Bildung 9783402130162

Was Bildung ist, wie sie gelebt, gestaltet, entwickelt werden kann: das sind grundlegende Fragen für jeden einzelnen Men

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German Pages 82 [76] Year 2013

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Table of contents :
BILDUNG
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort
Begrüßung
WOLFGANG THIERSE: Bildung und Werte
Bildung - Podiumsdiskussion
Alexander Licht / Wolfgang Port: Schlussworte
Literatur
Bildung. Thesen zu den 3. Kueser Gesprächen
HARALD SCHWAETZER: Cusanische Bildung
Zu den Personen
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Bildung
 9783402130162

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ISBN 978-3-402-13016-2

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Bildung • Das Erbe des Nikolaus von Kues

Was Bildung ist, wie sie gelebt, gestaltet, entwickelt werden kann: das sind grundlegende Fragen für jeden einzelnen Menschen, für Gesellschaft und Staat. Bildung ermöglicht Menschen die Entwicklung der Persönlichkeit; sie gibt der Gesellschaft Zusammenhalt und innere Dynamik; und sie ist die Voraussetzung für wissenschaftlichen Austausch und lebendige Demokratie. Für Nikolaus von Kues ist Bildung deswegen ein Prozess der Selbstgestaltung in einem sozialen Miteinander und in gesellschaftlicher Verantwortung, der von der Idee des Menschen als eines freien und lebendigen Bildes Gottes ausgeht. Die „3. Kueser Gespräche“ wollen auf dieser Grundlage diskutieren, was Bildung bedeutet, warum sie notwendig ist und was für sie notwendig ist. Dr. Wolfgang Thierse, Vizepräsident des Deutschen Bundestages, hat den Hauptbeitrag zum Thema „Bildung und Werte“ vorgelegt. Darüber hinaus diskutieren der Bischof von Trier, Dr. Stephan Ackermann, Prof. Dr. Michael Jäckel, Präsident der Universität Trier, Peter Adrian, Präsident der IHK Trier sowie Mathias Wais, Leiter der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Scharnhorst e.V., Dortmund, moderiert von Dr. Martin Thomé, cusanische Thesen zum Bildungsverständnis, welche von Mitgliedern der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte formuliert worden sind.

BILDUNG DAS ERBE DES NIKOLAUS VON KUES Herausgegeben von Ulf Hangert Wolfgang Port Karl-Heinz B. van Lier

I

III. Kueser Gespräche

II

III III. Kueser Gespräche

BILDUNG das Erbe des Nikolaus von Kues

Herausgegeben von Ulf Hangert, Bürgermeister der Verbandsgemeinde Bernkastel-Kues, Wolfgang Port, Stadtbürgermeister von Bernkastel-Kues, und Karl-Heinz B. van Lier, Konrad-Adenauer-Stiftung

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© 2013 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster

Umschlagmotiv: LutzDesign

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergütungsansprüche des § 54 Abs. 2 UrhG werden durch die Verwertungsgesellschaft Wort wahrgenommen. Printed in Germany ISBN 978-3-402-13016-2

INHALTSVERZEICHNIS

Seite Vorwort ........................................................................................... 7 Ulf Hangert / Wolfgang Port / Karl-Heinz B. van Lier

I Begrüßung ....................................................................................... 9 Ulf Hangert Bildung und Werte .......................................................................... 15 Wolfgang Thierse Bildung. Podiumsdiskussion ............................................................ 29 Stephan Ackermann, Peter Adrian, Michael Jäckel, Mathias Wais Moderation: Martin Thomé Schlusswort ..................................................................................... 55 Alexander Licht / Wolfgang Port

II Literatur ......................................................................................... 59 Bildung. Thesen zu den 3. Kueser Gesprächen .................................. 61 Cusanische Bildung ......................................................................... 63 Harald Schwaetzer Zu den Personen ............................................................................. 75

Vorwort Der vorliegende Band dokumentiert die „3. Kueser Gespräche“. Die „Kueser Gespräche“ wollen Raum geben, um drängende Probleme und Fragen im Spannungsfeld von Kirche, Staat und Gesellschaft zu diskutieren. Sie tragen damit der Einsicht Rechnung, dass die Wurzel gesellschaftlicher Probleme, auch der immer drängender werdenden wirtschaftlichen Probleme im Bereich der Kultur und der Bildung liegt und dass ohne eine Lösung auf diesem Felde keine Lösung gefunden werden wird. Die „Kueser Gespräche“ beziehen sich auf Nikolaus von Kues (14011464) und suchen bei ihm Anregung. Dass ein Denker, der vor 600 Jahren gelebt hat, noch heute aktuell ist, liegt im Falle des Cusanus sicherlich daran, dass er in so grundsätzlicher Weise die neuzeitliche Entwicklung von Kultur und Gesellschaft mit seinen Ideen belebt hat. Dabei wollen die „Kueser Gespräche“ nicht einfach Gedanken des Cusanus in die Gegenwart übertragen. Vielmehr geht es darum, diese Gedanken im heutigen Kontext als Anregungen zu begreifen und neu zu formulieren. Die „Kueser Gespräche“ versuchen damit, einen Umgang mit Cusanus umzusetzen, den die dritte These zu diesen 3. Gesprächen mit dem Doppelbegriff von produktiver Traditionsaneignung und kreativer Innovation umschreibt. Damit sind wir beim Thema der Gespräche. Die „3. Kueser Gespräche“ widmen sich den Ideen des Cusanus in der Frage der Bildung. Sie fanden am 15. Juni 2012 in Kloster Machern bei Bernkastel-Kues im Beisein von rund 350 Gästen statt. Die ohne jeden Zweifel aktuelle und entscheidende Fragestellung der Bildung hat die „Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte“ im Rahmen eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projektes „Werte-Bildung in Europa“ in einem Kreis von Fachwissenschaftlern vorbereitet. Als Grundlage dient das erste Beiheft zur Zeitschrift „Coincidentia. Zeitschrift für Europäische Geistesgeschichte“. Stellvertretend von verschiedenen Wissenschaftlern unterzeichnet, finden sich in dem Band „Werte-Bildung in Europa“ die sieben grundlegenden Thesen, die im Zusammenhang mit dem Projekt erarbeitet worden sind. Darüber hinaus erläutert Harald Schwaetzer in einem Beitrag dieselben aus cusanischer Perspektive. Schließlich werden die Dimensionen eines solchen Bildungsverständnisses in einem zwischen den Wissenschaftlern geführten und ebenfalls abgedruckten Gespräch vorgestellt.

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Vorwort

Die Vorbereitung und Durchführung der Kueser Gespräche erforderte auf vielen Feldern viel Einsatz und Teilnahme. Im Schlusswort sind die wichtigsten Danksagungen ausgesprochen. Doch wir wollen es an dieser Stelle nicht versäumen, noch einmal für die tatkräftige Unterstützung folgender Personen und Organisationen zu danken: Alexander Licht, MdL, als dem Vorsitzenden der „Kueser Akademie“, und Prof. Dr. Harald Schwaetzer als ihrem wissenschaftlichen „spiritus rector“ gebührt besonderer Dank. Für die praktische wie wissenschaftliche Organisation der Veranstaltung möchten wir dem Geschäftsführer der „Kueser Akademie“, Herrn Dr. Matthias Vollet, einen herzlichen Dank aussprechen. Unser Dank gilt auch Herrn Thomas Lutz, Lutzdesign, Mülheim/Mosel. Ein besonderer Dank geht an das Kloster Machern, welches die „3. Kueser Gespräche“ so wohlwollend beherbergt hat. Dass die „3. Kueser Gespräche“ mit diesem Band auch in gedruckter Form vorliegen, verdankt sich der guten Kooperation aller Beteiligten. Der Band wurde redaktionell von Jenny Detro, M.A., und Harald Schwaetzer betreut. Dass der Band so zügig erscheinen kann, verdankt sich der Förderung von Harald Schwaetzer durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des genannten Projektes „Werte-Bildung in Europa“. Thomas Lutz übernahm dankenswerterweise die graphische Aufbereitung. Herrn Dr. Dirk Paßmann vom Verlag Aschendorff danken wir für die gute Zusammenarbeit bei der Realisierung des Bandes. Bernkastel-Kues, im Oktober 2012 Ulf Hangert (Bürgermeister der Verbandsgemeinde Bernkastel-Kues) Wolfgang Port (Stadtbürgermeister von Bernkastel-Kues) Karl-Heinz B. van Lier (Konrad-Adenauer-Stiftung)

Begrüßung Meine sehr geehrten Damen und Herren, Standards für Schulen, Pisa, Bolognaprozess, Bachelor- und Masterabschlüsse an Hochschulen, Bildungsökonomie sowie die Verkürzung von Schule und Studienzeiten sind nur einige Stichworte der aktuellen Bildungsdiskussion. Sie haben möglicherweise ihr Recht, aber fehlt da nicht noch etwas? Ist es richtig, dass seit Jahren immer mehr über Strukturreformen und immer weniger über wichtige, ja faszinierende Inhalte gesprochen wird? Hartmut von Hentig, Deutschlands einflussreichster Pädagoge, kritisiert die Flucht vor dem Denken ins Wissen, und Konrad Paul Liessmann diagnostiziert, dass die zahlreichen Reformen des Bildungswesens auf eine Industrialisierung und Ökonomisierung des Wissens abzielen, womit die Vorstellung klassischer Bildungstheorien geradezu in ihr Gegenteil verkehrt werden. Geht es also in der Bildungspolitik eher um Verwertung als um Werte? „Die 3. Kueser Gespräche“, meine Damen und Herren, „wenden sich dem Thema Bildung zu, was Bildung bedeutet, warum sie notwendig ist und was für sie notwendig ist. Die 3. Kueser Gespräche stehen in einem organischen Zusammenhang mit den vorhergehenden Gesprächen. In den 1. Kueser Gesprächen stand das Thema Europa im Mittelpunkt. Die Überlegungen des Hauptreferenten Dr. Hans-Gert Pöttering, damals Präsident des Europäischen Parlamentes, machten deutlich, dass es die Frage nach einer geistigen Identität Europas ist, insbesondere mit Blick auf eine gemeinsame Sozialphilosophie und -ethik, welche zu beantworten entscheidend für das Schicksal Europas sein wird. Ausgehend von diesem Befund wählten die 2. Kueser Gespräche das Thema des interkulturellen Dialogs, da an ihm exemplarisch das Problem einer dynamischen, in permanenter Diskussion mit anderen befindlichen, kulturellen Identität aufscheint. Frau Bundesministerin Prof. Dr. Annette Schavan wies in ihrem Beitrag darauf hin, dass eine Behandlung dieser Frage die weitere nach der Bildung nach sich ziehe und zwar unter explizitem Einschluss des Zusammenhangs von europäischer Identität, Bildung und Spiritualität. Auf dieser Grundlage widmen sich die 3. Kueser Gespräche dem Bildungsverständnis.“1 Dazu, meine Damen und Herren, begrüße ich Sie sehr herzlich und freue mich, dass Sie wieder in so großer Zahl unserer Einladung gefolgt sind.

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Schwaetzer, Harald / Vollet, Matthias: Vorwort. In: Dies. (Hgg.): WerteBildung in Europa. Münster 2012, 7f.

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Ulf Hangert

Ich begrüße Sie auch im Namen meines Kollegen, Herrn Stadtbürgermeisters Wolfgang Port, nicht nur in seiner Funktion als Stadtbürgermeister, sondern auch als Mitveranstalter und als Mitglied im Vorstand der Kueser Akademie für europäische Geistesgeschichte und als Vorsitzender der Cusanus-Gesellschaft, und ich begrüße Sie natürlich auch im Namen von Alexander Licht, Mitglied des Landtages und Vorsitzender der Kueser Akademie für europäische Geistesgeschichte. Ich begrüße ganz besonders die Vertreterinnen und Vertreter aus dem Europaparlament und hier stellvertretend unsere Europaabgeordnete Frau Christa Klaß sehr herzlich, aus dem Bundestag und aus dem Landtag stellvertretend für alle namentlich den Präsidenten des Rheinland-Pfälzischen Landtages Heinz-Hermann Schnabel sehr herzlich. Ich begrüße natürlich auch die zahlreichen Vertreterinnen und Vertreter der großen kommunalen Familie, die sich heute hier eingefunden haben. Für die wohlwollende Begleitung der Akademie durch die Sparkasse Mittelmosel Eifel Mosel Hunsrück bedanke ich mich bei dem Vorstandsvorsitzenden Gunther Wölfges und begrüße ihn ebenfalls sehr herzlich. Auch in der Vergangenheit ist die Konrad-Adenauer wichtiger Partner der Kueser Gespräche und deshalb begrüße ich Herrn van Lier, den Landesbeauftragten der Konrad-Adenauer-Stiftung für RheinlandPfalz ebenfalls an dieser Stelle sehr herzlich und natürlich auch Frau Ellenbürger von der Konrad-Adenauer-Stiftung. Als wissenschaftlicher Partner und Mitveranstalter begleitet uns die Kueser Akademie für europäische Geistesgeschichte. Die Kueser Akademie hat zur wissenschaftlichen Vorbereitung der Kueser Gespräche wieder eine Ausgabe ihrer Zeitschrift Coincidentia dem Thema gewidmet. 2 Darin finden Sie die von Herrn Prof. Dr. Harald Schwaetzer von der Alanus Hochschule in Alfter in Auseinandersetzung mit Nikolaus Cusanus’ formulierten Thesen, an denen sich das Hauptreferat orientiert und die der Diskussion zugrunde liegen. Auch Ihnen dafür, Herr Prof. Dr. Schwaetzer, ein herzliches Dankeschön. Meine Damen und Herren, wir freuen uns sehr, dass es uns gelungen ist für den heutigen Abend den Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages, Herrn Dr. Wolfgang Thierse, für diese Veranstaltung zu gewinnen. Ich begrüße Sie, Herr Vizepräsident, sehr herzlich hier in Bernkastel-Kues, und, wie ich gehört habe, haben Sie ja auch schon heute

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Schwaetzer, Harald / Vollet, Matthias (Hgg.): Werte-Bildung in Europa. Münster 2012.

Begrüßung

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Nachmittag die Zeit genutzt, um einige sehr schöne, wie ich hoffe, Eindrücke der Region zu bekommen. Meine Damen und Herren, Herr Wolfgang Thierse hat Germanistik und Kulturwissenschaften studiert, er war kurze Zeit Mitarbeiter im Kulturministerium der DDR, er beschäftigte sich viele Jahre mit Fragen der Kulturtheorie und der Ästhetik, und er ist seit Oktober 1990 Mitglied des Deutschen Bundestages. Herr Thierse wird heute auch das Eröffnungsreferat halten, und ich bin überzeugt, dass wir mit ihm eine außergewöhnliche Persönlichkeit zu diesem Thema gewinnen konnten. Mir persönlich gefällt es auch immer – und wer mich kennt, weiß das –, meine Damen und Herren, wenn exponierte Persönlichkeiten sich kritisch mit den Medien, beispielsweise dem Fernsehen, auseinander setzen. Herr Thierse hat im Rahmen des Mainzer Mediendisputs im Jahre 2003 bemerkenswert deutliche Worte, wie ich finde, gefunden und dabei auch eine Berliner Zeitung zitiert, in der stand: „Im Grunde genommen brauchen die Medien keine Wirklichkeit mehr. Sie sind durchaus in der Lage ein System der Wirklichkeit zu inszenieren, auf das sie sich fortan beziehen“, soweit die Berliner Zeitung. 3 Wenn es also stimmt, was Adorno im Jahre 1959 in seiner „Theorie der Halbbildung“ geschrieben hat, nämlich dass die modernen Massenmedien strukturell eine Form der Halbbildung unterstützten, dann kann das Fernsehen als Hauptmedium und vorrangiger Sozialisierungsfaktor in Bildungsdiskussionen, wie ich meine, nicht gänzlich ausgeklammert werden. Meine Damen und Herren, als Domprobst Werner Rössel pünktlich zum Osterfest 2009 das Geheimnis lüftete und den Namen des neuen Trierer Bischofs bekannt gab, brandete im Dom minutenlanger Beifall auf. Unser Wunschkandidat, sagten viele Gläubige und Pfarrer, als sie erfuhren, wer dem Bistum Trier demnächst vorsteht: Weihbischof Stephan Ackermann, ein Eigengewächs und ein außerordentlich beliebter Priester obendrein. Neben den schwierigen aktuellen Aufgaben und Diskussionen, meine Damen und Herren, denen sich Bischof Ackermann immer wieder stellen muss, wird vergessen, dass Herr Bischof Ackermann viel Erfahrung im Bereich von Forschung und Lehre mitbringt und Vorsitzender der deutschen Kommission von Justitia et Pax ist. Die deutsche Kommission Gerechtigkeit und Frieden vernetzt kirchliche Akteure, die sich mit internationalen Fragen befassen, vornehmlich mit Menschenrechten und Frieden. Herr Bischof, seien Sie uns ebenfalls recht herzlich willkommen. 3

Vgl. http://www.ost-west-forum.de/files/060910_rede_thierese_goedelitz.doc.

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Ulf Hangert

Und Sie wissen, meine Damen und Herren, wir sind immer im Rahmen der Kueser Gespräche darum bemüht, Vertreter aus allen relevanten gesellschaftlichen Bereichen hier zu gewinnen, und es freut mich sehr, dass es uns gelungen ist, als Vertreter der Wirtschaft Herrn Peter Adrian für die 3. Kueser Gespräche zu gewinnen. Herr Adrian ist Präsident der IHK Trier und Sprecher der IHK-Arbeitsgemeinschaft Rheinland-Pfalz. Somit repräsentiert Herr Adrian insgesamt rund 200.000 Mitgliedsbetriebe in Rheinland-Pfalz. Herr Adrian ist Vorstand und Mitinhaber der Trierer Wohnungsbau- und Gewerbebau AG, kurz Triwo genannt. Herr Adrian seien Sie uns ebenfalls recht herzlich willkommen. Für den Bereich der Wissenschaft, meine Damen und Herren, begrüße ich den Präsidenten der Universität Trier, Herrn Professor Dr. Michael Jäckel, sehr herzlich. Herr Jäckel hat eine Professur für Soziologie an der Universität Trier, ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist Medienund Kommunikationssoziologie. Für diesen Bereich ist er auch Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Seien Sie uns ebenfalls herzlich willkommen. Ich begrüße den Leiter der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Scharnhorst e.V., Dortmund, Herrn Mathias Wais, ebenfalls sehr herzlich. Herr Wais studierte Psychologie, Judaistik und Tibetologie. Danach schloss sich eine psychoanalytische Ausbildung an, und Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Neuropsychologie folgten. Er ist Autor zahlreicher Sachbücher zu den Themen. Mit ihm verbunden ist auch die Arbeit in der anthroposophischen Heilpädagogik. Ebenfalls Herrn Wais ein herzliches Willkommen. Ich begrüße, und inzwischen ist er ja auch kein Neuer bei den Kueser Gesprächen, den Moderator dieser Gesprächsrunde am heutigen Abend, Herrn Dr. Thomé vom Bundesministerium für Bildung und Forschung ebenfalls sehr herzlich. Herr Dr. Thomé hat sich schon bei vielen Wissenschaftsprojekten erfolgreich und mit großem Engagement hervorgetan und sich internationale Anerkennung erworben. Wir freuen uns sehr, dass er auch wieder die 3. Kueser Gespräche moderiert. Mein Dank gilt auch dem wissenschaftlichen Geschäftsführer der Akademie für europäische Geistesgeschichte, Herrn Dr. Matthias Vollet, für die gründliche Vorbereitung der Kueser Gespräche. In diesen Dank schließe ich auch meine Mitarbeiterin Frau Eisele und alle anderen, die mitgeholfen haben, diese Veranstaltung zu realisieren, mit ein. Für die musikalische Bereicherung des heutigen Abends, meine Damen und Herren, sorgt das Ensemble Cantilena. Das Ensemble Cantilena ist an der Westfälischen Schule für Musik in Münster beheimatet. Es

Begrüßung

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besteht aus Sängerinnen, die entweder bereits ihr Gesangsstudium beendet haben oder kurz vor dem Abschluss stehen. Es ist, wie wir gesehen und gehört haben, ein reines Frauenensemble. Es ist bekannt für seinen ausgewogenen, harmonischen Klang. Das Ensemble hat einen Schwerpunkt in älterer Musik, insbesondere Erstaufführungen aufgrund von bislang nicht bekannten Notenmaterials, ist seine Spezialität. Geleitet wird das Ensemble von Rita Stork-Herbst, die als Gesangslehrerin an der Musikhochschule in Münster und an weiteren Hochschulen national und international tätig ist. Das Ensemble Cantilena aus Münster gastiert nicht zum ersten Mal hier in unserer Region, und die Sängerinnen haben ja auch schon die 2. Kueser Gespräche musikalisch bereichert. Dieser Raum des ehemaligen Kloster Macherns, meine Damen und Herren, ist für das Repertoire des Ensembles wie geschaffen, das in erster Linie aus geistlichen und weltlichen Werken europäischer Musik besteht. Meine Damen und Herren, es bleibt mir jetzt nur noch, Ihnen einen interessanten, einen spannenden, einen aufschlussreichen Abend zu wünschen, und ich darf jetzt Herrn Vizepräsident des Deutschen Bundestags, Herrn Dr. Thierse, um sein Referat bitten. Ulf Hangert, Bürgermeister der Verbandsgemeinde Bernkastel-Kues

