Modelle des Erziehungsbegriffs: Einführung in pädagogisches Denken [Reprint 2014 ed.] 9783486599282, 9783486258868

das Anliegen des Buches besteht in erster Linie darin, die Bedeutungsvielfalt des Erziehungsbegriffs zu entzerren. Dazu

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German Pages 202 [206] Year 2001

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Modelle des Erziehungsbegriffs: Einführung in pädagogisches Denken [Reprint 2014 ed.]
 9783486599282, 9783486258868

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Hand- und Lehrbücher der

Pädagogik Herausgegeben von Dr. Arno Mohr Bisher erschienene Werke: Callo, Modelle des Erziehungsbegriffs Faulstich-Wieland, Individuum und Gesellschaft

Haefner, Gewinnung und Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse insbesondere für universitäre Studien-, Staatsexamens-, Diplom- und Doktorarbeiten Kammerl (Hrsg.), Computerunterstütztes Lernen May, Didaktik der ökonomischen Bildung, 3. Auflage

Schröder, Lernen Lehren Unterricht Schröder, Didaktisches Wörterbuch, 3. Auflage Werning Balgo Palmowski Sassenroth, Sonderpädagogik -

-

Modelle des

Erziehungsbegriffs Emfuhrung in pädagogisches Denken

Von Professor

Dr. Christian Callo

R.01denbourg Verlag München Wien

Die Deutsche Bibliothek CIP-Einheitsaufnahme -

Callo, Christian: Modelle des Erziehungsbegriffs : Einführung in pädagogisches Denken / Christian Callo. München ; Wien : Oldenbourg, 2002 (Hand- und Lehrbücher der Pädagogik) ISBN 3-486-25886-9

von

-

© 2002 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0

www.oldenbourg-verlag.de

Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.

Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier Gesamtherstellung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad

ISBN 3-486-25886-9

Langensalza

Inhaltsverzeichnis

Vorwort.

V

Kapitel I: Von der Pädagogik zum Erziehungsbegriff.

1

1.

Erwartungen an das Fach Pädagogik

2.

Propädeutische Elemente der Pädagogik. Das gestenreiche Gesicht der Pädagogik. Pädagogik als Lenksystem.

3. 4.

.

5. 4.

Erziehung als Sammelbegriff pädagogischer Beeinflussung. Erziehung als Verhaltensphänomen. Bilder und Vorstellungen der Erziehung. Grundbedingungen der Erziehung. Erziehung als existentielle Voraussetzung. Erziehung als Sozialisierung und Sozialisation. Erziehung als bewußt verantwortete Formung und Prägung im Rahmen von Lernen, Entwicklung und Bildung. Erziehung als Prozeß. Erziehung als Programm helfender Rücksichtnahme.

6.

Protagonisten des Erziehungsbegriffs.

5.

5.1. 5. 2.

5.3. 5.3.1. 5.3.2. 5. 3. 3. 5. 3. 4.

Kapitel II: Erziehung im Rahmen von Wissenschaft und Theorie

.

1

3 6 11

13 13 16 17

17 18 19 20

22 25

31

1.

Wissenschaft und Theorie als formale

1.1. 1.2.

Wissenschaftsgrundlagen. Wissenschaftstypologie.

32

2.

Wissenschaftsmethodologie.

34

2.1.

Naturwissenschaftliche Erkenntnismethoden.

35

2.2.

Geisteswissenschaftliche Erkenntnismethoden.

37

3.

Theoriegrundlagen. Erziehungstheorien als Erklärungs- und Verstehensversuche. Erziehungstheorien als Wissensmodule.

41

Erziehungstheorien sprachliche Denkgebilde. Erziehungstheorien als Aussagensysteme. Erziehungstheorien als ethische Konstrukte.

43

3. 1. 3. 2. 3.3.

3. 4. 3.5.

als

Bezugssysteme. 31 32

41 42 45 47

II

4. 2.

Theorientypologie. 48 Orientierung an Zuordnungsformen. 48 Orientierung an inhaltlichen Positionen. 50

5.

Wissenschaftsstreit in der Erziehungswissenschaft.

52

5.1.

Allgemeine Positionen der Kontroverse. Argumente des Pro und Kontra. Bezug der Kontroverse zur Erziehungswissenschaft. Handlungswissenschaft als Synthese.

52

55

6. 4.

Forschungsergebnisse zum Erziehungsbegriff. Ergebnisse aus der Anthropologie. Ergebnisse aus der Psychologie. Ergebnisse aus der Soziologie. Ergebnisse der Philosophie.

6. 5.

Wissenschaft der Sozialen Arbeit.

59

6. 6.

Zusammenfassung.

59

Kapitel III: Hauptmodelle des Erziehungsbegriffs.

63 63

1.1.

Erziehung als Enkulturationshilfe. Begriffsklärung.

1.2.

Basis und Struktur.

64

1.3.

Kurzes Resümee.

75

1. 4.

Kritische

Stellungnahme.

76

2.

Erziehung als Emanzipationshilfe. Begriffliches Umfeld. Emanzipation als programmatischer Entwurf. Von der Autonomie zur Emanzipation. Topographie des gegenwärtigen Emanzipationsbegriffs. Theorie der emanzipatorischen Pädagogik. Philosophische Grundlagen der Emanzipation. Grundlagen des emanzipatorischen Erziehungsbegriffs. Auswirkungen des Emanzipationsbegriffes auf pädagogische Strömungen. Konkretionsversuche emanzipatorischer Pädagogik. Kritische Betrachtung.

78

4. 4. 1.

5.2. 5.3. 5. 4. 6. 6.1. 6. 2.

6.3.

1.

2. 1. 2.2.

2.3. 2. 4. 2. 5. 2.5.1.

2. 5. 2. 2. 5. 3.

2.6. 2.7.

Klassische

53 54 55

55

56 58 58

63

78 81 81

83 87 87

93 98

100 103

III

3.

Erziehung als Identitätshilfe.

106

3.1.

106

3.2.

Begriffs-und Bedeutungsumfeld der Identität. Bezugsfelder des Identitätsbegriffs.

3.3.

Theorien der Identität.

113

110

3.3. 1. Zur Identitätstheorie des Behaviorismus und des strukturellen

Funktionalismus.

113

psychoanalytischer Sicht.

114

3.3.3. Zur Identitätstheorie des Interaktionismus.

115

Allgemeine Ansätze einer pädagogischen Identitätshilfe. Therapeutische Erziehungsansätze.

117

3.5.1. Identitätshilfe durch Verhaltensmodifikation.

120

3.5.2. Identitätshilfe durch psychoanalytische Rekonstruktion.

122

3. 5. 3. Identitätshilfe nach dem Interaktionismus.

125

3. 6.

Pädagogische Praxismodelle der Identitätshilfe.

126

3.7.

Zusammenfassung und Kritik.

128

Kapitel IV: Netzwerk des Erziehungsbegriffs.

130

Systemisches Denken als Bezugssystem. Distanz als systemische Forderung. Mehrdimensionalität als Merkmal systemischer Sichtweisen der Erziehungspraxis.

130

3.3.2. Zur Identitätstheorie 3.4.

3.5.

1. 1.1. 1. 2.

aus

119

133

137

2.

Voraussetzungen des Systembegriffs. 140

2. 1.

141

2.3.

Systemqualität. Systemregelungen. Problemzonen des Systemischen.

3.

Bausteine

154

3.1.

systemischer Pädagogik. Erziehungsmodelle als Systemmodule.

3.2.

Modulkombinationen. 157

3.3.

Übersicht. 159

3.4.

167

3.5.

Erziehungsmodelle als Handlungsnetzwerke. Erziehungsmaßnahmen als vernetztes Handeln.

3.6.

Professionelle

Erziehung als kompetentes Handeln. Systemische Erziehungsansätze. Systemische Konzeptionen und Projekte der Praxis.

172

2.2.

3.7.

3.8.

150 153

154

170 173 177

IV

3. 8. 1. Die integrative und partizipative Ausrichtung am Beispiel eines internationalen Familienzentrums. 3. 8. 2. Die sozial-politische Ausrichtung am Beispiel von Maßnahmen zur allgemeinen Gewaltprävention, an Maßnahmen von Kampagnen gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und an allgemeinen 3. 8. 3.

Erziehungsmaßnahmen. Die identitätsfördernde Ausrichtung am Beispiel der Elternarbeit im Rahmen der Heimerziehung eines SOS-Kinderdorfes.

177

179 185

Literatur. 186

Personenregister.

192

Sachregister.

194

Vorwort

Pädagogisches Handeln ist überall dort gefragt, wo Hilfen für Menschen bereitgestellt werden, deren Lebenssituation sich verändert. Die Ansätze dazu sind vielfältig. Sie umfassen Lern- und Entwicklungshilfen sowie Konzepte zur strukturellen Veränderung. Der Kernge-

danke aller Überlegungen und Bemühungen dabei macht immer einen Erziehungsbegriff notwendig, der Vorstellungen über Grundlagen, Ziele und konkrete Methoden der Förderung individueller und gesellschaftlicher Ressourcen enthält. Vorhaben in diese Richtung nehmen eine zentrale Stellung ein, sobald auch altersübergreifend Maßnahmen zur Überlebens- und Bewältigungsfahigkeit alltäglicher und gesellschaftlicher Anforderungen nachgefragt werden. An den Stellen, an denen pädagogische Anteile die Praxis tangieren, wird Erziehungskompetenz als professionelle Fähigkeit erforderlich. Ihr kognitives, instrumentelles und emotionales Können sowie ihre ethische Haltung bestehen darin, Lern-, Veränderungs- und Entfaltungsangebote für Menschen zu konzipieren und umzusetzen. Bei allen Realisierungen jedoch ist die pädagogische Verantwortung das Hauptprogramm, vor allem wenn es darum geht, Menschen zum eigenen und zum sozialen Wohl anderer in der richtigen Weise zu beeinflussen, wenn es notwendig ist, ihnen Lernangebote zu geben, die sie zu autonomem Mut und kritischer Distanz führen und zur Entdeckung eigener Ressourcen. Die nachfolgend dargestellten, den Erziehungsbegriff intern ordnenden Modelle entstammen der Pädagogik als Wissenschaft und als Praxis der Erziehung. Diese antwortet anteilnehmend und kritisch reflektierend auf die Herausforderungen wechselnder Lebenswelten und Lebenslagen von Lernenden und durch Lernprozesse sich entwickelnden Menschen. Nicht nur dort, wo Themen wie lebenslanges Lernen, Chancengleichheit, Autonomie und kritische Distanz relevant sind, sondern vor allem auch dort, wo die liebevolle Zuwendung die emotionale Stabilität fordern soll, um eine sinnerfüllte und glückliche Lebensgestaltung praktizieren zu können, sind Bildung, Mündigkeit und Person die Schlagworte des pädagogischen Auftrags. Die Anpassung an die Gesellschaft, die Befreiung von der Gesellschaft und die Entfaltung des Ichs, sind die großen Denk- und Handlungspfade der Erziehung. Orientierung durch Bildung, Selbstverwirklichung durch Autonomie sowie Stabilität durch Selbstwerterfahrung markieren die entsprechenden programmatischen Wege. Allein dadurch wird bereits sichtbar, wie viele Facetten der Einflußnahme auf das Individuum und die Gemeinschaft in der Idee der Erziehung stecken. Erziehung ist sowohl Prägungs- und Formungshilfe, als auch Hilfe zur Selbstbestimmung und zur Entwicklung der Person. Erziehung ist in ihrer praktischen Umsetzung Vermittlerin der Erziehungsideen und sie ist als Medium Lernorganisation, Bewußtseinsbildung und Entwicklungsförderung. So gesehen wäre das Geschäft mit der Erziehung vergleichsweise einfach, wenn sich hinter dieser Zuordnung nicht komplexe interdisziplinäre Systeme befanden, deren Interessen, Ziele, Methoden und Menschenbilder kontrovers sind und schwierige, sich oft auch gegenseitig attackierende Begrifflichkeiten erzeugen. Das Anliegen dieses Buches besteht daher in erster Linie darin, die Bedeutungsvielfalt des Erziehungsbegriffs zu entzerren. Dazu werden über klassische Ordnungsmodelle Hauptrichtungen beschrieben, die als Schneisen im pädagogischen Dickicht eine bessere Übersicht ermöglichen. Der Schwerpunkt der Erkenntnismethoden liegt überwiegend im Bereich der geisteswissenschaftlichen Begriffsanalyse und ist aus Gründen der Veranschaulichung mit kreativen und narrativen Ergänzungen verbunden.

VI

Erzieherische Beeinflussung als Enkulturations-, Emanzipations-, und Identitätshilfe zeigt die jeweiligen theoretischen und praktischen Voraussetzungen auf, wenn Interessen aus welchen Gründen auch immer Menschen in ein System hinein(er)ziehen oder sie aus ihm herausführen oder aber sie nur innerlich stärken wollen. Daß in der Praxis diese Hauptwege auch Verbindungslinien haben, zeigt die systemische Betrachtung einer triadischen Verknüpfung: Die Möglichkeiten, in die Welt optimal hineinzuwachsen, um Fähigkeiten zu erlangen, gesellschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden, sind zunächst mit Anpassung verbunden. Denn sie bietet Orientierung und Sicherheit. Die Chancen, sich vom Druck der Anpassung zu befreien, eröffnen demgegenüber Freiräume zur Selbstbestimmung. Sie zeigen die Veränderungsperspektiven auf. Dazwischen steht die Entwicklungskraft des Individuums, die den natürlichen Weg zu innerer Stabilität bereitet. Auf diese Weise sind alle drei Bereiche ele-

-

mentare

Gegenstände jedweder pädagogischen Konzeption.

Diesem Denkpfad folgt auch die Struktur des Buchs. Sie beginnt mit einer vorwissenschaftlichen Einführung in die Pädagogik, bevor die drei Hauptmodelle als generelle Zugrichtungen der Erziehung zum Netzwerk werden. Die eingefügten Exkurse dienen der Verdeutlichung, Weiterführung und Vertiefung der jeweiligen Thematik.

Kapitel I: Von der Pädagogik zum Erziehungsbegriff Die Pädagogik ist das theoretische Bezugssystem der charakteristischen Merkmale der Erziehung. Vorstellungen zum Verhältnis von Pädagogik und Erziehung können daher nicht ohne die Berücksichtigung einer Vernetzung beider Begriffe entwickelt werden. Der Weg dazu ist propädeutisch. Er beginnt mit dem Vorverständnis und den unspezifischen Alltagsbildern, die dem Begriff der Pädagogik innewohnen. Durch einen Rekurs auf Grundlagen und Hintergründe sei im Anschluß daran versucht, zu einer genaueren Strukturierung des Erziehungsbegriffs zu gelangen.

1.

Erwartungen an das Fach „Pädagogik"

Exkurs: Beginnen wir mit einem Gesprächsausschnitt zwischen einer Studentin der Sozialen Arbeit (A) und einem Studenten der Lebensmitteltechnologie (B). Beide studieren an einer Fachhochschule (in Bayern) und unterhalten sich über die zentralen Fächer ihres Studiums. A: „Nach dem Studium möchte ich im Bereich der Erziehungshilfen tätig werden. Nur, wenn ich den Fachausdruck Erziehungstheorie höre, macht sich bei mir eine chaotische Vorstellung breit. Ich weiß einfach nicht, was ein umfangreiches abstraktes Wissen über die Erziehung zur Lösung von konkreten Erziehungsproblemen beitragen kann, mit denen die Sozialarbeit konfrontiert ist." B: „Beruhige Dich! Auch ich habe eigentlich keine Ahnung, wozu das, was ich in meinem Studium lernen muß, für meinen späteren Beruf gut sein soll! Ich weiß z.B. nicht, warum ein Lebensmitteltechnologe physikalisch berechnen können muß, wohin sich ein Schlittschuhläufer auf einer reibungsfreien Eisfläche bewegt, wenn er seine Handschuhe auszieht und sie in eine bestimmte Richtung seiner Freundin zuwirft, die an den Händen friert. Das einzige, was ich weiß, ist die Tatsache, daß das ein schwieriges Problem ist." A: „Das kann schon sein. Trotzdem beschäftigst du dich wenigstens mit den Grundlagen einer Wissenschaft. Ich dagegen muß im Rahmen der Sozialen Arbeit vor allem von der Pädagogik eine Ahnung haben. Denn bei der Arbeit mit benachteiligten Menschen spielt die Erziehung eine ganz wichtige Rolle. Also brauche ich ein pädagogisches Grundwissen. Ich weiß nur leider immer noch nicht, wie man richtig erziehen soll, noch was die Erziehungspraxis innerhalb der Sozialen Arbeit richtig bzw. falsch macht. Wie soll ich da eine pädagogische Kompetenz erwerben?" B: „Ich kann dich da nur trösten. Anwendungsprobleme gibt es auch in den Naturwissenschaften." Brechen wir den Exkurs hier ab und stellen o o

o o

o

einige Fragen: Wozu brauchen wir Ihrer Meinung nach die Pädagogik ? Ist das pädagogische Fachwissen Voraussetzung für die Lösung eines pädagogischen Problems? Oder genügt der gesunde Menschenverstand? Was ist überhaupt ein pädagogisches Problem? Wenn sich Ihnen ein solches Problem stellt, würden Sie dann eher einen Psychologen, einen Pädagogen oder einen anderen Fachmann zu Rate ziehen? Was erwarten Sie sich von der Pädagogik ?

2

Modelle des

Erziehungsbegriffs

Exkurs: Bei der Beantwortung pädagogischer Fragen ist das Ringen um ein eigenständiges Verständnis wichtiger als die Übernahme von fertigen Antworten und Rezepten. Denn stellen Sie sich einmal vor, es fragt Sie jemand um Rat, weil er oder sie mit seinem

oder ihrem Kind Probleme hat. Und nehmen wir einmal an, Ihre Antwort wäre, diese Person solle dem Kind mehr Anerkennung, mehr Zuneigung und Liebe geben. Was für ein Rat wäre das, wenn die Person nicht selbständig die Begriffe Anerkennung, Zuneigung und Liebe auch umsetzen könnte?! Wir können niemandem in dieser Hinsicht den Aufbau einer Beziehung abnehmen, auch dann nicht, wenn wir ihm empfehlen würden: Um deine Anerkennung zu zeigen, streichle dein Kind drei Mal und umarme es fünf mal am Tag! Die betreffende Person müßte dies auch in einem solchen (traurigen) Fall immer selbst in die Hand nehmen. Für die Pädagogik heißt das, daß alles, was gleichsam objektiv in und durch sie (in Büchern) bereits vorgedacht ist, immer subjektiv nachvollzogen und umgesetzt werden muß. Selbst die Rezepte, die die Pädagogik manchmal mehr aus Verzweiflung aufstellt, sind nicht wie Kochrezepte unendlich reproduzierbar. Wer sich also mit Pädagogik beschäftigt, ist zumindest dort, wo er oder sie pädagogisch handeln muß, immer auf sich selbst gestellt. Kommen wir zurück zur Frage nach den Erwartungen. Dazu sollen stellvertretend drei über ein Inhaltsprotokoll erfaßte Meinungen zu Wort kommen: Eine Erzieherin, die sich entschlossen hat, Soziale Arbeit zu studieren, nennt ihre Erwartungen an die Pädagogik. Sie will durch eine Beschäftigung mit den Grundlagen dieses Fachs den theoretischen Hintergrund ihrer bisherigen Tätigkeit kennenlernen, um pädagogische Probleme welcher Art auch immer in Zukunft professioneller und handlungskompetenter bearbeiten zu können. Sie hat im Laufe ihrer Rolle als Mutter und auch in ihrer Tätigkeit in einem Kindergarten erfahren, daß sie bei der Lösung bestimmter pädagogischer Probleme immer an eine Grenze gestoßen ist. Und die möchte sie nun theoretisch aufarbeiten. Eine andere Studentin der Sozialen Arbeit pflichtet ihrer Studienkollegin zwar grundsätzlich bei. Auch sie will mehr Handlungskompetenz erwerben. Dann aber nennt sie noch weitere Motive. Sie erwartet sich von der Pädagogik einen Überblick über verschiedene Erziehungsund Bildungstheorien sowie über entsprechende Modelle und Ansätze, um sich kritisch gegenüber konkreten Erziehungskonzepten in den einzelnen Feldern abgrenzen zu können. Für sie hat Pädagogik den politischen Auftrag, gesellschaftliche Verhältnisse und Bedingungen humaner zu gestalten. Auch ein Student meldet sich zu Wort. Er erwartet sich von der Pädagogik als Bezugswissenschaft die Entwicklung von Erziehungskonzepten, die vor allem die Beratungsarbeit mit therapeutischen Zielen unterstützt. Dies gelte seiner Meinung nach ebenso für andere Handlungsfelder. Fragen der Leitung, Gruppen- und Teamarbeit und sogar organisatorische Problemstellungen sind nicht ohne pädagogisches Wissen zu bewältigen. Er vertritt auch den Standpunkt, daß dieses Wissen nicht unbedingt praktisch sein muß. Es soll vielmehr den theoretischen Hintergrund des Handelns abstecken. Exkurs: Was die Einsicht in den Sinn theoretischer Beschäftigungen betrifft, so ist oft die Meinung zu hören, daß diese nur brauchbar sind, wenn sie sich auch praktisch auswirken. Was damit auch unausgesprochen vorausgesetzt wird, ist der Wunsch nach Transformation pädagogischen Denkens in pädagogische Praxis, und zwar so, daß über abstrakte Begriffe ein abgesichertes Erklärungswissen geliefert wird, mit dem sich entsprechend handeln läßt. Eine Beschäftigung mit den Grundbegriffen der Pädagogik z.B. in Form einer geistigen Auseinandersetzung sollte danach ausschließlich das Ziel verfolgen, mit pädagogischen Problemen der Praxis sicher umgehen zu können. Als Vorbild -

-

-

-

-

-

Kapitel 1: Von der Pädagogik zum Erziehungsbegriff

3

werden in diesem Zusammenhang die Naturwissenschaften genannt. Denn sie seien als einzige in der Lage, ihre theoretischen Erkenntnisse z.B. in mechanischen und elektronischen Apparaten konkret anzuwenden. Außerdem steckt erst in allem konkret Fabrizierten der Geist theoretischer Überlegung, z.B. in Form des Konstruktionsplans und seines ästhetischen Verpackungsdesigns). -

-

Wir sehen, der Ruf nach Theorie ist nicht einheitlich, zumal die geistige Auseinandersetzung auf eine kritische, sich offensichtlich immer wieder selbst in Frage stellende mühsame Auseinandersetzung abzielt, die weniger nach Methoden und Techniken fragt, als vielmehr nach neuen Perspektiven. Hinter den einzelnen Meinungen aber stehen auch grundlegende Forderungen an die noch näher zu umgrenzende Pädagogik.

2.

Propädeutische Elemente der Pädagogik

Kehren wir zu den eingangs gestellten Fragen nach der Funktion der Pädagogik zurück. Um sie besser beantworten zu können, werden als nächstes propädeutisch einige charakteristische Merkmale pädagogischer Sichtweisen beschrieben. Exkurs: Unter „Propädeutik" versteht man eine vorwissenschaftliche Einführung in wissenschaftliche Erkenntnisse und Zusammenhänge. In diesem Sinne in die Pädagogik einzuführen, heißt zunächst eine Alltagsvorstellung zu entwerfen, die dann zum Gegenstand gezielter Betrachtungen gemacht werden kann.

Wollten wir

auf die Suche nach der Pädagogik machen, so würde uns die Praxis nicht denn dort würden wir möglicherweise nur lärmende Kinder und tobende Eltern finden. Auf diese Weise kämen wir lediglich an Spuren und Auswirkungen heran, nicht aber an den Gegenstand selbst. Wo also könnten wir das Wesen der Pädagogik sonst suchen? Vielleicht in Büchern? Nun bestehen Bücher, wie auch dieses, hauptsächlich aus gedruckten Buchstaben, Wörtern und Sätzen, deren Schriftzeichen, wenn sie zu Aussagen werden, eine Bedeutung bekommen, die wir entweder ad hoc verstehen oder erst im Laufe der Zeit. Um den Zugang zu erleichtern, greifen Bücher auf die Darstellung von Alltagssituationen, von Geschichten und Beispielen neben Bildern, Zeichnungen und Übersichten zurück, weil unsere Aufnahmefähigkeit sich damit verbessert. Wir wollen dies auch hier versuchen, wenngleich es auch nicht ausreicht, daraus bereits das allgemein Charakteristische der Pädagogik zu erkennen. Das Pädagogische ist nämlich theoretisch außerordentlich komplex. Es ist trotz aller Verständnishilfen, Erläuterungen und Erklärungen größtenteils abstrakt und erfordert permanent eine kritische Auseinandersetzung. In diesem Zusammenhang muß auch toleriert werden, daß es gerade in dieser Disziplin mindestens so viele Auffassungen zum Erziehungsbegriff gibt wie Pädagogen und Pädagoginnen (und natürlich auch pädagogische Autorinnen und Autoren). Darum ist auch der subjektive Rekurs ein erster brauchbarer Weg. Er verläuft über wahrnehmende, sich erinnernde, literarische und ordnende Zugänge: uns

unbedingt weiterhelfen,

Der sinnlich wahrnehmende Zugang setzt dort an, wo die Pädagogik realisiert wird, in der Familie, in schulischen und schulähnlichen Institutionen. Es sind Orte des Lernens, an denen sich Menschen unter Anleitung Inhalte erschließen, an denen Visionen veränderter Lebenswelten kreiert werden und an denen über die Beziehungsarbeit mit Heranwachsenden identitätsstiftende Einflüsse stattfinden. Über die Beschreibung der spezifischen Phänomene, die dort durch die Art des Kontakts der Beteiligten untereinander auftreten, werden wesentliche und allgemeine Momente des Pädagogischen abgeleitet. Es entsteht die Vorstellung von der Pädagogik als einem System von Lern- und Entwicklungshilfen.

