argumentis manifestiora reddamus (367,25–27). 202 Ziegler 2014, 133; et idcirco fide non dubia et ut ita dicam palpabili experientia con probatur uniuersitatis deum uelut piissimum patrem benignissimumque medicum secundum apostolum indifferenter omnia in omnibus operari et nunc quidem salutis inspirare principia et inserere unicuique bonae uoluntatis ardorem (394,19–395,1).
5.4 Lernen durch Erfahrung
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nativen gekennzeichnet. Vielmehr scheint es selbstverständlich, dass beide erforderlich sind, um Gott in all seiner Herrlichkeit zu erkennen. Durch palpabilis kommt der Erfahrung in dieser Zusammenstellung eine greifbare, in der Hand des Menschen liegende, Funktion zu. Wirken Glaube und Erfahrung zusammen, kann aus diesen beiden gemeinsam der Beweis gezogen werden (conprobare), dass Gott allmächtig in allem wirkt. Coll. 18,3 nimmt noch einmal den Zusammenhang von Erfahrung aus Handeln sowie aus Wissen in den Blick: „Denn für diejenigen, die in allem gut und einfach denken und alles, was sie von den Vätern überliefert oder ausgeführt sehen, lieber tun als darüber reden wollen, folgt in allen Dingen auf die Erfahrung im Tun das Wissen.“203
Hier wird klar hierarchisiert, wie mit dem von den Altvätern überlieferten Wissen umzugehen ist: Nachahmung ist deutlich einer Diskussion des Gehörten übergeordnet (imitari magis quam discutere), da aus dem Handeln Erfahrung und damit Wissen (scientia) resultiert. Mit dem Begriff scientia wird hier auf das höchste Ziel monastischer Vollkommenheit, die scientia spiritalis, die in coll. 14 ausführlich thematisiert ist (s. 6.2), angespielt. Dabei verdeutlicht dieses Zitat, in welch umfänglichem Sinne scientia generiert werden kann: Sie ist weit mehr als das Resultat einer bloßen intellektuellen Auseinandersetzung, nämlich das Resultat ganzheitlicher – d. h. körperlicher und geistiger – Nachahmung der Erfahrung der Altväter. Ähnlich, aber noch kritischer, argumentiert coll. 21,32: „Was immer nämlich nicht durch [abstrakte] Belehrung, sondern durch Erfahrung erkannt wird, das kann, so wenig es von Unerfahrenen vermittelt werden kann, auch nicht mit dem Geist aufgenommen oder behalten werden von jemandem, der nicht in gleichem Eifer und gleicher Unterweisung sein Fundament hat.“204
Hier, im letzten Teilband der Collationes, rekurriert Cassian noch einmal auf die Erfahrung als den gemeinsamen Grund und die Voraussetzung einer gelingenden Lehr-Lern-Situation. Unterweisung kann weder erfolgen noch angenommen werden, wenn nicht Lehrer wie Schüler den Geist durch vergleichbare Erfahrungen geschult und vorbereitet haben. Die experientia steht hier im Gegensatz zur doctrina. Letztere muss ohne erstere wirkungslos bleiben, da sie – bildhaft gesprochen – nicht auf fruchtbaren Boden fällt bzw. gar nicht erst ausgesät werden kann, wenn nicht durch die Erfahrung vermittelt gelehrt wird. 203 Ziegler 2015, 61; quia eos, qui bene de cunctis ac simpliciter sentiunt et uniuersa quae a senioribus tradi geriue perspexerint fideliter imitari magis quam discutere student, per operis experientiam etiam scientia rerum omnium subsequetur (508,17–21). 204 Ziegler 2015, 147; quaecumque enim non per doctrinam, sed per experientiam cognos cuntur, sicut tradi ab inexperto nequeunt, ita nec mente concipi uel teneri ab eo qui non simili studio fuerit atque institutione fundatus (607,3–6).
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
Ähnliches hebt coll. 23,21 hervor: „Damit wir dies also einsehen und fruchtbar bewahren können, lasst uns umso inniger die Barmherzigkeit des Herrn erflehen, uns zu unterstützen, dies zu vollbringen, was keineswegs wie andere menschliche Fertigkeiten durch vorheriges Verstehen von Worten, sondern vielmehr durch vorausgehendes Tun und vorherige Erfahrung erlernt wird. Andererseits: Was nicht in Unterredungen mit geistgeführten Männern immer wieder überprüft, ausgefeilt und durch Beweise und tägliche Erfahrung möglichst sorgfältig geworfelt wird, verkommt entweder durch Mangel an Pflege oder geht zugrunde in Müßiggang und Vergessen.“205
Dieses Zitat benennt die Rolle der Erfahrung für das Mönchtum als den Faktor, der es deutlich von allen übrigen, weltlichen artes unterscheidet. Alle übrigen Künste sind durch ein reines Wortverständnis (ratio uerborum) zu erwerben, das Mönchtum kann nicht erlernt (discere) werden, ohne dass zuvor durch eine entsprechende Lebensform bestimmte Erfahrungswerte gewonnen werden. Während also alle übrigen Künste und Wissenschaften allein über den Verstand erlangt werden können, braucht es für ein umfassendes Verständnis des Mönchtums den ganzen Menschen, der Körper und Geist – kurzum: sein gesamtes Leben – in den Dienst der erstrebten ars monastica stellt. 5.4.6 Die Bedeutung der Erfahrung für die monastische Bildung Das Konzept des Lehrens und Lernens aus Erfahrung – oder auch des Lernens mit dem Ziel, an Erfahrung zu gewinnen – prägt sowohl die Form als auch den Inhalt der Collationes, es ist sowohl für Cassians Bildungshandeln als auch für sein Bildungsverständnis entscheidend. Die Erfahrung steht als Grundkonzept traditioneller monastischer Bildung hinter den übrigen unter 5. dargestellten Bildungsvorgängen und -konstellationen: Verschiedene Lebensformen (5.2) und Begegnung mit (lehrenden) Altvätern (5.3) dienen, wie gezeigt, primär der ganzheitlichen – Leben und Wort umfassenden – Erfahrung. Im Folgenden wird sich zeigen, dass weder ein vertieftes Verständnis der Heiligen Schrift (5.5) noch ein inbrünstiges Gebet (5.6) möglich sind, ohne auf eine reiche, im praktischen monastischen Leben gewonnene Erfahrung zurückzugreifen. Gleichzeitig evozieren Schriftstudium und Gebet weitere Erfahrung, die wiederum zu einer neuen Innigkeit in Schriftstudium und Gebet befähigt. Die Erfahrung erscheint damit als das Moment, das die verschiedenen Stufen des monastischen Lebens – Handeln, Denken und Glauben, 205 Ziegler 2015, 206; quapropter ut haec intellegere et fructuose tenere possimus, miseri cordiam domini, ut nos ad perficienda haec adiuuet, adtentius inploremus, quae nequaquam ita ut ceterae humanae artes praecedente quadam ratione uerborum, sed actu potius et ex perientia praeeunte discuntur, quaeque rursum nisi tam conlationibus spiritalium uirorum frequenter examinata fuerint et polita quam documentis et cotidiana experientia sollicite uentilata, aut obsolescunt incuria aut otiosa obliuione depereunt (671,6–14).
5.4 Lernen durch Erfahrung
219
πρακτική und θεωρητική – erst in Beziehung zueinander bringt. Die Erfahrung ist auch das, was das Handeln des Mönches in der uita actualis von einem etwaigen Vorwurf semi-pelagianischer Werkgerechtigkeit befreit: Nicht die Taten an sich sind von Bedeutung, sondern die Erfahrung, die aus ihnen resultiert. Diese ist notwendig, um weiter fortzuschreiten: Wiederholt wird betont, dass ohne experientia keine scientia und keine doctrina erreicht bzw. erfasst werden können. Dabei steht die Erfahrung nie für sich allein: Sie interagiert mit anderen Aspekten des Lernens, Vermittelns und Verstehens. Sie bestätigt das, was andere Quellen – sei es ein Altvater oder die Heilige Schrift – durch das bloße Wort vermitteln. Sie steht – teils unverbunden, teils unterstützend oder voraussetzend – neben anderen Modi der Aneignung. Die Erfahrung wirkt im Innersten des Menschen und bereitet dieses auf erweiterte und vertiefte Erfahrungen – bis zur reinen Schau Gottes (s. 6.1.2) – vor. Die Inanspruchnahme eines modernen Erfahrungsbegriffs trägt dazu bei, den Sachverhalt auf den Punkt zu bringen, dass Erfahrung (und damit monastische Bildung) ein individuelles Geschehen ist: Sie kann nur bedingt intendiert oder gesteuert werden, da von außen (etwa durch den schreibenden Lehrer Cassian) nur ein Impuls gesetzt werden kann, der dann in der subjektiven Reflexion durch den Schüler / Adressaten zu dessen ganz eigener Erfahrung wird. Diese ist durch Vorwissen und Vorannahmen – religiös gesprochen: durch den bereits vorhandenen Glauben – beeinflusst. So treten die Komponenten ‚Individualität‘ und ‚Religiosität‘ innerhalb einer bestimmten Bildungsvorstellung in direkten Zusammenhang, indem eben die religiöse Perspektive des Lernenden zu einer individuellen Reflexion eines Ereignisses führt. Erfahrung kann, obwohl sie individuell ist, nicht allein gemacht werden. Auf Aristoteles verweisend stellt Cassian heraus, dass die Wahrnehmung des Einzelnen noch keine Erfahrung ausmacht, erst die Synchronisierung der eigenen mit der fremden Erfahrung lässt die dahinter verborgene (göttliche) Wahrheit durchscheinen. Um aus dem subjektiv Erlebten eine spirituell bedeutsame Erfahrung werden zu lassen, braucht es also den Austausch mit anderen, mit Erfahreneren. Jedoch sind nicht nur menschliche Akteure an dieser Herausbildung einer kollektiven Erfahrung aus dem Einzelerlebnis beteiligt, notwendig ist auch der göttliche Beistand, der – bspw. durch die Worte des Psalters – erst den Interpretationsraum für die menschlichen Erfahrungen eröffnet. Aus dieser Konstellation (Lehrer – Schüler – Erfahrung – Gott) ergibt sich die von Cassian geprägte Formulierung der Erfahrung als der eigentlichen Lehrmeisterin. Diese bündelt das zuvor Umschriebene prägnant: In jedem zwischenmenschlichen Lehrsetting gibt es eine weitere göttliche – und damit dem menschlichen Einfluss entzogene – Komponente, die aber letztendlich für den Gewinn, der aus der Lehrsituation gezogen wird, entscheidend ist: die Erfahrung, die die übrigen drei an der Unterweisung beteiligten Parteien verbindet und miteinander ins Gespräch und den einzelnen Mönch so näher zu Gott bringt.
220
5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
5.5 Schriftauslegung und Schriftgebrauch Schriftauslegung und Schriftgebrauch sind zentrale T hemen der Collationes. Eine der populärsten bzw. am stärksten rezipierten Passagen der Collationes beschäftigt sich mit dem vierfachen Schriftsinn (coll. 14,8).206 Dieses Lehrstück wird durch die vereinfachte Darstellung eines zweifachen Schriftsinnes (coll. 8,3) vorbereitet. Aber auch abseits dieser beiden, sich in theoretischer Perspektive mit der Schriftauslegung beschäftigenden Kapitel, ist die Bibel stets präsent und wird in vielfältiger Weise thematisiert und genutzt. Die Schrift ist – wie sich in der restlichen Arbeit zeigt – in fast allen Collationes Argumentationsgrundlage und Illustrationsquelle. Nachfolgend werden unter 5.5.1 und 5.5.2 verschiedene Traditionen von Schriftauslegung und Schriftgebrauch dargestellt, von denen Cassian implizit Gebrauch macht oder auf die er sich explizit beruft. 5.5.2.1 und 5.5.2.2 untersuchen schließlich, wie Cassian einen zwei- bzw. vierfachen Schriftsinn begründet. Unter 5.5.3 wird anhand von Beispielen, die andernorts in der vorliegenden Studie inhaltlich ausgewertet wurden bzw. werden, untersucht, welche weiteren Arten des Schriftgebrauchs – über die konkreten Schriftsinne hinausgehend – Cassian kennt und nutzt. Dabei wird sich zeigen, dass Schriftmeditation und Schriftstudium – zwei Begriffe die gewissermaßen die Extreme der verschiedenen Traditionen, auf die Cassian rekurriert, bezeichnen (s. u.) – zentrale Elemente auf dem unter 6. zu rekonstruierenden Weg monastischen Fortschritts und Aufstiegs sind.207 Damit besitzt die Schrift – gemeinsam mit der experientia (s. 5.4) und dem Gebet (s. 5.6) – eine Schlüsselfunktion, wenn nach Methoden und Techniken monastischer Bildung gefragt wird. Bevor im Folgenden die Gestalt und die Hintergründe von Cassians T heorie der Schriftauslegung und sein vielgestaltiger Schriftgebrauch näher untersucht werden, ist zunächst zu klären, was im Blick auf die Collationes eigentlich ‚die Bibel‘ ist. C. Stewart stellt überzeugend dar, dass und weshalb diese Frage nicht ohne weiteres zu beantworten ist.208 Er geht davon aus, dass Cassian im Rahmen seiner eigenen monastischen Ausbildung die Bibel in griechischer Sprache kennengelernt hat. Fünfmal zitiert Cassian den Text der Septuaginta und dreimal den Text des griechischen Neuen Testaments im Original, immer dann, wenn ihm der Sachverhalt zu komplex für eine lateinische Übersetzung scheint.209 Ein Großteil der lateinischen Bibelzitate innerhalb der Collationes lässt erkennen, 206 Bis in die Reformationszeit war dies – stets unter Berufung auf Cassian – die meistpraktizierte Methode der Schriftauslegung, einen Höhepunkt erlebte sie in der Hochscholastik (vgl. H.-J. Horn 2005, 50). 207 Hier deutet sich bereits an, dass die Frage nach dem richtigen Umgang mit der Heiligen Schrift (im Mönchtum) häufig ein Anlass war, Fragen von Bildungsidealen oder auch Bildungsskepsis zu diskutieren (vgl. Gemeinhardt 2019c, 278–280, s. auch 5.5.1). 208 Vgl. Stewart 1995, 15 f. 209 Vgl. Stewart 1995, 15.27 f. (Anm. 85).
5.5 Schriftauslegung und Schriftgebrauch
221
dass Cassian hier selbstständig, in großer Nähe zum griechischen Text, übersetzt hat.210 Parallelen zu Hieronymus’ Vulgata sind selten.211 Es ist anzunehmen, dass Cassian, wenn er sich auf eine vorliegende lateinische Version beruft, meist Texttraditionen der Vetus Latina im Sinn hat.212 Betrachtet man Cassians Umgang mit biblischen Quellen näher, stellt sich heraus, dass es von der Art des Textes abhängt, ob er sich auf griechische oder lateinische Vorlagen beruft. So lässt sich z. B. beobachten, dass Psalmen zumeist aus einer feststehenden lateinischen Fassung zitiert werden, während Bezüge auf die Proverbien oder Kohelet eher aus einem memorierten griechischen Text zu stammen scheinen. C. Stewart begründet dies so, dass Cassian im Rahmen seines klösterlichen Lebens in Marseille tagtäglich mit Hilfe eines vorliegenden lateinischen Psalters gebetet haben wird, während die weisheitlichen Texte ihm seit frühester monastischer Jugend im Rahmen einer stillen – griechischen – Meditation vertraut waren.213 Cassian selbst lässt Abbas Joseph in coll. 17,6 die Frage beantworten, was ‚die‘ Schrift ausmache: „Man darf nämlich keineswegs diejenigen Zeugnisse der … Schriften verwerfen oder aus dem [Corpus] tilgen, durch welche die Verdrehtheit der Irrlehrer ermuntert, der Unglaube der Juden verstärkt oder der Schwulst heidnischer Weisheit gekränkt wird. Vielmehr sollen sie ehrfürchtig geglaubt, unerschütterlich eingehalten und entsprechend dem Richtscheit [der Regel] der Wahrheit verkündet werden.“214
Hier wird – trotz verschiedener Möglichkeiten des Missverständnisses und des Missbrauchs – auf einem feststehenden Kanon, der in seiner gesamten Vielfalt zu wahren und zu verkündigen ist, beharrt.215 Als Maßstab, nach dem die ver210 Im Apparat der Edition von M. Petschenig / G. Kreuz (CSEL 13) wird mehr als einhundertmal auf dieses Phänomen verwiesen. C. Stewart sieht in diesen Hinweisen nur einen Bruchteil aller möglichen zu erkennenden Zitate und Anspielungen, die auf eine selbstständige Übersetzung Cassians während der Abfassung der Collationes schließen lassen (vgl. Stewart 2015, 28 [Anm. 86]). 211 Eine abweichende Meinung vertritt Kannengiesser 2006, 1272: „Cassian quotes Scripture … in Jerome’s version, but sometimes also in older ones; occasionally he refers to the Greek text.“ Allerdings weist Kannengiessers Darstellung von Cassians Werk einige Schwächen, wie eine falsche Inhaltsangabe von coll. 8,3 f. (1274) oder die Unsicherheit bei der chronologischen Anordnung der Teilbände (1272), auf, sodass m. E. in dieser Frage eher der Darstellung C. Stewarts zu folgen ist. 212 Vgl. Stewart 1995, 15. 213 Vgl. Stewart 1995, 16. 214 Ziegler 2014, 206; neque enim abicienda sunt testimonia scripturarum ac de suo cor pore penitus abradenda, quibus uel haereticorum prauitas animatur uel Iudaeorum infideli tas obduratur uel tumor sapientiae gentilis offenditur, sed utique et pie credenda et inmobili ter sunt tenenda et secundum ueritatis regulam praedicanda (475,1–5). 215 Dieses Pochen auf Einheit erinnert stark an Origenes, der in philosophischer Tradition stehend das Eine und Wahre hinter den biblischen Texten sucht und diese so gegen vereinnahmende Versuche dualistischer, meist gnostischer, Strömungen abzugrenzen versucht (vgl. Fürst 2016, 104 f.). Exemplarisch wird dies deutlich in Origenes, Jo. 10,18,107 (SC 157, 446 Blanc): Ὡς ἑνὶ δὲ σώματι τῇ ἁπάσῃ προσελθετέον γραφῇ, καὶ τὰς ἐν τῇ ἁρμονίᾳ
222
5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
schiedenen Texte der Heiligen Schrift dabei zu verstehen und zu behandeln sind, wird eine ueritatis regula genannt, aber für den Moment nicht näher bestimmt. Die Anordnung des Kanons wird dabei auf die οἰκονομία (475,6) Gottes zurückgeführt. 5.5.1 Schriftgebrauch in der Tradition des östlichen Mönchtums – Grundlagen und Cassians Rezeption D. Burton-Christie spricht im Blick auf den Umgang mit der Heiligen Schrift im frühen östlichen Mönchtum von einem „clash of cultures“216. Er beschreibt Konfliktpotentiale zwischen griechisch und koptisch sprechenden Mönchen, zwischen solchen, die zumindest Grundzüge traditioneller Bildung kennen und wertschätzen, und solchen, denen jegliche Literalität fremd ist und verachtenswert scheint. Soll dieser Zusammenstoß zwischen höchst unterschiedlichen, kulturell und bildungsbiografisch bedingten, Herangehensweisen an einen autoritativen Text mit seinen produktiven Konsequenzen im Folgenden nachvollzogen werden, ist dabei stets zu bedenken, dass anhand der vorliegenden Texte, d. h. in diesem Fall vorrangig den Apophthegmata Patrum, aber auch Lebensbeschreibungen wie der Vita Antonii, lediglich auf einen rückblickenden Diskurs, der jedoch in normativer Absicht vorgenommen wird, geschaut werden kann. Dieser zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass er – anders als die Ereignisse, auf die er Bezug nimmt – von vornherein schriftlich, nicht mündlich, und mit einem großen Interesse an der Stilisierung eines Ideals von weltabgewandter Unbildung geführt wurde (s. auch 3.1.1).217 Dies berücksichtigend ist davon auszugehen, dass das Bildungsniveau und damit die Kenntnis textverarbeitender und -auslegender Techniken im östlichen Mönchtum vielfach wenigstens punktuell höher war, als es die idealisierende Darstellung der Quellen glauben machen möchte. Vor diesem Hintergrund scheint es umso überraschender – jedoch nicht länger als Zufall, sondern eher als bewusste Abgrenzung –, dass bekannte, schulmäßige Methoden des Umgangs mit Texten zugunsten einer Reihe alternativer Praktiken abgelehnt wurden.218 Die bereits angedeutete Grundunterscheidung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit ist dabei zentral, um den monastischen Schriftgebrauch von dem der τῆς πάσης συνθέσεως αὐτῆς εὐτονωτάτας καὶ στερροτάτας συνοχὰς οὐ συντριπτέον οὐδὲ διακοπτέον, ὅπερ πεποιήκασιν οἱ τὴν ἑνότητα τοῦ ἐν πάσαις ταῖς γραφαῖς πνεύματος τὸ ὅσον ἐπ’ αὐτοῖς συντρίβοντες. 216 Burton-Christie 1997, 422. 217 Vgl. Gemeinhardt 2019c, 249 f. Auch D. Burton-Christie arbeitet mit Hilfe der Darstellung von Rubenson 1990 heraus, dass das Bildungsmilieu, in dem die nachfolgend betrachteten Texte entstanden, um ein Vielfaches höher war als das, was sie – vorgeblich unvoreingenommen – abbilden (vgl. Burton-Christie 1997, 422). 218 Vgl. Burton Christi 1997, 415 f.
5.5 Schriftauslegung und Schriftgebrauch
223
„classical ‚schools’ of interpretation“219, namentlich Alexandria und Antiochien, zu unterscheiden.220 Zwar gibt es auch im frühen Mönchtum Umgang mit einem schriftlichen Bibeltext, dieser wurde aber anders wertgeschätzt und genutzt, als es andernorts gemäß dem Vorbild der Beschäftigung mit traditioneller Literatur zu beobachten ist. An die Stelle des schriftlichen Wortes trat eine enorme Hochschätzung und Bedeutsamkeit des gesprochenen und gehörten Wortes. Der Besitz von Bibelhandschriften durch Klöster oder einzelne Mönche ist zwar belegt, wird aber in der Regel kritisch beurteilt.221 Zum einen drohte ein jeglicher Besitz vom Wesentlichen abzulenken und innerhalb der monastischen Gemeinschaft schnell Neid und Zwietracht hervorzurufen.222 Zum anderen stand das selbstständige Bibelstudium im Ruf, schnell zu Hochmut und einer damit verbundenen Abkehr von der demütigen Unterordnung unter die Worte eines Altvaters (s. u.) zu verführen.223 Vielleicht wird deswegen kaum von einer intellektuellen oder gar kritischen Auseinandersetzung mit der Bibel berichtet.224 Ist ein biblischer Kodex vorhanden, wird ihm häufig ein „talismanic effect“225 zugeschrieben, der weit über eine Lektüre und Aneignung hinausgeht. Auch die ‚Lese‘-Technik, die sich im Mönchtum ausbildet, unterscheidet sich stark von allem bis dahin Bekannten: Es geht nicht darum, durch die Lektüre verschiedener Texte neues Wissen zu erwerben bzw. das vorhandene Wissen mit neuen Inhalten zu verknüpfen. Vielmehr gehen Lesen und Memorieren Hand in Hand, Bekanntes wird immer wieder gelesen (bzw. gehört) und so intensiviert und vertieft.226 Damit entwickelten die biblischen Texte für die ersten Mönche eine Bedeutung, die den Alltag umfassend prägte und durchdrang: Nicht nur in Gebet und Gottesdienst waren sie präsent, sondern sie lieferten – durch die beständige Wiederholung zunehmend Sprache und Gedanken prägend – Deutungsmuster und Begriffe, um das eigene Leben und das der Mitbrüder zu verstehen und zu beschreiben.227 219
Burton-Christie 1997, 415. Vgl. Burton-Christie 1997, 415 f. 221 Vgl. Gemeinhardt 2021c, 710 f. mit zahlreichen Beispielen. 222 Dies beschreibt auch Cassian exemplarisch in coll. 1,6: „Es gibt ja durchaus einige, die verwahren ein Buch mit so großem Eifer, dass sie es nicht im Geringsten zulassen, dass es von jemandem gelesen oder berührt wird; so laufen sie in Gelegenheiten für Ungeduld und Sterben hinein.“ (Ziegler 2011, 62; nam et plerumque nonnulli tanto zelo codicem seru ant, ut eum ne leuiter quidem legi uel contingi ab aliquo sinant, et inde occasiones inpatien tiae ac mortis incurrunt [12,14–16]). 223 Vgl. Burton-Christie 1997, 242. 224 Vgl. Perrone 2008, 401. 225 Burton-Christie 1997, 419. 226 Vgl. Stroumsa 2008, 69 f. G. Stroumsa beschreibt dies als ein „praying through the scriptures“ (Stroumsa 2008, 69). 227 Vgl. Perrone 2008, 401.404 f. Cassian führt diesen Gedanken in coll. 10,11 (s. 5.4.3) aus. 220
224
5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
All den hier nur andeutungsweise skizzierten Verwendungsmöglichkeiten der Bibel über eine literarische, d. h. strikt methodengeleitete und damit nahezu ‚wissenschaftliche‘ Schriftauslegung hinaus ist eines gemeinsam: Da sie allein auf mündlicher Tradition fußen (können), setzten sie keine schulmäßige literarische Vorbildung voraus und waren so von Mönchen verschiedenster Herkunft gleichermaßen umsetzbar, wodurch den neuen Techniken des Schriftgebrauchs nicht nur Konfliktpotential eignete, sondern auch ein integratives Moment.228 Diese Feststellung führt zurück an den Anfang dieses Gedankenganges, zu dem an Fragen der Schriftauslegung aufbrechenden „clash of cultures“. Diesen hat es fraglos gegeben – wie nicht nur die origenistischen Streitigkeiten als einer der Höhepunkte des Zusammenstoßes verschiedener monastischer Idealvorstellungen belegen (s. 2.2.2) –, aber seine Folgen waren nicht nur negativ: Es entwickelt sich aus der Kombination und Integration verschiedener Ideale – der Bildung, der Un- bzw. Anders-Bildung229 und ihrer jeweiligen Stilisierung – eine gänzlich neue Form des Umgangs mit dem (heiligen) Text. Was hier in groben Zügen für das Mönchtum im Allgemeinen nachgezeichnet wurde, lässt sich bereits auf einer zweiten, höheren Stufe im Besonderen in den Collationes beobachten: Auch hier werden Praktiken und Ideale kombiniert und so miteinander verschränkt, sodass ein neuer Blickwinkel auf das eigentliche Zentrum des Interesses, die Heilige Schrift, entsteht. Wurden bis hierher vor allem die verschiedenen Möglichkeiten, die Bibel im frühsten monastischen Alltag zu ‚gebrauchen‘, betrachtet, ist nun nach der Autorität, die der Schrift – über ihren omnipräsenten Gebrauch hinaus – beigemessen wurde, zu fragen. Grundlegende Beobachtungen zu diesem T hema formuliert H. Dörries 1947.230 Er hebt dabei besonders auf die Spannung ab, die zwischen der jeweiligen Autorität des Altvaterwortes und des Schriftwortes auf den ersten Blick entsteht. Zwar ist die Bibel die unhintergehbare Grundlage einer jeden monastischen Existenz,231 verständlich und umsetzbar wird sie allerdings erst durch 228
Vgl. Perrone 2008, 404 f. 2021a, 191 macht deutlich, dass es sich bei den beschriebenen Prozessen keinesfalls um ‚keine‘ Bildung handelt, sondern lediglich um eine explizit ‚andere‘ Bildung. 230 T hLZ 72 (1947), 215–222, hier zitiert nach Dörries 1966, 251–276. Trotz der grundlegenden Bedeutung dieses Aufsatzes ist bei seiner Rezeption darauf hinzuweisen, dass H. Dörries den Apophthegmata Patrum eine historische Verlässlichkeit zugeschrieben hat, die aus Perspektive der heutigen Forschung kaum aufrecht zu erhalten ist (vgl. Rubenson 1990, 156). Dies berührt jedoch die Wirkungsgeschichte der Apophthegmata Patrum, z. B. im Blick auf Cassian, nicht. Wie Dörries’ Interpretation der Apophthegmata Patrum u.a. durch die Umstände seiner Zeit beeinflusst wurde, zeigt Dornbusch [2021]. 231 Exemplarisch wird dies in AP/G 3 Antonius 3 (12) (PG 65, 76) deutlich: Ἠρώτησέ τις τὸν ἀββᾶν Ἀντώνιον, λέγων· Τί φυλάξας τῷ Θεῷ εὐαρεστήσω; καὶ ἀποκριθεὶς ὁ γέρων εἶπεν· ἃ ἐντέλλομαί σοι φύλαξον· ὅπου δὲ ἂν ἀπέρχῃ, τὸν Θεὸν ἔχε πρὸ ὀφθαλμῶν σου πάντοτε· καὶ ὅπερ ἂν πράττεις, ἔχε ἐκ τῶν ἁγίων Γραφῶν τὴν μαρτυρίαν· καὶ ἐν οἵῳ δ’ ἂν καθέζῃ τόπῳ, μὴ ταχέως κινοῦ. Τὰ τρία ταῦτα φύλαξον, καὶ σώζῃ (Hervorhebung DS). 229 Gemeinhardt
5.5 Schriftauslegung und Schriftgebrauch
225
das erläuternde Logion eines Altvaters oder indem sie in Gestalt eines solchen Logions erscheint.232 Zentral für diese Auslegung durch die Altväter ist dabei, dass ein jedes Bibelwort konkret auf die Anwendbarkeit auf die eigene Lebens praxis bezogen wird, ein allgemeines ‚historisch-kritisches‘ oder philologisches Interesse ist ihnen fremd.233 Es lässt sich teils beobachten, dass Weisungen der Altväter erst sekundär und häufig lediglich durch fantasievolle Stichwortverbindungen biblisch legitimiert werden.234 Jedoch ist auch das Gegenteil feststellbar, dass das Bibelwort allein zur Ausdrucksform des Altvaters wird und er dieses statt eines selbstformulierten Logions in die konkrete Situation hinein spricht.235 All diesen Arten der altväterlichen Schriftauslegung ist eines gemeinsam: Sie sind durch Spontaneität, Geistbegabung und Mündlichkeit gekennzeichnet, „[m]an kann Logien nicht auf Vorrat machen, auch nicht mit Hilfe der Schrift. … Es wäre also ein Mißbrauch der Schrift, wollte man ihr ohne besondere Vollmacht Logien entnehmen.“236
Die Bibel gewinnt ihre eigentliche Autorität erst im Moment des Sprechens in eine bestimmte Situation hinein. Das hat zur Folge, dass vor unüberlegtem oder unautorisiertem Schriftgebrauch gewarnt wird, ein zu selbstbewusster Umgang mit der Heiligen Schrift stellt eine massive Gefährdung der monastischen Demut dar.237 Schriftauslegung ist etwas, das „nur den Geistesmenschen“238, d. h. „wenigen Begnadeten“239, vorbehalten ist. Diese Beobachtungen, die H. Dörries am Beispiel der Apophthegmata Patrum formulierte, lassen zum einen die Heilige Schrift als die Quelle, ohne die keine – noch so simple – Entscheidung des monastischen Lebens gefällt werden kann, erscheinen. Andererseits wird diese grundlegende Quelle monastischer Existenz erst durch die Vermittlung eines Altvaters erkennbar, oder, wie D. Burton-Christie es formuliert: „authoritative words come from two sources – Scripture and the elders“240. 232
Vgl. Dörries 1966, 251 f. Vgl. Dörries 1966, 255. 234 Vgl. Dörries 1966, 257, so z. B. in AP/G Moses 18 (33) (PL 65, 288): Εἶπεν ὁ ἀδελφός· Αἱ νηστεῖαι καὶ ἀγρυπνίαι ἃς ποιεῖ ἄνθρωπος, τί γίνονται; Λέγει αὐτῷ ὁ γέρων· Αὗται ποιοῦ-σι τὴν ψυχὴν ταπεινωθῆναι. 235 Vgl. Dörries 1966, 262 f., so z. B. AP/G Benjamin 4 (87) (PL 65, 145): Ὁ ἀββᾶς Βενιαμὶν εἴρηκε τοῖς υἱοῖς αὐτοῦ ἀποθνήσκων· Ταῦτα ποιεῖτε, καὶ δύνασθε σωθῆναι· Πάντοτε χαίρετε, ἀδιαλείπτως προσεύχεσθε, ἐνπαντὶ εὐχαριστεῖτε (Hervorhebung des Bibelzitates DS). 236 Dörries 1966, 265. Die Vollmacht des Altvaters drückt sich im Moment des Zusprechens dadurch aus, dass er geistgeleitet zu entscheiden vermag, welches Wort sein Gegenüber gerade benötigt (vgl. Dörries 1966, 267). Zur Autorisierung des Altvaters durch Geistbegabung s. auch Gemeinhardt 2021a, 188 f. 237 Vgl. Dörries 1966, 272. 238 Dörries 1966, 273. 239 Dörries 1966, 273. 240 Burton-Christie 1997, 424. 233
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
So, wie der Altvater ohne die Worte der Schrift nichts zu sagen hätte, käme die Schrift ohne die Worte des Altvaters nicht zu Gehör und so auch nicht zur Anwendung. Erinnert sei hier an das in 5.3 und 5.4 Beobachtete: So, wie der Lehrer und die Lehre als zwei getrennte Faktoren dargestellt werden, die jedoch nur gemeinsam am Schüler wirksam werden können, und so, wie die Erfahrung (des Göttlichen) erst im Austausch mit einem Älteren umfänglich möglich wird, erscheint hier auch das Schriftverständnis als ein Kommunikationsgeschehen, an dem neben dem göttlichen Urheber verschiedene menschliche Akteure beteiligt sind. 5.5.2 Zweifach, dreifach oder vierfach? Wie viele Schriftsinne gibt es? – Cassians T heorie der Schriftauslegung in coll. 8,3 f. und coll. 14,8 Neben der unter 5.5.1 beschriebenen, eher bildungsskeptischen Anwendung der Bibel im frühen östlichen Mönchtum, die Cassian kennt und, wie gezeigt wurde, auch partiell rezipiert, fühlt er sich zudem einem zweiten Traditionsstrang verpflichtet: dem Konzept eines mehrfachen Schriftsinnes, das meist eng mit Ori genes’ Werk verbunden wird und auf das als Hintergrund der cassianischen Hermeneutik hier kurz einzugehen ist. Bewusst wurde zuvor von ‚mehrfach‘ gesprochen, denn es lassen sich vor Cassian sowohl Beispiele für einen zweifachen als auch für einen drei- und vierfachen Schriftsinn finden.241 Bereits Clemens von Alexandrien kennt einen zweifachen Schriftsinn, er begründet dessen Notwendigkeit mit der Doppelnatur Christi und der Gleichnishaftigkeit der Reden Christi: So wie diese beiden verklammern auch die beiden Sinnebenen der Heiligen Schrift die Welt der Rezipienten mit einer höheren, zu erstrebenden Wahrheit, schützen diese aber gleichzeitig vor unbefugtem Zugriff:242 „Aus vielen Gründen verbirgt also die Heilige Schrift den eigentlichen Sinn, zunächst damit wir eifrig und geschickt im Suchen werden und uns immer wach erhalten für das Auffinden der Worte des Heilands, ferner weil es für die große Masse nicht einmal zuträglich gewesen wäre, die Schrift zu verstehen, damit sie nicht Schaden nähme, wenn sie das von dem Heiligen Geiste in heilsamer Absicht Gesagte falsch auffaßte. Gerade deshalb werden für die auserwählten Menschen und für diejenigen, die aus dem Glauben zur Erkenntnis zu gelangen bestimmt sind, die heiligen Geheimnisse der Weissagungen aufbewahrt und in den Gleichnissen verhüllt. Denn die Eigenart der Heiligen Schrift besteht darin, daß sie in Gleichnissen spricht, weil auch der Herr, obwohl er nicht zu dieser Welt gehörte, wie ein Geschöpf dieser Welt zu den Menschen kam. Denn er trug auch alle Tugend an sich und war dazu bestimmt, den in dieser Welt heimischen Menschen durch die Erkenntnis zu dem Geistigen und allein Wirklichen emporzuführen, aus dieser Welt
241
242
Vgl. H.-J. Horn 2005, 50. Vgl. H.-J. Horn 2005, 50.
5.5 Schriftauslegung und Schriftgebrauch
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in eine andere Welt. Deshalb verwendet er auch die Schrift in übertragenem Sinn; denn das ist das Wesen des Gleichnisses: es ist eine Redeform, die von etwas, was nicht das Eigentlichgemeinte, aber ihm ähnlich ist, den Verständigen zum Wahren und Eigentlichen emporführt, oder, wie einige sagen, eine Ausdrucksweise, die das Eigentlichgemeinte durch anderes mit Nachdruck vor Augen stellt.“243
Hier wird erstmalig im Christentum ein modus duplex explizit auf Texte der heiligen Schrift angewendet. Dabei handelt es sich um „keine selbstständige und voraussetzungslose Leistung der alexandrinischen T heologen des 3. Jh., sondern um eine Applikation älterer griechischer Gedanken auf einen biblischen Kontext, an welcher stoische und platonische Elemente deutlich hervortreten, wie z. B. die Scheidung einer Welt des Uneigentlichen, Scheinhaften von der eigentlichen und wahren Welt, die Übernahme des platonischen τἀληθές und die Benutzung der Allegorese als Werkzeug, um das Walten des Logos in der Welt aufzuspüren und sichtbar zu machen.“244
Auch wenn es keine expliziten Verweise gibt,245 ist doch anzunehmen, dass Origenes Clemens von Alexandriens T heorie der Schriftauslegung kennt und die beiden zuvor präsentierten Sinnebenen, den Wortsinn und den übertragenen, auf das Reich Gottes vorverweisenden Sinn, um eine dritte, moralische Ebene, ergänzt.246 Explizit ist dies bspw. in der fünften Homilie zu Levitikus zu beobachten: „Oft haben wir festgestellt, daß sich in der Schrift eine dreifache Weise des Verständnisses finde, die historische, moralische und mystische, woraus wir eingesehen haben, daß die Schrift einen Körper habe, daß ihr Seele und Geist innewohnen“.247
243 Stählin 1937, 324; Clemens von Alexandrien, str. 6, 126,1–4 (GCS 15/4, 495,18–496,2 Stählin / Früchtel): Διὰ πολλὰς τοίνυν αἰτίας ἐπικρύπτονται τὸν νοῦν αἱ γραφαί, πρῶτον μὲν ἵνα ζητητικοὶ ὑπάρχωμεν καὶ προσαγρυπνῶμεν ἀεὶ τῇ τῶν σωτηρίων λόγων εὑρέσει, ἔπειτα ὅτι μηδὲ τοῖς ἅπασι προσῆκον ἦν νοεῖν, ὡς μὴ βλαβεῖεν ἑτέρως ἐκδεξάμενοι τὰ ὑπὸ τοῦ ἁγίου πνεύματος σωτηρίως εἰρημένα. διὸ δὴ τοῖς ἐκλεκτοῖς τῶν ἀνθρώπων τοῖς τε ἐκ πίστεως εἰς γνῶσιν ἐγκρίτοις τηρούμενα τὰ ἅγια τῶν προφητειῶν μυστήρια ταῖς παραβολαῖς ἐγκαλύπτεται· παραβολικὸς γὰρ ὁ χαρακτὴρ ὑπάρχει τῶν γραφῶν, διότι καὶ ὁ κύριος, οὐκ ὢν κοσμικός, ὡς κοσμικὸς εἰς ἀνθρώπους ἦλθεν· καὶ γὰρ ἐφόρεσεν τὴν πᾶσαν ἀρετὴν ἔμελλέν τε τὸν σύντροφον τοῦ κόσμου ἄνθρωπον ἐπὶ τὰ νοητὰ καὶ κύρια διὰ τῆς γνώσεως ἀνάγειν ἐκ κόσμου εἰς ἐπὶ τὰ νοητὰ καὶ κύρια διὰ τῆς γνώσεως ἀνάγειν ἐκ κόσμου εἰς κόσμον. διὸ καὶ μεταφορικῇ κέχρηται τῇ γραφῇ· τοιοῦτον γὰρ ἡ παραβολή, λόγος ἀπό τινος οὐ κυρίου μέν, ἐμφεροῦς δὲ τῷ κυρίῳ ἐπὶ τἀληθὲς καὶ κύριον ἄγων τὸν συνιέντα, ἤ, ὥς τινές φασι, λέξις. 244 H.-J. Horn 2005, 51. 245 Vgl. Mühlenberg 1999, 475. 246 Vgl. H.-J. Horn 2005, 51. 247 H.-J. Horn 2005, 51; Origenes, hom. in Lev. 5,5 (GCS 29, 344,8–11 Baehrens): Trip licem namque in scripturis divinis intelligentiae inveniri saepe diximus modum: historicum, moralem, mysticum; unde et corpus inesse ei et animam ac spiritum intelleximus.
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
In anderer Weise nimmt Origenes in De principiis auf drei Ebenen der Schrift Bezug: Im vierten Buch entwirft Origenes eine exegetische T heorie, die u.a. einen dreifachen Schriftsinn entwickelt (princ. 4,2,4–6).248 Dieser wird jedoch – vergleichbar zu Cassians Vorgehen (s. u.) – in weiteren Werken des Origenes kaum weiterverfolgt bzw. zugunsten einer schlichten Unterteilung in einen Literalsinn und einen höheren Sinn wieder aufgegeben.249 Die Dreiteilung der Schriftsinne begründet Origenes zum einen mit Prov 22,20 f. (LXX)250 und zum anderen mit der Dreiteilung des Menschen in Leib, Seele und Geist: „Dreifach also muß man sich die ‚Sinne‘ der heiligen Schrift in die Seele schreiben: Der Einfältige soll von dem ‚Fleische‘ der Schrift erbaut werden – so nennen wir die auf der Hand liegende Auffassung –, der ein Stück weit Fortgeschrittene von ihrer ‚Seele‘, und der Vollkommene … erbaut sich aus ‚dem geistlichen Gesetz‘, ‚das den Schatten der zukünftigen Güter enthält‘ (vgl. Röm 7,14 und Hebr 10,1). Wie nämlich der Mensch aus Leib, Seele und Geist besteht, ebenso auch die Schrift, die Gott nach seinem Plan zur Rettung der Menschen gegeben hat.“251
Origenes stellt in De principiis 4,2,5 heraus, dass nicht alle Schriftstellen die drei eingangs genannten Sinnebenen aufweisen, sondern manche ohne ‚leibliche‘ Komponente auskommen, also allein auf Seele oder Geist bezogen sind und von daher interpretiert werden müssen, ohne ihnen einen historischen Literalsinn zuzuschreiben – hier ist das Phänomen angedeutet, das Cassian später als die „dunklen Stellen“ der Heiligen Schrift beschreiben wird (s. u.). In De princi piis 4,2,6 erläutert Origenes, wie genau mit den oben den drei Dimensionen des menschlichen Seins zugeordneten Schriftstellen umzugehen ist: Um die Stellen, 248 Damit ist das vierte Buch von De principiis gewissermaßen ein Nachtrag der ersten drei Bücher: In diesen wurde die gesamte Ordnung des Seins, beginnend bei der geistigen Schöpfung und endend bei der geschöpflichen (Willens-)Freiheit besprochen. Das T hema Schrift und Schriftauslegung klingt dabei durchgehend an, wird aber nirgends expliziert (vgl. Görgemanns / Karpp 31992, 13 f.). 249 Vgl. Vogt 2006, 545 f.; von Dobschütz 1921, 6 formuliert sehr treffend im Bezug auf Origenes’ Umgang mit seiner eigenen T heorie: „Diese … dargelegte T heorie führt Origenes selbst freilich keineswegs durch. Es fällt ihm gar nicht ein, zu jeder Stelle immer dreierlei Auslegung zu bieten; oft hat er zwei, vereinzelt auch einmal vier Deutungen. Vor allem ist bei ihm die Terminologie noch ganz im Fluß, es ist dasselbe, was er unter Anagoge und Allegorie versteht, und Tropologie ist davon kaum verschieden.“ 250 „20 Und du aber, schreibe sie für dich dreifach auf zum Rat und zur Erkenntnis auf die Weite deines Herzens. 21 Ich lehre dich also, ein wahres Wort und gute Erkenntnis zu hören, um zu antworten Worte der Wahrheit denen, die sich (mit Fragen) an dich richten.“ 251 Görgemanns / Karpp 31992, 711.713; Origenes, princ., 4,2,4 (708,7–11.708,15–710,4 Görgemanns / Karpp): οὐκοῦν τριχῶς ἀπογράφεσθαι δεῖ εἰς τὴν ἑαυτοῦ ψυχὴν τὰ τῶν ἁγίων γραμμάτων νοήματα· ἵνα ὁ μὲν ἁπλούστερος οἰκοδομῆται ἀπὸ τῆς οἱονεὶ σαρκὸς τῆς γραφῆς, οὕτως ὀνομαζόντων ἡμῶν τὴν πρόχειρον ἐκδοχήν, ὁ δὲ ἐπὶ ποσὸν ἀναβεβηκὼς ἀπὸ τῆς ὡσπερεὶ ψυχῆς αὐτῆς, ὁ δὲ τέλειος … ἀπὸ ‚τοῦ πνευματικοῦ νόμου‘, ‚σκιὰν περιέχοντος τῶν μελλόντων ἀγαθῶν‘. ὥσπερ γὰρ ὁ ἄνθρωπος συνέστηκεν ἐκ σώματος καὶ ψυχῆς καὶ πνεύματος, τὸν αὐτὸν τρόπον καὶ ἡ οἰκονομηθεῖσα ὑπὸ θεοῦ εἰς ἀνθρώπων σωτηρίαν δοθῆναι γραφή.
5.5 Schriftauslegung und Schriftgebrauch
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die der historischen, leiblichen, Ebene zugeordnet sind, zu verstehen, genügt es, einfach und treu zu glauben (γνησίως καὶ ἁπλούστερον πεπιστευκότων; Görgemanns / Karpp 714,5 f.). Für die auf die Seele bezogenen Stellen gibt es keine konkrete Handlungsanweisung, es wird lediglich vermerkt, dass sie um der Menschen willen geschrieben wurden (δι’ ἡμᾶς γὰρ ἐγράφη; Görgemanns / Karpp 714,10), nicht um historisches Wissen zu vermitteln. Die Stellen, die geistlich zu verstehen sind, beziehen sich hingegen auf die himmlischen Dinge (ἐπουρανίων; Görgemanns / Karpp 714,15 f.). A. Fürst argumentiert, dass Origenes mit Hilfe der präsentierten Passagen aus De principiis keineswegs einen mehrfachen Schriftsinn entwickeln, sondern lediglich einen dreifachen Sinngehalt habe aufzeigen wollen, mit dessen Hilfe der Exeget die Bibel als pädagogisches Hilfsmittel für Schüler auf verschiedenen Lernstufen habe nutzbar machen können.252 Dieser Einwand ist bedenkenswert und bewahrt vor einer zu schematisierten, einseitigen Betrachtung der Sachlage. Das Abheben auf den praktisch-didaktischen Aspekt eines mehrfachen Sinngehaltes der Schrift ist zweifelsfrei auch auf die Collationes zu übertragen: Wie nachfolgend zu zeigen sein wird, geht es Cassian nicht (vorrangig) um eine theoretische Betrachtung des Charakters der Heiligen Schrift, sondern um den praktischen Nutzen, der aus einer methodisch kontrollierten Auslegung auf mehreren Ebenen zu ziehen ist. Einen anderen, vielfach unbezweifelt angenommenen Aspekt der T heorie eines mehrfachen Schriftsinnes hinterfragt H. de Lubac: Bereits oben, in der Betrachtung der hermeneutischen Überlegungen des Clemens von Alexandrien wurde mit H.-J. Horn festgehalten, dass es sich hierbei um die Anwendung von Methoden paganer Rhetorik und Philosophie auf christliche Texte handelt.253 H. de Lubac hält dagegen, dass Origenes sich viel eher auf Paulus (Gal 4,24, s. u.) berufen habe, der – selbstverständlich nicht gänzlich ohne platonischen Hintergrund – die Allegorese als spezifisch christliches Instrument der Schriftauslegung definiert habe.254 Dieser von H. de Lubac auf Origenes gemünzte Einwand ist m. E. im Blick auf die Collationes zu vernachlässigen, zu offensiv verweist Cassian selbst immer wieder auf die methodischen Parallelen zwischen traditioneller und monastischer Bildung (s. 3.1.1.1), auch und gerade in coll. 14, die den vierfachen Schriftsinn präsentiert (s. u.). Während Clemens von Alexandrien einen zweifachen und Origenes (zumindest an zentraler Stelle) einen dreifachen Schriftsinn (bzw. mit A. Fürst: Sinnge252 Vgl. Fürst 2016, 98. Von einem dreifachen „Sinn“ der Schrift sprechen hingegen bspw. H.-J. Horn 2005 und von Dobschütz 1921. 253 Vgl. H.-J. Horn 2005, 51. Dort wird im Folgenden detailliert betrachtet, wie sich philosophische Grundannahmen der Wahrheitsfindung in Origenes’ exegetisch-theoretischem Denken finden lassen. 254 Vgl. de Lubac 1993, 344.
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
halt) vertreten, präsentiert Augustin bereits 391 n. Chr.255 in De utilitate credendi einen vierfachen Schriftsinn.256 In util. cred. 5 heißt es: „Nun, das gesamte sogenannte Alte Testament bringt man denen, die an seiner genauen Kenntnis interessiert sind, mit vier Auslegungsmöglichkeiten nahe: mit der Auslegung im historischen, im aitiologischen, im analogen und im allegorischen Sinn. … Also mit der Auslegung im historischen Sinn wird das Alte Testament vermittelt, indem man darlegt, was geschrieben wurde oder was geschah und was nicht geschah, sondern nur so geschrieben wurde, als wäre es geschehen. Mit der Auslegung im aitiologischen Sinn, indem man die Gründe aufzeigt, warum etwas geschah oder gesagt wurde. Im analogen, indem man nachweist, daß sich die beiden Testamente, das Alte und das Neue, nicht widersprechen. Im allegorischen, indem man einsichtig macht, daß man einige Texte nicht buchstäblich nehmen darf, sondern bildlich verstehen muss.“257
In diesem Vorgehen sieht Augustin die Möglichkeit, christlich-biblisches Denken mit philosophischen Konzepten zu verbinden und die präsentierte Art der kritischen Auseinandersetzung mit der Heiligen Schrift so als wirksames Instrument gegen die Manichäer einzusetzen, um scheinbar unverständliche (dunkle) Stellen der Schrift nachvollziehbar zu erklären.258 Der präsentierten Methodik misst Augustin dabei wissenschaftlichen Rang zu, räumt aber gleichzeitig ein, nicht ihr Erfinder zu sein, sondern sie nur übernommen zu haben und entschuldigt deshalb auch die – dem rhetorischen Gebot der latinitas widersprechenden259 – griechischen Bezeichnungen der Schriftsinne.260 255 Damit handelt es sich hierbei um die erste Schrift nach Augustins Priesterweihe, es ist bemerkenswert, dass gerade an diesem biografischen Punkt Fragen der Reflexion eines hermeneutischen Ansatzes in den Fokus des Interesses rücken. Es ist zu vermuten, dass Augustin diese Techniken in Vorbereitung auf seine Gemeindetätigkeit erlernt hat (vgl. Hoffmann 2007, 468). 256 Explizit nimmt er dieses Konzept zwei Jahre später in De Genesi ad litteram liber unus inperfectus 2 auf, um alle vier Schriftsinne in Gn. litt. inp. 3 exemplarisch an Gen 1,1 vorzuführen. In De doctrina christiana, Augustins ausgefeiltem hermeneutischen Gesamtentwurf, spielt ein vierfacher Schriftsinn bezeichnender Weise keine Rolle mehr, sodass er als bewusst gewähltes Instrument in Abwehr gegen die Manichäer verstanden werden kann (s. u.; vgl. Hoffmann 2007, 469). 257 Hoffmann 1992, 91.93; Augustin, util. cred. 5 (FC 9, 90,6–9.90,17–92,2 Hofmann): omnis igitur scriptura, quae testamentum uetus uocatur, diligenter eam nosse cupientibus quadrifariam traditur. secundum historiam, secundum aetiologiam, secundum analogiam, secundum allegoriam. … secundum historiam ergo traditur, cum docetur, quid scriptum aut quid gestum sit. quid non gestum, sed tantummodo scriptum quasi gestum sit. secundum aetiologiam, cum ostenditur, quid qua de causa uel factum uel dictum sit. secundum ana logiam, cum demonstratur non sibi aduersari duo testamenta, uetus et nouum. secundum allegoriam, cum docetur non ad litteram esse accipienda quaedam, quae scripta sunt, sed figurate intellegenda. 258 Vgl. Hoffmann 2007, 468. Die Kritik der Manichäer richtet sich im Blick auf die Bibel v.a. gegen verschiedene absurda – Widersprüchlichkeiten und angebliche Falschdarstellungen – des Alten Testaments (vgl. Hoffmann 1992, 19–21). 259 Vgl. Hoffmann 1992, 90 (Anm. 17). 260 Vgl. Hoffmann 1992, 30 f.