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Ulf Hangert

Ulf Hangert, Bürgermeister der Verbandsgemeinde Bernkastel-Kues, bei seiner Begrüßungsrede

WOLFGANG THIERSE

Bildung und Werte Verehrter Herr Bischof Ackermann, meine Herren Bürgermeister, meine Herren Präsidenten, meine Damen und Herren, Sie haben einen Politiker eingeladen, der kein bildungspolitischer Spezialist ist. Ich werde also über all die Stichworte nicht direkt reden, die Sie einleitend vorgetragen haben, sondern ich werde ganz wesentlich über Bildung und Werte, Bildung und Werteerziehung sprechen, und zwar aus dem Horizont meiner Lebenserfahrung und politischen Erfahrung, die ganz anders ist als die aus einem katholischen Milieu. Sie wissen, dass ich in der DDR aufgewachsen bin und nun schon ewige Zeiten in Berlin lebe, und in vielerlei Hinsicht unterscheidet sich Berlin von der Idylle, die ich heute hier erlebt habe. Ich rede natürlich auch aus meinen Erfahrungen als langjähriger Vorsitzender der SPD Grundwertekommission, die sich ja über Grundlagen und langfristige Ziele von Politik Gedanken macht, und ich tue das heute auch noch als Sprecher des Arbeitskreises Christen und Christinnen in der SPD. Auch als Parlamentarier wird man mit Fragen und Entscheidungen konfrontiert, die über das politische Tagesgeschäft hinausreichen, die grundlegende Werte des menschlichen Seins und des Zusammenlebens berühren. Gleichwohl, wenn man über Werte und Werteerziehung redet, stellt sich allzu schnell ein – wie soll ich das nennen – kulturkritischer Jammerton ein. Den gilt es zu vermeiden. Deshalb klage ich nicht über Wertewandel oder Werteverlust, sondern befasse mich mit den Aufgaben, die sich aus Wertewandel und Werteverlust womöglich ergeben. Die Frage nach den Werten einer Gesellschaft berührt ja ganz wesentlich Fragen der Verständigung über Werte, der Selbstvergewisserung, der Bestimmung von Identität und damit des Zusammenhalts in einer Gesellschaft. Versuche, hierauf Antworten zu finden, zeigen sich zum Beispiel in der immer wieder an- und abschwellenden Debatte um eine sogenannte Leitkultur. Doch es gelingt irgendwie nicht, diese Debatte wirklich zu fokussieren, wahrscheinlich liegt es schon am Begriff ‚Leitkultur‘ selbst. Trotzdem, es geht ja eigentlich um eine legitime und wichtige Frage, nämlich: Was hält unsere Gesellschaft, was hält unser Land, was hält unseren Kontinent wirklich zusammen? Diese Debatte dauert an, sie beschäftigt viele, sie ist offensichtlich auch drängender geworden. Nur zwei Stichworte zu ihrer Aktualität: Wir kennen sie zum Beispiel auch in

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Wolfgang Thierse

den Versuchen einer kulturellen Verortung des Islam. Gehört der Islam zu Deutschland? Das schlichte Ja oder Nein auf diese Frage ist irgendwie zu einfach. Gewiss ist eines: Die Muslime, die Menschen, die hier leben, gehören selbstverständlich zu Deutschland, so hat es vor kurzem Bundespräsident Joachim Gauck präzise und zutreffend, vielleicht sogar präziser und zutreffender als sein Vorgänger, formuliert. 1 Und ein zweites Beispiel: Europa. Wir begreifen doch, dass Europa mehr sein muss als ein gemeinsamer Wettbewerbsraum, dass Europa nicht zusammengehalten werden kann alleine durch ökonomische oder finanzielle Interessen. 2 Das funktioniert nicht. Also fragen wir vertiefter, was ist es denn, was diesen Kontinent zusammenhalten kann? Das Reden über Werte und damit auch über Werteerziehung, über Bildung ist also notwendig und aktuell. Anlässe und Gründe gibt es genug, und die Befunde sind ja alle nicht neu. Die Kräfte der Tradition, die sozialen und religiösen Bindungen nehmen ab, das ist ein bereits lang anhaltender Vorgang. Wir erleben eine Vertrauenskrise der Demokratie, alle Umfragen sind eindeutig in dieser Hinsicht, niedrige Wahlbeteiligungen belegen es, der Erfolg populistischer Parteien in Europa, neuerdings die Erfolge der Piraten bei uns in Deutschland. Der rasante ökonomische, wissenschaftliche, technische, soziale Wandel, die Informationsflut, die Gleichzeitigkeit und Nähe des kulturell Verschiedenen, ja Fremden, die mittlerweile zur Normalität gewordene finanzökonomische Dauerkrise, die ja auch eine politische und moralische Krise ist – all das erzeugt Veränderungs- und Überforderungsängste bei nicht wenigen Menschen, führt zu Verunsicherungen; das wiederum erzeugt unübersehbar ein heftigeres Bedürfnis nach Sicherheit, nach Vergewisserung, nach Orientierung, nach Neubestimmung eigener Identität. Gewiss hat Politik – sie ist vielleicht noch nicht einmal der erste Adressat für all diese Bedürfnisse –, gewiss hat Politik darauf zuerst und vor allem mit sozialen und wirtschaftlichen, mit politischen Antworten 1

Vgl. dazu die 2. Kueser Gespräche: Der Frieden im Glauben – heute? Das Erbe des Nikolaus von Kues. Herausgegeben von Ulf Hangert, Bürgermeister der Verbandgemeinde Bernkastel-Kues, Wolfgang Port, Stadtbürgermeister von Bernkastel-Kues, und Karl-Heinz B. van Lier, Konrad Adenauer-Stiftung. Aschendorff Verlag, Münster 2012. Anm. d. Hrsg. 2 Vgl. dazu die 1. Kueser Gespräche: Europa gestalten. Das Erbe des Nikolaus von Kues. Herausgegeben von Ulf Hangert, Bürgermeister der Verbandgemeinde Bernkastel-Kues, Wolfgang Port, Stadtbürgermeister von Bernkastel-Kues, und Karl-Heinz B. van Lier, Konrad Adenauer-Stiftung. Aschendorff Verlag, Münster 2008. Anm. d. Hrsg.

Bildung und Werte

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zu reagieren. Es geht um Arbeitsplätze, es geht um Bekämpfung von Armut, es geht um Perspektiven für die Jugend, es geht um die Wiederherstellung des Primats der Politik über die Ökonomie: alles riesige Aufgaben, über die heute und hier nicht zu reden ist.

Dr. Wolfgang Thierse, Vizepräsident des Deutschen Bundestages, während seiner Rede

Aber darüber hinaus, und das ist mir wichtig, sollten wir drei Folgerungen, drei Konsequenzen, aus der nur ganz kurz skizzierten Situation von Verunsicherung, von Überforderungs- und Veränderungsängsten ziehen. Erstens: Es geht um menschliche Sicherheit, denn über den durch den Staat garantierten Schutz und die durch ihn verbürgten Rechte hinaus, ebenso über die soziale Sicherheit hinaus, die der Sozialstaat als organisierte Solidarität gewähren kann, also über rechtliche und soziale Sicherheit hinaus, haben Menschen offensichtlich ein tiefes, ein gesteigertes Bedürfnis nach empfundener und erfahrener menschlicher Sicherheit, nach ideeller und emotionaler Beheimatung, nach Geborgenheit, nach Identität und Anerkennung, die ihnen durch rechtliche und soziale Sicherheit allein noch längst nicht gewährleistet werden. Dieses Bedürfnis – ich wiederhole – wird heftiger, wir sehen es, wenn die einzelnen Menschen heute in Wirtschaft, Gesellschaft und Alltag Veränderungen ausgesetzt sind und mit Entwicklungen konfrontiert sind, die sich ihrer Kontrolle entziehen, die ihre Existenz zu gefährden drohen, die ihr Wis-

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Wolfgang Thierse

sen entwerten oder ihre Wertvorstellungen relativieren, dann werden existenzielle Sicherheiten zunehmend wichtig. Viele Menschen erleben die Internationalisierung, die Europäisierung politischer Handlungsräume und die sich zunehmend, tatsächlich oder nur scheinbar, autonom entwickelnde Sphäre der Ökonomie, insbesondere der internationalen Finanzmärkte, als zutiefst bedrohlich. Sie müssen nur jeden Tag politische Nachrichten hören, in welcher Weise da von den Märkten die Rede ist, auf die Politik Rücksicht zu nehmen habe, auf deren Besorgnis und Entwicklung Politik zu reagieren habe. Wer ist das, wer sind die Märkte? Es wird kaum noch beschrieben, dass das Menschen sind und Mechanismen. Aber diese Märkte haben offensichtlich in der Wahrnehmung vieler eine geradezu mythische Macht, der man sich zu unterwerfen hat. Die Zumutungen auch des Arbeitsmarktes belasten familiäre, nachbarschaftliche und bürgerschaftliche Bindungen und Geborgenheiten, Traditionen verlieren an Kraft, kulturelle Heterogenität und weltanschaulich-religiöse Pluralität nehmen zu, Individualisierung und soziokulturelle Differenzierung werden nicht nur als Fortschritt, sondern auch als Belastung empfunden. Diese Seite der Entwicklung, so meine ich, wurde lange unterschätzt. Das Vorhandensein solidarischer Nahbereiche wurde immer vorausgesetzt, die Geltung von Tradition und Orientierung gewissermaßen unterstellt. Weil das heute so nicht mehr gilt, wissen wir, dass jetzt und in Zukunft persönliche Sicherheit, kulturelle Identität und soziale Integration zu Grundfragen des Friedens, der Demokratie und einer freiheitlichen Ordnung geworden sind und immer stärker werden. Genau deshalb müssen wir uns – das Stichwort ist schon genannt –, gerade deshalb müssen wir uns der totalen Ökonomisierung des menschlichen Lebens, der uferlosen Flexibilisierung, den immer radikaler werdenden Mobilitätsanforderungen, dem Allmachtsanspruch des Marktes und der Absolutsetzung des Ökonomischen widersetzen, weil sie den menschlichen Grundbedürfnissen schlicht widersprechen. Familie, nachbarschaftliche Solidaritäten, das Netzwerk geselliger Beziehungen, Vereine, die Parteien, Gewerkschaften und Organisationen bürgerschaftlichen Engagements in Sport, Freizeit und Kultur, vor allem aber auch die Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften, sie alle zusammen bilden ein kostbares – ich sage es in Anführungsstrichen – ‚soziales Kapital‘, auf das Staat und Gesellschaft um ihres Zusammenhalts willen auf fundamentale Weise angewiesen sind. Sie ermöglichen zugleich, und vor allem den Individuen, die ihnen so notwendige menschliche Sicherheit und Geborgenheit, und weil sie etwas leisten, was Staat, was Politik nicht selbst leisten können, müssen

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Staat und Politik das partnerschaftliche Verhältnis zu ihnen ernst nehmen, müssen sie ein außerordentliches Interesse an Freiheit und Vitalität der Familie haben, müssen wir die Förderung und Unterstützung von Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften wichtig nehmen und ebenso all die Formen und Organisationen politischen, sozialen und kulturellen Engagements. Sie sind lebensnotwendig. Eine zweite Folgerung: Es geht in diesen Zeiten rasanter Veränderung, die ich ja nur mit ein paar Stichworten angedeutet habe, um die Stärkung, die Befähigung des Individuums, des einzelnen Menschen, mit dem Wandel fertig zu werden, sich in ihm behaupten zu können, die Herausforderung annehmen und erfolgreich bewältigen zu können – oder wie es auf Neu-Deutsch heißt: Empowerment. Es geht dabei vor allem um Bildung im emphatischen Sinne dieses traditionsreichen deutschen Begriffs. Das Bildungsdenken in Deutschland, die Bildungsphilosophie ist mindestens seit dem 18. Jahrhundert durch einen doppelten Anspruch gekennzeichnet. Einmal ging es ihr immer um die Bildung des Subjekts, um die Befähigung des einzelnen Menschen, sein Leben selbstbestimmt und selbstverantwortlich zu gestalten, also gewissermaßen Autor der eigenen Biographie, des eigenen Lebens werden zu können und zugleich dies zurückzubinden an die Gemeinschaft, an die Aufgabe des kulturellen Fortbestands und die kulturelle Weiterentwicklung. Insofern ging es nie, und darf es weiterhin nicht gehen, nur um Bereitstellung von künftigen Arbeitskräften, sondern bei Bildung ging es immer auch um soziale Kohäsion, um kollektive Muster der Lebensführung, um Integration der Individuen in die Gesellschaft als solidarische, als teilhabende, als mitgestaltende Gesellschaftsglieder. Bildung in diesem wirklich ja nicht neuen Sinne geht über bloße Verwertbarkeit von Qualifikationen weit hinaus und kann folglich nicht einseitig mit Blick auf Ausbildung und Arbeit definiert werden. Handlungsfähigkeit, Kritikfähigkeit, freie Fähigkeit zur Selbstbestimmung und zur selbstständigen Lebensführung sind gefragt. Hier zeigt sich der essentielle Zusammenhang zwischen Bildung und Freiheit. Bildung ertüchtigt den Einzelnen, selbstbestimmt zu leben, ermöglicht die kognitive Entwicklung und die sittliche Reifung des Menschen, Bildung erlaubt dem Menschen selbst zu entscheiden und Verantwortung zu übernehmen, für sich selbst und andere. Kant sah hierin den Sinn der Aufklärung im Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Und dazu gehört mehr als Wissen, mehr als die Anhäufung von Wissen. Und damit bin ich bei einer dritten Folgerung, die eigentlich selbstverständlich ist: Es gilt die Verengung des Bildungsbegriffs, die Veren-

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Wolfgang Thierse

gungen in der Bildungspolitik zu überwinden, wie sie sich schon im Sprachgebrauch zeigen. Wie oft hört man in bildungspolitischen Debatten das Wort „fit machen“. Ich halte es für verräterisch, dieses Wort. Bildung wird heute allzu oft und allzu gern auf die Aneignung von Wissen reduziert. Sie ist aber mehr. Bildung ist einerseits ganz gewiss kognitives Lernen, und Bildung ist andererseits ebenso gewiss auch soziale Verantwortung. Bildung besteht aus Wissen und Werten. Die Bildungseinrichtungen in Deutschland sind in den letzten Jahren verstärkt unter Druck geraten, nicht nur durch Pisa und die ganzen daran anschließenden Debatten. Unter dem Stichwort der kognitiven Mobilisierung soll sich Bildung mehr und mehr an verwertbaren Inhalten orientieren, an der Ausbildung technischer Fähigkeiten und Fertigkeiten an den Anforderungen von Wissenschaft und Forschung, Wirtschaft und Industrie. Kognitive Mobilisierung, man denkt sofort an Streitkräfte, die mobilisiert werden müssen, hier geht es aber wahrscheinlich um Geisteskräfte. In Deutschland, in einem Land, in dem unsere Kreativität, unsere technischen Fähigkeiten, unser technologisches Wissen bei der Entwicklung von Produkten und Verfahren die wichtigsten wirtschaftlichen Ressourcen sind, da haben ökonomische Überlegungen in der Bildungspolitik gewiss eine Berechtigung. Das ist ja nicht zu bestreiten. Doch wo Bildung einseitig auf ihren ökonomischen Nutzen reduziert wird, wird ihre Bedeutung für die menschliche Persönlichkeitsentwicklung, für Persönlichkeitsbildung vernachlässigt, bei der nämlich geht es immer auch um Haltung und um Wertevermittlung. Das Ergebnis von Bildung darf nämlich nicht lauten, viel Wissen, wenig Werte. Vielmehr muss jungen Leuten ein Bewusstsein, ein Gefühl, ja eine Leidenschaft für die Grundwerte menschlichen Seins vermittelt werden, für Humanität, Freiheit, Verantwortung, Gerechtigkeit, Solidarität, Friedfertigkeit, Toleranz. Bildung, auch das ist klar, richtet sich auf theoretisches Wissen und verwertbare, beruflich verwertbare Inhalte, aber sie umfasst doch nicht minder ästhetische Erfahrung, ethische Reflexion und Wertevermittlung. Bildung ohne Werteerziehung ist reine Unterrichtung. Bildung ist also mehr als bloße Wissensvermittlung, schließt Erziehung notwendig ein. Es sollte also weniger um die Menge des Wissens gehen und mehr um das, was mit einem etwas schwierigen Wort gelegentlich Orientierungswissen genannt wird. Wir sollten die Schule von Wissensmassen entlasten, sie kommt sowieso nicht hinterher, und an dessen Stelle das setzen, was ich eben mit Orientierungswissen meine. Wenn ich mich richtig erinnere: Zu meiner Schulzeit hieß es, das menschheitliche Wissen verdoppele sich alle 50 Jahre. Heute soll es sich alle drei bis fünf Jahre ver-

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doppeln. Meine Konsequenz daraus: Entlasten wir die Schule von Wissensmassen, konzentrieren wir uns auf den Kern, auf das, was Orientierungswissen genannt werden kann. Was zu diesem Orientierungswissen gehören muss, darüber muss es immer wieder neu eine gesellschaftliche Verständigung geben, das steht nicht ein und für alle mal fest. Diese Verständigung sollte im Zentrum der bildungspolitischen Debatten stehen, weniger Streit über Strukturfragen. Und in diesen bildungspolitischen Debatten, das ist mir wichtig, sollte es auch ein sichtbares Moment von Kontinuität geben. Denn Orientierungswissen und sogenannte Schlüsselqualifikation, wenn die beiden Begriffe ihren Sinn haben sollen, sie können doch nicht so schnell veraltet sein, sie können und sie dürfen sich nicht so schnell verändern wie Wissensmassen sonst. Mir scheint, wenn man sich darauf einigen kann, dann gibt es ein paar Punkte, über die man reden sollte, im Sinne des Versuchs einer Übereinstimmung. Erstens: Das Wichtigste ist, lernen zu lernen, weil wir lebenslang lernen müssen, nein, lernen dürfen. Wie wunderbar, wenn man als Kind und als Jugendlicher die Freiheit und Freude der Neugier erfährt und erlernt, und lernt fragen zu lernen. Nichts halte ich für schlimmer als das fraglose Unglück, das Unglück der Fraglosigkeit. Zweitens: Es geht darum, dass wir mit Wissen souverän umzugehen lernen. Wissensmengen, Informationen bewerten können, also nicht nur Techniken des Wissens und Informationserwerbs lernen, das ist wichtig, sondern ebenso Maßstäbe für die Auswahl, die Einordnung, die Verwendung, die Bewertung von Wissen und Informationen. Drittens: Dazu gehören in besonderer Weise soziale Kompetenz und kommunikative Kompetenz, also die Fähigkeit und Bereitschaft zu Selbstverantwortung und Solidarität, zu Empathie mit den Anderen, den Fremden, den Schwächeren, der Umgang mit Unterschieden, mit Vielfalt und ebenso die Beherrschung der eigenen Sprache vor allem und die anderer Sprachen auch. Viertens: Gegenwärtig scheint es mir besonders wichtig zu sein, dem Verlust an geschichtlichem Gedächtnis, an geschichtlichem Wissen entgegenzuwirken. Es gibt keine individuelle und kollektive Identität ohne Herkunftswissen. Aber genau da ist, wenn ich es richtig beobachte, ein betrüblicher Zustand zu beklagen, eben ein erheblicher Verlust an geschichtlichem und kulturellem Herkunftswissen. Indem ich geschichtliches Gedächtnis einfordere, will ich aber zugleich nationalistischer Verengung vorbeugen. Es geht, wenn man vom geschichtlichen Gedächtnis redet, um das Ganze deutscher und europäischer Geschichte und Kultur

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und um den vergleichenden Blick über diesen doppelten Tellerrand hinaus. Denn ich verstehe nichts von der Welt, wenn ich nichts von der eigenen Geschichte weiß. Und ein besonderer Punkt dabei: In Deutschland geht es immer auch um eine besondere Dimension, nämlich um das, was man international Holocausterziehung nennt. Dabei geht es um den Versuch, in neuen Formen und Angeboten das schwierigste Kapitel deutscher Geschichte zu vermitteln, nicht im Sinne der Weitergabe von Schuld, nichts wäre falscher, als das tun zu wollen. Wir haben übrigens auch keinerlei zwingenden Anlass anzunehmen, dass nachfolgende Generationen weniger anständig und weniger moralisch sensibel wären als wir Älteren in dieser Sache. Aber wir müssen den nachwachsenden Generationen die Chance geben mit diesem erratischen Block in unserer Geschichte zu Rande zu kommen, ohne zu verdrängen, ohne erdrückt zu werden, sondern aus Wissen eine persönliche moralische Verpflichtung für Gegenwart und Zukunft zu gewinnen. Weder zu wenig, noch zu viel, und gewiss auch neuen Formen des Gedenkens, des Erinnerns. Und nicht zuletzt wünsche ich mir an diesem Punkt, dass junge Leute mehr wissen – das wird Sie nicht wundern – über die Geschichte der deutschen Spaltung, das historische Glück der Wiedervereinigung. Wann hat es das schon einmal gegeben, ein solch glückliches Ereignis unserer deutschen Geschichte? 22 Jahre sind nun vergangen seit die DDR in freier Ausübung der Selbstbestimmung ihrer Bürger ihre Staatlichkeit beendete und der Bundesrepublik beitrat und die Einheit Deutschlands in Freiheit hergestellt werden konnte. Ich finde, das ist immer noch ein Anlass zur Freude. Die Voraussetzung der Vereinigung war der überraschende, aber doch starke Freiheitswille der Menschen im Osten Deutschlands, war die friedliche Revolution von 1989, als die Menschen die Mauer von Osten eindrückten. Die persönliche und politische Freiheit, die Möglichkeit, die eigene Meinung in öffentlicher Rede und freier Versammlung oder Demonstration zu vertreten, das empfinde ich noch immer als ein großes persönliches Glück. Jungen Menschen etwas von diesem Gefühl weiterzugeben, bei ihnen ein Bewusstsein für die Kostbarkeit der Freiheit, weil man sie auch verlieren kann, aber auch für Ihre Gefährdung zu schaffen, das ist Aufgabe einer Erziehung zur Freiheit. Die friedliche Revolution, deswegen lohnt es sich so an sie zu erinnern, die Selbstbefreiung der Ostdeutschen ist Teil der europäischen Freiheitsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Und deswegen sollten wir den nachfolgenden Generationen davon erzählen. Meine Damen und Herren, der Erwerb von Orientierungswissen, von Maßstäben, von Haltungen und Einstellungen, also von Werten, ist