Modelle des

4

Erziehungsbegriffs

Der sich erinnernde Zugang ist in der Regel der erste Schritt in Richtung einer pädagogischen Terminologie. Sein Weg geht über das biographisch Erlebte und mündet in die Darstellung von lebendigen Beziehungsgeschichten, in denen die Heimat, die Eltern, die Familie und der Freundeskreis vorkommen. Pädagogik wird darin zu einer Herkunftserfahrung. Der literarische

Zugang will sich über Texte einen Begriff der Pädagogik erarbeiten. Das Studium von Quellentexten spielt hierin eine große Rolle. Im Rückgriff auf das Vergangene und dessen Rekonstruktion wird das aktuelle Verstehen und Verständnis zu einem Sinnganzen. Pädagogik wird zu einem verstehenden Bemühen mit Orientierungsfunktion. Zugang gleicht einer systematischen Betrachtung. Er ist die Grundlage der nachfolgenden Ausführungen. Unterschiedliche Auffassungen, Vorstellungen, Begriffe Der ordnende

und Urteile werden über die von ihnen verwendeten Denkmodelle strukturiert und klassifiziert. Pädagogik wird damit zu einem System von Programmen (Ansätzen und Konzepten) für unterschiedliche Prozeßsteuerungen. Die Verwendung kognitiver Elemente ist dabei ausschlaggebend. Innerhalb derer ist auch die kritische Reflexion wesentlich. Sie stellt Aussagen und deren Praxisauswirkungen vor den Prüfstand eines (meist) idealistischen Menschenbildes und dessen Sollwert. Wir können die unterschiedlichen Zugangsweisen nicht weiter vertiefen, weil hierfür komplexe, insbesondere wissenschaftstheoretische Erörterungen notwendig wären. Wir wollen nur eines festhalten: Der Begriff der Pädagogik ist der Einstieg in die Frage nach dem Pädagogischen und damit nach dem Wesen der Pädagogik, durch das sie sich von anderen Wissenschaften unterscheidet.

„Pädagogik" hören? Exkurs: Begriffsklärungen beginnen meist mit einer Betrachtung der von uns assoziierten Bilder. Erst dann folgt die abstrakte Zuordnung von Anschauung und Fachsprache. So denken einige von Ihnen beim Wort Pädagogik vielleicht zunächst an Elternhaus und Kindheit, Kindergarten und Schule, oder an große Pädagogen und Pädagoginnen (wie Pestalozzi, Rousseau, Neill, Montessori u.a.), und danach an Begriffe wie „Lernmotivation", „Erziehungsstile" und „Sprachentwicklung" ect. Was wissen wir immer schon über die Pädagogik? o Pädagogik ist für uns kein unbekannter Begriff. Schließlich haben wir sie am eigenen Leib o

Woran denken Sie,

wenn

Sie das Wort

erlebt. Wir alle sind erzogen worden, haben uns erziehen lassen, manchmal gut manchmal weniger gut. Und unsere Eltern haben sich gefreut, wenn im Zeugnis stand: „Der fleißige Schüler oder die aufgeweckte Schülerin hat sich rege am Unterricht beteiligt und war stets gewissenhaft und ordentlich." Das Lob war Balsam für unsere Seele, und die Strafe schmeckte bitter. Oft haben wir nicht eingesehen, warum wir gewisse Dinge tun mußten und andere nicht tun durften. Die Lehrkräfte, die uns in der Schule drangsalierten, waren meist entweder unmöglich oder trotzdem nett, und die Eltern manchmal unverständlich. Das Bild von Pädagogik, das sie uns vermittelten, steckt tief in uns. Manchmal orientiert es sich an deren Stärke, manchmal auch an deren Schwäche. So haben wir alle einen individuellen Vorbegriff von Pädagogik. Er hat etwas damit zu tun, wie wir erzogen wurden, wie unsere Eltern zu uns waren und die, die sich mit uns abgegeben haben, wie wir in diese Welt hineingewachsen sind, welche Mühen und Freuden wir dabei hatten, was uns geprägt hat und wie wir heute in bestimmten Situationen zurechtkommen. o

Wie haben Sie

Pädagogik erlebt?

Kapitel

1: Von der

Pädagogik zum Erziehungsbegriff

5

Exkurs: Das Vorwissenschaftliche nimmt in der Regel seinen Ausgang von dem jeweiligen Sprachgebrauch eines Wortes und nicht von einer bereits vorgefertigten Definition, die einen unbekannten Begriff lediglich durch meist andere, noch unbekanntere Begriffe

umgrenzt und sich damit wie ein Lexikon im Kreis dreht.

Ausgang soll daher der umgangssprachliche Sprachgebrauch sein. Das ist ein Sprachgebrauch, der mit persönlichen Vorstellungen verknüpft ist. Sie werden immer mitgedacht,

sobald der Begriff verwendet wird. Wenn wir z.B. sagen, „dieser Gruppenleiter hat den Konflikt in seiner Gruppe höchst unpädagogisch bearbeitet", dann meinen wir damit, daß ein Profi sein Handwerkszeug nicht richtig beherrscht. Wir meinen aber auch, daß ein Konflikt unter Gruppenmitgliedern prinzipiell pädagogisch bearbeitet werden kann. Was wir aber damit nicht schon sagen, ist das, was wir unter pädagogisch verstehen. Denn es ist ein mit ganz individuellen Vorstellungen verknüpfter Vorbegriff bzw. die Deutung eines Begriffs, der erst noch erläutert werden muß. Er kann z.B. meinen, „dieser Leiter hätte stärker durchgreifen sollen", oder „dieser Leiter hätte der Gruppe mehr Freiraum geben sollen, in dem sie ihren Konflikt selbst löst". Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff der Pädagogik. Denn wenn wir sagen, „in der Pädagogik dieses Gruppenleiters geht es nicht sehr pädagogisch zu", dann haben wir zwei konträre Vorstellungen, die wir dadurch ausdrücken, daß das Adjektiv dem Substantiv kritisch gegenüber steht. Anders wäre es, wenn wir sagen würden, „das Pädagogische an der Vorgehensweise des Leiters sei die Pädagogik, die er vertritt", so wie wenn wir zum Ausdruck bringen wollten, daß die persönliche Art der Steuerung einer Gruppe vom Steuerungssystem abhängt, das der Leiter vertritt.

Wenn wir also den Begriff „Pädagogik" von dem Adjektiv pädagogisch herleiten, dann arbeiten wir mit einem noch näher zu präzisierenden Vorbegriff und einer bereits vorhandenen Vorstellung. Auf die selbe Weise wird auch in den Zentralbegriff der Pädagogik, nämlich in den der Erziehung und in die sie tangierenden Begriffe, eingeführt, indem u.a. gefragt wird, wie sie umgangssprachlich verwendet werden und welche Bedeutungen sich jeweils dahinter verbergen. Es ist klar, daß derartig entwickelte Begriffe subjektiv bleiben. Dafür eröffnen sie eine größere Chance der Auseinandersetzung mit individuellen Erfahrungen. o

Wie könnte ein erster allgemeiner Vorbegriff der Pädagogik umschrieben werden? Exkurs:

Pädagogik ist die Wissenschaft und Praxis einer sensiblen Beziehung zwischen

Menschen, in deren Verlauf ein Teil einen anderen erzieht, weil der eine den (Lebens-) Überblick hat und der andere ihn erst bekommen will, soll oder von sich aus muß. Die

sensible Beziehung besteht zwischen Mächtigeren und weniger Mächtigeren. Sie ist dabei niemals nur die akademische Konstruktion des wechselseitigen Verhältnisses der Erziehenden zu ihren Adressaten, noch ist sie ausschließlich reine Praxiserfahrung, inklusive aller urwüchsigen Begriffe, die in Richtung pädagogisches Talent, Geschick und Charisma gehen. Sie ist bei der Theorie-Praxis-Transformation eine Art Schaltstelle. Theoretisch begründet sie die Forderung nach einer von der Vernunft gesteuerten Humanität. In der Praxis jedoch hat sie ein Eigenleben, das sich an den Stellen zeigt, wo ohne Überlegung aus dem Gefühl heraus erzieherisch gehandelt wird. Natur und Naturell der pädagogischen Sensibilität werden daher oft den sogenannten Herzensangelegenheiten der Pädagogik zugeschrieben. So bezieht auch der Begriff des pädagogischen Eros die Übernahme von erzieherischer Verantwortung überwiegend aus der Maxime der engagierten Verwirklichung von Mitmenschlichkeit und weniger aus einer rationalen Überlegung. Gedanken zu den pädagogischen Motiven, die sich über den Begriff der Sensibilität einstellen, spiegeln hintergründig auch die Kontroverse um das Theorie-Praxis-Problem in

Modelle des

6 der

Pädagogik

Erziehungsbegriffs

als Profession. So heißt

es:

Wenn Theorien keine

praktische Hilfestellung

am Know-How die Praxis nicht in der wenn Oder werden. und der Professionalität gezweifelt umgekehrt, in der rein bleibt sie dann theoretische umzusetzen, Erkenntnisse gefühlsorienLage ist, tierten Naivität verstrickt und hat in ihrem Aktionismus hoffentlich mehr Glück als

bieten, keine Rezepte für die Lösung von Problemen liefern, muß gehörig

Verstand. Ein solcher Theorie-Praxis-Streit ist möglicherweise spannend, aber nicht wirklich hilfreich. Denn sicher ist, der Blick auf die Praxis muß zwar abstrakte Grundlagen reflektieren, um eine Praxisblindheit durch zu viel Erfahrungsnähe zu vermeiden. Abstrakte Begriffe dürfen aber andererseits selbst nicht als bloße Sprachhülsen Ablenkungsmanöver veranstalten. Der Mittelweg ist bekanntlich steinig und kann nur durch das Bemühen beschritten werden, entweder der Theorie die Brille des Anwendungsbezugs zu verordnen und die Schritte in die Abstraktion rekonstruierbar zu gestalten, oder die Praxis zu zwingen, ihre Grundlagen nicht aus den Augen zu verlieren. Ein Anfang dazu bestünde im Versuch, zentrale Begriffe über Beispiele zu definieren und so die pädagogische Terminologie auf eine handlungstheoretische Basis zu stellen.

3. Das Das Wort

gestenreiche Gesicht der Pädagogik

taucht als ein Fach mit wissenschaftlichem Anspruch in vielen, teilKombinationen auf. Die wichtigsten sind nachfolgend zusammengestellt:

„Pädagogik"

weise auch

neuen

Allgemeine Pädagogik, die als geisteswissenschaftliche Pädagogik die Geschichte der Pädagogik umfaßt, die Empirisch-analytische Pädagogik, die als Erziehungswissenschaft die empirische Erforschung von speziellen Hypothesen in verschiedenen Feldern leistet, die Kritische Pädagogik, die eine Kritik der Pädagogik, z.B. in der Form einer Ideologiekritik der Pädagogik an sich selbst mit Hilfe einer Erziehungsphilosophie, versucht. Daneben gibt es eine große Anzahl von Teilbereichen mit unterschiedlichen Problemstellungen in Entsprechung zu einzelnen pädagogischen Praxisfeldern: die

Kapitel

Abenteuerpädagogik Antipädagogik

Ausstellungspädagogik Behindertenpädagogik Berufspädagogik Betriebspädagogik

Elternpädagogik Erlebnispädagogik Entwicklungspädagogik Fachpädagogik Freizeitpädagogik Friedenspädagogik Frühpädagogik Gesundheitspädagogik Gruppenpädagogik Heilpädagogik Interkulturelle Pädagogik Kindergartenpädagogik Kulturpädagogik Kunstpädagogik Materialistische Pädagogik Medienpädagogik Medizinpädagogik Motopädagogik Museumspädagogik

I: Von der

Pädagogik zum Erziehungsbegriff

7

Musikpädagogik

Ökopädagogik

Pflegepädagogik Religionspädagogik Schulpädagogik Sonderpädagogik Sozialpädagogik

Sozialistische Pädagogik

Spielpädagogik Sportpädagogik Umweltpädagogik Werkpädagogik

Wortverbindungen mit Erziehung: Elementarerziehung Heimerziehung Wortverbindungen mit Bildung.

Altenbildung Arbeiterbildung Elternbildung Erwachsenenbildung Familienbildung Jugendbildung

Die Aufzählung zeigt nicht nur eine Zuordnung zu unterschiedlichen Feldern, sondern sie macht auch auf eine Vielzahl von spezifischen Einzelproblemen aufmerksam. Eine Trennung in Sach-Pädagogiken und Zielgruppen-Pädagogiken ist zwar ein Kriterium für eine Einteilung, sie würde aber Überschneidungen nicht berücksichtigen. Exkurs: Die Blütezeit einer theoretischen Fundierung der Pädagogik lag mit Sicherheit in den Jahren zwischen 1960 und 1980. Die grundlegenden Ergebnisse und Diskussionsthemen von damals sind bis heute in ihrer Aktualität nicht überboten worden. Ein wenig zeigt sich dies auch im Angebot in den großen Buchhandlungen. Unter dem Stichwort Pädagogik befinden sich in den Regalen meist nur Lernhilfen für einzelne Schulfächer oder Ratgeberliteratur zum Thema, wie man mit Kindern umgeht, die einen herausfordern. Zum Bereich Allgemeine Pädagogik gibt es in der Regel ein oder zwei Lexika und hier und da ein Buch zu speziellen pädagogischen Problemen. Daneben erscheinen vereinzelt natürlich auch hervorragende journalistische Recherchen oder literarisch umgeformte Dissertationen zu aktuellen Themen der Gegenwart, die auf Grund der Erzähl struktur des Textes ein breites Publikum finden. Das Theoriegebäude der Allgemeinen Pädagogik findet dagegen nur eine kleine Öffentlichkeit. Ein Buchhändler weiß natürlich, warum das so ist: Es besteht (momentan) keine allzu große Nachfrage (vielleicht im Gegensatz zu früher). Wir können über die Hintergründe nur spekulieren. Offensichtlich beschränkt sich die einschlägige Literatur auf Expertenkreise. Vielleicht herrscht auch die Meinung vor, in jedem Pädagogikbuch stehe zum Thema Erziehung ohnehin nur dasselbe, weil die Pädagogik am Ende sei. Beklagt wird, daß jede Analyse der Progression von Problemen hinterherhinkt, und daß die konkreten Hilfsmaßnahmen immer mehr nur zu dem berühmten

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Modelle des

Erziehungsbegriffs

Tropfen auf den heißen Stein werden. Der Mangel an Nachfrage könnte aber auch mit der Erkenntnis zusammenhängen, daß die zentralen Begriffe der Pädagogik (wie z.B. der Begriff der Erziehung) zu keiner Zeit richtig geklärt werden konnten und daß die Hoffnung gering ist, sie in Zukunft zu klären. Dazu kommt die Meinung, daß ohnehin nur der eigene Klärungsversuch das einzig Gleichbleibende bei dieser Angelegenheit ist. So gesehen liegt es natürlich auf der Hand, daß man für subjektive Erziehungsstrategien nicht unbedingt Bücher lesen muß. Ferner ist auch von wissenschaftlicher Seite zu hören, daß die Pädagogik in ihrer Begrifflichkeit immer noch als zu diffus beurteilt wird (etwa im Gegensatz zur Psychologie, die es offensichtlich geschafft hat, daß der Mensch sich in ihren Aussagen auch persönlich wiederfinden kann). Oftmals erweckt sie den Eindruck, durch ihre permanente Kritik an sich selbst eher unbequem als hilfreich zu sein. Unterstützt wird dieser Trend durch die Aufspaltung der Allgemeinen Pädagogik in sehr viele Teil-Pädagogiken, die (wie oben dargestellt) von der Abenteuerpädagogik bis zur Umweltpädagogik reichen und durch deren Vielheit die Einheit verloren zu gehen droht. Die Folge ist, die Pädagogik und mit ihr der Erziehungsbegriff rekrutiert sich aus einzelnen Feldern und entzieht sich einer übergeordneten Stellung. Erschwerend hinzu kommen die verschiedenen pädagogischen Schulen, die durch eigene Ansätze auf dem Markt um Anerkennung ringen. Beispiele sind die Montessori-Einrichtungen und die Waldorfschulen, auf die an anderer Stelle eingegangen wird. Ein Blick auf die, aus den Pädagogiken hervorgegangenen Professionen selbst zeigt noch deutlicher, wie unterschiedlich die pädagogische Herausforderung sein kann. Dazu wollen wir über die Frage nach der beruflichen Haupttätigkeit den Versuch machen, ein wenig hinter die Kulissen zu schauen. Ein kleines Kaleidoskop von Problemstellungen zu klassischen Berufsfeldern (Lehramt, Diplompädagogik, Sozialpädagogik/Sozialarbeit) soll exemplarisch vergegenwärtigen, welche enorme Praxisvielfalt der Pädagogik gegenübersteht. Ziel dabei ist es, zu unterstreichen, wie wichtig die Bewußtmachung konsensfahiger Modelle des Erziehungsbegriffs zur Klärung der pädagogischen Berufsidentität wird. Auf die Frage, was eine Lehrkraft (also z.B. ein Lehrer oder eine Lehrerin, ein Dozent oder eine Dozentin, ein Seminarleiter oder eine Seminarleiterin) an pädagogischer Arbeit leistet, könnte man schnell antworten: Sie unterrichtet an einer Schule (oder an einer schulähnlichen Einrichtung). Würden wir fragen, was ein Diplom-Pädagoge oder eine Diplom-Pädagogin pädagogisch arbeitet, könnten wir das, ganz im Gegensatz zu einem Lehrer und einer Lehrerin in der Schule oder einem Erzieher und einer Erzieherin im Kindergarten schon nicht so leicht beantworten. Es kann nämlich sein, daß er oder sie an einem Institut für Frühpädagogik in einem Forschungsprojekt mitarbeitet und dabei gerade an der Erstellung eines Beobachtungsbogens mitwirkt, mit dessen Hilfe man den Entwicklungsstand von aggressiven Kin-

dern über einen bestimmten Zeitraum festhalten kann. Es kann auch sein, daß dieser Pädagoge oder diese Pädagogin etwas ganz anderes macht, z.B. einen Therapieplan für Motopädagog/innen und Logopäd/innen in einem Rehabilitationszentrum aufstellt. Noch schwieriger ist es, darüber Auskunft zu geben, was ein Sozialpädagoge oder eine Sozialpädagogin macht, wenn er oder sie pädagogisch tätig ist. Es kann z.B. sein, daß sie sich mit dem Problem von Bettnässern in einem Kinderheim beschäftigen müssen oder aber mit dem Isolationsproblem alter Menschen in einem Altersheim oder mit der Delinquenz straffälliger Jugendlicher, oder mit der Sorgerechtsregelung von mißhandelten Kindern oder mit arbeitslosen Asylanten, oder mit der Integration behinderter Menschen oder mit dem Suchtproblem am Arbeitsplatz. Wir wollen nachfolgend einige Beispiele zu den unterschiedlichen Feldern der pädagogischen Praxis darstellen.

Kapitel

I: Von der

Pädagogik zum Erziehungsbegriff

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Zum Lehrberuf Stellen Sie sich folgendes vor: Während Sie diesen Text lesen, sitzt gerade ein Lehrer der 5. Klasse Hauptschule an seinem Schreibtisch und denkt darüber nach, wie er seiner Klasse das Thema „Der Unterschied von ,das' und ,daß' in der deutschen Sprache" in 45 Minuten, im Anschluß an seine Musikstunde und vor seinem Geschichtsunterricht, näherbringen soll. Er will das schaffen, ohne daß wieder der Rektor der Schule ins Klassenzimmer kommt und zu ihm sagt: „Entschuldigung, Herr Kollege, aber ich komme da zufällig an Ihrem Klassenzimmer vorbei und höre, wie Ihre Klasse einen solchen Lärm macht, daß ich denken muß, sie wäre unbeaufsichtigt." Eine solche Bemerkung ist ärgerlich, wenn man als Lehrer nichts weiter tun will, als das zu praktizieren, was man im Pädagogikstudium für das Lehramt an Volksschulen gelernt und in der Examensarbeit zur Staatsprüfung beschrieben hat, nämlich den Unterschied zwischen einem demokratischen und einem autoritären Unterrichtsstil in seiner Auswirkung auf das Leistungsverhalten. Was aber geht diesem Lehrer durch den Kopf? Er überlegt sich sicher, wie er das Unterrichtsthema so verständlich darstellen kann, daß alle dann auch den von ihm speziell dazu nach informationstheoretischen Gesichtspunkten ausgedachten Lückentext richtig ausfüllen können. Denn eines kann ihm keiner nehmen: Er hat eine Ahnung von der didaktischen Analyse eines Unterrichtsthemas, von der methodischen Umsetzung von Lehrinhalten in Lerninhalte unter Berücksichtigung lernpsychologischer Prinzipien und unter Einbeziehung aller möglichen sonstigen Faktoren, wie z.B. der Gruppendynamik und des Leistungsstands. Da gab's nur dummerweise den etwas mißglückten Elternabend. Und dann auch noch der Rektor! Exkurs: Wer im Lehrberuf tätig ist, weiß, daß Bemühungen, das Unterrichtsgeschehen zu verwissenschaftlichen, u.a. mit dem Vorhaben einhergehen, den Unterricht der jeweiligen Fächer auf eine lerntheoretische Basis zu stellen. Solche Wünsche haben nicht nur Lehrkräfte an Grund- und Hauptschulen, sondern auch die an Realschulen, Gymnasien und weiterführenden Schulen, wenngleich sich auch ihr Studium entsprechend der Gehaltsstufe unterscheidet. Zur Diplompädagogik Während Sie diesen Text lesen, sitzt gerade eine Diplom-Pädagogin in einem Institut für Frühpädagogik und denkt über ein Kategoriensystem nach, das den Begriff Aggression in beobachtbare Merkmale zerlegen soll. Sie ist mit ihren Kollegen (zwei Diplom-Psychologen) im Gespräch darüber, ob Zwicken ein Merkmal von Aggression ist. Was geht ihr dabei durch den Kopf? Sie weiß, daß empirische Untersuchungen, die versuchen, einen möglichst hohen Grad an Objektivität und Intersubjektivität zu erreichen, für eine exakte Erkenntnisgewinnung unverzichtbar sind. Sie fragt sich aber auch ernsthaft, ob solche Erkenntnisse prinzipiell etwas dazu beitragen können, die Aggressionen dieser Kinder zu reduzieren. Für heute hat sie sich jedoch vorgenommen, nicht wieder den berühmten Positivismusstreit mit ihren Kollegen zu führen. Also stimmt sie der Vereinbarung zu, Zwicken mit in den Strichlistenkatalog des Beobachtungsbogens aufzunehmen. Exkurs: Im sogenannten Positivismusstreit (in der deutschen Soziologie) wurde u.a. das Problem diskutiert, ob empirisch-analytisch gewonnene Erkenntnisse nicht nur halbe Wahrheiten sind, weil sie durch ihren sezierenden Blick ins Detail den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. Im Studium der Diplom-Pädagogik wird diese Problematik zwischen Natur- und Geisteswissenschaften anhand der Gegensatzpaare Verstehen und Erklären, so wie Theorie und Praxis mit Vorliebe diskutiert.

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Modelle des

Erziehungsbegriffs

Zum Beruf Erzieher/Erzieherin Während Sie diesen Text lesen, macht sich eine Erzieherin eines Kinderhorts in einer Großstadt zunehmend Gedanken um einen kleinen Jungen, der sich kurz nachdem er von seiner alleinerziehenden Mutter abgegeben wurde, extrem von den anderen Kindern isoliert. Sie weiß, daß ihm die berufstätige Mutter fehlt. Sie weiß aber auch, daß sie, wenn sie sich ihm allein zuwendet, die anderen Kinder vernachlässigen würde, was sicherlich zu Konflikten fuhren würde. Es geht ihr durch den Kopf, daß sie eine ziemlich große Verantwortung übertragen bekommen hat. Denn wohin führt es, wenn man nicht rechtzeitig lernt, daß nur Kontakte nach außen aus der Isolation führen? Sie weiß, sie muß den Jungen dazu motivieren, wieder mehr mit den anderen Kindern zu spielen. Dazu kommt, daß sie in ihrer Ausbildung viel über Autismus und seine Folgen gehört hat.

Exkurs: Die im Erzieher/innenberuf Tätigen wissen, daß das erzieherische Verhältnis ausschlaggebend ist für die tägliche Arbeit mit den Kindern. Es ist die Grundlage für den Erziehungsstil der Leitung und den Grad an Autorität. Es ist die Basis für die Imitation des richtigen Vorbilds, es steuert das Vertrauen in die Orientierung und ist Modell für das Sozialverhalten der Kinder untereinander.

Zur Sozialpädagogik und Sozialarbeit Während Sie diesen Text lesen, steht eine Sozialpädagogin hinter der Theke eines offenen Jugendzentrums und verkauft alkoholfreie Getränke. Sie wird dabei von einem Mitglied einer Motorradgang gefragt, ob sie nicht mal Lust hätte, auf seiner Maschine durch die Prärie zu donnern. Sie lehnt dankend ab, weil sie weiß, was das für sie bedeuten würde. Der Jugendliche aber empfindet das als Beleidigung und wird, von seinen Kumpeln unterstützt, immer aggressiver, so daß nichts anderes übrigbleibt, als erst mit Hausverbot und danach mit der Polizei zu drohen. Auch ihr gehen unterschiedliche Gedanken durch den Kopf. Sie hofft einerseits, in ihrer Rolle als Getränkeverkäuferin einen Kontakt zu den Jugendlichen auf einer natürlichen Kommunikationsebene zu bekommen, im Verlauf dessen sie deren Bedürfnisse besser kennenlernt und vielleicht dadurch Gruppen bilden kann, die sich mit aktuellen Themen auseinandersetzen. Denn sie hat viel über den bedürfnisorientierten und emanzipatorischen Ansatz der Jugendarbeit diskutiert. Andererseits will sie aber auch nicht in einem Mitmachspiel ihre eigene Identität opfern, nur weil dies vielleicht nach dem Motto, „Dort ansetzen, wo der Jugendliche steht", erforderlich wäre. Sie weiß, daß sie aus pädagogischen Erwägungen heraus die Nähe zu den Jugendlichen braucht. Sie weiß aber auch, daß Distanz nötig ist, damit sie die Rolle als Sozialpädagogin professionell spielen kann. Sie hätte nur nicht gedacht, jemals emsthaft drohen zu müssen.