5.5 Schriftauslegung und Schriftgebrauch
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Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass ein mehrfacher Schriftsinn immer dann zur Anwendung kommt, wenn es die Autorität der heiligen Schrift zu behaupten gilt: Wie das Beispiel Augustins zeigt, gegenüber der Häresie der Manichäer, wie das Beispiel des Origenes nahelegt, gegenüber Schülern unterschiedlicher Erfahrungsstufen oder wie das erste Beispiel (Clemens von Alexandrien) vermuten lässt, um erwählte Christen von einer breiten Masse, die (noch) keine Einsicht in die Geheimnisse der Schrift erlangt hat, zu unterscheiden. Der ‚wissenschaftliche‘ Charakter, der solch einer hermeneutischen T heorie eignet, lässt sie dabei auch Kritikern, Zweiflern, Unverständigen und Unwissenden zumindest zu einem gewissen Grad nachvollziehbar, wenn auch noch nicht umsetzbar erscheinen. Damit ist diese Art der Schriftauslegung – anders als die unter 5.5.1 beschriebene Art eines traditionell monastischen Schriftgebrauchs – nicht nur zu erfahren, sondern auch, zumindest im Grundsatz, zu erlernen.261 5.5.2.1 Coll. 8,3 f. – Helle und dunkle Stellen der Heiligen Schrift In coll. 8,3 präsentiert Cassian zunächst einen zweifachen Schriftsinn, indem er Abbas Serenus zwischen hellen und dunklen Stellen unterscheiden lässt. Dabei wird der Schrift eine eigenständige Autorität (auctoritas 218,16) sowie der von ihr selbst ausgehende Wunsch, zu erziehen (nos uoluit erudire 218,17), zugeschrieben. Es gibt, so Cassian, klare und deutliche (lucide et euidenter 218,18) Stellen, die auch von intellektuell eher talentfreien Menschen (his qui acumine ingenii carent 218,17 f.) verstanden werden können. Diese Stellen sind so eindeutig, dass sie keiner Auslegung durch Dritte (patrocinium interpretationis 218,20) bedürfen. Das Gegenteil stellen Schriftstellen dar, die verborgen und in geheimnisvolle Dunkelheit gehüllt sind (contecta et quibusdam sunt obscurata mysteriis 218,22). Verborgen sind sie durch den Schleier des geistigen Sinns (spiritalis intellectus velamen 218,26). Dieser Begriff wird nicht sofort erläutert, sondern später mit Hilfe eines auf den Ackerbau bezogenen Vergleichs (s. u.) erklärt. In der Betrachtung dieser verhüllten Stellen eröffnet sich ein weites Feld, in dem sorgfältige, verstandesgeleitete Auslegung und Diskussion geübt werden kann und muss (ut in eorum discussione et intellectu inmensum nobis exercitii campum ac sollicitu dinis reseruaret 218,22–24). Die dunklen Stellen gibt es laut Cassian aus einem zweifachen Grund: Zum einen, damit die göttlichen Geheimnisse (sacramenta divina 218,25 f.) eben nicht allen (ne … cunctis hominibus 218,25–27), unabhängig von ihrem Glauben, ihrer Tugendhaftigkeit und ihrer Klugheit, offenstehen. Und andererseits, damit den bereits in den Glauben Eingeweihten (domestici fidei 219,3) eine Möglichkeit eröffnet wird, Fleiß und Eifer unter Beweis zu stellen (alacritas atque industria probare 219,5 f.). 261
Zur Unterscheidung dieser beiden Modi der Aneignung s. 5.4.
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
Dieser erste Auftakt zu einer T heorie der Schriftauslegung lässt bereits gravierende Unterschiede zu dem unter 5.5.1 beschriebenen, stark praktisch orientierten und häufig sekundär illustrierenden – bzw. von einer fast schon un- oder überbewussten Aneignung der Bibel zeugenden – Schriftgebrauch erkennen: Cassian fordert nun eine selbstständige und verstandesgeleitete Auseinandersetzung mit der Schrift. Die Rolle eines Vermittlers (im Sinne der oben erwähnten geteilten Autorität zwischen Altvätern und Heiliger Schrift) wird nur einmal – und dann ablehnend – erwähnt. Vielmehr erscheint die Schrift in coll. 8,3 als eigenständige Autorität, die pädagogisch an ihren Rezipienten handelt. Die Trennlinie, die Cassian zwischen der Einsicht in die hellen und dunklen Stellen zieht, markiert nicht nur die Unterscheidung von im Glauben Stehenden und Außenstehenden, sondern auch zwischen Trägen und Eifrigen (inertes ac stu diosos 219,1 f.) innerhalb der ersten Gruppe. Damit wird die Schrift zu der Autorität, an der Cassians Zielgruppe sich beweisen kann, an der sich aber auch die Geister scheiden, die also gewissermaßen aussiebt. Ein erfolgreiches Vordringen in die Geheimnisse der dunklen Stellen fordert nicht nur den mehrfach zitierten Eifer (s. o.), sondern auch Wissen (scientia 219,1), Tugendhaftigkeit und Klugheit (uirtutis prudentiaeque 219,2). Bemerkenswert ist, dass hier (noch) nicht von einer offenbarenden Anleitung des Heiligen Geistes die Rede ist, sondern dass vielmehr Kompetenzen aufgezählt werden, die Cassians Adressaten aus früher durchlaufenen Bildungsinstitutionen vertraut sein dürften. Diese ‚fortgeschrittene Art‘, sich mit den dunkeln Stellen der Heiligen Schrift zu befassen, wird zweifach mit einem Feld (campus 218,24) bzw. mit einem weiten Raum des Verstehens (intellectuum spatia 219,3) verglichen. Dies mag einerseits die geschickte Vorbereitung der folgenden Feldbaumetapher sein, weckt aber andererseits Assoziationen einer Weite ohne gebahnte Wege, die Möglichkeiten eröffnet, aber auch Risiken birgt.262 Auf diesen eher theoretisch orientierten, grundlegenden Einstieg folgt ein längerer Vergleich, der die Heilige Schrift mit einem fruchtbaren Acker parallelisiert. Die hellen und dunklen Stellen der Schrift werden dabei mit Früchten verglichen, von denen die einen bereits roh genossen werden können, während die anderen erst gekocht genießbar werden. Manche Früchte sind sogar in beiden Garzuständen essbar. Es gibt jedoch auch noch eine vierte Sorte, die lediglich den Tieren, nicht den Menschen als Speise taugt. Dieses Bild wird von Cassian sogleich aufgelöst: 262 Das Bild der heiligen Schrift als Feld geht auf Origenes, princ. 4,3,11 (763.764 Görgemanns / Karpp) zurück: καὶ ἐπιστήσωμεν εἰ μὴ τὸ βλεπόμενον τῆς γραφῆς καὶ τὸ ἐπιπόλαιον αὐτῆς καὶ πρόχειρον ὁ πᾶς ἐστιν ‘ἀγρὸς’ πλήρης παντοδαπῶν τυγχάνων φυτῶν, τὰ δὲ ἐναποκείμενα καὶ οὐ πᾶσιν ὁρώμενα ἀλλ’ ὡσπερεὶ ὑπὸ τὰ βλεπόμενα φυτὰ κατορωρυγμένα ‘οἱ θησαυροὶ τῆς σοφίας καὶ τῆς γνώσεως ἀπόκρυφοι’, οὕστινας τὸ πνεῦμα διὰ τοῦ Ἡσαΐου ‘σκοτεινοὺς καὶ ἀοράτους καὶ ἀποκρύφους’ καλεῖ (vgl. Ramsey 1997, 317).
5.5 Schriftauslegung und Schriftgebrauch
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„Diese Einteilung sehen wir auch hinreichend deutlich eingehalten im überaus fruchtbaren Paradies der geistlichen Schriften, in dem manches schon durch die Bedeutung des Buchstabens so verständlich und einleuchtend erscheint, dass es, ohne einer verfeinernden Auslegung zu bedürfen, schon durch den einfachen Wortlaut die Hörer reichlich weidet und nährt … Einiges aber wird, wenn es nicht durch allegorische Auslegung weitergehend erklärt und durch die Prüfung im geistigen Feuer weich [und genießbar] wird, durchaus zu keiner heilsamen Speise des [I]nneren Menschen, ohne den Nachteil eines Schadens zu werden … Einige [Schriftworte] jedoch werden nach beiden Richtungen der Auslegung, sowohl nach der historischen als der allegorischen, so einfach und folgerichtig verstanden, dass jede Auslegungsart der Seele erfrischende Getränke anbietet … Die Schrift ‚lässt Gras wachsen für die Tiere‘ (Ps 103 = 104,14), alle Felder der Schrift sind davon voll, und zwar die einfache, bloße Erzählung der historischen Lesart, durch welche je nach dem Stand und dem Umfang ihrer Begabung alle diejenigen für ihre Aufgabe und zur Mühe des gegenwärtigen Lebens ermuntert und gestärkt werden, die einfältiger sind und weniger fähig, den vollkommenen gesamten Sinn zu erfassen, und von denen es heißt: ‚Menschen und Tiere wirst du retten, Herr.‘ (Ps 35 = 36,7).“ 263
Jede dieser vier Varianten, die Schrift ‚zu sich zu nehmen‘, wird mit ein bis drei Beispielen illustriert: Für den zuerst dargestellten Literalsinn wird das Sch’ma Israel (Dtn 6,4 f.) herangezogen. An diesem gibt es nichts zu deuten oder auszulegen, der Aufruf, Gott aus ganzem Herzen zu lieben, ist so klar wie aktuell. Drei Beispiel werden für die zweite Gruppe, die Schriftstellen, die ausschließlich allegorisch verstanden werden können, genannt. Alle drei Beispiele264 beschäftigen sich mit der entschiedenen Christusnachfolge. Ein Missverständnis des letzten Beispiels, Mt 10,38, wird anschließend von Cassian karikiert: Er spricht von äußerst entschlossenen Mönchen (districtissimi monachorum 220,7), denen es zwar nicht an Eifer (zelum 220,7) mangele, jedoch an Erkenntnis (scien tia 220,8). Diese hätten sich dadurch, dass sie diese Stelle wörtlich – und nicht allegorisch – verstanden hätten, zum Gespött der Leute gemacht (sed risum cun ctis uidentibus intulerunt 220,10), indem sie sich tatsächlich Kreuze aus Holz 263 Ziegler 2011, 245 f.; quam rationem satis euidenter aspicimus in hoc uberrimo spi ritalium scripturarum paradiso contineri, in quo ita quaedam significatione litterae plana ac luculenta resplendent, ut, cum sublimiore interpretatione non egeant, simplici tantum litterae sono abunde pascant ac nutriant audientes (219,18–23) … quaedam autem si al legorica explanatione extenuata non fuerint et spiritalis ignis examinatione mollita, nullo modo ad salutarem interioris hominis cibum sine corruptionis labe peruenient magisque ex eorum perceptione laesio quam utilitas aliqua subsequetur (219,26–220,2) … producit sane et faenum iumentis, quibus pabulis omnes scripturarum repleti sunt campi, simplicem scilicet puramque narrationem historicae lectionis, qua simpliciores quique ac minus capaces perfec tae et integrae rationis, de quibus dicitur: homines et iumenta saluabis domine (220,19–23). 264 Lk 12,35: „Lasst eure Lenden umgürtet sein und eure Lichter brennen.“ Lk 22,36: „Da sprach er zu ihnen: Aber nun, wer einen Geldbeutel hat, der nehme ihn, desgleichen auch eine Tasche, und wer’s nicht hat, verkaufe seinen Mantel und kaufe ein Schwert.“ Mt 10,38: „Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht wert.“
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gebastelt und diese unablässig durch die Gegend getragen hätten. Diese nahezu ironische Anspielung265 dient nicht nur einer inhaltlichen Schärfung des Profils der allegorischen Schriftauslegung, sondern hat auch eine gemeinschafts- und identitätsstiftende Funktion: Cassian markiert hier – ähnlich wie bereits durch die eingangs zitierte Formulierung his qui acumine ingenii carent (218,17 f.) – einen harten Kontrast zwischen Unverständigen und solchen, die seinen Ausführungen folgen können.266 Die drei Beispiele für ein doppeltes Schriftverständnis im wörtlichen und übertragenen Sinne stammen alle aus dem Matthäusevangelium. Besonders zwei stechen dadurch ins Auge, dass sie mehrfach an weiteren Stellen der Collationes begegnen: Mt 5,39 und Mt 19,21.267 Die zweite genannte Stelle ist besonders interessant, da sie in wörtlicher Auslegung an zentraler Position in der Vita Antonii begegnet.268 Cassian kennt und zitiert diese Passage (s. coll. 3,4). Es scheint fast, dass er hier – ebenso wie zuvor im Blick auf die kreuztragenden Mönche – erneut eine Überbietung der östlichen Tradition (des Verständnisses von Mt 19,21 im Literalsinn) durch ein tieferes Schriftverständnis andeuten wollte. Blickt man jedoch auf die weiteren Verwendungen dieses Zitates innerhalb der Collationes269 zeigt sich, dass diese die von coll. 8,3 ausgehende T hese in Frage stellen: Auch 265 Es bleibt unklar, ob Cassian sich tatsächlich auf eine konkrete Gruppe von Mönchen bezieht oder vielmehr übertreibend ein ‚Worst-Case-Szenario‘ imaginiert: In keiner zeitgenössischen monastischen Quelle (untersucht wurden die anonyme [zur Frage der Autorenschaft vgl. Cain 2016, 40–48] Historia monachorum in Aegypto, T heodorets Historia Religiosa und Epiphanius’ Panarion) lässt sich ein Hinweis auf exakt diese asketische Praxis finden. 266 Mit Begriffen der modernen Sozialpsychologie wäre hier von In-group und Outgroup zu sprechen: „T hrough the process of self-categorization or identification, an identity is formed. In social identity theory, a social identity is a person’s knowledge that he or she belongs to a social group. … T hrough a social comparison process, persons who are similar to the self are categorized with the self and are labeled the in-group; persons who differ from the self are categorized as the out-group. … Specifically, one’s self-esteem is enhanced by evaluation the in-group and the out-group on dimensions that lead the in-group to be judged positively ant the out-group to be judged negatively.“ (Stets / Burke 2000, 224 f.). 267 Mt 5,39: „Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.“ Mt 19,21: „Jesus sprach zu ihm: Willst du vollkommen sein, so geh hin, verkaufe, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach!“ 268 Athanasius, V. Anton. 2,3 f. (FC 69, 110,18–112,9 Gemeinhardt): Ταῦτα δὴ ἐνθυ μούμενος, εἰσῆλθεν εἰς τὴν ἐκκλησίαν, καὶ συνέβη τότε τὸ Εὐαγγέλιον ἀναγινώσκεσθαι, καὶ ἤκουσε τοῦ Κυρίου λέγοντος τῷ πλουσίῳ· „Εἰ θέλεις τέλειος εἶναι, ὕπαγε, πώλησον πάντα τὰ ὑπάρχοντά σοι, καὶ δὸς πτωχοῖς, καὶ δεῦρο ἀκολούθει μοι, καὶ ἕξεις θησαυρὸν ἐν οὐρανοῖς.“ Ὁ δὲ Ἀντώνιος, ὥσπερ θεόθεν ἐσχηκὼς τὴν τῶν ἁγίων μνήμην, καὶ ὡς δι’ αὐτὸν γενομένου τοῦ ἀναγνώσματος, ἐξελθὼν εὐθὺς ἐκ τοῦ Κυριακοῦ, τὰς μὲν κτήσεις ἃς εἶχεν ἐκ προγόνων (ἄρουραι δὲ ἦσαν τριακόσιαι εὔφοροι καὶ πάνυ καλαὶ), ταύτας ἐχαρίσατο τοῖς ἀπὸ τῆς κώμης, ἵνα εἰς μηδ’ ὁτιοῦν ὀχλήσωσιν αὐτῷ τε καὶ τῇ ἀδελφῇ. 269 Coll. 3,4; 3,7; 21,5; 21,7; 24,24 (vgl. Petschenig / Kreuz 2004, 783).
5.5 Schriftauslegung und Schriftgebrauch
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Cassian selbst scheint Mt 19,21 mehrheitlich im Wortsinne, nicht als Allegorie zu verstehen. Anders verhält es sich mit Mt 5,39: Dieses Zitat wird bereits in coll. 8,24 insofern allegorisch angewendet, als es die doppelte Notwendigkeit von Gesetz und Evangelium begründet. Noch eindrücklicher erscheint die Verwendung in coll. 16,20 und 16,22: Während coll. 16,20 klar auf der Wortebene verbleibt und das korrekte Verhalten für den Fall, dass einmal der Streit mit dem Mitbruder eskaliert, beschreibt, argumentiert coll. 16,22 eindeutig allegorisch: „Er leitet uns zur Tugend der Geduld und Sanftmut an: Wir sollen sie nicht nur als Lippenbekenntnis vor uns hertragen, sondern fest verankern im innersten Heiligtum unserer Seele. Der Herr sagt also: ‚Wenn einer dich auf deine rechte Wange schlägt, dann halte auch die andere hin.‘ (Mt 5,39). Damit ist ohne Zweifel die andere rechte [Wange] gemeint. Doch kann dies keine andere Rechte sein als – um es einmal so zu sagen – diejenige im Antlitz des [I]nneren Menschen.“270
Während coll. 16,20 also tatsächlich die beiden Gesichtshälften des leiblichen Menschen beschreibt, blickt coll. 16,22 auf die Entsprechung von äußerem und Innerem Menschen (s. 4.1.2) und bietet damit ein Paradebeispiel für eine gelungene Allegorie. Die Bezogenheit der Allegorie auf den Inneren Menschen wird von Cassian selbst im obigen Zitat erwähnt. Praef. I der Collationes berücksichtigend, liegt das Hauptaugenmerk der gesamten Collationes auf dem Inneren Menschen und damit – wie coll. 8,3 deutlich macht – nun auch auf einer allegorischen Schriftauslegung. Darüber hinaus stechen drei weitere Beobachtungen ins Auge: Erstens lässt der Vergleich der verschiedenen Arten der Schriftauslegung mit verschiedenen Speisen recht eindeutig eine implizite Überbietung von 1Kor 3,1–3 / Hebr 5,12– 14271 erkennen: Dort werden Unerfahrenen, die noch fern jeder VollkommenVgl. Ziegler 2014, 190; siquidem dominus noster atque saluator ad profundam nos in struens patientiae lenitatisque uirtutem, id est non ut labiis eam tantummodo praeferamus, sed ut in intimis animae nostrae adytis recondamus, istam nobis perfectionis euangelicae formulam dedit dicens: si quis te percusserit in dextera maxilla tua, praebe illi et alteram (subauditur sine dubio dexteram, quae alia dextera nisi in interioris hominis ut ita dixerim facie non potest accipi) (456,20–257,1). 271 1Kor 3,1–3: „1 Und ich, Brüder und Schwestern, konnte nicht zu euch reden wie zu geistlichen Menschen, sondern wie zu fleischlichen, wie zu unmündigen Kindern in Christus. 2 Milch habe ich euch zu trinken gegeben und nicht feste Speise; denn ihr konntet sie noch nicht vertragen. Auch jetzt könnt ihr’s noch nicht, 3 denn ihr seid noch fleischlich. Denn wenn Eifersucht und Zank unter euch sind, seid ihr da nicht fleischlich und lebt nach Menschenweise?“ Hebr 5,12–14: „12 Und ihr, die ihr längst Lehrer sein solltet, habt es wieder nötig, dass man euch die Anfangsgründe der göttlichen Worte lehre und dass man euch Milch gebe und nicht feste Speise. 13 Denn wem man noch Milch geben muss, der ist unerfahren in dem Wort der Gerechtigkeit, denn er ist ein kleines Kind. 14 Feste Speise aber ist für die Vollkommenen, die durch den Gebrauch geübte Sinne haben, Gutes und Böses zu unterscheiden.“ 270
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
heit sind und daher noch nicht als geistliche, sondern als fleischliche Menschen gelten müssen, mit Säuglingen verglichen, die noch keine feste (geistige) Nahrung vertragen. Cassian hingegen bezeichnet in coll. 8,3 alle vorgestellten Arten des ‚Schrift-Konsums‘ als feste (geistige) Nahrung in verschiedenen Garzuständen. Dies stärkt die zuvor dargestellte Beobachtung, dass diese Konzeption eines mehrfachen Schriftverständnisses voraussetzungsreich und somit nur für Adressaten mir Vorkenntnissen geeignet ist.272 Zweitens werden die Begriffe Literalsinn (significatio litterae 219,20), historische Lesart (narratio historicae 220,21) und allegorische Auslegung (allegorica explanatio 219,26 f.) genutzt, aber nicht als Techniken erklärt. Es scheint, als ob Cassian hier auf bekanntes Wissen bzw. eine Methodik, die er für seinen Adressaten vertraut hält, Bezug nimmt. Dies könnte somit als Beispiel für die in coll. 1 und coll. 14 mehrfach zitierte methodische Analogie zwischen monastischer Betätigung und allen anderen artes ac disciplinae (s. 3.1.2) gesehen werden. Drittens wird das zweifache Schriftverständnis, das zu Beginn von coll. 8,3 dargestellt wird, nun mit Hilfe der Beispiele zu einem vierfachen erweitert. Diese Vierzahl ist jedoch nachdrücklich vom vierfachen Schriftsinn, der in coll. 14,8 präsentiert wird, zu unterscheiden. Neben das wörtliche und allegorische Verständnis treten nun eine Mischform aus beiden sowie ein rein historisches Verständnis. Dabei scheint es eine Unterscheidung zwischen Literalsinn und historischem Sinn zu geben. Während ersterer gelobt wird, ist zweiterer nur für die „Tiere“273 von Nutzen. Das Verständnis des biblischen Textes gemäß dem Wortsinn (219,20), das – zumindest im Blick auf die hellen Stellen – allen, unabhängig von Vorwissen, (monastischer) Vorbildung und Talent möglich ist, wird als gut, richtig und zumindest für eine ‚christliche Basismitgliedschaft‘274 ausreichend, erklärt. Erscheint diese Herangehensweise zu Beginn von coll. 8,3 noch als die weniger wertvolle Variante, die Bibel zu lesen, wird sie gegen Ende des Kapitels durch die historische Lesart (narratio historicae 220,21) unterboten. Dieser wird immerhin der Nutzen zugesprochen, denen, die ganz einfach gestrickt und wenig aufnahmefähig sind (simpliciores … ac minus capaces 220,21 f.), einen Leitfaden für das gegenwärtige Leben (actualis uita 221,2) zu bieten. Fast zynisch mutet dabei der Vergleich Cassians zwischen den Einfältigen und den Tieren, die ein bisschen an den Rändern der Bibel grasen dürfen, an. An Schärfe gewinnt dieser Vergleich dadurch, dass dieser gänzlich uninformierten Beschäftigung mit der Bibel lediglich ein Nutzen für die actualis uita zugeschrieben wird. Na272
Bei diesem Übertrag des paulinischen Bildes von Milch und fester Speise handelt es sich um eine durch Origenes geprägte Tradition, die dieser z. B. in hom. in Jud. 5,6 (SC 389, 142,47–146,44 Messié u.a.) präsentiert (vgl. de Lubac 1993, mit Anm. 19). 273 Ps 104, 14 (= 103,14 LXX): „Der Gras hervorsprießen lässt für das Vieh und grünes Kraut zum Dienst der Menschen, um Brot hervorzubringen aus der Erde.“ 274 Ob Cassian hier lediglich im Blick auf Mönche oder im Blick auf die gesamte Christenheit argumentiert, bleibt offen.
5.5 Schriftauslegung und Schriftgebrauch
237
türlich kann diese Formulierung schlicht als Bezugnahme auf das gegenwärtige Leben in Unterscheidung zum zukünftigen gelesen werden. Sie kann aber auch im Blick auf monastische Lebensweisen den Unterschied zur uita contemplatiua, der höheren Lebensform beschreiben (s. 6.1). Das wiederum würde die Zuordnung der verschiedenen Schriftsinne zu den Stufen der πρακτική und θεωρητική in coll. 14,8 vorbereiten (s. u.) – und dabei recht deutlich machen, wie Cassian den Wert der ersten Stufe einschätzt. Der theoretische Beginn von coll. 8,3, wird in coll. 8,4 im Blick auf die praktische Anwendung des zuvor Dargestellten fortgeführt. Über das, was in den klaren oder doppeldeutigen Stellen enthalten ist, können eindeutige Aussagen getroffen und darauf aufbauend fundierte Meinungen formuliert werden (con stanter possumus definire audenterque nostram proferre sententiam 221,4 f.). Die dunklen, nur allegorisch zu verstehenden Stellen, müssen hingegen mit größerer Sorgfalt behandelt werden. Ohne gründliches Überdenken und Bemühen und das Verständnis (meditatio et exercitio 221,5 f.) ist ihnen kein Sinn zu entnehmen. Dabei ist es wichtig, Schritt für Schritt (pedetemptim 221,8) vorzugehen und sorgsam darauf zu achten, was der göttliche Geist in den Schriften verborgen hat (obtecta sanctis scripturis spiritus diuinus 221,6 f.) – nicht was der Mensch alles herauslesen kann oder möchte. Es wird auch auf den möglichen Fall, dass Widersprüche – bzw. unterschiedliche Antworten auf eine Frage – innerhalb der Schrift bemerkt werden, eingegangen (super una re diuersa promatur sententia 221,10 f.). Dann ist es möglich, jede der Antworten – solange sie nicht dem Glauben widerspricht (sine detrimento fidei 221,11 f.; cum neutra earum fidei inuenia tur obsistere 221,14 f.) – als zutreffend oder wenigstens halbzutreffend (uel fixe uel medie 221,12) anzuerkennen. Als ein Grundsatz der Auslegung wird jedoch festgehalten, dass die gefundenen Antworten einander nicht widerstreiten oder sich gegenseitig verdrängen dürfen (e quibus neutra opinio inpugnat aliam nec sequentem prior intellectus euacuat 221,22 f.). Wodurch oder durch wen festgelegt wird, was dem Glauben entspreche, d. h. woran sich eine Auslegung zu orientieren habe, bleibt an dieser Stelle offen; mögliche Antworten sind unter 5.3 und 5.4 der vorliegenden Untersuchung zu finden, auch wenn Cassian selbst zu Beginn von coll. 8,3 eine vermittelnde Hilfe bei der Schriftauslegung ablehnt (s. o.). 5.5.2.2 Der vierfache Schriftsinn in coll. 14,8 In coll. 14,8 wird der vierfache Schriftsinn, für dessen ‚Erfindung‘ Cassian bis in moderne Dogmatiklehrbücher hinein gerühmt wird,275 erst-, aber auch einmalig formuliert. Das ist deshalb besonders betonenswert, da dieses in der Wahrnehmung der Collationes so zentrale Lehrstück auf dieses eine Kapitel beschränkt 275
Vgl. z. B. Leonhardt 2009, 182.
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
bleibt.276 Vereinzelt werden zwar auch außerhalb von coll. 14,8 verschiedene Schriftsinne angespielt, jedoch werden lediglich allegoria (404,13) und historia (404,15) explizit genannt. Tropologia und anagoge (404,13) hingegen begegnen ausschließlich in coll. 14,8. Selten begegnen Hinweise, dass etwas als mystice277 oder gemäß dem spiritalis sensus278 zu verstehen sei. Diese Passagen deuten ein Wissen um einen mehrfachen Schriftsinn an, nehmen aber keinen Bezug auf die in coll. 14,8 dargestellte T heorie. Diese steht zudem, wenn auch in keinem Widerspruch zu, so doch unverbunden neben der in coll. 8,3 f. dargestellten, vierfach abgestuften Klarheit, in der die Schrift ihrem Schüler begegnet (s. o.). Diese Beobachtungen machen es m. E. notwendig, die Bedeutung, die coll. 14,8 häufig beigemessen wird, in Relation zu den übrigen Stellen, in denen Cassian auf Schriftauslegung zu sprechen kommt, zu beurteilen. So verführerisch eingängig das klar gegliederte vierfache Schema inklusive der einleuchtenden und stringent durchgeführten Beispiele auch ist – es ist es eben nur eine von vielen Va rianten, die Cassian nutzt, um die Rolle der Heiligen Schrift innerhalb seiner monastischen Bildungsvorstellung zu präsentieren. Coll. 14 thematisiert in Gänze Fragen der spiritalis scientia (397,3), wobei sie zunächst die an Evagrius Ponticus angelehnte Unterscheidung von zwei grundlegenden Stufen monastischen Fortschreitens, die πρακτική (398,25) und die θεωρετική (399,2) beschreibt.279 Nachdem Grundsätzliches zum ersten dieser beiden Fachbereiche festgehalten wurde, summiert coll. 14,8 einleitend: „Wie wir schon sagten, wird die πρακτική in viele Fachrichtungen unterteilt, die θεωρητική aber in zwei Bereiche: Die historische Auslegung und den geistigen Sinn.“280
Die historische Auslegung wird dadurch von den anderen dreien grundlegend unterschieden, dass sie sich mit sichtbaren und vergangenen Ereignissen beschäftigt (itaque historia praeteritarum ac uisibilium agnitionem conplectitur rerum 404,15 f.). Als biblisches Beispiel dieser Art der Auslegung wird Gal 4,22 f. angeführt: Zunächst steht die schlichte Tatsache, dass Abraham zwei Söhne – von einer Magd und einer Freien, nach dem Fleisch und nach der Verheißung – hatte, im Zentrum der Betrachtung.
276
Vgl. Gemeinhardt 2019c, 276 f. Coll. 4,6; 7,5; 21,28; 22,5; 24,1. 278 Coll. 9,7; 10,10; 10,13; 14,9; 14,16; 14,17; 16,9. 279 Zum Kontext von coll. 14,8 s. 6.2. 280 Ziegler 2014,142; itaque sicut superius diximus πρακτικὴ erga multas professiones ac studia deriuatur, θεωρητική uero in duas diuiditur partes, id est in historicam interpretati onem et intellegentiam spiritalem (404,6–9). Diese grundlegende Zweiteilung der höchsten Stufe monastischer Schau wird mit Prov 31,21 (LXX) begründet. Gleich darauf wird eine weitere, dreifache Unterteilung des geistigen Sinns in Tropologie, Allegorie und Anagoge vorgenommen, diesmal begründet mit Prov 22,20 (LXX) Auf diesem Zitat baut auch Origenes seine Dreiteilung der Sinnebenen der Schrift auf (s. o.). 277
5.5 Schriftauslegung und Schriftgebrauch
239
Die Allegorie wird als Vorausabbild, das ein anderes, zukünftiges Geheimnis präfiguriert, dargestellt (ad allegoriam autem pertinent quae sequuntur, quia ea quae in ueritate gesta sunt alterius sacramenti formam praefigurasse dicun tur 404,20–22). Diese Methode der Auslegung wird mit den direkten Folgeversen (Gal 4,24 f.) illustriert: Die beiden Testamente sind in den beiden Frauen Abrahams vorabgebildet, dieser Vergleich wird um den Berg Sinai als Allegorie für das Gesetz und Jerusalem als Allegorie für das Verheißene, erweitert. Der Verweis, dass hier ein allegorisches Verständnis gemeint ist, findet sich bereits im biblischen Text: ἅτινά ἐστιν ἀλληγορούμενα / quae sunt per allegoriam dicta (Gal 4,24a).281 Als nächstes wird die Anagoge verhandelt, die noch einen Schritt weiter geht und nicht nur das Zukünftige auf Erden, sondern auch das Himmlische vorabbildet (anagoge uero de spiritalibus mysteriis ad sublimiora quaedam et sacratiora caelorum secreta conscendens 405,1–3). Abermals wird mit den direkt anschließenden Versen (Gal 4,26 f.), die sich nun auf die himmlische Stadt Jerusalem – der wie Sarah die Kinder gemäß der Verheißung ‚geboren‘ werden – argumentiert. Deutlich praktischer orientiert ist hingegen der vierte und letzte Schriftsinn, die Tropologie. Sie dient der moralischen Reinigung und zielt auf das konkrete Handeln desjenigen, der sie entschlüsselt (tropologia est moralis explanatio ad emundationem uitae et instructionem pertinens actualem, uelut si haec eadem duo testamenta intellegamus πρακτικὴν et theoreticam disciplinam 405,8–11). Das Beispiel nimmt keine weiteren Verse des Galaterbriefs auf, sondern bezieht sich summierend auf das zuvor Dargestellte: Hagar und Sarah, Gesetz und Verheißung, Sinai und Zion sind – bei allen aufgezeigten Spielarten – im Grunde ‚nur‘ Umschreibungen für die beiden Stufen der scientia spiritalis, für πρακτική und θεωρητική. Weiter erläutert Cassian, dass Jerusalem, der in den drei Beispielen für ein geistliches Verständnis der Schrift angeführte Vergleichspunkt, stets verinnerlicht, als Seele des Menschen, verstanden werden könne (uel certe Hierusalem aut Sion animam hominis uelimus accipere 405,11 f.). Und obwohl soeben eine vierfache Unterteilung der Schriftsinne vorgenommen wurde, fließen die vier verschieden Aspekte am Ende doch zu einem gemeinsamen, umfassenden Verständnis zusammen (igitur praedictae quattuor figurae in unum ita, si uolumus, confluunt, ut una atque eadem Hierusalem quadrifarie possit intellegi 405,13–15). Das heißt, dass jegliche Schriftauslegung in einem anderen als dem strikt historischen Sinn der Beschreibung der Seele bzw. dem Aufstieg des Inneren Menschen und damit dem Hauptanliegen der Collationes dient. Oder anders formuliert: 281 Dass Cassian zur Illustration seiner Aussage ein biblisches Beispiel bemüht, das selbst schon mit dem Begriff der Allegorie (ohne diese in Gänze auszuführen) argumentiert, kann als Versuch, seine Darstellung biblisch zu begründen und zu rechtfertigen, gesehen werden (vgl. Stewart 1998, 94).
240
5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
Monastische Bildung im Sinne der Collationes ist unmittelbar mit dem Wissen um geistige Schriftauslegung verbunden. Auf diese erste Entfaltung eines vierfachen Schriftsinnes anhand von Gal 4,22–27 folgt eine analoge Darstellung, die die Bedeutung der vier Schriftsinne an der Stadt Jerusalem noch einmal expliziert: „…sodass wir ein und dasselbe Jerusalem vierfach auffassen können: Entsprechend dem historischen Sinn als die Stadt der Juden, entsprechend der Allegorie als Kirche Christi, entsprechend der Anagoge als jene himmlische Stadt, ‚die unser aller Mutter ist‘ (Gal 4,26), entsprechend der Tropologie als Seele des Menschen, die des Öfteren unter diesem Namen vom Herrn [entweder gemahnt oder gelobt wird].“282
Hierauf folgt mit Hilfe von 1Kor 14,6 die Begründung dafür, dass es genau vier – nicht etwa drei oder fünf – Schriftsinne geben muss. In diesem Zitat benennt Paulus gegenüber der Gemeinde von Korinth vier Modi der Mitteilung religiösen – um es mit Cassian zu sagen: geistlichen – Wissens: Offenbarung, Erkenntnis, Prophetie und Lehre. Außerhalb dieser vier ist es nicht möglich, nachvollziehbar von Gott zu den Menschen zu sprechen, alles andere würde als Zungenrede missverstanden werden. Dabei wird die Offenbarung der Allegorie zugeordnet (reuelatio namque ad allegoriam pertinet 405,24 f.), das Wissen der Tropologie (scientia uero, quae similiter ab apostolo memoratur, tropologia est 406,6 f.) die Prophetie der Anagoge (item prophetia, quam tertio apostolus intulit loco, anago gen sonat 406,12 f.) und schließlich die Lehre der historischen Auslegung (doc trina uero simplicem historicae expositionis ordinem pandit 406,26 f.). Es fällt auf, dass in dieser Erläuterung der vier Schriftsinne entlang von 1Kor 14,6 erneut Erklärungen der vier Methodenschritte begegnen, die die zuvor genannten nicht unbedingt ergänzen oder weiterführen, sondern vielmehr in anderen Worten wiederholen oder abwandeln. Im Blick auf die Allegorie wird hervorgehoben, dass ein tatsächliches Ereignis (des Alten Testaments) das Vorabbild (praefigura tio 406,4 f.) eines zukünftigen (des Neuen Testaments) beinhaltet. Die Tropologie wird nun – noch enger als zuvor angedeutet – mit der Gabe der discretio (406,8; s. 5.1) verbunden. Die Schrift weist, richtig verstanden, im Zweifel den Weg der rechten Unterscheidung und wird damit grundlegend für die monastische Existenz. Die Anagoge wird auf das Unsichtbare und Zukünftige (invisibilis ac futura 406,14) übertragen, während zuvor himmlische und heilige Geheimnisse stärker betont wurden. Als Beispiel wird hier – expliziter als zuvor durch die Auslegung von Jerusalem als himmlische Stadt – auf die Auferstehung der Toten, wie sie in 1T hess 4,12–15 beschrieben ist, rekurriert. Dieses biblische Beispiel wird abschließend jedoch nicht etwa als Verheißung o.Ä., sondern als Ermahnung 282 Ziegler 2014, 144; ut una atque eadem Hierusalem quadrifarie possit intellegi: se cundum historiam ciuitas Iudaeorum, secundum allegoriam ecclesia Christi, secundum ana gogen ciuitas dei illa caelestis, quae est mater omnium nostrum, secundum tropologiam anima hominis, quae frequenter hoc nomine aut increpatur aut laudatur a domino (405,13–20).
241
5.5 Schriftauslegung und Schriftgebrauch
bezeichnet (qua exhortationis specie anagoges figura praefertur 406,25 f.). Recht knapp wird zuletzt der historische Sinn, der keinen tieferen Sinn als den, der in den Worten enthalten ist (in qua nullus occultior intellectus nisi qui uerbis resonat continetur 406,27–407,1), besitzt, thematisiert. Neben zwei neutestamentlichen Belegen, die um die Auferstehung und das Erlösungshandeln Christi kreisen, wird hier beispielhaft auf Dtn 6,4, das Sch‘ma Israel, Bezug genommen. Damit kann der Bogen zurück zu coll. 8,3 geschlagen werden, wo eben diese Stelle als Exempel der Literalsinns präsentiert wird. Liest man nun die beiden bis hierher näher betrachteten Stellen coll. 8,3 f. und coll. 14,8.10 f. nebeneinander, zeigen sich vier Varianten, wie der Schrift vier Sinne bzw. Verständnisebenen beizumessen sind: Coll. 8,3
Coll. 14,8a
Coll. 14,8b
Coll. 14,8c
Literalsinn
Historischer Sinn Historischer Sinn Allegorie (Gal 4,22 f.) (Jerusalem als Stadt der (1Kor 14,6: revelatio) Juden)
Allegorie
Allegorie (Gal 4,24 f.)
Allegorie Tropologie (Jerusalem als Vorab- (1Kor 14,6: scientia) bild der Kirche Christi)
Doppelsinn (Literal- Anagoge sinn & Allegorie) (Gal 4,26 f.)
Anagoge (Jerusalem als himm lische Stadt)
Historischer Sinn
Tropologie Historischer Sinn (Jerusalem als Seele des (1Kor 14,6: doctrina) Menschen)
Tropologie (Gal 4,22–27)
Anagoge (1Kor 14,6: prophetia)
Cassian bietet in coll. 14,8 also in einem dreifachen Anlauf eine systematisierte und schematisierte Aufgliederung der θεωρητική. Dabei bezieht er sich auf zwei Passagen aus den paulinischen Briefen (Gal 4,22–27 und 1Kor 14,6) und das Bild der Stadt Jerusalem, das lose an die Galaterpassage anschließt, aber nicht konkret an einen Vers oder eine Perikope gebunden ist. Betrachtet man die drei Aufschlüsselungen der Schriftsinne, sticht die Tropologie, der moralische Sinn, innerhalb der drei geistigen Sinne stets ein wenig hervor, sie scheint noch wichtiger für die monastische Entwicklung zu sein als Allegorie und Anagoge. Während diese beiden allgemein auf die Entwicklung der Kirche bzw. der Menschheit bezogen sind, verweist die Tropologie auf die individuelle, innere Entwicklung des Einzelnen. So klappt die Tropologie in den ersten beiden Beispielen (Gal 4,22–27 und Jerusalem) quasi summierend nach, indem sie sich auf die drei zuvor zitierten Passagen bezieht und in diesen gemeinsam eine Anleitung zum Handeln (instructio pertinens actualis 405,9) entdecken will. Auch die Illustra-
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
tion des vierfachen Schriftsinnes durch das Beispiel der Stadt Jerusalem endet nicht etwa beim Höchsten, bei den in der Anagoge enthaltenen himmlischen Geheimnissen, sondern bei der Seele des Menschen. Anders ordnet der dritte Argumentationsgang die Schriftsinne an, hier erscheint die Tropologie an zweiter Stelle, verbunden mit dem Begriff scientia. Dieses Stichwort lässt überlegen, ob Cassian den Leitbegriff der 14. Collatio – scientia spiritalis – möglicherweise aus 1Kor 14,6 bezieht, wodurch eine enge Verknüpfung seines Gesamtanliegens mit der Tropologie gegeben wäre.283 5.5.3 Schriftauslegung und Schriftgebrauch in den Collationes abseits eines mehrfachen Schriftsinnes Wie oben bereits erläutert wurde, handelt es sich bei Cassians Konzept eines vierfachen Schriftsinnes (coll. 14,8) und dessen Vorbereitung in Form eines zweifachen Schriftsinnes (coll. 8,3) um zwar prominente, aber dennoch innerhalb der Collationes kaum weiterverfolgte Konzepte. Statt einer konsequenten Umsetzung eines mehrfachen Schriftsinnes nutzt Cassian die Heilige Schrift durch die Collationes hindurch in großer pädagogischer, illustrativer und argumentativer Vielfalt. Dass es hierbei um viel mehr als um die korrekte Anwendung eines bestimmten Methodenkanons geht, macht C. J. Kelly deutlich: „His Conferences is an exercise in patristic exegesis that affirms the possibility of the monk dwelling in the scriptures, and the scriptures in him, in the sense that the monk’s life becomes the hermeneutical medium for understanding the text“284
Diese Definition von Cassians Schriftgebrauch erinnert stark an das unter 5.5.1 Skizzierte. C. J. Kelly hebt hier zudem deutlich hervor, wie eng diese ganzheitliche Art, in der der Mönch mit der Schrift umzugehen lernen soll, mit den Konzepten der Erfahrung (s. 5.4) und der mimesis, der Imitation eines Vorbildes (s. 5.3), verbunden ist.285 Seine Untersuchung zu Cassians Schriftgebrauch nimmt C. J. Kelly an vier mehr oder weniger konkreten Beispielen286 vor, die nachfolgend – nach einem vergleichenden Blick auf die Apophthegmata Patrum –, um Erkenntnisse aus der vorliegenden Untersuchung ergänzt, dargestellt werden. Der Fragestellung, die es hier im Blick auf Johannes Cassians Collationes Pa trum zu beantworten gilt, ist P. Rönnegård bereits im Blick auf die Apophtheg mata Patrum nachgegangen.287 Und auch, wenn es sich bei Cassians Collationes 283
Eine Sonderrolle der Tropologie als „der ‚geistige Sinn‘ par excellence“ hebt auch de Lubac 1993, 329 f. hervor. 284 Kelly 2012, 3. 285 Vgl. Kelly 2012, 3. 286 Maria und Martha; Hiob als Doppelrechtshänder; Abraham und Mose; Propheten, Psalmen und Proverbien (vgl. Kelly 2012, iii). 287 Rönnegård 2010.
5.5 Schriftauslegung und Schriftgebrauch
243
um eine Gattung handelt, die an die Apophthegmata allenfalls angelehnt ist und diese stark erweitert (s. 2.3.2.2), ist seine Unterscheidung verschiedener Arten des Schriftgebrauchs durchaus instruktiv für ein vertieftes Verständnis der Anwendung der Schrift in den Collationes: „I group the techniques of contextualizing into three main categories: (1) connecting the biblical text to an external referent, (2) adaptions and focalizations of the Bible text it self, (3) connecting biblical texts to each other. … Biblical material can be the very start ing point of an explanation, a form of ‚exegesis‘; it can be introduced as a support for teachings, a form of ‚proof-text‘; it can also be placed as an image in the saying, i.e. an ‚illustrative‘ use; finally the Bible may hover more in the background as a text which is in some way imitated in the apophthegmata, where the biblical material has a literary ‚mimetic‘ function of being something to be imitated. In most of these ways of using Scripture there is a tendency to use the Bible as a common book of images. T hese connections and correspondences between the Bible text and something relevant to the context of the reading community had at something to be ‚seen‘, rather than ‚understood‘. … So, in Apophthegmata Patrum, the Bible is often treated more as a pedagogical aid than as a text to be interpreted, and that in a very creative manner.“288
Bemerkenswert ist hier besonders die Spannweite zwischen verschiedenen Graden der (eher rationalen) Schriftauslegung und des (eher emotionalen) Schriftgebrauch, die P. Rönnegård herausarbeitet. Von dieser weitgefächerten, jedoch allgemein gehaltenen Beobachtung ausgehend ist nun der Blick nun auf die vier von C. J. Kelly vorgeschlagenen Beispiele (s. o.) zu lenken:289 Die Perikope von Maria und Martha wird in coll. 1,8 herangezogen, um die Bedeutung des Wissens um das erste und das letzte Ziel des Mönchtums zu verdeutlichen (s. 6.1). Martha symbolisiert hier die uita actualis, der zwar durchaus ein gewisser Wert beigemessen wird, die aber im Unterschied zu der durch Maria vertretenen uita contemplatiua auf die Endlichkeit des Diesseits beschränkt bleibt. Cassian selbst bezeichnet diese Art des Schriftgebrauchs als die Auslegung einer figura (14,23). Versucht man, einen der von P. Rönnegård definierten Schriftgebräuche zuzuordnen, handelt es sich hierbei entweder um einen „proof-text“ oder einen illustrativen Gebrauch (s. o.). Cassian lässt Abbas Moyses zunächst über sieben Kapitel im Gespräch mit seinen Schülern ein Konzept (erstes und letztes Ziel des Mönchtums) erarbeiten, bevor dessen Gültigkeit durch eine biblische Perikope sowohl unterstrichen als auch theologisch vertieft wird.290 288
Rönnegård 2010, 183 f. Jeweils in Klammern wird auf das Kapitel der vorliegenden Untersuchung verwiesen, in dem das Beispiel, das hier ausschließlich im Blick auf den vorliegenden Schriftgebrauch untersucht wird, theologisch sowie in Hinsicht auf seinen Aussagegehalt zum T hema ‚Monastische Bildung‘ betrachtet wird. 290 Diese Art des Schriftgebrauchs vermutet auch C. J. Kelly, wenn auch mit anderen Begrifflichkeiten argumentierend: „Within his framework, the examples of the two women emphasize the key notions of caritas (love), puritas cordis (purity of heart), and theoria (contemplation).“ (Kelly 2012, 18). 289
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
Durch die Bezogenheit auf das konkrete Leben des Mönchs wird deutlich, dass es sich hierbei keinesfalls um eine Auslegung im historischen oder im Literalsinn handelt, sondern dass der geistige Sinn zur Anwendung kommt. Laut C. J. Kelly handelt es sich um eine „allegorical interpretation“291, die m. E. jedoch auch anagogische (Verweis auf das höchste Ziel, das ewige Leben) und tropologische Elemente (Gestaltung des Lebens, Aufruf zur Herzensreinheit) enthält. Hiob als Exempel eines prototypischen Doppelrechtshänders wird in coll. 6,10 präsentiert (s. 4.1.2): Anders als bei dem vorherigen Beispiel handelt es sich hier nicht um die Auslegung einer feststehenden figura, sondern um die Interpretation einer biblischen Figur (Hiob) mit Hilfe eines Begriffes, der aus einem ganz anderen biblischen Kontext stammt (ἀμφοτεροδέξιον, Ri 3,15 f. LXX). Hierbei handelt es sich eindeutig um die dritte durch P. Rönnegård definierte Kategorie: die Verknüpfung verschiedener biblischer Texte zwecks gegenseitiger Auslegung, eine Form der „Intertextual exegesis“292. Dieser Beobachtung stimmt C. J. Kelly zu,293 bezeichnet die Art der Auslegung allerdings auch als „mimetic“294: Er argumentiert, dass Hiobs Anfechtung, unter der er trotz allem die Pflege des Inneren Menschen aufrecht erhält, einem jeden Mönch, der sich ebenfalls angefochten fühlt, als nachahmenswertes Beispiel dienen kann.295 Damit geht diese Art des Schriftgebrauchs über das zuvor genannte Beispiel hinaus: Während Martha und Maria v.a. symbolhaft die großen Schritte im Leben des Mönchs illustrieren, wird Hiob als konkretes und zu imitierendes Vorbild empfohlen.296 Als drittes Beispiel nennt C. J. Kelly Abraham und Mose in verschiedenen Zusammenhängen, nachfolgend wird besonders eine Zuspitzung dieser T hematik in Gestalt der Israel-Metaphorik in coll. 5 zu betrachten sein (s. 4.2.2). In coll. 5,15–19.22–24 werden verschiedene Aspekte der Landverheißung und der Wüstenwanderung aus Genesis und Deuteronomium herangezogen, um den Kampf gegen die Laster und die damit verbundene Verheißung der Tugenden zu illustrieren. Da bei den Beispielen aus coll. 5 weniger eine Person als Illustration oder Vorbild im Zentrum steht – Abraham und Mose schwingen hier vielmehr als Empfänger von Verheißungen, die sodann auf den Weg des einzelnen Mön291
Kelly 2012. 23. Rönnegård 2010, 152 mit Verweis auf E. Clark, die diesen Begriff geprägt hat. 293 Vgl. Kelly 2012, 49–56. 294 Kelly 2012, 56. 295 Vgl. Kelly 2012, 56–59. 296 Diese ersten beiden genannten Beispiele sind exemplarisch für die vielfältige Art und Weise, in der Cassian mit Hilfe biblischer Figuren erzählt. Hierbei handelt es sich, wie P. Rönnegård zeigt, einerseits um eine monastische Tradition, andererseits kann als weitere Quelle für das in den Collationes praktizierte ‚Erzählen mit Hilfe biblischer Figuren‘ Cas sians Mentor während seiner Zeit in Konstantinopel, Johannes Chrysostomus, gelten: Wie unter 2.2.4 gezeigt wurde, war es zentrales Element seiner Predigten, biblische Gestalten narrativ zum Leben zu erwecken und sie so Antworten auf konkrete Probleme geben zu lassen (vgl. Mühlenberg 1999, 477, der darauf verweist, dass die Intention des Chrysostomus dabei in erster Line als moralisch, d. h. als tropologisch, zu verstehen sei). 292
5.5 Schriftauslegung und Schriftgebrauch
245
ches bezogen werden, mit –, handelt es sich bei dieser Reihe von Beispielen um die zweite durch P. Rönnegård definierte Kategorie: „adaptions and focalizations of the Bible text itself“ (s. o.). Dabei wird nicht nur der „narrative frame“297 vom durch Fremdvölker bedrohten Israel zum durch Laster bedrohten Mönch gewechselt, sondern auch ein ganz bestimmtes Detail dieser Verheißung wird – im Vergleich zur ursprünglichen biblischen Erzählung – überproportional intensiv fokussiert.298 Weisheitliche und prophetische Zitate, das vierte Beispiel, das C. J. Kelly anführt, begegnen in allen Collationes mit einer „dizzling frequency“299. Anders als bei den drei vorherigen Beispielen stehen dann, wenn Psalmen, Prophetenworte oder Proverbien zitiert werden, keine konkreten Figuren (wie Martha, Maria oder Hiob) zur Illustration oder zur empfohlenen Nachahmung im Fokus und auch kein vielschichtiger, an verschiedene Punkte anknüpfender Vergleich von zwei Bildhälften, so wie bei der Israelmetaphorik.300 Vielmehr scheint es, als versuche Cassian eine Analogie zwischen dem idealen monastischen Altvater / Lehrer und dem Propheten zu schaffen: Beide sprechen ein in sich geschlossenes Wort in eine bestimmte Situation hinein, das vom Schüler im Herzen zu bewegen und so zu erfassen – nicht etwa in einem mehrfachen Schriftsinne auszulegen – ist.301 Psalmen hatten in der monastischen Spiritualität ebenfalls eine herausragende Position inne, sie dienten als Grundlage sowohl der meditatio als auch der oratio und wurden idealerweise zum Gegenstand des immerwährenden Gebets (s. 5.6). Dabei wurden sie – ähnlich wie die Prophetenworte – ebenfalls nicht kunstfertig ausgelegt, sondern vermeintlich unmittelbar auf die konkrete Lebenssituation des (betenden) Mönches bezogen. Ein Beispiel für den exemplarischen Gebrauch von Proverbien im Argumentationsverlauf der Collationes findet sich in diesem Kapitel (s. o.): Prov 22,20 wird sowohl von Origenes als auch von Cassian genutzt, um eine Dreiteilung der (geistigen) Schriftsinne zu begründen. Hier ist für den Moment weniger die Art, wie mit einem Schriftwort autorisierend argumentiert wird, von Interesse, sondern vielmehr die Tatsache, dass es offensichtlich kursierende Deutungen bestimmter Schriftworte gab, die innerhalb bestimmter Traditionen weitergereicht wurden, ohne dass das Schriftwort selbst erneut (eigenständig) ausgelegt oder auf eine konkrete Situation bezogen wurde. 297
Rönnegård 2010, 149. Rönnegård 2010, 148. Die Begrifflichkeiten, die P. Rönnegård hier wählt, um seine Überlegungen zum Schriftgebrauch in den Apophthegmata Patrum zu verdeutlichen („focalization“, „narrative frame“) erinnern stark an die unter 3.3 formulierten Überlegungen zu einer narrativen Analyse der Collationes und stärken die dort aufgestellte T hese, dass es sich bei ihnen um eine – wie sich nun zeigt – bis ins Detail absichtsvoll komponierte (Lehr-)Erzählung handelt. 299 Kelly 2012, 87. 300 Vgl. Kelly 2012, 87. 301 Vgl. Kelly 2012, 87 f.92–94. 298 Vgl.