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gewiss Aufgabe von Bildung, des Bildungs- und Erziehungsprozesses insgesamt und insbesondere von Schule, also das, was man üblicherweise eine Querschnittsaufgabe nennt. Aber es ist doch gewiss auch und in besonderer Weise Aufgabe von politischer Bildung, von kultureller Bildung und von religiös-weltanschaulicher Bildung. Über diese drei Felder will ich noch einige Bemerkungen machen. Zunächst zur politischen Bildung also, über die Erziehung zu Freiheit und Demokratie. Von Oskar Negt stammt der schöne und treffende Satz: „Die Demokratie ist die einzige Herrschaftsform, die in ständig neuer Kraftanstrengung gelernt werden muss.“3 Das gilt natürlich auch für die Freiheit. Freiheitliches Denken ist keine Selbstverständlichkeit. Freiheit muss erlernt und geübt, immer wieder neu verteidigt und gelebt werden. Schon vor langer Zeit wusste Alexis de Tocqueville: „Um die politische Freiheit zu verlieren, genügt es, sie nicht festzuhalten.“4 Demokratie ist die politische Lebensform der Freiheit. Als solche funktioniert sie, ganz nüchtern betrachtet, als Regelwerk und als Gefüge von Institutionen, aber sie ist damit nicht vollständig beschrieben, denn beides, Regelwerk und Institution, bliebe leer, bloß abstrakt, bloß formal, wenn sie nicht gelebt würde, ihre Regeln nicht in Anspruch genommen würden. Deshalb ist Demokratie auf verantwortliche Akteure angewiesen, also auf deren Tugenden, um ein altes Wort zu verwenden. Ethische Standards politischen Verhaltens, ein moralischen Maßstäben verpflichteter Beruf zur Politik, wie Max Weber das genannt hat, das ist für eine lebendige, funktionierende Demokratie existenziell notwendig. Und es ist eben nicht selbstverständlich, da hat Oskar Negt recht, dass genau dies sich gewissermaßen von selber tradiert. Deshalb brauchen wir Demokratieerziehung, gerade auch in Zeiten grassierenden Demokratieverdrusses und grassierender Politik- und Politikerverachtung, die immer neu gepflegt wird und für die es Anlässe gibt, ohne Zweifel, aber die gewiss auch medial verstärkt werden. Ein paar Bemerkungen zu kultureller Bildung und ästhetischer Erziehung: Musische Erziehung, musische Tätigkeit sind bei der Ausbildung von Intelligenz und Kreativität von außerordentlicher Bedeutung, alle Untersuchungen belegen das. Wer Musik erlernt, wird ein besserer Ma3

Vgl. Oskar Negt: Der gute Bürger ist derjenige, der Mut und Eigensinn bewahrt. Reflexionen über das Verhältnis von Demokratie, Bildung und Tugenden. In: Frankfurter Rundschau, 16. September 2002. 4 Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika. 2. Band, Teil II, 1. Kapitel: „pour perdre la liberté politique, il suffit de ne pas la retenir, et elle s'échappe“.

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thematiker und so weiter und so fort, Sie kennen das. Darüber hinaus geht es um etwas sehr Fundamentales, nämlich darum, jungen Menschen den Zugang zu ermöglichen zum Raum der Kultur. Denn die Kultur ist in besonderer Weise der Ort der Werte und Zielverständigung der Gesellschaft, wie der Ort der Reflexion und freien Kreativität des Einzelnen. Die Kultur, und darin besonders die Künste, die Kultur schafft Erfahrungsräume, in denen die Menschen jenseits ihrer Marktrollen, nämlich Produzent und Konsument zu sein, agieren und sich wahrnehmen können. In der Kultur, in diesem Raum, wird über Herkunft und Zukunft, über das Bedrängende und das Mögliche, über Sinn und Zwecke, über das Eigene und Fremde reflektiert, kommuniziert, gespielt, gehandelt. Die Kultur ist der Raum des Emotionalen, des Sinnlichen, des Symbolischen, in dem in freierer Weise das Eigene, die eigene Identität ausgebildet und erfahren werden kann, und zugleich das Fremde, das Andere akzeptiert, anerkannt, integriert werden kann. Wo geht dies leichter als genau in dem Raum, den wir Kultur nennen? Weil er ein Raum der Freiheit ist. Und genau deshalb ist dieser Raum so wichtig für die Ausbildung von Identität, individueller und kollektiver, ohne Abgrenzung und ohne Ausgrenzung. Deshalb halte ich es für das kulturpolitische Projekt schlechthin, eine Kultur der Anerkennung zu entwickeln, die weit über die Künste hinaus geht, eine Kultur der Anerkennung, die unsere Gesellschaft prägen sollte. Arbeit für eine Gesellschaft, in der wir ohne Angst als Menschen verschieden sein können. Kulturelle Bildung, musische Erziehung soll den Zugang zu diesem Raum ermöglichen, zu dieser wesentlichen sozialen und individuellen Dimension menschlichen Daseins gleichermaßen. Das geht nicht ganz ohne musische Selbstbetätigung, ohne Entfaltung eigener Kreativität, die Kinder als Begabung schon haben und die sie unter Anleitung entwickeln sollen. Und das geht nicht ohne kulturelles Wissen. Damit bin ich bei einem speziellen Punkt, der besonders umstritten ist. Wenn ich von kulturellem Wissen rede, muss ich unweigerlich ein sehr konservativ erscheinendes Wort in den Mund nehmen, das immer weniger in den Mund zu nehmen sich trauen. Es geht nicht ohne kulturellen Kanon, also ohne eine Verständigung über das Minimum dessen, was die Mitglieder einer Gesellschaft an gemeinsamem kulturellen Wissen, an Beständen kulturellen Gedächtnisses haben müssen. Das ist nicht etwas starr Fixiertes und ein für alle mal Gültiges, aber es muss etwas Fassbares sein, dieses gemeinsame Wissen als Basis kultureller Verständigung. Das müsste gehen, zum Beispiel, von der Bibel über Goethe bis hin zum Tagebuch der Anne Frank, um einmal die Bandbreite zu be-

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schreiben. Mit diesen drei Beispielen sollen nur unterschiedliche Dimensionen, unterschiedliche literarisch-kulturelle Erinnerungsbestände genannt sein. Und nicht aus dem Blick geraten darf dabei die europäische Perspektive, die Einbettung unserer nationalen Kultur in das Fundament gemeinsamer europäischer Werte und Traditionen. Seit Herodot ist Europa ein Begriff für eine kulturelle Einheit gewesen, die Bezeichnung für einen gemeinsamen Geist, für eine Wertegemeinschaft, für einen Raum der Verständigung und des Verstehens. Und wir wissen doch aus unserer wahrlich widersprüchlichen deutschen Geschichte, die HochZeiten deutscher Kultur waren immer ihre Hochzeiten mit den Kulturen anderer europäischer Nationen, waren Berührungen und Integration, Erfolge mit kulturellen Strömungen aus Frankreich, England, Italien, aus West und Ost, aus Süd und Nord. Und in den schlechten Zeiten unserer Kulturgeschichte waren die Deutschen mit Abgrenzung und Ausgrenzung anderer Kulturen befasst. Zum letzten Punkt: religiös-weltanschauliche Bildung. Seien wir ehrlich, wir Europäer machen gerade eine, manchen Zeitgenossen befremdende, aber manchen Zeitgenossen auch entzückende Entdeckung. Das alte aufgeklärte Europa ist nicht die Regel in der Welt, sondern die Ausnahme in Sachen Religion. Wir erleben, was die Aufgeklärten erschüttert, eine hoch widersprüchliche Vitalität von Religion auf unserem Globus. Dieses Europa aber hat einen wichtigen geschichtlichen Lernprozess in Sachen Religion hinter sich, nämlich die Mäßigung von Religion, das Erlernen von Toleranz und friedlicher Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Wahrheits- und Glaubensansprüchen. Europa hat gelernt, Religion und Politik deutlich zu unterscheiden und die Trennung von Kirche und Staat zu praktizieren. Aber mit diesem Lernprozess – wir erleben es in Europa und die anderen Teile unseres Globus spiegeln es uns zurück – mit diesem Lernprozess sind religiöse und weltanschauliche Sinnfragen und Sinnhorizonte und Ansprüche nicht erledigt. Deswegen ist es wichtig, dass wir es Kindern und jungen Menschen ermöglichen Sinnfragen zu stellen, Religions- und Weltanschauungsfragen zu stellen. Doch ich habe gelegentlich den Eindruck, dass eine Art – jetzt bin ich etwas böse – unaufgeklärter, kämpferischer Atheismus wiederkehrt, der sich ausbreitet. Und wenn ich bestimmte Debatten sehe, habe ich den Eindruck, dass beim Thema Werteerziehung der Staat sich zugleich als Weltanschauungslehrer aufspielen soll, was schlicht unserem Grundgesetz widerspricht und auch unseren geschichtlichen Erfahrungen, jedenfalls meinen speziellen in der DDR sowieso. Es gibt laizistische Strömungen in unserer Gesellschaft legitimerweise, die auf fundamentale

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Veränderungen des Verhältnisses von Staat und Kirche setzen mit dem Ziel, Religion und Kirche aus dem öffentlichen Raum zurückzudrängen. Es gibt jedoch einen klaren Unterschied zwischen einer säkularen Rechtsordnung und einem Staat säkularistischer Weltanschauung. Der Staat des Grundgesetzes ist weltanschaulich neutral auf der Basis einer säkularen Rechtsordnung, die die gleiche Freiheit für die weltanschaulichen Überzeugungen aller Bürger ermöglicht. Indem der Staat sich ausdrücklich zurückhält in Weltanschauungs- und Religionsfragen, gibt er den Bürgern die Freiheit und lädt sie ein, aus ihren, gewiss unterschiedlich starken Überzeugungen am Gemeinwohl in der Gesellschaft mitzuwirken und Übereinstimmungen zu suchen. Das Gegenteil davon habe ich in der DDR erlebt, nämlich die staatliche Privilegierung der säkularistischen Weltanschauung, also kein Gottesbezug in der Verfassung, keine Kreuze in Schulen, keine Eidesformel „So wahr mir Gott helfe“, kein Religionsunterricht als Wahlpflichtfach, keine Kirchensteuer, keine Militärseelsorge und so weiter und so fort. Es gehört zu den mich heiter stimmenden Pointen der Geschichte, dass es dann doch Christen waren, die ganz wesentlich die friedliche Revolution und damit das Ende dieses Weltanschauungsstaates bewirkt haben. Wir haben heute allerdings zu lernen, und ich dachte, bereits gelernt, dass die Religions- und Weltanschauungsfreiheit für alle Weltanschauungsgemeinschaften gleichermaßen gilt. Das bedeutet auch, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften auf dem Feld der Bildung und Werteerziehung, für das sie ihrer Natur nach kompetent sind, als authentische Partner zu gewinnen und fair zu behandeln. Das ist gewiss etwas anderes als die obrigkeitsstaatliche Marginalisierung des Religionsunterrichts, wie sie in Berlin vor einigen Jahren entschieden wurde und seitdem stattfindet. Sie kennen das berühmte Diktum des ehemaligen sozialdemokratischen Verfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Der säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, für die er selber nicht sorgen kann“. 5 Für diese Voraussetzungen sorgen die kulturellen Gemeinschaften, also in besonderer Weise Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Zum Schluss das Wichtigste: die Menschenwürde, Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Das ist der wichtigste Satz unserer Verfassung. Die Menschenwürde muss der Kern einer fundamentalen Werteübereinstimmung unserer in jeder Hinsicht pluralen Gesellschaft sein. In einer solchen Gesellschaft ist Freiheit die 5

Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Staat, Gesellschaft, Freiheit. Frankfurt am Main 1976, 60.

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Möglichkeit, in Gemeinschaft mit anderen selbstbestimmt zu leben, Autor – ich wiederhole die Formel – Autor der eigenen Biographie sein und gleichzeitig Verantwortung für andere übernehmen zu können. Jeder Mensch ist zur Freiheit berufen und zur Freiheit fähig. Ob er dieser Berufung folgen, Freiheit leben kann, hängt aber auch davon ab, ob er dazu befähigt wird. Achtung der Menschenwürde bedeutet deshalb Wahrung der gleichen Freiheit und Gewährung gleicher Teilhabemöglichkeiten und darin insbesondere gleicher Bildungschancen. Weil Bildung in einem umfassend ganzheitlichen Sinne geistige und sittliche Reifung und freiheitliches Denken erst ermöglicht, ist sie zugleich eine der wesentlichen Voraussetzungen für Freiheit überhaupt. Am Inhalt, also am gemeinsamen Verständnis von Freiheit, von Gleichheit, von Menschenwürde, an der übereinstimmenden Vorstellung von diesen grundlegenden Werten, ist immer neu zu arbeiten. Insofern ist Werteerziehung eine dauernde Aufgabe und wahrlich und wirklich ein ebenso konservatives wie progressives und in die Zukunft gerichtetes Projekt. Ich freue mich darüber, dass die „Kueser Akademie“ sich genau diesem Thema in so besonderer und kontinuierlicher Weise widmet.

Dr. Wolfgang Thierse, Vizepräsident des Deutschen Bundestages, während seiner Rede

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Blick ins Publikum während der 3. Kueser Gespräche. In der ersten Reihe von links nach rechts: Prof. Dr. Michael Jäckel, Präsident der Universität Trier, Dr. Stephan Ackermann, Bischof von Trier, Peter Adrian, Präsident der IHK Trier und Sprecher der IHK-Arbeitsgemeinschaft Rheinland-Pfalz, Dr. Wolfgang Thierse, Vizepräsident des Deutschen Bundestages, Alexander Licht, MdL, Vorsitzender der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte; zweiter von rechts: Ulf Hangert, Bürgermeister der Verbandsgemeinde Bernkastel-Kues.

Bildung Podiumsdiskussion

Dr. Martin Thomé: Meine sehr geehrten Damen und Herren, zunächst einmal: Herzlich willkommen an die Gäste hier auf dem Podium! Sie wurden Ihnen schon vorgestellt. Wir wollen in dieser Runde in der nächsten guten Stunde versuchen auszuloten, was es eigentlich mit Bildung auf sich hat, was sie bedeutet, wofür sie gut ist, wofür sie notwendig ist und was für sie notwendig ist. Die Zusammensetzung dieses Podiums ist nicht zufällig, gerade angesichts dieses Themas. Vertreter unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen, unterschiedlicher Herkünfte und auch unterschiedlicher Zugänge zu unserem Thema sitzen hier zusammen, um in einem gemeinsamen Gespräch der Frage nach Bildung etwas mehr Kontur zu geben. Damit ist auch gleichzeitig schon die Linie angedeutet, in der wir uns in diesem Gespräch bewegen wollen, weniger in einer Podiumsdiskussion oder in einer Diskussion, wie man sie aus Talkshows kennt, wo ein Moderator zwei Menschen mit möglichst konträren Auffassungen aufeinanderhetzt, um einem interessierten Publikum eine Augen- und Ohrenweide zu gönnen, sondern tatsächlich in der Form eines Austausch, eines komplementären Gesprächs, in dem verschiedene Perspektiven, verschiedene Zugänge zu unserem Thema Bildung zusammengeführt werden. Nun ist es so, dass die Kueser Gespräche, deren drittes wir heute begehen, – bei dreien kann es man schon fast so nennen – eine Tradition sind. Und diese Tradition sagt unter anderem, dass die Anhaltspunkte für ein solches Gespräch nicht in erster Linie aus der Tagesaktualität kommen. Herr Hangert hat das schon in seiner Begrüßung angesprochen, und Sie, Herr Dr. Thierse, haben es in Ihrem Eingangsvortrag sehr eindrücklich aufgegriffen, dass also die Anhaltspunkte für das Gespräch nicht in erster Linie aus tagesaktuellen Debatten kommen, sondern dem genius loci geschuldet ein Griff in die Schatzkiste einer europäischen Geistestradition getan wird, um zu schauen, was diese Tradition zur Erhellung unserer Fragestellungen der Gegenwart beitragen kann, damit wir auch morgen noch – und auch hier greife ich etwas auf, Herr Thierse, was Sie eben sagten – die richtigen, die guten Fragen stellen können. Zur Tradition der Kueser Gespräche gehört aber auch, dass sie eingebettet sind in Fragestellungen der Gegenwart und Fragen nach der politi-

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schen, ökonomischen, kulturellen, sozialen Gestaltung unserer Gesellschaft, unseres Gemeinwesens und deren Zukunft. Diese Aktualität gibt sozusagen die Folie, den Horizont ab, vor dem ein Gespräch hier stattfinden soll. Damit aber genug zu dem Gespräch und hinein in dasselbe. Wir haben eben von Ihnen, Herr Dr. Thierse, ein Panorama dessen gehört, was man, wenn man Bildung bedenkt, in den Blick nehmen müsste – gerade auch jenseits aktueller Schnellfertigkeiten. Wir könnten jetzt an vielen Stellen einsteigen, in dem, was Sie uns hier vorgestellt haben, und ich schlage vor, dass wir einfach bei einem Begriff beginnen, der in Ihrem Vortrag vielfach einen Grundton bildete, dem Begriff der Freiheit. Freiheit hat ja einerseits eine institutionelle Dimension, andererseits aber auch eine individuelle. Wenn ich auf die vierte These zu diesen Kueser Gesprächen schaue, dann taucht auch dort das Wort Freiheit auf, indem Bildung als freier, individueller Prozess gezeichnet wird, der auf Gemeinschaft und auf Geschichte angewiesen ist. 1 Ich möchte Sie gerne an dieser Stelle zunächst einfach fragen: Wie sehen Sie die Rolle der Freiheit in der Bildung, wo ist für Sie der Zusammenhang von Freiheit und Bildung in diesem Kontext angesiedelt, wo ist für Sie der Merkpunkt, an dem Freiheit und Bildung originär zusammen kommen aus Ihren jeweils unterschiedlichen Zugängen, die Sie ja hier repräsentieren? Sie rühren sich schon, Herr Jäckel, bitte. Prof. Dr. Michael Jäckel: Gerne mache ich den Anfang. Herr Thierse hat eben auch schon angesprochen, dass es darauf ankommt, eine Art kulturellen Kanon zu definieren. Das ist in der Vergangenheit ja immer wieder versucht worden. Früher waren die Enzyklopädien das Mittel dazu. Das war anfänglich ein sehr schwieriges Unterfangen. Vor einigen Jahren hat es der Kollege Schwanitz in einem Buch2 versucht, das Zuspruch und Widerspruch gleichermaßen gefunden hat, unter anderem auch Widerspruch durch einen Naturwissenschaftler, der dann ein Buch schrieb mit dem Titel „Die andere Bildung“. 3 Das war aber keineswegs ein Buch, in dem der Anspruch kritisiert werden sollte, dass Goethe, Schiller oder andere noch wichtig sind. Sondern es hat eigentlich darauf hingewiesen, dass es sehr viele enge Verbindungen zwischen der naturwissenschaftlichen und der geisteswissenschaftlichen Tradition gibt, die 1

Vgl. den Abdruck der Thesen in diesem Band. Dietrich Schwanitz: Bildung. Alles was man wissen muß. München 1999, 2002 u.ö. 3 Ernst Peter Fischer: Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte. München 2001. 2

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man sich beispielsweise schon an einer der Thesen unserer „Kueser Gespräche“ erläutern kann; wenn es darum geht, sich ein Bild von etwas zu machen; denn es geht ja dieser Begriff auf das lateinische Wort informatio zurück, was man heute, wenn man über Information spricht, wahrscheinlich selten im Sinn hat, aber der Wortursprung ist definitiv dort zu finden. Die Frage nach einem solchen Kanon ist also nicht neu, und sie wird immer wieder diskutiert, und vielleicht ist sie heute viel schwieriger zu beantworten, weil nach meinem Eindruck die jüngere Generation in vielen Diskussionen größeren Wert auf Offenheit legt. Sie ist nicht unbedingt daran interessiert, dass man ihr ein fertiges Ergebnis zu irgendeiner Fragestellung präsentiert. Das mag auch das Aufkommen der einen oder anderen Bewegung, wie Herr Thierse sie eben erwähnt hat, erklären. Ich glaube, in dieser Offenheit liegt durchaus auch eine Vorstellung von Freiheit, die vielleicht mit dem konkurriert, was wir, wenn wir über einen Kanon nachdenken, ja vielleicht zunächst als Orientierung empfinden. Aber eine solche Orientierung könnte ja genauso gut als eine Restriktion empfunden werden, verstanden in dem Sinne, dass es hieße, zu sagen, dass das das Richtige sei. Also kurzum, Bildung und Freiheit hat etwas zu tun damit, dass es Vorgaben gibt, aber auch die Freiheit entscheiden zu können, was für einen selbst die maßgebliche Leitidee oder auch Leitideen sein kann oder können. Thomé: Vielen Dank, das ist ein weitreichender Impuls, den wir sicher noch einmal aufgreifen werden. Peter Adrian: Ich kann vielleicht anknüpfen. Wie Sie wissen, beschäftige ich mich primär mit dem Feld der beruflichen Bildung, aber ich kann sagen, dass auch bei der beruflichen Bildung das Zusammenspiel von Bildung und Freiheit ganz elementar ist. Wenn ich die vierte These der „Kueser Gespräche“ sehe, welche die Stichworte Tradition und kreative Innovation beinhaltet, dann muss ich in diesem Sinne sagen: Was wäre eine Bildung, auch eine berufliche Bildung, ohne Freiheit? Das würde letztendlich Stillstand bedeuten, weil eigentlich nie mehr erreicht werden könnte als das, was irgendwann einmal wissensmäßig erarbeitet wurde. Für uns, für die Unternehmen, auch für die unternehmerische Ausbildung, für die Ausbildung und Weiterbildung in Unternehmen, ist es sicherlich wichtig, dass dieser Freiheitsbegriff ganz elementar als wesent4

Vgl. These 5.