Exkurs: Wir haben hier nur einen winzigen Ausschnitt aus einem der zahlreichen Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit genannt. Er beinhaltet mit dem Nähe- und DistanzProblem auch das Thema des richtigen pädagogischen Verhältnisses und damit die Themen Inhaltsebene und Beziehungsebene, Rolle und Identität, Autorität und Macht. Im Bereich der Sozialpädagogik und Sozialarbeit scheint es jedenfalls so zu sein, daß die begriffliche Fassung eines konkreten pädagogischen Problems immer einen Rattenschwanz von anderen, nicht weniger gravierender Problemen mit sich fuhrt, die zwar das jeweilige Problem abstrakt begründen und erklären können, die sich dafür aber immer mehr von konkreten Handlungsmöglichkeiten entfernen. Wir wollen an dieser Stelle keine weiteren Beispiele aus anderen pädagogischen Berufen und Berufungen mehr vorstellen. Es sollte mit dieser kleinen Auflistung nur deutlich werden, wel-

Kapitel

I: Von der

Pädagogik zum Erziehungsbegriff

I1

che großen Reduktions- und Strukturierungsprobleme die Pädagogik als Wissenschaft und als Praxis (mehr als andere Fachgebiete) hat, wenn sie der Forderung nach Handlungskompetenz nachkommen will. Wir können daher nur versuchen, ein eigenes Transformationssystem zu entwickeln und zur Diskussion zu stellen. Dabei muß zunächst offen bleiben, in welchen spezifischen Berufsfeldern, insbesondere innerhalb der Sozialen Arbeit, ein solches System anwendbar ist.

4.

Pädagogik als Lenksystem

ist ein Fremdwort aus dem Griechischen. Es bedeutet in seiner Zusammenset„Päd" und „Agogik" wörtlich Kindesführung (bzw. ursprünglich Knabenführung) zung und meint in seinem Bedeutungsumfeld eigentlich „Lenkung" und damit Führung und Anführung, Leitung und Anleitung. Daß dies im wesentlichen von Erwachsenen geschieht, ist nicht unbedingt zwingend. Immer aber sind daran Menschen beteiligt, die anderen Menschen Hilfestellung zu deren Lernentwicklung geben, die ihnen zu Fähigkeiten verhelfen, sich aus ihrer Benachteiligung anderen gegenüber zu befreien und ihnen in Krisensituationen beistehen.

„Pädagogik" aus

o

Welche Bilder aber werden durch den Ausdruck

„Päd-Agogik" angesprochen?

Exkurs: Wir sehen Eltern, die ihre Kinder pflegen, sie füttern, wickeln, anziehen und tragen, sie im Wagen schieben, sie an der Hand halten, sie beim Spielen beaufsichtigen. Wir hören, wie sie Gebote und Verbote aussprechen, wie sie Kinder zurechtweisen, sie ermahnen, sie aber auch ermuntern und ihnen gut zusprechen. Wir sehen die pädagogisch Tätigen auch als Erzieher und Erzieherinnen, als Lehrer und Lehrerinnen und als Gruppenleiter und Gruppenleiterinnen. Wir sehen, wie sie sich mit ihnen beschäftigen, wie sie mit ihnen lernen. Wir sehen Kinder im Kindergarten, in der Schule, in der Familie. Wir sehen sie schreiben, lesen und rechnen, malen, basteln, turnen und singen. Wir sehen sie aber auch, wie sie lärmen, sich streiten und Widerstand leisten, wie sie heimlich etwas Verbotenes tun, wie sie ihre Wünsche und Bedürfnisse äußern, traurig sind und sich freuen.

Ihnen gegenüber steht die Erwachsenenwelt, an der sie sich erst einmal orientieren, die ihnen ein Modell ist, von der sie aufgefangen werden wollen, wenn sie etwas angestellt haben, wo sie einen Ort der Anerkennung finden wollen, einen Platz in ihrem Leben bekommen wollen, um deren sogenannte Glückszustände auch einmal selbst erleben zu können und in den Genuß eines eigenen Lebensplans zu kommen. o

Welche Wünsche haben die bei dieser Agogik

Tätigen? Die Eltern? Die Erwachsenen?

Exkurs: Erwachsene wollen, daß Kinder etwas werden, daß diese sie schätzen und es so machen wie sie oder besser. Sie wollen, daß sie auch in der Öffentlichkeit auf ihre Söhne und Töchter stolz sein können. Sie wollen, daß diese nicht auf die schiefe Bahn geraten, und wenn dies passiert ist, dann wollen sie sie zurückholen, zurück in die Familie, zurück in die Gemeinschaft und Gesellschaft. Sie haben Angst, sie könnten sich zu Außenseitern entwickeln, wenn sie an den Rand geraten, weil sie auch persönlich Angst davor haben, in eine Isolation zu geraten, die sie nicht mehr an den gesellschaftlichen Positionen und Perspektiven teilhaben ließe. Und die Eltern, die schon am Rande der Gesellschaft leben, auch sie wollen, daß ihre Kinder irgendwie den Aufstieg, von dem sie selbst in Ersatzwelten träumen, schaffen. Sie können es nur mit den ihnen, entsprechend ihrer sozialen Stellung, zur Verfügung stehenden sprachlichen, einstellungs- und handlungsmäßigen Mitteln.

Modelle des

12

o

Erziehungsbegriffs

Was also ist das

spezifisch Agogische? Exkurs: In jedem Fall scheint das Agogische eine Art Wunsch nach einer angemessenen Prägung und Lenkung zu sein. Und es ist wohl auch so, daß die darin enthaltene spezielle Art von Beeinflussung offensichtlich immer von Personen ihren Ausgang nimmt, die bewußt oder unbewußt auch die Richtung bestimmen, indem sie durch ihr Verhalten nicht nur die Art und Weise festlegen, wie dies geschieht, sondern auch die Hilfsmittel, die den Weg dazu erleichtern sollen. Eltern scheinen zu wissen, was ihren Kindern gut tut, wann sie schlafen und essen müssen. Die Schule scheint zu wissen, was gelernt werden muß, was man können sollte und wie man das entsprechende Wissen auch weitergeben kann.

Aber verweilen wir noch etwas bei einem Bild. Wenn Eltern ihre Kinder an die Hand nehmen und fuhren, dann legt dieses Bild bereits entscheidende pädagogische Sachverhalte fest: Diejenigen, die führen, bestimmen auch Ziel und Richtung. Diejenigen aber, die geführt werden, müssen den Menschen, die fuhren, vertrauen. Denn wenn man nicht selbst prüfen kann, ob der Weg, auf dem es lang geht, auch ein sinnvoller Weg ist, muß man denjenigen, welche die

Richtung bestimmen, zunächst glauben.

Bei aller Kritik, die bei dem Wort „führen" auftaucht, scheint sich die Pädagogik darüber im Klaren zu sein: Wenn Kindern Gefahren an Leib und Leben drohen, die sie selbst nicht erkennen können, dann kann man sie nicht darin Erfahrungen gewinnen lassen, nach dem Motto „Ein verbranntes Kind scheut das Feuer". In einem solchen Fall muß man Kinder an die Hand nehmen und schützen. Eine ähnliche Funktion hat auch manchmal die Einführung von prophylaktischen Regeln bzw. Verhaltensgeboten und Verboten.

Exkurs: Das Aussprechen und Setzen von Grenzen ist in der Praxis die am häufigsten vorkommende Erziehungsmaßnahme. Die Palette reicht von Einschränkungen über Verbote bis hin zur Androhung von Gewalt und auch noch darüber hinaus. In der Erziehungspraxis werden Grenzziehungen als nötig erachtet, wenn die Überschreitung einer Norm, einer Regel oder eines sinnvollen Wunsches eine massive Bedrohung für alle Beteiligten darstellt. In solchen Fällen leiden alle pädagogisch Tätigen unter einem inneren Konflikt zwischen Herz und Verstand. Das Herz würde sagen, „Nicht Strenge, sondern verständnisvolles Entgegenkommen sind menschlich geboten", und der Verstand würde sagen, „Aus prophylaktischen Gründen muß ich hart bleiben, um dich (und natürlich auch mich) zu schützen, damit du durch die Erfahrung einer Grenze zu einer sinnvollen inneren Stabilität findest". Für die Pädagogik gilt die Tatsache, daß Heranwachsende die Erwachsenenwelt diesbezüglich besonders in Wachstumskrisen herausfordern müssen. Sie müssen sich mit ihnen im wahrsten Sinne des Wortes „raufen", um sich in ihrer Orientierungslosigkeit noch als Individuen spüren zu können und auch um zeigen zu können, daß sie gerade in Krisenzeiten wissen wollen, ob sie anerkannt sind, ob sie einen Platz haben, ob sie geliebt werden und ob die Erwachsenen, die Eltern und Bezugspersonen als die Mächtigeren es auch gut finden, daß es sie überhaupt gibt. Dieser zutiefst verwurzelten Prüfung, trotz ihres abweichenden Verhaltens nicht zu Ausgestoßenen zu gehören, geht der Ruf nach einer beheimateten Existenzberechtigung einher. Es ist klar, daß Kinder, die durch Gewalt traumatisiert worden sind, sehr viel lautstärker demonstrieren, wie intensiv sie geliebt werden wollen. Jugendkriminalität und -gewalt sind so gesehen nichts anderes, als der verzweifelte Versuch sagen zu wollen, „Geh mit mir an das Ende deiner Kräfte, um mir zu zeigen, wer ich für dich bin". Die Pädagogik der Bezugspersonen wird dadurch aufs äußerste herausfordert. Besonders gilt dies für Heime

Kapitel

I: Von der

Pädagogik zum Erziehungsbegriff

13

Pflegefamilien, die für die Heranwachsenden immer eine Ersatzheimat einer durch traurige Umstände verlorengegangenen Geborgenheit in der Herkunftsfamilie sind. Für das Grenzensetzen gibt es vor diesem Hintergrund keinen pädagogischen Rat außer den, ein Verbot nicht aus Gründen einer selbst nicht verarbeiteten Vergangenheit auszusprechen. Wenn eine Mutter zu ihrer Tochter sagt „Ich will nicht, daß du in die Disco gehst", ohne es zu begründen, dann wird immer die Haltung der Mutter indirekt eine wesentliche Rolle spielen. Es wäre nachvollziehbar, wenn sie sagen wollte, „Ich habe Angst und

dich", nicht aber, wenn dahinter der Satz stünde „Ich durfte früher auch nicht in die Disco und mein Vater hat mich deswegen sogar geschlagen", oder wenn sie eigentlich sagen wollte „Ich bin eifersüchtig auf deine Jugend und deine Lebendigkeit". Für das Setzen von Grenzen entscheidend ist daher die innere Haltung der Zuwendung und echten Anteilnahme, im Gegensatz zu egoistischen Machtgelüsten, die sich nur durch reine Disziplinierung verwirklichen lassen. Der Schritt von einer dem Menschen zugewandten zu einer den Menschen verachtenden Dimension liegt also in der Schicksalsund Beziehungsgeschichte der Eltern (und deren Erfahrungen mit Zuneigung und Gewalt) um

verborgen. Mit dem Begriff der pädagogischen Führung ist das Bild des behutsamen „An-die-HandNehmens" verbunden. Es verweist auf die Tatsache, daß nicht nur das Ziel und die Richtung sinnvoll sein müssen, sondern es müssen auch die entsprechenden Wege, sozusagen die Handgriffe der Eltern, angemessen sein. Damit gemeint sind nicht nur ihre Entscheidungen, nicht nur das, was sie erlauben und was sie verbieten, sondern vor allem der Ausdruck ihres persönlichen Stils in welcher Weise sie Bezugspersonen sind, in welcher Art und Weise sie die Wünsche und Bedürfnisse von Kindern in Einklang mit ihren eigenen bringen, wie sie ihre Zuneigung und Anteilnahme zeigen, wie sie durch Gestik und Mimik mit ihnen sprechen, sie in den Arm nehmen, sie streicheln, sie loben und tadeln. Auf der Seite der Kinder steht dem gegenüber eine zunächst totale Abhängigkeit von ihnen als Bezugs- und Pflegepersonen und natürlich auch von den Verhältnissen, in denen die Eltern leben. Dazu kommt das zumindest anfänglich grenzenlose Vertrauen, daß sie von den Eltern geliebt werden, daß Eltern nur das Beste für sie wollen, daß der Platz, den sie von ihnen bekommen, auch anerkannt wird als ein Recht auf Leben, Glück und Geborgenheit. ,

5.

Erziehung 5. 1.

als

Sammelbegriff pädagogischer Beeinflussung

Erziehung als Verhaltensphänomen

Der Begriff der Erziehung wird meist als Sammelbegriff für Wirkungen und Reaktionen Erwachsener auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen verwendet.

Fallbeispiel: In einem Abteil der S-Bahn sitzt eine Mutter mit ihrem sechsjährigen Jungen neben einem älteren Ehepaar. Der Zug ist, wie gewöhnlich zu dieser Tageszeit, voll mit Menschen, die schweigsam darauf warten, an ihr Ziel zu gelangen. Der Sechsjährige jedoch ist nicht sonderlich daran interessiert, sich ähnlich zu verhalten, wie alle anderen um ihn herum. Ihm ist langweilig. So beginnt er mit den Füßen zu schlenkern und stößt dabei an das Bein des Herrn gegenüber. Nachdem keine Reaktion von dort erfolgt, macht er es noch einmal, und zwar etwas deutlicher. Seine Mutter entschuldigt sich darauf für ihn und weist ihn energisch zurecht, indem sie ihm sagt, er solle genauso ruhig sitzen bleiben wie die anderen Leute auch. Der Junge läßt die Predigt ohne Regung über sich ergehen. Wenig später startet er noch einmal

Modelle des

14

Erziehungsbegriffs

einen Versuch. Doch als ihm diesmal der ältere Herr mit dem Finger droht, läßt er ab und sucht sich ein anderes Objekt. Es ist der Abfallbehälter mit seinem schweren Metalldeckel. Er macht ihn mehrfach auf und läßt den Deckel herunterfallen, so daß es laut kracht. Da schlägt ihm seine Mutter auf die Finger und schreit ihn an, daß sie mit ihm nirgends hingehen könne, ohne sich zu blamieren. An einer der nächsten Stationen steigt sie zur Erleichterung der anderen

Fahrgäste aus.

Danach sagt der ältere Herr, er bedauere es, daß heutzutage keiner mehr in der Lage sei, ein Kind richtig zu erziehen. Er meint auch, daß dies früher besser möglich gewesen sei, weil da noch mehr Ordnung geherrscht habe und andere Züchtigungsmethoden erlaubt gewesen seien. Es geht niemand der anderen Fahrgäste weiter auf das Gespräch ein. Man kann nur beobachten, wie ein Fahrgast ihm dezent zunickt und zwei andere daraufhin demonstrativ aus dem Fenster schauen. Leider können wir nicht in die Köpfe der einzelnen Beteiligten und auf die Motive für ihre Reaktionen schauen. Wir erlauben uns trotzdem, ein wenig zu spekulieren: Der Junge wollte mit Sicherheit nichts anderes, als auf sich aufmerksam zu machen. Warum er das gerade in dieser Situation wollte, würde mehr Hintergrundwissen über ihn und über die Verhältnisse, in denen er aufwächst, erforderlich machen. Mit Sicherheit aber kann man behaupten, daß sein „Benehmen" in der S-Bahn genau die Art und Weise ist, die er eben dazu benutzt. Das Stoßen mit dem Fuß ist seine Art zu zeigen, daß er wahrgenommen werden will. Daß er dabei die Antwort offensichtlich provoziert, könnte damit zusammenhängen, daß er bisher vielleicht nichts anderes kennt und kennengelernt hat als, daß man Antworten nur über massive Provokationen erhält. Vielleicht lebt er in einem Milieumodell, dessen soziale Identität über derartige Muster gewonnen wird. Die Reaktionen des älteren Herren zeigen solchen potentiellen Zusammenhängen gegenüber wenig Verständnis. Er fühlt sich durch das Stoßen an sein Bein verletzt und reagiert mit einer Drohgebärde. In die Situation mischt er sich aber nur indirekt ein und überläßt die persönliche Reaktion der Mutter. Nur als er sieht, daß deren Ermahnung auch nicht greift, wird bei ihm der Ruf nach einer starken Autorität laut, die dieser schwachen Mutter zu Hilfe kommen sollte. Die Mutter selbst sieht sich in der Situation vor allem dem Druck eines ihr bekannten öffentlichen Regelsystems ausgesetzt. Sie will nicht, daß ihr Sohn sie in dieser Hinsicht blamiert. Sie versteht darum sein Verhalten nicht als Streben nach Wahrgenommenwerden, sondern als Angriff gegen sie und ihre persönlichen Erziehungsfähigkeiten als Mutter. Sie ist nicht in der Lage, darüber zu reflektieren, an welchem Modell ihr Sohn gerade lernt. Sie würde mit Sicherheit nicht den Klaps auf seine Finger als Modell hernehmen (obwohl auch das ein Modell ist), sondern sie würde eher die anderen frechen Kinder zitieren, mit denen er Umgang hat.

Exkurs: Einige Menschen verbinden mit dem Wort Erziehung aber auch Angenehmes. Sie denken dabei meistens an Situationen, in denen sie von anderen, von den Eltern, Lehrern oder Vorgesetzten gelobt wurden, im Mittelpunkt standen, Anerkennung fanden oder einen Freiraum bekamen. Sie hatten dann das Gefühl, daß für sie ein Platz da war, auf dem sie sich ausbreiten konnten, emotional aufgehoben waren, an dem man ihnen Fehler verzieh und sie für ihre Leistungen lobte. „Wer trüb dreinschaut und wie nasse Wäsche herumhängt, bekommt nur trübe Antworten und wird nie trocken hinter den Ohren", so hieß es. Schwierig wurde es höchstens dann, wenn das Vorbild des autonomen, aktiven, selbstbewußten, zielstrebigen, stabil sonnigen Menschen, der das Lernen gelernt hat und die Tricks einer Show kennt, nur teilweise imitierbar war. In einem solchen Fall mußte man eben die Schattenseiten dezent und unauffällig überspielen und sich laut auf die Brust klopfen und rufen: „Gerade darin bin ich besonders gut". Denn allein schon durch das

Kapitel

I: Von der

Streben nach Leistung wurde der solche Erziehung bekräftigt. o

Pädagogik zum Erziehungsbegriff

Erfolg

15

eklatant. Mit ihm wurde auch das Lob für eine

Was wird daraus deutlich?

Unter dem Begriff „Erziehung" verstehen viele Menschen offensichtlich Situationen, in denen Erwachsene den Nichterwachsenen mit Hilfe deutlicher Reaktionen klarzumachen versuchen, welches Verhalten für sie Sinn hat. Dazu zählt vor allem jenes öffentlich akzeptierte Verhalten, über das sich niemand aufregt oder das alle toll finden. Dabei ist es eine weitverbreitete Meinung, daß diejenigen, die ein solches Verhalten nicht haben, abweichen und durch entsprechende Beeinflussungen auf den richtigen Weg zurückfinden sollen. Natürlich wäre es dabei am besten, die Betreffenden würden das von sich aus tun. Ist das nicht der Fall, weil es für sie aus irgendwelchen Gründen nicht möglich ist, so müssen sie sich von außen korrigieren lassen. Die Mittel für diese Fremdkorrektur sind sehr vielfältig und hängen von den Gewohnheiten und Gepflogenheiten der Erziehungstradition einer Gesellschaft und seines Kulturkreises ab. So befinden sich vielleicht die Klassenzimmer, in denen Kinder in der Ecke stehen müssen, weil sie dauernd schwätzen, mit großer Wahrscheinlichkeit immer noch in unserem Land. An den Disziplinierungsmaßnahmen läßt sich erkennen, in welcher Weise ein Land seine eigenen Kinder erzieht. Seltener assoziiert werden Vorstellungen zu einer Erziehung, die ganz ohne Fremdeinwirkung abläuft. Das liegt offenbar daran, daß in den Bildern von der Erziehung immer sehr schnell auch Autoritätspersonen auftreten, die das Sagen haben.

Exkurs: Drakonische Erziehungsvorstellungen vergangener Zeiten werden zwar regelmäßig öffentlich an den Pranger gestellt, sie sind in unserer Gesellschaft aber alles andere als verbannt. Das Buch „Die Kunst, Kinder zu kneten" von Rudi Palla (1997) gibt Anlaß zu begründeten Vermutungen in diese Richtung. Kinder werden zum Objekt pathologischer Machtgelüste. Von Kunst kann da eigentlich nur ironisch die Rede sein, eher schon von durchtriebener Raffinesse. Denn der Autor zeigt, daß es Erwachsene bei der Ausübung ihres Regimes vergleichsweise leicht haben, weil Kinder in ihrem anfänglichen Ur-

vertrauen, die Welt wird es schon gut mit ihnen meinen, offensichtlich keine andere Chance haben, als alles mit sich machen lassen zu müssen. Der journalistische Text enthält eine detaillierte Recherche zu allen erdenklichen Barbareien, die im Grunde allesamt darauf hinauslaufen, Menschen als blinde Untertanen zu züchten. Erziehung erscheint im Gewand einer international etablierten Folter. Kinder werden als lästige Subjekte zu Feinden der Erwachsenenwelt. Sie werden als billige Arbeitkräfte und Figuren der Begierde mißbraucht. Man macht sie zu Soldaten und schickt sie auf Minensuche. Den Nährboden für solche Haltungen bilden und massenpsychologische Hintergründe:

darwinistische, rassenideologische, nationale

Orientiert an einer darwinistischen Evolutions-Biologie, in der nur der Starke überlebt, werden alle Schwachen von vorneherein mißachtet, so daß sie keine andere Chance haben, als in selbstzerstörerische und zwanghafte Ersatzwelten zu flüchten. Statt Zuneigung stopfen sie alles Erdenkliche in sich hinein, weil sie zu spüren bekommen, daß ihre Eltern am liebsten ein Elitekind aus dem Katalog hätten. Die Eltern selbst aber sind verwundert, wenn ihre Kinder ihnen und anderen gegenüber aggressiv werden. Durch die Einteilung der Menschheit in Rassen entsteht eine Kulmination des Elitedenkens. Wir kennen den geschichtlichen Hintergrund zur Genüge: Die Ersatzwelt für mangelnde Anerkennung ist hier eine dumpfe Blut-und-Boden-Ideologie, die auf dem irrationalen Prinzip der Verachtung all derjenigen beruht, die nicht die äußeren Geburtsmerkmale haben. Der Übermensch ist blond, blauäugig und deutsch und er ist für die industrielle Vernichtung der Abarten in der Geschichte zuständig. Erziehung wird zum nationa-

16

Modelle des

Erziehungsbegriffs

listischen Säuberungsinstrument, das alle Schwachen, Kranken und Gebrechlichen eliminiert. Menschen zu solchen Gedanken hin zu erziehen, entwürdigt die Idee der Erziehung auf die finsterste Weise. Frauen werden nur geachtet, wenn sie Soldaten gebären, und Mütter, wenn sie bereit sind, ihre Söhne für das Vaterland zu opfern. Die Geschichte zeigt viele Beispiele dafür, daß eine Erziehung zu einem nationalen Stolz, der nur die Ehre des eigenen Volks als die eines Herrenvolkes kennt, mit der Bildung intoleranter Haltungen einhergeht. Eine solche Erziehung fördert und protegiert Diskriminierung und Gettoisierung. Die Förderung der Ansicht, das Individuum habe nur durch den Dienst an der Masse eine Identität, erspart dem einzelnen die Ausbildung eines individuellen Gewissens. Wenn die Masse Unrechtes begeht, fühlt sich der einzelne nicht schuldig. Er begreift sich in der Herde nämlich nur als deren Befehlsträger. Eine der Folgen ist, daß sich die Fähigkeit des Unterscheidens von Recht und Unrecht auflöst, und die Dimension kritischen Verstehens durch eine Haltung ersetzt wird, die lautet „Was kann ich dafür, wenn ich Opfer der Masse bin". Eine andere Position toleriert grundsätzlich Repressalien gegenüber Minderheiten, weil sie nicht will, daß anders seiende, anders denkende und anders aussehende Menschen gleichberechtigt sind. Auch Alice Miller (1981, S. 17-112) nennt in ihrer Beschreibung der Schwarzen Pädagogik zahlreiche erschreckende Beispiele, deren Quellen aus einer derart umrandeten Erziehung stammen. Für sie kann eine positive Erziehungspraxis nur verwirklich werden, wenn die Schatten der eigenen Vergangenheit, die der Eltern, erkannt werden. Nur dadurch kann eine andere Erziehungshaltung gewonnen wird. Eltern müssen aus dem Teufelskreis der Untaten ihrer Eltern aussteigen, um den Wiederholungszwang des Grausamen zu durchbrechen. Sie können dies, wenn sie ihre Erziehung rekonstruieren und sich im Verlauf dessen rational und gefühlsmäßig von den Eltern lösen, indem sie sie nicht mehr als Götter sehen, sie nicht mehr idealisieren, sondern in der Lage sind, die Eltern als Verursacher eigener Erziehungszwänge und Verformungen zu sehen, und es sich selbst zugestehen, sie darin auch anklagen und beschuldigen zu dürfen.