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
Diese vier Beispiele / Beispielbereiche können selbstverständlich kein umfassendes Bild all der zahllosen Belege, Illustrationen, Exempel usw., die Cassian im Laufe der Collationes aus der Schrift zieht, zeichnen,302 sie geben lediglich einen Eindruck davon, wie vielfältig Cassians Schriftgebrauch ist. Wohl aber konnte bereits anhand der wenigen Beispiele gezeigt werden, dass Schriftgebrauch in den Collationes weit mehr als Schriftauslegung in einem zwei- oder vierfachen Sinne ist. Anders als die klare Untergliederung in die Schriftsinne ist der Schriftgebrauch – abgesehen vom Psalmgebet – nicht explizit Teil des monastischen Bildungskanons, unterstützt, bestätigt und illustriert diesen allerdings beständig, sodass er weniger als T hema denn als angewandte Methode monastischer Bildung in den und durch die Collationes gelten kann. Die wiederholten Verweise auf die Arbeit P. Rönnegårds haben gezeigt, dass Cassians angewandter Schriftgebrauch – anders als die unter 5.5.2 präsentierten, durch Cassian gelehrten Schriftsinne – deutliche Parallelen zum Schriftgebrauch innerhalb der Apophthegmata Patrum aufweist. Dies unterstreicht, dass Cassian sowohl mit traditionell monastischen als auch mit stärker an paganer Bildung orientierten Methoden des Schriftgebrauchs und der Schriftauslegung vertraut war und aus all diesen Traditionen, die ihn geprägt haben, eine höchst eigene, vielfältige Methodik und Erzähltechnik entwickelt. Insgesamt hat sich gezeigt, dass – egal welche Spielart des Schriftgebrauchs gerade zur Anwendung kommt – der Fokus stets auf den (Aufstieg des) Inneren Menschen gerichtet ist. Diese Beobachtung stützt die unter 5.5.2.2 entwickelte T hese, dass für Cassian der tropologische Aspekt – die Formung des Selbst betreffend –, den es in der Schrift zu entdecken gibt, am bedeutendsten ist. Nun wird deutlich, dass Schriftauslegung in einem mehrfachen Sinne und Schriftgebrauch in vielfältiger Gestalt keine Gegensätze, sondern vielmehr unterschiedliche Ausprägungen derselben Grundüberzeugung sind: Beide Arten, die Schrift in das monastische Leben einzubinden, beruhen auf der Annahme, in ihr alles, was der Mönch für die Gestaltung seines Lebens braucht, finden zu können. Während Cassian mit Hilfe des Schriftgebrauchs diese Annahme vielgestaltig umsetzt, um seinen Adressaten verschiedene Aspekte des monastischen Lebens plausibel und mit Hilfe der Autorität der Schrift nahezubringen, gibt er seinen Adressaten mit den Schriftsinnen ein Hilfsmittel in die Hand, um selbst Schlüsse aus der Schrift zu ziehen, die über die in den Collationes verhandelten T hemen hinausgehen.
302 Das wäre – wie P. Rönnegårds Analyse der Apophthegmata Patrum eindrücklich zeigt – das T hema einer eigenständigen Arbeit.
5.5 Schriftauslegung und Schriftgebrauch
247
5.5.4 Die Bedeutung von Schriftauslegung und Schriftgebrauch für die monastische Bildung Fragen nach Schriftauslegung und Schriftgebrauch in Johannes Cassians Colla tiones Patrum führen in das Zentrum seines Bildungskonzeptes. Das gilt sowohl für die Art, wie Cassian lehrt, als auch dafür, was er lehrt. Unter 5.5.3 wurde gezeigt, dass Cassian beständig mit der Bibel argumentiert und illustriert, um seine Vorstellungen von monastischer Bildung zu legitimieren und anschaulich zu machen. Damit setzt er nahezu vorbildlich um, was D. Burton-Christie so prägnant im Blick auf die Anfänge des östlichen Mönchtums formuliert hat (s. 5.5.1): „Authoritative words come from two sources – Scripture and the elders“303. Nicht nur die Altväter kommen in den Collationes zu Wort, auch ihr vielfältiger Gebrauch der Schrift wird durch Cassian präsentiert und vermittelt. Dieser Art traditionell-monastischer Kommunikation sind jedoch, wie H. Dörries nachdrücklich gezeigt hat (s. 5.5.1), durch Form und Gattung der Collationes Grenzen gesetzt: Ursprünglich erhält das durch den Altvater vermittelte Schriftwort seine immense Bedeutung eben dadurch, dass es dem Mönch in einer konkreten Situation, auf eine individuelle Frage hin, durch den Altvater zugesprochen wird. Dieser Diskrepanz von zu vermittelndem Ideal und in Südgallien gegebener Realität begegnet Cassian (u.a.) mit der Integration eines mehrfachen Schrift sinnes in sein monastisches Bildungskonzept. Wie unter 5.5.2 gezeigt wurde, entlehnt er dies nicht nur aus einer nicht primär monastischen Tradition (Origenes, Augustin), sondern nimmt auch bewusst Bezug auf Intellekt und Vorbildung seiner Adressaten. Dieses Vorgehen ist nicht nur bezeichnend für Cassians integrativen und adressatenorientierten Umgang mit verschiedenen, teils sogar widersprüchlichen Traditionen, sondern macht auch deutlich, wie er den im vorherigen Absatz markierten Schwierigkeiten begegnet: Er stellt mit den Collatio nes nicht nur fertige (und stark erweiterte) Altväterlogien zu verschiedenen T hemen zur Verfügung, sondern gibt seinen Adressaten mit der Lehre eines mehrfachen Schriftsinnes zudem ein Werkzeug an die Hand, mit dem es ihnen möglich ist, bei Bedarf eine eigene Antwort aus der Schrift zu extrahieren.304 Schriftgebrauch und Schriftauslegung zeigen sich in den Collationes nicht als konkurrierende Konzepte – an denen, wie unter 5.5.1 gezeigt, Konflikte über die Bedeutung von Bildung für das Mönchtum entbrennen können –, sondern erscheinen vielmehr als zwei Seiten der Medaille, die die unhintergehbare Autorität der Schrift in allen Fragen monastischen Glaubens und Lebens abbilden (5.5.3). Anders als die Altväter – die andere große Autorität des frühen Mönchtums – ist die Schrift durchaus portabel und auf beiden Seiten des Mittelmeeres 303
304
Burton-Christie 1997, 424. Kelly 2012, 6 f.
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
verfügbar.305 So scheint es, dass Cassian durch sein pädagogisch-narratives Vorgehen, mit dem er zum einen den Umgang der Altväter mit der Schrift präsentiert, aber zum anderen zu einer eigenständigen Fortführung dieser Tradition anleitet, in eindrücklicher Weise Zeugnis von der Skripturalisierung lebendiger Autoritäten, einem in der Spätantike häufig zu beobachtenden Prozess, gibt und so gewissermaßen den Weg für das Mönchtum als Bildungsbewegung ebnet.306 5.6 Gebet Das Gebet – wie Cassian es in den Collationes darstellt – ist eng verbunden mit Wegen und Zielen monastischer Bildung. Es fußt auf dem ersten Ziel, der Herzensreinheit, und ermöglicht, gemeinsam mit einem Verständnis der Heiligen Schrift in ihrem geistigen Sinne, das letzte Ziel, die Schau Gottes bzw. den Eintritt ins Gottesreich (s. 6.1). Genau wie bei der Schriftauslegung handelt es sich beim Gebet um eine Tätigkeit, die den monastischen Fortschritt vorantreibt und gleichzeitig voraussetzt und die, anders als die unter 6. beschriebenen Bilder und Konzepte monastischer (Selbst-)Bildung, konkret angeleitet und methodisch fundiert dargestellt werden kann. Dies gilt zumindest für den Beginn des Gebets, der in der Verantwortung des Betenden liegt. Späterhin beschreibt Cassian ein „feuriges Gebet“, das auf eine höhere Stufe führt (igneam … orationem gradu eminentiore perducit 272,20–22) und sowohl dem Bewusstsein als auch dem aktiven Einfluss des Betenden entzogen ist. Eine solche Dualität von Gebetsformen – hier jedoch auf das immerwährende, nicht auf das feurige Gebet bezogen –, die Cassian selbst bereits im ersten Prolog benennt (de canonicarum orationum modo ad illius quam apostolus praecipit orationis perpetuae 4,15–17), lässt das Gebet in eine Scharnierstellung zwischen klar umrissenen Prozessen monastischer Bildung (5.) und abstrakteren Bildungskonzepten (6.) treten. Innerhalb der Collationes wird das Gebet in coll. 9 und coll. 10 thematisiert. Beide sind Abbas Isaak zugeschrieben und nehmen direkten Bezug auf Passagen der Instituta. Dort wurde, so heißt es in coll. 9,1, ein Versprechen gegeben, das nun eingelöst werden soll. Verwiesen wird so auf inst. 2,9:307 „Nun führt uns die Ordnung der ‚Einrichtungen‘ von selbst zur Art und Weise der kanonischen Gebetszeiten. Eine ausführliche Behandlung haben wir uns für die ‚Unterredungen der Väter‘ vorbehalten, und dort werden wir näher darüber sprechen, wenn wir 305
Vgl. Kelly 2012, 97–100 zum „portable Abbas“. Vgl. Stroumsa 2008, 76 f. G. Stroumsa beschreibt hier das Phänomen, dass sich in der christlichen Spätantike der ‚Trend‘ aus primär praktischen Gründen der Verbreitung vom gesprochenen zum geschriebenen Wort wendete. Schriftlichkeit diente dabei nicht länger nur der Verbreitung von Wissen, sondern Lesen (und Schreiben) wurde zunehmend auch in die (monastische) Frömmigkeitspraxis integriert. 307 Vgl. Ramsey 1997, 358; Ziegler 2011, 333 verweist irrtümlich auf inst. 9,19, ein Kapitel, das es gar nicht gibt. 306
5.6 Gebet
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mit ihren eigenen Worten die Art und Inständigkeit ihres Betens darzulegen beginnen. Trotzdem erachte ich es für nötig, an dieser Stelle und diesem Punkt des Berichtes – da sich gleichsam die Gelegenheit bietet – schon jetzt ein wenig davon vorzutragen. Jetzt formen wir die äußere Haltung des Menschen und legen dabei gleichsam die Fundamente für das Gebet. Mit geringerer Mühe werden wir dann, wenn wir vom inneren Zustand des Menschen zu handeln beginnen, auch die letzte Vollendung des Gebets aufführen können.“308
Dieses Zitat zeigt nicht nur, dass die Collationes bei Abfassung der Instituta bereits im Blick waren, sondern auch, dass – anders als der erste Prolog es vermuten lässt – in den Collationes sowohl das kanonische Tagzeitengebet als auch das immerwährende Gebet in den Blick genommen werden soll. Während die Instituta jedoch die äußere Form des Gebets, z. B. die Zuordnung einzelner Psalmen zu den Tageszeiten (inst. 3), thematisieren, rückt in den Collationes der Wert des Gebets für den Inneren Menschen (s. 4.1.1) in das Blickfeld: Der Gipfel (fastigium), also das Ziel bzw. der Zweck des Gebets, soll nun fokussiert werden.309 Konkret wird in das T hema Gebet allerdings erst in coll. 9,8 eingestiegen, zuvor lässt Cassian Abbas Isaak einige allgemeinere Überlegungen zu Ziel und Aufbau des monastischen Lebens formulieren (s. 6.3). Diesem Einstieg geht eine Frage des Gemanus in coll. 9,7 voraus, der wissen möchte, welche Eigenschaften das Gebet hat, was zu beten ist und wie Gebet ohne Unterlass zu praktizieren ist.310 Diese Fragen geben zugleich die Gliederung des Restes der Colla tio an: Coll. 9,8–17 beschreibt in Anlehnung an 1Tim 2,1 vier Arten des Gebets (s. 5.6.1),311 coll. 9,18–24 untersucht die einzelnen Bitten des Vater Unser (s. 5.6.2) und coll. 9,25–36 nimmt schließlich das feurige Gebet in den Blick (s. 5.6.3). Auch coll. 10 beginnt nicht mit dem Gebet im engeren Sinne. Auch wenn – so die Rahmenerzählung und einige textinterne Verweise – coll. 10 direkt (auf Ebene der Erzählung: am Folgetag) an coll. 9 anschließt, wird zunächst (coll. 10,1–5) ein 308 Frank 1975, 136 f.; Johannes Cassian, inst. 2,9 (CSEL 17, 24,9–19 Petschenig / Kreuz): Et quia nos ad orationum canonicarum modum consequenter institutorum ordo prouexit, quarum pleniorem tractatum licet in conlationes seniorum reseruemus ibidem plenius di gesturi, cum de earum qualitate seu iugitate uerbis eorum disserere coeperimus, etiam in praesenti pauca praestringere, ut formantes interim exterioris hominis motus et uelut quae dam nunc orationis fundamenta iacientes minore post haec labore, cum coeperimus de statu interioris hominis disputare, orationum quoque eius fastigia construamus. 309 Vereinfacht gesagt steht nun also die Frage des „warum / wozu“, nicht länger des „wie“, im Mittelpunkt. Dies lässt – im Blick auf moderne Bildungstheorien – stark an T. Jenert denken, der mit diesen Fragegestellungen die verschiedenen Ebenen des Reflexionsprozesses verbindet (s. 3.1.2.3). 310 et ideo primum de qualitate eius desideramus institui, id est qualis debeat emitti sem per oratio, deinde qualiter hanc eandem quaecumque est possidere uel exercere sine intermis sione possimus (258,21–24). 311 „So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen tue Bitte (δεήσεις), Gebet (προσευχάς), Fürbitte (ἐντεύξεις) und Danksagung (εὐχαριστίας) für alle Menschen.“ [Hervorhebungen DS].
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
T hema verhandelt, das auf den ersten Blick wenig mit dem Gebet als Methode und Praxis monastischer Bildung zu tun hat: Es wird der anthropomorphitische Streit thematisiert und davon ausgehend die Frage erörtert, ob Bildung dem Erreichen der höchsten Stufe monastischer Vollkommenheit eher zu- oder abträglich sei (s. 5.6.4, s. auch 2.2.2). Anschließend werden einige aus coll. 9 bekannte Überlegungen zu Sinn und Zweck des Gebets zugespitzt (s. 5.6.5), bevor in coll. 10,10 das an einen einzigen Psalmvers gekoppelte, immerwährende Gebet zur Sprache kommt (s. 5.6.6). Coll. 10 schließt mit Überlegungen, die Fragen des Schriftgebrauchs (s. 5.5) mit Fragen der Gebetspraxis verbinden (s. 5.6.7). Mit dem T hema Gebet schließt Cassian nicht nur den ersten Teilband der Collationes, sondern verhandelt auch eines der zentralsten T hemen des frühen Mönchtums.312 Die Grenzen zwischen (meditierendem) Schriftgebrauch (s. 5.5.1) und Gebet waren dabei fließend:313 „Die unablässige Rezitation der Heiligen Worte sollte die Seele in ein Klima, in eine Verfassung bringen, aus der dann das eigentliche Beten gleichsam spontan entspringen konnte.“314
D. Burton-Christie betont, dass es als sicherstes Mittel zur Abwehr von Dämonen und Lastern galt, beständig ein (betendes) Wort der Schrift oder zumindest ein an die Schrift angelehntes Wort in Mund und Geist zu führen.315 Von diesem individuellen, zeitlich und räumlich nicht gebundenen Gebet sind die Tagzeitengebete, wie Cassian sie vor allem in den Instituta beschreibt, zu unterscheiden: Hier bezieht er sich auf eine Praxis, deren Anfänge im pachomianischen Mönchtum zu suchen sind.316 Beide Ausprägungen des monastischen Gebets haben für Cassians Vorstellung eines idealen monastischen Lebens zentrale Bedeutung: Nicht nur bereitet und begleitet das individuelle Gebet den Geist des Mönches zu seinem individuellen Aufstieg, auch ist das gemeinsame Gebet elementar, um – sowohl durch Fürbitte als auch durch gemeinschaftliches Gebet – ein Umfeld zu konstituieren, in dem Gemeinschaft gelebt werden und so monastische Bildung erfolgen kann (s. 5.2).317
312 Auch zwei der theologischen Vorbilder / Lehrer Cassians – Origenes und Evagrius Ponticus (s. 2.2.2 und 2.2.3) – haben sich in intensiver Weise mit dem Gebet befasst (vgl. umfassend Munkholt Christensen 2019, Bunge 2010 und Harmless 2004, 350–354). Auf Parallelen wird in den nachfolgenden Teilkapiteln exemplarisch eingegangen. 313 Vgl. Stewart 1998, 101–103. 314 Bacht 1972, 261. H. Bacht verweist hier auch darauf, dass schon bei Cassian die ehemals strikte Trennung von meditatio und oratio verschwimmt, indem der Zusammenhang zwischen beiden betont wird. 315 Vgl. Burton-Christie 2001, 209–211. 316 Vgl. Stewart 1998, 103. 317 Vgl. Casiday 2007, 176–179.
5.6 Gebet
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5.6.1 Vier Arten des Gebets Bevor im ersten Abschnitt mit Hilfe des Zitates von 1Tim 2,1 die vier Kategorien eröffnet werden, nimmt coll. 9,8 einige Vorklärungen vor: So wird betont, dass keinerlei Gebet möglich sei, wenn nicht sowohl Reinheit des Geistes und der Seele als auch Erleuchtung durch den Heiligen Geist gegeben sind.318 Neben diesen Grundvoraussetzungen wird betont, dass die Art des Gebets immer vom Zustand der betenden Seele abhänge, dass also der Gemüts- bzw. Geisteszustand des Betenden unmittelbar zu einer bestimmten Form des Gebets und damit zu einer bestimmten Annäherung an Gott führe.319 Dies inkludiert, wie die angeführten Beispiele zeigen,320 die Aufforderung, die Suche nach Gott im Gebet bei sich selbst, bei dem Blick auf die eigene Verfassung, den eigenen monastischen Fortschritt, beginnen zu lassen. Coll. 9,9 thematisiert schließlich die vierfache Unterteilung des Gebetes nach Paulus. Neben der Sache ist interessant, dass Cassian Isaak hier davon sprechen lässt, dass diese Aussage des Apostels erforscht (indagare 260,8) und genau untersucht (perquirere 260,10) werden müsse. Selbst ein höchst spirituelles und verinnerlichtes Geschehen wie das Gebet lässt sich also mit Hilfe klarer Kategorien – die abermals die Vergleichbarkeit aller Wissenschaften mit dem Mönchtum (s. 3.1.1.1) betonen – erfassen und verständlich machen. Als weiterführende Frage wird formuliert, dass zunächst zu klären sei, ob Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung alle gemeinsam Teil ein und desselben Gebets sein könnten oder ob vielmehr davon auszugehen sei, dass sie immer abwechselnd vorgebracht werden müssten. Als dritte Option, die auf coll. 9,8 zurückgreift, wird vorgeschlagen, die Art des Gebets an Alter und Erfahrungsstand (secundum mensuram scilicet aeta tis suae, in quam unaquaeque mens per intentionis proficit industriam 260,17 f.) des Betenden festzumachen.321 318 Vniuersas orationum species absque ingenti cordis atque animae puritate et inlumina tione sancti spiritus arbitror conprehendi non posse (259,3–5). 319 secundum mensuram namque puritatis, in quam mens unaquaeque proficit et quali tatem status in quo uel ex accedentibus inclinatur uel per suam renouatur industriam, ipsae quoque momentis singulis reformantur: et idcirco uniformes orationes emitti semper a ne mine posse certissimum est (259,10–15). Diese Vorstellung wird bereits in coll. 9,2 vorbereitet, wo es heißt, dass es wichtig sei, Seele und Geist bereits vor dem Gebet in einen angemessenen Zustand zu versetzen. 320 Die möglichen Gemütszustände werden dabei paarweise angeordnet (Heiterkeit – Traurigkeit / Verzweiflung; durch geistigen Fortschritt gekräftigt – durch die Wucht der Kämpfe niedergeschlagen; abzielend auf Sündenvergebung – bittend um Gnade; in Angst vor dem Gericht – in Hoffnung auf das Zukünftige; aus Not / Gefahr heraus – aus Sicherheit / Ruhe heraus; bereits durch die Offenbarung himmlischer Geheimnisse erleuchtet – unfruchtbar / ausgetrocknet / tugendlos). 321 Sowohl die Definition der vier Arten des Gebets nach 1Tim 2,1 als auch die Betonung des Zusammenwirkens und einander Bedingens der vier Aspekte erinnert stark an Origenes, De orat 8,1–9,1 (Orig. WD 21, 128,16–132,18 von Stritzky); vgl. Stewart 1998, 106 f.
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
Auch coll. 9,10 beginnt stark methodologisch orientiert, indem eine klare Dreiteilung des im Folgenden Dargestellten beschrieben wird: Erstens sind die Begriffe an sich zu klären, dann die Frage, wie die Gebetsformen vorzubringen sind, und schließlich ist abermals die Rede davon, etwas zu erforschen (indagare 260,23), diesmal die exegetische Frage, weshalb Paulus die vier Arten des Gebetes so angeordnet haben mag. Diesem Vorsatz folgend stellen die nächsten vier Kapitel (coll. 9,11–14) die vier Arten des Gebets dar. Die erste, die Bitten (obsecrationes 261,3 f.), und die dritte, die Fürbitten (postulationes 262,6), werden dabei ausnehmend knapp besprochen: Über die Bitten ist lediglich zu erfahren, dass sie stets auf Vergebung für vergangene Vergehen und Sünden zielen. Über die Fürbitten heißt es nur, dass sie auch für andere vorzubringen seien. Ausführlicher werden hingegen zunächst die Gebete (coll. 9,12; orationes 261,7) besprochen: Sie werden durch die Begriffe ‚darbringen‘ (offerre 261,7) und ‚geloben‘ (uouere 261,7) näher bestimmt. Zudem wird anhand von Ps 115,16 (LLX) der griechische Begriff εὐχή (261,8) beleuchtet, der hier mit uotum (261,8) übersetzt wird. Solch eine aktiv-versprechende Komponente wird durch Koh 5,3322 noch verstärkt, indem mit Hilfe dieses Zitats herausgearbeitet wird, dass das geforderte Gelübde ohne zu zögern getätigt bzw. vollzogen werden soll. Diese Forderung bezieht Cassian in dreifacher Weise direkt auf das monastische Leben, dem dadurch als solchem eine andauernde, gebetsähnliche Funktion zugeschrieben wird: „Wir beten, wenn wir dieser Welt widersagen, und geloben, dass wir, allen Taten und allem Treiben der Welt gestorben, dem Herrn mit aller Spannkraft unseres Herzens dienen wollen. Wir beten, wenn wir geloben, weltliche Ehre zu verachten, irdische Schätze zu verschmähen, und dem Herrn mit einem Herzen, das bereit ist, sich wie ein Samenkorn aufbrechen zu lassen, und in der Armut des Geistes anhangen zu wollen. Wir beten, wenn wir versprechen, eine völlige reine Keuschheit des Körpers und unerschütterliche Geduld allezeit üben zu wollen, oder wenn wir geloben, aus unserem Herzen die Wurzel des Zornes oder der todbringenden Traurigkeit von Grund auf ausreißen zu wollen.“323
Wird so das monastische Leben an sich schon zum Gebet, wiegt ein Abfall umso schwerer, wie Cassian mit Koh 5,4324 bestätigt sieht.
322 „Wenn du Gott ein Gelübde machst, zögere nicht, es zu erfüllen, denn man hat kein Gefallen an Toren. Jedes Mal, wenn du gelobst, erfülle es!“ 323 Ziegler 2011, 279 (Hervorhebung DS); oramus, cum renuntiantes huic mundo spon demus nos mortificatos cunctis actibus et conuersationi mundanae tota cordis intentione domino seruituros. oramus, cum pollicemur saeculari honore contempto ac terrenis opibus spretis in omni contritione cordis ac paupertate spiritus nos domino cohaesuros. oramus, cum promittimus nos purissimam corporis castitatem seu inmobilem patientiam exhibituros esse perpetuo, uel cum de corde nostro radices irae siue tristitiae mortem operantis uouemus funditus eruendas (261,16–23). 324 „Besser ist es, für dich, nicht zu geloben, als zu geloben und nicht zu erfüllen.“
5.6 Gebet
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Coll. 9,14 thematisiert schließlich die vierte Form des Betens, die Danksagungen (gratiarum actiones 262,25 f.). Während die ersten drei Formen ihren Ausgang in der punktuellen (Für-)Bitte oder dem länger andauernden Gelübde beim Menschen nehmen und sich auf konkrete Dinge, wie begangene Vergehen oder das Versprechen einer grundsätzlichen Lebensausrichtung beziehen, ist die Danksagung davon unterschieden, indem sie Gott ein „mit Worten nicht zu erklärendes Außer-sich-Sein“325 darbringt. Diese begeisterte Entrückung kann im Blick auf Gottes Taten in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft eintreten. Die Danksagung wird oft als besonders gewinnbringend empfunden, da der Geist des Betenden bereits schaut, was den Heiligen für die Zukunft verheißen ist und so – auch wenn er es nicht selbst in Worte zu fassen vermag – große Freude empfindet. Coll. 9,15 hält fest, dass alle vier Arten des Gebets für alle Menschen nützlich und notwendig (utilis ac neccessarius 263,1) sein können. Jedoch ist jede der vier Formen für eine bestimmte Personengruppe besonders geeignet: Die Bitte für die Anfänger (incipientes 263,5), die noch besonders stark unter ihrer Verstrickung in Laster und Sünden leiden. Das Gebet für diejenigen, die durch das Streben nach den Tugenden bereits einen gewissen geistlichen Fortschritt vollzogen haben (illos qui in profectu iam spiritali adpetituque uirtutum quadam men tis sublimitate consistunt 263,6–8), die Fürbitte für diejenigen, die die Vollkommenheit ihres Gelübde und ihre große Nächstenliebe unter Beweis stellen wollen (eos qui perfectionem uotorum suorum operibus adinplentes intercedere pro aliis quoque consideratione fragilitatis eorum et caritatis studio prouocantur 263,8–11) und die Danksagung schließlich für solche, denen bereits der Dorn des Gewissens aus den Herzen gezogen wurde, sodass ihr Geist als vollständig rein und ihr Herz als entflammt gelten kann.326 Es mag schlicht der Herleitung der vier Arten des Gebets aus 1Tim 2,1 geschuldet sein – dennoch fällt auf, dass auch hier vier Level für Menschen / Betende / Lernende auf verschiedenen monastischen Niveaus formuliert werden, genau wie unter 5.5.2.2 in mehrfacher Weise für die Sinne der Heiligen Schrift dargestellt. Genau wie alle Schriftsinne in bestimmten Situationen einen gewissen Wert haben, so sind auch Bitte, Gebet / Gelübde und Fürbitte nicht zu verachten, das Ziel sollte jedoch immer ein Voranschreiten hin zur Danksagung sein 325 Ziegler 2011, 280; per ineffabiles excessus domino refert 262,15 f. Dass Cassian in seiner Darstellung des Gebets wiederholt auf Motive der Ekstase verweist, unterscheidet ihn deutlich von seinem, in anderen Aspekten des Gebets deutlicher hervortretenden, Vorbild Evagrius Ponticus. Die Entrückung stammt, ebenso wie die Feuer-Metaphorik (s. 6.1.2), eher aus der Tradition der Apophthegmata Patrum (vgl. Harmless 2004, 397; vgl. auch Stewart 1998, 117 f.). 326 illos qui iam poenali conscientiae spina de cordibus uulsa securi iam munificentias domini ac miserationes, quas uel in praeterito tribuit uel in praesenti largitur uel praeparat in futuro, mente purissima retractantes ad illam ignitam et quae ore hominum nec conprehendi nec exprimi potest orationem feruentissimo corde raptantur (263,11–17).
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
(coll. 9,16).327 Auf diese Feststellung folgt eine Erklärung, die auch für Anfänger verständlich sein soll (ut humilius et secundum incipientium mensuram loquar 264,10 f.). Auf der Ebene der Erzählung spricht dabei Isaak zu Cassian (jung) und Germanus, auf der Ebene der Narration ist darin aber auch eine Hinwendung des Autors zu seinen Adressaten zu sehen, der diesen wichtigen Punkt nun ein zweites Mal erklärt und so von allen verstanden wissen möchte. Inhaltlich bringt dieser zweite Anlauf einer Erklärung des Verhältnisses der vier Arten des Betens zueinander keine Neuerungen, wohl aber sprachlich: Die Rede ist von einem Schritt für Schritt Hindurchgelangen (peruenire 264,14; gradatim 264,15), sowie von prouecta (264,16), was sowohl einen zeitlichen Fortschritt als auch einen räumlichen Aufstieg beschreiben kann.328 Damit repräsentieren die vier Stufen des Gebets das Gesamtbild monastischen Fortschritts, das durch die Collationes hindurch in vielfältiger Weise gezeichnet wird: Immer steht ein kontrollierter Aufstieg durch ein vorgegebenes und mehrstufiges System im Zentrum der Argumentation. 5.6.2 Das Vater Unser Es folgt der Abschnitt zum Vater Unser (coll. 9,18–24). Hier ist für den an dieser Stelle zu untersuchenden Zusammenhang von klar umrissenen (Bildungs-) Prozessen vor allem von Interesse, dass die zuvor so definierte Viergestalt von Gebetsformen noch einmal gesteigert wird. Nun soll ein Zustand untersucht werden, der der zuvor an höchster Stelle stehenden Danksagung noch überlegen ist (sublimior … ac praecelsior 265,27 f.), in der der menschliche Geist (mens 265,29) sich völlig in Gott auflöst (resoluta 266,1) und mit ihm so einen äußerst vatergleich-vertrauten Umgang pflegen kann (familiarissime deo velut patri pro prio peculiari pietate conloquitur 266,1 f.). Diese Vorstellung macht Cassian an den ersten Worten des Vater Unser (Mt 6,9) fest, um anschließend die einzelnen Bitten zu betrachten. Dabei wird jede der Bitten nicht nur in ihrem Wortsinne betrachtet, sondern auch konkret auf das monastische Leben bezogen, um so zu zeigen, wie diese höchstmögliche Nähe zu Gott sich dort ausdrücken kann. Cas sians Auslegung des Vater Unser wird im Folgenden tabellarisch dargestellt, um sodann die Punkte seiner Auslegung, die für die Frage nach monastischer Bildung von besonderem Interesse sind, zu benennen:
327 Tamen expetendae sunt nobis per profectum uitae consummationemque uirtutum il lae potius supplicationum species, quae uel de contemplatione futurorum bonorum uel de caritatis ardore funduntur seu certe (264,7–10). 328 Vgl. Georges 2013, 3928 f.
5.6 Gebet
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„Vater Unser“329 (coll. 9,18)
– Beschreibt das eng vertraute Verhältnis zwischen Beter und Gott. – Beschreibt das Auflösen des eigenen Geistes in Gott.
„Der du bist im Himmel“ (coll. 9,18)
– Weckt die Sehnsucht, sich aus dem gegenwärtigen Leben zu lösen und zu Gott zu streben bzw. in das verheißene Land (s. zur Israelmetaphorik 4.2.2).
„Geheiligt werde dein Name“ (coll. 9,18)
– Gottes Heiligkeit zu erkennen, führt zur Vollkom menheit des eigenen Lebens (sanctificatio dei nostra perfectio est 267,18 f.).
„Dein Reich komme“ (coll. 9,19)
– Beschreibt entweder den täglichen Anbruch des Gottesreiches im Gläubigen (ausgedrückt durch den Kampf der Tugenden gegen die Laster) – oder den eschatologischen Anbruch des Gottesreiches, das allen Vollkommenen und Kindern Gottes bestimmt ist (perfectis ac dei filiis 268,7).
„Es geschehe dein Wille, wie im Himmel so auf Erden“ (coll. 9,20)
– Beschreibt entweder, dass der Mensch den Engeln ähnlich sein (similes angelis 268,21) und wie diese den göttlichen Willen erfüllen möchte – oder den Wille Gottes = Heil aller (1Tim 2,4) = Bitte um die Rettung aller, durch die Erkenntnis (agnitio 269,9), dass Gott der Vater ist (s. o. zu „Vater Unser“).
„Unser überwesentliches Brot – auf Griechisch ἐπιούσιον – gib uns heute“ (Mt 6,11) / „Unser tägliches Brot“ (Lk 11,3) (coll. 9,21)
– „Überwesentlich“ = was Gott geben kann, steht über allem Geschaffenen. – „Täglich“ = ohne die tägliche Unterstützung Gottes ist kein geistiges Leben (spiritalis uita 269,17) möglich. – Entweder „heute“ und „täglich“ = das Herz des Inneren Menschen (cor interioris nostri hominis 269,23; s. 4.1.2) bedarf der andauernden Unter stützung durch Gott – oder „heute“ in Bezug auf das gegenwärtige Leben in Unterscheidung zum und im Vorgriff auf das Zukünftigen (s. o. zu „Dein Reich komme“).
„Und vergib uns unserer Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldnern“ (coll. 9,22)
– Indiz für die Milde / Gnade (clementia 270,5 f.) Gottes, die Hoffen und das eigene Streben sinnvoll erscheinen lässt. – Notiz, dass einige diese Stelle im Gebet auslassen, aus Angst, nicht genug vergeben zu haben.
„Und führe uns nicht in Versuchung“ (coll. 9,23)
– Schwierig, da es Versuchung braucht, um Stand haftigkeit zu beweisen, müsste also konkret heißen „lass die Versuchung nicht siegen“.
„Sondern erlöse uns von dem Bösen“ (coll. 9,23)
– Gott unterstützt den Beter und zeigt einen Ausweg aus der Versuchung durch den Teufel.
329
Die Übersetzungen sind aus Ziegler 2011, 283–288 übernommen.
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
Coll. 9,24 blickt auf diese Auslegung des Vater Unser zurück und bündelt noch einmal die wichtigsten Punkte, die sich aus dieser für die monastische Lebens praxis ableiten lassen. In diesem Gebet sieht Cassian vorgezeichnet, in welcher Weise und welcher Form (modulus et forma 272,6) die Hinwendung des Mönches zu Gott erfolgen soll: Es sind keine Bitten nach vergänglichen, weltlichen Gütern oder Ehrenpositionen vorgesehen, sondern vielmehr ewige Bitten (sem piternae petitiones 272,12 f.), die den endzeitlichen Richter (iudex 272,15) gnädig stimmen. So ist eine klare Ausrichtung des monastischen Lebens und des Gebets vorgegeben. Dabei fällt auf, dass für die zweite, dritte und vierte Bitte jeweils zwei alternative Deutungen präsentiert werden: Während die jeweils erste einen individuellmoralischen (um mit den vier Schriftsinnen zu sprechen: tropologischen) Aspekt in den Blick nimmt, konzentriert sich die jeweils zweite Auslegung auf das endzeitliche Ziel der gesamten Menschheit (Anagoge). Hier wird am Beispiel des Vater Unser deutlich, zwischen welchen Polen sich das monastische Leben aufspannt und wie das eine Extrem – die durch die Tropologie repräsentierte uita activa – zum anderen – der dem menschlichen Einfluss entzogenen uita contem plativa – überzuleiten vermag bzw. wie beide in gegenseitiger Bedingtheit nicht voneinander zu trennen sind. 5.6.3 Das feurige Gebet Steigert schon die Betrachtung des Vater Unser die vier zuvor definierten Arten des Gebets im Blick auf Intensität und benötigte Expertise, wird auch dieses herausragende Gebet in coll. 9,24–36 erneut überboten. Cassian setzt hier an, einen noch erhabeneren Zustand (ad illum praecelsiorem quem superius commemo rauimus statum 272,19), der die bereits im Vater Unser enthaltene perfectionis plenitudo (272,16 f.) noch überragt, zu beschreiben. Es handelt sich hierbei um eine höhere Stufe, die nur wenige erkannt oder erfahren haben (perpaucis cogni tam uel expertam 272,20). Folgende Definition dieser Art zu beten bietet Cassian: „Vielmehr entströmt es dem Geist, der durch das ihn überströmende himmlische Licht erleuchtet wurde. Nicht in menschlich beschränkten Worten, sondern in unaussprechlich verdichteten Wahrnehmungen wie aus einer überreich aufbrechenden Quelle strömt … unaufhaltsam aus dem Geist hervor und dringt bis zum Herrn. In der Kürze eines Wimpernschlags sprudelt aus dieser Quelle unendlich viel hervor – weder kann es ausgesprochen werden, noch kann der Geist, wenn er wieder zu sich selbst zurückgekehrt ist, es nachvollziehen.“330 330 Ziegler 2011, 189; immo ut proprius dixerim ineffabilem orationem gradu eminen tiore perducit, quae omnem transcendens humanum sensum nullo non dicam sono uocis nec linguae motu nec ulla uerborum pronuntiatione distinguitur, sed quam mens infusione cae lestis illius luminis inlustrata non humanis atque angustis designat eloquiis, sed conglobatis sensibus uelut de fonte quodam copiosissimo effundit ubertim atque ineffabiliter eructat ad
5.6 Gebet
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Hier wird ein entrückter, der kognitiven Wahrnehmung entzogener,331 Zustand, der die direkte, unmittelbare Verbindung von menschlichem Geist und Gott bedeutet, beschrieben. Möglich ist dieses Gebet nur dann, wenn der Betende sich allein und auf den (inneren) Berg zurückgezogen befindet (solus in monte sece dens 273,2).332 Coll. 9,26 f. geht auf die Suche nach den Ursachen, die den Betenden in solch einen feurigen Zustand versetzen. Cassian räumt allerdings ein, dass selbst die größte Erfahrung (s. 5.4) nicht genüge, um die Vorgänge, die zu dieser Form der Verbindung mit Gott führen, nachvollziehbar zu erklären. Dieser Versuch könne nur mit Hilfe der Erleuchtung durch den Herrn (inluminatio domini 273,10) gelingen. Die Auslöser der Entrückung, an die sich auf diese Weise erinnert werden kann, sind: das Hören eines bestimmten Psalmverses; der Wohlklang der Stimme eines Mitbruders; der geordnete Vortrag und die Würde des Vorbeters; die Ermahnung eines vollkommenen Mannes; die geistliche Unterredung; der Tod eines Bruders oder geliebten Menschen; die Erinnerung an die eigene Lauheit und Nachlässigkeit. Es sind also entweder Ereignisse besonderer Freude und Ergriffenheit oder aber abgrundtiefer Erschütterung und Trauer, die den Mönch zu einer verklärten Betrachtung Gottes bringen. Beide Extreme der Gefühlsskala können diese auslösen, wodurch indirekt, wie schon so oft, eine Mittelmäßigkeit oder Lauheit der Empfindungen abgelehnt wird. In coll. 9,28 berichtet Germanus, dieses Gefühl der positiven oder negativen Erschütterung (conpunctio 274,11) zu kennen, bedauert aber gleichzeitig, diesen Zustand nicht willentlich auslösen und wiederholen zu können. Als Ausdruck der Erschütterung, die zum feurigen Gebet führt, nennt er das Weinen und die Tränen, die andernorts als einzig wirksames Heilmittel gegen die acht Hauptlaster zitiert werden (s. 3.1.2). Isaak reagiert in coll. 9,29 f. darauf, indem er – abermals um eine einprägsame Kategorisierung bemüht, wie schon zuvor bei den verschiedenen Arten des Gebets – verschiedene Arten der Tränen auffächert.333 deum, tanta promens in illo breuissimo temporis puncto, quanta nec eloqui facile nec percur rere mens in semet ipsam reuersa praeualeat (272,21–273,1). 331 Stewart 1998, 114 weist darauf hin, dass diese zentrale Komponente des feurigen Gebets alle Versuche, es mit Hilfe rationaler Kategorien und Begrifflichkeiten zu fassen, lediglich Annäherungen bleiben lässt. 332 Diese Metaphorik verweist ohne Frage auf das Motiv des äußeren und inneren Berges in der Vita Antonii (z. B. V. Anton. 51.1; 82.1; 91.1, vgl. Gemeinhardt 2018, 49 f.54). 333 Stewart 1998, 128 f. bezeichnet dies als „first etiology of tears known in Christian spiritual literature“; vgl. auch Müller 2000, 190: Hier werden die verschiedenen Arten der Tränen und des Weinens mit den verschiedenen Stufen des monastischen Fortschritts in Verbindung gebracht. Cassian benennt die folgenden Arten: Es gibt solche, die durch Einsicht in die eigene Sündhaftigkeit ausgelöst werden; solche, die durch die Vorfreude auf die Schau der Ewigkeit und die Sehnsucht nach zukünftiger Herrlichkeit ausgelöst werden; solche, die in der Angst vor Gericht und Hölle begründet liegen, und zuletzt solche, die nicht vom eigenen Gewissen, sondern durch fremde Härte ausgelöst werden. Neben diesen natürlichen und heilsamen Tränen gibt es auch solche, die vorsätzlich hervorgepresst werden, bei diesen
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
Diese Überlegungen zum wahren und höchsten Gebet werden in coll. 9,31 mit dem Beispiel des Antonius illustriert: Dessen bewundernswerte Aussprüche (admirandae sententiae 277,11) sollen dazu verhelfen, ein Gefühl für das wahre Gebet zu entwickeln (orationis uerae percipiatis adfectum 277,1).334 Tatsächlich werden zwei Logien des Antonius angeführt:335 „Was hinderst du mich, Sonne, die du nur aufgehst, um mich von der Klarheit dieses wahren Lichtes abzuziehen?“336 „Das Gebet ist nicht vollkommen, solange der Mönch noch sich oder sein Gebet versteht.“337
Dies verdeutlicht nicht nur, wie die zuvor beschriebene tiefe Versenkung in Gott sich konkret ausdrücken kann, sondern führt auch ein Beispiel desjenigen an, der den Rückzug auf den (inneren) Berg, der in coll. 9,25 als Voraussetzung des feurigen Gebets genannt wurde, zur Perfektion gebracht hat. Dadurch wird die Unterweisung, die Cassian Isaak geben lässt, nicht nur durch wiederholte Staffelungen und Kategorisierungen leicht memorierbar, sondern durch die hohe monastische Autorität des Antonius zusätzliche begründet und legitimiert. Die nächsten drei Kapitel (coll. 9,32–34) wenden sich der Frage zu, wann man von einem Erhörtwerden oder einer Wirksamkeit des eigenen Gebets ausgehen darf. Zunächst werden zwei Hindernisse genannt, die ein Hindurchdringen des eigenen Geistes zu Gott verhindern: Zögern (haesitatio 277,14) und Verzweiflung (desperatio 277,15). Sind diese aus dem Weg geräumt, ist es möglich, bereits im Moment des Aussprechens zu spüren, dass die Gebete zu Gott hindurchgedrungen sind. Diese mit Mk 11,24338 begründete Vorstellung lässt bei Germanus Zweifel aufkommen: Er fragt in coll. 9,33, woher man diese Zuversicht, die sich allein aus der Reinheit des Gewissens ergeben könne (conscientiae puritas 277,24), nehmen solle, solange man noch sündenverstrickt sei – was ja, wie anfangs deutlich gemacht, der erste Ansatzpunkt der Bitte zu Gott sei (s. 4.3.1 und 4.3.2). ist aber immerhin der gute Wille dahinter anerkennenswert. Letztere Kategorie wird allerdings dann unnötig, wenn jemand in den Tugenden schon so weit vorangeschritten ist, dass er seine Verfehlungen erkennen und aus tiefster Seele beklagen kann. 334 Zum Begriff adfectus s. ausführlich 4.2.2. 335 Cassian selbst stellt diese als mündliche Traditionen dar, tatsächlich finden sich keine schriftlichen Parallelen in der Vita Antonii oder in den Antoniusbriefen (vgl. Bunge 2010, 320). G. Bunge plädiert dafür, die beiden Sprüche aufgrund einiger thematischer Parallelen für genau das zu halten, was Cassian andeutet: Erinnerungen an eine mündliche Tradition. Stilistische Abweichungen zu anderen Antonius-Logien sind dabei Cassians editierender Tätigkeit zuzuschreiben (vgl. aaO., 321). 336 Ziegler 2011, 293; quid me inpedis, sol, qui ad hoc iam oreris, ut me ab huius ueri lu minis abstrahas claritate? (277,5–7). 337 Ziegler 2011, 293; non est, inquit, perfecta oratio, in qua se monachus uel hoc ipsum quod orat intellegit (277,8–10). 338 „Darum sage ich euch: Alles, was ihr betet und bittet, glaubt nur, dass ihr’s empfangt, so wird’s euch zuteilwerden.“
5.6 Gebet
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Isaak kontert in coll. 9,34 mit einer weiteren Aufzählung: Er nennt sechs Gründe, jeweils von biblischen Beispielen ausgehend, an denen ein Vertrauen auf Erhörung festgemacht werden kann. Diese Gründe sind: erstens die Übereinstimmung mit anderen Betenden (mit Mt 18,19); zweitens die senfkorn gleiche Kraft des Glaubens (mit Mt 17,19); drittens die Ausdauer im Gebet (mit Lk 11,8); viertens die Frucht der Almosen (mit Sir 29,12); fünftens die Werkzeuge der Barmherzigkeit (mit Jes 58,6) und sechstens übermäßige Betrübnis (mit Ps 120,1). Wie bereits oben in der Auslegung des Vater Unser deutlich geworden ist, wird auch hier die Hoffnung auf Erfüllung der eigenen Gebete mit einem Lebenswandel, der kaum anders als monastisch angenommen werden kann, verglichen. Allerdings wird hier eine Lebensform beschrieben, die – durch Gemeinschaft und tätige Nächstenliebe – als eher koinobitisch denn als anachoretisch vorgestellt werden muss (s. 5.2). An diese Aufzählung anschließend schärft Isaak erneut die Bedeutung von Beharrlichkeit und Ausdauer ein – denn manchmal wird der Engel, der zur Erfüllung von Gott ausgesandt wird, aufgehalten und ändert der Betende während dieser Zeit seine Meinung, kann der himmlische Bote seinen Weg nicht mehr finden. Diese Beharrlichkeit (perseuerantia 280,13) überbietend rät Isaak mit Lk 11,9 f.339 sogar zu einer gewissen Aufdringlichkeit (in portunitas 279,13). Beharrlichkeit, Ausdauer und sogar Aufdringlichkeit finden ihren Ursprung im Vertrauen (fiducia 280,20.24) auf Gott, im Vertrauen auf ein Erhörtwerden – im Glauben. Dieser wiederum drückt sich darin aus, dem göttlichen Willen Vorrang vor dem eigenen gewähren zu wollen, da dieser als größer (an-)erkannt wird (mit 1Joh 5,14, Mt 6,10 und Mt 26,39, s. auch 4.4.2.2). Die länger ausgeführten Überlegungen zur Willens- und Wirkenseinheit von Vater und Sohn im Zuge von Passion und Auferstehung münden in dem Ratschlag Isaaks, Mt 26,39340 zum steten Grundsatz des eigenen Gebets – das so zum feurigen Gebet emporsteigen kann – zu machen. An diesen christologischen Höhepunkt der Ausführungen341 schließen einigermaßen unverbunden drei eher praktische Hinweise zum Gebet an: Erstens wird auf das dreimalige Beugen der Knie am Ende des Gottesdienstes Bezug genommen, das nur von solchen praktiziert werden könne, die mit zielgerichteter Seele (intento animo 282,21) beten würden (coll. 9,34). Zweitens wird in coll. 9,35 erläutert, wie das Beten im stillen, verborgenen Kämmerlein (Mt 6,6)342 von Stat339 „9 Und ich sage euch auch: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. 10 Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan.“ 340 „Und er ging ein wenig weiter, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst!“ 341 Vgl. Stewart 1998, 108 f. 342 „Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten.“
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
ten zu gehen habe. Die abzuschließende Kammer wird hier in das Innere des Menschen verlegt und mit dem ganz für Gott reinen Herzen verglichen: „Im Verborgenen beten wir, wenn wir nur mit dem Herzen und einem auf das Ziel ausgerichteten Geist unsere Bitten für Gott allein öffnen, sodass nicht einmal die feindlichen Mächte unsere Gebetsweise zu erkennen vermögen.“343
Diese Feststellung, die eigentlich nur die Ausführungen zum feurigen Gebet beenden möchte, bietet zugleich eine Bündelung fast aller T hemen, die unter 6. im Zuge von Zielen und Konzepten monastischer Bildung ausgeführt werden: die Reinheit des Herzens, die klare Zielausrichtung und die Abwehr lasterbringender Dämonen. Damit ist abermals gezeigt, dass das Gebet nicht nur ein Weg, den der fortschreitende Mönch begeht, sondern vielmehr auch durch seine vielen verschiedenen Stufen und Erscheinungsformen eine Instanz zur Selbstreflexion auf diesem Weg ist, die sich mit dem Fortschritt des Mönches kontinuierlich wandelt. Zuletzt wird in coll. 9,36 kurz auf die Häufigkeit und Dauer des idealen Gebets eingegangen: Häufig, aber nie zu lange (frequenter quidem, sed breviter 283,12). Nur so kann die geistige Spannkraft erhalten bleiben und das Opfer (sacrificium 283,14), das Gott mit jedem Gebet dargebracht wird, bleibt frisch und zahlreich. Diese Schlussbemerkungen zu Gebetshaltung, Gebetsort (innerlich wie äußerlich) sowie Gebetshäufigkeit und -dauer rekurrieren auf geprägte Traditionen: Alle drei formalen Aspekte des Gebets sind u.a. bei Origenes nachzuverfolgen.344 Es scheint, als wolle Cassian seine Ausführungen – vergleichbar zu den beiden o. g. mündlichen Antoniustraditionenen – abschließend durch eine externe Autorität unterstrichen wissen. Dass dabei gerade die Überlegungen zum feurigen Gebet, die zuvor in der christologischen Einung des eigenen mit dem göttlichen Willen gipfelten, so gewissermaßen wieder eingefangen und in einen Bereich, der durchaus dem menschlichen Zugriff unterliegt, verlagert werden, mag durch die pädagogische Intention Cassians, seine Adressaten nicht ratlos mit einem hohen Ideal zurückzulassen, sondern sie zu konkreter Handlung zu befähigen, bedingt sein. 5.6.4 Was der Anthropomorphismusstreit mit dem Beten zu tun hat Die ersten fünf Kapitel von coll. 10 beschäftigen sich noch nicht mit dem (immerwährenden) Gebet, sondern bieten Vorklärungen zum T hema monastische Vollkommenheit, Bildung und Nicht-Bildung. Damit werden nicht nur in coll. 10 343 Ziegler 2011, 298; in abscondito oramus, quando corde tantum et intenta mente pe titiones nostras soli pandimus deo, ita ut ne ipsae quidem aduersae ualeant potestates genus nostrae petitionis agnoscere (283,2–5). 344 Vgl. Munkholt Christensen 2019, 151–159 (zum Gebet im Verborgenen); 173–177 (zur Gebetshaltung); 182 f. (zur Häufigkeit des Gebets).