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licher Bestandteil der Bildung gesehen wird. Wie kann ich mir sonst vorstellen, dass jemand kreativ ist, wenn man ihn nur an einem Leitfaden anleitet und ihm keine Freiheit einräumt, Kreativität zu entfalten und auch einmal querzudenken? Was wäre ein Unternehmer ohne Kreativität? Das ist kein Unternehmer. Der Freiheitsbegriff gehört für mich ganz elementar auch in die berufliche Bildung. Mathias Wais: Sie wissen, ich komme aus einer etwas anderen Ecke. Ich arbeite mit Kindern und Jugendlichen, die eigentlich mit Bildung zunächst einmal gar nichts am Hut haben. Ich arbeite in einem sozialen Brennpunkt in Dortmund, Scharnhorst. Wir haben es mit Kindern zu tun, die eigentlich gar nicht mehr beschulbar sind, weil sie voll sind von seelischen Problemen, familiären Problemen und so weiter. Wir haben uns mit solchen Kindern zusammengesetzt und gefragt: Was braucht ihr, damit ihr lernen könnt, damit ihr aufnehmen könnt? Und da haben die Kinder so sinngemäß gesagt: Lasst uns fragen! Gemeint haben die Kinder dabei, dass sie ja mit Erlebnissen voll sind, mit Fragen voll sind aus dem familiären Bereich, aber auch aus ihrem sozialen Nahraum. Wenn das aufgegriffen würde, dann könnten sie lernen, so ungefähr war der Tenor der Kinder. Dann haben wir daraus ein Schulergänzungsprojekt konzipiert und uns an zwei Nachmittagen solche Kinder, es waren erst acht und später zehn, zusammengerufen. Es ging so vor sich, dass wir die Kinder gefragt haben: Was habt ihr erlebt, was geht euch durch den Kopf, was ist euch jetzt heute wichtig? Der eine erzählt, dass die Eltern sich jetzt gerade wieder gestritten haben, die schon lange getrennt sind. Der andere erzählt etwas ganz anderes: „In unserer Straße werden gerade Breitbandkabel gelegt“. Wir haben aufgegriffen, was die Kinder gebracht haben. So gab es zum Beispiel einige Einheiten zu dem Thema Partnerschaft, Freundschaft, Trennung, Beziehung, wie pflegt man Freundschaften. Das heißt, da, an der Stelle jedenfalls, ist es weitgehend gelungen, eine Art Selbstbestimmung herzustellen. Die Kinder haben mitgemacht, sie haben zugehört, sie sind alle gekommen, sie haben nicht herumgehampelt, wie sie es sonst in der Schule machen würden – offensichtlich weil wir ihre Fragen aufgenommen haben, ernst genommen haben und darauf eingegangen sind. Dieses zu dem Thema Freiheit aus dieser ganz praktischen ‚Ecke‘. Ein Aspekt von Selbstbestimmtheit gehört meines Erachtens dazu. Thomé: Dass Freiheit durchaus auch praktische Aspekte hat, darüber sind wir ja manchmal ganz froh.

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Bischof Dr. Stephan Ackermann: Wenn ich aus meiner Perspektive als Theologe an den Zusammenhang von Bildung und Freiheit denke, muss man vielleicht zunächst einfach schauen auf den Zusammenhang zwischen Glaube und Freiheit. Wenn ich den christlichen Glauben richtig verstehe, und zwar den biblischen Glauben, dann ist das ja ein, salopp gesagt, gigantisches Freiheitsprojekt. Denn die Urerfahrung Israels lautet ja, aufzubrechen aus der Sklaverei, aus der Knechtschaft in die Freiheit, die Freiheit des neuen Lebens. Aber dann kommt natürlich direkt der nächste Begriff dazu, diese Freiheit ist Freiheit in Bindung an den, der diese Freiheit ermöglicht, das heißt an Gott. Und wenn wir die zehn Gebote anschauen, richtig verstanden, sind sie sozusagen die Hinweise, um in der Freiheit, die Gott ermöglicht, zu bleiben. Denn in Freiheit zu leben heißt natürlich auch, diesen Gott mehr zu erkennen, zu entdecken, wer ist er und was er von uns erwartet. Es heißt natürlich auch Herzensbildung, Gewissensbildung. Wenn ich einen Schritt weitergehe und wir auf Jesus Christus schauen als den, von dem wir Christen überzeugt sind, dass sich in ihm Gott ganz geoffenbart hat, dann ist das natürlich auch ein Bildungsprojekt, denn es heißt ja auch da, ihn und durch ihn Gott mehr zu erkennen, ihm mehr zu folgen und insofern gehört ja auch zum christlichen Glauben immer die Bildung dazu. Das ist eine Religion, die stark vom Wort lebt, die sich auseinandersetzt eben auch mit dem Verständnis Gottes, und dann ist es immer auch ein Ringen, auch ein intellektuelles Ringen. Insofern, würde ich sagen, gehören Bildung und Freiheit im christlichen Glaubensverständnis oder – ich würde schon noch früher ansetzen – im biblischen Glaubensverständnis untrennbar zusammen. Thomé: Danke schön. Was Herr Wais eben an dem Beispiel der Kinder, mit denen er täglich zu tun hat, geschildert hat, zeigt doch, dass wir uns natürlich eine ideale Vorstellung davon machen können, wie Bildung und Freiheit zusammengehören. Aber wir müssen auch erkennen, dass der Mensch, ob er nun am Anfang ein leeres Gefäß ist oder nicht, relativ früh mit Ungleichheiten konfrontiert wird, die er auch sehr sensibel wahrnimmt – und die setzen sich ja in anderen Bereichen fort. Natürlich kann ich das Bildungssystem zunächst einmal als ein vergleichsweise freies System beschreiben, aber es gibt eben in diesem System auch, und das wird die Wirtschaft sicherlich bestätigen, Kriterien, die eingezogen werden müssen, um den Zugang zu dem einen oder anderen etwas knapperen Gut überhaupt regeln zu können. Darüber gibt es, seit es die Sozialphilosophie gibt, einen Streit, aber es ist nun einmal ein System,

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das wir geschaffen haben, indem es zum Beispiel für bestimmte Fächer eine Zulassungsbeschränkung gibt und für andere Fächer eben nicht. In diesem Fall würde ich nicht sagen, dass die Freiheit aufgehoben ist, sondern dass sie an bestimmte Kompetenzen gekoppelt ist. Und wenn diese Kompetenzen schon in frühen Jahren durch die Ablenkung durch ein wenig sensibles oder wenig förderliches Umfeld in andere Richtungen nicht ausgebildet werden, dann müssen wir uns eben auch die Frage stellen, welche Strukturen wir schaffen müssen, damit dies seltener geschieht, als es heute geschieht. Und es geschieht, leider Gottes, sehr häufig, was Sie beschreiben. Es setzt sich in anderen Überforderungen im Schulwesen und mittlerweile auch im Universitätswesen fort. Wais: Ich glaube, die Freiheit der Frage ist das Wesentliche für diese Kinder, sicher dann aber auch später für Jugendliche und für Studierende. Ich möchte nur noch ein ganz kurzes Beispiel anfügen: Ich habe eine Zeitlang Höhlenforschung mit Jugendlichen gemacht, auch aus dem genannten Stadtteil, alles Hauptschüler, deren Bildung im Hauptsächlichen daraus besteht, dass sie in der 10. Klasse lernen, wie man einen Hartz IV-Antrag stellt. Wir haben also Höhlenforschung gemacht, und das ist ja immer sehr emotional, sehr aufwühlend und so weiter. Jedenfalls kamen wir eines Nachts aus einer Höhle heraus in voller Montur und nass, weil es in der Höhle nass ist; und die Jugendlichen blickten zum Sternenhimmel; auf einmal fragt mich einer: „Herr Wais, glauben Sie an Außerirdische?“. Ich sage „Ja“ und warte, was da noch kommt. „Ja, was machen denn die Außerirdischen?“ Und da habe ich gesagt „Du, ich selber sehe das so“, und habe ein bisschen etwas gesagt, wie ich aus meinem Glauben heraus zum Beispiel das Wirken von Engeln verstehe, und dann haben wir uns darüber unterhalten. Die Freiheit der Frage an der Stelle war entscheidend. Wenn einer einen Unterrichtsstoff gemacht hätte und gesagt hätte: „Morgen um neun erzähle ich euch etwas über Engel“, dann wäre das ausgeschlossen gewesen, jedenfalls mit diesen Kindern. Aber da, wo die Frage war, in diesem Moment, da war die Frage lebendig und frei und konnte geäußert werden. Wichtig ist nicht, was wir da inhaltlich, theologisch erarbeitet haben, sondern wichtig ist, dass wir darüber sprechen konnten. Thomé: Dann hat natürlich, wenn man da anknüpfen darf, Bildung, Freiheit auch viel mit Zeit zu tun. Wenn man noch einmal auf das sich bezieht, was Dr. Thierse gesagt hat: Die Orientierung hin auf das „wir machen fit für“, also eine starke Instrumentalisierung, Ausbildung statt

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Bildung, wenn man dieses Begriffspaar dafür wählt, wird hier ersetzt durch die Idee, im Sinne der ersten These der Kueser Gespräche, einen Raum zu eröffnen, in dem Fragen ermöglicht werden. Ich muss das Fragen zulassen, das ist das eine. Das zweite ist, dass es aber auch die Gelegenheit dazu geben muss; ich kann sagen: „Leute, ich muss aber jetzt heim, ihr seid aus der Höhle, wir gehen jetzt heim“. Zur Ermöglichung des Fragens muss ich jedoch den Blick auf den Sternenhimmel zulassen. Ich brauche auch einen Freiraum, ich brauche auch Muße, da sind wir natürlich wieder bei der Kultur und der Ästhetik (im Sinne der zweiten These), beim Staunen, denn damit tun sich dann erst Entdeckungsgeschichten auch in der Bildung auf. Das ist sicher eine Problematik, die uns ganz, ganz stark beschäftigt, weil alles so eng getaktet ist: Wo ist der Innehalt, wo ist die Muße, die es aber auch braucht, um eben Erfahrungen und Entdeckungen kognitiver und emotionaler Art zu machen?

Das Podiums während der Kueser Gespräche von links nach rechts: Mathias Wais, Leiter der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Scharnhorst e. V., Dortmund, Dr. Stephan Ackermann, Bischof von Trier, Dr. Martin Thomé, Bundesministerium für Bildung und Forschung, Peter Adrian, Präsident der IHKTrier, Prof. Dr. Michael Jäckel, Präsident der Universität Trier.

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Wais: Dieser Raum entsteht aber. Ich wäre da gar nicht so pessimistisch. Dieser Raum entsteht, wenn man so arbeitet mit den Kindern, dass man ihre Fragen aufgreift, dann kann man daraus zum Teil auch Unterricht machen. Wir haben Mathematikunterricht gemacht aufgrund der Erzählung „In unserer Straße wird ein Breitbandkabel gelegt“. Da kommen Lastwagen, die holen Erde heraus; wie viel Erde? Auf einmal sind wir bei Mathematik: wie viel Erde, wie viel Lastwagen kommen und so weiter. Also man kann doch relativ viel den Kindern dann nahebringen, wenn die Frage aus ihnen heraus kommt oder wenn sie ein Erleben haben, aus dem heraus ihre Frage kommt. Ich meine, an diese einfachen Dinge, oder viele scheinbar einfache Dinge, müssen wir anknüpfen, an dem, was die Kinder erleben. Vielleicht noch ein letzter Satz: Ich bin sicher, dass die Kinder ein großes Bedürfnis haben, sie sind nicht nur wissbegierig, wie man immer sagt, sie haben ein Bedürfnis, ihren Lebenskontext zu verstehen, und sie haben ein Sinnbedürfnis. Thomé: Ich möchte das, was Sie jetzt gesagt haben, noch einmal auf Ihre verschiedenen Aspekte hin betrachten und dabei bei dem Stichwort Fragen bleiben. Sie sprachen von der notwendigen Offenheit, die Sie mit Freiheit zusammengeführt haben. Sie brachten die Kreativität ins Spiel. Sie brachten die Selbstbestimmung und die Befähigung zur Selbstbestimmung ins Spiel, und Sie sprachen schließlich von der Freiheit in Bindung, von diesem Zusammenspiel, das nicht auflösbar ist. All das führt mich auf das Stichwort der Frage. Es gibt einen Satz von Eugène Ionesco, „Ce n’est pas la réponse qui éclaire, c’est la question.“ „Nicht die Antwort gibt Aufschluss, sondern die Frage“. Das heißt, wenn man jetzt tatsächlich das alles zusammenführt, dann würde doch Offenheit, Kreativität, Selbstbestimmung, Ambivalenz von Freiheit und Bindung darauf hinauslaufen, Menschen als höchstes Bildungsziel die Fähigkeit zum Fragen zu vermitteln. Die Fähigkeit, gute Fragen zu stellen, die eben nicht bei der nächstbesten Antwort schon wieder fertig sind, zu Ende sind, vorbei sind, sondern die auf weiterführende Fragen bringen und damit auch das Verhältnis des Ich zur Welt im Sinne der vierten These der Kueser Gespräche neu begründen können. Bin ich jetzt auf dem Holzweg oder können Sie mit diesem Gedanken weiterspielen? Adrian: Ich glaube nicht, dass Sie auf dem Holzweg sind. Ich glaube, dass sicherlich auch gerade die Konsequenz der Freiheit im Zusammenhang mit Bildung ist, dass diese Fragen gestellt werden, dass sie provoziert werden, dass sie sich dann auch irgendwo entwickeln. Und wir sind

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jetzt ein wenig von dem Freiheitsbegriff weg gekommen und haben uns ansatzweise mit Situationen beschäftigt, in denen solche Fragen gestellt werden. Und die erste These beschäftigt sich ja auch damit, und zwar mit der Frage: wo findet denn Bildung statt? Bildung findet in sogenannten geschützten Räumen statt. Da kann man natürlich sagen: Ich brauche auch die räumlichen Voraussetzungen, um den Auszubildenden in die Situation zu bringen, dass er kreativ wird, dass er Fragen stellt. Das heißt, da müssen auch Rahmenbedingungen geschaffen werden, müssen bestehen, und das darf ich jetzt vielleicht auch einmal aus der Sicht eines Unternehmers kritisch anmerken, die räumlichen Bedingungen – und damit meine ich jetzt nicht nur die Architektur oder den Raum, in dem man sich befindet, sondern die Situation – die sind heute schwieriger geworden. Wir haben heute sehr viele Familien, die sind eigentlich keine Familien mehr, sondern, wie es auf Neudeutsch heißt, „Patchwork“. Wir haben Lebensräume, in denen sich junge Menschen, Auszubildende befinden, die nicht optimal sind für diese Ausbildung, das heißt, wir müssen in unserer Gesellschaft an diesen Räumen arbeiten, um hier die Rahmenbedingungen für die jungen Menschen zu verbessern. Und ich persönlich sehe das einerseits positiv, andererseits mit einem sehr kritischen Auge, wenn wir heute über den Bologna-Prozess sprechen, wenn wir sehen, wie teilweise Bildung ganz zielgerichtet so verstanden wird, dass man für bestimmte Aufgabenstellungen möglichst schnell jemanden da hin bringen möchte. Da bleibt das, was wir vielleicht jetzt unter dem Gesichtspunkt Kreativität besprechen, was eine ganz wesentliche Grundlage ist, das bleibt, meiner Meinung nach, mindestens zum Teil auf der Strecke. Es wird Wissen vermittelt, es wird viel Wissen vermittelt, zielund zweckorientiert, aber es fehlt dann die Vermittlung der Wertvorstellungen, und es fehlt im Sinne der zweiten These die Vermittlung und das Erlernen von Fähigkeiten, die uns dann nachher in die Lage versetzen, Fragen zu stellen, gute Fragen zu stellen. Wais: Ich denke, dass die Fragen da sind. Schauen Sie, das Gespräch lebt ja, jedes Gespräch lebt mehr vom Zuhören als vom Reden. Das heißt – ich nehme wieder meinen Arbeitsbereich –: wenn die Kinder etwas erzählen oder mich etwas fragen, dann kommt es auf meine Art des Zuhörens und Mitgehens an, ob da noch weitere Fragen kommen. Die sind da, die brauchen die Kinder sich nicht auszudenken oder die Jugendlichen, und auch diese berühmte Frage „Warum fällt der Mond nicht vom Himmel, Papa?“ ist ja keine informatorische Frage, es ist eine Verstehensfrage, es ist eine Sinnfrage. Und das muss ich hören. Der

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Vater, der bei dieser Frage dann zu Wikipedia geht und nachguckt, warum der Mond nicht runter fällt, der hat das Gespräch verfehlt. Thomé: Das ist das, was ich gerade meinte mit Fragen, das Aufnehmen einer Frage, das durch die Antwort im Grunde abgeschlossen wird. Da sind wir genau auf der Linie, die wir gerade angesprochen haben: In der Frage muss ich lauschen auf das, was als „je individuelle existentielle Frage im sich ändernden biographischen Spannungsfeld“ aufscheint, um die Formulierung der vierten These aufzunehmen. Wais: Mit Kindern und Jugendlichen einen solchen dialogischen Raum, einen kommunikativen Raum zu eröffnen, das ist die Chance. Da bin ich auch optimistisch, dass sie für Bildungsinhalte offen sind, wenn sie erfragt sind. Ich glaube, das Problem ist, dass es gar nicht so leicht ist da anzuknüpfen, weil man so, wie Sie es beschrieben haben, Herr Dr. Thomé, gar nichts dagegen sagen kann. Natürlich ist das richtig. Die Fragen sind das eigentlich Kluge. Das ist so richtig, dass man nicht mehr dagegen sprechen kann. Die weitere Frage ist nur, auf welcher Ebene man spricht. Um welche Fragen geht es hier? Außerdem geht es auch nicht nur um Fragen, es geht auch um Antworten. Antworten sind zu gewinnen, die schon wieder ein Sprungbrett sind oder Ausgangspunkt für eine neue Frage, aber ich glaube, es geht ja mehr um die Frage nach dem Sinn. Natürlich bleiben Unternehmer, wenn sie gute Unternehmer sind, fragende Menschen. Sie fragen, wie man einen neuen Markt erschließen kann. Das ist auch eine wichtige Frage. Aber das ist wahrscheinlich ja nicht die Frage, die Sie meinen. Und vielleicht ist das Problem auch weniger bei Kindern. Die Frage wäre ja eher, glaube ich, insgesamt gesellschaftlich: Wie halten wir diese tieferen Fragen wach, oder wie bewegt man dazu. Man kann dieses Problem ja auch in Schulen erleben. Schüler in höheren Klassen, die stellen bestimmte Fragen nicht mehr, die die Viertklässler stellen. Und es gibt Menschen, die sagen, ich habe mich mit der Frage so oft schon abgemüht, mit dem Himmel etwa, warum er nicht herunter fällt, ich habe noch nie eine richtige Antwort bekommen, ich gehe nicht weiter. Das ist, glaube ich, eher der schwierige Punkt dabei. Jäckel: Ich habe natürlich, wie wahrscheinlich die meisten von uns, nur eine sehr selektive Wahrnehmung von dem, was in dem sehr komplexen Bildungssystem sich vollzieht, das ja heute schon sehr früh beginnt, mit Lateinkursen in der Vor-Kindergarten-Phase und ähnlichen