5. 2. Bilder und

Vorstellungen der Erziehung

In Anlehnung an F.W. Krön (2001, S.196 -221) wird die Diskussion um den Erziehungsbegriff von „Bildern" beeinflußt, die in Auseinandersetzung mit historischen Positionen einen vorbegrifflichen Kontext bilden. Erziehung ist darin „Ziehen", „Führen", „Zucht", „Wachsenlassen", „Anpassung" und „Lebenshilfe" (S. 197). In dieser Aufteilung finden verschiedene Zuordnungen zur Gesellschaft und deren sozialer Verfaßtheit, zur Natur und deren prozessualer Entwicklungspotenz und zum Individuum und dessen Fähigkeit zur Transzendenz statt. Die nachfolgende Auflistung soll eine kurze Übersicht dazu geben: Erziehung als Ziehen am Beispiel des Höhlengleichnisses von Piatons (427-347) ,Politeia' (1958): Ziehen wird hier als Befreiung aus der Dunkelheit zum Licht der Klarheit hin

und zur höheren Erkenntnis beschrieben. Im Grunde ist die Vernunft dabei bereits vorgedacht das eigentliche Ziehmittel. (Krön geht in diesem Zusammenhang auch auf Ballauff 1952, Heidegger 1954, Netzer 1972, Geißler 1973 ein.) Erziehung als Führen ist dem militärischen Denken entnommen. Dabei kommen alle Formen von Unterordnung unter eine Autorität zum Zuge, (zitiert werden hier Strzelewicz 1972, Peter Petersen 1963). Die Formen der Autorität können sein: Amtsautorität (aufgrund einer Position), Personenautorität (aufgrund einer Ausstrahlung), Sachautorität (aufgrund eines Expertenwissens) und Auftragsautorität (aufgrund von Legitimität)

Kapitel

1: Von der

17

Pädagogik zum Erziehungsbegriff

der Autorität für die Erziehung liegt aber mehr in der Vorbild- und Orientierungsfunktion als in der Funktion einer Disziplinierung. Erziehung als Zucht läßt sich auf Johann Friedrich Herbart (1776 1841) zurückführen, dem Begründer des Unterrichts. Trotz des negativen Bedeutungsumfelds, das im heutigen Sprachgebrauch dazu assoziiert wird, ist damit auch ausdrücklich das Thema des Motivierens in Form eines Ansporns des Willens verbunden mit einer gegebenen oder herzustellenden Ordnung verbunden. Diese Ordnung ist bei Kant in der Erziehung zugleich die Anlehnung an Prinzipien der Vernunft und des sittliches Handelns, in dem sich die Natur des Menschen sich nicht gegen sich selbst stellen darf (Kant 1968). Insofern sind auch die Grenzen der Disziplin durch eine blinde Hingabe an die Macht abgesteckt. Erziehung als Wachsenlassen beruht auf dem Hintergrund naturalistischen Denkens. Hier ist an erster Stelle Jean-Jacques Rousseau (1712-1787) und sein berühmtes Werk „Emile oder über die Erziehung" von 1762 (1963) zu nennen. Das Vertrauen auf die positive Kraft des Wilden in der Natur des heranwachsenden Menschens ist pädagogisch zentral und wird zur Richtschnur einer behutsam betreuten Entwicklung. Aufgegriffen wurde diese Richtung in vielfacher Hinsicht, negativ wie positiv. Die positive Variante ist in die Reformpädagogik (W. Flitner 1974), in die Anti-Pädagogik (von Braunmühlder1975) eingebesagt, der flossen und auch in jenen Teil der sogenannten Antiautoritären Erziehung, Mensch ist von Natur aus gut (A.S. Neill 1969). Erziehung als Anpassung ist stark an lerntheoretische Systeme geknüpft. Sie beschreiben Verhaltensweisen, die vom Begriff der Konditionierung bis zum Lernen am Modell ausdifferenziert sind. Hier sind vor allem die Untersuchungen von Tausch & Tausch (1998) zu nennen. Kritisch zu sehen ist hier der damit verbundene Technologietrend, Erziehung als kontrolliertes und effizientes Machen zu verstehen. (1815 Erziehung als Lebenshilfe ist mit vielen Namen verbunden. Giovanni Don Bosco Glauben heraus Er1888) ist einer der ersten in der Geschichte, der aus dem christlichendie stigmatisiert und ziehungshilfen für alle Menschen fordert, also auch für diejenigen, leben. Ähnliches gilt für Johann Heimich Peder Rand Gesellschaft am ausgeklammert stalozzi (1746 -1827), der in seinem vielzitierten Stanser Brief (bei Krön zitiert S.207), die Bedeutung der liebevollen Beziehung in der Erziehung literarisch beschreibt. histoAus der dargestellten Übersicht wird deutlich, wie die Vorstellungen von der Erziehung Heranwachsenden von der im Prozeß Förderung risch um den Punkt eines positiven Umgangs kreisen. Sie kommen aufgrund der unterschiedlichen Perspektive, von der aus sie das Geschehen betrachten, zwar zu unterschiedlichen Aussagen über das, was die Gesellschaft, was die Natur und was das Individuum im Zentrum beitragen muß, sie scheinen aber im Bemühen um Humanität übereinzustimmen.

(ebenda S.273).

Die

Bedeutung

-

-

5. 3. 5. 3. 1 Zu den

Grundbedingungen der Erziehung

Erziehung als existentielle Voraussetzung solchen

daß der Mensch nicht mit anthropologischen Wahrheiten gehört die Tatsache, die ihn von sich aus das Überleben lernen

autodidaktischen Fähigkeiten auf die Welt kommt, eilassen könnten. Er braucht länger als viele Tiere, das elterliche Nest zu verlassen, um auf Erfahden und die er braucht Zuwendung noch Und stehen. selbst zu später genen Füßen rungsvorsprung anderer Menschen.

Modelle des

18

Erziehungsbegriffs

Zusammenhang ist vor allem ist die Erziehungslehre von Immanuel Kant (1724 (Kant, 1968). Er schreibt (S. 697): „Der Mensch aber" (im Gegensatz zum Tier) „braucht eigene Vernunft. Er hat keinen Instinkt und muß sich selbst den Plan seines Verhaltens machen. Weil er aber nicht sogleich imstande ist, dieses zu tun, sondern roh auf die Welt kommt, so müssen es andere für ihn tun. Die Menschengattung soll die ganze Naturanlage der Menschheit, durch ihre eigene Bemühung, nach und nach von selbst herausbringen. Eine Generation erzieht die andere" (vgl. dazu auch F.W. Krön 1999, Ausführungen In diesem

1804)

zu

-

zu nennen

Kant, S. 116- 120).

Auch für Klaus Mollenhauer ist Erziehung „ein anthropologischer Grundsachverhalt menschlicher Existenz", die vielleicht sogar lebenslang darauf angewiesen ist (K. Mollenhauer 1996 S. 171). Dabei ist die Zielrichtung dieses Angewiesenseins von vorneherein durch den Ort, durch die dort herrschende Kultur, durch die sie umgebende Macht und die agierenden Menschen determiniert. Der Mensch ist so gesehen genötigt, sich dort, wo er eben lebt, zurechtzufinden. Zum Glück besitzt er die Sprachkompetenz, um das Bedeutungsgefüge der mit ihm Lebenden und das seiner Ahnen zu entziffern, weiterzugeben und aktiv zu gestalten (vgl. N. Chomsky 1973). Zum Glück aber gibt es auch die vorausgegangene Generation, aus deren Tradierungswillen sich der Auftrag ergibt, sich darum zu kümmern, „das Insgesamt der herrschenden Kultur durch ihre Person und ihre Handlungen in verstehbarer, sinnvoller Form der nachwachsenden Generation zu präsentieren" (E. Engelke 1998 S. 292 über Mollenhauer). Mit dieser Sichtweise ist zugleich die Begründung von Erziehungszielen und -methoden gegeben, da sichergestellt sein muß, daß Erziehung im existentiellen Sinn auch glückt. Für Mollenhauer ist darum das „Instrumentieren der Interaktion zwischen den Generationen" (ebenda 1996 S. 171) eine Art pädagogischer Nestbau und damit eine gesellschaftliche Pflicht, die eigene Existenz sinnstiftend entsprechend den Bildungsmöglichkeiten zu tradieren.

5. 3. 2.

Erziehung als Sozialisierung und Sozialisation

Reaktionen, die erzieherische Absichten enthalten, transportieren immer zugleich auch soziale und öffentlich verbindliche Verhaltensregeln und -normen. Der meist nicht bewußte Anteil des darin enthaltenen Geformt- und Geprägtwerdens ist Teil einer Sozialisierung. In ihr wird der Prozeß der Internalisierung gesellschaftlicher Gepflogenheiten, Riten und Verhaltensmuster von sozialen Systemen beschrieben und damit auch die Verinnerlichung aller Formen sozialer und sozialangepaßter Einstellungen und Verhaltensweisen. Erziehung würde in diesem Kontext die Rolle einer reflektierten und organisierten Förderung der Sozialisierung und somit auch die Förderung von Sozialverhalten bedeuten. Der Begriff der Sozialisation hingegen liefert darüber hinaus die wissenschaftliche Erklärungsgrundlage für die automatische Assimilation kultureller Kontexte. Speziell ist die Sozialisation damit auch die Erklärungsgrundlage für die Übernahme von Einstellungen und Verhaltensweisen aus der Zugehörigkeit zu primären und sekundären gesellschaftlichen Systemen (Familie, Schule, Milieu). Mit dem Begriff ist vor allem die unausweichliche Tatsache einer (der Erziehung vorausgehenden) Prägung des Individuums durch die Sozialstruktur der Umgebung gemeint. Dabei ist Sozialisation auch ein Lernprozeß, im Verlauf dessen vor allem über das Erlernen der Sprache die symbolischen Spezifika der Werte und Normen der unmittelbaren Umgebung verinnerlicht werden (vgl. H. Fend 1977). Hinzu kommt der anthropologische Tatbestand der „Offenheit" und „sozialen Natur" des Menschen ( J.L. Child 1954, S. 655 692). Darüber hinaus wird die Sozialisation als Übernahme der Wahrung des Vorausgegangenen auch als gesellschaftliche Überlebenskraft betrachtet. Weitere Erkenntnisse ergeben sich aus der Verbindung der Begriffe Sozialisation und Schicht. Über die Schichtzugehörigkeit und deren Wertesystem entstehen auch Prägungen von Talen-

Kapitel I: Von der Pädagogik zum Erziehungsbegriff

19

ten in Bezug auf die berufliche Laufbahn. So ist insbesondere die erlernte Sprache Ausdruck der Herkunft und damit auch Schlüssel für Berufschancen. (Erkannt wurde dies vor allem durch die Forschungen von Basil Bernstein 1980.) Die Diskussion um den Prägungsprozeß in der Sozialisation macht deutlich, daß Determination und Autonomie nur durch metatheoretische Reflexionen kritisch differenziert werden können. Sozialisation als „Vergesellschaftung" der menschlichen Natur zu sehen (vgl. Hurrelmann 1976) gibt der Erziehung nur dort einen Raum, wo sie über die Förderung sozialen Lernens hinaus eigene sozialisationstranszendente Ideen und Intentionen hervorbringt. Erziehung nur der Sozialisierung unterzuordnen würde bedeuten, sie in strenger gesellschaftliche Funktion zu halten und die nicht machtkonformen Gegenentwürfe von vorneherein zu beschneiden. Erziehung der Sozialisation überzuordnen würde andererseits die Gefahr enthalten, daß Erziehungsabsichten weltfremd über sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Bedingungen hinweggingen. Erziehung ohne die Berücksichtigung einer Prägung durch unterschiedlich vorhandene materielle Ausstattungen und wäre selbst rücksichtslos. Insofern kann dies (mit F.W. Krön 6/ 2001, S. 90) nur als „eine bewusste und absichtsvolle Intervention im Sozialisationsprozess zugunsten der agierenden Subjekte aufgefasst werden".

5. 3. 3.

Erziehung als bewußt verantwortete Formung und Prägung im Rahmen von Lernen, Entwicklung und Bildung

verantwortete Formung und Prägung ist Teil des professionellen pädagogischen Handelns und dessen Vorbildern und Vorgaben. In Ergänzung zum Anpassungsprozeß durch die Sozialisation muß Erziehung kritisch reflektiert, ethisch hergestellt und organisiert werden. Sie wird dementsprechend zu einer öffentlich legitimierten Veranstaltung organisierter Lernentwicklung. Exkurs: Der Bezug zur Ethik in der Erziehung ist allein schon deswegen von besonderer Bedeutung, weil mit der anthropologischen Offenheit des Menschen rein praktisch auch eine grenzenlose Verführbarkeit einhergeht. Sie human zu begrenzen bzw. von allen offenen und verdeckten Formen der Menschenverachtung, der Grausamkeit und Folter sowie von nicht zu rechtfertigender Gewalt, nicht gerechtfertiger Herrschaft und Manipulation abzugrenzen, ist zwar oberstes Gebot, es ist jedoch ein Gebot, das schwer einzulösen ist. Haupthindernis ist nämlich die prinzipielle Schwierigkeit, das Menschenbild der Erziehung bzw. das, was Erziehung sein soll, aus dem abzuleiten, was sie ist und wie sie sich zeigt (vgl. D. Zink 1988). Eine Ethik aus dem Eigeninteresse darf nur so groß sein, wie das an anderen. Daraus ergibt sich auch die Anteilnahme als Prinzip in der menschli-

Erziehung als bewußt

1994). Die Begriffe „Lernen", „Entwicklung" und „Bildung" werden bei F.W. Krön (6/2001, S. 67 81) als „intrapersonale Grundbegriffe" behandelt. chen Natur (A. Smith

-

von Lerntheorien beruht auf der Unterschiedlichkeit von Grundannahmen über den Vorgang der „inneren Organisation" des Subjekts und dessen nach außen gerichteter Transformation in der Form von Anwendungen. Lernen kommt einer „sinnverstehenden Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt" (ebenda S. 69) gleich. Die Außenorganisation führt zur Gestaltung der Umwelt, führt also dazu, „kulturell tätig zu sein und sozial zu handeln" (ebenda). Die innere Organisation aber sollte sich „an dem Wert der verantworteten Selbstverwirklichung des Menschen orientieren" (ebenda; Krön beruft sich hier auf J.S. Bruner 1980, S. 57 ff.)

(a) Die Vielzahl

20

Modelle des

Erziehungsbegriffs

Entwicklung versteht Krön die „ständige Differenzierung des Organismus bei imIntegration" (ebenda S. 71). Evolution, Teilung und Zusammenfindung sind die von H. Spencer (1820 1903) und G. Darwin (1809 1882) formulierten Grundkräfte. Der Gedanke einer menschlichen Grundausstattung, die sich zu Höherem hin entwickelt, ist jedoch nur durch eine inhaltliche Vorstellung des Höheren möglich. Vom Standpunkt der Vernunft aus gesehen, ist dies allerdings dann mehr als fragwürdig, wenn ein solches Erziehungsmaß ideologisch mißbraucht wird, so wie dies in der NS-Pädagogik der Fall war. Heute ist der Begriff der Entwicklung differenzierter. Er wird geprägt von unterschiedlichen wissenschaftlichen Grundannahmen. Zum einen ist Entwicklung ein Mechanismus der Verhaltensänderung durch die Zunahme von Erfahrungen. Zum anderen ist sie die Aktivierung eines angeborenen Programms der Reifung und der Selbstgestaltung des Subjekts. Und schließlich die einer Selbstkonzeption- und Selbstkonstruktion. Nach den Grundannahmen richtet sich auch die Annahme von Entwicklungsabschnitten, -stufen und -phasen (vgl. J.Piaget 1992; M. Montessori 1952). (b)

Unter

mer

höherer

-

-

(c) Der Begriff der Bildung als „innere Übersicht" stammt, so wie er auch heute noch verwendet wird, von Wilhelm von Humboldt (1767 1835). Beeinflußt durch die Gedanken der

die autonomen Kräfte der Vernunft in den Mittelpunkt der WeltbegegWenn Weltbegegnung sich nicht nur im Bereich der individuellen Deutung verlieren nung. soll, sondern transparent und überindividuell sein soll, muß sie auch allgemeine Weltbedeutungen konservieren, die als Kulturgüter wissensmäßig, emotional und instrumentell erfaßt und gelernt werden können. In gewisse Weise ähnelt dieser Gedanke auch der Diskussion um Vorstellung des Kategorialen im Bildungsbegriff von W. Klafki (1996). Dahinter steht die Vorstellungen von „Grundformen und -inhalte menschlicher Selbst- und Welterkenntnis die sinnvolles Handeln überhaupt erst ermöglichen" (Krön ebenda S. 77). Erst durch sie kommt es zur Kritikfähigkeit, sich und der Welt gegenüber, zur Argumentationsfahigkeit und zur Fähigkeit der Empathie (nach W. Klafki ebenda S. 78). Was die Kritikfähigkeit bestehenden Bildungsinhalten gegenüber betrifft, so ist darin natürlich auch die Kritik an den Vorgaben enthalten, die durch das Diktat der Bildungspolitik der Kategorie des kulturellen Bewußtseins aufgezwungen werden. Eine Bildung, als deren Höchstform die gymnasiale angesehen wird, wird dann schnell zum Selektionsinstrument. Bildung, die als individuelles Potential der Vergangenheits- und Zukunftsbewältigung betrachtet wird, aber wird zur befreienden Gegenwirklichkeit (vgl. H.-J. Heydorn 1972).

Aufklärung

stellt

-

er

..,

5. 3. 4.

Erziehung als Prozeß

als einen Prozeß zu sehen, heißt über die Statik von Begrifflichkeiten hinaus den Blick auf die Lebendigkeit der Praxis zu werfen. In ihr ist Erziehung ein Geschehen, das sich aus ständig wechselnden Situationen entwickelt, die oft alles andere als vorhersehbar, überschaubar und lenkbar sind. Es sind Situationen, in denen dramatische Abläufe geschehen, die nicht immer wie ein allgemeines Geschehen theoretisierbar sind, geschweige denn kausal erklärt werden können. Dennoch soll hier der Versuch gemacht werden, nach Basisquellen für Prozeßverläufe, für Entwicklungen und Veränderungen zu suchen, denen die Erziehung entweder unterliegt oder die sie auf der Handlungsebene berücksichtigen muß. Dazu wird die Unterscheidung von Individuum, Umwelt und Austausch von Individuum und Umwelt aufgegriffen und für eine Klassifizierung generierender Faktoren benutzt, die ihrerseits das Erziehungsgeschehen

Erziehung

hintergründig dynamisieren:

Kapitel

[: Von der Pädagogik

zum

Erziehungsbegriff

21

Prozeßquellen des Individuums Existentielle Wachstumsquellen: Individualität

Zugehörigkeit (Familie, Kultur, Religion) Sicherheit

Wertschätzung Gestaltungs-, Handlungs- und Entscheidungsfreiheit Psychische WachstumsVerhaltensbedingte Wachstums- und Entwicklungsquellen: quellen: Begabung positive Verstärkungen Talent Belohnung Loh Intelligenz •







• •

und

Entwicklungs-



Vorbild



Kreativität

'

Erfahrung_

Seelische Kräfte: • Emotionen

Psychische Energien: Assoziationen

Bedürfnisse



Triebe Wille

Einstellungen

'

Neid



Angst



Trauer Wut Zorn

• • • • •

Wachstums-

und

Ent-

Glück Gesundheit

Verachtung Anerkennung Haß Liebe

Biologische Wachstumsquellen: Körperlichkeit

und

Entwicklungs-

Wachstums- und

Entwicklungs-

• •

Wohlbefinden Lebensreife_ Geistige Entwicklungsquellen: Geist

Vernunft



Geschlecht Lebensalter

Körperliche quellen: Kraft •

Erkenntnis

Reflexions-, Analyse-

Aggression





Psychosomatische wicklungsquellen:

Affektionen

Kräfte des Gemüts: • Vertrauen • Vertrautheit • Freude

und

Diagnosefähig-

keit

Kritikfähigkeit Ethikbewußtsein Intuition

Anschauung_



Geschicklichkeit



Körpersprache

22

Modelle des

Zustände und Verhältnisse:

Erziehungsbegriffs

Prozeßquellen der Umwelt Strukturen und Machtverhältnisse:



Armut





Reichtum

• • • •

Kultur und Riten •

Rollen Positionen Hierarchien Interessen

Prozeßquellen aus dem Austausch von Individuum und Umwelt Religion (als Faktum): Sprache (als Fähigkeit und Möglichkeit):





Ausstattung

Regeln

Normen



Kommunikation



Dialog



Interaktion

• •

Verhandlung

Austausch

Beziehung: Wertschätzung • •



Konkurrenz

Konflikt



Rivalität

»

Kompromiß_

Erziehung als Prozeß zu theoretisieren, muß auch komplexe Betrachtungen über die Genese von Erziehungssituationen einbeziehen. In der Praxis jedoch ist dieser Rekurs auf grundlegende Energien, die wie ein Programm das Geschehen erzeugen, kaum in der erforderlichen Differenziertheit möglich. Dies bedeutet aber nicht, daß nicht auch grundsätzliche Kenntnisse dazu für das Handeln erforderlich sind (vgl. Bruner. J.S. 1980). 5. 4.

Pädagogische

für

Erziehung als Programm

helfender Rücksichtnahme

Hilfen im weitesten Sinn enthalten Formen der

Zuwendung und Unterstützung

Menschen, die bestimmte Ziele und Aufgaben nicht ohne fremde Hilfe meistern. Vor dem

Hintergrund professioneller pädagogischer Anforderungen wird daher Erziehung zu einer reflektierten und organisierten Form der ethischen Hilfe, Menschen in ihrem Lemwachstum zu unterstützen. Sie löst sich damit aus der Ebene einer rein herkunftsbezogenen Verstrickung und auch aus der der unüberlegten Reaktion. Erziehung erhält durch die Dimension der Hilfe nicht nur ihren Auftrag, sondern auch eine planbare und evaluierbare Struktur. Erziehung wird dadurch professionell. Neben den instrumentellen Aspekten haben Hilfen immer auch eine humane, dem Menschen zugewandte, ihn in seiner Lebenswelt und Lebenslage respektierende Dimension. Die Frage nach dem, wo sich jemand befindet, ist nicht nur Ausdruck dessen, sondern auch Programm. In ihm greifen Hilfen auf innere und äußere Ressourcen zurück, durch deren Aktivierung versucht wird, das bestmögliche zu erreichen. Eine solche Ressourcenorientierung schöpft alle vorhandenen Möglichkeiten in der Bereitstellung von Sachmitteln und im Angebot einer individuellen Beistandschaft, Beratung und Betreuung aus. Dadurch basieren Planung und Organisation erzieherischer Hilfen auf der

Kapitel

1: Von der

Pädagogik zum Erziehungsbegriff

23

individueller und struktureller Faktoren. Konkret heißt das, jede Hilfe muß auf den Stand des Individuums und seiner Umgebung Rücksicht nehmen. In diesem Zusammenhang heißt das, daß sowohl die innere Lebenswelt des Individuums gesehen werden muß, im Rahmen seiner Persönlichkeitsentwicklung und der vorhandenen, anthropogenen Fähigkeiten und Fertigkeiten des psychischen Raums, in dem sich die Erfahrungen, Anschauungen, Einstellungen, Stärken, Schwächen, Ängsten, Bedürfnissen, Interessen und Erwartungen befinden. Es muß aber auch die äußere Lebenswelt in Form von Lebensbedingungen berücksichtigt werden, die aus der soziokulturellen Umgebung besteht, aus den Wohn- und Familienverhältnissen, dem Freundeskreis und der Arbeit. Die Verschmelzung von innerer und äußerer Lebenswelt zum Begriff der Lebenswelt als solcher ist nur auf der Grundlage einer Theorie der Subjektivität möglich. Das Subjekt synthetisiert in seiner Lebenswelt Inneres und Äußeres zu einem persönlichen Sinnhorizont. Für die Erziehung bedeutet dies ein hohes Maß an Verantwortung, vor allem den Einflüssen aus der äußeren Lebenswelt besonderes Augenmerk zu schenken. Ein Beispiel dafür ist die Medienlandschaft: Wenn Filme und Sendungen zunehmend brutaler und entprivatisierter werden, so wird auch die Hemmschwelle geringer, Gewalt zu tolerieren, und die Neigung, sich an der Grausamkeit ergötzend zu erschrecken, wächst. Ähnliches gilt auch für die zunehmende Reduzierung des Schamgefühls. In gewisser Weise führt das Zusammentreffen von innerer und äußerer Lebenswelt zur individuellen Lebenslage, in der sich das Individuum befindet. Sie spiegelt, in welcher inneren und äußeren Lebenssituation sich Menschen befinden, ob sie in Lebens- und Wachstumskrisen stecken, wie sie am Gemeinwohl partizipieren, ob sie dazugehören oder isoliert sind. Zur inneren zählen auch Sucht, Neurosen und Phobien, zur äußeren materielle Verhältnisse, also Reichtum und Armut. Ein weiterer Faktor erzieherischer Rücksichtnahme ist die Lebensverfassung. Sie bezieht sich auf den seelisch-geistigen und körperlichen Zustand des Individuums, auf die Form und den Grad von Behinderungen und Krankheiten sowie auf psycho-somatische Auswirkungen. Umrahmt werden Lebenswelt, Lebenslage und Lebensverfassung von Systemelementen, die sich hinter dem Spannungsfeld von Individuum und Umwelt befinden. Es sind die Gesellschaft, die Wirtschaft und die Kultur (inklusive der Bereiche Kunst, Philosophie und Religi-

Berücksichtigung

on). Das nachfolgende Schaubild berücksichtigen muß:

stellt die

Hauptfaktoren

zusammen,

die der

Erziehungsbegriff

Modelle des

Erziehungsbegriffs

Kultur

Wirtschaft

Gesellschaft

Lebenswelt

anthropogene Lebenswelt

soziokulturelle Lebenswelt

(Lebensbedingungen) o Umgebung

Fähigkeiten Fertigkeiten Erfahrungen Anschauungen

Milieu Wohnverhältnisse Familie Freundeskreis Arbeit Rolle Position

o o

o

Einstellungen

o

Stärken Schwächen

o

o

Ängste

o

Bedürfnisse Interessen

Erwartungen

Lebenslage innere Lebenssituation

äußere Lebenssituation

Krisen Sucht Neurosen Phobien Traumata

o

Partizipation

der Gemeinschaft und am Gemeinwohl materielle

an

o

Verhältnisse

Lebensverfassung o

körperlich-seelische Verfassung

Umwelt

Kapitel 6.