5.6 Gebet
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abschließend T hemen aufgenommen, die durch den gesamten ersten Teilband hindurch mehr oder weniger offen mitschwangen, sondern es wird auch das Fazit, das in coll. 10,14 gezogen wird (s. 5.6.7), vorbereitet. Dieser Exkurs wird vom Erzähler Cassian (alt) offen angekündigt und eingeleitet. Er schreibt: „Die Abfolge des Erzählens erfordert es, … , etwas einzufügen oder einzuflechten“345. Dies sei notwendig, um „gerade den etwas Einfältigeren keine geringe Anleitung zum Verständnis“346 zu geben. Hier beschreibt Cassian seine Funktion als Herausgeber und Kommentator der Altvaterworte in bemerkenswerter Deutlichkeit, die offenlegt, dass die nachfolgenden Beobachtungen ihm wichtig erscheinen, um das Verständnis des immerwährenden Gebets bei seinen Adressaten zu sichern. Das T hema dieses notwendigen Exkurses wird an die Gottesebenbildlichkeit des Menschen (Gen 1,26 f.) geknüpft (s. auch 3.1.2.1). In coll. 10,2 beginnt schließlich die eigentliche Erzählung.347 Cassian berichtet von einem in Ägypten üblichen Brauch, dass der Bischof von Alexandria per Rundschreiben den Termin des Osterfestes für alle Klöster festlege. In dem Schreiben, das eintraf, während Germanus und Cassian bei Abbas Isaak lernten, wurde jedoch nicht nur der Ostertermin festgelegt, sondern auch die Anthropo morphitarum haeresia (287,8; s. auch 2.2.2) widerlegt, die anscheinend von einem Großteil der ägyptischen Mönche vertreten wurde.348 Diese waren wiederum der Meinung, dass Bischof T heophilus mit seinem Schreiben gegen die Schrift und die in ihr beschriebene Vorstellung der Gottebenbildlichkeit verstoße. Und obwohl die Mönche der Region Sketis den übrigen Mönchen Ägyptens an Vollkommenheit und Wissen überlegen waren (quique perfectione ac scientia om nibus qui erant in Aegypti monasteriis praeminebant 287,19 f.), wurde der Brief nur von einem, von Abbas Paphnutios, der in der Gemeinschaft das Amt des Priesters innehatte, richtig verstanden. Auf diese allgemeine Einordnung der Si2011, 301; inter haec anachoretarum instituta sublimia, quae utcumque do nante deo licet inperito digesta sunt stilo, quiddam nos interserere atque contexere, quod uelut pulchro corpori naeuum quendam uideatur adponere, narrationis ipsius ordo conpellit (286,9–12). 346 Ziegler 2011, 301; quamquam non dubitem etiam ex hoc ipso non minimam inst ructionem super omnipotentis dei quae in Genesi legitur imagine quibusque simplicioribus conferendam (286,13–15). 347 Diese ist noch außerhalb der sonst üblichen Rahmenerzählungen anzusiedeln, da sie die Reise des jungen Cassian und des Germanus lediglich als Aufhänger nutzt und auch nicht über die Vorgeschichte des sprechenden Altvaters informiert. Vielmehr steht sie dadurch, dass der Autor Cassian sich hier scheinbar direkt zu Wort meldet, in Verbindung mit den Prologen und anderen kurzen ‚redaktionellen Notizen‘ (s. 3.3). 348 Vgl. DelCogliano 2003 zu einer ausführlichen Darstellung der Hintergründe dieser besonderen Ausprägung des origenistischen Streits. M. DelCogliano stellt am Beispiel von Origenes (aaO. 394–398), Evagrius Ponticus (aaO., 398) und weiteren Repräsentanten des ägyptischen Mönchtums (aaO., 399–406) dar, wie eng Fragen nach Gottebenbildlichkeit des Menschen und einer anthropomorphen Gestalt Gottes mit Fragen der Soteriologie verbunden sind (vgl. AaO., 380). 345 Ziegler
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
tuation, die dafür, dass Cassian sie einem Publikum ohne Vorkenntnisse über das ägyptische Mönchtum erzählt, erstaunlich tief in kirchliche und klösterliche Organisationsstrukturen vordringt, folgt in coll. 10,3 das konkrete Beispiel, das in der Form wieder stärker den sonst bekannten Beispielerzählungen gleicht: Es wird ein Mönch (Serapion)349 beschrieben, der der zuvor identifizierten Irrlehre anhängt. Dieser Irrglaube sei eine Konsequenz von dogmatischer Unkenntnis (inperitia super praedicti dogmatis 288,3 f.), die unabhängig davon zu bewerten sei, dass Serapion in der monastischen Praxis der Enthaltsamkeit als Vollkommener (in actuali disciplina per omnia consummatus 288,2 f.) zu gelten habe. Alle Ermahnung durch Paphnutios bleibt wirkungslos, erst ein hochgelehrter Mann namens Photin (summae scientiae uir nomine Photinus 288,10 f.) vermag Serapion auf den rechten Weg zu bringen. Über Photin ist bekannt, dass er ein Diakon aus Kappadokien war (diaconus … de Cappadociae 288,10.12).350 Photin beginnt seine Belehrung mit einem Verweis auf einen doppelten351 Schriftsinn und der Bemerkung, dass der Wortsinn in diesem Fall nicht weiterhelfe, sondern es ein geistiges Verständnis brauche (cumque ille non secundum humilem litterae sonum, sed spiritaliter 288,19 f.). Cassian summiert an dieser Stelle lediglich, dass Photin seine Beweisführung mit einer Reihe von Schriftzitaten belegt habe, ohne diese im Detail wiederzugeben. Das Ergebnis dieses Lehrgesprächs zwischen Photin und Serapion sticht besonders durch seine Attribuierung ins Auge: „Da endlich wurde der Greis [Serapion], von den zahlreichen und äußerst beeindruckenden Argumenten des hochgelehrten Mannes ergriffen, zum Glauben an die katholische Überlieferung gezogen.“352
349
Es ist davon auszugehen, dass es sich bei den Namen der beiden Protagonisten (Sarapion / Serapion [zu den beiden Schreibweisen vgl. DelCogliano 2003, 378 (Anm. 5)] und Photin [s. u.]) um fiktiv gewählte, sprechende Namen handelt, die aus didaktischen Gründen und weniger im Sinne eines exakten historischen Zeugnisses gewählt wurden: Der Name Serapion / Sarapion verweist auf den ägyptischen Serapis-Kult und steht damit symbolhaft für den paganen Irrtum der Götzenverehrung (s. u.). Photin hingegen ist ‚erleuchtet‘ (φωτεινός) und vermag es, Licht in das Dunkel des Irrtums zu bringen (vgl. DelCogliano 2003, 415 f.). 350 Über den Verweis auf die Herkunft dieser Figur versucht Cassian möglicherweise, eine Verbindung seiner Lehre zu den Kappadoziern zu schaffen (vgl. DelCogliano 2003, 416). Es gibt Stimmen, die sich für eine Identifikation des Photin mit Evagrius Ponticus aussprechen (so z. B. Ziegler 2011, 334 leider ohne diese Mutmaßung zu belegen). Auch M. DelCogliano weiß um diese Hypothese, bewertet mögliche Verbindungspunkte wie das Amt des Diakons und räumliche Nähe von Pontus und dem Wirkkreis der kappadozischen Väter als eher vage Anhaltspunkte (vgl. DelCogliano 2003, 416). 351 Nicht vierfachen, s. o. 352 Ziegler 2011, 303; tandem senex multis ac ualidissimis doctissimi uiri adsertionibus motus ad fidem catholicae traditionis adtractus est (288,27–289,1).
5.6 Gebet
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Dieses Zitat beinhaltet in mehrfacher Weise eine Überbietung von Autoritätsargumenten, die – zumindest in der ägyptisch-monastischen Perspektive, in der dieser Erzählstrang angesiedelt ist – überrascht: Bildung siegt über Erfahrung / Alter353 und die katholische (kirchliche) Überlieferung steht über der monastischen Tradition. Diese Verhältnisbestimmung wird nachfolgend expliziert, indem es heißt, dass trotz der Vollendung der Tugenden noch Einfalt und Unbildung (inperitia sola et simplicitate rusticitatis errantem 289,4 f.) zwischen Serapion und dem rechten Glauben gestanden hätten. Hier wird ein Erkenntnisschritt zwischen die Vervollkommnung des praktischen Lebens und die Schau bzw. Erkenntnis Gottes geschaltet. Ohne die ‚Aufklärung‘ durch Photin hätte Serapion im Gebet weiterhin ein falsches Bild seines Gegenübers vor Augen gehabt und hätte so nicht die höchste Stufe der Vollkommenheit erlangen können. Allerdings räumt Cassian ein, dass dieser Verlust eines sichergeglaubten Gottesbildes schmerzhaft sei und zu einer vorübergehenden Orientierungslosigkeit im Gebet führen könne. Auf diese ausgelagerte Erzählung folgt ein Schritt zurück in die bekannten Bahnen der Rahmenerzählungen: Coll. 10,4 berichtet, wie Cassian (jung) und Germanus auf das zuvor Beschriebene reagiert hätten. Ihre Kenntnisnahme des Irrtums Serapions löst eine Einsicht und einen Wunsch bei ihnen aus: Zum einen erkennen sie, dass dieser „Fehler des Nichtwissens“ (ignorantiae uitium 289,26) durch Dämonen verursacht sei, zum anderen folgt darauf der Wunsch, weitere Einsicht zu erlangen und über die Arten des Gebets belehrt zu werden (primum desideramus agnoscere, deinde quaesumus edoceri 290,2 f.) um keinem vergleichbaren Irrtum aufzusitzen. Dies aufnehmend legt Cassian Abbas Isaak in coll. 10,5 eine Überleitung in den Mund, die zuvor Geäußertes zum Zusammenhang von (Nicht-)Bildung und Gotteserkenntnis mit dem nachfolgenden T hema des (immerwährenden) Gebets in Beziehung setzt. Dabei wird eine Trennlinie von Unbildung, Unkenntnis, Irrtum und paganem Aberglauben (Bezug nehmend auf die im Alten Testament scharf kritisierte Götzenverehrung) auf der einen und katholischem Glauben und reinem Gebet auf der anderen Seite gezogen. Als Hauptursache für die Annahme des Irrtums macht Isaak jedoch nicht wie zuvor Germanus die Dämonen verantwortlich, sondern den „Fehler, nicht gebildet zu sein“ (eruditum rusticitatis uitium 290,10 f.): Ohne Bildung also kein (immerwährendes) Gebet! Diese, die beiden Collationes zum T hema Gebet gewissermaßen unterbrechende, Beispielerzählung zum T hema Anthropomorphismusstreit verbindet das T hema Gebet nicht nur eng mit Fragen nach (monastischer) Bildung, sondern ordnet diese auch in den größeren Kontext der origenistischen Streitigkeiten ein, wie 353 Dass Photin in der Erzählung den Part des Jüngeren übernimmt, vermutet auch Stewart 1998, 87 f.
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M. DelCogliano nachweist. Drei Aspekte seiner Schlussfolgerung sind dabei für die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung von besonderem Interesse:354 Erstens wird am untersuchten Beispiel deutlich, dass Bildung bzw. der „Fehler, nicht gebildet zu sein“ sich zu großen Teilen darin zeigt, dass die Heilige Schrift korrekt, d. h. im Wissen um einen mehrfachen Schriftsinn (s. 5.5.2) und nicht nur wörtlich ausgelegt wird. Zweitens stellt M. DelCogliano zur Diskussion, ob harsche theologische Trennlinien wie ‚die‘ Anthropomorphiten und ‚die‘ Origenisten tatsächlich historische Sachverhalte, die vielfach komplexer gewesen sein dürften, abbilden oder ob so vielmehr die eigene Position – in diesem Fall die Befürwortung eines reflektierten, auf einem vielschichtigen Bildungsprozess aufbauenden Glaubens in soteriologischer Ausrichtung – plakativ von einer (überzeichneten) Irrmeinung abgegrenzt werden soll.355 Drittens zeugt die Beschreibung von Serapions Hadern mit dem Verlust eines sichergeglaubten Gottesbildes von einem (pädagogischen) Einfühlvermögen, das in dieser Ausprägung nicht in der origenistischen Tradition zu finden ist, sondern vielmehr als praktisch- orientiertes Zugeständnis Cassians gelten kann, wodurch abermals sein reflektierter und im Blick auf seine Adressaten abwägender Umgang mit verschiedenen Traditionen deutlich wird. 5.6.5. Sinn und Ziel des Gebetes Der zweite Abschnitt von coll. 10 beginnt mit einem expliziten Rückgriff auf die vorhergehende Collatio (coll. 10,6; sicut superiore conlatione praefatus sum 291,17 f.) und die dort getroffene Feststellung, dass jeder Geist gemäß der bereits erworbenen Reinheit im Gebet aufzusteigen vermag. Diese Reinheit ist es letztendlich auch, die darüber entscheidet, in welcher Gestalt der Betende Jesus Christus sieht – noch nach dem Fleisch oder bereits himmlisch erhöht (Iesum uel humilem adhuc et carneum, uel glorificatum et in maiestatis suae gloria uenien tem internis obtutibus animae peruideri 291,21–23). An diesen beiden Erscheinungsformen Christi macht Cassian zwei Arten der durch das Gebet zu erreichenden Schau Gottes fest (zur Gottesschau s. 6.1.2): die reine Schau, die denjenigen vorbehalten ist, die sich bereits völlig von irdischen Werken und Gedanken gelöst haben (qui de humilibus ac terrenis operibus et cogitationibus ascendentes 292,2 f.) und die einfache Schau, die auch schon denen vergönnt ist, die noch mit dem tätigen Leben beschäftigt sind (qui in actuali conuersatione sunt 292,10). Nur die erste Gruppe kann Jesus Christus in der Verklärung (claritas 292,11) sehen, die sich oben auf dem Berg der Tugenden (uirtutum mons 292,12) angekommen, enthüllt. Die beiden Gruppen werden nicht als absolut getrennt dargestellt, 354
Vgl. DelCogliano 2003, 418–421. Überlegungen zur Abgrenzung von anderen theologischen Standpunkten wurden unter 4.4.3 als es um Fragen nach Wille und Gnade ging, bereits thematisiert. 355 Vergleichbare
5.6 Gebet
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sondern es wird zum Ende von coll. 10,6 eine Begründung geboten, weshalb von der tätigen Schau zur reinen Schau zu streben ist: Sie ermöglicht einen Vorblick, vielleicht sogar einen Vorgriff, auf das, was den Heiligen für die Zukunft verheißen ist (illius beatitudinis, quae in futuro repromittitur sanctis, uel ex parte aliqua nos aptare possimus, sitque nobis omnia in omnibus deus 292,26–28). Diese Zielsetzung des Gebetes in seiner höchsten Weise, die einige moralische Vorarbeit erfordert, wird in coll. 10,7 unter der Leitfrage, was vollkommene Erfüllung des Gebets in uns (perfecte consummabitur in nobis illa nostri saluatoris oratio 293,1 f.) bedeutet, zugespitzt. Die Antwort lautet folgendermaßen: „Das Gebet wird sich dann erfüllen, wenn all unser Lieben, all unser Sehnen, alles Streben, alles Suchen, all unser Denken, alles was wir leben, sprechen und hoffen, Gott sein wird, und wenn jene Einung, die nun zwischen Vater und Sohn besteht, und zwischen Sohn und Vater, in unseren Sinn und Geist ausgegossen ist, dann nämlich, wenn auch wir, so wie er uns mit aufrichtiger und unauflöslicher Liebe liebt, ihm in ewiger und unzertrennlicher Liebe so verbunden werden, dass, was immer wir hoffen, erkennen und reden, Gott ist.“356
Das Gebet in seiner vollkommensten Ausprägung führt also in einen Zustand der liebenden Einheit, der den Menschen in die enge Bindung, die zwischen Vater und Sohn besteht, hineinnimmt. Diese Vorstellung weist enge Verwandtschaft mit Origenes De principiis 3,6,3 auf,357 wodurch die Vorstellung der Einung mit einer Vorstellung der Rückkehr zum schöpfungsgemäßen Urzustand zusammengebracht wird. Auf diese Offenbarungen reagiert Germanus in coll. 10,8 mit großer Bewunderung und Staunen (admiratio 294,4; stupor 294,5), was ihn zu einer ungewöhnlich langen und umfassenden Antwort bzw. Reflexion des zuvor Gehörten führt (294,3–296,8). Bedenkt man die narratologische Funktion der Figur des Germanus (s. 3.3), bedeutet dies, dass Cassian bei seinen Adressaten zu diesem T hema besonders viele Fragen und Missverständnisse vermutet. Zuerst formuliert Germanus Zweifel an der eigenen Fähigkeit, je zu dieser höchsten Form des Gebets 356 Ziegler 2011, 307; quod ita fiet, cum omnis amor, omne desiderium, omne studium, omnis conatus, omnis cogitatio nostra, omne quod uiuimus, quod loquimur, quod spiramus, deus erit, illaque unitas quae nunc est patris cum filio et filii cum patre in nostrum fuerit sensum mentemque transfusa, id est ut quemadmodum nos ille sincera et pura atque indis solubili diligit caritate, nos quoque ei perpetua et inseparabili dilectione iungamur, ita scilicet eidem copulati, ut quidquid spiramus, quidquid intellegimus, quidquid loquimur, deus sit (293, 9–17). 357 Origenes, princ. 3,6,3 (648.650 Görgemanns / Karpp): Per singulos autem ‚omnia‘ erit hoc modo, ut quidquid rationabilis mens, expurgata omni vitiorum faece atque omni penitus abstersa nube malitiae, vel sentire vel intellegere vel cogitare potest, ‚omnia‘ deus sit nec ultra iam aliquid aliud nisi deum sentiat, deum cogitet, deum videat, deum teneat, omnis motus sui deus modus et mensura sit; et ita erit ei ‚omnia‘ deus: non enim iam ultra mali bonique discretio, quia nusquam malum (‚omnia‘ enim ei deus est, cui iam non adiacet malum), nec ultra ex arbore sciendi ‚bonum et malum‘ edere concupiscet qui semper in bono est, et cui ‚omnia‘ deus est (vgl. Ramsey 1997, 391).
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
emporzusteigen oder gar in ihr verweilen zu können (ignorantes quemadmodum disciplinam tantae sublimitatis expetere uel obtinere possimus 294,7 f.). Germanus rekurriert zudem in selten expliziter Weise auf die verschiedenen monastischen Lebensformen (s. 5.2) und stellt fest, dass er die ersten Schritte in die gewiesene Richtung im Kellion (in cella 294,9) – wohl ein Verweis auf die Zeit, die Cassian und Germanus im Kloster in Bethlehem verbracht haben (s. 2.1) – unternommen hätte. Diese Schritte werden wenig später mit einfachen Grundkenntnissen und zaghaften Anfängen (cuiuslibet artis seu disciplinae perfectio necesse est ut a quibusdam mollibus incipiens rudimentis facilioribus primum ac tenerrimis ini tiis inbuatur 294,15–17) verglichen, mit dem Beginn des stufenweisen Aufstiegs. Dabei ist eine allmähliche Erziehung (paulatim educataque 294,18) mit Hilfe der Milch der Vernunft (rationabili lacte 294,18; eine Anspielung auf 1Kor 3,2 [s. auch 5.5.2.1]), festzustellen. Mit dem Erwerb dieser Grundkenntnisse sei das Tor des erwählten Berufes durchschritten (ianuas adreptae professionis ingressa 294,21) und ein Weg begonnen worden, der nun zu vollenden sei.358 Von entscheidender Bedeutung sei dabei, sich an eine bestimmte, vorgegebene Reihenfolge zu halten. Die lässt Cassian Germanus mit einem Beispiel aus der paganen Bildung illustrieren: „Denn wie sollte ein Knabe auch nur einfache Verbindungen von Silben aussprechen können, wenn er nicht zuvor die Zeichen für die Buchstaben sorgfältig gelernt hat? Oder wie sollte einer richtig lesen können, der noch nicht einmal fähig ist, kurze und knappe Wortfolgen zu verbinden? Mit welcher Methode sollte einer, der noch zu wenig in den Kenntnissen der Grammatik unterrichtet ist, rhetorische Gewandtheit oder die Wissenschaft der Philosophie erreichen? Deshalb zweifle ich nicht, dass es auch für diese erhabenste unter allen Künsten, in der wir unterwiesen werden, Gott allezeit anzuhangen, gewisse Grundlagen für den Unterricht gibt, die zuerst genauestens festgelegt werden müssen, bevor sich darüber die erhabenen Gipfel der Vollkommenheit erheben können.“359
Expliziter und für Cassians intendierte Leserschaft nachvollziehbarer hätte der Vergleich, der den arbeitsintensiven und geprägten Weg, den ein monastischer Schüler zu gehen hat, kaum formuliert werden können. Die in coll. 1 und coll. 14 358 Über den Begriff ianua ist an coll. 1,1 erinnert, in der der lehrende Altvater als Wächter über eben dieses Tor beschrieben wird (s. 5.3.2.4). Während also zu Beginn des ersten Teilbandes noch über die Zulassung zum Beruf des nach dem Höchsten strebenden Anachoreten diskutiert wird, ist diese Zulassung nun – quasi durch die Aneignung der ersten zehn Collationes – erfolgt, das Tor wurde erfolgreich durchschritten. 359 Ziegler 2011, 308; nam quemadmodum pronuntiare puerorum quispiam simplices poterit copulas syllabarum, nisi prius elementorum characteres diligenter agnouerit? uel quomodo citatam legendi peritiam consequetur, qui breues et perangustas descriptiones no minum necdum est idoneus coniugare? qua autem ratione is qui peritia grammaticae disci plinae minus instructus est uel rhetoricam facundiam uel philosophicam scientiam conse quetur? quapropter huic quoque sublimissimae disciplinae, per quam instruimur deo iugiter inhaerere, non dubito quaedam institutionis inesse fundamina, quibus primum firmissime conlocatis post haec superposita extollantur perfectionis excelsa fastigia (294,23–295,7).
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formulierte, methodische Vergleichbarkeit von allen übrigen Künsten und Wissenschaften mit dem Mönchtum (s. 3.1.1.1) wird hier so präzise und detailliert aufgefächert, dass eigentlich keine Zweifel bleiben können.360 Cassian lässt Germanus im Anschluss darum bitten, dass Isaak ihm einen Anfang (principium 295,7) zeigen möge, von dem aus er diesen Weg beschreiten und den er sich immer dann vor Augen rufen könne, wenn er vom Weg abzudriften drohe, was ein häufig zu beobachtender Fehler sei. Diese Einsicht und Selbsterkenntnis lobt Abbas Isaak in coll. 10,9 überschwänglich, er spricht von einer detaillierten und eingehenden Untersuchung (inquisitio uestra tam minuta atque subtilis 296,9), die allein schon Indiz dafür sei, wie nahe Germanus und Cassian (jung) der Reinheit bereits seien. Diese sei nämlich eng an Einsicht bzw. Selbstreflexion (introspicere 296,11) und Unterscheidungsvermögen (discernere 296,11) gebunden. Diese Überlegungen lässt Cassian Isaak noch weiter denken, bis er abschließend auf Sokrates anspielend formuliert: nec a scientia longe est, qui coepit intellegere quid ignoret (296,25 f.) – dem Wissen ist der am nächsten, der einzusehen beginnt, was er nicht weiß.361 Nach diesen Vorklärungen findet Abbas Isaak sich bereit, seine Schüler aus dem Vorhof in das Innerste der Geheimnisse des Gebets einführen zu können (ut iam intra aulam quodammodo ipsius oberrantes in adyta quoque, in quantum dominus direxerit, introducam 296,21 f.), sie also in coll. 10,10 mit dem immerwährenden Gebet vertraut zu machen. Das adytum, das Allerheiligste, in das das nachfolgende Kapitel leiten wird, sei dabei mit den Händen der Erfahrung (ex perientiae manus 296,18 f., s. 5.4.5) zu ertasten, eine Formulierung, die sowohl auf die für die monastische Bildung zentrale Stellung der Erfahrung als auch auf die Vorstellung einer ‚Händigkeit‘ des Inneren Menschen (coll. 6,10; s. 4.1.2) verweist. 5.6.6 Das immerwährende Gebet Zu Beginn von coll. 10,10, der Darstellung des immerwährenden Gebetes, das – so coll. 10,9 – in das Allerheiligste des Inneren Tempels führt und dort die reine Gottesschau ermöglicht, nimmt Abbas Isaak den Vergleich von Schulunterricht für Kinder (paruulorum eruditio 297,3 f.) und zu erläuterndem monastischem Fortschritt (illa institutio 297,3), den Cassian zuvor Germanus in den Mund gelegt hat, wieder auf. Er ergänzt diesen Vergleich um weitere charakteristische Tätigkeiten, die sowohl das Schulkind als auch der angehende Mönch beherrschen muss: beständiges genaues Hinsehen und Nachahmung vorgegebener Modelle.362 Den sogleich folgenden Vorgang der Einführung in das immerwäh360 Auf diesen methodischen „full circle“ von coll. 1 zu coll. 10 verweist auch Harmless 2004, 392. 361 Vgl. Ziegler 2011, 335, indirekt verweisend auf Platon, Apol. 21d–e (14 Hofmann). 362 qui alias elementorum traditionem primam percipere non possunt nec eorum uel ag
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
rende Gebet beschreibt Cassian als das Weiterreichen einer feststehenden Form mit dem Ziel der geistigen Schau (huius quoque spiritalis theoriae tradenda uobis est formula 297,9 f.). Der Inhalt des Gebets wird dabei auf die wenigen der ältesten Väter, die noch am Leben sind, zurückgeführt (a paucis qui antiquissimorum patrum residui erant tradita est 297,19 f.).363 Der Schlüssel zu den tiefsten und innersten Geheimnissen des Mönchtums ist also in der Tradition der ägyptischen Altväter zu finden, die nun – so der Schulvergleich – möglichst sorgfältig und detailgetreu kopiert werden sollen. Die Technik des immerwährenden Gebetes ist schnell erklärt – wenn auch nicht schnell umgesetzt.364 Umso bemerkenswerter ist es, wie Cassian sie hier vermittelt durch Abbas Isaak darstellt: Das immerwährende Gebet besteht aus einem einzigen Psalmvers, der beständig und in einer jeden Lebenslage zu wiederholen ist: deus in adiutorium meum intende: domine ad adiuuandum mihi festina (Ps 70,2; z. B. 297,23–25).365 Im Folgenden wird eine ganze Reihe von Situationen und Beispielen genannt, in denen dieser Vers auf jeweils eigene Art und Weise von Nutzen sein kann. Dabei sticht ins Auge, dass das ungewöhnlich lange Kapitel (297,2–302,28) beinahe rhythmisiert wirkt und so implizit auf eine rhetorisch fundierte Memorationstechnik verweist:366 Zunächst wird in verhältnismäßig kurzen Sätzen aufgezählt, was dieser Vers alles kann bzw. wie er wirkt. Ein Großteil dieser Sätze beginnt mit einem Verb der 3. Pers. Sg. und ist so rückbezogen auf hic namque uersiculus (297,25), eine Formulierung, die immer stärker verkürzt wird, zunächst zu hic uersiculus (298,11), dann zu uer noscere lineas uel intrepida manu queunt describere characteres, quam protypiis quibusdam et formulis cerae diligenter inpressis effigies eorum exprimere contemplatione iugi et cotidiana imitatione consuescant (297,4–9). 363 Das immerwährende Gebet, das Cassian hier als höchstes Ziel, als den Zustand, der die Gottesschau herbeiführt und ermöglicht, beschreibt, geht auf eine nur im Ansatz geprägte monastische Tradition zurück. So zählt bspw. Evagrius Ponticus im Antirrhetikos mehr als hundert biblische, meist aus den Psalmen stammende Phrasen auf, die als Heilmittel in bestimmten Situationen angewandt werden können (vgl. Stewart 1998, 104). Eng verwandt mit dem immerwährenden Gebet Cassians ist auch das sogenannte monologistische Gebet, das – noch stärker verkürzt – beständig den Namen Jesu Christi wiederholt und exemplarisch von Cassians Zeitgenossen, dem Eremiten Markus vertreten wird (vgl. Stewart 1998, 104, Regnault 1993, 7–11 und ausführlich Hesse 1985, 121–126). In den Apoph thegmata Patrum lassen sich nur wenige Belegstellen für eine entsprechende Praxis finden und diese nutzen zumeist unterschiedliche Formeln oder Psalmverse (vgl. Regnault 1993, 16). Cassian ist der erste monastische Autor, der aus diesen kurzen, anwendungsbezogenen Notizen eine vollständige und methodisch reflektierte T heorie des immerwährenden Gebets erschafft (vgl. Stewart 1998, 113). 364 Vgl. Stewart 1998, 110. 365 Hierbei handelt es sich nicht um ein Zitat der Vulgata, eher um eine eigenständige lateinische Übersetzung der Septuaginta, wobei die Reihenfolge, in der „Gott“ und „Herr“ angerufen werden, wiederum der Vulgata und nicht der Septuaginta entnommen scheint. Zu Cassians teils freiem Umgang mit den verschiedenen Bibelübersetzungen s. 5.5. 366 Vgl. Harmless 2004, 395 f.
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siculus (298,22). In einem zweiten Block wird der Psalmvers selbst als Epipher gebraucht, er beendet fünfzehn kurze Abschnitte, in denen jeweils in der 1. Pers. Sg. eine beispielhafte Situation geschildert wird, in der dieser Vers erfolgreich zur Anwendung kam. Coll. 10,10 endet schließlich mit einigen, auf das zuvor Dargestellte aufbauenden Ermahnungen an eine 2. Pers. Sg. Inhaltlich ergeben sich dabei die folgenden Schwerpunkte: Die konkreten Situationen, die geschildert werden, nehmen – wenn auch nicht ganz der Anordnung in coll. 5 entsprechend (s. 4.2.2) – die acht Hauptlaster auf. Einem jeden Anflug der Dämonen oder Abschweifen der Gedanken kann der Psalmvers produktiv entgegengesetzt werden. Entscheidend ist dabei, diesen Vers unablässig und ununterbrochen (incessabilis 302,5.15; indisruptus 302,6) zu jeder Tages- und Nachtzeit im Herzen zu bewegen. Die Ermahnungen schließen mit dem Hinweis, dass es sich bei dem immerwährenden Gebet um ein zutiefst innerliches Phänomen handelt: „Ihn sollst du auf die Schwelle und die Tür deines Mundes schreiben, auf die Wände deines Hauses und das innerste Gemach deines Herzens.“367
Damit wird der Vers des immerwährenden Gebetes zu dem Element, das Äußeres und Inneres des Menschen verbindet, das seine äußere Lebensform und sein Seelenleben entscheidend prägt. Fast scheint es, dass die sonst häufig zu beobachtende Unterteilung in zwei große Stufen des monastischen Fortschritts (z. B. Koinobitentum und Anachorese, πρακτική und θεωρητική, telos und scopos) an diesem Beispiel zu Gunsten des einen Verses entfällt, dass das immerwährende Gebet den äußeren mit dem Inneren Menschen in Einklang bringt und so schon jetzt einen Vorgriff / Vorblick auf das zu erstrebende höchste Ziel (s. 6) ermöglicht.368 5.6.7 Das Zusammenwirken von Heiliger Schrift und Gebet Bevor coll. 10,11–14 sich der Frage zuwendet, in welchem Verhältnis die Heilige Schrift und das Gebet zueinander stehen, wird es tierisch: Derjenige, der die richtige Geisteshaltung erworben hat, die für das immerwährende Gebet vorausgesetzt ist und sich wiederum aus diesem ergibt, wird mit einem Klippdachs / Igel (erinaceus 303,21), einem Schlangentöter (serpentium exterminator 304,12) und einem Steinbock / Hirsch (ceruus 303,21) verglichen. Steinbock und Klippdachs stammen aus Ps 104,18 (= 103,18 LXX).369 Der Steinbock wird als Symbol desjenigen, der bereits in großen geistigen Höhen weidet, genutzt, der Klippdachs steht hingegen für Einfachheit und Unschuld sowie die Suche nach Schutz vor 367 Ziegler 2011, 315; hunc scribes in limine et ianuis oris tui, hunc in parietibus domus tuae ac penetralibus tui pectoris conlocabis (302,23–25). 368 Zur Integration von Innerem und Äußerem vgl. Clements 2020, 173 f. 369 „Die hohen Berge sind für die Hirsche, die Felsen für die Klippdachse eine Zuflucht.“
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Verfolgern.370 Die Fähigkeit des Schlangentötens, also des Vernichtens der Bedrohung durch den Teufel, wird mit dem Erwerb der discretio (s. 5.1) gleichgesetzt. Diese dreifache Umschreibung des zu erstrebenden Gemütszustandes führt schließlich zu der Darstellung der Einung des eigenen Denkens und Fühlens mit den Worten der Heiligen Schrift: „ … erkennt er [der Steinbock] in allen Gemütslagen der Psalmen seine eigenen und beginnt, sie so zu singen, dass er sie nicht ausspricht als Dichtung des Propheten, sondern als kämen sie aus ihm selbst, wie sein eigenes Gebet, erschüttert in der Tiefe seines Herzens … Die heiligen Schriften öffnen sich unserem Verstehen ja dann am deutlichsten und lassen sozusagen ihre Adern und ihr Mark erkennen, wenn unsere Erfahrung die Erklärung durch die Psalmworte nicht nur übernimmt, sondern ihnen sogar zuvorkommt und sich uns der Sinn der Worte nicht durch eine Auslegung, sondern durch Beweise erschließt …, das heißt, wir entdecken die Kraft der Worte, bevor wir sie kennen.“371
Hier wird eine enge Verbindung zwischen Psalmgebet und eigener Erfahrung (s. 5.4.2) herausgestellt, indem die Worte des Psalters zum Ausdruck des eigenen Empfindens werden. Aber nicht nur von einem ‚Gebrauch‘ der Schrift, um die eigenen Gefühle ausdrücken zu können, ist die Rede; auch im Umkehrschluss wird die in den Worten der Schrift festgehaltene Gotteserfahrung ihrer Autoren erst dann vollständig einsichtig, wenn der Lesende / Betende die Worte aus einer vergleichbaren Situation heraus liest und singt. Dem Psalter kommt dabei zunehmend die Funktion eines Spiegels zu, in dem der Betende sich erkennt: „All diese Affekte finden wir in den Psalmen ausgedrückt, sodass wir, was uns zustieß, deutlicher erkennen, da wir es wie im reinsten Spiegel betrachten können. So werden wir von den Affekten wie von Erziehern gelehrt, [diese Affekte] nicht [nur] als etwas, wovon wir gehört haben, sondern auch als etwas deutlich Wahrgenommenes zu berühren, und sie nicht als etwas, das wir [nur] gelernt haben, sondern als [Empfindungen], die in unserer Natur angelegt sind, wie aus tiefstem Herzensgrunde empordringen zu lassen. Dann durchdringen wir den Sinn der Worte nicht aufgrund des Wortlautes der Lesung, sondern aufgrund der vorausgehenden Erfahrung.“372 370
Vgl. Stewart 1998, 112. 2011, 317; quorum iugi pascuo uegetatus omnes quoque psalmorum adfectus in se recipiens ita incipiet decantare, ut eos non tamquam a propheta conpositos, sed uelut a se editos quasi orationem propriam profunda cordis conpunctione depromat uel certe ad suam personam aestimet eos fuisse directos, eorumque sententias non tunc tantummodo per prophetam aut in propheta fuisse conpletas, sed in se cotidie geri inplerique cognoscat. tunc enim scripturae diuinae nobis clarius perpatescunt et quodammodo earum uenae medullae que panduntur, quando experientia nostra earum non tantum percipit, sed etiam praeuenit notionem, sensusque uerborum non per expositionem nobis, sed per documenta reserantur. eundem namque recipientes cordis affectum, quo quisque decantatus uel conscriptus est psal mus, uelut auctores eius facti praecedemus magis intellectum ipsius quam sequemur, id est ut prius dictorum uirtutem quam notitiam colligentes (304,16–305,8). 372 Ziegler 2011, 318; omnes namque hos adfectus in Psalmis inuenimus expressos, ut ea quae incurrerint uelut in speculo purissimo peruidentes efficacius agnoscamus et ita magistris adfectibus eruditi non ut audita, sed tamquam perspecta palpemus, nec tamquam memoriae 371 Ziegler
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In dem so beschriebenen Prozess der Selbsterkenntnis im Spiegel der Schrift373 geht es nicht nur darum, etwas Neues zu lernen oder auf ein bestimmtes Ziel hin erzogen zu werden, sondern zu erkennen, was von Natur aus bereits in einem angelegt ist (s. auch 3.1.2.1 zur imago dei). Dabei stellt Cassian einen doppelten Reflexionsprozess dar: Anhand der Schrift erkennt der Mensch nicht nur sich selbst zunehmend klarer, sondern auch Gottes Handeln an ihm und somit Gott selbst. Das Wissen um diese Dinge wird dem Menschen dabei nicht ‚aus dem Blauen heraus‘ offenbart, sondern durch ein immer tieferes Eindringen in die Heilige Schrift, die jedoch nicht einfach nur gelesen, sondern inbrünstig betend meditiert wird. Diese Erkenntnis, die irgendwann zur entrückten Schau Gottes im immerwährenden Gebet führt, baut auf gründlicher Vorarbeit auf, wie die Rede vom stufenweisen Aufstieg (ordo conlationis ascendit 305,24 f.) am Ende des Kapitels noch einmal in Erinnerung ruft. Bemerkenswert ist, dass in diesem Zusammenhang das beschriebene höchste Ziel in scharfer Abgrenzung zu Kategorien traditioneller Bildung formuliert wird: Zu erstreben ist ein permanenter Fluss von Geist und Gebet (ignita uero mentis intentione per ineffabilem cordis excessum inexplebili spiritus alacritate profertur 305,27–306,1), der nicht länger in Silben und Worte (nulla uocis, nulla uerborum 305,26) unterteilt ist und sogar allem Sichtbaren und Stofflichen (sensus ac ui sibiles 306,2) enthoben ist. Diese Allusion traditioneller Bildung über die Unterteilung des Lernstoffs in Silben und Worte lässt unweigerlich an coll. 10,9 f. denken, wo der Vergleich zwischen dem Schulunterricht für die Kleinsten und dem langsamen Herantasten an die höchste Form des Gebets beschrieben wurde (s. o.). Dieses dort noch lobend erwähnte Vorgehen einer schrittweisen Erziehung wird nun auf seinen Platz verwiesen: Es ist lediglich eine Vorstufe, die dazu befähigen soll, sich und Gott im Gegenüber der Schrift zu erkennen, oder – modern gesprochen – die notwendige Erziehung, die es braucht um zur (Selbst-)Bildung voranzuschreiten (s. 3.1.2.2). Die Komplexität dieses Gedankens wird von der Reflektorfigur Germanus in coll. 10,12 f. herausgestellt, indem Cassian diese formulieren lässt, dass es nichts Vollkommeneres und nichts Erhabeneres geben könne als den zuvor beschriebenen Zustand des immerwährenden Gebets (quid enim potest esse perfectius quidue sublimius quam dei memoriam 306,6–8). Bei aller Freude über dieses neu erworbene Wissen stellt sich ihm doch eine Frage, nämlich wie es möglich sein könne, den einen Vers beständig in den Gedanken festzuhalten. Coll. 10,13 variiert dabei das bekannte Motiv des Abschweifens der Gedanken: Nicht länger wird es als problematisch herausgestellt, dass sie sich gänzlich anderen T hemen, conmendata, sed uelut ipsi rerum naturae insita de interno cordis parturiamus adfectu, ut eorum sensus non textu lectionis, sed experientia praecedente penetremus (305,15–21). 373 Die Schrift bzw. der Psalter als Spiegel, in dem der betende Mensch sich erkennt, begegnet auch bei Augustin, in Ps. 103,1,4 (vgl. de Lubac 1993, 326 [Anm. 26]).
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womöglich gar Spielarten der Laster zuwenden, sondern nun wird thematisiert, dass die Gedanken von dem einen Psalmvers hin zu anderen Schriftstellen driften. Dabei wird die sich mehr oder weniger automatisch einstellende Stichwortverbindung zwischen verschiedenen Psalmen, Evangelien, Paulusbriefen und Propheten als äußerst unerwünscht klassifiziert. Dieses Wandeln durch alle Teile der Heiligen Schrift verhindert, dass ein Gedanke vertieft und zu Ende gebracht werden kann.374 Der hier beschriebene Umgang mit einem ausgewählten Vers der Schrift unterscheidet sich deutlich von dem, was in coll. 8 und coll. 14 über eine sachgerechte Auslegung der Heiligen Schrift gelehrt wird (s. 5.5.2). Nicht länger geht es um ein Verständnis verschiedener Schriftsinne anhand verschiedener Schriftstellen, sondern um ein nicht primär rationales Nutzen der Schrift als Medium der Gotteserkenntnis und -begegnung. Eine Parallele zu anderen artes ac disciplinae, wie sie für die vorhergehenden Schritte monastischer Bildung so oft propagiert wurde, wird hier – zumindest durch den die Bedenken der implizierten Adressaten repräsentierenden Germanus – bewusst nicht mehr gezogen. Diese fehlende Verbindung wird durch eine Notiz am Ende von coll. 10,14 bestärkt: Zunächst lässt Cassian aber Abbas Isaak bereits aus dem Anfang des ersten Teilbandes bekannte Mittel und Wege, den Geist konsequent auszurichten, nennen: Wachen, Nachsinnen und Beten sowie eine beharrliche Zielausrichtung (tria sunt quae uagam mentem stabilem faciunt, uigiliae, meditatio et oratio, quarum adsiduitas et iugis intentio conferunt animae stabilem firmitatem 307,20–23). Das ist nicht sonderlich überraschend, höchstens insofern, als dass hier das Beten als Mittel auf dem Weg zum immerwährenden Gebet genannt wird. Diese doppelte Bedeutung des Gebets wird durch eine weitere Unterscheidung verschiedener Arten zu beten unterstrichen, die wahres Gebet, das mit dem Herzen vollzogen wird, von einem rein äußerlich verbleibenden und damit sinnlosen Beugen der Knie trennt. Die letzten Worte, die Cassian Abbas Isaak in den Mund legt und die damit den ersten Teilband der Collationes auf Ebene der Erzählung abschließen, lauten dementsprechend: „Notwendigerweise nämlich wird der Geist zur Zeit seines Gebetes von dem vorhergehenden Zustand geformt, und von jenen Gedanken, bei denen er vor dem Gebet verweilte, wird er entweder zum Himmlischen erhoben oder zum Irdischen hinabgedrückt werden.“375
374 Stewart 1998, 105 sieht hierin „the antithesis of Cassian’s goal of complete interiorization of the text“, noch kritischer formuliert Harmless 2004, 394: „T he problem was not memorization, nor exegetical leaps from text to text; rather, it was manic superficiality.“ 375 Ziegler 2011, 320; necesse est enim mentem in tempore supplicationis suae de statu praecedente formari illisque eam cogitationibus orantem uel ad caelestia sublimari uel ad terrena demergi, quibus ante orationem fuerit inmorata (308,6–10).
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Dies stellt m. E. eine prägnante Zusammenfassung des im ersten Teilband der Collationes Gelehrten dar: Alle zuvor im Einzelnen beschriebenen Schritte und Kämpfe dienen keinem Selbstzweck, sondern der Vorbereitung und dem Aufstieg zur Gottesschau – oder bei Misslingen: dem Abstieg weg von dieser. Auf diesen in sich stimmigen Abschluss folgen die bereits erwähnten ‚redaktionellen Anmerkungen des Herausgebers Cassian‘. Diese schließen direkt an die Worte Isaaks an, der die Betroffenheit, die er und sein Begleiter als Folge der Altvaterworte verspürt haben, ausdrückt. Mit constat igitur (308,19 f.) wird schließlich das finale Fazit Cassians (alt), das gewissermaßen mit dem ersten Prolog korreliert, eingeleitet. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ursprünglich nur der erste Teilband der Collationes geplant war, sodass diese Bemerkungen Cas sians Überlegungen zur Vermittlung östlich-monastischen Wissens im Umfeld von Marseille einst abschließen sollten, bevor auf Nachfrage die beiden anderen Teilbände entstanden (s. 2.3.2.2).376 Sie lauten: „Es steht also fest, dass niemand wegen [Unerfahrenheit im literarischen Wissen] von der Vollkommenheit des Herzens ausgeschlossen wird und dass mangelnde Bildung kein Hindernis ist, zur Reinheit des Herzens und der Seele hindurchzugelangen, die – um es zusammenfassend zu formulieren – für alle erreichbar ist, die sich eine gesunde und ungeteilte Ausrichtung des Geistes auf Gott durch das beständige Nachsinnen über diesen Vers bewahren.“377
Dieses Fazit widerspricht – in gewisser Weise überraschend – nicht nur den verschiedenen von Germanus gezogenen und durch Isaak bestätigten Parallelen zwischen traditioneller und monastischer Bildung, sondern auch der in coll. 1 formulierten methodischen Vergleichbarkeit von säkularen und monastischen artes ac disciplinae. Laut Cassian kann auch derjenige, der ungebildet (rusticus) ist, zur Vollkommenheit des Herzens (perfectio cordis) emporsteigen, wenn er nur beständig um das immerwährende Gebet bemüht sei. Dieser Widerspruch lässt sich folgendermaßen erklären: Germanus als Reflektorfigur repräsentiert Cassians Adressaten, ihren Erfahrungshorizont und ihre etwaigen Rückfragen und Missverständnisse. Die von ihm gezogenen Parallelen zum Schulunterricht geben Cassians Adressaten eine Vorstellung davon, womit der in den Collatio nes beschriebene Bildungsprozess vergleichbar ist. Aber auch wenn der Prozess durch seine Vielstufigkeit und den geforderten Einsatz anderen Bildungsprozessen ähnelt, unterscheidet sich doch sein Ziel fundamental von diesen:378 Cor, 376 Die entscheidende Position von coll. 10 als Abschluss des ersten (und ursprünglich geplant: einzigen) Teilbandes der Collationes betont auch Harmless 2004, 392 nachdrücklich. 377 Ziegler 2011, 321; constat igitur neminem prorsus ob inperitiam litterarum a perfec tione cordis excludi nec rusticitatem obesse ad capessendam cordis atque animae puritatem, quae conpendiosissime adiacet cunctis, si modo sanam et integram mentis intentionem iugi ad deum uersiculi huius meditatione seruauerint (308,19–24). 378 Auf diese Gegensätzlichkeit verweist bereits in coll. 1,2 Abbas Moyses, der seine
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
anima und mens werden nicht nach menschlichen Maßstäben definiert und verbessert, sondern nun allein im Licht Gottes betrachtet und auf dieses hin geformt. 5.6.8 Die Bedeutung des Gebets für die monastische Bildung Keines der zuvor betrachteten T hemen konkreter monastischer Bildung (Lebensformen, Lehrer und Schüler, Erfahrung, Schriftauslegung) hat solch einen großen Variantenreichtum gezeigt wie das Gebet. In sich wiederholenden Mustern der Überbietung präsentiert Cassian sieben379 verschiedene Stufen bzw. Modi des Gebets. Die ersten vier Stufen des Gebets werden dabei als Einheit betrachtet, die folgenden Steigerungen erscheinen jedoch eher unverbunden, so als entstammten die Ausführungen verschiedenen Traditionssträngen. Entscheidend ist dabei, dass die Form des Gebets vom Betenden nicht frei gewählt werden kann, sondern aus seiner Lebensführung und seinem Geisteszustand resultiert. So kann der Betende zwar den Anfang und die Grundlagen des Gebets bewusst gestalten, der Ausgang bzw. Erfolg des Gebets ist ihm jedoch entzogen, er liegt in Gottes Hand. Damit erscheint das Gebet zunehmend als Symbol oder Abbild des gesamten monastischen Lebens, in dem menschlicher Entschluss und göttliche Gnade eng verbunden zusammenwirken (s. auch 4.4.4). Auch im Blick auf Cassians Bildungshandeln durch die Collationes ragt das Gebet über die anderen T hemen hinaus: Nicht nur, dass dem Gebet als einzigem T hema zwei ganze Collationes eingeräumt werden – zum Vergleich: Die Schriftsinne werden in zwei Kapiteln abgehandelt –, es wird auch ausgesprochen nachdrücklich eingeschärft. Immer wieder begegnen Aufzählungen und rhythmisierte Wiederholungen, die daran erinnern, dass die ursprüngliche Lernform des Mönchtums das gehörte und memorierte Wort (des Altvaters und der Schrift) war. Auch die Rückfragen des Germanus nehmen eine bisher unbekannte Ausführlichkeit an, so dass es scheint, als wolle Cassian von vornherein jedem möglichen Missverständnis entgegenwirken. Mehrmals rekurriert Cassian auf sein erzählerisches Vorgehen und betont, etwas noch ein weiteres Mal oder noch einfacher erklären zu wollen, damit es auch wirklich verstanden werde. Auch die Stellung des T hemas Gebet am Ende des ersten Teilbandes der Collationes hebt seine besondere Position als höchstes Ziel der anfänglich angedachten Bildungsbemühungen Cassians hervor. Schüler in ironischer Weise fragt, ob sie all die Mühen des Weges ertragen hätten, um nun bei ungebildeten (rustici) Männern im Wüstenstaub zu sitzen (s. ausführlich 6.1) – auch hier wird das Besondere monastischer Bildung dadurch herausgestellt, dass scheinbar bekannte Prozesse zu gänzlich unerwarteten Zielen führen. 379 Die vier Arten des Gebets nach Paulus (Bitte, Fürbitte, Flehen, Danksagung), das Vater Unser, das feurige Gebet, das immerwährende Gebet.