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Dingen. Also von daher ist ja auf der einen Seite die Erwartung, die an Bildung gekoppelt wird, ja unglaublich gestiegen, was natürlich auch damit zu tun hat, dass wir alle das Gefühl haben, dass Bildung die entscheidende Voraussetzung für den Erwerb besonders interessanter Berufe, für besonders ertragreiche und lang wirkende Einkünfte und so weiter darstellt. Ich glaube aber trotzdem, dass in dem System, auch bevor diese Erwartungen schon mit den sehr frühen Jahren gekoppelt wurden, sehr viel Kreativität ist. Bei meiner Oma hing in der Küche eine Tafel über dem kleinen Küchentisch, da stand drauf: „Gott schuf die Zeit, von Eile hat er nichts gesagt.“ Wenn ich mir anschaue, wie unser System jetzt von der Hierarchie her angelegt ist, dann gibt es unglaublich viele, die sich kreativ einbringen möchten, es gibt aber auch unglaublich viele, Herr Thierse, die in den Trichter immer mehr reinkippen wollen, weil sie glauben, wir müssen jetzt Ernährung in der Schule machen, wir müssen jetzt Gentechnik in der Schule machen, wir müssen das Thema Umwelt zu einem großen Thema machen und, und, und, und die klassischen Disziplinen wie Mathematik, Sprachen, Deutsch, Rechtschreibung und so weiter, die wollen natürlich auch nicht außen vor bleiben. Ja, und dann gibt es da Lehrerinnen und Lehrer, die denken sich schöne Sachen aus, die kosten viel Zeit, da gibt es ein gewisses Engagement, und dann verläuft es irgendwann im Sand, weil die Strukturen nicht erlauben, dass man das länger fortführen kann. Dann gibt es noch eine Projektwoche, und danach ist es wieder vorbei. Schließlich kommen die irgendwann zu uns an die Universität. Und was passiert da? In manchen Fächern ist das Studium zu einem reinen Lern- und Paukfach geworden, und in den Studienplänen dazu ist der Anteil des Selbststudiums, also derjenige, der gar nicht über Veranstaltungen abgedeckt ist, um ein Vielfaches größer als das, was die Veranstaltungen selbst an Input geben. Es wird so viel Stoff schon in den Trichter hineingeschüttet, dass man für die Frage, was man denn daneben vielleicht auch noch studieren könnte, in dieser Phase immer weniger Platz ist. Das Ganze wird in den Master verschoben, in dem ist im Moment ohnehin relativ wenig los, so dass ich mich frage, ob wir nicht, wenn das so weiter geht, irgendwann eine Verlängerung des Abiturs in die Bachelor-Phase hinein haben. Das eigentliche Studium, das beginnt wirklich erst mit dem, was wir heute Master nennen, und damit wird das Kreativitätspotenzial immer weiter nach hinten geschoben, so dass die Unternehmen ja heute schon sagen: Früher war es so, dass die Gymnasiallehrer geklagt haben: Was kommt denn da aus den Grundschulen zu uns? Dann haben die Universitäten geklagt, was da aus den Gymnasien an die Universitäten kommt, und heute klagen die Un-

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ternehmen, was aus den Universitäten in die Unternehmen kommt. Dass das allerdings nicht ein völlig neues Phänomen ist, sondern eine Sache, die auch schon lange vor einer Bologna-Reform immer mal wieder vorgekommen ist, möchte ich mit einem kleinen Zitat, das mir durch den Sinn gegangen ist, belegen. „Also“, und viele von Ihnen werden das kennen, ich bin mal gespannt, wer als erster aufzeigt, „Also, lautet ein Beschluss, dass der Mensch was lernen muss…“. Da sieht man, dass das alte Ideal der Universität als universale Bildungsinstitution noch nicht ganz untergegangen ist. „…dass der Mensch was lernen muss. Nicht allein das ABC bringt den Menschen in die Höh, nicht allein im Schreiben, Lesen übt sich ein vernünftig Wesen. Nicht allein in Rechnungssachen, soll der Mensch sich Mühe machen, sondern auch der Weisheit Lehren muss man mit Vergnügen hören.“ Muss man mit Vergnügen hören, jetzt kommt die Auflösung, „…dass das mit Verstand geschah, war der Lehrer Lämpel da.“ Was das bei Max und Moritz genützt hat: die Weisheit lehren und das Vergnügen daran, das lassen wir jetzt mal beiseite, aber mir geht es um eine Trias, die da drin steckt und die vielleicht ein weiteres Licht auf unsere Fragestellung nach Bildung und deren Komplexität werfen kann. Einmal geht es um Wissen: Lesen, Schreiben, Rechnen, alles, was man eben lernen muss, denn so lautet ja nun der Beschluss, das muss der Mensch. Daneben gibt es die Lehren der Weisheit. Die sind offensichtlich etwas anderes, mehr, gehen darüber hinaus. Und diese muss man auch noch mit Vergnügen hören, also quasi die Pflicht zum Spaß. Dann kommt am Schluss der Verstand, dass dies alles, das Lesen lernen, das Schreiben lernen und das Hören der Weisheit, mit Verstand geschieht, dafür ist der Lehrer da. Die Herausforderung, die in dieser Trias steckt, ist nach wie vor aktuell. Thomé: Herr Ackermann, Ihnen liegt etwas auf der Zunge. Ackermann: Ja, das heißt aber doch eben, dass der Lehrer sich als Persönlichkeit einbringt. Das ist, glaube ich, das Entscheidende. Weisheit ist ja ein biblischer Begriff, das wäre ja sozusagen das, was Dr. Thierse eben im Vortrag mit Orientierungswissen gemeint hat. Biblisch würde man da von Weisheit sprechen. Da ist immer auch die ethische Dimension schon enthalten, denn da geht es um ein gutes, gelungenes Leben und eben nicht nur um die Anwendung von irgendwelchen Wissensinhalten. Aber wenn der Lehrer Lämpel hier so beschrieben wird, dass er die technischen Wissensvermittlungen, lernen, lesen, schreiben, übernimmt, dass er aber eben auch derjenige ist, der Weisheit vermittelt, und zwar mit

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Vergnügen, dann bedeutet es auch, dass ich nur verstehen und annehmen kann, wenn ich eine innere Freude oder einen Drang dazu habe; Weisheit kann ich nicht eintrichtern. Aber das heißt, dass derjenige, der im Bildungsprozess tätig ist als Lehrender, als Persönlichkeit erkennbar sein muss. Das wäre jetzt die These, die ich daraus ableiten würde, und dann ist die Frage, was bleibt da für die Professoren zum Beispiel übrig; es dürfen kantige Professoren sein, an denen man möglicherweise sich auch reiben kann, die jetzt und hier für etwas einstehen: Politiker, Politikerinnen, die erkennbar sind beispielsweise, aber es gilt auch für Kirchenmänner nicht anders. Das, glaube ich, gehört mit in den Prozess rein. Adrian: Vielleicht fangen wir direkt noch mal in der Schule an. Wir müssen ja, oder besser: wir sind aufgefordert, den Stand der Lehrerschaft wieder da hin zu rücken, wohin er eigentlich gehört. Das heißt, wir müssen ihn wieder aufwerten. Ich darf das einmal so provokativ sagen. In den letzten Jahren oder Jahrzehnten haben die Pädagogen an unseren Schulen eigentlich gelitten unter vielfältigen Anfeindungen aus der Gesellschaft bis hin zu einer vielleicht nicht ganz – jetzt muss ich aufpassen, was ich sage – angemessenen Honorierung dieser Tätigkeit. Ich glaube, da gilt es den Stellenwert und die Achtung, die man dieser Aufgabe zukommen lässt – das gilt ja für die Hochschulen genauso – zu erhöhen. Im Übrigen, wenn ich jetzt bei dem Gedicht bleibe, muss ich sagen: Der Lehrer Lämpel hat natürlich die zehn Gebote von unserem Bischof Ackermann übersehen, denn sonst wäre die Geschichte ja nicht so böse ausgegangen. Ackermann: Der Lehrer kann natürlich keine Garantie geben, er übernimmt auch keine Haftung… Adrian: Aber ich meine, was für uns wichtig ist und was hier zum Ausdruck kommt – und Herr Thierse hat es in seinem Vortrag ja auch noch einmal sehr anschaulich dargelegt –: Bildung und Freiheit, das sind zwei Begriffe, über die wir uns jetzt unterhalten haben, und was dazu gehört, ist im Zusammenhang mit dem Bildungsbegriff die Wertevermittlung, und da sind wir, glaube ich, bei einem Thema, von dem man sagen muss, wenn wir jetzt auf den Bologna-Prozess eingehen: Es ist eben nicht damit getan, irgendwo nur Informationen weiterzugeben, Wissen zu vermitteln, sondern es ist auch ganz wichtig in diesem Bildungsprozess das Prozessuale und die Fähigkeitsbildung im Sinne der zweiten und das Wertbildende im Sinne der fünften These zu betonen. Und das fängt

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möglicherweise im Kindergarten an, beziehungsweise es fängt eigentlich in der Familie an, geht über den Kindergarten, die Schule, die Hochschule, die berufliche Ausbildung. Wir sind in all diesen Etappen der Bildung darauf angewiesen, Werte zu vermitteln, und diese Wertevermittlung wird natürlich heute immer schwieriger. Herr Bischof, ich sage einfach einmal: Meiner Meinung nach haben wir heute das Problem: Wir verzeichnen einen Werteverlust, und diesen Werteverlust, den sehe ich in einem gewissen Gleichgang auch mit einem Bedeutungsverlust der christlichen Kirchen. Das ist ein Thema, über das man diskutieren muss. Wo nehmen wir den Halt her, wo nehmen wir die Werte her, die wir irgendwo hier mit einbringen wollen, die wir den jungen Menschen vermitteln wollen? Thomé: Das ist ein wunderschönes Thema für das nächste Kueser Gespräch. Ackermann: Das heißt, wir dürfen nichts mehr dazu sagen? Thomé: Sie dürfen selbstverständlich etwas dazu sagen. Ich wollte es eher in Richtung derer gesagt habe, die über das nächste Kueser Gespräch schon jetzt nachdenken. Ackermann: In der letzten Woche war der Vorstand der Religionslehrer an Berufsschulen in Rheinland-Pfalz bei mir, die haben sich da zum Berufsverband formiert. Das Interessante ist– das war mir nicht bewusst –, dass sich dieser Berufsverband gegründet hat, 68 oder 69, gegen Kampagnen, die dazu aufgerufen haben: „Meldet euch vom Religionsunterricht ab!“. Adrian: Ich setzte mich für die Gründung ein. Ackermann: Die Lehrerinnen und Lehrer im Vorstand haben gesagt: „Unsere Akzeptanz an den berufsbildenden Schulen ist sehr gut“. Es gibt, Herr Thierse, das gelobte Land, die heile Welt hier, es gibt ganz wenige Abmeldungen zum Beispiel vom konfessionellen Religionsunterricht, und das wird auch sehr geschätzt von den Betrieben. Jetzt kommen wir zu dem, was Herr Adrian meint. Auch da geht es ja um die Wertevermittlung. Das wird also auf eine ganz neue Weise wertgeschätzt und bekommt also von daher auch Rückenwind.

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Ich will nur anfügen, um ein bisschen Sand ins Getriebe zu streuen, dass Werte, Moral, auch wenn das vielleicht manchmal anders aussehen mag, im christlichen Glauben erst das zweite sind. Zunächst sind da das Staunen und die Freude über die Tat Gottes, über das, was er an uns tut. Das ist, was der Johannesbrief sagt: Wenn er uns so geliebt hat, dann müssen auch wir einander lieben (1 Joh 4,7ff.). Aber das „müssen“ ist nicht dieses Moralische mit dem Zeigefinger, sondern das einer inneren Notwendigkeit: Ich kann eigentlich gar nicht anders. Wenn diese Botschaft wahr ist, dann verändert sie mein Verhalten, mein Leben. Und das ist natürlich genau dieser Spannungspunkt, den Sie, Herr Adrian, benannt haben. In dem Moment, wo der Glaube von seiner Botschaft her in der Bedeutung sinkt, auch die Bindung daran, auch an die Glaubensgemeinschaft, dann ist natürlich irgendwo der Punkt, an dem fraglich wird, wo die Werte ihre Plausibilität hernehmen, gerade die christlichen Werte. Sie hängen irgendwann im luftleeren Raum. Politiker sagen immer: „Herr Bischof, wir müssen an einem Strang ziehen, gerade was die Werte angeht.“ Soziale Kohäsion war das Stichwort. Ich kann aber nicht sagen: wir schöpfen den „Werte-Rahm“ oben ab, und dasjenige unten drunter, das, wenigstens aus christlicher Perspektive, woraus sie entspringen, das spielt immer weniger eine Rolle. Denn dann geht die Wurzel verloren. Das liegt natürlich auch in der Verantwortung derer, die hauptamtlich in der Verkündigung stehen. Ich will sagen, ich bin vollkommen d’accord, aber auch die Möglichkeiten eines Bischofs sind da in einer gewissen Weise begrenzt, weil natürlich wirklich die Werte auf dem Inhalt des Glaubens irgendwie aufruhen. Und das ist unser Problem, wenn dieses Fundament mehr und mehr schwindet, dann wird auch der Satz, das wissen wir ja auch, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, gefährdet. Diese Einsicht muss aber auch gesellschaftlich getragen sein, und diesen Konsens zu halten und immer wieder zu erneuern, das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger und schwieriger Punkt. Jäckel: Ich will das nicht bagatellisieren, aber diese Werteverlustdebatte, das hat auch Herr Thierse in seinem Vortrag gesagt, ist relativ alt. Es war zum Beispiel Elisabeth Noelle-Neumann in den 60er Jahren, die unter anderem mit diesem Thema begann. Nun gibt es ja seit einigen Jahren so etwas wie einen Freiwilligensurvey in Deutschland, also eine Untersuchung darüber, was Menschen eigentlich neben ihrer beruflichen Tätigkeit noch so alles machen, auch die jüngere Generation. Und ich würde sagen, dass über diese stillen Tugenden in unserer Gesellschaft viel seltener geredet wird, weil das Gegenteil davon natürlich automatisch wesent-

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lich mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht. Das ist wie in einer Gruppe, die gut funktioniert. Wenn es da einen Quertreiber gibt, hat er nolens volens zunächst einmal die Aufmerksamkeit, beispielsweise auch von der Lehrerin oder dem Lehrer, worunter die anderen in gewisser Weise auch leiden müssen. Und diese Asymmetrie in der Wahrnehmung von dem, was die guten Dinge und was die schlechten Dinge in unserer Gesellschaft sind, wird natürlich auch durch das, was in der Einleitung durch Sie, Herr Hangert, am Beispiel der Medien beschrieben wurde, zusätzlich verstärkt. In Bezug auf die Religion würde ich sagen, auch jetzt zunächst aus meinem Fach heraus betrachtet: Bis in die 60er, 70er Jahre hat man Religionssoziologie als Kirchensoziologie betrachtet. Man hat sich also im Grunde genommen mit der Frage beschäftigt, welche Bedeutung hat die Institution Kirche, wie oft geht man dort hin, wie regelmäßig wird zu Tisch gebetet, wie tief ist quasi die religiöse Tradition im Alltag verankert. Aber parallel dazu kam eben ein Begriff auf, der „unsichtbare Religion“ genannt wurde, beispielsweise von Thomas Luckmann, und der wollte damit sagen, dass es auch jenseits dieser institutionellen Formen des Religiösen sehr viele Formen von Frömmigkeit oder Formen des Rückzugs gibt oder Formen an Orientierung, die uns gelegentlich erstaunen. Aber zurück zu dem Freiwilligensurvey. Man war plötzlich erstaunt darüber, wie viel Prozent der Bevölkerung sich an diesen stillen Tugenden mehr oder weniger beteiligen, also die Gesellschaft war sozusagen über sich selbst überrascht, weil ihr das nie erzählt wurde. Und ich meine, wir sollten das auch ein bisschen stärker im Fokus haben. Ich sehe das auch bei den heute zum Teil sehr pragmatisch agierenden Studierenden. Aber warum dieser Pragmatismus? Weil sie auf ein System treffen, das es von ihnen verlangt. Aber daneben tun sie punktuell ganz, ganz unterschiedliche Dinge. Der eine ist bei einer Tierschutzorganisation engagiert, der zweite ist politisch, der dritte was auch immer. Also die Optionen, die Möglichkeiten, die sie heute haben, Bildung und Freiheit, die sind eben wesentlich größer als zu einer Zeit, in der ich groß geworden bin. Ich bin sehr religiös aufgewachsen, und davon ist auch viel geblieben, aber wenn ich das mit der Generation meiner Kinder vergleiche, ist es eine völlig andere Welt, in der diejenigen, die in dieser Welt leben, auch einen ganz anderen Kompass haben müssen als wir. Thomé: Wir werden sicher gleich noch mal zurückkommen auf die Frage nach Bildung und Orientierung, die natürlich hier auch im Raum steht. Aber zunächst noch einmal Sie, Herr Wais.

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Wais: Nur kurz: ich bin ein bisschen skeptisch mit so einer ‚Beibringpädagogik‘. Sicher, wir Erwachsenen wollen, dass unsere Kinder und Jugendlichen, dass die nächste Generation bestimmte Werte übernimmt, bestimmte Bildungsinhalte. Man kann das aber probeweise ein bisschen hinterfragen. Wenn ich unter Bildung verstehe, die Möglichkeit und Fähigkeit der Aneignung des eigenen Lebenskontextes, wo der Lehrer dann eben nicht der Lehrer Lämpel, sondern der Coach ist, dann ist da etwas Freiheitliches drin, wo nicht nur der Vorgang freiheitlich ist, sondern auch das Ergebnis. Warum lege ich als Pädagoge, als Erwachsener, als Bildungsträger oder Institution fest, welche Werte in diesem Aneignungsprozess heraus kommen müssen. Es kann doch nicht sein, dass wir ein für alle mal feste Werte haben, die wir einfach nur immer weiter geben müssen, und dass wir uns jetzt vielleicht noch didaktisch überlegen können, wie wir es am geschicktesten erreichen, sie der nächsten Generation zu vermitteln. Ist Bildung nicht vielmehr etwas, wo durch einen solchen freien Prozess der Selbstaneignung auch etwas Neues entstehen kann, auch neue Bildungsinhalte? Warum legen wir das vorgängig fest? Sie haben das eingangs gesagt, dass besonders junge Leute das eigentlich gar nicht so mögen, wenn man ihnen so fertige Sachen immer hinsetzt, fertige Bildungsgüter, fertige Bildungsinhalte. Also das wollte ich nur zu bedenken geben, dass man vielleicht auch diese Werte offen halten kann, den Vorgang und die Werte. Dann ist das Bildung. Thomé: Das halte ich für einen sehr interessanten Punkt, den wir auch noch einmal diskutieren müssten. In dem Gespräch zu den Thesen in dem Band über „Werte-Bildung“ finden Sie genau diesen Gedanken besprochen, dass Werte nicht einfach existieren, sondern vorgefundene Werte lediglich den Möglichkeitsraum zu einer produktiven Reformulierung im eigenen Kontext der Menschen bieten. 5 Ich möchte aber den Einwand, den Sie jetzt bringen, sogar noch einen Schritt weitertreiben. Und das auch wieder im Rückgriff auf unseren geheimen spiritus rector dieser Veranstaltung, Nikolaus von Kues. Cusanus entwickelt ja im Zusammenhang mit der Frage nach der Gottebenbildlichkeit des Menschen den Gedanken, dass der Mensch einem Spiegel vergleichbar sei, der das vollkommene Abbild Gottes, nämlich Christus, in sich wiederum abbildet, aber wegen seiner kontingenten Natur, weil der Mensch endlich ist, unvollkommen, usw., eben auch dieses Abbild unvollkommen, verbogen, verzerrt, verschmutzt, befleckt und so weiter ausfällt. Dieser Spiegel 5

Vgl. Werte-Bildung in Europa, 62-64.