1: Von der

Pädagogik zum Erziehungsbegriff

Protagonisten

des

25

Erziehungsbegriffs

Durch die theoretische Brille betrachtet, gliedert sich das Bild einer professionell organisierErziehung in einzelne Mosaikfelder. Näher klassifiziert sind es Mikro- und Makrofelder, die jede pädagogische Situation berühren. Die einzelnen Teile der Felder sind untereinander interdependent. Zueinander aber verhalten sie sich interaktionistisch wie Protagonisten auf der Bühne. ten

Exkurs: interdependent" und „interaktionistisch" sind Begriffe, die zum Ausdruck bringen, daß Erziehungshandlungen, gleich welcher Art und Absicht, nicht isoliert existieren. Sie haben inhaltliche Verbindungen und spielen Rollen, die aufeinander wirken, indem sie sich gegenseitig beeinflussen und verändern. Das Wort interdependent meint z.B., daß nicht gelobt werden kann, wenn nicht erstens jemand auch persönlich anwesend ist, der lobt, zweitens sich dahinter Ziele und Intentionen verbergen, drittens bestimmte Mittel und Methoden des Lobens verwendet werden, deren es bekanntlich viele sehr verschiedene gibt, und viertens sich der ganze Vorgang auch effektiv in dem gewünschten Sinne auswirkt. Das Wort interaktionistisch weist darüber hinaus daraufhin, daß jedes Lob nicht ohne Wirkung auf alle Beteiligten und auch nicht ohne Rückmeldung von den Beteiligten bleibt. Das Feedback ist in diesem Zusammenhang mit einem deutlichen oder stillen Echo auf die jeweilige Aktion vergleichbar. -

-

Aus dem Blickwinkel der Interdependenz können wir in Bezug auf die an der pädagogischen Situation beteiligten Protagonisten von vordergründigen Mikrofeldern und hintergründigen Makrofeldern ausgehen.

(A)

Zu den * * * * *

Protagonisten des Mikrofeldes gehören:

die Erziehenden die zu Erziehenden die konkrete Erziehung als Erziehungssituation (vor Ort) die Erziehungsziele die Erziehungsmethoden, Erziehungsmittel und Erziehungsstile

Zu den * *

Protagonisten des Makrofeldes zählen:

die Erziehungsideen und Erziehungsnormen das Erziehungseinrichtungen und Erziehungsinstitutionen

*

die Kultur

*

die Gesellschaft

*

die Wissenschaft der Erziehung

26

Zu

Modelle des

Erziehungsbegriffs

(A): Blickwinkel der Interdependenzen

Wissenschaft der Erziehung

Ideen Normen

Absichten Interessen

Erziehende

Erziehung

zu

Erziehende

Methoden £ Mittel Stile

Rahmenbedingungen Institutionen Gesellschaft

Wirtschaft

Die Erziehenden sind mit ihrer Person, Rolle, Position und ihren Motiven die Inhaber der Erziehungsverantwortung. Sie besitzen damit eine Machtposition und spielen eine gestal-

Erziehungskompetenzen sind kognitiven, instrumentellen und affektiFähigkeiten zugeordnet. Die kognitiven beziehen sich auf den Bereich der Sachkompetenzen und auf das erzieherische Wissen, die instrumentellen auf die Erfahrung im Umgang mit Methoden und Techniken. Die affektiven Fähigkeiten bilden die soziale Kompetenz Sie bestimmen das Vermögen der Kontaktaufnahme und Kontaktpflege bei der Gestaltung menschlicher Nähe. Die Beweggründe, pädagogisch tätig zu werden, sind ethi-

terische Rolle. Ihre ven

.

scher Herkunft. Sie stammen aus dem Bereich der Verantwortung und der Angst vor Verwahrlosung. Natürlich steht dahinter auch das Interesse, Heranwachsende fit für das Leben zu machen und ihnen die besten Chancen zu ermöglichen. Im Zentrum stehen die zu Erziehenden, deren Bedürfnisse, Interessen und Erwartungen, sowie deren Vertrauen zu den Erziehenden. Die zu Erziehenden sie wurden früher Zöglinge genannt sind als Subjekte in ihrer Individualität und Personalität die Adressaten er-

-

Kapitel zieherischer

I: Von der

Beeinflussung. Zentral

Pädagogik zum Erziehungsbegriff ist dabei die

Berücksichtigung

27

ihrer

Lebenslage

und

Lebenswelt, der sozialen Einbindung und kulturellen Herkunft, des Geschlechts, des Ent-

wicklungsstandes sowie der Fähigkeiten und Fertigkeiten. Während das Eingehen auf Bedürfnisse der Behebung existentieller Mangelzustände und Defizite dient, fuhrt das Versprechen, das die Erziehung dem gegenüber formuliert, zu einem Katalog von Erwartungen und natürlich zum Interessen, das Recht auf optimale Förderung auch politisch sicher-

zustellen. Die in der Erziehungssituation vor Ort konkret stattfindende Erziehung wird durch den Kontakt der Erziehenden zu den zu Erziehenden gestaltet. Die Situation als solche stellt im Erziehungsgeschehen den realen Ort. Er ist geprägt von den ästhetischen und kommunikativen Bedingungen und Lernanreizen. Zu den ästhetischen zählen die äußeren, raumzeitlichen und materiellen Voraussetzungen für das Zustandekommen von Vertrauen. Die kommunikativen beziehen sich auf die über die Sprache herzustellende Transparenz von Macht und Autorität an den Stellen in der Erziehung, an denen sie notwendig wird. Erziehungsziele, Absichten und Interessen sind Überzeugungen und Richtungen, die über die Erziehung realisiert werden sollen. Sie stellen Gegenwirklichkeiten dar, indem sie Sollwerte des Verhaltens und Handelns postulieren. Im Bereich des organisierten Lernens sind dies Lernziele des Lehrplans (bzw. des Curriculums). Bei der Verinnerlichung und Umsetzung von Wertvorstellungen repräsentieren Ziele aber auch ethische Positionen, in denen die Toleranz gegenüber Abweichungen von der sogenannten Normalität ein zentrales Thema ist. Erziehungsmethoden markieren die Transformationswege. Sie enthalten Mittel und Techniken sowie Schritte und Phasen. Die Erziehungsmethodik ist dabei das Ordnungssystem der verwendeten Mittel (bzw. Medien). Auch die Frage der Angemessenheit einer Methode spielt hier eine Rolle. Der Erziehungsstil kennzeichnet die Art und Weise des Kontakts und insbesondere des Grad des Verhältnisses von Freiraum und Ordnung. Die bekannten Erziehungsstile sind der sogenannte autoritäre, der demokratische und der laisser-faire-Stil. Der Bereich der Ideen und Normen der Erziehung enthält allgemeine Wertvorstellungen über Sinn, Zweck und Bedeutung der Erziehung für die Verwirklichung von Humanität. Die Rahmenbedingungen spiegeln die reale Möglichkeiten und Grenzen erzieherischer Maßnahmen. Die Einrichtungen und Institutionen sichern den organisatorischen Ort für die Erzie-

hung bestimmter Zielgruppen. Die Kultur trägt historisch gewachsene, weltanschauliche Leitideen und Leitbilder, die in der Regel über die Philosophie und die Kunst ausgedrückt und durch die Religion bewahrt werden.

Die Gesellschaft beeinflußt mit ihrem kulturellen Normensystem und den damit verbundenen Erwartungen alle am Erziehungsprozeß Beteiligte und somit auch die Qualität der pädagogischen Arbeit. Gesellschaftliche Erziehungserwartungen werden explizit, wenn Vorstellungen über Erziehungsrichtungen öffentlich verbindlich werden. So gesehen ist das kulturell gebundene, kulturspezifische Erziehungsbild das einflußreichste Feld. Von ihm wird einerseits politisch die Vernetzung der institutionellen Realitäten gesteuert. Andererseits hängen von ihm die religiösen Traditionen, Machtstrukturen und Normen ab, die soziale Abläufe regeln und kontrollieren. Die Gesellschaft selbst aber ist nicht freischwebend. Sie ist nach innen und nach außen wiederum abhängig und geprägt von ihrer eigenen wirtschaftlichen Lage. Allgemein wird Gesellschaft darum hier als das Einflußfeld einer Mehrheit und deren Dominanzkultur verstanden. In dem Satz, „Das macht man

28

Modelle des

Erziehungsbegriffs

nicht", ist meist die Erweiterung von „Bei uns macht man das nicht" enthalten und damit die stillschweigende (regionale) Übereinkunft über das richtige Verhalten. Es wird zur Norm (und Richtschnur), wenn es legislative Züge bekommt. Meist repräsentieren die Eltern die öffentlichen Erwartungen. Von ihnen wird gefordert, daß sie in der Institution Familie natürliche Erziehungsarbeit leisten, für die auch Geld bereitgestellt wird. Von den öffentlichen pädagogischen Institutionen wird professionelle Arbeit in Form von Dienstleistungen abverlangt, die auch dem Selbsterhalt dienen. In den Erziehungssituationen sind solche Rollenerwartungen allerdings meist nicht bewußt. Denn hier wird in der Regel auf konkrete Anforderungen und Probleme mehr oder weniger spontan reagiert, so daß die persönlichen Vorstellungen und individuellen Eigenheiten der Betreffenden sich mit den von außen an sie gestellten Erwartungen vermischen. Die Pädagogik als Wissenschaft konstituiert theoretische Begründungen, Modelle und Konzepte und liefert prinzipielle Aussagen zu den Zielen, Normen, Methoden, Menschenbildern und Ideologien, denen die Erziehung folgt. Was die gesellschaftliche Position der Pädagogik betrifft, so übt sie freilich auch einen Einfluß auf die Kulturgestaltung aus, wenngleich oft nicht den, der ihr gebührt. Denn an der Beantwortung von Kulturfragen sind meist andere Professionen beteiligt, denen die Öffentlichkeit oft mehr Zutrauen entgegenbringt. Dennoch dokumentiert die Pädagogik durch die geisteswissenschaftliche Erforschung ihrer Interessen nicht nur ihre eigene Erkenntnisentwicklung, sondern sie unterstützt auch den zunehmenden pädagogischen Handlungsbedarf einzelner Felder und Institutionen durch die von ihr entwickelte Erziehungsphilosophie. Die Erziehungswissenschaft als empirisch-analytisches System ist demgegenüber ein Bereich der Erziehungsforschung, dessen Fokus auf die Erfassung von Tatsachen gerichtet ist. Zur Realisierung dessen gibt es mittlerweile auch zahlreiche, sowohl den Hochschulen angegliederte, als auch Forschungsinstitute. Über gezielte Analysen und Diagnosen will man in die-

private

anwendungsbezogen zu Konzeptionen von Handlungskonzepten gelangen, ermöglichen, die pädagogische Praxis effektiver zu gestalten. Neben diesem Dienstleistungstrend und auch konträr zu ihm beschäftigt sich die pädagogische Forschung auch mit Themen von allgemeinerer Bedeutung. Sie tut dies als Grundlagenfornicht aus der schung, um sich selbst zu hinterfragen und auch deswegen, weil sie sich will und muß Sie kann. heraushalten konkreten Entwicklungen Verantwortung gegenüber wie z.B. nehmen zum grundlegend zu brisanten Problemen der Gesellschaft Stellungzur und Isoder zur Gewalt, Ausgrenzung Frage Drogenproblem, zur Jugendkriminalität, sem

die

Bereich

es

-

-

-

lation von Menschen oder zu alternativen Schul-, Lern- und Erziehungsformen. Wenn auch ihre Antworten nicht immer befriedigen, sind sie doch vom Bemühen gekennzeichdabei allernet, positive Veränderung zu ermöglichen. Als kritische Pädagogik bleibt sie Ideen mesan immer sich Realität die daß dings oft idealistisch, wenn sie der Meinung ist, sen muß. Dynamik (B) Aus dem Blickwinkel des Interaktionistischen betrachtet bildet die komplexeihnen zähCharakter des Erziehungsgeschehens. Zu verschiedener Ebenen den

eigentlichen

len: • •

• • • • •

die kommunikative Ebene die personale Ebene die historische Ebene die empirische Ebene die strukturelle Ebene die interaktionistische Ebene die

systemische Ebene

Kapitel Zu

I: Von der

Pädagogik zum Erziehungsbegriff

29

(B) : Blickwinkel der Interaktion

systemische Ebene itttetakttöitistische Ebene historische Ebene

empirische Ebene

personale Ebene ^^ :-:-:-:-::-:-x-

Erziehende

kommunikative Ebene

f

(

zu

Erziehende

strukturelle Ebene

Die kommunikative Ebene als Inhalts- und Beziehungsebene enthält die Sprache der und damit alle erzieherischen Formen und Stile des Sprechens wie z.B. Lob und Tadel, Ermunterung und Korrektur. Von großer Bedeutung ist die hinter den Sprachformen steckende identitätsstiftende dialogische Funktionalität der Kommunikation. Die personale Ebene wird vor allem durch das erzieherische Verhältnis in Form einer Subjekt-Subjekt- oder Ich-Du-Beziehung gebildet. Dabei ist die Herz-Verstand-Balance wesentlich. Das erzieherische Verhältnis ist der pädagogischen Norm der gegenseitigen Wertschätzung und Anerkennung untergeordnet. Zwischen den Erziehenden und den zu Erziehenden soll der Kontakt ein reversibles Mittel sein, damit die Positionen gerecht verteilt sind und der Wechsel zwischen denen, die reden, und denen, die zuhören, machtund gewaltfrei stattfinden kann. Die historische Ebene enthält die Entstehungsgeschichte der Erziehungssituation und die Biographien der Beteiligten. Sie erschließt sich durch den Rückgang auf vergangene Ereignisse und durch den Einbezug von nicht unmittelbar sichtbaren Einflüssen. So ist das Verhalten der Erziehenden und der zu Erziehenden vor allem geprägt von Herkunftsbezügen, zu denen die Sozialisation und kulturelle Zugehörigkeit gehören. Weil das so ist, ist auf der Seite der Pädagogik auch die Fähigkeit der kulturübergreifenden Sicht und Tole-

Erziehung

gefordert. empirische Ebene zeigt die meßbaren Erziehungsergebnisse auf. Durch sie werden Tatsachen zu Handlungsvorgaben. Die strukturelle Ebene beherbergt die politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnis-

ranz

Die

se. Das, was von der Idee der Erziehung realisiert wird, wird von den Strukturen determiniert. Im Bereich des Institutionellen und Organisatorischen gehen Strukturen mit den über Entscheidungswege gegebenen Zuständigkeiten einher. Auch die Ausstattung und

30

Modelle des

Erziehungsbegriffs

ästhetische Gestaltung der raum-zeitlichen Atmosphäre der konkreten Situation gehört daebenso wie das Erziehungsumfeld bzw. der Kontext, in dem die Handlungsriten, die Gebote und Verbote sowie Tabus und Regeln real gelebt werden. Zu den Strukturen im engeren Sinne zählen auch soziologische und institutionelle Rahmenbedingungen. Die soziologischen beziehen sich auf das Milieu, während die institutionellen den Ort der Erziehung zu einem organisierten, professionellen Handlungsfeld machen, in dem rechtliche und wirtschaftliche Auflagen im Vordergrund stehen und in dem Entscheidungswege und Zuständigkeiten geregelt sind. Die interaktionistische Ebene repräsentiert die reale Dynamik des Erziehungsprozesses. Das Entscheidende dabei ist die Tatsache, daß ein Vorgang einen anderen auslöst, auf ihn einwirkt und ihn verändert. Dynamik ist daher das Konstrukt für den gegenseitigen qualitativen Wandel von außersubjektiven und innersubjektiven Gegebenheiten. Sie ist die Grundlage für das Werden und Vergehen von Ereignissen, Beziehungen, Wertvorstellungen, Einstellungen und Haltungen. Die systemische Ebene bildet den dynamischen Hintergrund für alle Teil-Ebenen, die interaktionistisch in Kontakt miteinander kommen. Inhaltlich wird diese Ebene vom Spannungsfeld von Individuum, Gesellschaft und Kultur bestimmt. Die systemische Ebene bildet auch die Brücke zwischen den Blickwinkeln der Interdependenz und Interaktion. zu,

Kapitel II: Erziehung im Rahmen von Wissenschaft und Theorie 1. Wissenschaft und Theorie als formale

(a) Die Pädagogik als Wissenschaft bildet Theorien

Bezugssysteme

über die

pädagogische Wirklichkeit

und deren Genese.

In den Bereichen, in denen die Wissenschaft forscht, muß sie sich der Denk-, Erkenntnis- und Forschungsmethoden der Natur- und Geisteswissenschaft bedienen. Im Verlauf dieses Rückgriffs führt sie wie auch andere Disziplinen eine wissenschaftstheoretische Diskussion über die Erkenntnismöglichkeiten und -grenzen einzelner Methoden. Denn die Suche nach einer -

-

Fundierung des Erziehungsbegriffs macht eine Sondierung relevanter Erkenntnisinstrumentarien erforderlich. Um sie entsprechend auszuwählen, muß ihr wissenschaftlicher und theoretischer Verwendungszweck klar sein. Allgemein dient die Wissenschaft der (möglichst exakten) Theoriegewinnung und der Theoriebildung sowie der Weiterentwicklung, Modifikation und Überprüfung von Theorien und darin enthalten auch der theoretischen Begründungen von allgemein gültigen Aussagen und Vorstellungen. Wissenschaft ist so gesehen ein System der Wissensgewinnung und Wissensverwaltung sowie der Wissensveränderung und Wissensprüfung. Es dient der Theoriebildung. Wissenschaft und Theorie sind aufeinander bezogene Erkenntnissysteme mit unterschiedlichen Substraten. Ein zentrales Motiv für wissenschaftliches Tun ist der Wunsch, Erkenntnisse über die Welt zu gewinnen. Theorien hingegen sind über das Denken gewonnene geistige Vorstellungen über Grundlagen, Hintergründe und Zusammenhänge einzelner Objekte. So ist die Erziehungswissenschaft Erziehungsforschung und Erziehungstheorie Erziehungsvorstel-

lung.

Exkurs: Der viel zitierte Unterschied zwischen wissenschaftlichem Wissen und All-

tagswissen betont oftmals die Auffassung, daß es sich allein mit einer Portion von gesundem Menschenverstand ganz gut leben läßt oder umgekehrt, daß das wissenschaftliche Wissen ernüchternd kontraproduktiv und weltfremd ist und den Alltag (auch den eines Wissenschaftlers) nur grau färbt. Die Lebendigkeit des Alltagswissens ist insofern ein besonderer Gegenstand, als sie den Hauptbestandteil der individuellen Lebenswelt ausmacht. Alltagswissen ist darin die Summe sozialisations-, kultur- und lebenslagenbezogener Deutungsmuster, mit Hilfe derer Alltagsbewältigung vonstatten geht. Wissenschaftliches Wissen hingegen ist ein über Erkenntnis- und Wissenschaftsmethoden gewonnenes und durch sie auch überprüfbares Aussagengebäude, das die formale und inhaltliche Qualität eines Gegenstandes systematisiert. Das dazwischen angesiedelte berufliche Wissen versucht beide Teile zu integrieren. Unter Berücksichtigung der Erfahrungen vor Ort wird das wissenschaftliche Wissen (meist als gelerntes Wissen) auf seine Anwendbarkeit hin geprüft. Berufliches Wissen ist also Transformationswissen. (b) Wissenschaft und Theorie bezeichnen unterschiedliche Interessenssysteme. Exkurs: Wissenschaft und Theorie sind untereinander durch verschiedene Interessen (Aufgaben, Ziele, Ansprüche) vernetzt. Wissenschaft hat den Anspruch, wahre, gültige und allgemeine Grundlagen und Gesetzmäßigkeiten entweder selbst zu finden oder bestehende Aussagen, Vorstellungen und Modelle zu prüfen. Im ersten Fall dient die Wissenschaft der Theoriebildung sowie der Forschung und Entwicklung, im zweiten ist sie qualitätssichernd tätig. Theorie hat den Anspruch wahre Erkenntnisse in Form von Vorstellungen und Modellen darzustellen. Sie prüft damit auch wissenschaftliche Standpunkte.

32

Modelle des

Erziehungsbegriffs

(c) Wissenschaft und Theorie sind von einander abhängig. Ist die Wissenschaft dominant, so werden entweder durch wissenschaftliche Forschung Theorien gebildet oder die Theorie holt sich von der Wissenschaft externe Prüfung. Ist die Theorie dominant, so benutzt die Theorie die Wissenschaft entweder zu Selbstzwecken (also z.B. für ihre Weiterentwicklung) oder um als Wissenschaftstheorie der Wissenschaft gegenüber einen Standpunkt zu beziehen. Das Verhältnis beider wird in jedem Fall durch das Interesse geregelt, das beide verfolgen. Es gibt auch Theorien ohne wissenschaftlichen Bezug. Dazu gehören Vorstellungen und/oder subjektive Gedankengebäude, die oft mit einem Wahrheitsanspruch auftreten, ohne sich selbst einer externen Prüfung zu unterziehen.

1. 1.

Wissenschaftsgrundlagen

Begründungsprinzipien sind die von allen Wissenschaftsrichtungen geforderten Kriterien der Erkenntnisgewinnung und der Erkenntniskritik. Sie können auch als Wissenschaftsaxiome in Form von ersten Sätzen betrachtet werden, über die selbst kein Nachweis geführt werden

muß.

Begründet ist eine Vorstellung, wenn über deren Aussage ein wissenschaftlicher Nachweis geführt werden kann. Ein solcher hat den Anspruch, nur diejenigen Aussagen und Vorstellungen als begründet zu bewerten, die auch den wissenschaftlichen Kriterien entsprechen. In den Naturwissenschaften sind das die Prinzipien Objektivität und Intersubjektivität. In den Geisteswissenschaften sind es die Prinzipien Wahrheit und (kritische) Vernunft. Die Frage, ob eine Erkenntnis tatsächlich der Fall ist oder ob sie wirklich gegeben ist, wird durch Überprüfung der Objektivität geleistet. Die Frage, ob eine Erkenntnis allgemein gültig ist, d.h. von allen jederzeit und an jedem Ort nachweisbar und nachvollziehbar ist, wird durch die Intersubjektivität beantwortet. Die Frage, ob eine Erkenntnis authentisch ist, wird durch die Wahrheit gestellt. Die Frage, ob eine Erkenntnis sinnvoll und sinnstiftend ist, wird durch die kritische Vernunft geprüft. Damit wird die Wissenschaft allgemein zu einem Denk- und Handlungssystem, das durch Forschungsmethodik bemüht ist, Erkenntnisse über die Welt zu gewinnen, die den Anspruch von Objektivität und Intersubjektivität, Wahrheit und Vernunft einlösen. Objektivität und Intersubjektivität sind naturwissenschaftliche Prinzipien, die das Zweifelsfreie zum Gegenstand haben. Das ist das, was tatsächlich gegeben ist und was allgemein wahrgenommen werden kann. Wahrheit und Vernunft sind geisteswissenschaftliche Prinzipien, die die Eigentlichkeit und den Sinn von Erkenntnissen zum Gegenstand haben. 1. 2.

Wissenschaftstypologie

Wissenschaften unterscheiden sich durch ihren Betrachtungsgegenstand, das Materialobjekt als das, was betrachtet wird, und die Betrachtungsform, das Formalobjekt als das, wie etwas betrachtet wird. Einzelwissenschaften lassen sich am besten durch ihren Gegenstand, ihr Materialobjekt, voneinander trennen: So beschäftigt sich z.B. die Philosophie mit dem Wahren, die Psychologie mit der Seele, die Soziologie mit der Gesellschaft, die Politologie mit der Macht, die Ökono-

Kapitel II: Erziehung im Rahmen von Wissenschaft und Theorie

33

mie mit dem Geld und die Soziale Arbeit mit der Benachteiligung von Menschen. Materialobjekt der Erziehungswissenschaft ist die Erziehung. Formalobjekt ist die Hinsicht der Be-

trachtung.