5.7 Rückschau und Ausblick
275
Bemerkenswert ist, wie deutlich Cassian selbst Abbas Isaak bzw. Germanus punktuell methodische Parallelen zwischen traditioneller Bildung und den Anfängen des Gebets formulieren lässt, selbst wenn diese Metaphorik, wie unter 5.6.7 gezeigt wurde, lediglich den Prozess, nicht das Ziel monastischer mit traditioneller Bildung vergleichbar scheinen lässt. Das T hema Bildung wird zu Anfang und Ende von coll. 10 in widersprüchlicher Art diskutiert: Während am Beispiel Serapions gezeigt wird, dass (theologische) Unbildung eine höhere Schau Gottes verhindert, selbst wenn die Lebensführung noch so tugendhaft ist, zeigt sich der Abschluss der Collatio deutlich integrativer und schließt einen Zusammenhang zwischen (literarischer) Vorbildung, Herzensreinheit und damit erfolgreichem Gebet aus. Während es in der Beispielerzählung rund um Serapion noch eindeutig als Fehler definiert wird, rusticus zu sein, wird mit derselben Vokabel in coll. 10,14 argumentiert, dass dies kein Hindernis auf dem Weg zur perfectio cordis sei. Betrachtet man das umgebende Wortfeld dieser beiden Verwendungen von rusticus, wird deutlich, dass Cassian eine Unterscheidung von theologischer / monastischer Bildung und weltlicher Bildung vornimmt: Zu Beginn von coll. 10 ist rusticus im Blick auf die Kenntnis von Häresien und Dogmen negativ konnotiert, am Ende von coll. 10 kann das Adjektiv im Blick auf ‚Buchstabenbildung‘ als durchaus positiv – bzw. zumindest für das Ziel des Gebets irrelevant – gewertet werden. Diese Beobachtungen können zu folgender Schlussfolgerung zusammengefasst werden: Coll. 9 f. bilden den Höhepunkt von Cassians ursprünglich auf einen Teilband hin konzipierten Vorstellung monastischer Bildung. Während der Weg hin zu diesem höchsten Ziel – der vollständigen Versenkung des eigenen in den göttlichen Geist in Gestalt des immerwährenden Gebets – in vielerlei Hinsicht vergleichbar mit traditionellen Bildungsprozessen scheint, findet das Erreichen des Ziels keine Entsprechung mehr in diesen: Es ist etwas gänzlich Anderes, der rationalen Einsicht Entzogenes und von Gott Geschenktes. 5.7 Rückschau und Ausblick Unter 4.5 wurde dargelegt, weshalb die beständige anthropologisch-theologische Dynamik, in der der Mönch sich findet, monastische Bildung nicht nur notwendig macht, sondern überhaupt erst ermöglicht. Direkt aus dieser Dynamik leitet sich die grundlegende Tugend der discretio (5.1) ab, die die aktive Wahlmöglichkeit zwischen den beiden Extremen des Guten und des Bösen, innerhalb derer der Mensch sich bewegt, beschreibt. Die discretio lässt monastisches Leben – und damit auch monastische Bildung – als Balanceakt zwischen aktiver Selbsttätigkeit und passiver Demut gegenüber dem zum eigenen Tun integral beitragenden göttlichen Beistand erscheinen. Sie kann nicht allein erworben werden, sondern nur in der Erfahrung traditionell geprägter monastischer Lebensformen (5.2) und im Gegenüber eines erfahrenen Lehrers (5.3). Beide Lernwege zeigen
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5. Methoden und Prozesse monastischer Bildung
dabei bereits an, dass discretio – und damit das gesamte Mönchtum – nicht in beliebiger Individualität gestaltet werden kann, sondern vielmehr als Einstimmen bzw. Eintreten in eine universale Erfahrung (5.4) verstanden werden muss. Diese Erfahrung ist dabei gleichermaßen Methode und Ergebnis monastischer Bildungsprozesse: Einerseits lernt der Mönch durch die Erfahrung, die er macht, andererseits mit dem Ziel, an Erfahrung, die wiederum seinen Inneren Menschen bereichert und urteilsfähiger macht, zu gewinnen. Grund und Inhalt einer jeden im zwischenmenschlichen Miteinander gewonnenen Erfahrung ist dabei Gott, der dem Mönch auch durch die Heilige Schrift (5.5) und im Gebet (5.6) begegnet. Cassians T hematisierung von Schrift und Gebet ist einerseits durch die Vielfalt der Traditionen, denen er sich verpflichtet fühlt (s. 2.2), geprägt und andererseits von dem Ansinnen beeinflusst, diese Traditionen in nachvollziehbare und verständliche Abschnitte bzw. gestufte Prozesse untergliedert darzustellen. Dabei wurde deutlich, dass die höchsten beschriebenen Stufen jeweils nur wenigen zugänglich sind bzw. schon so stark Teil der göttlichen Sphäre, in die hinein der Mönch strebt, sind, dass sie nicht mehr in rationale Kategorien gefasst erklärt werden können. Im Blick auf den einleitend skizzierten Dreifachfokus der vorliegenden Studie und die Bündelung des vorherigen Kapitels (s. 1 und 4.5) wird deutlich, dass Cassian durchaus auch konkrete Bildungsprozesse thematisiert: Allerdings handelt es sich hierbei nicht um präzise Anleitungen im Sinne von Verhaltensregeln, sondern vielmehr um umfangreiche Erläuterungen der Methodiken, die den Mönch durch eigene Reflexion zum angemessenen Verhalten bringen können. Cassian stellt nicht nur dar, was der Mönch zu tun hat (z. B. beten oder eine gewisse Lebensform pflegen), sondern auch weshalb ihn dieses konkrete Handeln näher zu Gott bringt. Im Blick auf Cassians konkretes Bildungshandeln ist dabei bemerkenswert, dass jeweils neben der Darstellung der korrekten Vorgehensweise auch Hintergründe und Negativbeispiele anführt werden. M. E. vollzieht Cassian hiermit auf Ebene der Erzählung (s. 3.3) genau das, was unter 5.1 und 5.3 als Methode beschrieben wurde: Er tritt in die Rolle des Lehrers bzw. Altvaters und verhilft seinen Adressaten dazu, einen Sachverhalt mit seinen Augen zu sehen, um so zu einem eigenen Urteil zu gelangen. Noch weiter abstrahiert wird das traditionelle monastische Lehrer-Schüler-Verhältnis dadurch, dass Cassian seine Adressaten durch die Darstellung eines mehrfachen Schriftsinnes befähigt, sich quasi selbst zum Altvater zu werden und bei Bedarf ein spontanes Logion aus der Heiligen Schrift zu generieren (s. 5.5.1). Fragt man drittens, welchen Mehrwert es hat, Aspekte eines neuzeitlichen Bildungsbegriffs interpretierend an Cassians Collationes heranzutragen, liegt die Antwort auf der Hand: Im vorhergehenden Kapitel wurde deutlich, wie präzise sich Cassians Ansatz der Beschreibung und Anleitung monastischen Fortschritts fassen lässt, wenn man bspw. die Begriffe des Erfahrungslernens, der Kompetenz und der Lehr-Lern-Situation nutzt. Darüber hinaus wurde im Rückblick auf die Unterscheidung von Sozialisation, Er-
5.7 Rückschau und Ausblick
277
ziehung und (Selbst-)Bildung (s. 3.1.2.2) deutlich, dass Cassian sich mit den Col lationes auf der letzten und komplexesten der drei eng verschränkten Ebenen bewegt: Sein Fokus geht weit über konkret bestimmbare oder gar prüfbare Verhaltensregeln und Wissensbestände hinaus, vielmehr liegt er auf der Befähigung der Adressaten, (sich selbst) zu Lehrern zu werden und situativ bedingt eigenständig die discretio zur Anwendung zu bringen (s. auch 3.1.2.3).
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6. Bilder und Konzepte monastischer Bildung in den Collationes Während in den beiden vorhergehenden Kapiteln einerseits anthropologische und theologische Voraussetzungen und andererseits konkrete Methoden und Prozesse monastischer Bildung in den Blick genommen wurden, ist nun zu fragen, wie Cassian selbst den gesamten monastischen ‚Bildungsweg‘ bzw. die Möglichkeiten zu Fortschritt und Entwicklung, die er seinen Adressaten zutraut, mit Hilfe verschiedener Bilder und Konzepte beschreibt. Hierbei ist der Fokus zunächst auf eher theoretisch anmutende Konzeptionen wie die Rede von erstem und letztem Ziel (s. 6.1) oder von πρακτική und θεωρητική (s. 6.2) zu richten. Abschließend ist zu fragen, wie sich das endgültige Ziel monastischer Bildung in den Collationes fassen lässt bzw. ob es überhaupt auf einen bestimmten Begriff, z. B. perfectio, zu bringen ist (s. 6.3). Im abschließenden Unterkapitel (6.4) ist nicht nur – wie aus den vorherigen Kapiteln zu „Rückschau und Ausblick“ bereits bekannt – zu fragen, wie sich das zuvor dargestellte auf den leitenden Dreifachfokus der Arbeit auswirkt, sondern auch, ob und wie die drei zuvor präsentierten Bilder und Konzepte miteinander in Einklang zu bringen sind bzw. welche Aspekte monastischen Fortschritts sie jeweils besonders akzentuiert hervorheben. 6.1 Erstes und letztes Ziel Zu Beginn von Collatio 1, die den Titel De monachi destinatione vel fine (6,3) – über Ausrichtung und Ziel des Mönchs – trägt, lässt Cassian Abbas Moyses erläutern, weshalb es sinnvoll ist, dass der Mönch sich auf dem Weg zur Vollkommenheit an gewissen Wegpunkten orientiert. Aber auch unter dieser Überschrift ist der erste Satz, den Abbas Moyses zu seinen beiden Schülern Cassian (jung) und Germanus nach der einleitenden Rahmenhandlung spricht, bemerkenswert: „Alle Künste und Wissenschaften haben ein bestimmtes erstes, vorläufiges Ziel und ein letztes, höchstes Ziel. Dies berücksichtigend erträgt ein jeder, der sich ernsthaft um ein Können bemüht, gleichgültig, welche Fertigkeit er beherrschen will, alle Mühen und Gefahren und jeden Schaden mit Gleichmut und gern.“1 1 Ziegler 2011, 58; omnes, inquit, artes ac disciplinae scopon quendam, id est destina tionem, et telos, hoc est finem proprium habent, ad quem respiciens uniuscuiusque artis
6.1 Erstes und letztes Ziel
279
Damit beginnen die Collationes nicht etwa bei Gott als Urheber, Rahmen und Ziel des Mönchtums, sondern beim Menschen und der Feststellung, dass Mönch-Sein harte Arbeit ist – genau wie jede andere Kunst oder Wissenschaft (s. auch 1 und 3.1.1.1). Das Mönchtum wird mit anderen artes und disciplinae verglichen und somit anschlussfähig für (angehende) Mönche, die bisherige Lernerfahrungen in anderen, weltlichen Bereichen gesammelt haben.2 Dabei wird dem Mönchtum, genau wie allen anderen Künsten, ein erstes bzw. vorläufiges (scopos / destinatio) und ein letztes bzw. höchstes (telos / finis) Ziel eingeschrieben. Letzteres ist nicht ohne den Weg über ersteres zu erreichen und beide fordern ein hohes Maß an Fleiß, Ausdauer und Geduld. Diese einleitende, eher abstrakt-methodische T hese des Abbas Moyses wird sogleich durch drei Beispiele konkretisiert: Es wird beschrieben, wie ein Landwirt, ein Händler und ein Soldat je einen mühsamen und z. T. gefahrvollen Weg auf sich nehmen, um ihr jeweils individuell gesetztes – bzw. durch ihre Profession bedingtes – Ziel zu erreichen (coll. 1,2). Die Wahl dieser Beispiele macht einerseits deutlich, welche Einflüsse die Lebenswelt der Adressaten Cassians prägen und belegt andererseits, dass Cassian sich der Verschiedenheit zwischen dieser Lebenswelt und der im Folgenden zu erzählenden Welt bewusst ist und diese gezielt zu überbrücken versucht.3 Wie um die gemeinsame Basis der nachfolgenden Unterweisung zu sichern – und um an das zuvor in den Instituta Gelehrte zu erinnern –, lässt Cassian Moyses in coll. 1,2 die Grundlagen der Berufung, die er und seine Schüler teilen (professio 8,26) und die im Anschluss in ihr Nah- und Fernziel untergliedert werden sollen, aufzählen: Er nennt als zentrale Elemente des Mönchtums Fasten (ieiuniorum inedia 8,29), Nachtwachen (vigiliae 8,29 f.), Lesung und Betrachtung der Heiligen Schrift (lectio ac meditatio scripturarum continuata 8,30 f.), Armut (omnium rerum priuatio 8,32), umfassendste Einsamkeit (uastissima solitudo 8,32–9,1) und Heimatlosigkeit (procul … parentum … et patrium 9,1 f.). Diese Aufzählung des Bekannten bzw. bereits Erreichten zeigt, dass sich die nachfolgende Unterredung an Mönche richtet, die bereits eine gewisse Erfahrung gesammelt haben, die also als fortgeschritten gelten können. Geradezu provozierend bzw. karikierend lässt Cassian Moyses seine Schüler anschließend fragen, ob sie das alles wirklich ertragen hätten, um nun hier bei den Ungebildeten und den Einfältigen im Schmutz der Wüste zu stranden und deren Unterweisung zu hören.4 industrius adpetitor cunctos labores et pericula atque dispendia aequanimiter libenterque sustentat (8,4–8). 2 Hier lässt Cassian Moyses gleich zu Beginn der Collationes auf Ebene der Geschichte eine Parallele benennen, die er sich selbst mit der Konzeption der Collationes in relativer Analogie zu paganen Lehrbüchern (s. 3.2 mit Krawiec 2012) zu Nutze macht. 3 Vgl. Stewart 1998, 41. 4 ob quem uos ipsi procul dubio parentum spreuistis affectum et patrium solum ac delicias mundi tot pertransitis regionibus despexistis, ut ad nos homines rusticos et idiotas atque in hoc heremi squalore degentes peruenire possetis (9,1–5).
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6. Bilder und Konzepte monastischer Bildung in den Collationes
Während der dreifache Vergleich zuvor auf eine Verknüpfung der Lebenswelten zielte, stehen Cassians Adressaten nun vor einem Paradox: Der Lehrer, dem sie gegenüberstehen und der einleitend von der methodischen Parallele zwischen dem Mönchtum und allen anderen Künsten gesprochen hat, bezeichnet sich jetzt – gemäß ägyptisch-monastischer Tradition (s. 2.2.1) – selbst als idiota. Dass ein Bildungsprozess – obwohl er in vergleichbaren Bahnen verläuft – in der ars mo nastica (s. 3.2) zu so gänzlich anderen Ergebnissen – bzw. einer so anderen Bewertung der Ergebnisse – als in anderen artes führen soll, macht deutlich, dass das Ziel dieses Prozesses, auch wenn der Weg ähnlich ist, kaum mit dem Ziel weltlicher Bildung verglichen werden kann. Zudem dient dieses Paradox dazu, die Aufmerksamkeit der Adressaten Cassians zu wecken und sie gezielt darauf hinzuweisen, dass zwar die Form – sowohl des vorliegenden Buches als auch des darin beschriebenen Weges – bekannt erscheinen mag, aber dennoch eine Offenheit gegenüber einem Ziel, das allen bekannten Maßstäben zuwiderläuft, gefordert ist. Auf diese grundlegende methodische Hinführung folgt eine Konkretion der beiden eingangs benannten Zielsetzungen. Moyses fragt seine beiden neuen Schüler in coll. 1,2, was ihr persönliches erstes und letztes Ziel, für das sich all das Genannte zu ertragen lohne, sei. Die Antwort in coll. 1,3 fällt äußert knapp aus, Cassian (jung) und Germanus können lediglich als letztes Ziel das Himmelreich benennen (regni caelorum causa haec cuncta tolerari 9,9 f.). Moyses beglückwünscht sie in coll. 1,4, das Gottesreich (regnum dei 10,1) korrekt als finis all ihrer Bemühungen erkannt zu haben. Diese Zielbestimmung aller monastischen Bemühungen nimmt eindeutig auf Evagrius Ponticus Bezug.5 Allerdings unterscheidet Cassian nicht, wie sein Vorbild und Lehrer, zwischen dem Himmelreich als Ort der Leidenschaftslosigkeit und der Erkenntnis des Seienden und dem Gottesreich als Ort der Erkenntnis der Trinität, der die Welt räumlich und zeitlich überschreitet,6 sondern verwendet beide Begriffe synonym.7 Abbas Moyses relativiert das ausgesprochene Lob sogleich, indem er erklärt, dass es unmöglich sei, das letzte Ziel zu erreichen – selbst wenn es noch so klar vor Augen stehe –, wenn der Weg dorthin, markiert durch verschiedene desti nationes, unbekannt sei. Diese Erzählsequenz lässt die Rolle des Lehrers / Altvaters noch schärfer hervortreten: Zwar haben die Schüler aus sich heraus bzw. mit Gottes Hilfe den Entschluss gefasst, das Himmelreich erreichen zu wollen, Anfang und Ende des Wegs stehen ihnen also vor Augen, aber wie sie von ei5
Vgl. Stewart 1998, 41; zur allgemeinen Vorstellung eines Himmels- / Gottesreiches bei Cassian vgl. Stewart 1998, 55–58. 6 Evagrius Ponticus, pract. 2 f. (SC 171, 498.500 Guillaumont / Guillaumont): Βασιλεία οὐρανῶν ἐστιν ἀπάθεια ψυχῆς μετὰ γνώσεως τῶν ὄντων ἀληθοῦς. Βασιλεία Θεοῦ ἐστιν γνῶσις τῆς ἁγίας Τριάδος συμπαρεκτεινομένη τῇ συστάσειτοῦνοός, καὶ ὑπερβάλλουσα τὴν ἀφθαρσίαν αὐτοῦ. 7 Vgl. Kelly 2012, 33 (Anm. 23).
6.1 Erstes und letztes Ziel
281
nem Punkt zum anderen gelangen können, wissen sie noch nicht – eben dafür braucht es den erfahrenen Altvater, der diesen Weg bereits gegangen ist, als Wegweiser (s. auch 5.3.3.1). Coll. 1,4 spezifiziert coll. 1,2 in mehrfacher Hinsicht: Zwar wird noch nicht offenbart, was das zu erstrebende erste Ziel ist, aber es wird breiter aufgefächert, wie sich darum zu bemühen ist: Seele und Geist sind entsprechend auszurichten (animae destinatio … mens intentio 9,16) und es muss mit Eifer und Beharrlichkeit verfolgt werden (studio perseuerantiaque 9,17). Abbas Moyses erläutert auch, weshalb die Kenntnis des ersten und des letzten Zieles von so großer Bedeutung ist: Sie bietet dem (geistigen) Blick eine Richtung (directionis obtutus uelut ad certam lineam cursum rectissimum dirigemus 10,9 f.) und hilft, abgeirrte Gedanken gemäß eines festen Maßstabes (norma rectissima 10,12) wieder neu auszurichten. Erneut wird auch auf den bereits bekannten, dreifachen lebensweltlichen Vergleich eingegangen. Nun wird allerdings – neben den bestehen bleibenden Komponenten Landwirt und Händler – der Soldat durch einen Staatsmann ersetzt. Innerhalb des Vergleichs nutzt Cassian Vokabular, das stark an eine Beschreibung des römischen cursus honorum erinnert: officium (9,29), ordo (9,29) und dignitas (9,31).8 Eine konkrete inhaltliche Füllung der beiden Ziele erfolgt erstmals gegen Ende von coll. 1,4, hier wird das erste Ziel mit Mt 5,89 als puritas cordis (10,7) bezeichnet, aber noch nicht weiter erläutert.10 Coll. 1,5 konkretisiert Cassians Vorstellung eines regni caelorum / dei und bezeichnet es mit Hilfe von Röm 6,2211 als uita aeterna (11,3), das erste Ziel wird mit diesem Bibelwort zum fructus sanc tificationis (11,4 f.). Den Zusammenhang von Herzensreinheit, Heiligung und ewigem Leben konkretisiert Cassian durch eine Anspielung auf ein partielles Zitat von Phil 3,13 f.12 In der weiteren Erklärung dieses Bibelwortes sticht vor al 8 Vgl. Gizewski 1997, 243–245. Dass damit auf eine Vergleichbarkeit von Mönchtum und staatlicher Karriere angespielt, dass gewissermaßen ein monastischer cursus honorum vor dem geistigen Auge der Adressaten Cassians heraufbeschworen wird, gibt abermals Zeugnis von der Aktualität der Collationes: Cassian nimmt so explizit Bezug auf die Situation im (Süd-)Gallien der 420er Jahre, in dem eine ‚ordnungsgemäße‘ staatliche Karriere aufgrund von Barbareneinfällen zunehmend schwieriger wird und das Mönchtum eine alternative ‚Karriere‘-Form darzustellen beginnt (s. 2.3.1). 9 „Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.“ 10 Eine nähere Erläuterung erfolgt erst im Verlauf von coll. 1 f., wird dort aber losgelöst von der Rede von destinatio / finis thematisiert, weshalb sie hier im folgenden Abschnitt (6.1.1) betrachtet wird. 11 „Nun aber, da ihr von der Sünde frei und Gottes Knechte geworden seid, habt ihr darin eure Frucht, dass ihr heilig werdet; das Ende aber ist das ewige Leben.“ 12 quod euidentius in Graeco ponitur κατὰ σκοπὸν διώκω, id est secundum destinationem persequor, tamquam si dixisset: hac destinatione qua illa quae posteriora sunt obliuiscor, id est anterioris hominis uitia, ad finem brauii caelestis peruenire contendo (11,14–18). Bei diesem Zitat scheint Cassian der originale Wortlaut so bedeutend, dass er κατὰ σκοπὸν διώκω (11,15) unübersetzt stehen lässt und für seine lateinischsprachigen Leser erläuternd paraphrasiert. An dieser Stelle wird erstmals Cassians präzises Gespür für verschiedene Bibel
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6. Bilder und Konzepte monastischer Bildung in den Collationes
lem eine Formulierung ins Auge, der anterior homo (11,17), dessen Laster durch eine konsequente Ausrichtung gemäß der erkannten destinatio vergessen werden. Zu diesem früheren Menschen wird kein exakter sprachlicher Gegensatz konstruiert, der den Menschen, der in strikter monastischer Zielgerichtetheit lebt, beschreibt; gut denkbar wäre jedoch eine Anspielung auf den neugeschaffenen Menschen, den Paulus in 2Kor 4,16 f. und Gal 6,15 beschreibt.13 Auf jeden Fall ist eine Allusion auf den ersten Prolog der Collationes zu vermuten, der diese der Beschäftigung mit dem interior homo – im Unterschied zum exterior homo der Instituta – zuordnet (s. 4.1.2). Damit wären der anterior homo und der exte rior homo als überwunden, bzw. bereits abschließend im vorherigen Werk thematisiert, anzusehen, während der Blick nun auf die zukünftige Ausrichtung des Inneren bzw. neu(geschaffen)en / neu zu schaffenden Menschen gelenkt wird. Die konkrete Rede von erstem bzw. vorläufigem (scopos / destinatio) und letztem bzw. höchstem (telos / finis) Ziel ist auf die beschriebenen ersten fünf Kapitel der ersten Collatio beschränkt. Zwar werden Herzensreinheit (s. 6.1.1) und Himmel- / Gottesreich (später meist im Kontext der Gottesschau thematisiert, s. 6.1.2) noch mehrfach argumentativ angeführt, aber nicht mehr in einer derartigen methodischen Engführung besprochen. Dass diese jedoch den Auftakt der gesamten Collationes bildet, macht deutlich, mit welcher Intention diese abgefasst sind und wie Cassian die nachfolgend präsentierten T hemen und Argumente eingeordnet wissen möchte: Während das letzte Ziel Cassian (jung) und Germanus, die auch an dieser Stelle als Reflektorfiguren mit Identifikationspotential für Cassians Adressaten konstruiert sind, bereits deutlich vor Augen steht, liegt der Weg dorthin noch im Dunkeln. Abbas Moyse erhellt – um im Bild zu bleiben – den ersten Abschnitt des weiten Weges, um einerseits methodische und lebensweltliche Anknüpfungspunkte und Parallelen zu eröffnen, aber andererseits gleich zu Beginn die kategoriale Verschiedenheit der Zielsetzung zwischen monastischem und weltlichem Bildungsweg zu betonen.
übersetzungen und Traditionen sichtbar. Das Phänomen, dass einzelne Begriffe, die ihm zentral erscheinen unübersetzt bleiben, begegnet mehrfach, aber nicht häufig, sodass diesen durchaus eine besondere Bedeutung beigemessen werden kann. Bei der lateinischen Erklärung der griechischen Wortfolge scheint es sich um eine freie Formulierung Cassians zu handeln, die deutlich vom Text der Vulgata abweicht. Die griechische Formulierung gleicht jedoch exakt dem NTG. Zu Cassians Umgang mit verschiedenen Bibeltexten s. auch 5.5. 13 2Kor 4,16: „Darum werden wir nicht müde; sondern wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert.“ Zur Verwendung dieses Zitats im Zuge der anthropologischen Grundvoraussetzungen monastischer Bildung vgl. 4.1.1. Gal 6,15: „Denn es gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein, sondern die neue Schöpfung.“
6.1 Erstes und letztes Ziel
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6.1.1 Puritas cordis und caritas 6.1.1.1 Der traditionsgeschichtliche Hintergrund Wie im vorherigen Abschnitt bereits deutlich wurde, ist Herzensreinheit ein monastisches Kernthema.14 Nachfolgend wird zu zeigen sein, auf welche Traditionen Cassian sich beruft und wie er diese im konkreten Blick auf seine Adressaten aktualisiert und zuspitzt. Cassians Einfluss im Blick auf die Tradition, Interpretation und Transformation des Begriffs ist kaum zu überschätzen, C. Stewart bezeichnet ihn diesbezüglich als „key figure“15 der lateinischsprachigen T heologie. Bereits vorchristlich wurde das Motiv der (inneren) Reinheit vielfältig genutzt, z. B. in Qumran oder bei Platon (s. u.).16 Dabei ist zu berücksichtigen, dass Reinheit in der Welt der (Spät-)Antike auf verschiedenen Ebenen gedacht werden kann: Es stehen körperliche / rituelle Reinheit, moralische Reinheit und metaphysische / kosmologische Reinheit nebeneinander und prägen gemeinsam den Begriff der puritas.17 Für die Collationes sind – da sie sich vorrangig mit dem Inneren Menschen beschäftigen – vor allem moralische und metaphysische Reinheit von Bedeutung. Die Tradition der moralischen Reinheit verortet C. Stewart primär in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur (Sir, Prov, Ps, Koh).18 Im Alten Testament wird ein reines Herz zu Voraussetzung, Indiz und Folge einer adäquaten Gottesbeziehung erklärt. Als Weiser wird dort derjenige dargestellt, der ein reines Herz hat, das es ihm ermöglicht, von Gott gehört und angesprochen zu werden.19 Die Vorstellung einer metaphysischen Reinheit nimmt ihren Ursprung in der stoischen und platonischen Philosophie, sowie davon ausgehend im christlichen Bereich bei Origenes. Um die Grundzüge einer metaphysischen Reinheit zu verstehen, ist ein Blick auf den Leib-Seele-Dualismus, wie er exemplarisch in Platons Phaidon angelegt ist, notwendig.20 Metaphysische Reinigung zielt auf eine Reinigung der Seele, des wahren Selbst, von der körperlichen Hülle, die lediglich ein endliches Übel darstellt. Hiermit verbunden ist auch die Vorstellung, dass der göttlichen Einheit die Zerrissenheit und Vielgestaltigkeit der Schöpfung gegenübersteht, die sich wiederum nach der Einung sehnt.21 14 Vgl. Stewart 1998, 42 f. Umfassend zu diesem T hema hat Juana Raasch in einer zwischen 1966 und 1970 in den Studia Monastica erschienenen Aufsatzreihe gearbeitet. Ihr ist auch der 1999 zum T hema „Purity of Heart“ von Luckman / Kulzer herausgegebene Sammelband gewidmet. 15 Stewart 1999, 2. 16 Vgl. Raasch 1969, 270 f. und Stewart 1998, 42. 17 Vgl. Stewart 1999, 4–8. 18 Vgl. Stewart 1999, 5 f. 19 Vgl. Nowell 1999, 29. Ausführliche Beispiele bietet Nowell 1999, 17–29. 20 Platon, Phaidon 62b; vgl. Stewart 1999, 7. 21 Vgl. Stewart 1999, 7.
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6. Bilder und Konzepte monastischer Bildung in den Collationes
Die zentrale Belegstelle im Neuen Testament, auf die auch Cassians Argumentation in den Collationes grundlegend baut, ist die Verheißung des Gottesreiches für die, die reinen Herzens sind, in den Seligpreisungen der Bergpredigt (Mt 5,8). Christliche T heologen des zweiten und dritten Jahrhunderts bringen die Reinheit des Herzens nicht nur mit moralischer Integrität, sondern auch mit einer Reinheit des Glaubens, frei von jeder Häresie, zusammen.22 Stärker verinnerlicht Origenes dieses Konzept in seiner Vorstellung einer stufenweisen metaphysischen Reinigung der Seele durch die (Schau der) Trinität.23 Origenes’ Schüler Evagrius kennt zwar auch den Begriff der puritas / καθαρότης, nutzt aber wesentlich häufiger den stoisch geprägten Terminus ἀπάθεια. Diese Vorstellung einer vollkommenen Leidenschaftslosigkeit markiert in seinem Konzept spirituellen Aufstiegs die Mitte bzw. den Wendepunkt zwischen πρακτική und γνωστική.24 Ἀπάθεια ist dabei nicht mit Apathie im negativen Sinne von Teilnahmslosigkeit zu verwechseln, sondern ist höchst positiv konnotiert als Freiheit von allen Leidenschaften / Lastern und daher mit Ruhe des Herzens gleichzusetzen.25 Die cassiansche Herzensreinheit ist eng verwandt mit Evagrius’ Vorstellung der ἀπάθεια. Diesen Begriff meidet Cassian jedoch vollständig, er ersetzt ihn dort, wo er auf Evagrius’ Vorstellung des geistigen Aufstiegs über mehrere Stufen rekurriert, stets durch puritas cordis / puritas men tis / puritas animae.26 Damit mag eine implizite Kritik an Evagrius’ Wortwahl gegeben sein27 oder schlicht eine stärkere Betonung der biblischen Grundlage, besonders mit Mt 5,8.28 Es ist zudem bedenkenswert, ob Cassian sich bewusst für eine konstruktive Formulierung („Reinheit erreichen“) anstelle einer destruktiven („Leidenschaften ablegen“) entscheidet, da jene konkreter und damit motivierender wirkt.29
22
Vgl. mit Beispielen Raasch 1969, 271. Vgl. Raasch 1969, 271. 24 Z. B. Evagrius Ponticus, gnost. 2; vgl. Harmless 2004, 347–349. 25 Vgl. Harmless 2004, 346 f. 26 Vgl. Stewart 1998, 42 f. 27 S. auch 4.3.2. Kritik an Evagrius’ Begriff ἀπάθεια wird bspw. explizit durch Hieronymus formuliert. Im Brief an Ctesiphon übersetzt er ἀπάθεια mit den lateinischen Begriffen inpassibilitas und inperturbatio – Empfindungslosigkeit und Un-Unruhe – Eigenschaften, die mit gutem Gewissen nur entweder einem Stein oder Gott, aber keinem Menschen, zugeschrieben werden können (Hieronymus, ep. 133,3). Noch schärfer formuliert Hieronymus im Prolog seiner Dialoge gegen die Pelagianer, dort verbindet er die ἀπάθεια mit der häretischen Vorstellung völliger Sündlosigkeit, die der Mensch aus eigener Kraft erlangen und sich so gottgleich machen könne (Hieronymus, adv. Pelag. prol. 1); vgl. Sheridan 2012c, 335–338. Eine umfassende Begriffsgeschichte der ἀπάθεια von Cicero bis Cassian bietet Sheridan 2012c, 340–361. 28 Stewart 1999, 8. 29 Vgl. McGinn 22001, 319; vgl. auch Foucault 2018, 293 f., der Ähnliches für die Unterscheidung von Enthaltsamkeit (negativ) und Keuschheit (positiv) darstellt. 23
6.1 Erstes und letztes Ziel
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6.1.1.2 Puritas cordis und caritas in den Collationes – die Texte Coll. 1 bietet, nach den anfänglichen methodischen Bemerkungen, mehrere Ansätze, die puritas cordis, das zuvor bestimmt erste Ziel des Mönches, zu definieren, zu umschreiben und mit Vergleichen zu fassen. Hierzu hebt Abbas Moyses in coll. 1,6 zu einer Beispielerzählung an. Er berichtet von Mönchen, die mit Eintritt ins monastische Leben zwar allen Besitz aufgeben, dann aber mit ihren Brüdern in Streit um Kleinigkeiten, wie das Anrecht auf einen Schreibgriffel, geraten. Diese Beispielerzählung illustriert, dass die nach außen sichtbare Aufgabe weltlichen Besitzes wertlos bleibt, wenn sie nicht mit der Haltung des Inneren – dem mentalen Loslösen von jeglichem Besitzdenken – übereinstimmt. Diese erstrebenswerte innere Haltung wird als Liebe, die einzig aus Herzensreinheit besteht, beschrieben (caritas…, quae in sola cordis puritate consistit 12,28 f.). Damit erscheint die puritas cordis äquivalent zur caritas. Die Definition wird sogleich um eine Auffächerung des Begriffs caritas in Anlehnung an die in 1Kor 13,4–8 genannten Aspekte ergänzt: Sie eifert nicht, sie ist nicht aufgeblasen, sie ist nicht gereizt, sie handelt nicht falsch, sie fragt nicht, was das ihre ist, sie freut sich nicht an Ungerechtigkeit und sie denkt nichts Schlechtes von anderen.30 Die hier angedeutete Gleichsetzung von caritas und puritas cordis wird in coll. 1,7 folgendermaßen expliziert: id est puritatem cordis, quod est caritas (13,21). In diesem Kapitel wird ebenfalls thematisiert, wie die caritas / puritas cordis erreicht werden kann, nämlich durch Einsamkeit, Fasten, Nachtwachen, Arbeit, Nacktheit, Lesungen und andere Tugenden, die letztlich dazu dienen, das Herz gegen schädliche Leidenschaften zu stärken, um zur perfectio caritatis (13,11) emporzusteigen (conscendere 13,12).31 Dabei wird wiederholt betont, dass all die genannten asketischen Praktiken keinem Selbstzweck dienen, sondern gesammelt auf den prin cipalis scopus (13,20) hinarbeiten und damit zu Werkzeugen der Vollkommenheit werden (perfectionis instrumenta 14,7). Dreierlei ist bis hierher bemerkenswert: Erstens lässt die Aufzählung der asketischen Praktiken auf dem Weg zur caritas / puritas cordis in coll. 1,7 an die Liste in coll. 1,2 denken (s. o.). Dort hieß es, dass die Adressaten32 Fasten, Nachtwachen usw. bereits ertragen hätten, um sich nun an einem entscheidenden 30 nam quid est aliud non aemulari, non inflari, non inritari, non agere perperam, non quaerere quae sua sunt, non super iniquitate gaudere, non cogitare malum et reliqua, nisi cor perfectum atque mundissimum deo semper offerre et intactum a cunctis perturbationibus custodire? (12,29–13,5). 31 pro hac solitudo sectanda est, pro hac ieiunia, uigilias, labores, corporis nuditatem, lectionem ceterasque uirtutes debere nos suscipere nouerimus, ut scilicet per illas ab uniuersis passionibus noxiis inlaesum parare cor nostrum et conseruare possimus et ad perfectionem caritatis istis gradibus innitendo conscendere (13,7–12). 32 Auf Ebene der Geschichte: Cassian (jung) und Germanus, auf Ebene der Erzählung: Leontius und Helladius in Stellvertretung für die monastisch interessierte Oberschicht Südgalliens.
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6. Bilder und Konzepte monastischer Bildung in den Collationes
Wendepunkt ihrer monastischen Laufbahn wiederzufinden, der bisher Sichergeglaubtes fundamental in Frage stellen werde. Nun folgt die entschiedene Ermahnung, dass all diese Praktiken an sich keinen Wert hätten, sondern diesen erst durch ihr Hinwirken auf ein höheres Ziel erhielten. Liest man diese Ermahnung gemeinsam mit der coll. 1,6 einleitenden Beispielerzählung, wird eine Kritik Cassians an dem Mönchtum, für das und in dessen Anschauung er schreibt, wenn auch implizit, so doch deutlich hörbar. Zweitens wird puritas cordis / cari tas hier zwar als principalis scopus (13,20) beschrieben, erscheint als solches aber losgelöst von einem zweiten / letzten Ziel, fast so als sei das principalis für den Moment nicht als ‚anfänglich‘, sondern als ‚hauptsächlich‘ zu verstehen. Drittens fällt die dreifach positive Beschreibung dieses monastischen (Zwischen-)Ziels ins Auge: Es geht darum, das Herz zweckmäßig für den Kampf gegen die Laster auszurüsten (parare 13,10) und es vor ihnen zu bewahren (conseruare 13,11), sodass es ungehindert aufsteigen kann (conscendere 13,12). Damit wird die zuvor formulierte T hese, dass Cassian sich bewusst von Evagrius negierender Wortwahl der ἀπάθεια abgrenzt, um etwas Positiv-Konstruktives zu formulieren, gestärkt. Coll. 1,8 wählt ein biblisches Bild, die Perikope von Maria und Martha (Lk 10,38–42),33 um das bis hierher über die puritas cordis / caritas Gesagte zu illustrieren und es gleichzeitig im Blick auf ein zweites Ziel wieder zu relativieren: Martha hat einen heiligen Dienst (sanctum ministerium 14,25) gewählt, indem sie ihre gesamte Tätigkeit auf Jesus und die Jünger ausrichtet (ministrare 14,26). Maria hingegen hat die geistliche Lehre (spiritalis doctrina 14,27) gewählt, was sich im aufmerksamen Sitzen zu Jesu Füßen (Iesu pedibus inhaerere 14,27) ausdrückt. Marthas Handeln wird als heilige Unruhe (pia sollicitudo 14,30–15,1) beschrieben, wohingegen Maria den besseren Teil (melior pars 14,29) gewählt hat, da ihre Haltung ihr nicht genommen werden kann (non possit auferri 14,30). Es wird jedoch ausdrücklich betont, dass das Lob Marias keinen Tadel Marthas beinhaltet (nequaquem eam uituperare 15,28). Ihr Handeln – so gut es auch sein mag – steht jedoch unter dem Vorbehalt, dass es, da es körperlich ist, endlich ist (nec enim ministerium corporale cum homine poterit iugiter permanere 16,1 f.). In der Auslegung dieser figura (14,23) steht Maria für die Gottesschau, das höchste Ziel, während Martha das erste Ziel (bzw. den Weg dorthin) – eine tätige cari tas – verkörpert.34 Damit wird verdeutlicht, dass die puritas cordis / caritas zwar 33 „38 Als sie aber weiterzogen, kam er in ein Dorf. Da war eine Frau mit Namen Marta, die nahm ihn auf. 39 Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria; die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu. 40 Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihnen zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach: Herr, fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll! 41 Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr: Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. 42 Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.“ 34 Auf die allegorische Auslegung der Perikope von Maria und Martha wird auch im Blick auf die Gottesschau einzugehen sein (s. 6.1.2). Umfassend thematisiert Kelly 2012, 17–42 diese Allegorie.
6.1 Erstes und letztes Ziel
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für den Moment durchaus erstrebenswert ist, jedoch keinen Zustand darstellt, in dem unnötig lange verharrt werden sollte, da er keinen Mehrwert für die Zukunft bietet. Diese Auslegung der Perikope von Maria und Martha führt bei Abbas Moyses’ Zuhörern in Vorwegnahme der Reaktion der Adressaten der Collationes – wenig überraschend – zu großer Erschütterung (nos valde permoti 16,4), da sie um den erwarteten gerechten Lohn für ihre (asketischen) guten Taten fürchten. Daraufhin erläutert Abbas Moyses in coll. 1,10, dass er keineswegs den zeitlich begrenzten Nutzen solcher Taten bestreiten wolle, dass diese jedoch ihren Zweck, die Reinigung des Herzens (emundatio cordis 16,21), verlieren würden, sobald der Mensch erst aus dem Zwiespalt von Geist und Fleisch befreit sei. Nur das durch den tätigen Reinigungsverlauf 35 erworbene reine Herz sei dann noch von Bedeutung, da es den Mönch bei seinem Aufstieg in die Ewigkeit – bzw. zur Gottesschau (s. u.) – begleite und diesen ermögliche (quia sine ipsis ad caritatis fastigia non possit ascendi 17,14 f.). 6.1.2 Gottesschau In der Darstellung von erstem und letztem Ziel (s. 6.1) wurde das Erreichen des Himmels- oder Gottesreiches als das höchste Ziel jeglicher monastischen Anstrengung präsentiert. Später wird dieses höchste Ziel auch als Schau (theoria) oder Einung (unio) beschrieben. Neben diesen Formulierungen begegnen auch die Begriffe contemplatio, obtutus und intuitus, die Cassian weitestgehend synonym für die theoria verwendet, um die größtmögliche Nähe zu Gott zu beschreiben.36 Diese verschiedenen Begriffe, die die Gottesschau beschreiben, begegnen gehäuft im ersten und dritten Teilband der Collationes, während Entsprechendes im zweiten Teilband im Rahmen der Darstellung der scientia spiritalis mit dem durch Evagrius Ponticus geprägten Begriff θεωρητική beschrieben wird (s. 6.2). Die Vorstellung einer Schau Gottes bringt die nachfolgend präsentierten Aspekte des Argumentationsganges der Collationes in die Nähe einer mystischen 35 Um diesen Reinigungsverlauf zu verdeutlichen, findet er in coll. 1,18 das Bild der Mühle, um diese andauernde und wiederkehrende Übung des Herzens (exercitium cordis 27,3) zu illustrieren. Vom vorbeiströmenden Wasser angetrieben steht das Mühlrad nie still. Der Müller kann nicht entscheiden, ob gemahlen wird, sondern nur was gemahlen wird – Getreide oder Unkraut. Genauso liegt es immer wieder neu in der Hand des Einzelnen zu entscheiden, worauf er sein Herz richtet. Sowohl in coll. 1,17 als auch in coll. 1,18 wird ein entscheidendes Hilfsmittel zur angemessenen Ausrichtung der Gedanken / des Herzens genannt: die Lesung und Meditation der heiligen Schriften (frequens lectio et iugis adhibetur meditatio scripturarum 26,24 f.; sanctarum scripturarum meditatio 27,15). Mit ihrer Hilfe kann eine Schulung des Blicks erfolgen, um zu entscheiden, welche Inhalte im Herzen „gemahlen“ werden sollten, diese Entscheidung wiederum obliegt der discretio (s. 5.1). 36 Vgl. Stewart 1998, 48 und McGinn 22001, 326 f.
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6. Bilder und Konzepte monastischer Bildung in den Collationes
T heologie.37 Am Beispiel des Origenes zeigt A. Louth, wie eng monastisches Leben und Streben mit einer Vorstellung mystischer T heologie verflochten sind: „Das mystische Leben bedeutet die Rückkehr in den ursprünglichen Zustand reiner, vergöttlichender Kontemplation. … Das asketische Ringen der Seele mit dem Leib läutert sie und bereitet sie auf die Kontemplation vor. … In dem Maße, in dem die leiblichen Sinne abgetötet werden, erwachen die geistlichen Sinne zum Leben.“38
Mit Evagrius Ponticus wird der mystische Aspekt der monastischen T heologie verstärkt an konkrete Praktiken wie das Gebet (s. 5.6) oder den Kampf gegen die Dämonen (s. 4.2 und 5.1) gebunden.39 Diese konkreten Zusammenhänge innerhalb der Collationes wurden bereits in den vorherigen Kapiteln dargestellt, sodass nun verstärkt nach der theoretischen Definition des letzten und höchsten Ziels monastischer Bildung zu fragen ist. Bereits im vorherigen Kapitel wurde auf die Perikope, die die Begegnung Marias und Marthas mit Jesus beschreibt (Lk 10,38–42), eingegangen; dort allerdings mit dem Fokus auf Martha, die in der allegorischen Auslegung der Perikope für das erste Ziel, die durch asketische Tätigkeit erlangte Herzensreinheit, steht. Maria hingegen verkörpert die melior pars (14,29), eine Haltung gegenüber dem Göttlichen, die nicht auf innerweltlichen, sondern auf ewigen Lohn zielt (ab ea non possit auferri 14,30). Marias Haltung wird dabei mit dem Verb inhaerere (14,27) beschrieben, das – etwas unzureichend – mit ‚anhangen‘ übersetzt werden kann und traditionell häufig benutzt wird, um einen Prozess „liebender Einigung“40 im Sinne mystischer T heologie zu beschreiben.41 Während Martha die Welt benötigt, um ihre Tugendhaftigkeit auszuüben und unter Beweis zu stellen, ist Maria bereits einen Schritt weiter (ceteras uirtutes … secundo tamen gradu 15,11 f.). Sie benötigt keine anderen Tugenden mehr, ihr genügt die theo 37 „[U]nter Mystik [wird] eine Beziehung zwischen Mensch und Gott verstanden …, die sich als Vereinigung mit Gott, genauer … als eine Vereinigung mit Gott selbst kennzeichnen läßt, als eine Vereinigung, die real ist und daher zweifelsfrei erfahren wird, wenn auch der Ton eher auf der Wirklichkeit der Erfahrung als auf die Erfahrung selbst fällt. … Mystische T heologie [ist] der Versuch, die Bestimmtheit der Vereinigung zwischen der Seele und Gott zu verstehen.“ (Louth 1994, 548). Bemerkenswert ist an dieser Definition die große Nähe zum Erfahrungsbegriff, dessen zentrale Stellung in Cassians Bildungskonzept unter 5.4 herausgearbeitet wurde. Dies betont auch Leppin 2021, 14, um sodann acht Merkmale christlicher Mystik herauszuarbeiten (aaO., 15–18): Betonung der geistlichen Wirklichkeit Gottes; Erfahrung der unmittelbaren Nähe Gottes; innerliche Erfahrung bei äußerer Entrückung; nichtkognitive Erfahrung; Bereitschaft, die eigenen Identität grundlegend durch Gott wandeln zu lassen; Dreischritt (purgatio, illuminatio, unio); Momenthaftigkeit; heilsgeschichtlicher Zusammenhang. 38 Louth 1994, 553. 39 Vgl. Louth 1994, 555 f. 40 McGinn 22001, 327. 41 Dabei ist bemerkenswert, dass inhaerere aufgrund der Schwäche der menschlichen Natur nicht als konstante Haltung beibehalten werden, wohl aber über diese Welt hinaus andauern kann (vgl. Kelly 2012, 33).
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ria sola (15,10), die allein das höchste Gut (principale bonum 15,9) darstellt. Der entscheidende Unterschied zwischen der theoria als höchstem Ziel und allen anderen vorläufigen Zielsetzungen ist, dass sie endlos, d. h. nicht an das Sein in dieser Welt gebunden, ist (illius uero studium nullo prorsus aeuo posse finiri 16,2 f.). Während Marthas Tätigkeit sich in unzählige verschiedene Tätigkeitsfelder und Ausrichtungen aufgliedern lässt, ist die theoria Marias simplex et una (15,17 f.).42 Dieselbe Perikope wird erneut in coll. 23,3 herangezogen, um den Mehrwert des letzten Ziels der Gottesschau gegenüber allen anderen Zielen und Tugenden zu betonen.43 Allerdings wird die Geschichte nicht mehr umfassend wiedergegeben, wie noch im ersten Teilband, sondern erscheint hier vielmehr in einer Reihe von biblischen und nichtbiblischen Beispielen, die den Wert der zu erstrebenden Gottesschau illustrieren. Das Kapitel beginnt mit einer Anspielung auf den Schatz im Acker (Mt 13,44–46).44 Auf das wörtliche Zitat von Lk 10,41 f.45 folgt ein nichtbiblisches Beispiel, das verschiedene Edelmetalle miteinander vergleicht: So erscheint Zinn trotz all seines Nutzens im Vergleich mit Silber wertlos. Silber jedoch kann nicht mit Gold konkurrieren und Gold unterliegt Edelsteinen. All diese Edelsteine sind aber wertlos, wenn man sie mit der einen, vollkommenen Perle (margarita 642,20) vergleicht. Hier wird die einleitende Allusion durch die Stichwortverbindung zu Mt 13,46 Vulg. abgeschlossen, sodass sie einen Rahmen um die Maria-Martha-Perikope bildet. Mittig in dieser Ringkomposition findet sich die zentrale T hese, die Cassians bisherige Argumentation in Bezug auf die Gottesschau auf den Punkt bringt: Das eine, wonach es sich zu streben lohnt, ist die theoria, die contemplatio Gottes, deren Wert alle Rechtfertigungen übersteigt und die alle Bemühungen um Tugendhaftigkeit in den Schatten stellt.46 42 Hier wird auf eine platonische Vorstellung des Göttlichen verwiesen (vgl. Stewart 1998, 49), wie sie oben bereits im Zuge der metaphysischen / kosmologischen Reinheitsvorstellung thematisiert wurde: die Einheit Gottes im Gegenüber der Vielgestaltigkeit und Zerrissenheit der Schöpfung. Die Gottesschau erhebt sich damit schon aus dem Weltlichen, zu Überwindenden, und tritt in die göttliche Sphäre des Einen und Einheitlichen ein (vgl. Stewart 1999, 7 und Kelly 2012, 27). 43 Kelly 2012, 24 votiert dagegen, hier eine bewusste rahmende Konzeption anzunehmen, ihm erscheint die eröffnende und schließende Funktion dieser Perikope eher zufällig. Bedenkenswert scheint ihm jedoch zumindest, dass durch die Positionierung dieser Allegorie Maria – eine Frau – in eine zentrale Stellung als „monastic archetype“ (Kelly 2012, 21) rückt. 44 „44 Das Himmelreich gleicht einem Schatz, verborgen im Acker, den ein Mensch fand und verbarg; und in seiner Freude geht er hin und verkauft alles, was er hat, und kauft den Acker. 45 Wiederum gleicht das Himmelreich einem Kaufmann, der gute Perlen suchte, 46 und da er eine kostbare Perle fand, ging er hin und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte sie.“ 45 Martha Martha, sollicita es et turbaris circa multa: paucis uero opus est aut etiam uno. Maria bonam partem elegit, quae non auferetur ab ea (642,8–10). 46 una ergo est theoria, id est contemplatio dei, cuius merito omnia iustificationum me rita, uniuersa uirtutum studia postponuntur (642,11–13).