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selbst, der der Mensch ist, ist eben nicht der ideale Spiegel, der das Urbild vollkommen wiedergibt, und die Aufgabe des Menschen besteht dann gerade darin, im Laufe seines Lebens sich selbst immer mehr zu einem klaren, reinen und unverzerrteren Abbild dieses Urbildes zu formen. Das ist der Gedanke, auf den es mir jetzt ankommt. Die Ausbildung des Selbst als Bild, als etwas, was eben nicht fertig ist, was nicht einfach nur ein Gefäß ist, in das man etwas reinkippt, sondern dieses Maß an Freiheit noch einmal zu denken in der Bildung im Rückgriff auf Cusanus, wenn man den Menschen versteht als ein Wesen, das die Aufgabe hat, sich selbst zu gestalten in Freiheit der Anmessung an ein Vorbild, das er eben nicht sozusagen am Katheder findet, sondern ganz woanders. Dazu gehört aber auch, und das ist wichtig, dass das Vorbild kein gegebenes, festes Vorbild ist; denn auch dieses Vorbild ist ein Spiegel im Gleichnis des Cusanus, und zwar ein perfekter. Und ein perfekter Spiegel zeichnet sich dadurch aus, dass Sie nicht ihn sehen, sondern nur das, was er spiegelt, sonst wäre er nicht perfekt. Es handelt sich also nicht um eine einfache platonische Urbild-Abbild-Relation, sondern um ein tatsächliches Freisetzen des Abbildes, welches, wie Cusanus sagt, sein Urbild misst, und nicht anders herum. Dieses Ausmaß an Freiheit ist in den Bildungsdiskussionen einzubeziehen: was bedeutet das? Was heißt dann Selbstbildung? Und dann sind wir, glaube ich, auch wieder bei der Frage nach Werten, nach dem Maßstab, der mir mich befähigt, mir die Richtung gibt, in die ich mich selbst als Spiegel, als Abbild eines Idealbildes, im bezeichneten Sinne, frei gestalte und forme. Herr Ackermann, Sie gucken mich so an? Ackermann: Ja, das ist natürlich ein ganz tiefes, theologisches Bild von Cusanus. Ich versuche jetzt, es ein bisschen zu operationalisieren, auf die Bildungsfrage hin: Das heißt ja auch, dass wir nicht uniforme Spiegel sind; denn wir spiegeln nicht alle dasselbe und auf dieselbe Weise wider. Sondern es gibt ja sozusagen, ich will das mit meinen Worten beschreiben, eine individuelle Brechung, die aber nicht schon Trübung ist; bei Cusanus ist sie auch durch den je unterschiedlichen Ort der Spiegel angedeutet. Es geht ja darum, möglichst transparent, möglichst gut und rein irgendwie das Urbild widerzuspiegeln, aber eben mit der Persönlichkeit. Und alles, was Bildung ist, müsste dann mit dazu helfen, so würden wir es theologisch sagen, den Platz zu finden, meine Identität, die Gott mich finden lassen will, frei zu finden, und darin das Glück des Lebens. Dieses als ein kleiner theologischer Exkurs. Herr Adrian muss ihn jetzt wieder auf die Ebene der IHK beziehen. Ich würde sagen, Cusanus be-

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schreibt einen grundsätzlichen Zug von Bildung. Aber ich glaube, unsere Fragen zu Bildung sind Konkretionen dieser Urdynamik. Infolgedessen muss man dann diese Urdynamik nochmals ‚in kleinere Münze wechseln‘. Thomé: Nur einen Satz dazu: In der Tat geht es dabei auch immer wieder um die Frage nach dem Menschenbild, das hinter Bildung steht. Und auch deswegen greifen wir zu Cusanus. Adrian: Es ist wichtig, dass Sie, Herr Thomé, das Urbild–AbbildVerhältnis in seiner Besonderheit bei Cusanus deutlich gemacht haben. Sonst müsste ich Cusanus in die Parade fahren. Denn es wäre gerade kein Freiheitsbild, wenn gemeint wäre, dass ich nur dann wirklich ein geglücktes Leben habe, wenn das rauskommt, was ich eigentlich abbilden soll. Das wäre kein Freiheitsmoment, sondern gerade der Rekurs auf ein Vorgegebenes und also kein Freiheitsverständnis. Erst in dem Moment, wo klar wird, dass das Vorbild als vollkommener Spiegel eben alles spiegelt, dadurch selbst unsichtbar bleibt und auf diese Weise gerade kein inhaltliches oder festgelegtes und vorgegebenes Vorbild ist, dass ich nachahmen soll oder muss, stellt sich ein Freiheitsmoment wieder ein. Jetzt bin ich gefordert, hier stümperhaft Stellung zu beziehen und das Bild, wie Herr Ackermann sagt, in kleiner Münze zu wechseln. Wenn man die Aussage betrachtet, dass eigentlich jeder Mensch im Sinne von Cusanus mehr oder weniger befleckt oder verändert oder verzerrt Gott widerspiegelt, dann würde ich sagen, wenn wir bei den Unternehmern bleiben: Wenn ich morgens früh in den Spiegel schaue, dann sehe ich mich, und ich denke, das gilt für jeden von Ihnen, und überlege mir: Was bist du für ein Kerl? Bist Du in Ordnung, hast Du einen guten Tag, hast Du einen guten Job gemacht, hast du dich ordentlich verhalten? Da kommen dann wieder im Hintergrund irgendwelche Wertvorstellungen zum Vorschein. Sie wissen, der deutsche Industrie- und Handelskammertag hat nicht ganz ohne Grund den Begriff des „ehrbaren Kaufmanns“ noch mal aus der Mottenkiste rausgeholt und ganz nach vorne gestellt. Herr Thierse hat ja einiges in seinem Vortrag schon anklingen lassen, was uns, also die Unternehmerschaft, dazu veranlasst, diese Fahne da aus der Mottenkiste noch mal rauszuholen, will sagen, die Unternehmen haben natürlich einen Anspruch an sich selbst, haben ein Wertesystem, was sie leben wollen. Und ich vertrete ja nun überwiegend kleine und mittelständische Unternehmer, und ich muss sagen – da kommen wir jetzt auch wieder zurück zur Bildung –, ich glaube, dass viele von den Unternehmern auch eine Vorbildfunktion für die Auszubildenden, für

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die Mitarbeiter in ihren Betrieben wahrnehmen und dass dafür natürlich wichtig ist, dass sie morgens früh mal in den Spiegel gucken und sich überlegen, ob sie mit dem, was sie da sehen, auch einverstanden sind. Ich glaube, dass das für viele Menschen auch eine ganz wichtige Lebensgrundlage ist, und wenn sie die so leben und vorleben und diese Vorbildfunktion dann auch richtig erfüllen, dann können sie diese Werte leben, und nicht nur leben – und Sie haben ja, Herr Wais, eben darauf hingewiesen, und es ist offenbar auch im Sinne des Cusanischen Spiegelgleichnisses –, sondern auch verändern und entwickeln. Damit geben sie jungen Menschen Anregungen in diese Richtung. Das ist ja das, was wir auch von ganz klein an im Sozialisationsprozess haben. Ich schau mir die anderen an, wie die es machen. Konkret gesprochen: wenn ich als Unternehmer morgens früh um halb elf mit meinem etwas getunten Sportwagen die Firma erreiche, dann ist das nicht unbedingt eine Vorbildfunktion nach meiner persönlichen Einschätzung. Wenn ich in den Spiegel gucke, dann muss ich morgens der erste und abends der letzte sein; das ist so ein kleines klassisches Beispiel für eine Vorbildfunktion. Wais: Ich komme nochmals auf das Spiegelgleichnis zu sprechen. Wer beurteilt, wie weit ich, wenn ich also vor meinem Grabe stehe oder wenn mich nachtodlich der liebe Gott fragt, in diesem Prozess gekommen bin? Die cusanische Behauptung, die Sie, Herr Thomé, angeführt haben, dass das Abbild das Urbild misst, ist ja doch in dieser Hinsicht sehr stark. Ich werfe die Frage auf, um noch einmal auf die Selbstbestimmung zu kommen, aber auch darauf, dass dieser Prozess, der für mich Bildung ist, weniger Inhalt, sondern eben ein bestimmter Prozess der Aneignung, in dem ich mich zunehmend vielleicht, wenn es gut geht, dem Urbild, wenn ich so sagen darf, meiner selbst annähere. Sie haben, Bischof Ackermann, auf die Bedeutung der Persönlichkeit hingewiesen, und bei Cusanus gibt es ja den Satz Gottes an den Menschen: „Sei du dein, und ich werde dein sein“, auf den in den „Kueser Gesprächen“ schon verschiedentlich hingewiesen wurde.6 Dabei wurde auch schon darauf aufmerksam gemacht, dass dieser Prozess – bei Cusanus ist es die Gruppe der Mönche vor der icona Dei – in Gemeinschaft geschieht. Er geschieht nicht in meinem Kämmerchen, beim Kind sowieso nicht, beim Jugendlichen auch nicht, beim Erwachsenen auch nicht. Im Austausch, im Gespräch, in der Gemeinschaft entsteht das – so formuliert es ja auch die sechste These. Das heißt, wir haben so etwas 6

Vgl. Harald Schwaetzer: Ineinsfall der Begegnung. In: Coincidentia. Zeitschrift für europäische Geistesgeschichte 1, Heft 1 (2010) 13-38, hier: 26ff.

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wie ein gegenseitiges Regulativ, da wo wir einen kommunikativen Raum haben, und da können ehemalige, ehemals festgesetzte Werte hereinkommen, da können aber auch neue Werte entstehen, in der Gemeinschaft. Wir brauchen keine Angst zu haben, dass sich einer in irgendein Zimmerchen setzt, Kämmerchen, setzt und da sich irgendwelche neuen Werte ausdenkt und die dann verkündet, das geht gar nicht. Sondern Werte entstehen in dem Prozess der Aneignung, sie können auch neu entstehen, in der Gemeinschaft. Die Gemeinschaft ist das Regulativ und nicht unbedingt der Lehrer Lämpel. Jäckel: Ich hänge nicht so an dem Lehrer Lämpel. Das war ein spontaner Gedanke, der aber, so glaube ich, auf unser Thema ganz gut passt. Es ist immer die Frage, wenn Sie sich von irgendetwas ein Bild machen wollen, dann brauchen Sie auch irgendein Vorbild. Ob Sie das jetzt selbst entwickelt haben oder nicht, das ist eine ganz andere Frage. Ich glaube, der Großteil der Entscheidungen, die wir treffen, besteht nicht aus unabhängigen Entscheidungen. Ich würde sagen, die meisten beruhen mehr oder weniger auf Nachahmung. Es gibt ein schönes Zitat eines englischen Philosophen, der hat gesagt: „Be not the first by whom the new are tried, nor yet the last to lay the old aside“. 7 Und das ist eigentlich gültig, gleichgültig wo Sie hinschauen, ob es darum geht, mit welchem Auto man morgens durch die Gegend fährt, für welche Mode Sie sich entscheiden, welche Fachrichtung vielleicht gegenwärtig besonders attraktiv ist. In vielen Fällen sind es eigentlich die Entscheidungen anderer, die Ihnen als Hilfestellung dienen, auch wenn Sie das nicht gerne zugeben. Und wenn ich jetzt wieder ins Universitätssystem zurückgehe, dann ist für mich auffällig, dass es, zumindest aus meiner Wahrnehmung heraus, früher mehr Vorbilder gab, von denen man gesagt hat: Hast du mal bei diesem oder jenem die Vorlesung gehört? Ich will damit nicht sagen, dass die Vorlesungen heute schlechter sind, aber es gab eine andere Vorstellung von Autorität, die in dem Universitätssystem, wie wir es heute haben, vielleicht auch aufgrund der Tatsache, dass die Disziplinen sich weiter ausdifferenziert haben und dass unglaublich viele sich an diesen Diskussionen beteiligen, schwieriger geworden ist. Auch so etwas wie ein, sagen wir, endgültiges Urteil treffen zu können. Und da komme ich noch einmal auf die Frage der Offenheit zurück. Viele Diskussionen über kontroverse Themen finden ja heute in bestimmten Gemeinschaf7

Alexander Pope: An Essay on Criticism, 1711: „Be not the first by whom the New are try'd, / Nor yet the last to lay the Old aside.“

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ten statt. Ob das jetzt Blogs sind oder auch Seiten, die parallel zu bestimmten Veranstaltungen im Internet oder in anderem geschützten Raum aufgesetzt wurden. Da finden sehr, sehr intensive Dialoge statt. Häufig allerdings nicht unter Beteiligung derjenigen, die eigentlich die Impulse gegeben haben, weil sie die Zeit dazu nicht haben. Wenn Sie das alles als Hochschullehrer machen wollten, müssten bestimmte andere Dinge auf der Strecke bleiben. Ich glaube, dass die Vielfalt, die wir nicht nur im Universitätssystem, sondern auch in anderen Bereichen haben, dazu führt, dass es schwierig ist, noch wirkliche Vorbilder zu finden. Es kann oder sollte jedenfalls nicht etwas Inflationäres sein. Man hat unlängst einmal gesagt: Prominenz ist der Adel der Mediengesellschaft. Und die Medien sorgen dafür, dass es eine hohe Durchschlagsquote von Prominenten gibt und die ursprüngliche Bedeutung von diesem Begriff ein wenig verlorengegangen ist. Thomé: Vorbild ist ein ganz eigener Gedanke. Ackermann: Ja, es ist interessant, welche Wendung die Diskussion nimmt. Herr Jäckel beschreibt, dass, weil die Welt so differenziert ist, es auch schwieriger ist, Vorbild zu sein. Dazu möchte ich ein wenig thesenhaft sagen: Gibt es denn den Mut, Vorbild zu sein? Und jetzt sage ich auch da nochmals als Theologe, dass in diese Angelegenheit natürlich die Wahrheitsfrage hineinspielt. Denn die Leute, die ein Vorbild sind, sagen, „Ich glaube, dass das, was ich tue, richtig ist, meine Überzeugungen sind richtig, sie sind wahr“. Das heißt nicht diktatorisch, dass alle genauso sein müssen, aber ich stehe dafür hin und die anderen können das bestreiten, ich bleibe aber stehen – cusanisch gesprochen, streifen wir jetzt den Begriff der coniectura, der in der siebten These vorkommt. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt. Wenn ich sage: Gut, jeder muss natürlich seinen Lebensentwurf finden, dann ist das natürlich trivial; es ist klar, dass das sowieso jeder muss. Aber nimmt man dieses „ich bleibe aber stehen“, vom Anspruch her, vom Selbstanspruch her, ernst, dann ist es natürlich auch schwieriger, Vorbilder zu haben. Wenn man hingegen die Gesellschaft anschaut, dann bedeutet „prominent“ einfach, bekannt zu sein, aber es heißt noch nicht, eine Persönlichkeit zu sein, die auch sagt, es gibt unbedingt Dinge, also unbedingte Werte, die stelle ich nicht der Ökonomie zur Verfügung oder der Publizität stelle, sondern für die stehe ich ein, und dann können die anderen ja immer noch sagen, da

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gehe ich mit oder da gehe ich nicht mit. Aber da gibt es, glaube ich, eine große Scheu, so etwas heute zu tun. Thomé: Aus Ihrer Debatte hier merken wir schon, in welche Sphären man kommt, wenn man Bildung in ihre verschiedenen Verästelungen hinein verfolgen möchte. Es gibt leider eine gewisse Begrenzung unserer Möglichkeiten oder unserer Freiheit, dem jetzt in aller Ausführlichkeit nachzugehen. Deshalb läute ich jetzt mit dem Wort an Sie, Herr Wais und Herr Adrian, die letzten Beiträge ein. Wais: Ich wollte nur ganz kurz sagen, Vorbild kann man nicht sein wollen. Man kann sich nicht selbst zum Vorbild ernennen, sondern zum Vorbild wird man ernannt. Und da sind wir wieder bei dieser Selbstbestimmung und Freiheit. Und wenn Sie junge Leute oder Erwachsene fragen: Wer hat dich denn beeindruckt, in der Schule oder früher, als du jung warst? Dann sind es nicht irgendwelche Leute, die ganz viele Titel haben und wichtigen Institutionen vorstehen, sondern dann bekommt man immer Beispiele für authentische Menschen, die aber nicht gesagt haben „Ich will Vorbild sein“. Adrian: Mir ist noch das Stichwort „Redlichkeit“ eingefallen – es steht ja in der fünften These. Ich denke, das passt dazu. Vorbild zu sein ist auch immer damit verbunden, authentisch zu sein, redlich zu sein, dazu gehört Ehrlichkeit und Offenheit. Und jungen Menschen, meine ich, machen Sie da nichts vor. Die haben sehr schnell erkannt, wer Schauspieler und wer wirklich ist, wer eine echte Vorbildfunktion hat. Und ich muss vielleicht, wenn ich ja schon mal die Gelegenheit habe, hier auch eine Lanze brechen für das, was wir heute hier in Deutschland als Ausbildung anbieten im Rahmen der dualen Ausbildung in unseren Unternehmen. Wenn Sie sich so im Moment die Diskussion und die Realität anschauen – wir haben ja heute oder dieses Wochenende ein ganz entscheidendes Wochenende für Europa, und schauen Sie sich mal die Länder an, in denen wir ganz große Probleme haben –, dann stellt eines der ganz großen Probleme die Jugendarbeitslosigkeit dar. Denken Sie an Spanien, oder gehen Sie nur nach Frankreich zu unseren Nachbarn. Und da muss ich sagen, wir haben in Deutschland eine Tradition in der dualen Ausbildung mit vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen, die uns in die Lage versetzt mit einer hohen Qualität, aber auch mit einer Wertevermittlung hier jungen Menschen eine Grundlage für ihre berufliche Zukunft zu liefern. Ich sage auch: Wir haben den

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Spaniern angeboten, dass sie ihre jungen Leute hier nach Deutschland kommen können. Wir haben ja freie Ausbildungsplätze. Da ist vielleicht Solidarität von uns gefordert, unabhängig von der Form der Solidarität, die wir jetzt in der Form von Finanztransfers leisten. Ich glaube, auch auf diese Weise hätten wir eine Vorbildfunktion und könnten etwas leisten. Thomé: Ich danke Ihnen. Wir sind wieder bei der Praxis angekommen. Und zum Schluss möchte ich aber doch wieder einen Bogen schlagen zu dem, womit wir gestartet sind. Wir sind letztlich gestartet, denke ich, bei dem, was Herr Thierse in seinen vier Desideraten genannt hat. Und wir haben das jetzt aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten versucht, zu kurz, wie das immer bei solchen Anrissen ist, aber dennoch, wie ich finde, sehr anregend, was das Weiterdenken und das Weiterfragen betrifft. Und genau da, glaube ich, kommen wir langsam wieder an: dem Verlust an geschichtlichem Gedächtnis entgegenwirken. Herr Thierse, Sie hatten gesagt: Die Fähigkeit zur Verantwortung und Solidarität lernen als Desiderat an Bildung, mit Wissen souverän umgehen lernen und Maßstäbe für das sinnvolle Wissen zu erlernen und schließlich, als allererstes, nannten Sie das „lernen lernen“, das heißt, die Fähigkeit zum guten Fragen erlernen. In seinem späten Werk formuliert Cusanus eine Philosophie des „Könnens“. Jeder Mensch kann etwas. Der eine dies, der andere das. Das zeigt ihm, dass es ein ursprüngliches Können gibt, welches sich in jedem konkreten Können zeigt. Und mit diesem ursprünglichen Können umgehen zu können heißt, das Lernen zu lernen – auf diesen Punkt der cusanischen Philosophie hat Harald Schwaetzer immer wieder hingewiesen. 8 Verbinde ich diese Idee mit dem zuletzt diskutierten Gedanken des Vorbildes, so fällt mir der Satz ein, der auf dem Grabstein von Alfred Herrhausen steht. Er lautet: „Wir müssen das, was wir denken, auch sagen. Wir müssen das, was wir sagen, auch tun, und wir müssen das, was wir tun, dann auch sein.“ Das hat was mit Bildung zu tun, das hat was mit den richtigen Fragen an Bildung zu tun, denke ich, und mit Identität und Ausbildung einer reifenden und reifen Persönlichkeit, die in der Lage ist, tatsächlich mit den vielen Herausforderungen, die sich in einem gesellschaftlichen Kontext stellen, die sich an Bildung immer wieder stellen, sinnvoll und konstruktiv umzugehen.

8 Vgl. schon Harald Schwaetzer: Aequalitas. Erkenntnistheoretische und soziale Implikationen eines christologischen Begriffs bei Nikolaus von Kues. Hildesheim u.a. ²2004, 173-177.

Bildung

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Auch das würde ich gerne mit Ihnen jetzt weiter diskutieren. Wir lassen es für dieses Mal. Stattdessen bedanke ich mich ganz herzlich bei Ihnen hier auf dem Podium für Ihre Beiträge, für die Impulse, für das Engagement, mit dem Sie die Fragestellung aufgegriffen haben. Ich bedanke mich auch für die weiteren Fragen, die Sie eröffnet haben, die für mich ein entsprechendes Bildungserlebnis auch geworden sind. Damit verabschiede ich Sie und uns aus dieser Runde und gebe das Wort zum Schlusswort wieder zurück. Danke schön.