Exkurs: Die Ursprünge einer vom Subjekt unabhängigen wissenschaftlichen Sicherung gehen mit der Entdeckung quantitativer Methoden des Messens und Wiegens einher. Der dadurch entstandene methodische Empirismus macht Front gegen den Rationalismus, indem er fordert, daß alle Vorstellungen erst dann zu wissenschaftlichen Erkenntnissen werden, wenn sie die empirische Prüfung überleben. Um dies mit einem Wort auszudrükken, geschieht dies, wenn sie quantifizierbar sind, und das heißt wenn sie tatsächlich beobachtbar, bzw. experimentell nachweisbar sind. Das Messen und Wiegen von Theorien führt natürlich zu einer Aufspaltung, deren gegenwärtige Ausprägung sich im Wissenschaftsstreit wiederfindet. In der Sozialen Arbeit ist die Kontroverse insofern außerordentlich bedeutsam, weil es immer noch zu den ungelösten Fragen sozialarbeiterischer Theoriebildung gehört, ob ein professionelles Hilfssystem für Menschen mehr eine Technologie ist oder ein sozialethisches Engagement. Durch den Inhalt des Gegenstands und durch dessen formale Betrachtung hat die Geschichte der Wissenschaft, vor allem die Philosophie der Neuzeit, unterschiedliche Wissenschaftstypen ausgebildet. Sie werden heute noch in naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Disziplinen und Fachbereiche gegliedert. Anlaß für diese Aufteilung ist der unterschiedlich praktizierte methodische Ansatz der Erkenntnisgewinnung. So werden die Naturwissenschaften in der Regel den erklärenden Wissenschaften, die Geisteswissenschaften den verstehenden Wissenschaften zugeordnet. Der Unterschied von „erklären" und „verstehen" wird oft als Trennschärfe zwischen einer auf Logik reduzierten Ursachenforschung und einer auf Intuition beruhenden vergleichenden Forschung benutzt. Während das Erklären kausal auf objektive Ursachen (Gesetzmäßigkeiten, allgemeine Regeln) zurückgeht, die den Entstehungszusammenhang von Phänomenen aufdecken, bezieht sich das Verstehen auf subjektive Sinnhorizonte. So kann z.B. ein bestimmtes abweichendes Verhalten durch Ursachen erklärt werden, ohne daß es auch im Sinne subjektiver Akzeptanz verstanden werden kann. Umgekehrt ist oft in der Praxis der Sozialarbeit vieles verstehbar oder verständlich, für das es keine Erklärung gibt (oder auch geben muß). Trotz erheblicher Unterschiede, von denen einige nachfolgend dargestellt werden, sind der Naturwissenschaft und der Geisteswissenschaft die Prinzipien Objektivität und Intersubjektivität gemeinsame Verpflichtung. Beide Megarichtungen sind sich auch darin einig, daß Wissenschaft immer darum bemüht sein sollte, möglichst Vorurteils- und wertfrei an die Welt heranzutreten. Damit verbunden ist auch die Auffassung, daß subjektive Eindrücke, Meinungen, Vorurteile usw. solange nicht abgesichert sind, daß sie also solange möglicherweise falsch sind und das Erkenntnisergebnis unbrauchbar machen, bis eine Begründung erfolgt ist. (Sich gegen Irrwege im vorhinein zu schützen, entstammt der naturwissenschaftlichen Richtung. Die Entlarvung eines Irrweges im nachhinein ist mehr o

geisteswissenschaftlicher Herkunft.) Was sind die Hauptunterschiede der natur- und geisteswissenschaftlichen Betrachtung?

(a) Der naturwissenschaftliche Sektor arbeitet durchwegs auf der außerhalb des Subjekts gelegenen objektiven Basis der Sinneswahrnehmung. Hier wird versucht, mit dem Eindeutigem zu arbeiten, mit den Methoden des exakten Regi-

strierens, des quantifizierenden Messens und Auszählens der Erfahrungsdaten mit Hilfe der Methoden der wissenschaftlich standardisierten Beobachtung, der wissenschaftlichen Befragung und des

Experiments.

Ziel ist es, Annahmen als

Hypothesen zu überprüfen, d.h. zu prü-

34

Modelle des

Erziehungsbegriffs

In der strategischen Anlage geschieht dies mit Hilfe von Verifikation und Falsifikation. Dabei wird im einen Fall danach gesucht, wo, wann und wie oft eine Aussage sich in dem von ihr vorgebenden Sinn tatsächlich zeigt. Im anderen Fall wird eine Aussage methodisch hinterfragt und muß sich gegen alle Aushebelungsversuche erst einmal durchsetzen, um als wahrscheinlich gelten zu können und um weiterhin im Verbund der Gültigkeit von Wenn-dann-Sätzen in das Buch der Gesetzmäßigkeiten zu gelangen.

fen, ob sie zutreffen oder nicht.

(b) Der geisteswissenschaftliche Sektor beruft sich auf die subjektive, vom Subjekt ausgehende Sinneswahrnehmung und Erfahrung. Er tut dies mit den Methoden der Sinnrekonstruktion, der kritischen Auseinandersetzung, des

Vergleichs, der Reflexion und der Wesensbetrachtung mit Hilfe der Methoden der Hermeneutik, der Dialektik und der Phänomenologie. Für ihn ist das Gegebene nicht eindeukritischen

tig, sondern ambivalent auf Grund seiner zurückliegenden Geschichte und seiner aktuellen gesellschaftlichen Einbindung. Aussagen werden weniger an Wenn-dann-Sätze gebunden, als vielmehr an ein Sowohl-als-auch. Mehrdeutigkeit wird durch die Beschreibung eines sich historisch verändernden Sinns mit Hilfe von Dialog und Kommunikation hermeneutisch, dialektisch und phänomenologisch erfaßt. 2.

Wissenschaftsmethodologie

Denk- und Erkenntnismethoden sind genau skizzierte, jederzeit nachvollziehbare und nachprüfbare Wege der Erkenntnisgewinnung und Erkenntnissicherung. Als Analyse- und Diagnosemethoden dürfen sie nicht mit den Handlungsmethoden und -techniken verwechselt werden. Wissenschaftliche Methoden wollen Erkenntnisse gewinnen, Handlungsmethoden (mit Hilfe von Techniken) Ziele erreichen. Exkurs: Der Unterschied

von

Denkmethode und Erkenntnismethode ist ebenso kom-

plex wie der von Denken und Erkennen. Mit der Entwicklung des Computers allerdings, der Denkprozesse des menschlichen Gehirns außerordentlich leistungsfähig imitieren kann, läßt sich vom erkenntnislosen Denken sprechen. Umgekehrt aber ist das denklose Erkennen zumindest im Rahmen der europäischen Geistesgeschichte schwer vorstellbar. Das Erkennen ist in unserer Kultur und Tradition im Gegensatz zur Meditation immer eine Form von Vernunft-Wachheit des Bewußtseins und daher auch eine Form von Aufgeklärtheit. Das Denken hingegen ist nur ein Mittel dazu. In diesem Zusammenhang werden Methoden der Logik als Denkmethoden und Methoden der Reflexion meist als Erkenntnismethoden bezeichnet. Das weist darauf hin, daß die sogenannten exakten Wissenschaften, zu denen auch die Mathematik als Geisteswissenschaft gehört, fast ausschließlich Denkmethoden benutzen. Die

Methodologie

der

Erkenntnisgewinnung,

die bei der

Erkenntnisgewinnung

verwendet

wird, umfaßt das System der Denk- und Erkenntnismethoden. In sich kann das System auf

zwei unterschiedliche Richtungen gepolt sein: Wird mit dem Einzelnen begonnen, so führt der Weg induktiv zum Allgemeinen. Ist eine allgemeine Erkenntnis (bzw. Erfahrung) Ausgangspunkt, so wird ein Nachweis deduktiv über das Einzelne geführt. Induktion und Deduktion sind als Schlußverfahren sich gegenseitig abwechselnde Wege der Theoriebildung. Beispiel für einen induktiven Schluß: Diese zehn einzelnen Menschen mit der Eigenschaft A sind ungezogen, also sind es auch alle Menschen mit der Eigenschaft A. Der deduktive Schluß verläuft umgekehrt: Alle Menschen mit der Eigenschaft A sind ungezogen. Hier ist ein Mensch mit der Eigenschaft A. Also ist auch er es.

Kapitel II: Erziehung im Rahmen von Wissenschaft und Theorie Die Unterschiede

von

35

Erkenntnis- und Denkmethoden in Kurzform:

Methoden der Naturwissenschaft wollen ihr Objekt, so wie es ist, empirisch erfassen und durch logisches Betrachten und Zergliedern analysieren. Von daher stammt auch der Ausdruck empirisch-analytische Forschung. Methoden der Geisteswissenschaft hingegen wollen ihr Objekt als das, was es ist, auch wesensmäßig erfassen. Sie wollen durch intuitives Erfassen und Vergleichen von Analogem, vor allem im Sinne einer Erfassung des gesellschaftlichen und historischen Umfeldes eines Objekts, ihren Gegenstand rationalisieren. Mit diesem Ansatz werden auch metaphysische, jenseits des Empirischen verortete Objekte thematisiert. Dazu gehören: das Seelische, das im Augenblick nicht Erfahrbare, weil es bereits vergangen ist, das Tabuisierte, das Mythische, das Künstlerische und Literarische. Ein Hauptanliegen ist dabei die Rationalisierung als kritische Reflexion, als Entwicklung einer Gegenwirklichkeit durch

Aufdeckung von inhumanen Zuständen.

Wissenschaftliche Methoden unterstehen einer forschungslogischen Strategie, durch die auch entsprechend methodische Rahmenbedingungen installiert werden. Die wichtigsten Schritte daraus sind nachfolgend aufgeführt: Definition des Forschungsobjekts: Ein Gegenstand, ein Thema, ein Problem, eine Frage und/oder Hypothese wird formuliert und umgrenzt. Konzeption eines Forschungswegs: Methoden, die den Untersuchungsgegenstand analysieren und konstruieren, werden ausgewählt. Ergebnissicherung: Erkenntnisse werden in Form von Regeln und Gesetzmäßigkeiten formuliert. Ergebnisvertiefung: Die Ergebnisse und Auswirkungen werden interpretiert und kritisch reflektiert. Evaluation und Transfer: Ergebnisse werden als Maßnahmen angewendet oder in andere Bezüge gestellt und in ihrer Brauchbarkeit und Erkenntnisqualität geprüft.

2. 1. Naturwissenschaftliche Erkenntnismethoden

Beobachtung, Befragung, Experiment und Skalierung sind die Haupterkenntnis- und Forschungsmethoden der naturwissenschaftlichen Betrachtung. Sie sollen nachfolgend kurz umrissen werden. Eine umfassende Beschreibung findet man bei P. Atteslander u.a. (1991). (a) Erkennen durch wissenschaftliche Beobachtung Die wissenschaftliche, standardisierte Beobachtung dient der Ausklammerung subjektiver Wahrnehmungsfehler und Wahrnehmungstäuschungen bei der Beschreibung eines Objekts. Real dient sie vor allem der Situationserfassung. Dabei muß der Beobachtungsgegenstand (das „Was") in Kategorien (Dimensionen des „Was") und beobachtbare Merkmale (manchmal auch Symptome) zerlegt (operationalisiert) werden, um deren Existenz, in Form der Häufigkeit, der Abnahme und Zunahme von Merkmalen nachzuweisen (und schließlich zu verall-

gemeinern). Exkurs: Wahrnehmung ist die ureigenste Form einer Kontaktaufnahme mit der Außenund der Innenwelt. In der Erziehung ist die bewußte Wahrnehmung unverzichtbares Mittel der bewußten Steuerung. Dadurch daß sich jedoch sehr täuschungsanfällig ist, muß sie durch die wissenschaftliche Beobachtung im Sinne von Objektivität und Intersubjektivität systematisiert werden.

Modelle des

36

Erziehungsbegriffs

Die sinnliche oder sinnenfällige Wahrnehmung konstituiert sich über die Kontaktaufnahmit der Außenwelt. Dabei nimmt die optische Wahrnehmung einen großen Raum ein, gefolgt vom akustischen Sinn, dem haptischen Sinn (Tastsinn) und dem Geruchs- und Geschmackssinn. Die Aufnahme selbst kümmert sich (als Apperzeption) um Weiterleitung der Reize, die dann zu Informationen, also zu Reizen mit Bedeutungen (bzw. zu semantischen Reizen) werden. Reize sind hindernisüberwindende Impulse. Sie treffen als Licht auf die Netzhaut, als Schall auf das Trommelfell, als Druck und Temperatur auf die Haut. Dabei erzeugen sie Affektionen, die als Spuren im Gehirn gesichert werden. Es gibt Vorstellungen, daß diese Spuren nicht verwischen, daß sie also lebenslang wirken und nur durch einen Reflexionsprozeß thematisiert und wieder erlebt werden. Es gibt auch Vorstellungen, sie seien an angeborene Gestalten gekoppelt und solche, sie könnten, so wie sie entstanden sind, verlernt, gelöscht und vergessen werden. Eine der Hauptquellen fur die Entstehung der Wahrnehmungsselektion ist das Zustandekommen der thematischen Relevanz durch Fokussierung. Sie wird von einzelnen Wissenschaften unterschiedlich begründet: Biologie und Medizin fuhren die Wahrnehmungsselektion auf den organischen und physiologischen Bau der Wahrnehmung zurück, der offensichtlich universell ist und damit auch gesellschafts- und kulturunabhängig. Die Psychologie hingegen macht Bedürfnisse, Erwartungen, Einstellungen und Triebe für die Entstehung der thematischen Relevanz in der Wahrnehmungsselektion verantwortlich (Beispiel: Wir schauen nur auf Objekte, die unserer Psyche entsprechen). Die Soziologie führt Lebenslage, Herkunft und Sprache an, die Philosophie das Erkenntnisinteresse, die Theologie den Glauben und die Wirtschaftswissenschaft die Ökonomie. me

In der Erziehungsarbeit ist die Methode der Beobachtung dort unverzichtbar, wo es um die Ausklammerung von subjektiven Vorurteilen (z.B. in der Beratung) geht. Wissenschaftlich abgesicherte Beobachtungen sind allerdings in der Praxis oft nur durch Kontrollbeobachtungen über neutrale Personen möglich.

(b) Erkennen durch wissenschaftliche Befragung Die wissenschaftlich fundierte Befragung will Meinungen, Einstellungen, Erwartungen, Interessen, Bedürfnisse und Handlungsmotive erkunden. Die Fragen müssen dabei einen möglichst hohen Grad an Validität und Reliabilität aufweisen. Die Validität prüft, in wieweit sich Frage und Antwort auf das, was erfragt wird, beziehen. Die Reliabilität erfaßt die Genauigkeit. Exkurs: Befragungen (Audits) sind für die pädagogische Arbeit ein wesentlicher Bestandteil, um klientennahe Aktionen zu entwickeln. Darunter fällt auch die aktivierende Befragung im Rahmen von Erziehungsangeboten.

(c) Erkennen durch Experimente

Experimente versuchen auf der Basis hypothetischer Wenn-dann-Sätze (wenn A, dann B) einen Nachweis in der Form zu führen, ob immer dann, wenn A gegeben ist, sich B zeigt. Oder unter welchen Bedingungen A stehen muß, damit B sich zeigen kann. Exkurs: Zahlreiche Gruppenphänomene sowie Erziehungs-, Führungs- und Leitungsstile wurden experimentell erforscht. Die dabei verwendete Laborsituation aber wird von der Pädagogik immer eher kritisch gesehen.

(d) Erkennen durch Skalierung Die Skalierung besteht aus zahlreichen Meßverfahren. Sie ist ein Metabereich der Statistik und dient der mathematischen Quantifizierung der Daten und Ergebnissen in Form von Zahlen und Prozenten, in Diagrammen und Matrixübersichten.

Kapitel Exkurs: Bei der

II:

Erziehung im

Rahmen

von

Wissenschaft und Theorie

37

Sicherstellung der Qualität der pädagogischen Arbeit spielt die SkalieWirkung einer Maßnahme ist jedoch

rung eine entscheidende Rolle. Die Meßbarkeit der nicht immer quantifizierbar.

2. 2. Geisteswissenschaftliche Erkenntnismethoden Hermeneutik, Dialektik und Phänomenologie sind die Hauptdenk- und Erkenntnismethoden der Geisteswissenschaft. Für den Erziehungsbegriff sind diese Erkenntnismethoden nicht nur von außerordentlicher und zentraler Bedeutung, sondern darüber hinaus auch konstitutiv. Ohne hermeneutisches Verstehen, ohne dialektisches Verändern und ohne phänomenologisches Beschreiben wäre das Problemfeld nicht zu bewältigen.

(a) Hermeneutik:

Erkennen durch Verstehen

Die Hermeneutik ist die Methode des Verstehens und des Sich-verständlich-machens. Im Gegensatz zum (naturwissenschaftlichen) Erklären wird hier ein der Wahrnehmung verschlossener oder verborgener Kontext oder Sinnzusammenhang (z.B. ein historischer ) erschlossen

und mit subjektiven Erfahrungsmomenten verknüpft. Als Deutungs- und Interpretationskunst will sie darum Sinnerzeugung und Sinnrekonstruktion ermöglichen. Sie ist die Kunst, zwischen den Zeilen zu lesen. Das zunächst Nicht-Verstehbare, das Irrationale und das Fremde sollen einer rationalen Gestalt (z. B. durch ein anschauliches Modell) zugeführt werden (vgl. dazu auch die Ausführungen zu W. Dilthey bei F.W. Krön 1999, S. 212 216). Verstehen selbst ist ein subjektiver Vorgang. Wie bei Hermes, dem Götterboten, der die Botschaften der Götter ins Menschliche übersetzte bzw. sie für die Menschen deutete, wird beim Verstehen ein fremder Zusammenhang zu einem vertrauten gemacht. Hermeneutik ist so gesehen auch eine Obersetzungskunst. -

Exkurs: Das

Prinzip

des hermeneutischen Verstehens ist das des lückenfüllenden Er-

gänzens durch Vergleich und Abgrenzung von (fremden) Teilen mit dem/einem (bekannten) Ganzen. Das Ganze ist hier der Bereich des Immer-schon-Verstehens, als ein Art von intuitivem Urverstehen (von „Welt" und „Ich", „Familie" und „Heimat", von „Sprache" und

„Sinn").

Sinnzusammenhang das Weltbild, die Kultur ein geschlossenes Ganzes, ein geschlossenes System (wie z.B. Brauchtum und Tradition), so liegt eine Ist das Ganze als der

Vorstellung vor. In das Ganze läßt sich alles integrieren, auch das Widersprüchliche (wie z.B. das Leid). Das hermeneutische Verstehen entsteht hier über Rückbindungen an die Tradition. Auf diese Weise wird auch das Ganze durch das Teil vervollständigt und umgekehrt erhält das Teil durch das Ganze seinen Ort und harmonisierende

seine Identität. Die Tradition erhält auf diese Weise auch ihre identitätsstiftende Erkenntnisfunktion. In der Sozialen Arbeit wird dieses Denkmodell bei der konfliktfreien Integration in ein übergeordnetes Ganzes verwendet. Wird das Ganze nicht als ganz im Sinne von funktionierend, sondern als scheinganz, als eine Art Summe widersprüchlicher Teile gesehen, so ist es als permanentes Konfliktfeld strukturiert. Das Weltbild wird als Ideologie, als ein Scheinbewußtsein gesehen. Die Sichtweise und die Rolle der Teile eines Ganzen ändern sich. Das Teil erhält erst durch sein Anderssein gegenüber dem Ganzen seine Identität und nicht durch seine Zugehörigkeit. Es muß in gewisser Weise subkulturell existieren, um wirklich Teil oder selbstverstandene Identität zu sein. Die Folge ist, daß das Verstehen keinen permanenten Platz hat und ein Nomadendasein führt. In der pädagogischen Arbeit

Modelle des

38

Erziehungsbegriffs

wird dieses Denkmodell bei der Formulierung einer Traditionskritik zugunsten einer Bereitschaft zur Innovation verwendet. Dabei kommen verschiedene hermeneutische Wege zur Geltung: In der Form der Text- und Kontext-Hermeneutik wird die Methode als ein Kompositionsweg zur Sinnstiftung verstanden. Der immanente Weg des Ergänzens geht dabei von der äußeren Form zum Inhalt (z.B. bei der immanenten Textinterpretation). Der transzendente Weg sucht den Vergleich mit anderen zeitgenössischen Produkten. Ähnlich verfahrt auch die sogenannte Tiefenhermeneutik in der Psychoanalyse bei der Rekonstruktion der Identität. Die Seinshermeneutik will jede Form des Verstehens als Bewußtsein des Seins und seines Sinns begreifen. So etwa auch Philosophie und Theologie. Durch das Sein nimmt, trotz qualitativer Unterschiede und Widersprüche, alles an allem teil. Die Analogie (die Ähnlichkeitsstruktur) des Seins und des Bewußtseins ist hier ein Axiom. Der Weg des (deutenden) Verstehens geht als Weg vom Teil zum Ganzen über das Vorverstehen zum eigentlichen Verstehen. Dabei lassen sich mehrere Schritte unterscheiden: Rekurs auf das Vorverstehen (bzw. Vorverständnis) durch die Frage nach dem subjektiven Verstehen eines fremden Teils oder Weltausschnitts: Was ist mir bekannt, habe ich was unbekannt? Welches Vor-Interesse (Vor-Einstellung, Vor-Meinung) zum

Erziehungsbegriff?

Rekurs auf den Sprachgebrauch durch die Frage nach der Bedeutungsverwendung, also nach der praktischen Verwendung, eines fremden Teils: Wie wird es sprachlich und praktisch in dem gegebenen Sprach- und Kulturkreis verwendet? Rekurs auf den historischen Entstehungsort: Aus welcher Zeit stammt das Vorverständnis? Rekurs auf das gesellschaftliche und kulturelle Zeit-Bewußtsein: Was drückt der Erziehungsbegriff vom gesellschaftlichen Bewußtsein aus, vom Geist der Zeit, dem er entstammt? Rekurs auf den Vergleich mit anderen Teilen: Welcher neue Sinnzusammenhang ergibt sich durch einen Vergleich? Welcher Verstehensfortschritt wird sichtbar? Bei der Betrachtung der Hermeneutik als Regelwerk zur Konstituierung des Verstehens wird der hermeneutische Zirkel oft als widersprüchliches Hindernis zitiert. Er entsteht, wenn die Hermeneutik über sich selbst reflektiert, wenn sich also das Verstehen selbst verstehen möchte. Ein Ausweg aus dem Teufelskreis wird durch die Konzipierung von Metaebenen versucht, mit Hilfe derer das inhaltliche Verstehen vom formalen Verstehen getrennt wird. Die hermeneutische Dimension der pädagogischen Praxis tritt dort deutlich zum Vorschein, das Verstehen von Unterschieden und Gemeinsamkeiten geht (z.B. in der interkulturellen Arbeit). In der pädagogischen Beratung sind Haltungen hermeneutisch dimensioniert, wenn sie nivellierend auf die Entdeckung von Gemeinsamkeiten hinarbeiten. wo es um

(b) Dialektik:

Erkennen durch

Auseinandersetzung

Die Dialektik wird allgemein als Wirkkraft der Entstehung und Veränderung von Situationen und Ereignissen, bzw. als Prinzip von Werden und Vergehen der Geschichte umrissen (vgl dazu den historischen Dialektik-Begriff des „zeitlosen Logos" in der Pädagogik bei Th. Litt 1925, S. 18, der über die reine Erfahrung nicht erfaßt werden kann. Ausführungen dazu finden sich ebenso bei F.W. Krön 1999, S. 236 239). Auch hier wird das Verhältnis von Teil und Ganzem originär thematisiert. Im Unterschied zu Hermeneutik aber sind beide grund-

Kapitel

II:

Erziehung im Rahmen von Wissenschaft und Theorie

39

sätzlich anders: Ein Teil ist nicht das Ganze und das Ganze nicht ein Teil. Absolute Unähnlichkeit bestimmt die Struktur des Erkennens und des Seins. Das erkennende Bewußtsein und das Sein sind Antipoden, wenn sie aufeinander treffen. Reibung entsteht, Unversöhnlichkeiten werden sichtbar. Exkurs: Die Sätze, „das Bewußtsein (die Theorie) bestimmt das Sein (die Praxis)" (Hegel), und „das Sein bestimmt das Bewußtsein" (Marx) machen eigentlich nur den Wunsch

deutlich, die Kluft zwischen beiden zu überbrücken. Der erste Satz enthält ein Theoriediktat, das z.B. einen realen Konflikt durch reine Denkbemühungen beseitigen will. Der andere

gibt der Praxis

alle Macht. Konflikte werden durch den konkreten Umsturz berei-

nigt.

Der Widerspruch zwischen Subjekt und Objekt aber ist das treibende Prinzip, das die Welt und deren Geschichte bewegt. Er ist eine Art Eternum und immer und überall sichtbar. Darum hält sich die Dialektik auch für universell. Der dialektische Widerspruch durchzieht alle Lebensbereiche und wird zum Motor für Veränderung und Fortschritt. So existiert z.B. jeder geistige Begriff im Widerspruch zu seiner realen Bedeutung: Wer das Wort „Feuer" denkt, hat keinen brennenden Kopf. Begriff und Sein sind antithetisch auf

einander bezogen. Das dialektische Selbstverständnis beinhaltet mehrere Dimensionen: Dialektik ist das Prinzip der Veränderung in der Gesellschaft und kann, vorangetrieben durch die Antagonie der Klassen, als Abfolge qualitativer Sprünge gesehen werden. Teile der Bevölkerung sind arm, andere reich. Die Antagonie besteht hier darin, daß es Menschen gibt, die Geld besitzen, andere, die überhaupt kein Geld haben. Aus dieser dialektischen Realität heraus werden Veränderungsideen, die an Idealen, Visionen und Utopien orientiert sind, geboren. Die Ideen der Freiheit, der Gerechtigkeit und Gleichheit sind durch ein aufgeklärtes Denken entstanden, das seinerseits durch ein kritisches Bewußtsein die Welt als unfrei, ungerecht und machtorientiert erkannte. In der pädagogischen Arbeit mit Straßenkindern wird der Erziehungsbegriff so gesehen zu einer dialektischen Figur. Dialektik ist das Prinzip kritischen Begreifens. Das dialektische Denken wird meist mit der kritischen Haltung und dem kritischen Bewußtsein in Verbindung gebracht. Das, was etwas ist und wie es ist, wird an dem gemessen, was und wie es (vernünftigerweise) sein sollte. Durch die Kritik werden Veränderungen angedacht. Dabei ist von Beginn an die Frage nach der Radikalität relevant. Hierzu gehen die Meinungen auseinander: Für die einen ist die Dialektik eine revolutionäre Wegbereitem, für andere ist sie Ausdruck einer mehr oder weniger natürlichen Evolution. Dialektik ist eine aufklärende Gesprächsmethode. Die Dialektik als Gesprächsmethode will widersprüchliche Standpunkte im Sinne einer Kompromißbildung vereinen. Zwischen These und Antithese tritt eine Synthese, die später dann selbst wieder zur These werden kann. Der Moment der Synthesebildung ist ein qualitativer Sprung. Eine neue, noch nie dagewesene Qualität entsteht, die aber im nächsten Moment einer neuen weicht. Dialektik ist ein Erkenntnisweg. Die dialektische Erkenntnis geht negativ vor: Sie weiß nicht, was ein Begriff ist, sie weiß aber genau, was er nicht ist. Was A ist, läßt sich nicht positiv bestimmen, sondern nur, was A nicht ist: A ist nicht B, ist nicht C, nicht D usw. Die Negation der Negation ist darin allgemein das Instrument für den Fortschritt der Erkenntnis, um von einer niederen zu einer bewußten Form zu gelangen.