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Einleitend und abschließend betonen die Collationes also den unüberschätzbaren Wert der theoria / contemplatio als einziges und höchstes Ziel des Strebens nach monastischer Vollkommenheit. Im Anschluss an diesen Auftakt in coll. 1,8 wird sich jedoch praktischer orientiert Schwierigkeiten beim Erreichen und Beibehalten der Gottesschau gewidmet: Das zuvor konstruierte Ideal der Gottesschau wird in coll. 1,13 einer Realitätsprüfung unterzogen. Cassian lässt Abbas Moyses zu dem Schluss kommen, dass es schlicht unmöglich sei, dass die contemplatio ununterbrochen durchgehalten wird, solange der Mensch in der Hinfälligkeit des Fleisches gefangen ist.47 Dies darstellend werden weitere Formulierungen für die Gottesschau gefunden: die Aufmerksamkeit des Geistes (mentis intentio 19,1) und der Blick der Seele (animae intuitus 19,2 f). Es ist die Aufgabe des Geistes, die Blickrichtung auf Christus (Christi contemplatio 19,6) zu wahren oder ggf. nach einem kurzen Abirren zu korrigieren. Sehr bildhaft spricht Cassian zudem von den Augen des Herzens (cordis oculos 19,8) und der Wiederausrichtung der (Seh-)Schärfe des Geistes (mentis acies 19,9) gemäß der aus coll. 1,4 bekannten rectissima linea (19,9).48 Bereits die Verortung des zu lenkenden Blickes in Geist, Seele und Herz zeigt an, dass es sich bei der Gottesschau um ein zutiefst innerliches und individuell zu bestreitendes Phänomen handelt. Dies betont Cassian mit einem Zitat von Lk 17,20 f.,49 das den präsentischen Anbruch des zunächst unsichtbaren Gottesreiches im Inneren des Menschen verkündet.50 Das mit der Gottesschau im Inneren des Menschen anbrechende Gottesreich wird zum einen um die Attribute iustitia, pax und gaudium (19,22) ergänzt und lässt zum anderen eine Verbindung zur Rede von erstem und letztem Ziel erkennen: Dort wurde das Reich Gottes als letztes und höchstes Ziel erklärt, dieses wird nun mit der theoria gleichgesetzt. Auf diese erweiterte Definition dessen, was unter Gottesschau zu verstehen ist, folgt in coll. 1,15 die Erläuterung, in welch vielfältiger Weise die contempla 47 Inhaerere quidem deo iugiter et contemplationi eius quemadmodum dicitis inseparabi liter copulari inpossibile est homini ist carnis fragilitate circumdato (18,26–28). Stand zuvor die platonische Unterscheidung von Einheit und Vielheit im Vordergrund, wird der Blick nun explizit auf einem Leib-Seele-Dualismus gerichtet (vgl. Stewart 1999, 7). 48 Zudem ist bedenkenswert, dass zwar einerseits von einer norma, andererseits von einer linea gesprochen wird, beide aber mit dem Superlativ rectissima versehen werden. Diese Formulierung kann entweder elativisch verstanden werden, oder aber so, dass es zwar mehrere Möglichkeiten gibt, an denen der Mönch sich orientieren kann, diese aber die „allerrichtigste“ ist. 49 „20 Als er aber von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das Reich Gottes?, antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht mit äußeren Zeichen; 21 man wird auch nicht sagen: Siehe, hier!, oder: Da! Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ 50 In dieser Auslegung von Lk 17,21 kann eine bewusste Distanzierung von Evagrius gesehen werden, der stärker auf den futurischen Charakter, zumindest des Gottesreiches abhebt (s. Kapitel 6, Anm. 6; vgl. Stewart 1998, 58).
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tio (25,3) geübt werden kann.51 Gott kann nicht allein durch die Bewunderung seiner unbegreiflichen Wesenheit (inconprehensibilis substantia 25,4) geschaut werden, sondern auch, indem seine Schöpfung (creatura 25,6), seine Gerechtigkeit (aequitas 25,6) und sein tägliches Heilswirken (dispensatio 25,7) betrachtet werden. Diese Art der Betrachtung fällt besonders leicht, wenn man anschaut, wie Gott zu verschiedenen Zeiten an seinen Heiligen wirkt (cum sanctis suis per singulas generationes egerit 25,8 f.).52 Die staunende Bewunderung all dieser göttlichen Taten führt schnell zu einem mystischen Außer-Sich-Sein (admirationis excessus 25,21 f.).53 In diesem Zustand kann schließlich die Einsicht in eine Grundbewegung des monastischen Daseins erlangt werden, nämlich dass Gott allein es ist, der die Einstimmung des menschlichen Willens in seinen Heilsplan anstößt und ermöglicht, wodurch wiederum ein tieferes Verständnis der göttlichen Gnade geweckt wird (s. 4.4.2.2; pro solo bonae uoluntatis adsensu aeterna beatitudine ac perpetuis nos praemiis muneratur 25,24–26). Damit erweist sich die Gottesschau nicht als einmaliger oder einliniger Prozess, sondern als eine immer tiefergehende, auf vielfältige Weise mögliche, sich stets neu denkende und intensivierende, spiralförmige Bewegung. Eine Verbindung von Außer-Sich-Sein / Entrückung (excessus 75,26) und Gottesschau wird auch in coll. 3,7 hergestellt. Derjenige, der in der Gottesschau so weit fortgeschritten ist, dass die Augen seines Herzens (oculi cordis 76,3) von allem Gegenwärtigen abgezogen sind, wird mit Henoch verglichen, der von Gott über das menschliche Tun und Handeln enthoben wurde (ut Enoch cum deo ac de humana conuersatione moribusque translatus 76,6 f.). Auch hier wird die Gottesschau als Ergebnis einer Erwählung durch Gott, in der der Mensch selbst sich tendenziell passiv verhält, charakterisiert. Unter diesen gottgegebenen Rahmenbedingungen hat jedoch auch der Mensch seinen Beitrag zu leisten: Ihm obliegt es, seinen Geist fachgerecht zu verfeinern, weltlichen Leidenschaften zu 51 Hiermit ist ein deutlicher Unterschied zum Konzept der θεωρητική (coll. 14) benannt, die explizit allein aus zwei Herangehensweisen besteht: der historischen und der geistigen Schriftauslegung (s. 6.2). Der o. g. Grundsatz, dass die reine Schau simplex et una sei, wird hierdurch jedoch m. E. nicht tangiert, da alle genannten Wege der Schau das Eine und Einfache – Gott – zeigen. 52 Dieser Argumentationsgang geht auf Evagrius Ponticus (z. B. gnost. 1,73; vgl. Konstantinovsky 2009, 60). Dieses Argument mag ebenfalls als Legitimation von Cassians schriftstellerischer Tätigkeit angesehen werden. Denn genau das macht er: Er führt seinen Lesern vor Augen, wie Gott die Geschicke der verschiedenen Altväter gelenkt hat – so sind die Collationes nicht nur monastisches Lehrbuch, sondern aktive Hilfe zur Gottesschau. 53 Der Begriff excessus zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er sich dem Versuch einer exakten Definition entzieht und eben etwas benennt, dass nicht rational beschreibbar ist. Häufig steht er mit einer Licht- oder Feuermetaphorik in Beziehung. In monastischer Literatur kann er auch abwertend gebraucht werden, wenn dämonische Attacken beschrieben werden sollen (vgl. Stewart 1998, 116–118).
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entsagen, unablässig über göttliche Dinge und die geistige Schau nachzusinnen und so allmählich zu überwinden, dass der Geist noch im Körper gefangen ist.54 Das in coll. 3,7 Dargestellte wird in coll. 6,10 wiederholt, nun allerdings mit einer anderen für die Collationes zentralen Terminologie beschrieben: Es wird als eine entscheidende Tätigkeit bzw. Fähigkeit des Inneren Menschen beschrieben, das Zukünftige (d. h. das Gottesreich, das letzte Ziel) nicht nur zu begehren, sondern bereits erleuchtet zu schauen (futura per excessum mentis non solum ar dentissime concupiscit, uerum etiam clarius intuetur 163,19 f.). Im zweiten Teilband der Collationes werden Vorgänge der Gottesschau mit dem an Evagrius Pontikus angelehnten griechischen Fachbegriff θεωρητική umschrieben und deutlich engmaschiger definiert als im bisher dargestellten ersten Teilband (s. 6.2). Der dritte Teilband hingegen schließt zunächst – sprachlich wie inhaltlich – mit den Ausführungen zur Gottesschau wieder enger an den ersten an, auch wenn die Gottesschau hier nur noch vereinzelt thematisiert wird. In coll. 19 lässt Cassian Abbas Johannes die Vor- und Nachteile der anachoretischen und koinobitischen Lebensform diskutieren und ihn feststellen, dass ein vollständiger excessus (hier stellvertretend für die Gottesschau betrachtet) nur in völliger Einsamkeit möglich ist. Abbas Johannes berichtet, dass er als junger Mönch, als die Wüste noch nicht so stark übervölkert war, frequentissime (538,19) ganz außer sich und völlig hingerissen war. Diese Überlegungen binden die Gottesschau eng an die Anachorese und lassen fragen, in welchem Maße sie im Koinobion überhaupt möglich bzw. ob oder wodurch sie zu ersetzen ist. Diese Frage kommt in coll. 19,9 zu einer vorläufigen Antwort: Der Koinobit kann die Schau Gottes nicht vollständig erreichen (nec coenobiota theoreticam ad integrum potest adse qui puritatem 543,18 f.). Dafür kann er auf andere Art und Weise, die wiederum dem Anachoreten verwehrt bleibt, nämlich durch vollständige ἀκτημοσúνη55 (543,17), zur Vollkommenheit streben. Es bleibt jedoch offen, ob die ἀκτημοσúνη dabei wirklich an die Stelle der Gottesschau tritt oder vielmehr den bestmöglichen Kompromiss, der monastische Ideale und praktische Überlegungen zur Lebensform verbindet, darstellt.
54 huius ergo renuntiationis tertiae ueram perfectionem tunc merebimur obtinere, quando mens nostra nullo carneae pinguedinis hebetata contagio, sed peritissimis elimationibus ex polita ab omni affectu et qualitate terrena per indesinentem diuinarum rerum meditationem spiritalesque theorias ad illa quae inuisibilia sunt eo usque transierit, ut circumdatam se fragilitate carnis ac situ corporis supernis et incorporeis intenta non sentiat atque in huius modi rapiatur excessus, ut non solum nullas uoces auditu recipiat corporali nec in intuendis praetereuntium imaginibus occupetur, sed ne adiacentes quidem moles et ingentes materias obiectas oculis carnis aspiciat (75,19–29). 55 Hierbei handelt es sich um die vollständige, selbstgewählte Armut, die häufig als eine der zentralen monastischen Tugenden beschrieben wird (vgl. Lampe 2001, 67).
6.1 Erstes und letztes Ziel
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An dieser Beobachtung bricht erneut die Frage auf, die bereits im Blick auf (ideale) monastische Lebensformen (s. 5.2) diskutiert wurde und im Blick auf die in diesen zu erreichende (partielle) Vollkommenheit (s. 6.3) fortzuführen ist, nämlich wie stark Cassian ein im ersten Teilband propagiertes Ideal zunehmend der südgallischen Realität seiner Adressaten anpasst: Fast scheint es hier, dass er den Fokus weg von dem höchsten Ziel, der Gottesschau, hin zu den praktisch(er) umsetzbaren, jedoch – zumindest wenn man der Argumentation des ersten Teilbandes folgt – ‚nur‘ der Herzensreinheit dienenden Taten der Koinobiten lenkt. So strikt, wie coll. 19 es vermuten lässt, erfolgt die Abkehr von dem im ersten Teilband formulierten Ideal im weiteren Verlauf des dritten Teilbandes jedoch nicht. Allerdings lässt sich beobachten, dass die Zusammenhänge und die Akzentsetzung der Argumentationsgänge, in denen von der Gottesschau die Rede ist, sich verändern: In coll. 23,4 stehen sich – gut platonisch – Gott als das einzig Gute, aus dem sich jeder menschliche Ansatz zu guten Gedanken oder Taten speist, und der Mensch, der zwar Anteil an dieser Quelle des Guten haben, sie aber nie gänzlich erreichen kann, gegenüber. Diese Diskrepanz und damit die eigene Fehlbarkeit werden dem Menschen bewusst, wenn er seinen Blick auf Gott richtet.56 Um die unüberwindbare Unterschiedenheit von Gott und Mensch sowie die zunehmende Selbsterkenntnis des Menschen im Gegenüber zu Gott zu illustrieren, bedient sich Cassian im dritten Teilband wiederholt einer variantenreichen Lichtmetaphorik: So nutzt er in coll. 23,3 Jes 30,26,57 um zu beschreiben, wie herausragend das futurum saeculum (643,12 f.) im Unterschied zu dieser Welt, die selbst bei ihrer Schöpfung schon als bona ualde (642,27–643,1) tituliert wurde, sein wird. Zudem ist auffällig, dass die Schau Gottes hier stärker ins Zukünftige verlagert wird und nicht mehr, wie im ersten Teilband beobachtet, ein präsentischer Anbruch des Gottesreiches als Ort der Gottesschau im Individuum angenommen wird. Auch in coll. 23,4 wird im Anschluss an das soeben Dargestellte mit einer Lichtmetaphorik argumentiert: Allein in 644,25–645,1 begegnen in Bezugnahme auf Gott fünf Formen von gloria / glorificare sowie lumen und fulgor. Diese weisen den Weg zu der abschließenden Feststellung, dass die Verdienste aller Tugenden im Vergleich zum hellen Schein der Schau Gottes verdunkelt bzw. geschwärzt erscheinen.58 56 et utique hos omnes secundum se bonos esse non dubium sit, si respiciamus ad boni tatem dei, nullus eorum pronuntiabitur bonus dicente domino: nemo bonus nisi solus deus? (644,4–7). 57 erit lux lunae sicut lux solis, et lux solis septempliciter sicut lux septem dierum. (643,15 f.); „Und das Licht des Mondes wird wie das Licht der Sonne sein, und das Licht der Sonne wird siebenfach verstärkt sein an dem Tag, wenn der Herr die Zerschmetterung seines Volkes heilt und den Schmerz deines Volkes heilen wird.“ 58 ita igitur et uniuersarum merita uirtutum, quae superius conprehendi, cum per se bona atque pretiosa sint, tamen theoreticae claritatis conparatione fuscantur. (645,8–10). Dieser Aspekt wurde bereits ausführlich unter 4.3.2 im Blick auf die (Un-)Möglichkeit mensch-
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6. Bilder und Konzepte monastischer Bildung in den Collationes
Während im ersten Teilband die Gottesschau als präsentische Option auf Vollkommenheit, die zwar nie vollständig oder anhaltend, aber doch partiell schon jetzt erreicht werden kann, präsentiert wird, wird die Gottesschau im dritten Teilband nicht nur futurischer, sondern durch mehrfache platonische Anspielungen auch stärker abstrahiert dargestellt. Es steht nicht länger zur Diskussion, weshalb die Gottesschau das höchste Gut ist oder in welchen konkreten Situationen des monastischen Daseins sie eine Rolle spielt. Vielmehr geht es im dritten Teilband um Feinjustierungen, es geht um die Bedeutung des Wissens um die Gottesschau für denjenigen, der sich selbst als nicht (ungehindert) schauend erkennt. Während die Gottesschau im ersten Teilband noch als konkretes Ziel formuliert wird, argumentiert der dritte Teilband auf einer höheren Reflexionsebene: Es geht nicht mehr um ein Ideal an sich, sondern nun darum, sich selbst in Relation zu einem Ideal wahrzunehmen, das man nicht vollständig erreichen kann – sei es ob der gewählten Lebensform oder ob der äußeren Umstände des Menschseins. Auf das Verhältnis der Teilbände der Collationes zueinander ließe sich daraus die Schlussfolgerung ziehen, dass im ersten (und zweiten, s. hierzu 2.3.2.2) Wissensbestände thematisiert und vermittelt werden, während der dritte Teilband verstärkt die Aneignung und Umsetzung dieser Wissensbestände behandelt. 6.2 Πρακτική und θεωρητική als scientia spiritalis Inhaltlich eng verbunden mit der Rede von erstem und letztem Ziel, von Herzensreinheit und Gottesschau, ist die Rede von πρακτική und θεωρητική,59 die gemeinsam die scientia spiritalis bilden. Diese begriffliche Zusammenstellung begegnet ausschließlich in coll. 14 und geht zweifelsfrei auf Evagrius Ponticus (s. 2.2.3) zurück: Scientia erscheint dabei als lateinische Entsprechung der
licher Sündlosigkeit thematisiert. Erwähnenswert ist jedoch ein Gleichnis, das Cassian in coll. 23,6 anbringt und das Lichtmetaphorik und Selbsterkenntnis in bezeichnender Weise auf den Punkt bringt: Zwei Männer betreten ein Haus, einer mit unbeeinträchtigter Sehschärfe und ein anderer, dessen Augen abgestumpft sind. Während letzterer nur grobe Umrisse wahrnehmen kann, entdeckt der erste selbst in den dunkelsten Ecken noch allerlei Kleinigkeiten. Auch hier wird intensiv mit einer Hell-Dunkel-Metaphorik gespielt (z. B. clarissimum lumen … occultus 649,6). Das Gleichnis auslegend erläutert Cassian, dass das Haus für das Innere des Menschen, seine Seele, stehe. Nur mit Hilfe des göttlichen Lichtscheines ist es dem Menschen möglich, in die entlegensten Winkel und Abgründe seines Herzens vorzudringen und die dort verborgenen Fehler klar zu erkennen, um sie sodann zu bekämpfen. In der abschließenden Feststellung heißt es, dass diejenigen, die im dargestellten Sinne geistige Sehkraft besitzen, Heilige genannt werden können (sancti … dicamus uidentes 649,11). 59 Auch im lateinischen Text manchmal, nicht immer, in griechischer Schrift, was besonders betont, dass es sich hierbei um tradiertes Fachvokabular handelt.
6.2 Πρακτική und θεωρητική als scientia spiritalis
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γνῶσις, dem – laut Evagrius – höchsten Ziel des Christseins, das weit über eine Definition als angelerntes Wissen hinausgeht.60 Cassian beruft sich hierbei auf seinen Lehrer Evagrius, der neben einem fünfund einem zweigeteilten meist ein dreigeteiltes Modell des geistigen Aufstiegs beschreibt:61 Genau wie Cassian (s. u.) benennt Evagrius die erste Stufe als πρακτική und beschreibt sie als Glauben und Gottesfurcht, als Reinigung von den Lastern und Aneignung der Tugenden.62 Die letzte Stufe, Cassians θεωρητική, bezeichnet Evagrius als γνωστική und definiert sie als Kontemplation aller Dinge, die jedoch über eine (natur-)wissenschaftliche Untersuchung des Geschaffenen hinausgeht und damit offensichtlich mystische Züge trägt.63 Der Modus, in dem diese Stufe erreicht werden kann, ist das Gebet (s. 5.6), in dem die Trinität als Ursache aller Dinge erfahrbar wird.64 Anders als Cassian kennt Evagrius darüber hinaus eine Zwischenstufe, die die beiden erstgenannten verbindet: die ἀπάθεια, aus der die ἀγάπη resultiert. Wie oben (s. 6.1) bereits gezeigt, kennt auch Cassian diese Stufe, bezeichnet sie jedoch als puritas cordis und ordnet sie dem Abschluss der ersten Stufe, der uita actualis, zu, wodurch er eine klarere Zweiteilung des stufenweisen Aufstiegs erreicht.65 Genau wie Evagrius hält Cassian daran fest, dass ein vollständiger Aufstieg zur γνωστική nicht möglich ist, solange der Mensch durch sein körperliches Sein immer wiederkehrenden Versuchungen des Fleisches ausgesetzt ist, vielmehr ist die Position des Menschen folgendermaßen zu bestimmen: „T hus the journey towards God is not a simple linear ascent beyond ascetical practice into contemplation; rather, spiritual progress entails a gentle oscillation between these two poles in such a way that continuing attention to the changing demands of praktike yields ever-greater contemplative refreshment.“66
Coll. 14,1 macht den Auftakt mit einem Rekurs auf die bereits in coll. 1 formulierte Feststellung, dass allen Künsten und Wissenschaften (artes ac discip linae 398,15; s. 1, 3.1.1.1 und 6.1) eine vergleichbare Methodik zugrunde liegt. Auch für das religiöse Wissen (religionis nostrae disciplina 398,21; duplex scien tia 398,25), das es im monastischen Kontext zu vermitteln gilt, liegt ein klarer Lehrplan vor: Dieser gliedert sich in πρακτική und θεωρητική, wobei erstere im gegenwärtigen Tun (id est actualis 398,25) besteht und darauf abzielt, den Cha60 Vgl. Stewart 1998, 48 f., „For him [Cassian], as for his predecessors, ‚knowledge‘ is as much faculty as object, more like ‚wisdom‘ than ‚learning‘. … knowledge is inseparable from contemplation.“ (aaO., 48). 61 Vgl. Konstantinovsky 2009, 48. 62 Vgl. Harmless 2004, 347; z. B. Evagrius Ponticus, pract. 78. 63 Vgl. Harmeless 2003, 349; z. B. Evagrius Ponticus, gnost. 49. 64 Vgl. Harmless 2004, 350, s. o. zur Unterscheidung von Gottesreich und Himmelreich bei Evagrius. 65 Stewart 1998, 51 korreliert diese Zweiteilung mit der Unterscheidung der Schriftsinne in einen historischen (praktischen) und geistlichen (theoretischen). 66 Dysinger 2015, 75.
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6. Bilder und Konzepte monastischer Bildung in den Collationes
rakter zu verbessern (emendatio morum 399,1) und sich von den Lastern zu reinigen (vitiorum purgatio 399,1). Zweitere besteht in der Schau göttlicher Dinge (contemplatio diuinarum rerum 399,2) und der Erkenntnis heiligsten Denkens (sacratissimorum sensuum cognitio 399,2 f.). Coll. 14,2 hält fest, dass πρακτική und θεωρητική zwangsläufig in einer festen Reihenfolge erstrebt werden müssen, θεωρητική ist ohne πρακτική nicht möglich. Ganz bildhaft ist die Rede von Stufen, auf denen man zum Erhabenen emporsteigen kann (gradus … ad sublime conscendere 399,8 f.). Bis hierher sind – abgesehen von den neuen Bezeichnungen – keine gravierenden Unterschiede zur Rede von puritas cordis / caritas und theoria / contemplatio / intuitus zu finden (s. 6.1). Coll. 14,3–7 nimmt die πρακτική näher in den Blick: Zunächst werden in coll. 14,3 zwei Grundfähigkeiten, um die Stufe der πρακτική erfolgreich durchschreiten zu können, genannt: Erstens das Wissen über Gestalt und Heilung der Laster (natura uitiorum et curationis ratio cognoscere 399,17 f.) und zweitens die Kenntnis der Tugenden (discerne ordo uirtutem 399,18 f.). Diese Fertigkeiten kann der Mönch nicht aus sich selbst heraus entwickeln, sondern wird durch Gottes Wort in sie eingewiesen (illius sententia perdocemur 400,6 f.). Den auf dieser Stufe der geistigen Entwicklung zu vollziehenden Prozess beschreibt Cassian in Anlehnung an Jer 1,10:67 Um die Laster abzulegen, ist eine vierfache Herangehensweise notwendig, sie müssen ausgerissen, niedergerissen, vernichtet und zerstört werden (euellere, destruere, disperdere, dissipere 400,9 f.). Die Tugenden hingegen müssen dann ‚nur noch‘ aufgebaut und gepflegt werden (aedificare, plantare 400,10). Aus der Anzahl der jeweils zu vollziehenden Schritte schlussfolgert Cassian, dass es doppelt so schwer ist, die Laster abzulegen, wie die Tugenden einzuüben. Während coll. 14,3 beschreibt, was auf Stufe der πρακτική im Inneren des Menschen geschieht, schaut coll. 14,4 auf das Äußere des Menschen und benennt verschiedene Lebensformen und Tätigkeiten, durch die das in coll. 14,3 Beschriebene erreicht werden kann. Als erstes wird hier die Lebensform eines Anachoreten, gemäß der Vorbilder Elia, Elischa und Antonius (400,20 f.) genannt. Durch das Schweigen in der Einsamkeit (silentium solitudinis 400,22 f.) ist es diesen möglich, mit Gott einen eng vertrauten (familiarissime 400,22) Umgang zu pflegen. Als zweites wird das Leben und Handeln vorbildhafter Koinobiten (z. B. Abbas Johannes, Erzähler von coll. 19, 400,25 f.), die sich um die Unterweisung ihrer Brüder (institutio fratrum 400,23 f.) oder diakonische Aufgaben verdient machen, beschrieben. Beide monastische Lebensweisen werden an dieser Stelle gleichermaßen gewürdigt und es ist Cassian wichtig zu betonen, dass in keiner der beiden πρακτική besser eingeübt werden kann als in der anderen.
67 „Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.“
6.2 Πρακτική und θεωρητική als scientia spiritalis
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Coll. 14,5 hebt die Individualität des Weges zu Gott abermals hervor. Zunächst werden zwei mögliche ‚Einstiegsvoraussetzungen‘, die dem stufenweisen Aufstieg vorgeschaltet sind, genannt: Entweder handelt es sich um einen selbst gefassten Vorsatz oder um empfangene Gnade (ut secundum propositum quod elegit siue gratiam accepit 401,10 f.), die den Menschen sich um die πρακτική bemühen lassen.68 Mit Röm 12,4–869 und 1Kor 12,29 f.70 werden anschließend die unterschiedlichen Herangehensweisen als Gnadengaben dargestellt. Ein jeder Mönch bekommt von Gott seinen eigenen Weg zur πρακτική gewiesen. Es wird davor gewarnt, sich den Dienst (ministerium 401,23) eines anderen aneignen zu wollen. Diese Warnung wird in coll. 14,6 f. fortgeführt: Vielfältige Wege führen zu Gott (multis enim uiis ad deum tenditur 402,11), die einmal getroffene Wahl des eigenen Weges (professio 402,2) darf allerdings nicht leichtfertig verworfen werden. Denn die Nachahmung (imitari 402,4) zu vieler verschiedener Vorbilder ist ein Indiz der menschlichen Schwäche. Es ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, wenn man sich zu sehr bemüht, in allen Tugenden zugleich vollkommen zu werden (inpossible namque est unum eundemque hominem simul uniu ersis quas superius conprehendi fulgere uirtutibus 402,5–7). Auf coll. 14,8 und die dort verhandelte Lehre vom vierfachen Schriftsinn ist an anderer Stelle bereits ausführlich eingegangen worden (s. 5.5.2.2). Für die Frage nach πρακτική und θεωρητική ist hier von Bedeutung, dass nun die Aufmerksamkeit auf die zweite Stufe des monastischen Weges gelenkt wird, auf die θεωρητική. Während die πρακτική in vielfältiger Gestalt eingeübt werden kann, ist die Art und Weise, in der θεωρητική erworben wird, auf genau zwei Aspekte begrenzt: die historische Schriftauslegung und die Einsicht in den geistigen Schriftsinn (historica interpretatio et intellegentia spiritalis 404,8 f.). Von der θεωρητική ausgehend, wird in coll. 14,9 noch einmal aus einer neuen Perspektive auf die πρακτική geschaut. Zudem wird in diesem Kapitel erstmals die geistige Wissenschaft (spiritalis scientia 407,9) mit πρακτική und θεωρητική in Beziehung gesetzt. Außerdem wird hier – wie bei der Rede von der Gottesschau (s. 6.1.2) – ebenfalls stark mit einer Lichtmetaphorik gearbeitet: Als höchs68 Hier wird deutlich auf die in coll. 13 herausgearbeitete Dialektik dieser beiden Wege zu Gott Bezug genommen (s. 4.4.2.4). 69 „4 Denn wie wir an einem Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben, 5 so sind wir, die vielen, ein Leib in Christus, aber untereinander ist einer des andern Glied. 6 Wir haben mancherlei Gaben nach der Gnade, die uns gegeben ist. Hat jemand prophetische Rede, so übe er sie dem Glauben gemäß. 7 Hat jemand ein Amt, so versehe er dies Amt. Ist jemand Lehrer, so lehre er. 8 Hat jemand die Gabe, zu ermahnen und zu trösten, so ermahne und tröste er. Wer gibt, gebe mit lauterem Sinn. Wer leitet, tue es mit Eifer. Wer Barmherzigkeit übt, tue es mit Freude.“ 70 „29 Sind sie denn alle Apostel? Sind sie alle Propheten? Sind sie alle Lehrer? Haben sie alle die Kraft, Wunder zu tun, 30 haben sie alle Gaben, gesund zu machen? Reden sie alle in Zungen? Können sie alle auslegen? 31 Strebt aber nach den größeren Gaben! Und ich will euch einen noch besseren Weg zeigen.“
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6. Bilder und Konzepte monastischer Bildung in den Collationes
tes Ziel wird das Licht geistigen Wissens (spiritalis scientiae lumen 407,9 f.) festgelegt. Dieses ist allein durch die Gnade der Reinigung (emundationis gratia 407,10) zu erreichen. Der Mensch darf dabei nicht in Passivität verfallen, vielmehr muss er vor Begierde nach Glückseligkeit, nach Gott, hell brennen (beati tudinis cupiditate flammamini 407,11). Nur dann kann ihm – formuliert mit Hos 10,12 LXX71 – die Erleuchtung durch das Licht des Wissens (inluminare … lumen scientiae 407,17 f.) gewährt werden.72 Mit Dan 12,373 heißt es, dass nur diejenigen leuchten werden wie der Himmel (fulgere sicut splendor firmamenti 407,15), die gelehrt sind (docti fuerint 407,14). Inhaltlich ist auch hier kein großer Unterschied zur Rede von Herzensreinheit und Gottesschau zu erkennen, wohl aber in der Wortwahl: Während, wie oben exemplarisch vorgeführt, von der Herzensreinheit größtenteils biblisch, beispielhaft und fallbezogen, von der Gottesschau über weite Teile mystifizierend oder platonisch inspiriert gesprochen wird, wird hier ein sachliches, ‚wissenschaftliches‘ Vokabular gewählt (scientia, docti), das an die coll. 1 und 14 einleitende Vergleichbarkeit von allen – weltlichen wie monastischen – Künsten und Wissenschaften denken lässt. Die im vorherigen Unterkapitel dargestellte Entwicklung von einer präsentischen hin zu einer futurischen Schau des Gottesreiches wird hier – an die Bedingung der Gelehrsamkeit gebunden – strikt in der Gegenwart verortet: θεωρητική ist möglich, sobald genug πρακτική erworben wurde. Diesen Zusammenhang erklärt Cassian folgendermaßen: Die Stufe der πρακτική muss vollendet – aber nicht beendet – sein, bevor mit der θεωρητική begonnen werden kann. Als entscheidendes Mittel, um das o. g. Vorwissen, das zur Schau notwendig ist, zu erwerben, wird die sorgfältige Lesung (diligentia lec tio 407,19) genannt.74 Um dies auszusagen, nutzt Cassian allerdings nicht mehr das griechische Fachvokabular wie noch zu Beginn von coll. 14, sondern umschreibt die beiden Begriffe lateinisch: So wird aus der πρακτική die disciplina actualis / ethica (407,20 f.), die es zunächst umfänglich zu erfassen gilt (primum ad integrum conprehendere 407,20 f.). Aus der θεωρητική wird die theoretica pu ritas (407,22). Hier wird kein Synonym gefunden, sondern der griechische Begriff latinisiert. 71 „Sät für euch im Hinblick auf Gerechtigkeit, erntet im Hinblick auf eine Frucht des Lebens, entzündet für euch ein Licht der Erkenntnis. Sucht den Herrn, bis die Erträge der Gerechtigkeit zu euch kommen.“ 72 Eben diesen Vers nutzt auch Origenes am Ende der Praefatio von De principiis, um den zentralen ‚Leseauftrag‘ zu formulieren: Origenes, princ. 1 Praef. 10 (98 Görgemanns / Karpp): Oportet igitur velut elementis ac fundamentis huiusmodi uti secundum mandatum, quod dicit: „Inluminate vobis lumen scientiae“, omnem qui cupit seriem quan dam et corpus ex horum omnium ratione perficere. 73 „Und die Verständigen werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich.“ 74 Vgl. auch Leyser 1994, 84–87.
6.2 Πρακτική und θεωρητική als scientia spiritalis
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Dass die beiden Stufen der geistigen Wissenschaft untrennbar miteinander verbunden sind, illustriert Cassian mit dem Bild eines Psalmbeters: Nur wenn dieser den Pslam in der richtigen Geisteshaltung anstimmt, kann er durch den Psalm zu einer vertieften Erkenntnis des Besungenen gelangen.75 Für diese wachsende Anverwandlung des Göttlichen nutzt Cassian das Bild des sacrum tabernaculum (408,5), das ein jeder individuell in seinem Herzen errichten soll, um der scientia spiritalis (408,4) einen Wohnort zu bieten. Das Wissen wird dabei – wie zuvor die Gnade – als Geschenk Gottes gekennzeichnet (donum scien tiae 408,8).76 In coll. 14,10 wird spezifiziert, dass geistliches Wissen allein in der Heiligen Schrift zu finden und durch sie zu erlangen ist. Mehrfach wird der notwendige Eifer bei der (heiligen) Lesung (studium lectionis 410,9; sacra lectio 410,14) erwähnt, die bestenfalls ohne Unterbrechung geübt wird (continua meditatio 410,14). Diesem speziellen Wissen allein wird die Fähigkeit zugeschrieben, zu erleuchten (inluminare 410,6) und zur Vollendung der Liebe zu führen (caritatis consummatio 410,6). Diesen Zustand beschreibt Cassian mit einem allegorisch ausgelegten alttestamentlichen Bild: Der Geist des Menschen soll zur Bundeslade werden (arca … testamenti 410,15 f.), wodurch an das tabernaculum im Inneren des Menschen (coll. 14,9) erinnert wird. Das Bild der inneren Bundeslade wird mit einer dreifachen Allegorie, die zweimal auf eine intellektuell-wissenschaftliche Ebene, einmal auf eine christologische Ebene hin vergleicht, illustriert: Erstens wird der Inhalt der Bundeslade, bestehend aus den beiden Gesetzestafeln und einem goldenen Gefäß mit unverderblichem Manna zum zweifachen Werkzeug der beiden Testamente (duplicis instrumentum 410,17)77 und zur Fähigkeit zum reinen Denken (memoria pura atque sincere 410,18 f.), die den geistlichen Schriftsinn erfassen kann (spiritalium scilicet sensuum 410,20). Zweitens befindet sich in der Bundeslade des Geistes der Stab Aarons (uirga Aaron 410,22), der als Siegeszeichen Christi (Iesu Christi uexillum 410,22 f.) gedeutet wird. Das alles, das allegorisch als Fülle des historischen und geistigen Wissens (historicae et spiritalis scientiae plenitudo 410,26 f.) ausgelegt wird, wird drittens von zwei Cherubim bewacht, wobei als Bedeutung des Wortes „Cherubim“ hier „Menge an Wissen“ vorgeschlagen wird (Cherubim enim interpretatur scientiae multitudo 410,27–411,1).
75 ille enim psallens intelleget quae canuntur, qui in uia inmaculata gressu puri cordis innititur. (408,2–4). 76 Die Vorstellung des Inneren des Menschen als sacrum tabernaculum erinnert stark an den Vergleich von Innerem Menschen und adytum (s. o. Kapitel 4, Anm. 53). Auch wenn Cassian selbst es nicht deutlich erwähnt, ist doch davon auszugehen, dass er hier auf 1Kor 6,19 („Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch ist und den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst gehört?“) Bezug nimmt. 77 Zu dieser Deutung vgl. Ziegler 2014, 243.
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6. Bilder und Konzepte monastischer Bildung in den Collationes
Auch wenn diese Allegorie durch ihre Bildfülle und das Fehlen weiterer Erklärungen78 nicht ganz einfach zu greifen ist, zeichnen sich doch einige bemerkenswerte Beobachtungen ab: Zum einen wird in der ersten erläuternden Allegorie erstmals in coll. 14 auf die Reinheit (der Gedanken) als eigenständiges Konzept angespielt, bisher war lediglich die Rede von einer Reinigung von den Lastern (s. o.). Die an dieser Stelle genannte memoria pura scheint eng mit dem in coll. 1 f. prominent dargestellten Konzept der puritas cordis (und damit der πρακτική) verwandt zu sein, da sie als Voraussetzung, um die Schrift in ihrem geistigen Sinne zu fassen, dargestellt wird. Zum anderen sticht die Beschreibung der Cherubim ins Auge: Ihre Interpretation als Metapher für die Menge an Wissen, auf die Cassian hier mit Hilfe einer passivischen Formulierung wie selbstverständlich verweist, geht auf Origenes bzw. in ihrer lateinischen Übersetzung auf Hieronymus zurück.79 Die Interpretation der Cherubim als Symbol der Weisheit und des gesammelten Wissens war sowohl in der griechisch- als auch in der lateinischsprachigen christlichen Spätantike üblich.80 Alttestamentlich begegnen die Cherubim einerseits als Träger der Erscheinung Gottes (z. B. Ps 18,11 und Ez 10,4), aber auch als Hüter des Paradieses (z. B. Gen 3,24 und Ez 28,14).81 Löst man diese Implikationen in der durch Cassian formulierten Gleichung (Cherubim enim interpretatur scientiae multitudo) auf, liest sich diese in etwa so, dass einerseits die (Schau der) Erscheinung Gottes auf Wissen(schaft) aufbaut und dass andererseits dieses Wissen gewissermaßen als Türhüter zwischen Mensch und Himmelreich fungiert. Auf diese vielgestaltige Allegorie folgt die das vorhergehende erläuternde Feststellung, dass der menschliche Geist nicht nur zur Bundeslade umgestaltet, sondern sogar zum priesterlichen Königtum (regnum sacerdotale 411,4) gemacht werden soll. Dieser erweiterte Vergleich führt zu einem Verweis auf die Heiligkeitsgesetze in Levitikus: Dort heißt es in Lev 21,12, dass der Priester sich nicht vom Heiligtum entfernen solle, da er dadurch das Heiligtum entweihen würde. Verinnerlichend überträgt Cassian dies folgendermaßen auf sein Kon strukt der scientia spiritalis: Im Heiligtum – gewissermaßen bei, oder von einer Einung ausgehend, sogar in Gott – zu verbleiben bedeutet, sich jedes Buch der Heiligen Schrift sorgfältig einzuprägen und beständig zu bedenken (diligenter memoriae conmendanda est et incessabiliter recensenda sacrum series scriptur arum 411,11 f.). Dieses Bestreben führt zu einem zweifachen Gewinn. Erstens kann der, der gerade liest, währenddessen nichts anderes, Schädliches denken. 78
An anderen Stellen werden deutlich eingängigere biblische Bilder ausgelegt oder zumindest mit einem Hinweis zum Verständnis versehen, z. B., dass sie nun als figura (s. 5.5.3) oder im mystice (s. 5.5.2.2) Sinne zu verstehen seine. 79 Vgl. Wutz 1914, 53.157 f.; Hieronymus, nom. hebr. 4 (CCSL 72, 63,11 Lagarde u.a.): Cherubim scientia multiplicata uel quasi plures. 80 Vgl. Chase 2012, 63 f. 81 Vgl. Staubli 2012, 57 f.
6.2 Πρακτική und θεωρητική als scientia spiritalis
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Zweitens kann das, was während des Lesens memoriert wird, immer wieder neu überdacht und so immer tiefgehender verstanden werden – so lange, bis sich die verborgene Bedeutung enthüllt.82 Diese Beschreibung der zweistufigen Wirkweise der Schriftlektüre zeigt, dass sie sowohl πρακτική als auch der θεωρητική zuträglich ist: Sie hilft, von den Lastern abzulenken, bietet zudem aber auch die Basis, das Material, um über die verschiedenen Schriftsinne zur vollständigen scientia spiritalis zu gelangen. Coll. 14,11 beschreibt dieses wechselwirksame und immer tiefergehende Verständnis, das sich aus einer immer intensiver werdenden Schriftlektüre ergibt: Während des in coll. 14,10 beschriebenen Prozesses der Schriftaneignung und der Schriftmeditation findet eine Erneuerung des menschlichen Geistes statt (per hoc studium innovatio mentis nostrae 411,24 f.). Dies führt zu einem sich stetig erneuernden Blick auf die Schrift (scripturarum facies incipiet innouari 411,25) und so zur Schönheit des geheiligten Verstehens (sacratioris intellegen tiae pulchritudo 411,25 f.). Dem sich erneuernden Geist passt auch die Schrift sich an, sie erscheint ihrem Leser / Interpreten stets in neuer, an sein Fassungsvermögen angepasster Gestalt. Dieser Gedankengang wurde bereits in coll. 8,3 mit der Beschreibung heller und dunkler Stellen der Schrift, die für Mönche auf verschiedenen Erfahrungsstufen geistige Nahrung bieten, vorbereitet (s. 5.5.2.1). Wie dieses sich mit wachsender Erfahrung (s. 5.4.4) vertiefende Verständnis der Schrift konkret aussehen kann, verdeutlicht Cassian durch eine Auslegung des sechsten Gebots (non fornicaberis 412,5 f.): Zunächst einmal bedeutet es im historisch-fleischlichen Sinne, sich von jeglicher Unzucht fernzuhalten. Wer diesen Schritt vollbracht hat und in sexueller Enthaltsamkeit lebt, kann dem Bibelwort aber immer noch etwas abgewinnen, indem er es auf eine allegorisch-geistige Ebene überträgt und die Unzucht im übertragenen Sinne als falschen Glauben, als fehlgeleitetes Vertrauen auf die falschen Götter (superstitio gentilium 412,11) versteht und sich hiervon distanziert. Es folgen zwei weitere Deutungen dessen, wovon man sich mit Ex 20,14 enthalten soll: Iudaismi superstitio (412,25) und haeretici dogmatis adulterium (413,12 f.). Indem Cassian hier den richtigen Glauben nach drei Seiten abgrenzt, verdeutlicht er, dass die immer tiefere Einsicht in die scientia spiritalis, die sich mit wiederholter Schriftmeditation einstellt, nicht nur zu einem tugendhaften Leben, sondern auch zur Einsicht, was orthodox bzw. häretisch ist, führt.83 Mit dieser Feststellung wird – wie bereits unter 4.4.2.4 ge82 haec etenim meditationis iugitas duplicem nobis conferet fructum: primum quod, dum in legendis ac parandis lectionibus occupatur mentis intentio, necesse est ut nullis noxiarum cogitationum laqueis captiuetur: deinde quod ea, quae creberrima repetitione percursa, dum memoriae tradere laboramus, intellegere id temporis obligata mente non quiuimus, postea ab omnium actuum ac uisionum inlecebris absoluti praecipueque nocturna meditatione taciti reuoluentes clarius intuemur, ita ut occultissimorum sensuum, quos ne tenui quidem uigilan tes opinatione percepimus, quiescentibus nobis et uelut soporis stupore demersis intellegentia reueletur. (411,12–23). 83 Vgl. Leyser 1994, 90.
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6. Bilder und Konzepte monastischer Bildung in den Collationes
zeigt – ein konkreter monastischer Zusammenhang überschritten, um den gesamtkirchlichen Wert des durch Cassian Vermittelten aufzuzeigen. Wie man es schafft, sich nicht von anderen Gedanken aus diesem Kreislauf wiederholter Schriftmeditation herausreißen zu lassen, erläutert Nesteros in coll. 14,13 als Antwort auf die von Cassian (jung) in coll. 14,12 vorgetragene Klage (s. 3.1.1.1). Wichtig sind zunächst die gleiche Sorgfalt und Beharrlichkeit (diligentia atque instantia 414,17), die Cassian und Germanus auf Ebene der Geschichte und Cassians Adressaten auf Ebene der Narration bereits während des Erwerbs traditioneller Bildung eingeübt haben (s. 3.1.1 und 3.3). Durch Eifer und Beständigkeit (studium et assiduitas 414,22) kann der menschliche Geist so umgeformt werden, dass er nicht länger Unfruchtbares und Erdverhaftetes (infruc tuosus atque terrenus 414,22 f), sondern Geistiges und Göttliches (414,23) gebiert (parturire 414,23). Diese Formulierung hebt auf bemerkenswerte Weise hervor, wie aktiv die Rolle des Menschen im Erwerb und der Umsetzung der scientia spiritalis ist: Er empfängt nicht nur eine göttliche Botschaft und archiviert diese gewissermaßen, sondern er verarbeitet sie, lässt sich durch sie verändern und bringt schließlich selbst etwas hervor, das von seinem durch Gott veränderten Wesen zeugt. Um dies zu erreichen, genügt es nicht, das geistige Wissen zu streifen oder nur im Vorübergehen zu betrachten, sondern es muss durch ununterbrochene Beständigkeit gestärkt werden (scientia spiritalis perpetua soliditate roboretur 415,3). Dabei ist die Wiederholung der immer selben (biblischen) Geschichten keine lästige Notwendigkeit, sondern Teil der Methode: Eine Seele, die nach dem wahren Wissen dürstet, wird niemals genug von der Erzählung heiliger Dinge haben.84 Wer diesen Wiederholungen hingegen mit Langeweile oder Ekel begegnet, stellt dadurch lediglich unter Beweis, dass er lau und hochmütig und noch nicht bereit für die geistige Wissenschaft ist.85 Damit wird auch dem eingangs beklagten Abschweifen ein pädagogischer Nutzen der Selbstprüfung und Selbsterkenntnis zugewiesen, wodurch die unter 5.1 thematisierten T hemen ‚Gewissen‘ und discretio angespielt werden.86 In coll. 14,15 zeigt Germanus sich unzufrieden ob der vorherigen Darlegung dessen, was geistiges Wissen ist: Er hakt zweifelnd nach, wie es sein könne, dass puritas cordis und scientia spiritalis (418,7) – hier eindeutig im Sinne eines tieferen Schriftverständnisses zu verstehen – zwangsläufig zusammengehörten, wo doch allgemein bekannt sei, dass es sowohl unter den Juden als auch unter den 84 quamuis enim adhibeatur sanctarum rerum crebra narratio, numquam tamen animae sitim uerae scientiae sustenti satietas generabit horrorem (415,13–15). 85 euidens namque est tepidae ac superbae mentis indicium (415,19 f.). 86 atque ita fiet ut non solum omnis directio ac meditatio cordis tui, uerum etiam cunctae euagationes atque discursus cogitationum tuarum sint tibi diuinae legis sancta et incessabilis ruminatio. (416,19–22).
6.2 Πρακτική und θεωρητική als scientia spiritalis
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Heiden und sogar unter den Lasterhaften der Katholiken solche gäbe, von denen gesagt werden könne, dass sie vollkommenes Wissen über die Heiligen Schiften erlangt hätten.87 Darauf antwortet Nesteros in coll. 14,16, indem er zwei Arten von Schriftverständnis einander gegenüberstellt: Zum einen das falsche, das auch alle von Germanus angeführten Gruppen beherrschen könnten, nämlich das Wissen um Rhetorik, Argumentationsaufbau und Redekunst – ein Verständnis von Schrift(en) gemäß traditioneller Kategorien. Dies sei aber nicht hilfreich, um zur uera scientia (418,13) hindurchzudringen. Hierfür brauche es die zweite Art von Schriftverständnis, die ein Vordringen zum geistigen Schriftsinn erlaubt und sich vor allem in Gottesverehrung ausdrückt.88 Diese beiden Arten von Wissen (eruditio saecularis 420,14; uera et spiritalis scientia 420,15) werden gegen Ende des Kapitels noch einmal scharf gegeneinander abgegrenzt: Erstere ist durch die Laster verdorben, während zweitere so wunderbar ist, dass sie sich zum Teil sogar Menschen, die nicht in der Redekunst unterwiesen oder sogar völlig ungebildet sind, offenbart (ut eam in nonnullis elinguibus ac paene inlitteratis sciamus nonnumquam admirabiliter uiguisse 420,16 f.). Mit dieser Argumentation geht Cassian einerseits zurück zu den Wurzeln der monastischen Bildungsskepsis (s. 3.1.1), baut aber gleichzeitig über den Begriff scientia eine Brücke, die Ziel und Methode des Monastischen mit einem Konzept und Begriff des Wissenserwerbs, der seinen Adressaten geläufig sein dürfte (s. 2.3.1), verbindet. Coll. 14,19 bringt als letztes Kapitel der Collatio, die sich mit dem geistigen Wissen beschäftigt, noch einen neuen Aspekt zur Sprache, der in coll. 14,16 in der ‚Unvorhersehbarkeit‘ der scientia spiritalis bereits anklang: Bisher hatte Cassian es als vorrangiges Anliegen des Nesteros dargestellt, die scientia spiritalis als durchaus anspruchsvollen, aber dennoch händelbaren, strukturierten und absehbaren Weg zu Gott darzustellen – eben vergleichbar mit dem Erwerb anderer Wissenschaften. Nun wird abschließend noch eine neue Facette der geistigen Wissenschaft, die diese diametral von allen weltlichen Wissenschaften unterscheidet, eingebracht: Manchmal wird sie auch von Gott gänzlich unverdient als Gnadengeschenk gewährt. Begründet wird dies mit 1Tim 2,4, wo die agnitio ueritatis (423,26–424,1) mit dem Gerettetwerden gleichgesetzt wird und damit omnes homines (423,26) zukommen soll. Da aber eben nicht alle den tadellosen Lebenswandel (inreprehensibilis conversatio 424, 2 f.) führen, der in den vorhergehenden achtzehn Kapiteln als unabdingbare Voraussetzung zum geistigen 87 quomodo multi Iudaeorum atque haereticorum uel etiam catholicorum, qui diuersis uitiis inuoluuntur, perfectam scripturarum scientiam consecuti de spiritalis doctrinae mag nitudine gloriantur (417,27–418,3). 88 praediximus namque huiusmodi homines disputandi tantum habere peritiam et elo cutionis ornatum, ceterum scripturarum uenas et arcana spiritalium sensuum intrare non posse. etenim uera scientia non nisi a ueris dei cultoribus possidetur (418,10–13).
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6. Bilder und Konzepte monastischer Bildung in den Collationes
Wissen dargestellt wurde, wird manchen die scientia spiritalis voraussetzungslos gewährt (munifica liberalitate conceditur 424,1). Diese Wendung erinnert stark an das ironische Paradox, dass Cassian Abbas Moyses in coll. 1,2 (s. 6.1) in den Mund legt: Bis zu einem gewissen Punkt sind traditionelle und monastische Bildung (methodisch) vergleichbar, jedoch eignet der monastischen Bildung durch Gottes integrale Beteiligung stets ein überraschendes bzw. menschliche Erwartungshaltungen konterkarierendes Moment. So wird auch die anthropologisch-theologische Voraussetzung des unbedingt notwendigen Zusammenspiels von menschlichem Willen und göttlicher Gnade, die diesen Willen notfalls zu korrigieren und immer zu stützen vermag (s. 4.4.2.4), auch in dieser, stark auf menschliches Handeln zielenden Collatio, wieder aufgenommen. 6.3 Vollkommenheit Bisher wurde das finale Ziel monastischer Bildung bzw. solcher Prozesse, die als Beschreibung von Bildungsvorgängen verstanden werden können, als Anbruch bzw. Erreichen des Gottesreiches, als Gottesschau und Einung mit Gott, als θεωρητική und scientia spiritalis definiert. Als weiteres Ziel wurde im Verlauf der Arbeit zudem mehrfach Vollkommenheit genannt. Dieser Begriff wurde dabei meist als deskriptiver Sammelbegriff gebraucht und noch nicht quellensprachlich hergeleitet.89 Dies ist nun, als letzter analytischer Schritt der vorliegenden Untersuchung – quasi vervollkommnend –, nachzuholen. Nicht nur, um ein vollständigeres Bild der Terminologie, mit deren Hilfe Cassian Zielsetzungen und Entwicklungspotentiale des Mönches beschreibt, bieten zu können, sondern auch, da sich zentrale T hesen der bisherigen Arbeit, wie die Entwicklung von Cassians Bildungsvorstellung durch die Teilbände der Collationes hindurch oder die Feststellung, dass das entscheidende Moment monastischer Bildung in der Kooperation zwischen Mensch und Gott liegt, an einer Unter suchung der Verwendung des Begriffs perfectio noch einmal in großer Prägnanz zeigen. Der Begriff perfectio begegnet nahezu gleichmäßig verteilt in allen drei Teilbänden90 und wird in unterschiedlichster Weise mit den verschiedenen Aspekten monastischen Lebens in Beziehung gebracht. Den Auftakt macht die einge89 Vergleichbar wird auch in weiten Teilen der Sekundärliteratur vorgegangen, vgl. z. B. Stewart 1998, 42 („…puritas cordis is undoubtedly Cassian’s favourite way of characteriz ing monastic perfection…“); Rousseau 1978, 183 („…coenobitic life was necessary… to aquire the fundamental techniques of self-perfection [!]“) oder Chadwick 1968, 102 („In the scheme of Cassian the soul likewise may attain at last a state called by various names: purity of heart, purity of mind, tranquility, stability [‚immobility‘] of mind, freedom from disturbance, or ‚perfection‘“). 90 Mit Ausnahme von coll. 13, wodurch deren Sonderrolle noch einmal unterstrichen ist (s. 4.4.2.4).