Blick ins Publikum während der 3. Kueser Gespräche. In der ersten Reihe von links nach rechts: Mathias Wais, Leiter der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Scharnhorst e. V., Dortmund, (sich bückend) Prof. Dr. Michael Jäckel, Präsident der Universität Trier, Peter Adrian, Präsident der IHK Trier und Sprecher der IHK-Arbeitsgemeinschaft Rheinland-Pfalz, Dr. Stephan Ackermann, Bischof von Trier, Dr. Wolfgang Thierse, Vizepräsident des Deutschen Bundestages, in der zweiten Reihe von links nach rechts: Marita Ellenbürger, Konrad-AdenauerStiftung, Karl-Heinz B. van Lier, Konrad-Adenauer-Stiftung

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Podiumsdiskussion

Alexander Licht, MdL, Vorsitzender der Kueser Akademie für Europäischen Geistesgeschichte während des Schlusswortes

Schlussworte von Alexander Licht und Wolfgang Port Licht: Meine sehr geehrten Damen, meine Herren, Prof. Dr. Schwaetzer notiert in den einleitenden Thesen zu den 3. Kueser Gesprächen einen wichtigen Satz, den ich gerne als grundsätzliche Botschaft, als eine von verschiedenen Säulen unserer Gesprächsreihe hervorheben möchte. „Bildung“, ich zitiere, „Bildung bedarf keines Programms, sondern der Begegnung, die zum Wandel führt.“ Das Hören, meine Damen und Herren, das Verstehen, das Denken, das Begreifen, braucht es nicht immer mehr, immer dringlicher, wie es die Thesen in Anschluss an Cusanus formulieren, geschützte Räume? Sie finden diesen Hinweis auch in unserer Zeitschrift, der „Coincidentia“, für europäische Geistesgeschichte. Bezug nehmend auf einen der bekanntesten Dialoge von Cusanus wird die Szene auf der Tiber-Brücke in Rom im Jahre 1450 beschrieben. Im Trubel der Menschenmenge beginnt der Dialog, so wird geschildert, der Dialog zweier Gelehrter, und sie entschließen sich, ihr Gespräch an einem anderen Ort fortzusetzen. Ohne jetzt in diese Geschichte tiefer einzusteigen, ist es nicht einfach wichtig, um zu begreifen, einmal nur die Sichtweise zu ändern, den geschützten Raum zu suchen?1 Hat nicht genau das Herr Dr. Thierse auch in der Einleitung in seinem Vortrag ausgedrückt? Kultur als ein Raum – ich will nur dieses eine Stichwort nennen, von denen er ja eine ganze Menge uns vermittelt hat. Bildung als substanzieller Baustein des freiheitlichen Denkens, auch als Orientierungswissen. Ich fand diesen Aspekt besonders bemerkenswert. Meine Damen und Herren, die jungen Demokratien zeigen in und durch ihre Umbrüche, dass Demokratie eine allgemeine Bildung eben notwendig macht. Es ist dabei auch keine neue Weisheit. Dass Bildung mit der Geburt beginnt, haben wir ja auch alle heute noch mal gehört, und auch, dass sie nie endet. Die Gesellschaft hat hier eine kumulative Verantwortung, und auch das, Herr Dr. Thierse, wurde in ihrem Vortrag sehr deutlich. Darum sage ich als Vorsitzender der Kueser Akademie für europäische Geistesgeschichte Ihnen, Herr Vizepräsident des Deutschen Bundestages, ganz, ganz herzlich ein Dankeschön für Ihren Vortrag und

1

Vgl. den in diesem Heft wiederabgedruckten Beitrag von Harald Schwaetzer: Cusanische Bildung.

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Alexander Licht / Wolfgang Port

für das, was Sie uns auch mit diesem Vortrag an Worten und Werten vermittelt haben. Port: Wir dürfen uns bedanken, auch im Namen meines Kollegen Bürgermeister Ulf Hangert, bei den Teilnehmern der Diskussionsrunde, bei Herrn Dr. Stephan Ackermann, Bischof des Bistums Trier, bei Herrn Peter Adrian, Präsident der IHK Trier, bei Herrn Prof. Dr. Michael Jäckel, dem Präsidenten der Universität Trier, bei Herrn Mathias Wais, Leiter der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche, Erwachsene in Dortmund und natürlich auch bei dem Moderator der Gesprächsrunde Herrn Dr. Martin Thomé aus dem Ministerium für Bildung und Forschung, der diese Gesprächsreihe schon seit ihrer Gründung im Jahre 2008 begleitet. Ihnen allen Dank für die Teilnahme an den 3. Kueser Gesprächen. Ein ganz besonderer Dank gilt auch der Konrad-Adenauer-Stiftung, die diese Veranstaltung mit organisiert und auch unterstützt hat. Und last, but not least möchte ich im Namen aller dem Gesangsensemble Cantilena für den musikalischen Rahmen dieses Abends einen herzlichen Dank aussprechen. Licht: Es soll und wird auch nicht unsere Aufgabe hier sein, eine Diskussion oder einen Gesamtvortrag jetzt hier zusammenzufassen, vielmehr wollen wir Sie lieber auffordern für das Thema Bildung als freiheitlichen Baustein unserer Gesellschaft weitere geschützte Räume zu suchen, um nicht oberflächlich zu bleiben. Der Ausdruck „geschützte Räume“ kann ja im übertragenen und cusanischen Sinne vielfältig gemeint sein und für Sie alle gelten. Eine sich erneuernde Wertediskussion muss gerade in der Öffentlichkeit und durch Öffentlichkeit die fünfte These zu den diesjährigen Kueser Gesprächen im Blick halten, und ich erinnere noch einmal daran. „Bildung“, so heißt es dort, ich zitiere, „Bildung bedarf einer intellektuellen Redlichkeit“. Und die braucht es in der Betrachtung, in der Bewertung einer Zeit, die durch immer schneller aufeinander folgende Ereignisse geprägt ist. Und wir haben es ja gehört, die Befähigung, die richtigen Fragen zu stellen, die ist im Zentrum, ja im Mittelpunkt zu halten. Meine Damen und Herren, wir, die Kueser Akademie für europäische Geistesgeschichte in Bernkastel-Kues mit allen ihren nationalen und internationalen Mitgliedern, laden Sie mit unseren weiteren Programmen, Veranstaltungen auch künftig herzlich ein, diesen Prozess von Bildung weiter zu verstehen und zu gestalten, sei es als Gast, sei es als Mitglied. Ich bedanke mich, dass Sie hier waren.

Schlussworte

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Port: Und damit sind wir fast am Ende des heutigen Abends. Ich darf mich bei Ihnen allen für Ihr reges Interesse an den 3. Kueser Gesprächen bedanken, freue mich, dass Sie heute Abend so zahlreich erschienen sind und möchte abschließend noch einen Hinweis, einen kleinen Ausblick auf die Fortsetzung der Kueser Gespräche geben. Das Jahr 2014 ist aus der Sicht der Stadt Bernkastel-Kues, dem Geburtsort von Nikolaus von Kues, und natürlich auch aus der Sicht der Menschen, die sich mit Cusanus beschäftigen, die seine Werke erforschen und die sein kulturelles und geistiges, vielleicht auch spirituelles Erbe verwalten, pflegen oder weitergeben, ein besonderes Jahr. In diesem Jahr jährt sich zum 550. Mal der Todestag des großen Kardinals. Es ist beabsichtigt, Ende Mai 2014 einige Tage Nikolaus von Kues zu widmen, ähnlich wie es zu seinem 600. Geburtstag der Fall war, angemessen im Sinne des großen Philosophen. Dies würde auch dem wachsenden Kulturtourismus dieser Stadt und dieser Region entgegenkommen. Es ist naheliegend, dass wir die 4. Kueser Gespräche in den zeitlichen Rahmen dieser Feierlichkeiten einbetten. Freuen wir uns daher alle gemeinsam auf die nächsten Kueser Gespräche im Jahre 2014 zu einem anderen aktuellen Thema oder einer anderen Fragestellung übergeordneter Bedeutung für Kultur, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, wie immer mit Blick auf das geistige Vermächtnis des großen Philosophen und seiner möglichen Antworten und möglichen Handlungsperspektiven auf die wesentlichen Fragen und Probleme unserer Zeit. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Alexander Licht, MdL, Vorsitzender der „Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte e.V.“ Wolfgang Port, Stadtbürgermeister von Bernkastel-Kues

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Alexander Licht / Wolfgang Port

Stadtbürgermeister Wolfgang Port während des Schlusswortes

Literatur zu den „Kueser Gesprächen“ Dokumentation der Kueser Gespräche Europa gestalten. Das Erbe des Nikolaus von Kues. Herausgegeben von Ulf Hangert, Bürgermeister der Verbandgemeinde Bernkastel-Kues, Wolfgang Port, Stadtbürgermeister von BernkastelKues, und Karl-Heinz B. van Lier, Konrad Adenauer-Stiftung. Aschendorff Verlag, Münster 2008. Der Frieden im Glauben – heute? Das Erbe des Nikolaus von Kues. Herausgegeben von Ulf Hangert, Bürgermeister der Verbandgemeinde Bernkastel-Kues, Wolfgang Port, Stadtbürgermeister von BernkastelKues, und Karl-Heinz B. van Lier, Konrad Adenauer-Stiftung. Aschendorff Verlag, Münster 2012.

Veröffentlichungen zu den Kueser Gesprächen Schwaetzer, Harald und Zeyer, Kirstin [Hgg.]: Das europäische Erbe im Denken des Nikolaus von Kues. Geistesgeschichte als Geistesgegenwart. Münster 2008. [Vorbereitungsband zu den 1. Kueser Gesprächen] Coincidentia. Zeitschrift für Europäische Geistesgeschichte 1 (2011), Heft 1. [Vorbereitungsband zu den 2. Kueser Gesprächen] Werte-Bildung in Europa. Hrsg. v. H. Schwaetzer u. M. Vollet. Coincidentia. Zeitschrift für Europäische Geistesgeschichte. Beiheft 1. Münster 2012 [Vorbereitungsband zu den 3. Kueser Gesprächen] Weitere Veröffentlichungen unter www.kueser-akademie.de

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Literatur

Bestellungen im Buchhandel oder unter www.kueser-akademie.de / [email protected]

Bildung * Thesen zu den 3. Kueser Gesprächen Diese vorläufigen Thesen wollen nicht als Appell an „die Gesellschaft“ verstanden sein, sondern als zur Diskussion gestellte Handlungsideen. Bildung bedarf keines Programms, sondern der Begegnung, die zum Wandel führt. 1. Bildung als gemeinsame Entwicklung von Menschen miteinander braucht geschützte Räume, in denen je und je das rechte Maß zwischen Offenheit zur Welt und Rücksicht auf leiblich-seelisch-geistiges Werden in die Balance gebracht wird. 2. Bildung ist nicht bloßer Erwerb kognitiver Inhalte und Kompetenzen, sondern mehr noch eine Gestaltungsfähigkeit künstlerischer Art. Nicht sie wird von wirtschaftlichen Werten bestimmt, sondern diese ergeben sich umgekehrt aus dem Bildungsgeschehen. 3. Bildung vollzieht sich als soziales und verantwortetes Geschehen; die Fähigkeit verbindlichen „Spielens“ – auf allen Ebenen des Menschseins als Selbstbildungsfähigkeit in möglicher, Sorgfalt walten lassender und demütiger Beziehung zu Mitmensch, Mitwelt, Mitgeist – ist genuiner Ausdruck der kreativen, gewissensbildenden Bildnatur des Menschen. 4. Bildung ist ein freier individueller Prozess, der auf Gemeinschaft und (bewusst gepflegte) Geistesgeschichte angewiesen ist. Bildungsinhalte geben die Möglichkeit, die je individuelle existentielle Frage im sich biographisch ändernden Spannungsfeld von produktiver Traditionsaneignung und kreativer Innovation angemessen zu formulieren. 5. Bildung bedarf einer intellektuellen Redlichkeit – eine Eigenschaft, die auch mit Offenheit, Vertrauen und Liebe verbunden ist. Intellektuelle Redlichkeit ist stets neu verstehende geistige Bildfähigkeit. * Es handelt sich um einen Wiederabdruck aus: Werte-Bildung in Europa. Hrsg. v. H. Schwaetzer u. M. Vollet. Coincidentia. Beiheft 1. Münster 2012, 11f.

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Thesen

6. Bildung als intellektueller Verstehensakt ist ein soziales Geschehen. Das gemeinsame Gespräch und die Bildung eines gemeinsam eröffneten Erkenntnisraumes zu erlernen und zu erfahren erlaubt Begegnungseinsichten, die ansonsten verschlossen bleiben. 7. Bildung ist – das Wort im cusanischen Sinne genommen – ‚sammelnde’ Biographie, verstanden als Zusammenwirken zeitlicher Entwicklung und seelisch-geistiger Anagogik in einem geistig-kulturellen Umraum. Prof. Dr. Karl-Heinz Brodbeck, Würzburg Prof. Dr. Erwin Dirscherl, Regensburg Prof. Dr. Silja Graupe, Alfter / Bernkastel-Kues Prof. Dr. Jochen Krautz, Alfter Prof. Dr. Johann Kreuzer, Oldenburg Prof. Dr. Jorge M. Machetta, Buenos Aires Prof. Dr. Wolfgang Christian Schneider, Hildesheim Prof. Dr. Claus-Artur Scheier, Braunschweig Dr. Christian Schumacher, Cartagena Prof. Dr. Harald Schwaetzer (Redaktion), Alfter / Bernkastel-Kues Prof. Dr. Henrieke Stahl, Trier / Bernkastel-Kues Dr. Matthias Vollet, Bernkastel-Kues / Mainz

HARALD SCHWAETZER

Cusanische Bildung * Auf einer Brücke über den Tiber steht im Rom des Jubeljahres 1450 ein Philosoph; er schaut voller Aufmerksamkeit und Erstaunen auf den Trubel der Besucher, die nach Rom gepilgert sind. Ihn zieht ein Gelehrter ins Gespräch, sich seinerseits über das Verhalten des Philosophen wundernd. Gemeinsam reden sie über die Unsterblichkeit der Seele, mehr und mehr das Bild der Menge aus den Augen verlierend. So lässt Nikolaus einen seiner berühmtesten Dialoge, nämlich Idiota de mente, beginnen. Das gewählte Eingangsbild ist nichts weniger als zufällig. Vielmehr zeigt der Fortgang des Gespräches, was Cusanus zum Ausdruck bringen möchte. Die beiden Denker beschließen, auf Vorschlag des Gelehrten, ihr Gespräch an einem anderen Ort fortzusetzen, einem Ort, an dem sie einen „Idiota“, einen Laien, antreffen, der in dem Rufe steht, weise zu sein. Da der Philosoph ein Mensch ist, der begierig danach ist, im Austausch mit anderen sich selbst zu entwickeln, folgt er dem Gelehrten bereitwillig. Die beiden kehren dem Trubel den Rücken und begeben sich in ein tiefer gelegenes Gemach, welches an einer besonderen Stelle steht: „Sie stiegen nahe beim Tempel der Ewigkeit in einen kleinen unterirdischen Raum hinab.“1 Diese kleine Szene vermag im Sinne des Cusanus einen ersten grundlegenden Zug von Bildung zu beleuchten. Obwohl es selbstverständlich notwendig und wichtig ist, dass Bildung im Kontext und in Auseinandersetzung mit Welt geschieht, braucht es dafür doch einen Raum, um sich zurückzuziehen. Denn nur an einem geschützten Ort kann sich ein intimes Gespräch entfalten, welches Einsichts- und Bildungsprozesse der Gesprächsteilnehmer in Gang setzt. Nikolaus stilisiert diesen Raum als unterirdisches Gemach beim Tempel der Ewigkeit und evoziert so eine für das Denken der Renaissance typische Vorstellung: die Grabkammer beim antiken Tempel, in welche der Einzuweihende gelegt wurde, um eine Erfahrung der Ewigkeit, der Unsterblichkeit der Seele, zu machen. * Es handelt sich um einen Wiederabdruck aus: Werte-Bildung in Europa. Hrsg. v. H. Schwaetzer u. M. Vollet. Coincidentia. Beiheft 1. Münster 2012, 13-24. 1 De mente c.1 (h ²V n.54).

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Thesen

Dabei geht es aber Nikolaus mit einer solchen Initiationsanspielung gerade nicht mehr darum, sich in einem esoterischen Geheimkult vollständig abzugrenzen von der Welt. Wenngleich er seinen Laien sagen lässt, dass dieser seine Geheimnisse keinem Unkundigen so einfach eröffnen darf, 2 gestaltet Nikolaus das Gespräch so, dass nicht einfach der Philosoph, der sich bilden will, und der Laie, der ihm Lehrer ist, miteinander sprechen, sondern dass als drittes der Gelehrte – der Vertreter der aktuellen, neuen Wissenschaft des 15. Jahrhunderts mit dabei ist. So erzeugt Nikolaus literarisch einen Raum für Bildung, der auf der einen Seite so geschützt ist, dass er Entwicklungen und Reifungen erlaubt, aber doch auch die nötige Offenheit für die je gegenwärtige Welt mit sich bringt, damit diese Entwicklung im Zusammenhang mit ihr bleibt. Daraus ergibt sich eine erste These: 1. Bildung als gemeinsame Entwicklung von Menschen miteinander braucht geschützte Räume, in denen je und je das rechte Maß zwischen Offenheit zur Welt und Rücksicht auf leiblich-seelisch-geistiges Werden in die Balance gebracht wird. Das Bild, welches sich dem in den Bildungsraum eintretenden Philosophen und seinem Begleiter bietet, ist gleichfalls sprechend: „Und als sie nahe bei dem Tempel der Ewigkeit in einem bestimmten unter der Erde gelegenen Raum hinabstiegen, spricht den aus Holz einen Löffel schnitzenden Idiota der Redner folgendermaßen an“. 3 Die scheinbar einfache Szene verrät erneut sehr viel über den Bildungsbegriff bei Nikolaus. Herabgestiegen in die „geistige Unterwelt“, schämt der Gelehrte sich des Laien, weil der Philosoph ihn bei einer so niederen Tätigkeit wie dem Schnitzen eines Löffels erblickt. Der Laie bemerkt nur trocken: „Ich beschäftige mich gern mit diesen Übungen, denn sie nähren Körper wie Geist unaufhörlich.“ Ein erstes wichtiges Stichwort dieser Antwort ist die „Übung“. Bildung ist keine Frage einer bloßen Erkenntnis. Inhalte zu wissen ist kein Zeichen von Bildung. Vielmehr werden Inhalte durch Übung zu Fähigkeiten: Der Laie kann Löffel schnitzen. Es kommt auch nicht darauf an, eine Einsicht einmal zu gewinnen, sondern gerade in dem wiederholten Tun desselben, das keinen kognitiven Nutzen bringt – ist der Satz des Pythagoras verstanden, so ist er verstanden –, liegt 2 3

Vgl. De sapientia (h ²V n.5). De mente c.1 (h ²V n.54).

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im eigentlichen Sinne der Übungsaspekt. Nicht das Wissen, sondern das Nähren von Körper und Geist, also ein durch Übung sich vollziehendes Lebendigwerden ist es, was Nikolaus vor Augen steht. Ein solches Wachstum durch Übung ist zudem etwas, was in gleicher Weise Leib und Geist betrifft. Übung, so verstanden, meint also einen künstlerischen Prozess, insofern auch die künstlerische Tätigkeit Materie und Geist gleichermaßen erübt. Im weiteren Verlauf des Gesprächs wird ersichtlich, wie kompliziert der Prozess des Löffelschnitzens ist. An ihm entzündet sich die Frage nach dem Sein der Idee des Löffels und danach, ob sie im göttlichen Geist ein Urbild hat oder allein im Geiste des Künstlers entsteht. Der Laie zeigt, wie an den Flächen eines Löffels, dessen Holz entsprechend poliert ist, alle möglichen Formen von planen, konkaven und konvexen Spiegeln erscheinen und führt so in ein erkenntnistheoretisches und anthropologisches Herzstück der cusanischen, aber auch der Renaissance-Philosophie überhaupt ein. Das Löffelschnitzen erweist sich also nicht als eine einfache, primitive handwerkliche Tätigkeit, sondern im Gegenteil als eine solche, in der praktische Erdzugewandtheit und spekulative Höhe koinzidieren. Wie nebenbei erwähnt der Laie, dass er durch solche Betrachtungen und Übungen nicht nur philosophische Übung mit sich selbst betreibe, sondern auch noch seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf der geschnitzten Löffel verdiene. Das Verhältnis von Ökonomie und Bildung ist damit klar bestimmt. Bildung ist nicht für die Ökonomie dar, sondern Bildung bestimmt die Voraussetzungen und den Raum ökonomischen Handelns. Bildung ist also nicht der Erwerb von Kompetenz zur Anpassung an wirtschaftliche Strukturen, sondern sie ist zuständig für die Wertebildung in der Gesellschaft und damit auch in der Ökonomie, für die Reflexion derselben und ihres Geltungsrahmens. Daraus lässt sich insgesamt als zweite These formulieren: 2. Bildung ist nicht bloßer Erwerb kognitiver Inhalte und Kompetenzen, sondern mehr noch eine Gestaltungsfähigkeit künstlerischer Art. Nicht sie wird von wirtschaftlichen Werten bestimmt, sondern diese ergeben sich umgekehrt aus dem Bildungsgeschehen. Die künstlerische Gestaltungsfähigkeit des Löffelschnitzens ist bei Cusanus ein Bild der kreativen Leistung des Menschen überhaupt. Nikolaus von Kues betont immer wieder die kreative Kraft der menschlichen Kunsterzeugnisse. Dabei geht es nicht nur um Gebrauchsgegenstände wie Löffel, sondern auch immer um deren Möglichkeit, eine Übungsform geistiger Betrachtung zu bieten. Ein besonderes Beispiel für diese

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Thesen

Form stellt das Globusspiel dar, welches Cusanus in der gleichnamigen Spätschrift vorstellt. Das Globusspiel besteht aus einem Spielfeld mit neun konzentrischen Kreisen. Die Kreise symbolisieren die Sphären oder Ordnungsstrukturen der Welt im Ganzen. Sie können in vielfacher Weise gedeutet werden. Geht es um die geistige Ordnung, so symbolisieren die neun Ordnungen die neun Hierarchien der drei Engelschöre, wie sie Cusanus aus dem Dionysius Areopagita zugeschriebenen Werk kannte. Sie können aber auch die Stufen menschlicher Vermögen darstellen. Zweiter Bestandteil des Spieles ist eine Kugel, die an einer Stelle ausgehöhlt ist, so dass sie nicht gerade rollt, sondern spiralförmig. Ziel des Spieles ist es, diese Kugel in das Christus repräsentierende Zentrum rollen zu lassen. Angesichts der zwar „gesetzmäßigen“, aber nicht „vorhersehbaren“ Bahn der Kugel ist das Gelingen des Wurfes weder durch Absicht erreicht noch durch Zufall zustande gekommen. 4 An diesem eigentümlichen Dritten zwischen Absicht und Zufall wird deutlich, weshalb Nikolaus dem Spiel eine „vis mystica“ zuspricht, eine mystische Kraft. 5 Das Spiel selbst ist ein Geschehen, welches der Übung bedarf, damit es nicht Zufall bleibt. Es ist auch nur dann ein rechtes Spiel im Cusanischen Sinne, wenn man es nicht einfach trivial, unverbindlich spielt, sondern wie im Falle des Löffels weiß, was man spielt. Im Unterschied zum Löffel ist der Spielgegenstand hier die menschliche Seele selbst, die sich mit ihrer „Delle“ je und je neu in die Welt begibt. Spielen im cusanischen Sinne ist also nur eine sinnvolle Tätigkeit, wenn es als soziales Geschehen mit Verantwortung verstanden wird. Meine Selbstbildung in und durch die Welt tritt so in eine mögliche, immer anders sich vollziehende Beziehung zur Welt. Dabei meint Welt den ganzen Raum der Begegnung: mit Menschen, mit Natur, mit Kultur, mit Geistigem, mit Gott. Eine solche Selbstbildung, die im verantworteten „Spiel“ erübt wird, bedarf gerade deswegen auch der Selbstrücknahme. Selbstbildung ist kein egoistisches Geschäft, keine Spielerei, sondern vollzieht sich genau dort, wo in Sorgfalt mit der Welt umgegangen wird und wo der eigene Anspruch in Demut von der Würde des Anderen zurücksteht. Die feine Dialektik von Freiheit und Gehorsam, die Nikolaus von Kues in seinem Werk entwickelt, hat hier ihren Ort. Die Selbstbildefähigkeit zu betonen heißt nicht, die Welt dem Menschen als Spielzeug zur Ausü4 5

De ludo globi (h IX n.55). Ebd. n.54.