Modelle des

40

Erziehungsbegriffs

Dialektik ist kritisches Reflektieren und Hinterfragen. Das Hinterfragen des Gegebeauf allen Ebenen führt zur permanenten Bewußtseinskritik, auch Ideologiekritik. Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule (siehe nächstes Kapitel) hat durch ihre dialektische Sicht des Verhältnisses von Gesellschaft und Individuum wesentliche Standardwerke dazu geschaffen. der In pädagogischen Arbeit ist dialektisches Denken dort erforderlich, wo dieses sich politisch engagiert, dort, wo es um die Formulierung und Begründung von Visionen geht, also überall dort, wo Prozesse kritisch hinterfragt werden müssen, damit sie sich nicht blind irrationaler Macht unterwerfen. nen

Weg einer Erfassung des Erziehungsbegriffs geht über folgende Schritte: Eine Erziehungsvorstellung wird als These formuliert. Beispiel: Erziehung ist wesentlich Prägung und Formung.

Der dialektische

Eine Gegenvorstellung wird als Antithese lich Befreiung.

aufgestellt: Beispiel: Erziehung

ist

wesent-

In einer Synthese wird versucht, beide Vorstellungen zu integrieren: Beispiel: hung ist eine Gratwanderung zwischen Bildung und Autonomie.

Erzie-

(c) Phänomenologie: Erkennen durch Wesenserfassung Die Phänomenologie befindet sich nach einer Zeit größerer Rückschläge wieder im Aufwind. Mit Frage nach dem Erfassen unserer Zeit und deren Zeitgeist rückt sie an eine zentrale Stelle. Betrachtungen zur Kultur der Gegenwart kommen ohne Erkenntnisse über das Wesen der Wahrnehmungen nicht aus. Resultate aus dem Kritischen Rationalismus der empirisch analytischen Forschung und aus der Kritischen Theorie der hermeneutisch-dialektischen Forschung sind ergänzungsbedürftig. Allein diese Tatsache liefert bereits schon eine hinreichende Begründung für dieses Herangehen (vgl. F.W. Krön 1999, S. 199 208, Ausführungen zu A. Schütz, O.F. Bollnow, M.J. Langevelds, H.G. Gadamer und vor allem zu E. Husserl.) Exkurs: Die Phänomenologie ist der methodische Erkenntnisweg, um vom Wahrgenommenen zum Wesen zu gelangen. Das Wahrgenommene wird zum Gegenstand der Frage, was an ihm wesentlich sei. Um jedoch zum Wesen eines Objekts zu gelangen, um also zu dem zu kommen, was ein Objekt der nach innen wie nach außen gerichteten Wahrnehmung gegenüber wesentlich auszeichnet, muß das Subjekt über das hermeneutische Verstehen und die dialektische Auseinandersetzung hinaus nach der inneren (also darum auch verborgenen) Struktur des Objekts suchen. Die Struktur ist das, was ein Objekt wesentlich zu dem macht, was es ist. Für das Bewußtsein ist es das, was von einem Objekt auch evident ist, das heißt das Wesen des Objekts leuchtet gewissermaßen illuminierend aus sich selbst heraus. Da die innere Struktur vergleichbar mit einer Formel des Objekts ist und das reale Objekt überschreitet (transzendiert), ist sie auch metaphysisch. So gesehen ist das Wesen der Erziehung in jedem Erziehungsvorgang sichtbar, selbst wenn dieser negativ verläuft. Die (metaphysische) Struktur eines Objekts deckt sich somit phänomenologisch mit dessen (innerer) Qualität. Um von der Erscheinung eines Objekts, also vom Phänomen zum Wesen des Objekts zu gelangen, muß das Wesentliche von Unwesentlichen getrennt werden. Zum Unwesentlichen gehören die das Wesen nicht tangierenden Attribute. So ist z.B. die Hautfarbe ein für -

das Menschsein unwesentliches Attribut. Wesentliches vom Unwesentlichen zu trennen, geschieht durch geistiges Einklammern und Reduzieren (der Welt). Ziel ist es, das Objekt in seiner Reinform (als reines Bewußtsein) zu erhalten. Drei Bewußtseinsstufen werden dabei durchlaufen:

Kapitel

II:

Erziehung im Rahmen von Wissenschaft und Theorie

41

Das Objekt muß als das thematisch Relevante umfassend beschrieben werden. Diese Stufe wird Deskription des Objekts genannt. Dann muß das subjektive Vorverständnis (Werturteil) dem Objekt gegenüber ausgeklammert werden. Es ist die phänomenologische Reduktion. Schließlich muß das Objekt vom überflüssigen Beiwerk durch die eidetische Reduktion gereinigt werden. In der pädagogischen Arbeit ist der phänomenologische Ansatz bei allen Versuchen neutraler Beschreibungen gegeben. Darüber hinaus spielt er auch bei der qualitativen Fassung von Begriffen ein Rolle. Der Gedanke einer begrifflichen Katharsis (Reinigung) durch eine ständige Reflexion der Wahrnehmung spielt hier eine große Rolle. Der phänomenologische Weg zur Erfassung des Erziehungsbegriffs enthält folgende Schritte: Auf der Basis der Kenntnis des Betrachtungsinteresses und auch der Bedeutung des Begriffes der Erziehung wird ein Erziehungsphänomen (ein Verhalten, eine Situation) genau beschrieben.

Merkmale von Randphänomenen, die nicht zum eigentlichen Phänomen des Erziehungsbegriffes gehören, werden ausdifferenziert. Merkmale zugehöriger Kontaktebenen (andere Beteiligte, gesellschaftliche Bedingungen, historische Ursachen) werden Alle Erkenntnisse daraus werden tiert.

3.

3. 1.

einbezogen. zu einer allgemeinen Vorstellung

zusammenmon-

Theoriegrundlagen

Erziehungstheorien als Erklärungs- und Verstehensversuche

(a) Erziehungstheorien, die über Beobachtungen, Befragungen und Experimente zustande gekommen, sind quantitative Gebilde mit einem empirischen und logischen Aufbau.

Naturwissenschaftlich geprägte Theorien innerhalb der Erziehungswissenschaft sind bemüht, eine Terminologie aufzubauen, die sich am Konkreten orientiert. Dabei muß die jeweils verwendete theoretische Sprache durch ein eigenes System daraufhin geprüft werden, wie exakt sie den selbst aufgestellten Prinzipien von Objektivität und Intersubjektivität Folge leisten können. Beide Prinzipien kommen in der Logik der empirisch-analytischen Forschung zur Anwendung. Ihr Ziel ist es, Gegebenheiten durch die ihnen zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten zu erklären. Dabei gibt es (nach Friedrichs 1974, S. 51, auch in Hierdeis, H. 1976, S. 53) immer einen Entdeckungs-, Begründungs-, und Verwertungszusammenhang. Ein solcher nimmt seinen Ausgang von einem Problem, das von einer gewissen öffentlichen Brisanz ist, versucht dann unter Zuhilfenahme theoretischer Zusammenhänge Hypothesen zu formulieren, deren Begriffe definiert sein müssen. Dann werden Methoden zur Datenerhebung, Auswertung und Interpretation benutzt, um Gesetzeshypothesen (z.B. in Form von Prognosen und Theorien) zu veröffentlichen. Der entsprechende Ansatz dazu will in erster Linie Tatsachen erklären. Dabei fühlt er sich vor allem aber einem methodologischen Konzept verpflichtet, das dem (angenommenen) Naturgesetz der Wiederkehr von Gleichem und dem (erkenntnisgeleiteten) Prinzip der Subjekt-Objekt-Trennung folgt. Er will an die Tatsachen mit einem möglichst hohen Grad an Objektivität gelangen und verwendet dabei Methoden, in deren Rahmen dies möglich erscheint. Dabei sollen Erkenntnismethoden zum Zug kommen, die den

Modelle des

42

Erziehungsbegriffs

Menschen mit seiner subjektiven Wahrnehmung und seinen Vorurteilen möglichst ausklammern, damit das Problem in seiner Reinform betrachtet werden kann. Die empirische Sozialforschung behandelt dabei insbesondere die Methoden der Beobachtung, des Experiment und der Befragung (neben den Methoden der statistischen Erfassung). Im Zentrum geisteswissenschaftlicher stehen im Gegensatz zum Erklären.

(b)

Theoriebildung

steht das Bemühen

um

Ver-

Zusammenhänge zu rekonstruieren, die sich einer unmittelbaren empirischen Wahrnehmung und rein logischen Analyse entziehen (vgl. Danner, H. 1979, S. 17 28). Zusammenhänge sind z.B. historische Hintergründe, mit deren Hilfe sich die Gegenwart aus der Vergangenheit heraus besser erfassen läßt. Das sind aber auch Bemühungen, abgesicherte Interpretationen der Sprachsymbolik und deren Bedeutung zu finden sowie auch das Erscheinungsbild von Situationen und die darin stattfindenden Interaktionen zu erfassen. Dahinter steckt eine eigene Art der Erfassung von Objektivität. Sie versucht, die als wahr geltenden Zusammenhänge über Beschreibungen festzuhalten und zu theoretisieren. Die Kommunikation tritt darin als Regelkreis der besonderen Art auf. Sprachliche Bedeutungen werden als uneindeutige Symbole gesehen, die einem klärenden Austauschversuch unterworfen werden müssen. Sachverhalte müssen diskutiert und ausgehandelt werden. Deshalb kann eine geisteswissenschaftlich orientierte Erziehungstheorie zu keiner eindeutigen Terminologie finden. Sie kann sich nur bemühen, die immer wieder neu notwendigen Klärungsversuche zur Herkunft und aktuellen Bedeutung von zentralen Begriffen in einem Diskurs behandeln. (Vgl. Habermas, J. 1970, S. 73 103.) Entscheidend für eine geisteswissenschaftliche Theoriebildung innerhalb der Erziehungswissenschaft scheint der Verzicht zu sein, Probleme der Praxis durch Gesetzmäßigkeiten und technische Maßnahmen in den Griff nehmen zu wollen. Hier ist die Wiederkehr der Verschiedenheit Ausgangspunkt, einer Verschiedenheit, die in der Einmaligkeit ihren historischen Ort hat und darum auch nicht ohne Berücksichtigung dessen geDas Verstehen versucht die

-

-

neralistisch erfaßt werden kann.

Eine hermeneutisch gewonnene Erziehungstheorie versucht Teilausschnitte der Wirklichkeit als Sprachkontext zu verstehen. Erziehungsprobleme werden dabei aus Texten (gewissermaßen archäologisch) zusammengefügt. Die dialektisch gewonnene Theorie entsteht durch Auseinandersetzung mit gegensätzlichen Standpunkten. In der Erziehungswissenschaft werden über diesen Weg bestehende Aussagen miteinander verglichen, ihre Unterschiede herausgearbeitet und zu neuen Aussagen geführt. Ein solcher Weg ist z.B. der Weg der Kritik, womit auch jene Haltung des kritischen Bewußtseins verbunden wird, das Aussagen nach deren Ideologie und dem falschen Bewußtsein zu prüfen versucht. Phänomenologisch gewonnene Theorien haben eine entdeckende Struktur. Sie sind daher bei der intuitiven Wesensbestimmung von Phänomenen kreativ.

3. 2.

Erziehungstheorien als Wissensmodule

Exkurs: Unter einem Modul wird hier ein Teilsystem verstanden, das sich mit seiner im Prozeß und im Austausch mit anderen Teilsystemen befindet. Modelle sind auf eine abstrakte Sprache reduzierte Wirklichkeit. In einem Modell wird Basiswissen auf eine räumliche Anschaulichkeit ( z.B. durch die Darstellung von Ebenen, Feldern und Perspektiven) reduziert.

qualitativen Leistungsfähigkeit

Theorien enthalten abstrakte Aussagen und Vorstellungen über Grundlagen von Objekten des Erkennens und Handelns in einem Modell. Sie sind die durch das Denken und Erkennen

Kapitel

II:

Erziehung im Rahmen von Wissenschaft und Theorie

43

Wissenssumme über einen Gegenstand zum Zweck der Erkenntnis und der Handlungshilfe. Reine Theorien besitzen zunächst keine Praxisrelevanz. Als in sich abstrakte, geistige Denkgebilde (als Kognitionen) bekommen sie erst durch ein eigenes Umwandlungssystem, also durch ein System der Transformation, einen Handlungsbezug. Die Handlungstheorie ist ein solches Transformationssystem. Sie enthält Analyse- und Diagnosemodule, mit Hilfe derer das Kognitive in einen Funktionszusammenhang gestellt werden kann. Ein solcher Funktionszusammenhang kann z.B. die Forderung ausdrücken, theoretische Erklärungen zu den Ursachen eines Gegenstandes immer so zu formulieren, daß sie auch unmittelbar entweder handlungsbestimmend sind oder zumindest Handlungsstrategien beeinflussen. In der pädagogischen Arbeit wäre der Zusammenhang folgendermaßen: Eine Interaktionstheorie, die die Ursachen und Entstehungszusammenhänge des Phänomens Beziehung betrachtet, wird als Erklärungsansatz für die Analyse und Diagnose konkreter Fälle benutzt, mit Hilfe derer wiederum Handlungsformen gewonnen und legitimiert werden, um Beziehungsmängel zu beheben.

zusammengeklammerte

3. 3.

Erziehungstheorien als sprachliche Denkgebilde

(a) Erziehung ist immer zugleich Sprache. Die Sprache ist als kommunikatives Ausdrucks- und Darstellungssystem das Hauptmedium der Erziehung. Sprache besteht aus Lauten, aus Silben, Wörtern, Begriffen und Aussagen, aus Mimik, Gestik und sinnlich gestalteter Symbolik. Sprache ist als Universalium das interindividuelle, das digitale und akustische, das verbale und nonverbale Transportmittel für Informationen, für Sinn- und Bedeutungszusammenhänge. Schließen sich Laute zusammen, so kann ein Wort entstehen, das dann zu einem Begriff wird, wenn dazu auch eine Vorstellung im Sinne der Frage gehört, was dieses Wort meint. Begriffe sind also Wörter mit einer Zugehörigkeit zum Semantischen, aus der ihre Bedeutung sichtbar wird. Die Begriffe Semantik und semantisch umgrenzen den Bedeutungshorizont eines Wortes. Die Frage, woher die Bedeutungen von Wörtern und Sätzen kommen, ist bisher nicht umfassend geklärt. Jedes Wort hat eine und mehrere Bedeutungen zugleich. Beispiel: Das kleine Wort „da" ändert seine Bedeutung durch seine Stellung in den Sätzen: „Da ist Billy" und „Billy ist da". Die Fähigkeit, den Unterschied zu verstehen, ist eine semantische Leistung, deren Herkunft unterschiedlich gesehen wird. Die Annahmen dazu gehen in drei Richtungen:

Bedeutungen entstehen durch den jeweiligen (kulturspezifischen) Gebrauch, also durch eine Interaktion vor dem Hintergrund einer Teilhabe an der jeweiligen Sprachgemeinschaft (und deren „common sense"). Bedeutungen entstehen durch eine spezifische grammatikalisch-logische Struktur, also durch Teilhabe an der jeweiligen Grammatik und ihren implantierten Regeln. Bedeutungen werden durch die technisch nicht nachbaubare Fähigkeit der Sprachkompetenz und deren geistige und kreative Quellen hervorgebracht. So ist es bisher für einen, das menschliche Gehirn kopierenden Computer nicht möglich, Bedeutungen aus einem kreativen Kontext zu verstehen.

Modelle des

44

Erziehungsbegriffs

(b) Eine Systematisierung des Zusammenhangs des Wortes „Erziehung" und dessen Bedeutung wird durch die erkenntnistheoretische Konstruktion von Spiegelungs- und Abbildungsebenen möglich. Wörter spiegeln konkrete und abstrakte Ausschnitte der inneren und äußeren Welt. Dadurch wird es möglich, Begriffe nach dem, was sie abbilden, einzuteilen. Die Abbildungsebenen selbst gehören dem Innersubjektiven und dem Außersubjektiven an, d.h. es wird durch sie grundsätzlich eine Subjekt- Objekt-Trennung konstruiert. Über das, was außerhalb von uns in der sogenannten Realität existiert, kann ein empirischer Nachweis geführt werden. Das, was in uns vorhanden ist, also in unserer Psyche, in unserer Erkenntnis, in unserer subjektiven Gefühls- und Lebenswelt, muß erst durch Rückschlüsse, z.B. in der Form konstruktiver Erklärungsgrundlagen, gewonnen werden. Nachfolgend sollen einige der wichtigsten Spiegelungs- und Abbildungsebenen genannt werden, die auch für den Erziehungsbegriff relevant sind: Ebene der Prädikation: Sie wird durch die Wörter und Begriffe repräsentiert, für die es ein konkretes Objekt bzw. ein Beispiel oder ein Gegenbeispiel gibt (vgl. W. Kamiah; P. Lorenzen 1967). Weil dies so ist, lassen sich diese Wörter und Begriffe auch durch Zeigehandlungen (deiktisch und exemplarisch) einführen: Deuten wir mit dem Finger auf einen Overheadprojektor, indem wir sagen: „Dies ist ein Overheadprojektor", so hat dieses Wort ein Exemplar, auf das es sich bezieht. Dies gilt solange, solange die Mehrheit einer Sprachgemeinschaft kein anderes Wort verwendet. Die reale Gestalt der Exemplare kann sehr variieren nicht alle Overheadprojektoren sehen gleich aus sie besitzen aber einen gleichen Wirkungsgrad. Wörter, die ein konkret aufzeigbares Objekt abbilden, werden Prädikatoren genannt. Erziehung wird als Prädikator verwendet, wenn z.B. gesagt wird: Die Situation X ist ein typisches Beispiel für Erziehung. In diesem Fall repräsentiert das Wort die gegebenen Tatsachen, z.B. die konkreten Sprach- und Interaktionsformen der Erziehenden. -

-

Exkurs: In der empirisch-analytischen Wissenschaft ist die Prädikation unverzichtbar. So muß z.B. bei der Methode der wissenschaftlichen Beobachtung, das, was beobachtet werden soll, in beobachtbare (also deiktische) Merkmale, d.h. in Prädikatoren zerlegt werden. In der pädagogischen Arbeit ist die Prädikation ein sehr wichtiges und oft schwieriges Moment, vor allem dort, wo es darum geht, für einen Begriff ein entsprechendes Beispiel zu finden. In diesem Zusammenhang wird die Defmitionsmacht einer bestimmten Gruppe oder Person deutlich, wenn nur bestimmte Beispiele als Beispiele anerkannt werden oder wenn Prädikationen zu Stigmatisierungen führen. An dieser Stelle wird auch sichtbar, wie notwendig begriffliche Festlegungen gerade sozialkritisch hinterfragt werden müssen.

Ebene der Abstraktion: Diese Ebene wird durch Wörter repräsentiert, für die es keine unmittelbare Konkretion gibt. Darunter fallen die Ordnungswörter und -begriffe wie z.B. in der Aussage: Erziehung ist eine Form des Führens und Leitens von Menschen. Der Erziehungsbegriff würde hier als Sammelname für alle Formen der Beeinflussung fungieren.

Terminologie: Sie umfaßt die Wörter und Begriffe, die als Fachausdrücke umfangreichere Aussagen abbilden, z.B.: Ein Prädikator ist ein Wort mit einer genormten Qualität. Erziehung wird als Terminus verwendet, wenn gesagt wird, Erziehung sei der Terminus technicus für das Handeln, das die Lernentwicklung fordert. Ebene der

Ebene der Konstrukte: Sie umfaßt Wörter und

Begriffe,

die

Erklärungsgrundlagen

ab-

bilden, z.B. das Wort Angst. Angst ist die Erklärungsgrundlage für prädikatorische Sym-

ptome. Erziehung wird als Konstrukt in dem Satz verwendet: Dieser Mensch verhält sich

Kapitel

II:

Erziehung im

Rahmen

von

Wissenschaft und Theorie

45

auf Grund seiner Erziehung so, d.h. Erziehung ist die Erklärungsgrundlage für das Verhalten. Ebene der Idealzustände: Sie wird durch die Begriffe repräsentiert, die zum Ausdruck bringen, wie etwas sein soll. Sie sind insgesamt approximativ (sich annähernd), weil sie sich einem Idealzustand, einer Gegenwirklichkeit, einer Vision oder Utopie annähern wollen. Darunter fallen nicht nur die Begriffe Gleichheit und Freiheit, sondern auch die Grundbegriffe der euklidschen Geometrie wie z.B. Punkt, Ebene und Gerade. Für diese Beispiele gilt, daß sie in der Realität nicht existieren, daß aber das Subjekt versucht, die Realität der Idee anzupassen. So gesehen wäre die Wirklichkeit als Idee ein idealisiertes Konstrukt der Realität, also ständig innovationsbedürftig. Übrigens haben auch Naturwissenschaftler Idealvorstellungen, wenn sie sich einer reibungsfreien Mechanik annähern wollen. Erziehung als Ausdruck eines Idealzustandes kommt in dem Satz vor: „Erziehung ist die Realisierung einer herrschafts- und gewaltfreien Beeinflussung". Ebene der Prinzipien: Diese Ebene wird von Begriffen abgebildet, die die Bedingungen für die Möglichkeit aufzeigen. So zu verstehen ist der Begriff des Seins (auch in dem Satz: „Das Sein geht dem Bewußtsein voraus") Prinzipienbegriffe sind auch apriorische Begriffe, d.h. sie gehen der Erfahrung immer schon voraus. Erziehung würde als Prinzipienbegriff, wenn überhaupt, in dem Satz verwendet: „Erziehung ist die notwendige Voraussetzung (und conditio sine qua non) für jede Form humaner Beeinflussung".

3. 4.

Erziehungstheorien als Aussagensysteme

(a) Die Qualität der Prädikate in Aussagen ist Aussage von einem bestimmten Theorietypus.

ein Indikator für die

Abstammung der

Exkurs: Aussagen enthalten Äußerungen zur Existenz von Subjekt und Prädikat und deren Zusammengehörigkeit durch ein Zeitwort. Die einfachste Aussage hat die Form: Dies ist das. Sie wird auch Elementaraussage genannt. Das Subjekt einer Aussage ist zugleich der Gegenstand der Aussage, das Prädikat benennt die Qualität des Subjekts. Durch die Verbindung von Subjekt und Prädikat entsteht formal ein Satz. Er wird erst dann zu einer inhaltlichen Aussage, wenn das, was er behauptet, erwiesen ist. Das ist der Fall, wenn zum einen die Existenz und die Qualität des Subjekts nachgewiesen sind und wenn zum anderen auch ein kultureller Konsens über die Verwendung und die Bedeutung der Wörter besteht.

Abstrakte Vorstellungen werden durch die Denk- und Erkenntnisleistung des Subjekts sowie durch die wissenschaftlichen Erkenntnismethoden, die es unter Einbeziehung der Sprache einer Sprachgemeinschaft und deren Sinn-Symbolik verwendet, zu theoretischen. Aussagen führen so über Theorien zu Erkenntnissen über die Grundlagen, den Aufbau und die Wirkung eines Objekts. Sie beantworten damit je nach ihrer Typologie Fragen nach dem, wie etwas ist, oder wie es sich verhält und nach dem, warum es so ist. Das theoretische Wissen aus der Beschreibung und aus der Rückführung auf Hintergründe dient dem Erklären, dem Verstehen und der Handlungsorientierung bei der Anwendung im Rahmen eines Umgangs mit dem Gegenstand oder der Formulierung von be-

gründeten Handlungszielen.