6.3 Vollkommenheit
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schobene Rede des Antonius, mit der Abbas Moyses in coll. 2,2 die Sonderstellung der discretio für das monastische Leben herauszuarbeiten beginnt (s. 5.1): „Ich erinnere mich demnach, dass damals, als ich noch ein Knabe war, in der Gegend der T hebais, wo der selige Antonius lebte, die älteren Brüder bei ihm zusammenkamen, um sich über die Vollkommenheit auszutauschen, und dass diese Frage den größten Teil der Nacht verbrauchte, weil die Unterredung sich von den Abendstunden bis zum Morgen hingezogen hatte. Sehr lange nämlich wurde die Frage behandelt, welche Tugend oder Pflicht den Mönch allezeit unversehrt vor den Fallstricken und Täuschungen des Diabolus bewahren und ihn zuverlässig auf rechtem Pfad und mit sicherem Schritt zum Gipfel der Vollkommenheit emporführen kann.“ 91
Vollkommenheit wird hier als ein T hema dargestellt, das verschiedene Altväter mit Antonius, dem Altvater schlechthin, diskutieren. Durch die selbst in ihrer Askese weit fortgeschrittenen Diskussionsteilnehmer, sowie durch die Länge der Diskussion, wird deutlich, wie komplex und anspruchsvoll das T hema ist. In der nachfolgend wiedergegebenen Diskussion wird herausgestellt, dass alle praktischen Einzelaspekte des monastischen Lebens (Fasten, Armut, Einsamkeit) letztlich nur dem Erwerb der discretio und damit dem Aufstieg zum „Gipfel der Vollkommenheit“ (perfectionis culmen 40,16) dienen. Die enge Verbindung von dis cretio und perfectio wird durch ein Zitat von Hebr 5,14 in coll. 2,4 abschießend betont: „Zeichen der Vollkommenen aber ist die feste Speise, sie ist Zeichen derjenigen, welche ihre Urteilskraft entsprechend ihrer Lebensgewohnheiten geübt haben, zur Unterscheidung von Gut und Böse.“92
Es wird deutlich, dass Vollkommenheit nicht eines unter vielen zu erreichenden Zielen des monastischen Lebens ist, sondern – korrespondierend mit der universalen Grundtugend der discretio – das übergeordnete Ziel allen monastischen Strebens, das alle Aspekte der uita actualis verbindet und vollendet, darstellt. Anders konnotiert wird die perfectio am Ende des ersten Teilbandes, in coll. 9 f., die das T hema des Gebets behandeln (s. 5.6). Da dies ursprünglich das geplante Ende der Collationes war,93 überrascht es kaum, dass das finale Ziel der Vollkommenheit hier mit wachsender Häufigkeit besprochen wird. Dabei lassen
91 Ziegler 2011, 88 f.; Memini igitur quondam in annis adhuc pueritiae constitutus in partibus T hebaidos, ubi beatus Antonius morabatur, seniores ad eum perfectionis inqui rendae gratia conuenisse. cumque a uespertinis horis usque ad lucem fuisset protracta conla tio, quaestionem hanc maximum noctis spatium consumpsisse. nam diutissime quaerebatur quaenam uirtus uel obseruantia monachum possit a diaboli laqueis ac deceptionibus custo dire semper inlaesum uel certe recto tramite firmoque gressu ad perfectionis culmen euehere (40,8–16). 92 Ziegler 2011, 92; perfectorum autem est solidus cibus, eorum qui pro consuetudine exercitatos habent sensus ad discretionem boni et mali (43,25–28). 93 Teilband zwei und drei entstehen erst auf Grund von Rückfragen, s. 2.3.2.2.
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6. Bilder und Konzepte monastischer Bildung in den Collationes
sich gegenüber dem in coll. 2 Angedeuteten bereits bemerkenswerte Zuspitzungen des Begriffs erkennen. Erstmals zur Sprache kommt die Vollkommenheit in einer Metapher in coll. 9,2, die das Leben des Mönches mit einem Turmbau vergleicht: In diesem Turm bilden die Tugenden das Mauerwerk, während das Gebet das Dach darstellt.94 Ohne den Unterbau gibt es keinen Ort für das Dach, ohne das Dach wiederum hat der Unterbau keinen Halt. Das Dach bzw. der Gipfel dieses Unterfangens wird wenig später als excelsa culmina perfectionis (251,19) konkretisiert, als in den Himmel strebender Gipfel der Vollkommenheit. Vollkommenheit changiert hier zwischen einer Definition als Resultat menschlicher ‚Baukunst‘95 und einer Bestimmung als die menschlichen Fähigkeiten stärkende und unterstützende Instanz.96 Die in der einleitenden Metapher bereits angekündigte Verbindung von Vollkommenheit und Gebet wird von Abbas Isaak in coll. 9,7 so auf den Punkt gebracht, „dass das Ziel des Mönches und der Gipfel der Vollkommenheit in der Vollendung des Gebetes besteht.“97
Diese Aussage spezifiziert das am Beispiel der einleitenden Metapher Gezeigte in der Hinsicht, dass das culmen nicht bloß als Gebet, sondern als perfektes Gebet bestimmt wird. Wie unter 5.6.1–5.6.6 gezeigt wurde, werden in coll. 9 f. verschiedene Arten und Formen des Gebets als höchste Stufe monastischer Bildung präsentiert, wobei es zu einer wiederholten Überbietung kommt, jedes der Gebete erscheint besser (‚perfekter‘) als das vorherige. Dieser (scheinbare) Pleonasmus der ‚vollkommeneren Vollkommenheit‘ klingt in Cassians Worten etwa so: „Obwohl nun dieses Gebet [das Vater Unser] die ganze Fülle der Vollkommenheit zu enthalten scheint, da es ja durch die Autorität des Herrn selbst eingeführt und bestimmt wurde, so zieht er doch seine Hausgenossen zu jenem ungleich erhabeneren, oben erwähnten Zustand empor. Er führt sie zu jenem feurigen, nur von wenigen erkannten oder 94 nam sicut ad orationis perfectionem omnium tendit structura uirtutum, ita nisi huius culmine haec omnia fuerint conligata atque conpacta, nullo modo firma poterunt uel stabilia perdurare (251,3–6). 95 Hier ist zum einen das bewusst technisch gewählte Vokabular zu erwähnen, das die große Vergleichbarkeit zu allen anderen Künsten und Wissenschaften (und Handwerken) herausstellt (z. B. subputata fuerint ac diligenter ante congesta 251,17). Zum anderen werden die Anfänge des Turmbaus mit grundlegenden Zügen monastischen Lebens, wie der Einfachheit und der Demut, in Verbindung gebracht (simplicitatis et humilitatis firmissima fundamenta 251,22 f.); zur Baukunstmetaphorik s. auch Kapitel 5, Anm. 126. 96 fundamentis etenim talibus innitentem, quamuis passionum imbres largissimi profun dantur, quamuis ei persecutionum uiolenti torrentes instar arietis inlidantur, quamuis inruat et incumbat aduersariorum spirituum saeua tempestas, non solum ruina non diruet, sed nec ipsa aliquatenus uexabit inpulsio (251,26–252,4). 97 Ziegler 2011, 277; qua finem monachi ac totius perfectionis culmen in orationis consum matione consistere definisti (258,26–259,2).
6.3 Vollkommenheit
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erfahrenen, ja, um mich zutreffender auszudrücken, zu jenem unaussprechlichen Gebet auf höherer Stufe, das alle menschlichen Sinne übersteigt.“98
Das höchste Level der Vollkommenheit ist dabei durch das immerwährende Gebet zu erreichen, das in coll. 10 diskutiert wird (s. 5.6.6). Abbas Isaak identifiziert Vollkommenheit hier als Einung mit Gott und Christus, eine Hineinnahme des Betenden in die trinitarische Gemeinschaft wird als höchste Vollendung (per fecte consummabitur 293,1) bezeichnet. Dabei wird herausgestellt, dass Vollkommenheit nicht nur das Ziel des immerwährenden Gebets, sondern bereits sein Äquivalent ist: „Dies, ich betone es, ist das Ziel aller Vollkommenheit, dass der Geist von jeglichem fleischbestimmten Zustand befreit, täglich so sehr zum Geistigen emporgehoben wird, dass all sein Wandel und jeder Herzschlag zu einem einzigen immerwährenden Gebet wird.“99
Damit ist das höchste Ziel allen menschlichen Strebens klar bestimmt und der Weg dorthin eng an die ‚Methode‘ des Gebets gebunden. Während im ersten Teilband, wie die beiden untersuchten Collationes exemplarisch zeigen, Vollkommenheit stets als Teilbereich anderer T hemen behandelt wurde, ist sie titelgebend für coll. 11 (De perfectione 313,4). Auch wenn coll. 11 im Blick auf die Chronologie der Erzählung vor coll. 1–10 angeordnet ist, ist doch davon auszugehen, dass die zuvor dargelegten Details bei den Lesern des ersten Teilbandes Rückfragen ausgelöst haben, auf die Cassian nun einzugehen bemüht ist. Während die ersten elf Kapitel von coll. 11 allgemeiner um die Liebe zum Guten kreisen,100 wendet sich coll. 11,12 f. explizit dem T hema der perfectio zu. Als erste nennenswerte Konkretisierung führt Abbas Chaeremon Folgendes an: 98 Ziegler 2011, 289; Haec igitur oratio licet omnem uideatur perfectionis plenitudinem continere, utpote quae ipsius domini auctoritate uel initiata sit uel statuta, prouehit tamen domesticos suos ad illum praecelsiorem quem superius commemorauimus statum eosque ad illam igneam ac perpaucis cognitam uel expertam (272,16–20). 99 Ziegler 2011, 307; hic, inquam, finis totius perfectionis est, ut eo usque extenuata mens ab omni situ carnali ad spiritalia cotidie sublimetur, donec omnis eius conuersatio, omnis uolutatio cordis una et iugis efficiatur oratio (293,27–294,2). 100 Beispielsweise werden in coll. 11,6 drei Gründe genannt, die einen Menschen nach dem Guten streben lassen: Furcht vor Gott oder vor innerweltlicher Bestrafung, Sehnsucht nach dem Himmelreich oder eine grundsätzliche Disposition für das Gute und die Liebe zur Tugend. Dies wird in coll. 11,7 durch das Beispiel des Verlorenen Sohnes (Lk 15,11–32) illustriert: Vergleichbar mit der Liebe des Vaters, der seinen verlorengeglaubten Sohn in scheinbar irrationaler Liebe wieder aufnimmt, ist die Liebe Gottes, die den Menschen aus keinem anderen Grund als zu ihrer Rettung entgegengebracht wird. Der Mensch kann sich diese Liebe nicht verdienen, wohl aber nach ihr streben, indem er sich selbst in der Liebe zum Guten / zur Tugend übt (non ergo aliter ad illam ueram perfectionem conscendere pote rimus, nisi, quemadmodum nullius alterius nisi nostrae salutis gratia prior nos ille dilexit, ita eum nos quoque nullius alterius rei nisi sui tantum amoris dilexerimus obtentu. quamobrem studendum nobis est, ut de hoc timore ad spem, de spe ad caritatem dei uel ipsarum uirtutum
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6. Bilder und Konzepte monastischer Bildung in den Collationes
„Die göttliche Schrift fordert die Freiheit unseres Willens je nach dem Stand und dem Maß eines jeden einzelnen Geistes zu verschiedenen Graden der Vollkommenheit heraus. Es konnte ja nicht allen die gleiche Krone der Vollkommenheit in Aussicht gestellt werden, weil auch nicht alle die gleiche Tugend, den gleichen Willen oder den gleichen Eifer haben. Daher setzte das göttliche Wort sozusagen verschiedene Ränge und [unterschiedliche Maße der] Vollkommenheiten fest.“101
Dieses Zitat ist in mindestens vier Hinsichten bemerkenswert: Erstens wird Vollkommenheit in unmittelbare Nähe zur Heiligen Schrift gerückt, sie ist es, die den menschlichen Willen erst dazu herausfordert, nach immer größerer Vollkommenheit zu streben. Hier ist deutlich auf die verschiedenen Schriftsinne (coll. 8,3 und coll. 14,8, s. 5.2.2) angespielt, die die Geheimnisse der Heiligen Schrift in Anbetracht der Voraussetzungen ihres Lesers verhüllen oder aufdecken. Zweitens wird von individuell verschiedenen Formen (ordines) und Maßen (mensurae) von Vollkommenheit gesprochen, ganz so, als gäbe es mehrere ‚Vollkommenheiten‘ (s. o. zur ‚vollkommeneren Vollkommenheit‘). Drittens wird diese Vielzahl der ‚Vollkommenheiten‘ mit den individuell unterschiedlichen Ausprägungen der Tugenden, des Willens und des Eifers in Beziehung gesetzt; damit ist nicht nur auf die von Person zu Person verschiedene erste Zielsetzung Bezug genommen (s. 6.1), sondern auch der Wille des Menschen als der entscheidende Taktgeber des gesamten monastischen Lebens (s. 4.4) erwähnt. Und viertens ist die Formulierung der „Krone der Vollkommenheit“ (perfectionis corona) von besonderem Interesse: Sie erinnert nicht nur an die Krönung des Turmes der Vollkommenheit mit dem Dach des Gebetes (coll. 9,2 s. o.), sondern spielt auch in Form eines Neologismus102 auf die Krone des Martyriums (martyrii corona) an.103 Analog zu diesem Bild erscheint die Krone der Vollkommenheit damit als ein Geschenk, das dem Menschen von Gott im Gegenzug für ein herausragendes, entschlossenes und tugendhaftes Leben gemacht wird.
amorem perfecto mentis conscendamus ardore, ut transmigrantes in affectum boni ipsius in mobiliter, quantum humanae possibile est naturae, quod bonum est retentemus 320,14–22). 101 Ziegler 2014, 72; nec enim poterat uniformis omnibus perfectionis corona proponi, quia nec omnium una uirtus aut uoluntas aut feruor est, et idcirco ipsarum quodammodo perfectionum diuersos ordines diuersasque mensuras sermo diuinus instituit.nec enim poterat uniformis omnibus perfectionis corona proponi, quia nec omnium una uirtus aut uoluntas aut feruor est, et idcirco ipsarum quodammodo perfectionum diuersos ordines diuersasque mensuras sermo diuinus instituit (326,12–17). 102 llt-a quick search „perfectionis coron*“ (29.03.21) führt zu dem Ergebnis, dass kein lateinischer Schriftsteller vor Cassian diese Begriffskombination nutzte. 103 Dieser Begriff wurde erstmals von Tertullian im Rahmen des Motives der corona militis gebraucht (vgl. Butterweck 2002, 97 f.). Anschließend wurde das Motiv in der Märtyrerliteratur breit rezipiert, exemplarisch ist hier Agnes zu nennen, von der es heißt, dass sie die „Doppel-Krone“ aus Jungfräulichkeit und Martyrium getragen habe (Hieronymus, ep. 130,5,2; vgl. Gemeinhardt 2014, 172).
6.3 Vollkommenheit
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Auf diese grundsätzlichen Überlegungen zum T hema Vollkommenheit folgt in coll. 11,12 eine Antwort Chaeremons auf die Frage, was passieren würde, wenn der Mensch alle ihm möglichen Stufen auf dem Weg zur ‚vollkommeneren Vollkommenheit‘ erklommen habe: „Ihr seht also, es gibt unterschiedliche Stufen von Vollkommenheit. Wir werden vom Herrn von Hohem zu noch Höherem herausgefordert, sodass derjenige, der sich selig und vollkommen in der Gottesfurcht beweist, wenn er wie geschrieben steht ‚von Tugend zu Tugend‘ (Ps 84,8) und von [der einen] Vollkommenheit zu [der anderen] Vollkommenheit schreitet, das heißt mit den Flügeln des Geistes von der Furcht zur Hoffnung sich emporschwingt, schließlich zu einem noch seligeren Stand eingeladen wird: [z]ur Liebe. Wer ein treuer und kluger Knecht ist, soll den Überschritt wagen zum Bund der Freundschaft und zur Annahme an Sohnes Statt. … Die Liebe jedoch, in der völligeres Vertrauen und schon ewige Freude ist, nimmt diese … von der knechtischen Furcht und der Hoffnung eines Tagelöhners weg und an ihre Hand, und führt sie zur Annahme als Söhne, macht aber auch sozusagen aus Vollkommenen noch Vollkommenere.“104
Anhand dieses Zitates wird noch einmal deutlich, dass alles menschliche Streben nicht allein zur Vollendung der Vollkommenheit führen kann. Vollkommenheit ist dann erreicht, wenn der Mensch durch eigene Anstrengung bereit geworden ist, durch die göttliche Liebe in dessen Sohnschaft aufgenommen zu werden. Gesteigert werden kann und muss menschliche Vollkommenheit an diesem Punkt nur noch durch göttliche Liebe. Konkret lautet diese Schlussfolgerung in den Worten Cassians in Anlehnung an 1Kor 13: „Ihr seht also, dass nichts Wertvolleres, nichts Vollkommeneres und nichts Erhabeneres als die Liebe zu finden ist.“ 105
In noch anderer Konnotation und größerer Zurückhaltung wird der Begriff per fectio im dritten Teilband gebraucht. Während – vereinfacht dargestellt – im ersten Teilband Vollkommenheit als Ziel monastischer Bildung schlechthin erschien und im zweiten Teilband als höchstes, von menschlicher Seite aus zu erreichendes Ziel markiert wurde, das die Kommunikation mit der göttlichen Liebe ermöglicht, wird das Ideal der zu erstrebenden Vollkommenheit im Kontext der Beschäftigung mit den verschiedenen monastischen Lebensformen (s. 5.2) deutlich kritischer beurteilt. Um diese Entwicklung in Gänze darzustellen, lohnt es 104 Ziegler 2014, 73 f.; uidetis ergo perfectionum gradus esse diuersos et de excelsis ad excelsiora nos a domino prouocari ita, ut is qui in timore dei beatus et perfectus extiterit, ambulans sicut scriptum est de uirtute in uirtutem et de perfectione ad aliam perfectionem, id est de timore ad spem mentis alacritate conscendens, ad beatiorem denuo statum, quod est caritas, inuitetur, et qui fuerit fidelis seruus ac prudens, ad amicitiae sodalitatem et adop tionem transeat filiorum (327,16–23) … caritas rursum, in qua plenior fiducia perpetuum que iam gaudium est, adsumens eos de timore seruili et mercennaria spe ad dilectionem dei et adoptionem transferet filiorum et quodammodo perfectiores faciet de perfectis (328,1–5). 105 Ziegler 2014, 74; uidetis ergo nihil pretiosius, nihil perfectius nihilque sublimius et ut ita dixerim nihil caritate perennius inueniri (328,22–24).
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sich, einen Blick zurück in den Prolog der Instituta zu werfen. Dort wird das Ziel von Cassians schriftstellerischer Tätigkeit nicht geringer denn als Vermittlung einer uita perfecta bestimmt: „So habe ich mir also vorgenommen, nicht von den Wundern Gottes, sondern von der Besserung unseres Lebenswandels und der Vollendung des Mönchslebens nach der Väterüberlieferung einiges darzulegen.“106
Während in Cassians erstem monastischen Werk noch Optimismus ob der zu erreichenden Möglichkeiten seiner Adressaten und ihrer Schüler herrscht, ist die Perspektive im dritten Teilband der Collationes von deutlich größerem Realismus gezeichnet. Dies wird nicht nur an der steigenden Wertschätzung koinobitischer Lebensformen (s. 5.2) deutlich, sondern auch im Blick auf die Rede von der Vollkommenheit. Explizit wird die Verbindung von Lebensformen und Vollkommenheit(en) erstmals in coll. 18,6 – die Rede ist von verschiedenen dis ciplinae (511,25), mit denen verschiedene Arten der Vollkommenheit (aliud perfectionis genus ebd.) erreicht werden können. Dies unterstreicht, dass Cassian die Verschiedenheit der Lebensformen anerkennt, sie jedoch nicht (mehr) hierarchisiert. Die Verschiedenheit der Vollkommenheiten macht auch Abbas Johannes, der in coll. 19 auf seine Erfahrung der beiden Lebensformen zurückblickt, zum T hema: „Doch weil ihre Reinheit [die der Anachoreten], die ich verkostete, manchmal unterbrochen durch die Sorge um die Dinge des Fleisches beschmutzt wurde, schien es mir vorteilhafter, ins Koinobion zurückzukehren, um die Erfüllung des einmal gefassten Entschlusses auf ebener Bahn zu erreichen, und weil Demut die Gefahr der Anmaßung einer Berufung zu Höherem verringert. Es ist ja besser, getreu in kleinen als untreu in großen Versprechungen erfunden zu werden.“ 107
Selbst wenn in dieser Argumentation consummatio an die Stelle der perfectio tritt, ist die Intention deutlich: Abbas Johannes macht sich dafür stark, dass nicht jeder Mönch nach der höchstmöglichen Form der Vollkommenheit (in Gestalt der Anachorese) streben muss, sondern dass es besser sei, eine für den Einzelnen geeignete Form, die dann auch zu positiven Resultaten führen kann, zu wählen. Ganz deutlich heißt es wenig später:
106 Frank 1975, 117; Johannes Cassian, inst. praef. 8 (CSEL 17, 6,18–21 Petschenig / Kreuz): propositum siquidem mihi est non de mirabilibus dei, sed de correctione morum nostrorum et consummatione uitae perfectae secundum ea, quae a senioribus nostris accepi mus, pauca disserere. 107 Ziegler 2015, 85; sed quia degustata eius puritas sollicitudine interdum carnalium rerum interpolata sordebat, recurrere ad coenobium commodius uisum est, ut et promptior adrepti propositi planioris consummatio consequeretur et minus de praesumptae sublimioris professionis humilitate periculum (536,18–23).
6.3 Vollkommenheit
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„Es ist ja doch ein Elend, sich zum Unterricht in einer Kunst oder Bestrebung zu bekennen und doch überhaupt nicht bis zur Vervollkommnung darin durchzukommen.“108
Noch kritischer äußert Abbas Johannes sich in coll. 19,8, in der er hinterfragt, ob Vollkommenheit überhaupt ein hilfreiches Konzept sei, da nur eine kleine Minderheit in der Lage sei, ‚vollkommene Vollkommenheit‘ in beiden Lebensformen zu erlangen. Stattdessen fordert er, Richtlinien monastischen Lebens aufzustellen, die sich am tatsächlichen Vermögen der Mönche orientieren: „Es ist gewiss bei jeder von beiden etwas Großes, einen Vollendeten zu finden; um wie viel mehr ist es offensichtlich schwierig und fast möchte ich sagen unmöglich für einen Menschen, beide vollständig zu erfüllen. … Denn nicht ausgehend vom kleinsten Teil ist eine allgemeine Regel abzuleiten, will heißen nicht vom Blick auf wenige, sondern von dem, was der Fähigkeit vieler, ja aller, entspricht.“109
Um dieses Problem zu lösen, offeriert Abbas Johannes in coll. 19,9 einen neuen Begriff, um das Ziel des Mönches in pädagogisch realistischer Weise nicht nur idealisiert darzustellen, sondern auch erreichbar zu machen: „μερική, das heißt nicht die unversehrte und in allem vollendete Vollkommenheit, sondern nur eine teilweise“110. Im Gegensatz zur partiellen Vollkommenheit, der μερική sei „Vollkommenheit [im Vollsinne]… nur sehr wenigen als ein Geschenk Gottes verliehen.“111 Die präsentierten Beispiele zeigen, dass Cassian zwar mit perfectio in wiederholter und vielfältiger Weise ein höchstes, zu erreichendes Ziel beschreibt, dabei jedoch nicht auf ein kohärentes Konzept des Begriffes zurückgreift. ‚Vollkommenheit‘ erscheint jedoch immer als das Ergebnis, das einen mehrstufigen Prozess beendet. Dabei ist hervorzueben, dass die Vollendung des jeweilig beschriebenen (Bildungs-)Prozesses nicht in der Macht des Menschen, sondern bei Gott liegt, der – um ein Bild Cassians zu nutzen – das menschliche Streben krönt. Dass Cassian sich dabei zunehmend zurückhaltend zeigt und immer stärker betont, dass einigen Menschen nur eine partielle Vollkommenheit bzw. eine solche, die sich lediglich auf die individuellen Stärken des Einzelnen bezieht, eignet, ist m. E. als Hinweis darauf zu verstehen, dass er sich von der Darstellung höchster Ideale, wie für die Instituta und den Beginn der Collationes bezeichnend, löst
108 Ziegler 2015, 87; miserum namque est cuiuslibet artis ac studii disciplinam quempiam profiteri et ad perfectionem eius minime peruenire (539,8 f.). 109 Ziegler 2015, 90; quanto magis ad plenum utramque perficere arduum ac paene dixe rim homini inpossibile esse perspicuum est. quod tamen si quandoque prouenerit, non statim ad generalem formulam referri potest. non enim a parte minima, id est de consideratione paucorum, sed ex his quae multorum, immo omnium subiacent facultati, uniuersalis est re gula proponenda (542,2–8). 110 Ziegler 2015, 91; sed hoc μερικὴ, id est non integra et in omnibus consummata perfec tio, sed pars perfectionis est (543,10 f.). 111 Ziegler 2015, 91; rara est ergo et paucissimis dono dei concessa perfectio (543,11 f.).
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6. Bilder und Konzepte monastischer Bildung in den Collationes
und verstärkt auf die vorfindliche Situation und Rückfragen seiner Adressaten eingeht. 6.4 Rückschau und Ausblick Im Folgenden wird zu klären sein, ob die drei untersuchten Konzepte (die Rede von erstem und letztem Ziel, πρακτική und θεωρητική und die in verschiedenen Kontexten begegnende Vorstellung von Vollkommenheit) als Ensemble einen übergeordneten Bildungsprozess erkennen lassen, der die zuvor untersuchten anthropologischen und theologischen Voraussetzungen monastischer Bildung (s. 4.) sowie die konkreten Methoden und Prozesse (s. 5.) bündelt. Außerdem wird auf Kohärenzen und Akzentuierungen der drei Konzepte einzugehen sein. Dabei ist zunächst auf die große inhaltliche Nähe der beiden erstgenannten Konzepte zu verweisen, die bereits anhand des einleitenden Vergleiches des Mönchtums mit allen anderen artes ac disciplinae (coll. 1,2 und coll. 14,1) sichtbar wird. Während das T hema der anderen Künste und Wissenschaften im ersten Teilband kaum weiter ausgeführt wird, wird es gegen Ende von coll. 14 – nach einer ausführlichen Darlegung der scientia spiritalis – relativiert, indem die diametrale Verschiedenheit einer eruditio saecularis und der uera et spiritalis scientia (coll. 14,16) herausgestellt wird. Hieran wird deutlich, dass der Aspekt der Vergleichbarkeit der Bildung innerhalb des Mönchtums mit außerchristlichen Bildungsprozessen lediglich hinführende Funktion hat, um sodann – nachdem das Proprium monastischer Bildung herausgearbeitet wurde – deutlich zu machen, dass diese im Blick auf ihr finales Ziel alle innerweltlichen Bildungsprozesse übersteigt. Beide Konzepte beschreiben einen Aufstieg über zwei Stufen, wobei die erste Stufe vielgestaltig, individuellen Anlagen folgend und durch zeitliche Begrenztheit gekennzeichnet ist, während die zweite, exemplarisch in coll. 1,8, als sim plex et una dargestellt wird. Diese zweite Stufe beschreibt in unterschiedlicher Ausprägung das Zusammenkommen von Gott und Mensch, sei es als Eintritt ins Gottesreich oder als Schau Gottes. Während im erstgenannten Konzept vor allem in mystischer Weise vom Eintritt in das Reich Gottes gesprochen wird (excessus, Verbindung mit dem immerwährenden Gebet), erscheint das Erreichen der θεωρητική im zweiten Teilband durch die Anknüpfung an die Auslegung der Schrift in einem vierfachen Sinn deutlich greifbarer und stärker mit dem o. g. Zitat der Vergleichbarkeit zu anderen Künsten und Wissenschaften in Einklang zu bringen. Während in coll. 1 der Zusammenhang von erstem und letztem Ziel lediglich zu Beginn herausgearbeitet wird, bevor dann erst die puritas cordis und anschließend die Gottesschau im Einzelnen, ohne weiterhin auf den Zusammenhang Bezug zu nehmen, betrachtet wird, ist in coll. 14 von vornherein stärker die Verbindung beider Stufen – summiert als scientia spiritalis – im Blick. Dadurch,
6.4 Rückschau und Ausblick
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dass vermehrt verbindende Linien aufgezeigt werden, wird die πρακτική noch stärker in den Dienst der θεωρητική gestellt, als es zu Beginn des ersten Teilbandes – dort in anderer Wortwahl – zu beobachten ist Während in der Darstellung des Konzeptes in coll. 14 sprachlich offensichtliche Parallelen zu Evagrius auszumachen sind, bedient sich Cassian in coll. 1 noch eines vielfältiger geprägten Sprachgebrauchs und grenzt sich durch das Ersetzen der ἀπάθεια durch puritas cordis sogar recht deutlich von Evagrius’ T heologie ab. Es mag auf den ersten Blick überraschen, dass Cassian zunächst mit einem allgemeineren Konzept arbeitet, um dann im zweiten Teilband deutlich expliziter auf einen einzelnen seiner Lehrer einzugehen. Allerdings unterstreicht dieser Sachverhalt deutlich die T hese, dass es zwischen der Abfassung der Teilbände Rückfragen mit der Bitte, einzelne Sachverhalte klarzustellen, gab und Cassian sich dieser Herausforderung in gezielter Erinnerung an einen ihn selbst prägenden Lehrer gestellt hat. Beiden Zwei-Stufen-Konzepten ist gemeinsam, dass sie – wie Cassian es im ersten Prolog auch im Blick auf das Verhältnis von Instituta und Collationes beschreibt – vom Äußeren zum Inneren und vom Endlichen zum Ewigen fortschreiten. Während auf der jeweils ersten Stufe alle möglichen, mit einer uita actualis verbundenen, innerweltlichen Tätigkeiten gewinnbringend integriert werden können, verlieren sie mit zunehmendem Fortschritt immer mehr an Bedeutung; zurück bleibt nur die Haltung des Geistes, der durch sie geformt ist.112 Diese Formung des Geistes bzw. des Inneren Menschen wird damit zum Ziel allen monastischen Fortschreitens, zumindest zu dem Ziel, das der Mensch aus eigener Kraft erreichen kann. Die Vollendung des Prozesses, der Einlass ins Reich Gottes oder die Eröffnung der Schau Gottes, liegt dann allerdings nicht länger beim Menschen, der sich lediglich vorzubereiten vermag, sondern bei Gott. Diese entscheidende Stufe des Aufstiegsprozesses wird von Cassian – wie gezeigt, in nicht ganz kohärenter Verwendung des Begriffs – als perfectio beschrieben. Vollkommenheit markiert dabei jeweils den Abschluss einer Stufe, das höchste Ziel des Mönches, das mit der grundlegenden Tugend der discretio korreliert, oder aber ganz explizit die Hineinnahme in die göttliche Liebe, die Gotteskindschaft. Entscheidend ist hierbei, dass perfectio nicht als Entlohnung für das Abarbeiten eines bestimmten Curriculums beschrieben wird, sondern als Geschenk, das der Mensch durch intensive, willentliche und individuelle Vorbereitung zu ergreifen vermag. Mit der perfectio findet Cassian damit einen Begriff, der den Bereich beschreibt, der in der T hematisierung von Voraussetzungen, Methoden und Prozessen monastischer Bildung (s. bes. 4.5 und 5.7) bisher eher unscharf blieb: Im 112 S. auch Foucault 2018, 303: „Man muss sich folglich einen zweifachen Prozess der Aufdeckung der Geheimnisse des Herzens vorstellen, der gleichzeitig Voraussetzung und Folge der Erkenntnis Gottes und der Beförderung der geistigen Wissenschaft ist, die ohne die Selbsterkenntnis, die sie möglich macht, nicht zustande kommen kann.“
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6. Bilder und Konzepte monastischer Bildung in den Collationes
Blick auf die theologischen und anthropologischen Voraussetzungen monastischer Bildung wurde deutlich, dass Cassian hier vor allem umfassend darlegt, weshalb der Mensch bildungsbedürftig ist und welche Hindernisse ihm auf seinem Bildungsweg begegnen. Bei der Betrachtung von Methoden und Prozessen hat sich gezeigt, dass deren Anfänge zwar klar umrissen werden (Beschreibung gelingender Lehr-Lern-Situationen in verschiedenen Kontexten, gradueller Aufstieg durch verschiedene Stufen der Schriftauslegung und des Gebets), dass aber über das Ziel dieser Prozesse wenig gesagt wurde, außer dass es der rationalen Einsicht entzogen und einer kleinen Elite vorbehalten ist. Im 6. Kapitel wurde nun deutlich, dass sich der Abschluss monastischen (Bildungs-)Strebens durchaus, wenn auch primär mit mystischem Vokabular, fassen, jedoch nicht länger in Analogie zu innerweltlichen Bildungsprozessen beschreiben lässt. Damit ist die wiederholt in den Collationes begegnende und auch in dieser Arbeit mehrfach zitierte Vergleichbarkeit von Mönchtum und allen anderen artes ac disciplinae an ihrem Ende angelangt – allein aufgrund der Tatsache, dass das Ziel monastischer Bildung nicht innerhalb der Welt zu erreichen ist und nicht allein in der Verantwortung des Menschen liegt. Befragt man die drei T hemenbereiche, die in diesem Kapitel untersucht wurden, im Blick auf Cassians Bildungshandeln, ist vor allem auf die zuvor skizzierte Vergleichbarkeit und gleichzeitige Unterschiedenheit der Konzepte von erstem und letztem Ziel im ersten Teilband der Collationes und der scientia spiritalis im zweiten Teilband zu verweisen: Die Tatsache, dass Cassian einen inhaltlich durchaus ähnlichen Sachverhalt auf so unterschiedliche Weise zu beschreiben vermag, zeigt m. E., wie virtuos er nicht nur verschiedene (monastische) Traditionen verbindet, sondern auch, wie reflektiert er dies im Gegenüber zu seinen Adressaten tut: Vergleicht man die mystisch-abstrakte Darstellung des letzten Ziels in coll. 1 mit der streng systematisierten Darstellung der θεωρητική in coll. 14, wird deutlich, wie stark Cassian um Nachvollziehbarkeit und eine Umsetzbarkeit des Dargestellten – auch abseits des traditionellen Milieus, dem es entspringt – bemüht ist. Auch die gezeigte zunehmende Relativierung bzw. Realisierung des Ideals der perfectio hat gezeigt, dass Cassians Lehre im Laufe seiner Tätigkeit in Marseille einer beständigen Aktualisierung, allerdings keinem kompletten Umbruch unterworfen war. An den Anfang des Kapitels zurückdenkend ist abschließend zu fragen, ob die drei untersuchten Konzepte tatsächlich etwas beschreiben, das sich – neuzeitliche Konzepte bemühend – als Bildungsprozess interpretieren lässt. Bedenkt man das unter 3.1.2 Dargestellte, ist zuerst an das zirkulär-reflexiv vertiefende Moment, das bspw. für den learning cycle bezeichnend ist, zu erinnern: Dieses lässt sich m. E. sowohl mit der variantenreichen Lichtmetaphorik Cassians als auch der damit beschriebenen zunehmenden Erkenntnis Gottes bzw. des Selbst im Gegenüber Gottes in Verbindung bringen. Dass Cassian auf dieses Ziel hinarbeitend verschiedene Stufen des Aufstiegs unterscheidet und dabei den vielfältigen
6.4 Rückschau und Ausblick
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Tätigkeiten der ersten Stufe lediglich einen vorbereitenden bzw. vermittelnden Wert im Blick auf die zweite Stufe beimisst, lässt an die Unterscheidung von Erziehung und (Selbst-)Bildung denken. Der uita actualis mit all ihren Aktivitäten würde dabei der Status einer vorbereitenden Erziehung zukommen, während die uita contemplativa respektive die θεωρητική Bildung in all ihren Facetten darstellt: Sie ist durch Innerlichkeit gekennzeichnet bzw. auf die Formung des Selbst ausgerichtet, wie die verschiedenen Vergleiche des Inneren Menschen mit dem tabernaculum, dem adytum und der Bundeslade deutlich machen, sie ist individuell, d. h. baut auf den je persönlichen Voraussetzungen und Stärken des Einzelnen auf, und sie ist dadurch, dass ihre Vollendung dem menschlichen Einfluss entzogen ist, zu einem gewissen Maße auch unabschließbar. Letztlich zielen alle drei untersuchten Bilder und Konzepte auf eine Verwandlung des (Inneren) Menschen durch Gott und auf ihn hin, wodurch an das ursprünglichste aller tatsächlich diesen Begriff nutzenden Bildungskonzepte, die Wiedereinbildung Gottes, zu denken ist.
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7. Fazit Monastische Bildung beginnt in zahlreichen, von vielfältigen Traditionen beeinflussten, aber auch individuellen Formen und Gestalten. Monastische Bildung vollzieht sich im Dialog – mit anderen und mit Gott – und durch sich stetig vertiefende Reflexion – des Selbst und Gottes. Monastische Bildung findet ihren Grund, vor allem aber ihre Vollendung und damit ihre Vollkommenheit in Gott. Monastische Bildung hebt sich dadurch von allgemeinerer theologischer bzw. christlicher Bildung ab, dass sie eng mit einer spezifischen Lebensform verbunden ist, die den ganzen Menschen zu jeder Zeit in Anspruch nimmt, wodurch ihr besonders anspruchsvolle – vielleicht sogar elitäre – Züge eignen. Diese thetischen Sätze zeichnen in groben Zügen die Charakteristika monastischer Bildung nach, die im Verlauf der vorliegenden Untersuchung der Colla tiones immer klarer hervorgetreten sind. Monastische Bildung erscheint dabei nicht nur als T hema und Ziel der Collationes, sondern auch als tragfähiges Interpretament, um Cassians Anliegen und Konzept in Gänze zu würdigen. Diese Feststellung nimmt den Dreifachfokus, der in der Einleitung skizziert und im Anschluss an jedes der fünf großen Kapitel präzisiert wurde, auf. Im Folgenden ist jedem der drei leitenden Aspekte (Bildung als T hema, Bildung als Ziel und Bildung als Interpretament der Collationes) jeweils ein eigener Abschnitt gewidmet. Dabei wird es nicht vorrangig darum gehen, die Ergebnisse der vorliegenden Studie in Vollständigkeit zu summieren,1 sondern vielmehr darum, den Dreifachfokus anhand grundsätzlicher Beobachtungen und einzelner Schlaglichter auf seine Tragfähigkeit als Schlüssel zu einem umfassenden Verständnis der Collationes zu prüfen. Vor dieser inhaltlich-thematischen Bündelung, die sich gezielt auf die Collatio nes richtet, sind darüber hinausführend noch einige allgemeinere Perspektiven zu skizzieren, die sich aus der vorliegenden Arbeit ergeben und die zu weiteren Untersuchungen des facettenreichen T hemas ‚Monastische Bildung‘ anregen mögen:
1 Eine inhaltliche Zusammenfassung findet sich am Ende der analytischen Unterkapitel („Die Bedeutung von … für die monastische Bildung“) und am Ende eines jeden Kapitels im Blick auf den Dreifachfokus („Rückschau und Ausblick“). Um der Übersichtlichkeit willen wird im Folgenden auf eine Wiederholung der Quellennachweise verzichtet, ebenso auf die erneute Nennung von Literatur.
7. Fazit
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Der einleitend entwickelte und in der Durchführung beständig präzisierte Dreifachfokus hat gezeigt, in welch vielfältiger Gestalt ‚Bildung‘ in Form, Inhalt und Deutung der Collationes zu finden ist. Es wurde deutlich, dass ein Verständnis des Bildungsbegriffs, das über konkrete – sozialisierende und erziehende – Lehr-Lern-Zusammenhänge hinausgeht, es ermöglicht, zu einer kohärenten Gesamtanalyse der Collationes vorzudringen. Es wäre zu prüfen, wie diese Einsicht – ebenso wie die Auffassung und Interpretation der Collationes als narrativer Text – auch an anderen monastischen Texten der Spätantike zielführend zur Anwendung gebracht werden kann. Wie im einleitenden Forschungsüberblick deutlich wurde, basiert die vorliegende Untersuchung auf einer Reihe von Vorarbeiten, die jeweils Einzelaspekte der Collationes und monastischer Bildung (bzw. Sozialisation und Erziehung) thematisieren. Im Licht des hier erarbeiteten Gesamtverständnisses der Colla tiones als Text, der Bildung thematisiert, anstößt und enthält, wäre es denkbar, erneut einzelne T hemen einer kritischen Prüfung – die über das in den jeweiligen Unterkapiteln Erarbeitete hinausgeht – zu unterziehen; hierbei wäre z. B. an eine Studie zu Cassians Schriftgebrauch in Anlehnung an P. Rönnegård zu denken. In der vorliegenden Studie wurden mehrfach Konzepte an die Collationes herangetragen, die ursprünglich aus anderen (zeitgenössischen) Kontexten stammen, wie das Spiel mit den verschiedenen Bildungsbegrifflichkeiten oder aber die Analyse der Collationes mit Hilfe narratologischer Kategorien. Beide Ansätze haben sich als ausgesprochen instruktiv erwiesen, da sie gänzlich neue Perspektiven auf einen spätantiken Text zu entwickeln helfen und so theologische Topoi in einem neuen und klareren Licht sehen lassen. Ein Aspekt, der bspw. durch die Begriffe Reflexion und Dialog bereits anklingt, jedoch noch nicht weiter verfolgt wurde, ist die Frage nach Kommunikationsstrukturen. Ebenso wurden mehrfach gruppendynamische Prozesse der gezielten (narrativen) Ein- und Ausgrenzung gestreift, die ebenfalls zu einer eigenständigen Betrachtung einladen. Durch die Untersuchung hindurch wurde Cassians immense Scharnierfunktion immer deutlicher: Nicht nur durch den Inhalt der Collationes, auch durch ihre Form erweist er sich als zentraler Mittler zwischen verschiedenen theologischen, monastischen und bildungsgeschichtlichen Traditionen, zwischen Ost und West, zwischen Eremitentum und Koinobion, zwischen Spätantike und Frühmittelalter, zwischen Bildungskritik und Bildungsstreben. Bedenkt man, wie sehr Cassians Werk durch seine Aufnahme in der Regula Benedicti leitend für das gesamte westliche Klosterwesen wurde, ist hier mit Sicherheit einer der Grundsteine, der die Rolle der (mittelalterlichen) Klöster als Bildungseinrichtungen begründet, zu sehen. Auch dieser institutionellen Perspektive, die das Fortwirken Cassians fokussiert, könnte in detaillierteren Quellenstudien, als sie bisher unternommen wurden, nachgegangen werden.
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7. Fazit
7.1 Monastische Bildung als T hema innerhalb der Collationes Bereits in der Einleitung (s. 1.) wurde deutlich, dass ‚Bildung‘ ein zentrales T hema der Collationes ist. Cassian selbst rekurriert mehrfach in vergleichender Weise auf Parallelen zwischen monastischer und traditioneller Bildung, bewertet diese aber auch kritisch. Dabei wird deutlich, dass sich die Kritik zunächst auf die Inhalte paganer Bildung richtet, während die Parallelen in der Methodik des Lernens und Fortschreitens zu entdecken sind. Mit der Kritik bedient Cassian ein literarisch-monastisches Ideal, mit der Vergleichbarkeit expliziert er ein Vorgehen, das seine theologischen Vordenker lediglich implizit zur Anwendung gebracht haben (s. 3.1.1). In vielfältiger Weise thematisiert Cassian, aufgrund welcher anthropologischen und theologischen Voraussetzungen (s. 4.) eine Entwicklung – d. h. im weitesten Sinne: Bildung – des menschlichen Individuums im Gegenüber Gottes und auf Gott hin notwendig und möglich ist. Nahezu ebenso vielfältig ist die Reihe der Methoden, mit deren Hilfe der Mensch – bzw. in Cassians Fall: der Mönch – diese Entwicklung zu vollziehen vermag (s. 5.). Die Formung des Selbst – in Cassians Sprachgebrauch: des Inneren Menschen – auf Gott hin wird dabei i.d.R. mit Hilfe mehrstufiger Konzepte beschrieben (s. 6.1 und 6.2), die in verschiedener Gestalt eine uita actualis zur notwendigen, aber zugleich zu überwindenden Voraussetzung einer uita contemplativa erklären. Ab diesem Punkt stößt die explizite Parallelität von weltlicher und monastischer Bildung an ihre Grenzen: Während beide Bildungsvorstellungen sich durch vergleichbare LehrLern-Settings, ähnliche Anforderungen an Motivation und Eifer des Lernenden und die grundlegende Ausrichtung an autoritativen Texten auszeichnen, so unterscheiden sie sich deutlich, wenn der Blick auf ihre Vollendung bzw. Vervollkommnung (s. 6.3) gerichtet wird. Während diese in der traditionellen Bildung in der Hand des Menschen liegt und sich in innerweltlichem Erfolg zeigt, ist sie in der monastischen Bildung dem Menschen letztlich entzogen: Zwar obliegt es ihm, nach dem Höchsten zu streben, das Erreichen dieses Zieles wird ihm jedoch erst in der Ewigkeit aus göttlicher Gnade zum Geschenk gemacht. 7.2 Monastische Bildung als Ziel der Collationes Der gattungskritische Vergleich zwischen den Collationes und Lehrbüchern der traditionellen Bildung (3.2) hat gezeigt, wie ähnlich diese strukturiert sind. Die präzise narratologische Untersuchung der Collationes (3.3) hat den Eindruck gestärkt, dass die vielschichtige Komposition der Collationes nicht nur klar umrissene Lehrinhalte vermitteln, sondern auch zu reflektierter (Selbst-)Bildung anregen möchte. Um dies zu ermöglichen, unterbreitet Cassian seinen Adressaten und Lesern im spätantiken (Süd-)Gallien ein vielfältiges Bild des ägyptischen Wüstenmönchtums. Dabei ist es ihm ein Anliegen, nicht (nur) über die Wüsten-
7.2 Monastische Bildung als Ziel der Collationes
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väter zu berichten, sondern diese selbst zu Wort kommen zu lassen, sodass die Rezipienten der Collationes zu einer eigenständigen und individuellen Erfahrung mit den Worten der Väter befähigt werden. Mit Hilfe dieser Technik vermag es Cassian, den großen Abstand, der zwischen der Welt der erzählten Geschichte und der ihrer Narration klafft, – weitestgehend – zu schließen. Er selbst spricht davon, durch sein Werk eine leibhaftige Reise nach Ägypten substituieren oder, an anderer Stelle, die Altväter leibhaftig in den südgallischen Klosterzellen heraufbeschwören zu wollen. Damit adaptiert er das Konzept einer spontanen und geistgeleiteten Logiengabe, das charakteristisch für die monastischen Anfänge ist, und macht es für eine monastische Welt ohne ‚echte‘ Wüstenväter anschlussfähig. Jedoch projiziert Cassian nicht nur erzählerisch verschiedene historische Altvaterfiguren nach Südgallien, sondern legt seine Unterweisung bewusst so an, dass dort eine eigenständige Lehrergeneration heranwachsen kann. Explizit deutlich wird dies im zweiten Prolog der Collationes, in dem Cassian als ein Ziel seines Schreibens nennt, die Klostervorsteher von Lérins zu besseren Lehrern für ihre Gemeinschaft machen zu wollen. Aber die Collationes befähigen nicht nur dazu, ein (besserer) Lehrer für andere zu werden, sondern auch, sich selbst zum Lehrer zu werden bzw. sich die Heilige Schrift zur Lehrerin zu machen: Durch das hohe Reflexionsniveau, auf dem in den Collationes argumentiert wird, vermittelt Cassian seinen Adressaten facettenreiches Hintergrundwissen über die theologischen und anthropologischen Gründe und Notwendigkeiten monastischer Bildung, sodass sie ihr eigenes Urteilsvermögen stärken und dadurch die discretio im Spiegel der in den Collationes versammelten Altväter einüben können. Mit Hilfe des mehrfachen Schriftsinnes ermöglicht Cassian es seinen Adressaten, auch in Abwesenheit realer Altväter zu jeder Zeit ein situationsbezogenes und geistgeleitetes Wort Gottes zu generieren, wodurch das ursprünglichste aller monastischen Lehr-Lern-Settings auf ein portables, grenzüberschreitendes und schriftbasiertes Level gehoben wird. Cassian löst jedoch nicht nur eine monastisch-theologische Tradition aus dem Umfeld ihrer Entstehung heraus, um ihr in einem gänzlich anderen Umfeld ein Fortleben zu sichern, er interagiert auch in innovativer Weise mit den theologischen und kirchenpolitischen Herausforderungen, mit denen er seine Adressaten in Südgallien konfrontiert sieht: So etwa zeigt die pointierte Stellungnahme im Streit um Wille und Gnade, dass Cassian weit mehr als ein Sammler und Konservator einer bestimmten monastischen Tradition ist. Bewusst reflektiert er seinen dem Mönchtum entspringenden Standpunkt über einen engen monastischen Kontext hinaus auf eine breitere, kirchliche Ebene. Dabei betont er wiederholt, dass die durch die Collationes vermittelten Inhalte und Methoden nicht allein innermonastischen Wert hätten, sondern allgemein zur Erkenntnis von Häresie und Orthodoxie beitrügen, wodurch er die für Südgallien charakteristische, enge Verbindung von Mönchtum und kirchlichem Amt indirekt be-
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7. Fazit
fürwortend aufnimmt und so die monastische Tradition, als deren Vermittler er angetreten ist, abermals aktualisierend erweitert. 7.3 Monastische Bildung als Interpretament der Collationes Im 3. Kapitel der vorliegenden Untersuchung wurden Überlegungen angestellt, unter welchen Vorannahmen sich (moderne) Bildungsbegrifflichkeiten zur Analyse eines spätantiken Textes eignen können. Dabei haben die auf die spätmittelalterliche Mystik zurückgehende Herleitung des Begriffs aus der Vorstellung der durch den Sündenfall verdeckten Gottebenbildlichkeit des Menschen, die präzise begriffliche Trennung von Sozialisation, Erziehung und (Selbst-)Bildung, sowie die den letzten Aspekt vertiefende Untersuchung der Bedeutung von Reflexion in Bildungsprozessen dazu beigetragen, monastische Bildung als umfassendes Konzept aufzufassen, das weit über die konkreten Zusammenhänge formaler und materialer Bildung (besser: Erziehung) – wie sie bspw. im Sammelband von Rubenson / Larsen (s. 3.1.1) oder in den Forschungsbeiträgen von Krawiec und Clements (s. 1.1) verhandelt werden – hinausgeht. Versteht man Bildung als ganzheitlichen und unabschließbaren Prozess der Selbstwerdung im Gegenüber und im Lichte Gottes, hilft dies nicht nur, den Zusammenhang der scheinbar so unterschiedlichen Argumentationsgänge der Collationes klarer zu fassen, sondern auch, auf den ersten Blick problematische Aussagen Cassians präziser einzuordnen: Bereits unter 7.1 wurde deutlich, wie sich die verschiedensten Aspekte monastischen Lebens, die in den Collationes thematisiert werden, letztlich in das mehrstufige Konzept eines geistigen Aufstiegs fügen, das Cassian wiederholt in unterschiedlicher Gestalt ausführt. Die durch die Arbeit deutlich hervorgetretene Betonung des Reflexionsbegriffs erklärt, weshalb auch längere Passagen zu grundlegenden anthropologischen und theologischen T hemen entscheidend zur monastischen Bildung der Adressaten Cassians beitragen und weshalb diese gerade nicht ausschließlich in den konkret handlungsorientierten Passagen gesucht werden darf. Im Zuge der Darstellung des Reflexionsbegriffes als zentraler Komponente der (Selbst-)Bildung wurde herausgestellt, wie wichtig hierzu ein Gegenüber bzw. der Dialog mit diesem Gegenüber ist. Cassians Adressaten begegnen dabei nicht nur den Altvätern als narrativen Gesprächspartnern, sondern auch dem erzählend lehrenden Cassian, vor allem aber Gott als dem Gegenüber schlechthin. Die Vorstellung des Dialogischen, das zur zunehmenden Verwandlung des Selbst im Austausch mit seinem Gegenüber führt, hilft m. E. ungemein, den theologisch am stärksten umstrittenen Zug der Collationes besser zu verstehen: das Ineinander, Miteinander und Füreinander menschlicher und göttlicher Aktivität. Cassian beschreibt in den kontroversen Passagen rund um menschlichen Willen und göttliche Gnade einen Dialog, der keiner feststehenden, sondern einer höchst individuellen Form folgt. Dabei ist zunächst nicht entscheidend, wer das
7.3 Monastische Bildung als Interpretament der Collationes
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‚Gespräch‘ beginnt oder wer wie viel ‚Redeanteil‘ hat, sondern nur, dass ein Dialog, der zu zunehmender Reflexion führt, angestoßen wird. Mit wachsender Erkenntnis des Selbst im Lichte des Gegenübers stellt sich auch eine immer größere Neugier und ein immer tieferes Verständnis für das Gegenüber ein. Hierdurch wird der Dialog mit Gott, der in vielfältiger und individueller Form beginnen kann, immer klarer auf sein Ziel ausgerichtet und so in seiner Form immer enger gefasst – das Ziel wiederum bleibt durch die gesamten Collationes hindurch zu einem gewissen Grad mystisch verklärt bzw. wird durch die Vollendung, die allein bei Gott liegt, der menschlichen Einflussnahme enthoben. Damit ist auf die einleitend formulierte Feststellung (s. 1.), dass monastische Bildung auf den ersten Blick als Widerspruch erscheinen könne, zurückzublicken: Zu Beginn der Arbeit war diese Aussage vor allem in horizontaler Weise auf die Integration weltlicher Bildungsgüter und Bildungstechniken in das monastische Leben gemünzt. Nun, am Ende, rückt zunehmend die vertikale Perspektive in den Blick, die betont, dass die Vollendung des monastischen Bildungsprozesses zeitlich, räumlich und überhaupt nur vorstellbar außerhalb des Menschenmöglichen liegt. Trotzdem – oder gerade deswegen – hat sich ‚Bildung‘ als tragfähiger Begriff erwiesen, um Cassian, um die Collationes zu verstehen: Unter dem Begriff Bildung lassen sich die Extreme einer graduellen Aufstiegslogik und einer mystischen Entrückung verbinden, scheinbar simple Fragen des monastischen Lebens finden mit theologisch anspruchsvollen Standortbestimmungen zusammen. Korrespondierend mit dem einleitenden Zitat der (methodischen) Vergleichbarkeit von monastischer und weltlicher Bildung (s. 1.), bringt Cassian diesen Sachverhalt folgendermaßen auf den Punkt und macht so deutlich, zwischen welchen Eckpunkten er selbst das Phänomen, das in der vorliegenden Monographie als monastische Bildung definiert wurde, angesiedelt sieht: Omnis monachi finis cordisque perfectio ad iugem atque indisruptam orationis perseuer antiam tendit, et quantum humanae fragilitati conceditur, ad inmobilem tranquillitatem mentis ac perpetuam nititur puritatem (Coll. 9,2; 250,19–22).2
2 Ziegler 2011, 269: „Jegliche Zielausrichtung des Mönchs und Vollkommenheit seines Herzens streckt sich aus nach der beständigen und ununterbrochenen Beharrlichkeit im Gebet und strebt, soweit menschliche Gebrechlichkeit es erlaubt, zur unerschütterlichen Ruhe des Geistes und zur immerwährenden Reinheit.“
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Anhang* I. Johannes Cassian kommt eine immense Schlüssel- bzw. Scharnierfunktion zu. Er agiert als Mittler zwischen den verschiedensten theologischen und monastischen Traditionen und wird so zum Wegbereiter für das Mönchtum als Bildungsinstitution. II. Monastische Bildung zielt – im Unterschied zu der ihr zwangsläufig vorausgehenden monastischen Erziehung – darauf, die anthropologischen und theologischen Hintergründe des monastischen Lebens kritisch zu reflektieren und so wiederum eine individuelle Handlungs- und Glaubenskompetenz zu entwickeln; auch, um diese lehrend weiterreichen zu können. III. Die dreifach fokussierte Verwendung des Begriffs ‚Bildung‘ (T hema, Ziel, Interpretament) ermöglicht es, die verschiedenen Ebenen der Collationes in ihrer Verbundenheit und Vielschichtigkeit zu erfassen, und so die existierenden Forschungsbeiträge zu einer fruchtbaren Synthese zu führen. IV. In den Collationes werden Grundprinzipien traditioneller monastischer Unterweisung (Spontaneität, Mündlichkeit, Leitung des Heiligen Geistes) einerseits formal nachgeahmt, andererseits aber auch inhaltlich substituiert. V. Die Wahrnehmung der Collationes als Erzählung und ihre Betrachtung mit Methoden der Narratologie ermöglicht ein Verständnis des Textes, das über die Möglichkeiten der bekannten kirchenhistorischen Form- und Gattungskritik hinausgeht. VI. Die drei Teilbände der Collationes berichten nicht nur von einem zurückliegenden Bildungsprozess, um einen zukünftigen anzustoßen, sondern bilden vor allem den Bildungsprozess und die theologische Entwicklung ab, die Cassian und seine Adressaten in den vier Jahren der Abfassung durchlaufen haben. VII. Monastische Bildung vollzieht sich durch das prozessuale Einüben theologischer Sehschärfe (discretio, magistra experientia). Dies ist weder allein, noch rein theodidaktisch möglich, sondern bedarf der Gemeinschaft und eines geistlichen Begleiters.