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bung egoistischer Willkür zu überlassen. Gerade die „vis mystica“ des Spieles lässt aus den Eigenschaften wie Demut und Sorgsamkeit eine immer feinere Bildung des Gewissens möglich werden. 3. Bildung vollzieht sich als soziales und verantwortetes Geschehen; die Fähigkeit verbindlichen „Spielens“ – auf allen Ebenen des Menschseins als Selbstbildungsfähigkeit in möglicher, Sorgfalt walten lassender und demütiger Beziehung zu Mitmensch, Mitwelt, Mitgeist – ist genuiner Ausdruck der kreativen, gewissensbildenden Bildnatur des Menschen. Die Überlegungen zum Globusspiel machen deutlich, dass für Nikolaus der existentielle Selbstvollzug eines Menschen sowohl ein geistiger wie ein konkreter leiblicher oder weltlicher Akt ist. Sie lassen aber auch ein Herzstück seines Denkens anschaulich werden: Das „Ich“ des Menschen, welches sich selbst gestaltet, entwirft, bildet, ist nicht als von der Welt getrenntes Etwas zu denken. Für die menschliche Seele ist existentieller Selbstvollzug, so Nikolaus, gebunden an die Erfahrung der Bezogenheit des individuellen „Ichs“ auf ein „Du“. „Ich“ und „Du“ stehen einander nicht gegenüber, sondern sind im strengen Sinne relationale Begriffe: Ein „Ich“ kann nur sein, wo ein „Du“ ist. Individualität ist nur als Sozialität realisierbar. Im Globusspiel wird diese Relationalität in der Sprache christlicher Tradition und Spiritualität in der Ausrichtung auf Christus und als Ausbildung einer „christiformitas“ beschrieben, wie sie exemplarisch Dürer in Anlehnung an Cusanus in seinem Selbstbildnis im Pelzrock von 1500 zum Ausdruck bringt. Die Relationalität von „Ich“ und „Du“ stellt den Bildungsprozess vor allem in zwei Bezüge: auf der einen Seite zu der jeweiligen Gemeinschaft, in der sich Bildung vollzieht, und auf der anderen Seite in die Tradition, aus der und mit der Bildung erfolgt. Die Bibliothek des Cusanus ist bis heute berühmt. Sie legt Zeugnis davon ab, wie konkret Nikolaus den kulturellen Reichtum der Tradition im Auge hat. Sein Bezug zu Meister Eckhart, um nur ein prominentes Beispiel zu nennen, bewahrte nicht nur dessen lateinische Predigten für das Abendland, sondern erlaubte Cusanus selbst, zu seinem eigenen Menschenbild zu finden. Gerade erst die bewusste Pflege des geistigen Erbes bringt den Schatz von Voraussetzungen, auf denen man ruht und die man, wenn man um sie weiß, wandeln kann, ans Licht. Dadurch wird möglich, was das Werk des Cusanus als Denkfigur immer wieder durchzieht: die produktive Aneignung der Tradition.

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Thesen

Produktiv ist eine Aneignung dann, wenn sie, wie Cusanus es vordenkt, durch Rückgriff auf die Tradition Ideen zum Umgang mit den Fragen der Gegenwart findet. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt, um das Verhältnis von produktiver Aneignung der Tradition und kreativer Innovation zu beschreiben. Nikolaus selbst zeigt sich bis 1440 in seinen Predigten bereits als ein Denker, der intensiv die Geschichte studiert. In diesem Jahr formuliert er seinen eigenen Grundgedanken der „docta ignorantia“. Damit beginnt die Phase der Innovation, ohne dass dabei die Aneignung überkommenen Gutes aufgegeben würde; im Gegenteil, bis an sein Lebensende müht sich der deutsche Kardinal darum, immer wieder neue Einblicke in die Tradition zu bekommen. Aber es wird an ihm sichtbar, dass Intensität vorheriger Aneignung die Kraft der Innovation verstärkt. Nikolaus selbst reflektiert an verschiedenen Stellen seinen Bildungsweg. So notiert er in der sehr späten Schrift De apice theoriae: „Je klarer die Wahrheit ist, desto einfacher ist sie. Ich habe einmal geglaubt, daß sie im Dunkel besser zu finden sei. Die Wahrheit ist von großer Mächtigkeit, gewaltig leuchtet in ihr das KönnenSelbst; sie ruft ja auf den Gassen, wie du in der Schrift vom Laien gelesen hast. Sicher und leicht läßt sie sich überall finden.“6 An dieser wie weiteren Bemerkungen wird deutlich, dass Nikolaus selbst sich am Ende seines Lebens an einer anderen Stelle sieht als noch in den Idiota-Schriften. Dieses Wachstum innerhalb einer Ich-Bildung ist für ihn entscheidend. Dazu gehört eine Balance zwischen Aneignung und Innovation, die sich im Laufe des Lebens immer neu austariert. Im Anfang wird die Aneignung überwiegen, um daran die Fähigkeiten zur Innovation zu entwickeln. Ein weiterer, entscheidender Punkt kommt hinzu. Nikolaus führt die Pointe von „De apice theoriae“ folgendermaßen ein: „Kardinal: Wenn der Apostel Paulus, in den dritten Himmel entrückt, den Unbegreiflichen noch nicht begreift, dann wird niemals irgend jemand von ihm, der größer ist als alles Begreifen, so erfüllt werden, daß er nicht ständig danach drängte, ihn besser zu begreifen. Petrus: Was suchst du also? Kardinal: Du sagst es richtig.“7 6 7

De apice theoriae (h XII n.5). Ebd. n.2.

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Der Gesprächspartner Peter von Erkelenz ist natürlicherweise irritiert über die Antwort. Er muss erst begreifen, dass Nikolaus seine Frage als Aussagesatz versteht, den man so übersetzen kann: „Das Was? suchst du“. Gerade angesichts des biographischen Rückblicks, der mit dieser Szene verbunden ist, wird man diese Äußerung auch so verstehen dürfen, dass es das Entscheidende ist, dass ein Ich seine ihm eigene Frage findet. Für Nikolaus war es das Erlebnis der „docta ignorantia“, was, wenn es eine reine Antwort gewesen wäre, weiteres Philosophieren überflüssig gemacht hätte. Die Erforschung dieser Idee ist indes die Lebensfrage des Cusanus geworden. Die in ihm brennende Lebensfrage ist das Lebenselixier der Bildung. Ihren Ausdruck findet sie in der Haltung des „fragenden Denkens“, das eine Antwort in eine neue Frage oder eine neue Fähigkeit verwandelt. Das Nadelöhr von Bildung liegt darin, das „Ich“ zu befähigen, zur Klarheit einer solchen Lebensfrage zu gelangen. Versteht sich das „Ich“ selbst als eine solche Frage, weiß es sich als „Ich“ in den verantwortlichen sozialen Raum von Geschichte und sozialer Gegenwart gestellt. Die spirituelle Dimension eines solchen Lebensweges mit einer Lebensfrage, wie sie das Zitat aus De apice theoriae mit dem Vergleich auf die Entrückung des Paulus bereits anklingen ließ, kleidet Nikolaus in Vom Gottsuchen mit Blick auf den Weg, den der Mensch im Geiste geht, in folgende Worte: „Wenn dieser von dir selbst durchwandert ist, wird es dein Weg sein, den du gut kennst und auf welchem du erfreut wirst ob seines Liebreizes und der reichlichen Früchte, die rings um ihn gefunden werden. Übe dich also in wiederholten Anstrengungen der aufschauenden Gottesbetrachtung, und du wirst Nahrung finden, die dich auf deinem Weg wachsen lässt und stärkt und dich von Tag zu Tag mehr in deiner Sehnsucht entflammt. Denn unser vernunfthaft einsehender Geist trägt die Kraft des Feuers in sich. Zu nichts anderem ist er von Gott auf die Erde gesandt worden, als zu erglühen und zur Flamme zu wachsen.“8 Auf diesem Hintergrund ergibt sich als vierte These: 4. Bildung ist ein freier individueller Prozess, der auf Gemeinschaft und (bewusst gepflegte) Geistesgeschichte angewiesen ist. Bildungsinhalte geben die Möglichkeit, die je individuelle existentielle Frage im sich biographisch ändernden Spannungsfeld von produktiver Traditionsaneignung und kreativer Innovation angemessen zu formulieren. 8

De quaerendo Deum (h IV n.43).

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Die stete produktive Ausgestaltung der Lebensfrage führt Nikolaus zu einer spezifischen Innovation in der produktiven Umwandlung der Tradition: seine Idee der „Aenigmata“. Cusanus löst die Spannung zwischen dem Verstehen Gottes und seiner prinzipiellen Unerkennbarkeit dadurch, dass er auf die Bildhaftigkeit des Intellekts rekurriert. Ein Bild kann leistungsfähiger sein als Begriffe, weil es unendliche Bezüge auf einen Blick überschaubar werden lässt, aber es verweist zugleich darauf, dass es als Bild Bild von etwas ist, das darin nur aufscheint, es aber nicht ist. Darüber hinaus versteht Cusanus die produktive Imagination so, dass es dem menschlichen Geist möglich ist, immer wieder neu ein immer tiefer verstandenes Gottesbild zu entwerfen. Cusanus nennt solche Bilder „Aenigmata“. Ein „Aenigma“, also ein Rätsel-, Sinn- oder Gedankenbild, ist zum Beispiel das Wort-Bild des „non aliud“, aber auch das Globusspiel oder der Löffel können als spezifische „Aenigmata“ verstanden werden. Entscheidend ist, dass der Geist des Menschen immer wieder neu solche Frage-Bilder bilden kann. Zudem kann er begreifen, dass er auch vor der Aufgabe steht, derartige Bilder zu schaffen. Denn die Erkenntnis von gestern trifft nicht mehr die Wirklichkeit von heute – schon gar nicht, wenn es sich um lebendige Wesen handelt. In jeder Begegnung muss „Ich“ „mir“ ein neues Bild von einem „Du“ bilden, weil wir beide andere geworden sein können und die Situation eine andere ist. Produktive Imagination als Fähigkeit zur Wirklichkeitswahrnehmung bedarf also der Offenheit für ein Gegenüber, aber auch der wirklichen Zuwendung und Wahrnehmung; sie ist das Gegenteil zu einer Haltung, die in ihren eigenen Vorstellungen und Bildern verhaftet bleibt, weil sie diese, aber nicht mit und durch sie sieht. Darüber hinaus muss ich mich stets einlassen – auf meine Selbstveränderung, auf den Anderen, die Situation. Stets die eigene Existenz aufgeben zu können, um existieren zu können, wäre, in Anspielung auf ein Goethe-Wort, die Formel nicht nur für einen Lebens-, sondern auch für einen Erkenntnisvollzug. Fasst man die geschilderte Haltung unter dem Begriff der intellektuellen Redlichkeit, so kann formuliert werden: 5. Bildung bedarf einer intellektuellen Redlichkeit – eine Eigenschaft, die auch mit Offenheit, Vertrauen und Liebe verbunden ist. Intellektuelle Redlichkeit ist stets neu verstehende geistige Bildfähigkeit. Die aenigmatische Erkenntnisform verweist auf eine weitere Dimension, die ihr innewohnt: die soziale. Für Antike und Mittelalter noch geläufig, heute eher zurückgetreten, ist die Erkenntnis, dass Einsicht von morali-

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schen Qualitäten abhängt. In einer lateinisch doppelsinnigen Wendung kann Nikolaus das Gewissen als „intellektuelles Ohr des Geistes“ bzw. als „Ohr des intellektuellen Geistes“ bezeichnen. 9 Während die aenigmatische Bildgestaltung zunächst im Bild bleibt, hört das Gewissen in diesem Sinne das Wort Gottes. Dadurch rückt das geistige Verstehen in die Dimension eines realen Wesensbezugs. Die Ausbildung eines solchen ‚Ohr des Gewissens’ mit Blick auf eine Gemeinschaft lässt deutlich werden, dass Bildungsprozesse, auch als Einsichtsprozesse, durch Sozialität eine andere Qualität erhalten können. Das berühmteste Beispiel aus dem Werk des Cusanus, welches diesen Sachverhalt illustriert, ist sicherlich das Experiment, welches er die Mönche vom Tegernsee vor einer allsehenden Christus-Ikone durchführen lässt. Zunächst wird den im Halbkreis um das Bild stehenden Mönchen auffallen, dass das Bild alle und jeden einzeln anblickt. Um diesen eigentlich in der gewohnten Erfahrung nicht möglichen Fall zu prüfen, soll als nächstes der Bruder aus dem Osten in den Westen gehen, um auch dort zu erfahren, dass er angeblickt wird. Wie verhält es sich mit dem „Dazwischen“ seiner Bewegung? Der unbewegliche Blick bewegt sich, wird der Mönch im dritten Experiment erfahren. Und dieses gilt auch für die gegenläufige Bewegung, lehrt das vierte: Denn wenn der Mönch einen Bruder bittet, von Osten nach Westen zu wandern, während er selbst von Westen nach Osten geht, werden sie bemerken, dass auf beide der unbewegliche Blick des Bildes ständig gerichtet ist. Aber gerade die letzte Einsicht kann nur auf einer bestimmten Voraussetzung gewonnen werden: Der eine muss es dem Wort des anderen glauben, und auf dieser Voraussetzung gelangen sie miteinander zu einer Einsicht, die sie alleine nicht erwerben könnten. Von der Idee des „Ich“ als eines relationalen Wesens aus gedacht, wird aus dem cusanischen Experiment einsichtig, dass, was oben als „meine“ Lebensfrage formuliert war, wiederum etwas ist, was nur „meine“ Frage ist, wenn es zugleich auch als Frage im „Du“ des Gegenübers und im „Du“ der Tradition lebt. Für Bildungsprozesse, die zu Einsichten führen, ist somit das Gespräch – die Begegnung – die Bildung eines gemeinsamen Erkenntnisraumes, der es erlaubt, gemeinsam eine Frage oder eine grundlegende Erweiterung zu gewinnen, in der eine Gemeinschaft intellektueller Geister ihre Gewissen als Ohren der Erkenntnis benutzt.

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Sermo 186 n.5: „conscientia, quae est auris intellectualis spiritus“.

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Thesen

6. Bildung als intellektueller Verstehensakt ist ein soziales Geschehen. Das gemeinsame Gespräch und die Bildung eines gemeinsam eröffneten Erkenntnisraumes zu erlernen und zu erfahren erlaubt Begegnungseinsichten, die ansonsten verschlossen bleiben. In der Summe wird am cusanischen Bildungsbegriff eine besondere Dimension erkennbar. Während die Gegenwart dazu neigt, wenn sie Biographie überhaupt vom Entwicklungsgedanken her liest, in ihr einen zeitlichen Ablauf zu sehen, kennen Antike und Mittelalter in diesem Sinne Biographie kaum. Wenn in diesen Zeiten ein Entwicklungsgedanke gedacht wird, dann ist er ein Entwicklungsweg auf Gott oder Geistiges hin. Anagogie wird die Idee eines Hinaufgeführtwerdens und zugleich aktiven Aufsteigens zum Geist genannt. Nikolaus greift die anagogische Entwicklung der Tradition auf und verknüpft sie mit einem biographischen Prozess. An vielen Stellen seines Werkes wird diese Geste sichtbar. Aber die beiden wesentlichen Ideen, die er diesbezüglich formuliert, sind diejenigen der „coniectura“ und des Aenigmas vom Beryll. „coniectura“, griechisch: „sym-bolon“, ist eigentlich die „Sammlung“, das „Zusammensammeln“. Insofern kann, um einen Buchtitel Inigo Bockens zu zitieren, die Philosophie des Cusanus als „Kunst des Sammelns“ verstanden werden. „Sammeln“ meint dabei aber weniger die Früchte des Sammelns als Ergebnisse, sondern die Tätigkeit des Sammelns. Bilder von etwas zu „sammeln“ bedeutet, von immer anderen Seiten aus und mit immer neuen Fähigkeiten und Möglichkeiten zu schauen. „Sammeln“ ist in diesem Sinne ein unabschließbarer Bildungsprozess. Eine „sammelnde“ Biographie beschreibt einen Entwicklungsprozess des Individuums, in dem Zeitlichkeit und Ewigkeit, biographische Wandlung und seelisch-geistige Anagogik eine Einheit bilden. Die Methode der „coniectura“ beschreibt Nikolaus später als das Schleifen eines Berylls, einer geistigen Brille. Weder das Anhäufen von Wissen als Vorstellungen, die ich mit mir herumtrage, noch das Übersteigen der Vorstellungen hin auf ein jenseitiges Geistiges, in dem das Ich verschwindet, ist für Nikolaus entscheidend. Sondern das stete Bilden von Vorstellungen, aber als stets neues Bilden derselben. Jede Vorstellung, die ich habe, ist, einmal gewonnen, ein Vorurteil, das als solches genommen den Blick auf die Wirklichkeit verstellt oder, als Fähigkeit zum neuen und besseren Hinsehen verstanden, mir diese tiefer erschließt. Die Vorstellung als der Ort des In-die-Erscheinung-Tretens oder des Leibwerdens des geistigen Wortes, um eine theologische Sprache zu verwenden, und die immer feinere Ausbildung dieser Gedankenleiblichkeit

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durch die Kreativität als biographisches Geschehen der Lebensrealität sind zentrale Zielpunkte des cusanischen Bildungsverständnisses. Biographie, die kein Bildungsgeschehen ist, obwohl ein solches möglich wäre, ist im Sinne des Cusanus keine Biographie, denn das produktive Ich und das produzierte Ich fielen nicht in der Vorstellungsbildung je neu ineins. Insofern lässt sich formulieren: 7. Bildung ist – das Wort im cusanischen Sinne genommen – ‚sammelnde’ Biographie, verstanden als Zusammenwirken zeitlicher Entwicklung und seelisch-geistiger Anagogik in einem geistig-kulturellen Umraum.

Zu den Personen Ackermann, Stephan Dr. Stephan Ackermann ist Bischof von Trier. Adrian, Peter Peter Adrian ist Präsident der IHK Trier und Sprecher der IHKArbeitsgemeinschaft Rheinland-Pfalz. Hangert, Ulf Ulf Hangert ist Verbandsbürgermeister von Bernkastel-Kues. Jäckel, Michael

Prof. Dr. Michael Jäckel ist Präsident der Universität Trier.

Licht, Alexander Alexander Licht ist Mitglied des Landtages von Rheinland-Pfalz und Vorsitzender der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte. Port, Wolfgang Wolfgang Port ist Stadtbürgermeister von Bernkastel-Kues. Schwaetzer, Harald Prof. Dr. Harald Schwaetzer lehrt Philosophie an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter und ist in der wissenschaftlichen Leitung der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte. Thierse, Wolfgang Dr. Wolfgang Thierse ist Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Thomé, Martin Dr. Martin Thomé ist im Ministerium für Bildung und Forschung tätig. van Lier, Karl-Heinz B. Karl-Heinz B. van Lier ist Landesbeauftragter der Konrad-Adenauer-Stiftung Wais, Mathias Mathias Wais ist Leiter der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Scharnhorst e. V., Dortmund.