* T hesenpapier zur Disputation am 26.01.2022
Anhang
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VIII. Das theologische Grundmotiv der Collationes ist die beständige Anfechtung des Inneren Menschen. Hiervon ausgehend entwickelt Cassian eine Sünden- und Gnadenlehre, die einen explizit monastischen Standpunkt in die Streitigkeiten des frühen 5. Jahrhunderts einbringt. IX. Monastische Bildung in Analogie zu weltlicher Bildung zu beschreiben – wie Cassian es tut – ist ebenso instruktiv wie paradox. Diese Widersprüchlichkeit wird bewusst eingesetzt, um erzählte Welt und Welt der Erzählung zu verbinden. Interpretierend hilft sie, das Besondere monastischer Bildung, die Verbindung und Gegensätzlichkeit von Innerem und Äußerem, gezielt herauszustellen.
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Literaturverzeichnis Abkürzungen von Reihen und Zeitschriften richten sich nach: Schwertner, Siegfried M. (32014), IATG3 – Internationales Abkürzungsverzeichnis für T heologie und Grenzgebiete: Zeitschriften, Serien, Lexika, Quellenwerke mit bibliogra phischen Angaben, Berlin/Boston: De Gruyter. Die Abkürzungen spätantiker Quellen innerhalb der Fußnoten richten sich nach: Döpp, Siegmar/Geerlings, Wilhelm (Hgg.) (32002), Lexikon der antiken christlichen Lite ratur, Freiburg u.a.: Herder.
Quellen Apophthegmata Patrum (hg. v. Jacques-Paul Migne; PG 65; Paris, 1864) 71–440. –, I. Das Alphabetikon – Die alphabetisch-anonyme Reihe (übers. u. komm. v. Erich Schweitzer; Weisungen der Väter 14; Beuron: Beuroner Kunstverlag, 2012). –, II. Die Anonyma (übers. u. komm. v. Erich Schweitzer; Weisungen der Väter 15; Beuron: Beuroner Kunstverlag, 2011). –, III. Aus frühen Sammlungen (übers. u. komm. v. Erich Schweitzer; Weisungen der Väter 16; Beuron: Beuroner Kunstverlag, 2013). Aristoteles, Metaphysik (übers. v. Hermann Bonitz, hg. v. Horst Seidl; PhB 725; Hamburg: Felix Meiner, 2019). Athanasius von Alexandrien, Vita Antonii. Leben des Antonius (eingel., übers. und komm. v. Peter Gemeinhardt; FC 69; Freiburg u.a.: Herder, 2018). Augustin, De mendacio: ders. De fide et symbolo, De fide et operibus, De agone chris tiano, De continentia, De bono coniugali, De sancta virginitate, De bono viduitatis, De adulterinis coniugiis, De mendacio, Contra mendacium, De opere monachorum, De divinatione daemonum, De cura pro mortuis gerenda, De patientia (hg. v. Joseph Zycha; CSEL 41; Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1900) 413–466. –, De natura et gratia: Sancti Aureli Augustini Opera (Sect. VIII Pars I) (hg. v. Karl F. Urba und Joseph Zycha; CSEL 60; Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1913) 231–300. –, De diversis quaestionibus ad Simplicianum (CCSL 44; hg. v. Almut Mutzenbecher; Turnhout: Brepols, 1970). –, Confessionum Libri XIII (hg. v. Lucas Verheijen; CCSL 27; Turnhout: Brepols, 1981). –, De utilitate credendi (übers. u. eingel. v. Andreas Hoffmann; FC 9; Freiburg: Herder, 1992). –, De correptione et gratia: ders.: Contra sermonem Arrianorum. Praecedit sermo Arria norum. De correptione et gratia (hg. v. Georges Folliet; CSEL 92; Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 2000) 217–284. –, De libero arbitrio (eingel., übers. und hg. v. Johannes Brachtendorf; Augustinus Opera. Werke 9; Paderborn u.a.: Ferdinand Schöningh, 2006).
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Apophthegmata Patrum Collectio alphabetica Antonius 3 224 Arsenios 5 40 Benjamin 4 225 Isidorus Pelusiota 366 205 Moses 18 225 T heodorus Phermae 276 205 Aristoteles Metaphysik 981a5–7 207 Athanasius von Alexandrien 15, 23, 158 f., 172, Vita Antonii 174, 182, 206, 222, 234, 258 1 40 2 234 16–43 159, 206 16 206 20 134 22 159 39 206 44 159 51 257 72–80 100 82 257 91 257 Augustin Ad Simplicianum 1,2 135 Confessiones 8,5 135 De correptione et gratia 136 9 137
De dono perseverantiae
138
De doctrina christiana
230
De Genesi ad litteram liber unus inperfectus 2 230 3 230 De gratia et libero arbitrio 136 De libero arbitrio 2,3 135 De magistro 2 135 De mendacio 24 87 De natura et gratia 3,3 136 De praedestinatione sanctorum
138
De utilitate credendi 5 230 Enarrationes in Psalmos 103,1 271 Basilius → Rufinus von Aquileia Cicero De oratore
60, 62
Clemens von Alexandrien Paidagogos 1,7 81 3,1 77 f. 3,2 78 Stromateis 4,22 81 6,126 227
344
Werkregister
Decretrum Gelasianum 5,7 138
Vita Pauli 4 f. 170
Epiphanius Panarion omnium haeresium
17
Evagrius Ponticus Antirrhetikos
268
De octo spiritibus malitiae 105, 107 1 99, 170 13 f. 106 Gnostikos 1 291 2 284 49 295 Paraeneticus
Commentarius in Matthaeum 1,265 87
42
Praktikos 107 107, 280 2 f. 6 106 12 106 63–66 106 78 295 Protrepticus
42
Gennadius von Marseille De viris illustribus 61
10 11, 209
Hieronymus Liber interpretationis Hebraicorum nominum 4 300 Epistulae 22 43 130 308 133 284 Dialogus adversus Pelagianos prol. 1 284 In Hieremiam prophetam libri sex 4 123
Hilarius von Arles Sermo de Vita S. Honorati episcopi Arelatensis 24 11 190 12–14 166 Hirt des Hermas mand. 6,2
149
Historia monachorum in Aegypto 234 Innozenz I. Epistulae VI 10 XV 10 XVI 10 Johannes Cassian Collationes Patrum praef. I
31, 81, 165–167, 172, 235 praef. II 166 f., 172 praef. III 167, 172 1–10 307 1 15, 46, 112, 120, 142, 169, 194, 236, 266 f., 273, 281, 285, 295, 298, 300, 312–314 1,1 187, 191, 266 1,2 45, 176, 187, 273, 279–281, 285, 304, 312 1,3 193, 280 1,4 280 f., 290 1,5 281 1,6 223, 285 f. 1,7 285 1,8 243, 286, 290, 312 1,10 287 1,13 290 1,14 49
Werkregister
1,15 290 1,16 142 1,17 287 1,18 115, 287 1,19 142, 143 1,22 87 2 15, 32, 46, 112, 116, 160, 163, 188, 192, 281, 300, 306 2,1 160 2,2 14, 160, 305 2,3 161 2,4 161 f., 305 2,8 115 2,10 162 2,11 45, 162, 194 2,12 195 2,13 188, 190, 195, 207 2,16 161 2,17 161 3 15, 81, 139 f., 152, 187, 189 3,1 139 3,4 234 3,7 81, 86, 115, 208 f., 234, 291 f. 3,8 82 3,10 100 4 92, 94, 110, 143 f., 185, 189 4,2 92 4,3 92, 106, 142 4,4 92, 142 4,6 238 4,7 92 4,8 92, 144 4,9 144 4,12 144 4,13 142 4,14 142 4,15 142 4,19–21 93 4,19 92, 95 5 8, 32, 63, 92 f., 95, 103–105, 108, 110–112, 163, 185, 244 5,1 104 5,2 93 5,3 93, 95 5,4–6 93, 98, 103 5,4 93 5,5 94 5,6 50, 94, 106
345
5,7 32, 95, 106 5,8 95 5,9 95, 213 5,10 95–97, 103 5,11 95–97 5,12 95–98 5,13 97, 103 5,14 97 f., 103 f. 5,15–19 98, 104, 244 5,15 98 5,16 98 5,17 99 5,19 99 5,20 99 5,21 99 f. 5,22–24 104, 244 5,22 100 f., 115 5,23 81, 101 5,24 102 5,25 102 5,26 102, 104 5,27 103 f. 6 84 6,1 115 6,3 83 6,4 145 6,10 82 f., 87–89, 161, 215, 244, 267, 292 6,11 188 7 84, 88, 108, 143, 185 7,1 85 7,2 85 f. 7,3 85 7,4 108, 207 7,5 85, 238 7,8 85, 108, 143, 213 7,9 143 7,9–16 109 7,12 109 7,13 87, 109 7,15 86, 88 7,16 86–88 7,17 109 7,18 109 7,19 109 7,20 109 7,21 109 7,22 49, 109
346
Werkregister
7,23 207 7,28 109, 188 7,31 110 7,32 109 8 272 8,1 97 8,3 21, 86, 114, 178, 220 f., 226, 231 f., 234–238, 241 f., 301, 308 8,4 221, 226, 231, 237 f., 241 8,5 109 8,6 143 8,24 235 9 8, 32, 63, 248–250, 275, 305 f. 9,1 248 9,2 251, 306, 308, 321 9,3 87 9,7 238, 249, 306 9,8–17 249 9,8 249, 251 9,9 251 9,10 252 9,11–14 252 9,12 252 9,14 253 9,15 253 9,16 254 9,18–24 249, 254 9,18 255 9,19 255 9,20 255 9,21 86, 255 9,22 255 9,23 255 9,24–36 249, 256 9,24 256 9,25 258 9,26 214, 257 9,27 257 9,28 257 9,29 257 9,30 257 9,31 14, 258 9,32–34 258 9,33 258 9,34 259 9,35 259
9,36 260 10 8, 12, 17, 32, 63, 248–250, 260, 264, 273, 275, 305–307 10,1–5 249 10,2 101, 115, 261 10,3–5 50 10,3 19, 262 10,4 263 10,5 263 10,6 264 f. 10,7 265 10,8 265 10,9 87, 215 f., 267, 271 10,10 238, 250, 267, 271 10,11–14 269 10,11 213, 223 10,12 271 10,13 238, 271 10,14 261, 272, 275 11–13 62 11 50, 143, 145, 187, 189, 192, 307 11,5 188 11,6 50, 307 11,7 307 11,8 143 11,9 51, 144 11,12 115, 145, 150, 307, 309 11,13 307 11,14 51 12 92, 143, 145 12,4 208, 210 12,5 209 f. 12,6 188 12,8 216 12,11 81 12,16 208 f., 211 13 28, 32, 91, 111, 113, 120, 130, 137–139, 145, 152, 297, 304 13,2 146 13,3 146 13,4 146 13,5 146 13,6 146, 216 13,7 146, 148, 150 13,8 147, 150 13,9 147, 150 13,10 147
Werkregister
13,11 148, 151 13,12 148 13,13 149 13,14 149 13,15 150 13,16 150 13,17 150 13,18 151, 188, 216 14 32, 43, 63, 87, 131, 169, 186, 196 f., 213, 217, 229, 236, 238, 242, 266, 272, 291, 294, 298, 300, 312–314 14,1–11 43 14,1 1, 44, 295, 312 14,2 296 14,3–7 296 14,3 114, 296 14,4 296 14,5 297 14,6 297 14,7 197 14,8 21, 101, 115, 220, 226, 236– 238, 241 f., 297, 308 14,9 115, 196, 238, 297, 299 14,10 241, 299, 301 14,11 101, 241, 301 14,12 11, 43, 47, 97, 115, 196, 302 14,13 44, 208, 302 14,15 302 14,16 238, 303, 312 14,17 197, 238 14,19 303 15 63 15,2 115 16 139, 140 f., 191 16,3 140 16,4–6 140 16,5 140 16,6 140 16,9 238 16,20 235 16,22 80, 87 f., 115, 235 17,6 221 17,30 181, 183 18–24 29 18 12, 112, 139 f., 164, 168, 172, 177, 186 18,1 192
347
18,3 217 18,4 169 18,5 165, 170 18,6 170, 175, 310 18,7 115, 140, 171 18,8 172, 175 18,10 173 18,12 172 18,13 172 18,14 172 18,15 172 18,16 88 19 139 f., 164, 168, 173, 176 f., 185, 190, 292 f., 296, 310 19,3 174, 191 19,4 174 19,5 174 19,6 175, 177 19,7 208, 211 19,8 141, 311 19,9 14, 176, 292, 311 19,10 177 19,11 177 19,12–16 177 19,12 188 19,13 177, 214 19,14 177 20–23 112 20 112 f., 116, 118 f., 122, 126 f., 130 f., 185 20,1 185 20,2 185 20,4 112 f., 116 20,5 113 20,7 114 20,8 101, 115 f., 120 20,9 114 20,11 117 20,12 117 21–23 12, 62 21 68, 112, 118, 126, 130 f., 192 21,1–11 193 21,5 234 21,7 234 21,8 193 21,9 193 21,10 70 f. 21,22 113
348
Werkregister
21,28 238 21,29 143 21,30 118 21,31 101, 115, 118 21,32 119, 217 21,33 119 21,34 101, 115, 119 22 32, 88, 91 f., 112 22,1 198 22,3 87 f. 22,5 238 22,6 88 22,9–12 94 22,16 181 23 32, 89, 112, 118, 120 f., 126, 128, 130 f., 148, 152, 218 23,1 121, 123 23,2–6 121 23,3 289, 293 23,4 122, 293 23,6 294 23,7–10 121 23,7 112, 122, 129 23,8 122 23,9 161 23,10 123 23,11–13 121 23,11 123 f. 23,12 124, 149 23,13 125 23,14 121, 126 23,15 101, 115, 121, 126 f. 23,16 127 23,17 128 23,18 128 23,19 129 23,21 46, 129 24 11, 89, 139, 182 24,1 31, 238 24,2 89 24,3 89 24,4 89 24,7 214 24,14–21 121 24,15 95 24,21 100
24,24 234 24,26 141 Contra Nestorium 4, 20, 21, 32, 33, 34 2,6 21 7,31 12 Instituta
10, 13, 23, 26, 28–33, 55, 59–61, 72, 74, 80, 90–92, 104, 107, 110, 164 f., 167, 170, 172, 178, 185, 248, 250, 279, 282, 310 f., 313 praef. 3 26 praef. 5 27 praef. 7 27 praef. 8 165, 310 praef. 9 165 2,3 172 2,9 31, 55, 248 f. 3 249 4,16 172 4,31–43 185 5-12 91 9,19 248 Johannes Chrysostomus Homiliae XXI de Statuis ad populum Antiochenum habitae 15,3 Homiliae in Genesim 30,3 209 41,1 209 De jejunio 3 209 Catecheses ad illuminandos 8,12 209 Kyrill von Jerusalem Prokatechesen 11 191 Leporius Libellus emendationis
33
349
Werkregister
Meister Eckhart Das Buch der göttlichen Tröstung 2 48 Origenes Contra Celsum 7,38 79 De principiis 229 1 praef. 298 3,3 158 3,6 265 4,2 228 4,3 81, 105, 232 De oratione 8,1–9,1 251 Homiliae in Exodum 3,2 159 Homiliae in Genesim 1,13 78 5,4 133 Homiliae in Leviticum 5,5 227 Homiliae in Numeri 24,2 79 27,11 159 Homiliae in Josue 1,1 Homiliae in Iudices 3,5 83 f. 5,6 236 Commentarius in Iohannem 10,18 221 Selecta in Psalmos 102,1 79 Pachomius Praecepta 49 185
Palladius von Helenopolis Dialogus de vita Joannis Chrysostomi 3,8 4 Historia Lausiaca 17,1 15 Pelagius De natura
136
Libellus fidei 13 136 Epistula ad Demetriadem 136 Philo von Alexandrien De somniis 2,173 81 Platon Apologia Sokratous 21 d–3
267
Phaidon 62b 283 80c–82b 82 Phaidros 246a–257d 75 Politeia IX,589b 75 T heaitetos 176b 1–3
78
Prosper Tiro von Aquitanien Contra Collatorem 13, 33, 137 2,1 138 Pseudo-Makarios Homiliae 3,10 80 Rufinus von Aquileia Asceticon parvum
27
350 Sulpicius Severus Dialogi 1,26 23 Vita Sancti Martini praef. 47 10 23
Werkregister
20 23 25,8 47 T heodoret Historia Religiosa
234
T heophilus von Alexandrien Osterfestbrief 17
351
Bibelstellenregister Genesis 1,1 230 1,26 f. 261 1,27 48 1,31 143 3 132 3,5 94 3,5 f. 124 3,17–19 123 3,24 300 9 f. 102 12,1 100 15,18–21 100 22 149 25,27 40 32,23–33 81 Exodus 20,14 301 Levitikus 21,12 300 Deuteronomium 6,4 241 6,4 f. 233 7 99 7,1 98 98, 100, 104 7,1 f. 7,21–23 98 Richter 3,15 f. 82 f., 244 2 Samuel 14,14 147 1 Könige 5 26
2 Könige 147 24 97 Ester 6 142 Psalter 18,11 300 35 233 70,2 268 84,8 309 85,9 142 104,14 233, 236 104,18 269 115,16 (LXX) 252 118,112 147 120,1 259 140,3 148 145,7 148 Proverbia 4,23 147 22,20 (LXX) 238, 245 228 22,20 f. (LXX) 31,21 (LXX) 238 Kohelet 5,3 252 5,4 252 7,20 128 10,11 194 Jesaja 6,5 128 30,26 293 52,2 147 58,3 141 58,6 259 58,13 f. 141 64,6 122
352
Bibelstellenregister
Jeremia 1,10 114, 296 48,10 (= 31,10 LXX) 116 Ezechiel 10,4 300 18,31 147 28,14 300 33,11 147 Daniel 12,3 298 Hosea 10,12 (LXX)
298
Sacharja 1,14 142 Jesus Sirach 283 29,12 259 44,5 194 Matthäus 4,1–11 94 5,8 281, 284 5,39 234 f. 5,44 51 5,45 51 6,6 259 6,9 254 6,10 259 6,11 255 6,22 161 6,34 141 8 109 8 f. 150 9 148 10,20 142 10,36 88 10,38 233 11,28 147 12 102 12, 43–46 102, 192, 289 13,46 289 17,19 259 18,14 147
18,19 259 19,21 234 f. 25,21 174 26,39 259 Markus 11,24 258 Lukas 1,35 21 4,1–13 94 10,38–42 286, 288 10,41 f. 289 11,3 255 11,8 259 11,9 f. 259 12,35 233 12,49 182 15,11–32 307 17,20 f. 290 17,21 88 19 148 22,36 233 23 148 Johannes 3,27 148 5,8 150 6,38 140 f., 175 6,44 147 f. 8,34 118 14,23 142 19,11 109 Apostelgeschichte 4,32–37 169 5,1–11 171 9 148 Römer 6,22 281 6,41 118 7 118, 132, 135 7,14 228 7,19 118 7,19–23 121 7,22 f. 76 f., 88, 118, 123
353
Bibelstellenregister
7,24 127 7,25 127 f. 8,1 f. 126 8,3 94 9 135 9,16 147 11,33 f. 150 12,4–8 297 1 Korinther 2,14 92 2,15 92 3,1–3 235 3,2 92, 266 3,10–17 191 3,2 92, 266 6,19 299 9,24 147 12,8–11 158, 160 12,10 159, 163 12,29 f. 297 13 309 13,4–8 285 14,6 240–242 15,50 116 2 Korinther 128 3,18 48 4,16 76, 79, 86, 89 f., 282 4,16 f. 282 4,18 76 6,7 161 13,3 142 Galater 128 238, 241 4,22 f. 4,22–27 240 f. 4,24 229, 239 239, 241 4,24 f. 4,26 240
239, 241 4,26 f. 6,15 282 Epheser 2,8 f. 147 6,17 116 Philipper 2,8 175 2,12 147 f. 2,13 147 f. 3,13 f. 281 4,7 148 1 T hessalonicher 4,12–15 240 5,8 85 1 Timotheus 2,1 2,4
249, 251, 253 147, 303
1 Johannes 5,14 259 Hebräer 4,15 94 5,12–14 235 5,14 305 7,19 143 9,22 116 10,1 228 Jakobus 4,8 147 Offenbarung 3,15 f. 144 4,10 31
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Autorenregister Achtner, Wolfgang 132 f., 152 Adorno, T heodor W. 54 Alciati, Roberto 171 Andersen, Øivind 61 Bacht, Heinrich 250 Bagnall, Roger 40 Baumeister, T heofried 27 f. Bay, Carson 42 Benjamins, Hendrik S. 133 Benner, Dietrich 52, 55 Bollnow, Otto Friedrich 201 f. Borst, Eva 48, 52 f. Brakke, David 105, 108, Brändle, Rudolf 13, 17 f. Broc, Catherine 12, 21 Brunert, Maria-Elisabeth 23 f. Brunhorn, Christoph 63 Bultmann, Rudolf 76 Bunge, Gabriel 16, 250, 258 Burke, Peter J. 234 Burkert, Walter 75 Burton-Christie, Douglas 222 f., 225, 247 Butterweck, Christel 308 Cain, Andrew 234 Cannuyer, Christian 171 f. Carraciolo, Marco 66 Casiday, Augustine M. C. 5, 8, 18–20, 74, 136 f., 139, 152 f., 250 Cecconi, Paolo 149 Chadwick, Owen 4, 7, 11, 13–15, 18–20, 63, 91, 134, 171, 174, 304 Chase, Steven 300 Chin, Catherine M. 59 Clark, Elizabeth A. 17, 244 Clements, Niki Kasumi 5, 6, 33, 269, 320 Dahlman, Britt 7– 9 De Jong, Irene J. F. 64, 69 DelCogliano, Mark 261 f., 264
Demacopoulos, George E. 32, 157, 159 Djuht, Marianne 135 von Dobschütz, Ernst 228 f. Dornbusch, Aneke 224 Dörrie, Heinrich 59 Dörries, Hermann 59, 224 f. Drecoll, Volker Henning 116, 135 f. Drinck, Barbara 53 Driver, Steven David 5, 30 f. Dunn, Geoffrey 10 Dysinger, Luke 295 Ebeling, Gerhard 202 Evans, Gilian R. 135 Fludernik, Monika 65–67 Foucault, Michel 162, 284, 313 Frank, Karl Suso 9–11, 13, 30, 62 Fuhrer, T herese 183 Fuhrmann, Manfred 60 Fürst, Alfons 132–134, 221, 229 Gemeinhardt, Peter 15, 37–43, 48, 52–54, 57 f., 63, 159, 172, 174, 182, 185, 187, 189, 197, 199, 206, 220, 222–225, 238, 257, 308 Genette, Gérard 64, 66 f. Gizewski, Christian 281 Goodman, Nelson 64 Goodrich, Richard 25–30, 146 Greschat, Katharina 25, 167, 170 Groß, Walter 48 Grundmann, Walter 83 Guillaumont, Antoine 19, 107 Guy, Jean-Claude 91 Haeffner, Gerd 202 f. Harmless, William 15 f., 105, 107 f., 190, 250, 253, 267 f., 272 f., 284, 295 Havsteen, Sven Rune 49 Heckel, T heo 75–77
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Autorenregister
Heil, Uta 134 Henry, Nathalie 19 Hense, Elisabeth 158 Herms, Eilert 207 Heß, Walter 207 Hesse, Otmar 268 Heyden, Katharina 21, 105 Hilzensauer, Wolf 55 f. Hoffmann, Andreas 230 Holdenried, Michaela 70 Holze, Heinrich 4, 62, 91, 201, 205 f. Horn, Christoph 132, 134 f. Horn, Hans-Jürgen 220, 226 f., 229 Hörner, Wolfgang 52 Huber-Rebenich, Gerlinde 47 Hübner, Adelheid 18 Hwang, Alexander Y. 138, 151 f. Illert, Martin 79 f. Jenert, Tobias 56–58, 249 Jung, Franz 24 f., 166 Jüngel, Eberhard 202 Jewett, Robert 75 f. Kalvesmaki, Joe 19 Kannengiesser, Charles 221 Karfíková, Lenka 135 Karpp, Heinrich 79 Kasper, Clemens M. 25 Kelly, Christopher J. 5, 62, 81, 91, 105, 242–248, 280, 286, 288 f. Kobusch, T heo 77 Kolb, David A. 55 f., 203, 208 Konstantinovsky, Julia 19, 295 van Kooten, Georg H. 48 Köpf, Ulrich 15, 204 f., 213, 215 Koselleck, Reinhart 47, 49 Kraewiec, Rebecca 5 f., 36, 45, 58–61, 279, 320 Krannich, Torsten 33 f. Larsen, Lillian I. 39, 41 f., 199, 320 Leppin, Volker 288 Leonhardt, Rochus 237 Leyser, Conrad 26, 134 f., 298, 301 Lienhard, Joseph T. 158 f. von Lilienfeld, Fairy 15
Löhr, Winrich 136 Lorgeoux, Olga 21, 132, 191 Lössl, Josef 137 Louth, Andrew 288 de Lubac, Henri 229, 236, 242, 271 Lyman, Rebecca J. 17 Macqueen, D. J. 138, 145 Marbach, Carl 194 Markschies, Christoph 75–79, 133 Marsili, Salvatore 19 Mathisen, Ralph W. 164 McGinn, Bernard 284, 287 f. Miquel, Pierre 206, 209 Muehlberger, Ellen 42 Mühlenberg, Ekkehard 135, 227, 244 Müller, Barbara 187, 257 Mulley, Emily 160 Munkholt Christensen, Maria Louise 63, 250, 260 Niederhoff, Burkhard 67 Nowell, Irene 283 Nünning, Ansgar 64–66 Nünning, Vera 64–66 Nürnberg, Rosemarie 178 Nüßlein, T heodor 60 Ogliari, Donato 137, 152 Perrone, Lorenzo 223 f. Pesch, Otto Hermann 132 f. Pietri, Luce 23 Prinz, Friedrich 24 f. Puzicha, Michaela 25 Raasch, Juana 283 f. Ramelli, Ilaria L.E. 17 f. Ramsey, Boniface 14 f., 120, 232, 248, 265 Rebillard, Éric 120, 130, 146 Regnault, Lucien 268 Ripart, Laurent 168, 178 f. Rönnegård, Per 242–245 Rousseau, Philip 4, 12, 20, 63, 164, 167, 180, 183, 190 f., 304 Rubenson, Samuel 39, 41, 46, 222, 224, 320
Autorenregister
Ruppert, Fidelis 83 f. Rydell Johnsén, Henrik 40, 180, 188 Rylaarsdam, David 22 Schäublin, Christoph 181 Schenk, Dorothee 62, 64, 184 Schmeller, T homas 76 Schneider, Michael 91, 95 Schockenhoff, Eberhard 105 Schönert, Jörg 71 Schrage, Wolfgang 158 Schröder, Bernd 36, 48 f., 52, 202 Schulz-Wackerbarth, Yorick 170 Schweitzer, Friedrich 48, 49, 53 Sheridan, Marc 81, 123, 172, 173, 284 Squires, Stuart 120, 130 Stanzel, Franz K. 64, 68 f. Staubli, T homas 300 Stets, Jan. E. 234 Stewart, Columba 4, 7–14, 19, 26, 28, 30, 33 f., 50 f., 63, 79, 91, 105–107, 134, 138, 152, 172, 181, 200, 220 f., 239, 250 f., 253, 257, 259, 263, 268, 270, 272, 279 f., 283 f., 287, 289, 290 f., 295, 304
Stroumsa, Guy G. 223, 248 Summa, Gerd 157 TeSelle, Eugene 135 T hielsch, Angelika 56, 57 f. Tornau, Christian 149 Tzamalikos, Panagiotes 6–10 Urbano, Arthur 37 Vannier, Marie-Anne 21, 171 Vogt, Hermann J. 228 de Vogüé, Adalbert 171 Weaver, Rebecca H. 32, 137, 152 Wetzel, James 135 Williams, Rowan 17 Wolter, Michael 76 f. Wrzol, Ludwig 91, 105 Wutz, Franz 300 Young, Robin D. 19 Zelzer, Klaus 11
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Sachregister Adam-Christus-Typologie 50, 93, 100, 106 adytum 87, 267, 299, 315 Alter 16, 62, 154, 165, 181, 185, 187, 189– 193, 195, 201, 207 f., 251, 262 f. Altvater, Altväter 4, 10, 12, 14–17, 20, 24 f., 29–32, 43, 46 f., 54, 59–63, 66–71, 73, 85, 100, 105, 131, 154, 163, 166–168, 170, 179–200, 204 f., 208, 211 f., 217– 219, 223, 225 f., 232, 247 f., 261, 266, 268, 273 f., 276, 280 f., 291, 305, 319f. – Altvaterworte, Altvaterrede, Logion 59, 31–63, 66, 102, 168, 201, 205, 225, 261, 273, 276 Amt 192, 261 f. – Ämterlaufbahn 24 Anachoret, anachoretisch 15, 30, 32, 111, 164–178, 192, 259, 266, 292, 296, 310 – Semi-Anachoret, semi-anachoretisch 15, 24, 30 Anthropomorphismus / Anthropomorphiten / Anthropomorphismusstreit 12, 17–19, 50, 260–264 Anthropologie 18, 31, 33, 38, 49–51, 74, 77, 83, 85, 89, 92, 111, 131, 133, 139 f., 142–144, 153, 155–157, 163, 275, 278, 304, 312, 314, 318–322 ἀπάθεια 107, 123, 280, 284, 286, 295, 313 Askese 23 f., 88, 93, 174, 305 Aufstieg 3, 19 f., 32, 43, 74, 81, 85, 105, 108, 115, 192, 216, 220, 239, 246, 250, 254, 266, 271, 273, 284, 287, 295, 297, 305, 312–314, 320 f. Autorität 4, 16, 21, 25, 27, 29, 34, 38, 59 f., 62, 154, 160, 171, 180, 184–190, 194, 197–199, 201, 204, 206, 224 f., 231 f., 246–248, 258, 260, 263, 306 Äußerer Mensch 55, 76, 90, 155, 282 Beispielerzählung 97–100, 162, 193, 195, 262 f., 275, 285 f.
Bibel, Heilige Schrift 8, 16 f., 19 f., 40, 79, 86, 131, 186, 201, 204 f., 212–214, 218– 220, 222–232, 236, 238, 242, 247 f., 268, 253, 264, 269–272, 276, 279, 281 f., 287, 299–301, 308, 319 – Altes Testament 83, 100, 119, 132, 161, 230, 240, 263, 283, 299 f. – Exegese 22, 128, 131, 228 f., 242–244, 252 – Kanon 221 f. – Neues Testament 75, 96, 119, 132, 150, 220, 240 f., 284 – Schriftauslegung 3, 5, 21, 41, 63, 86, 90, 92, 105, 131, 157, 220–243, 246–248, 274, 291, 297, 314 – Schriftgebrauch 3, 102, 220–225, 231 f., 242–247, 250, 317 – (Schrift-)Lesung 213, 270, 279, 287, 298 f. – Schriftmeditation, meditatio 220 f., 245, 250, 287, 299, 301 f. – Schriftsinn, mehrfacher 3, 18, 20, 32, 220, 226–231, 236–242, 245–247, 253, 256, 262, 264, 272, 274, 276, 295, 297, 299, 301, 303, 308, 319 – Septuaginta, LXX 8, 220, 268 – Vulgata 114, 221, 268, 282 Bildung – artes liberales 37, 40 – Ausbildung 1f., 38, 47, 184, 220 – Bildungsinstitution 232, 322 – Bildungsprozess, Bildungsweg 1–4, 9, 20, 38 f., 43, 47, 53–55, 58, 73 f., 130, 154 f., 157, 193, 212, 262, 273, 275 f., 278, 280, 282, 314, 312, 320–322 – Bildungsskepsis, Bildungskritik, Bildungsfeindlichkeit 41, 229, 317 – monastische Bildung 2–4, 6, 18 f., 36– 51, 55, 61, 74, 89–91, 95, 100, 105, 107 f., 110 f., 130 f., 138, 144 f., 153–155, 157, 159 f., 163 f., 166, 177, 179, 191, 193,
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Sachregister
197 f., 200, 204, 214, 218–220, 229, 236, 238, 240, 246–250, 260, 263, 267, 272– 276, 278, 282, 288, 303 f., 306, 309, 312– 323 – παιδεία 37, 52 – Selbstbildung, (Selbst-)Bildung 2, 51– 56, 74, 90, 155, 163, 203, 248, 271, 277, 315, 318, 320 – traditionelle Bildung, weltliche Bildung 5, 35, 40 f., 43 f., 46 f., 61, 72, 97, 196, 216, 222, 271, 275, 280, 282, 302, 312, 314, 318, 321, 323 – Unbildung, Nicht-Bildung, Anders-Bildung 40, 181, 222, , 224, 260, 263, 275 Bischof 13, 23, 25–30, 137, 192 Buße 112–117, 119, 127, 130 Dämonen 3, 15, 50, 74, 84, 90, 96, 99, 106, 108–110, 130, 139, 141–145, 155, 159, 213, 250, 260, 263, 269, 288, 291 Demut 23, 25, 30, 87 f., 129, 139, 143, 162, 174, 182, 185–187, 190 f., 195–197, 199, 223, 225, 275, 306, 310 Diakon 10, 12, 19, 21, 189, 262, 296 discretio 3, 32, 155, 157–163, 185, 188, 194 f., 208, 214 f., 240, 270, 276 f., 287, 302, 305, 313, 319, 322 Dreifachfokus 2 f., 5 f., 32–36, 73, 155, 276, 278, 316 f., 322 Einsamkeit 23, 88, 166, 169, 174 f., 177, 213, 279, 285, 292, 296, 305 Engel 142, 149, 255, 259 Enthaltsamkeit 146, 170, 210, 262, 284, 301 Erfahrung 3 f., 16, 27, 30 f., 42, 46, 53–72, 108, 111, 151, 154, 166–169, 173, 179, 183, 188–191, 194, 199–279, 226, 231, 242, 251, 257, 263, 267, 274–276, 279, 288, 301, 310, 319 Erzählebenen 64–67 – extradiegetisch 67, 69, 71 – homodiegetisch 67, 70 f. – heterodiegetisch 67 – hypodiegetisch 67 Erzähler, Erzählerfigur 31 f., 62–71, 73, 154, 179, 180 f., 190, 193,199, 261, 274, 296, 319
– primary narrator 64, 69–70 – second(ary) narrator 64, 67–70 Erziehung 40, 47, 51–55, 84, 90, 133, 194, 203, 210 f., 266, 271, 315, 317, 320, 322 Experientiality 60, 65 f., 71 Fokalisierung 42, 64, 66–70 – Nullfokalisierung 68–71, 85 Gebet 3, 8, 15, 23, 25, 30–32, 42, 44, 55, 63, 79 f., 86, 90, 97, 145, 157, 182–184, 189, 200, 215, 218, 220, 223, 245, 248– 276, 288, 295, 305–308, 314, 321 – feuriges Gebet 248 f., 256–260, 274 – immerwährendes Gebet 3, 55, 80, 245, 250, 260 f., 263, 267–269, 271–275, 307, 312 – Psalmgebet, Psalmengesang 20, 44, 210 f., 221, 246, 270 – Stundengebet / Tagzeitengebet / kanonisches Gebet 55, 80, 248–250 – Vater Unser 116, 249, 254–256, 259, 274, 306 Gehorsam 25, 30, 139, 180, 199 Geist – Heiliger Geist 41, 48, 109, 116, 155– 160, 163, 197, 200, 225–246, 271 – menschlicher Geist 43–45, 80–82, 89, 92 f., 95 f., 103, 108, 115, 121 f., 128 f., 142, 144 f., 155, 167, 174–177, 182, 208, 210, 215–218, 250 f., 253, 255–258, 260, 264, 269, 272–275, 281, 287, 290, 292, 299–303, 313 – unreine Geister, böse Geister 86, 99, 102, 109, 142 f., 158–160, 163 – geistlicher Kampf 15, 84 f., 88–98, 101, 108–111, 114, 130, 144, 155, 159, 172, 185, 191, 213, 244, 255, 286, 288 – geistliches Wissen → scientia spiritalis Gemeinschaft 15. 19, 20, 23–25, 28 f., 37 f., 114, 165, 168 f., 171, 177 f., 223, 234, 250, 261, 307, 319, 322 Gewissen 77, 113 f., 116, 130, 143, 145, 155, 161, 198, 206, 253, 257 f., 302 Glaube 24, 34, 47, 83–85, 101, 115–118, 134, 149–151, 158, 164, 169, 183, 191, 202, 204, 216–219, 226, 231 f., 237, 247, 259, 262–264, 284, 295, 297, 301
Sachregister
Gnade 3, 32, 51, 63, 74, 94 f., 101, 110–115, 119 f., 126–139, 145–155, 158, 160, 163, 170, 182, 186–188, 210, 251, 255, 264, 274, 291, 297–299, 303 f., 318–320, 323 Gott – als Arzt 110, 188, 216 – Einung mit 48, 176, 260, 265, 287 f., 300, 304, 307 – Gottesdienst 23, 25, 30, 141, 223, 259 – Gotteserkenntnis 38, 53, 90, 216, 263, 272 – Gottesschau (contemplatio) 51, 74, 115, 127, 161, 165 f., 174, 176, 178, 264, 267 f., 273, 282, 286–294, 297 f. 304, 312 – göttlicher Wille 51, 78, 133 f., 141 f., 144, 154, 175, 255, 259 f. – als Richter 109, 133, 256 – als Vater 133, 216, 255, 259, 265 Greis → Alter Häresie, Irrglaube 18, 33, 123, 129, 231, 262, 275, 284, 319 Herz (cor) 80 f., 86–88, 90, 101 f., 106– 108, 113–115, 121, 125, 127, 145, 147, 155, 175, 187, 194, 208, 214, 228, 233, 245, 252 f., 255, 260, 269 f., 272 f., 290 f., 299, 307, 313 – Herzensreinheit (puritas cordis) 51, 85, 90, 93, 107, 130, 182, 216, 243 f., 248, 260, 275, 281–288, 293–296, 298, 300, 304, 312 f. Hochmut (superbia) 83, 91, 94–98, 102, 106, 111, 117, 128, 134, 143, 146, 153, 161, 171, 174, 223 Identität 56 f., 70 f., 114, 234, 288 imitatio (Imitation, Nachahmung) 15, 41, 52, 129, 188, 214, 217, 242, 245, 267, 297 imago dei (Gottebenbildlichkeit) 47–54, 78, 87, 90, 133, 144, 156, 261, 271, 320 Innerer Mensch 2 f., 18, 32, 50 f., 53, 55, 74–90, 92, 95, 101, 104, 108–111, 131, 133, 144, 154 f., 161–164, 173, 213, 215 f., 235, 239, 244, 246, 249, 255, 269, 276, 283, 292, 299, 313, 315, 318, 323
361
Jesus Christus 15, 33 f., 49 f., 74, 93 f., 105, 109, 122 f., 125–129, 141, 169, 176, 182, 188, 233–235, 264, 286, 288, 290, 297, 307 – Christologie 32 f. Keuschheit 88, 146, 185, 211, 252, 284 Kirche 65, 153 f., 240 f., 319 Kloster 12, 23 f., 26 f., 29, 63, 65, 101, 136, 140, 154, 164 f., 171, 173, 178, 185, 193, 209, 266, 317, 319 – Kellion 29, 172, 189, 266 – Koinobion 28, 32, 111, 164–178, 185, 190, 292 310, 317 – (Kloster-)Zelle 183, 319 Koinobit, koinobitisch 15, 24, 30, 32, 97, 111, 141, 164–178, 185, 259, 269, 292 f., 296, 310 Kommunikation 56, 197 f., 212, 226, 247, 309, 317 – Dialog 2, 20, 31, 36, 59–63, 69, 72, 109 f., 163, 195, 199 f., 206, 284, 316 f., 320 f. – Tetralog 200 Laster 28, 30, 44, 50, 63, 74, 81 f., 86, 88, 91–112, 114, 117, 119, 125, 130, 139 f., 142–144, 146, 155, 160 f., 171 f., 177, 185, 213, 244 f., 250, 253, 255, 257, 260, 269, 272, 282, 284, 286, 295 f., 300 f., 303 – Achtlasterlehre 8, 19, 32, 91, 94, 104 f., 108–110 Learning-Cycle 54–56, 203, 208, 314 Lehrbuch 2, 31, 36, 47, 58–60, 73, 179, 193, 291 Lehrer 2 f., 9, 13 f., 16–22, 29, 34 f., 42, 45 f., 61, 65, 72, 90, 134, 153, 155, 157 f., 160, 162 f., 171, 179–200, 204–206, 209, 212, 215, 217, 219, 221, 226, 235, 245, 250, 274–277, 280, 295, 297, 313, 319 – Heilige Schrift als Lehrerin 319 – magistra experientia 208–211, 322 Lehr-Lern-Situation 8, 38 f., 47, 55, 72, 156 f., 180, 182 f., 189, 198 f., 212, 217, 276, 314, 317, 319
362
Sachregister
Liebe (caritas) 50 f., 85, 116, 119, 125, 182, 233, 243, 265, 283, 285 f., 296, 299, 307, 309, 313 – Feindesliebe 51 – Nächstenliebe 253, 259 Logion → Altvaterworte Martyrium, Märtyrer 15, 115 f., 130, 171, 308 Mittelalter 39, 47–49, 317, 320 Modus – diegetisch 68 f. – duplex 227 – mimetisch 64, 68 f., 71 Mystik 19, 48 f., 178, 227, 238, 287 f., 291, 295, 298, 300, 312, 314, 320 f. Netzwerk 13, 34 Orthodoxie 148, 301, 319 Philosophie 75, 131, 201, 205, 229, 266, 283 – platonisch 35, 48, 75–78, 80, 82, 88– 90, 92, 95, 121, 183, 227, 229, 283, 289 f., 293 f., 298 – stoisch 107, 132, 227, 283 f. Predigt 21, 120, 159, 224, 284 Priester 138, 192, 230, 261, 300 Prüfung 49, 92, 110, 113, 149, 151, 155, 191, 233, 302 Rahmenhandlung, Rahmenerzählung 14, 54, 61–63, 66–71, 84 f., 97, 104, 139, 145, 154, 180, 184, 186, 188, 192 f., 195, 198 f., 249, 261, 263, 278 Reflektorfigur 43, 47, 68 f., 85, 126, 146, 154, 196, 214, 271, 273, 282 Reflexion 38, 48, 52–58, 66, 71–74, 123, 130 f., 155, 202–204, 212, 219, 249, 260, 265, 267, 271, 276, 294, 316 f., 319–321 Reue 123, 127, 198 Rhetorik 19, 21 f., 35, 37, 42, 47, 59–61, 171, 181, 191, 196, 229 f., 266, 268, 303 Schüler 2f., 9, 16, 20, 24, 34, 42, 59, 68, 153 f., 157, 160–163, 178–200, 205, 212, 217, 219, 226, 229, 231, 238, 243, 245, 266 f., 274, 276, 278–280, 310
scientia spiritalis 3, 19, 32, 43, 63, 85, 87, 90, 127, 162, 196 f., 217, 238 f., 242, 287, 294, 297–304, 312, 314 – θεωρητική 3, 19, 43, 107, 131, 179, 213, 219, 237–239, 241, 269, 278, 287, 291 f., 294–304, 312–315 – πρακτική 3, 19, 43, 107, 131, 170, 179, 213, 219, 237–239, 269, 278, 284, 294– 301, 312 f. Seele (anima) 4, 32, 43, 49, 75–82, 87 f., 90, 92, 95, 104–107, 109, 115, 141, 158, 175, 203, 214, 227–229, 233, 235, 239– 242, 250 f., 258 f., 269, 273, 281, 283 f., 288, 290, 294, 302 Sozialisation 38, 51–54, 93, 133, 203, 276, 317, 320 Sünde 3, 74, 76 f., 90, 94, 101, 102, 108, 111–131, 135, 145, 147, 152, 172, 252 f., 258, 281, 323 – Erbsünde 135 f., 138, 153 – Sündenfall 48 f., 51, 89 f., 92, 94, 102, 121, 124, 148, 152, 320 – Sündenvergebung 44, 251 – Ursünde 124, 130, 155 Taufe 101, 115 f, 120, 126 f., 130, 136, 331 Teufel, Satan, diabolus 84 f., 88, 92, 94, 106, 108, 142 f., 161, 255, 305 Trinität 109, 280, 284, 295, 307 Tugend 3, 40, 50, 63, 79, 82, 84, 87, 98 f., 101 f., 112, 119, 122, 124, 126, 129, 132, 139, 145, 149, 151, 155, 157 f., 160–163, 166, 172 f., 185 f., 189–192, 199, 208, 214, 226, 231 f., 235, 244, 255, 258, 263 f., 275, 285, 288 f., 292 f., 295–297, 301, 305–309, 313 uita actiua, uita actualis 165, 219, 236, 243, 256, 295, 305, 315, 318 uita contemplatiua 237, 243, 256, 315, 318 Verstand (mens, ratio) 43, 46, 61, 76, 90, 121, 127, 129, 142, 147, 150, 162 f., 202, 209, 218, 251, 254, 274, 281 Vollendung (consummatio) 100, 143, 249, 263, 299, 306 f., 309–311, 313, 315 f., 318, 321
Sachregister
363
Vollkommenheit (perfectio) 3, 15, 20, 29, 43, 49 f., 58, 60, 81 f., 84 f., 88, 92, 95, 97, 103, 108, 119–122, 139, 144–146, 161 f., 168–179, 190 f., 193, 195, 198–200, 210 f., 217, 250, 253, 260 f., 263, 266, 273, 278, 285, 290, 292–294, 304–313, 316, 321
Wüste 12, 16–18, 20, 39, 85, 89, 98 f., 111, 167, 169, 173 f., 178, 185, 187 f., 244, 274, 279, 292 – Kellia 12, 20 – Nitria 20 – Sketis 11 f., 15 f., 97, 261 – Wüstenväter → Altväter
Wille 3, 32, 51, 62, 74, 78, 80, 82, 90, 92, 94 f., 108–112, 114, 117 f., 120, 125, 130–155, 158, 163, 171–173, 175 f., 199, 255, 258–260, 262, 291, 304, 308, 316, 319 f. – Willensfreiheit 18, 90, 132–134, 136 f., 147, 154, 228 Worldmaking 64 f., 68, 111, 178
Zerknirschung 43, 187 Ziel – erstes (scopos, destinatio) 51, 85, 93, 107, 176, 179, 216, 248, 269, 279, 281 f., 285 f., 288, 308 – letztes (telos, finis) 112, 160, 176, 179, 193, 243, 248, 269, 278–282, 286 f., 289 f., 292, 294, 312, 314