Aussagen orientieren sich durch den Bauplan ihrer Prädikation schwerpunktmäßig schiedenen Kräftefeldern. Die

wichtigsten davon sind:

an ver-

Modelle des

46

Erziehungsbegriffs

Empirie (Wahrnehmung, Erfahrung) Erkenntnis (Transzendenz, Vernunft, Logik, Ethik) (Wille, Macht, Nutzen) Handeln ( Gesellschaft, Kultur, Sprache) Dadurch entstehen auch unterschiedliche Aussagensysteme. Sie können folgende Prädikate Interesse

beinhalten:

(a) empirisch (von Erfahrung abhängig) (b) logisch (von der Vernunft abhängig) (c) kritisch (von der Ethik abhängig) (d) metaphysisch (von transzendenten Wesensmerkmalen abhängig) (e) normativ (von strukturellen Rahmenbedingungen abhängig) (f) konstruktiv (von gedachten Zuständen abhängig) (g) pragmatisch (von Zwecken und Interessen abhängig) (h) systemisch (von komplexen Austauschprozessen abhängig) (i) kommunikativ (von der kulturspezifischen, sprachlichen Sinndeutung abhängig)

Beispiele fur Aussagen dazu: (a) Erziehung ist ein konkreter Interaktionsprozeß. (b) Erziehung ist ein unverzichtbarer Interaktionsprozeß. (c) Erziehung ist ein humanitätsstiftender Interaktionsprozeß. (d) Erziehung ist ein der Entwicklung des Menschseins dienender Interaktionsprozeß. (e) Erziehung ist ein milieuabhängiger Interaktionsprozeß. (f) Erziehung ist ein bewußt konstruierter Interaktionsprozeß. (g) Erziehung ist ein von Interessen abhängiger Interaktionsprozeß. (h) Erziehung ist ein vernetzter Interaktionsprozeß. (i) Erziehung ist ein kultur- und sprachabhängiger Interaktionsprozeß. Weitere Aussageformen entstehen durch die Qualität des Verhältnisses von Subjekt und Prädikat der Aussage sowie durch deren logische Verknüpfung. Ist das Prädikat automatisch im Subjekt enthalten, so spricht man von einem analytischen Prädikat. Beispiel: „Erziehung ist ausschlaggebend für den Grad an Friedfertigkeit in einer Gesellschaft". Der Satz: „Es gibt keine Friedfertigkeit ohne Erziehung", zeigt, daß im Begriff der Friedfertigkeit zugleich auch der Begriff der Erziehung enthalten ist. Ist das Prädikat austauschbar, so tritt es im Nachhinein (also nicht automatisch) synthetisch hinzu. Beispiel: „Der Erziehungsstil ist demokratisch". Werden die analytischen und synthetischen Aussagen zu Urteilen, so kommt das Prädikat der Allgemeinheit dazu, meist durch das Wort alle oder die Schlußfolgerung immer wenn, dann. In diesem Fall entstehen zwei weitere Aussageformen: apriorische und aposteriori-

Kapitel

II:

Erziehung im Rahmen von Wissenschaft und Theorie

47

sehe. In ihnen wird die Beziehung zur Erfahrung bestimmt. Apriorisch in unserem Beispiel hieße automatisch der Erfahrung vorausgehend oder wesensmäßig von vornherein enthalten. Beispiel: „Erziehungsmaßnahmen haben stigmatisierende Wirkungen". Oder: „Immer wenn Menschen nur methodisch erzogen werden, werden sie automatisch stigmatisiert". Aposteriorisch hingegen bedeutet im Nachhinein über die Erfahrung hinzukommend. Empirische Sätze über Tatsachen haben meist eine aposteriorische Qualität. Beispiel: „Stigmatisierte Menschen neigen zu Aggressionen". Hier wäre eine Wenn-dann-Beziehung sehr hypothetisch. Beispiel: „Wenn Menschen stigmatisiert wurden, neigen sie zur Aggression". (Sie können auch durch Rückzug reagieren.)

(b) Unterschiedliche Aussageformen offerieren

auch unterschiedliche qualitative Behauptungsgrade. Die wichtigste Behauptungsform ist die Definition oder Wortumgrenzung. Definitionen sind Begriffsumgrenzungen, die einem ungeklärten Begriff eine geklärte Gestalt geben möchten. Dazu wird ein Begriff durch mehrere Begriffe ersetzt. Die klassische Definition versucht einen Begriff durch den nächst höheren (das „genus proximum") und das unterscheidende Merkmal (die „differentia spezifica") zu bestimmen. Beispiel: „Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Sinnenwesen". Das Problem dabei ist die Tatsache, daß in der Regel hier ein unbekannter Begriff durch einen weiteren unbekannten Begriff geklärt wird. Die Forderung, Begriffe immer prädikativ einzuführen, also im wesentlichen über Beispiele, in diesem Fall die Begriffe vernunftbegabt und Sinnenwesen, versucht die Machtstruktur der klassischen Defi-

nition zu durchbrechen. In ihr sind Definitionen nicht mehr absolut, sondern vom Wandel des Historischen abhängig. Ähnliches würde für die Definition gelten, Erziehung sei jene Form der Beeinflussung, die abweichendes Verhalten korrigieren soll.

Exkurs: Definitionen sind immer Teilbestände von Theorietypen, aus deren Spezifikum sie hervorgegangen sind. Wollte man sie über ihren internen Aussageumfang hinaus auf ihren Wahrheitsgrad und ihre praktische Verwirklichung hin prüfen, so müßte man ihren Entstehungszusammenhang genauer beachten. Ein solcher würde auf prinzipielle und methodologische Grundlagen Bezug nehmen. Beides kann hier nur angedeutet werden. Trotz der Schwierigkeit einer Darstellung der damit verbundenen Komplexität des Sachverhalts wollen wir einige generelle Andeutungen versuchen: Definitionen sind Endprodukte von Erklärens- und Verstehensprozessen. Sie ergreifen damit Partei für natur- und geisteswissenschaftliche Provenienzen. Eines scheinen sie gemeinsam zu haben: Sie wollen Klarheit schaffen, sie wollen Ergebnisse zweifelsfreier Kognitionen sein. Schließlich legt man sich in einer Definition fest, weil man sicher sein will, daß sich darauf aufbauen läßt. Sicher sein im wissenschaftlichen Sinn heißt aber, über Aussagen zu verfügen, die mit einem gewissen Grad an zweifelsfreier Gegebenheit behauptet werden können.

3. 5.

Erziehungstheorien als ethische Konstrukte

Erziehungsvorstellungen enthalten immer auch die Aufforderung zum Handeln, also zur direkten Umsetzung von Erziehungsideen und -zielen. Dabei ist der Handlungsrahmen durch die Maxime des auch sittlich Vertretbaren abgesteckt. Im Sinne einer generellen, kulturübergreifenden und internationalen Wertschätzung der Menschen bedeutet dies, daß konkrete Er-

ziehung immer als allgemeines Gut betrachtet wird, das ebenso wie andere Güter gerade dadurch gekennzeichnet ist, daß es autonom im Sinne des Transzendentalen existiert. Daher wäre auch eine Pädagogik ohne ethische Begründung grundlegend absurd. Einen solchen Zusammenhang hat bereits J.F. Herbart (1964) Anfang des 19. Jahrhunderts deutlich formuliert. Für ihn steht die ethische Vernunft als Wachposten (im Sinne Kants)

Modelle des

48

Erziehungsbegriffs

so daß die Erziehung daher vor allem die VerantVernunft zu befähigen. Die Gesellschaft muß also der wortung hat, Menschen zum Gebrauch institutionalisieren. Im modernen Sinneheißt dies: selbst für sich Erziehung notwendigerweise Wohle der Gesellschaft Vernunft in die Welt brinzum Interessenskritik soll über Erziehung auch Th. Adorno 1975). (vgl. gen In ähnlicher Form wird auch die Pädagogik als Normative Wissenschaft verstanden (vgl. E. König 1975, Bd. 2, Normen und ihre Rechtfertigung). Die Grundlage dazu ist u.a. die aus der christlichen Philosophie stammende Auffassung einer ethischen Qualität des Seins. Sie stellt die Gesamtheit der Existenzsicherung des Humanen dar. In dieser erkenntnistheoretischen Position nimmt auch die Vernunft am Sein ebenso teil, wie auch das Sein durch die Vernunft kritisiert wird. In jedem Fall aber hat die Inhumanität weder eine Seins- noch eine Vernunft-

über der

interessengeleiteten Gesellschaft,

berechtigung.

Konkretionen pädagogischer Ethik sind vor allem mit Bemühungen um eine allgemeine Remenschenfeindlicher Gewalt verbunden. In diesem Zusammenhang ist die Tatsache, daß die kulturspezifische Individualität immer zugleich auch ein enormer Reichtum für das Zusammenleben der Menschen darstellt, selbst auch Ausdruck eines ethischen Erziehungsprinzips. Unterschiedlichkeit ist ein erzieherischer Wert und daher auch eine Erzie-

duzierung

hungsnorm.

4.

4. 1.

Theorientypologie

Orientierung Zuordnungsformen

Sowohl durch die inhaltliche und qualitative Verschiedenheit der Objekte, als auch durch die formale Art und Weise, sie zu betrachten, ergeben sich unterschiedliche Vorstellungen in Bezug auf den Aufbau und die Struktur eines Objekts. Gegenstände, Gegenstandsbereiche und die ihnen zugeordneten Zusammenhänge bekommen eigene Erkenntnisqualitäten. Die Zuordnung der Erziehung zu einer Theorie vollzieht sich über formale Kriterien, die auch den Grad an Realität bestimmen.

(a) beschreibende Zuordnung: Erziehung ist so, wie sie in Erscheinung tritt. (b) begründende Zuordnung: Erziehung ist so, weil sie so gemacht worden ist. (c) verstehende Zuordnung: Erziehung ist so, wie ihre Bedeutung kommuniziert wird.

(d) (e)

(f) (g) (h) (i)

kritische Zuordnung: Erziehung ist so, wie sie nicht sein soll. idealistische Zuordnung: Erziehung ist so, wie ihr Ideal es vorschreibt. normative Zuordnung: Erziehung ist so, wie die Rahmenbedingungen es erlauben. konstruktivistische Zuordnung: Erziehung ist so, wie sie geplant ist. pragmatische Zuordnung: Erziehung ist so, wie sie von Nutzen ist. systemische Zuordnung: Erziehung ist so, wie sie sich entwickelt.

Kapitel

II:

Erziehung im Rahmen von Wissenschaft und Theorie

Die Zuordnungen führen zur Prägung pädagogischer Anschauungen und

(a) (b) (c) (d) (e)

Bilder

Erklärungen Kommunikationsformen

Verbesserungsvorschläge Vorbilder Strukturen

(f) (g) Strategien (h) Effektivität (i) Dynamik (j) zu dynamischen Prozesse

(a) (b) (c) (d) (e) (f) (g) (h) (i)

49

Handlungen

Beschreibungen Begründungen Deutungen Alternativen

Orientierungen Grenzen

Planungen

Ergebnisse Entwicklungen

Zuordnung pädagogischer Anschauungen und Handlungen zu Theorietypen

empirisch-analytisch rationalistisch-kritisch

hermeneutisch-dialektisch-phänomenologisch idealistisch-metaphysisch normativ-konstruktivistisch

pragmatisch-ökonomisch naturalistisch-ökologisch und Auswahl eines Theorietyps richten sich nach der Qualität seines Gegenstandes und dem damit verbundenen Erkenntnisinteresse. Je komplexer ein Gegenstand ist, je dynamischer und prozeßhafter er ist, um so komplexer ist auch die Theorie. Der Gegenstand von Theorien wird in der Regel durch die Theoriebezeichnung benannt. Eine Handlungstheorie hat das Handeln als Gegenstand. Die Theorie des abweichenden Verhaltens hat das abweichende Verhalten als Gegenstand, die Systemtheorie das System, die Wissenschaftstheorie die Wissenschaft. Durch die Art des Gegenstandes ergeben sich spezielle Klassifizierungen. Sie lassen sich in inhaltliche und formale einteilen. Beide sind teilweise miteinander verbunden. Inhaltliche Theorien sind auf Gegenstände der Welt gerichtet, also auf den Menschen und die Lebensbedingungen selbst, während formale Theorien sich auf logische Denkordnungen beziehen.

Entstehung

In der Theorienlandschaft haben die formalen Theorien oftmals Priorität, weil angenommen vor dem Erfassen eines Inhalts die Form des Erfassens liegt. Dadurch bekommt auch der quantitative Zugriff den Vorrang vor dem qualitativen, was natürlich enorme Ausund Folgewirkungen hat. Formale Theorien werden (z.B. in der Forschung) den inhaltlichen vorgeschaltet und bekommen dadurch auch sehr viel (akademische) Macht.

wird, daß

Modelle des

50

Erziehungsbegriffs

Theorietypologie und seiner induktiven und deduktiven Herkunft folgend sind auch die Zuordnungssysteme für Erziehungstheorien verschieden. Folgende Bezugsbereiche lassen Der

sich unterscheiden:

Das Praxisfeld der pädagogischen Arbeit mit seinen spezifischen Problem- und Aufgabenstellungen einer Klientel gegenüber. Es ist ein Raum der Kontakte, Analysen und Diagnosen, Entscheidungen und Maßnahmen. In ihm sind Einrichtungen, Institutionen und Organisationen tätig. Die Erziehungskonzeptionen (Konzepte und Projekte, Ansätze und Handlungsziele) Die eigens entwickelten (pädagogischen) Begründungszusammenhänge Die Begründungszusammenhänge durch fremde fachspezifische Theorien Die Meta-Theorien der Erziehung Die Mega-Theorien Die wissenschaftliche Erziehungsforschung Exkurs: Durch die jeweiligen Bezugssysteme werden Theorien zu Schaltstellen zwi-

schen dem Handeln und dem Erkennen. Sie werden zu Transformatoren (zu Modulen der Transformation). Der Umwandlungsweg kann von der Praxis zur Theorie und umgekehrt verlaufen. Im einen Fall ist er induktiv und versucht, Praxis zu begründen. Im anderen ist er deduktiv und leitet aus der Theorie Handlungsziele ab. Entscheidend ist dabei die vorweg angenommenen Hierarchie bzw. die Annahme, welche Theorie die mächtiger ist. Deduktiv gesehen ist die Mega-Theorie am einflußreichsten, gefolgt von den Meta-Theorien und fachspezifischen Bezugstheorien oder formale Einzeltheorien und den feld- und problemspezifischen Bezugstheorien oder inhaltliche Einzeltheorien. Induktiv betrachtet ist die Hierarchie umgekehrt.

4. 2.

Orientierung an inhaltlichen Positionen

Die Erkenntnistheorie offeriert das inhaltliche Denk- und Motivsystem einer Theorie. Das heißt: Da es der Wissenschaft um Erkenntnisgewinnung, also um eine gedanklich-begriffliche Klärung und Begründung eines Gegenstandes geht, scheinen die Strukturen des Erkennens auch einen grundlegenden Einfluß auf die Struktur von Theorien auszuüben. Ein solcher Einfluß aber kann nur metatheoretisch erfaßt werden, d.h. die Erkenntnis versucht erkennend über sich selbst zu sprechen, wenn sie die Grundlagen und Erkenntnisreichweite von Theorien prüft. Diese Selbstbetrachtung hat Grenzen und blinde Flecken, wenngleich auch gerade daraus in der Geschichte der Philosophie zahlreiche erkenntnistheoretische Richtungen hervorgegangen sind, die die jeweiligen Denkmodelle von Theorien entscheidend prägen. Es treten philosophische Grundpositionen zu Tage, die unterschiedliche Interessen, Denkneigungen und Motivationen vertreten. Nachfolgend soll eine kleine Nomenklatur zu den Haupttheorien im Meta- und Mega-Bereich einen Überblick geben, die mit Hinweisen für eine Auswirkung auf das Verständnis des Erziehungsbegriffs versehen sind: Im Rationalismus hat das Denken gegenüber der Erfahrung Priorität. Dabei wird die Vernunft -und Denkfähigkeit als apriorische (der Erfahrung vorausgehende) Ausstattung des Subjekts behandelt. Theorie ist ein erfahrungsunabhängiges Erklärungsbauwerk. Das Subjekt ist unabhängig und aufgeklärt gegenüber dem Objekt. Für den Kritischen Rationalismus sind Logik und Erfahrung die Bezugssysteme. Erziehung ist der verlängerte Arm

kognitiver Lernplanung.

Kapitel II: Erziehung im Rahmen von Wissenschaft und Theorie

51

Der Empirismus bildet in der Kombination von Erfahrung und Logik den Grundstock für Erkenntnisse. Theorien dienen der Erfahrungsregistration und -Sicherung des Objekts. Erziehung ist eine konkrete Verhaltensform. Der Naturalismus unterstellt das Erkennen der Autonomie der natürlichen Urwüchsigkeit, also des Wilden und Archaischen. Die Natur ist in sich in der Lage, die Eigentlichkeit ihrer Bestimmung zu erfassen. Erziehung ist die Ausklammerung künstlicher Einflüsse zu Gunsten natürlicher Entwicklungskräfte. Der Idealismus verlagert den Gegenstand der Erkenntnis losgelöst vom Subjekt in die Gegenwirklichkeit des Absoluten. Das Bewußtsein bestimmt das Sein. Erziehung ist die Vermittlung einer Orientierung an Vorbildern und an ideellen Werten. Die Metaphysik legt den Gegenstand der Erkenntnis in die Subjekt- und objektübergreifende Transzendenz. Erziehung ist ein geschichts- und kulturübergreifendes Bemühen nach Humanität. Der Marxismus dagegen legt den Gegenstand der Erkenntnis in die negativen Verhältnisse, die es (human) zu verändern gilt. Theorien werden zu Utopien. Das Objekt ist das Subjekt in vergeistigter Form. Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewußtsein. Die Lebenslage bestimmt die Lebenswelt. Erziehung ist Hinführung zu einem revolutionären Bewußtsein. Für die Kritische Theorie ist das emanzipatorische Streben nach Humanität der wissenschaftliche Prüfstein. Erziehung ist Bildung eines kritisch-emanzipatorischen Bewußtseins. Der Konstruktivismus gibt dem Erkennen axiomatische Strukturen, an die sich die Theorie innovativ binden kann. Theorie wird zum Projekt. Das Objekt wird vom Subjekt konstruiert. Erziehung ist ein kreativer Entwurf von Innovationen. Der Pragmatismus läßt nur anwendungsbezogene, in der Praxis verwertbare Erkenntnis zu. Theorien erfassen das Handlungsnützliche. Das Objekt muß dem Subjekt von praktischem Nutzen sein. Erziehung ist die Beeinflussungsstrategie, die der Gesellschaft nützt. Der Funktionalismus betont die Beziehung der Erkenntnis zu vorgegebenen Zielen, die erreicht werden sollen. Theorien sind Darstellungsweisen effektiver Beziehungsklärung von Subjekt und Objekt. Erziehung ist Rollenzuweisung. Die Kybernetik sieht in der Erkenntnis ein Steuerungs- und Regelungssystem der SubErziehung ist ein Input-Output-System bestehend aus Sendern und

jekt-Objekt-Beziehung. Empfängern. Die Handlungstheorie ist das Bezugssystem der Praxis. Sie enthält die Darstellung der Handlungsquellen und Handlungsformen in Bezug auf deren statische und dynamische Eigenschaften und deren konkrete Umsetzung. Erziehung ist ein Handlungspfad zu opera-

tionalisierten Zielen. Die Systemtheorie will aus dem Zusammenspiel aller Richtungen gegenseitige Verbindungen und Trennungslinien und deren Auswirkungen und Gestaltungsmomente erklären. Erziehung ist Teil eines dynamischen Austauschprozesses zwischen Individuum und Gesellschaft.

Modelle des

52

Erziehungsbegriffs

5. Wissenschaftsstreit in der 5. 1.

Erziehungswissenschaft

Allgemeine Positionen der Kontroverse

Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung zwischen Natur- und Geisteswissenschaft wird bei der Frage nach einer wissenschaftlichen Erfassung der Gesellschaft zwischen Vertretern des Kritischen Rationalismus (an der Spitze Karl R. Popper und Hans Albert) und Vertretern der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule (mit Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und Jürgen Habermas) eine Kontroverse ausgetragen, die einen bis auf den heutigen Tag nicht beendeten Streit über den wahren Wissenschaftsansatz darstellt. Es ist der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie von 1969. Der Kritische Rationalismus kritisiert hauptsächlich das Vorgehen, durch das ein zu erforschendes Unbekanntes mit Hilfe einer ebenso unbekannten Begrifflichkeit zu klären versucht wird.

(a)

Gegen die babylonische Vernebelung von Begriffen kann nach dem kritischen Rationalismus nur die Logik zu Felde ziehen, indem sie prüft, ob Begriffe und Aussagen als Erfahrungen „positiv gegeben" sind und auch eine logische Struktur besitzen. Der darin enthaltene Standpunkt des Positivismus ist die (ältere) philosophische Position (von August Comte), die nur die auf das Empirische, das Sichtbare und Skalierbare zurückführbaren Erkenntnisse als wissenschaftlich verwertbar anerkennt. Im Gegensatz dazu stehen subjektive Scheinerkenntnisse, deren Quelle die Einbildung und Phantasie ist. Damit wird auch alles Metaphysische als wissenschaftlich nutzlos betrachtet. Diese Auffassung wurde durch die Einbeziehung der formalen Logik zum Standpunkt des Formalismus erweitert, der in der Kombination von empirischer und logischer Erkenntnis die eigentliche Basis für jedweden (hauptsächlich technologischen) Fortschritt sieht. Wissenschaftlich sinnvoll sind hier daher nur die Erkenntnisse, die einer auf Wertfreiheit bedachten naturwissenschaftlichen Forschungslogik entspringen. Das sind Aussagen, die sich unmittelbar auf das Empirische beziehen, logisch formalisierbar sind und Widerlegungen (Falsifikationen) durch die Forschung standhalten. Die Forderung nach Wertfreiheit ist für ein solches positivistisches Denken ein Programm. An die Welt herangehen heißt, das Gegebene ohne Ausdeutungen zu beurteilen. Damit werden auch alle Erkenntnisse, die nicht über eine geprüfte Erkenntnistheorie gewonnen wurden, als unsinnig angesehen.

(b)

Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule sieht in Erkenntnissen nur die halbe Wahrheit.

empirisch-analytisch

gewon-

nenen

Erst durch die Aufdeckung von Erkenntnisinteressen wird das wissenschaftliche Blickfeld erweitert. Wissenschafts- und Forschungskritik wird zum Baustein eines vernünftigen Diskurses. Dieser ist herrschaftsfrei, weil er die Subjekt-Objekt-Trennung als inhuman entlarvt. Dem wissenschaftlichen Erkennen wird eine unverzichtbare kommunikative Kompetenz zugeordnet. Wissenschaftlich sinnvoll sind Aussagen, die kritisch den gesellschaftlichen Kontext reflektieren, zugrundeliegende Interessen nach dem Maßstab ihrer Humanität prüfen und einen Diskurs durchlaufen.

Kapitel

II:

Erziehung im

5. 2.

(A) Argumente

aus

Rahmen

von

Argumente des

Wissenschaft und Theorie

53

Pro und Kontra

Sicht des Positivismus gegen die Position der kritischen Geisteswissen-

schaft: •







• • • •



• •



Aus positivistischer Sicht ist ein geisteswissenschaftlicher Erziehungsbegriff spekulativ und praktisch sinnlos. Geisteswissenschaft kann aufgrund ihrer Subjektivität keine objektiven Gesetzmäßigkeiten für den Erziehungsbegriff formulieren. Die gesellschaftskritische Frage nach dem Erkenntnisinteresse von Erziehung sägt den tragenden Ast ab, auf dem sie sitzt. Der geisteswissenschaftliche Erziehungsbegriff hat keine Handlungsperspektive, weil die Ziele nicht präzisiert werden können. Erziehungsfehler können nicht durch Gesellschaftskritik beseitigt werden. Diskurse stören den Erziehungsprozeß, indem sie ihn zerreden. Erzieherische Gegebenheiten sind empirische Größen und damit Utopie- und visionsfrei. Auch die vermeintliche Einmaligkeit erzieherischer Vorgänge fällt unter das Gesetz der Wiederkehr von Gleichem. Erzieherisches Verstehen blockiert das Erklären. Erziehungsvernunft wird von der Logik beherrscht. Gesellschaftliche Erziehungskritik verhindert zielgerichtete Veränderungen. Erziehungsethik dient der Vernunft.

(B) Argumente aus der Sicht der Geisteswissenschaft gegen eine positivistische Fassung des

Erziehungsbegriffs: Eine positivistische Fassung des Erziehungsbegriffs klammert historische Entstehungszu•



sammenhänge aus und ist damit sinnlos. Vermeintlich objektive Gesetzmäßigkeiten

machen den

Interessen. Kritik an der Ideologie der Gesellschaft ist die

Erziehungsbegriff

zum

Objekt

von •

notwendige Voraussetzung für die Bildung

Erziehungsbegriffs. Pragmatisch-technische Handlungsperspektiven sind

eines humanen •

für den

Erziehungsbegriff nicht kon-

stitutiv. • • • •



• • •

Gesellschaftskritik verhindert Erziehungsfehler. Diskurse sind identitätsstiftend für die kommunikative Struktur der Erziehung. Der Erziehungsbegriff lebt von Utopien und Visionen. Individualität fällt nicht unter das Gesetz der Wiederkehr von Gleichem. Maßstab für die Erziehung ist die Wiederkehr von Verschiedenheit. Für den Erziehungsbegriff ist das Verstehen elementar. Erziehungsvernunft ist ethischer Herkunft. Sinnvolle Veränderungen werden durch kritische Haltungen bewirkt. Erziehungsethik dient dem Menschen.

Modelle des

54

5. 3.

Bezug

Erziehungsbegriffs

der Kontroverse

zur

Erziehungswissenschaft

Der Positivismusstreit erfaßt auch die Erziehungswissenschaft. Bei der Frage, ob die Erforschung der Gesellschaft und ihrer Individuen in die Naturwissenschaft oder in die Geisteswissenschaft gehört, begegnen sich die gegenseitigen Standpunkte der empirisch-analytischen Richtung (auf der Basis naturwissenschaftlich logischer Rationalität) und der geisteswissenschaftlich Richtung (auf der Basis gesellschaftskritischer Rationalität und Reflexivität). Vertreter dieser Auseinandersetzung sind W. Brezinka auf der Seite der empirisch-analytischen Forschung und K. Mollenhauer auf der Seite der emanzipatorischen Pädagogik. Hintergrund ist auch hier die klassische Kontroverse zwischen Natur- und Geisteswissenschaft und ihrer Erkenntnismethoden. H. Hierdeis (1976, S. 62 66) hat eine Übersicht zu den einzelnen wir hier kurz darstellen wollen:

Argumenten erarbeitet, die

-

(I) hat das Interesse der Erziehungswissenschaft einen formallogischen und technologischen Anspruch, für Mollenhauer (II) einen gesellschaftskritischen. Das Ziel der Erziehungswissenschaft ist für (I) Kenntnis und Entwicklung von Gesetzmäßigkeiten und deren Zusammenfassung in Theorien, die Handlungsprognosen ermöglichen. Für (II) besteht das Ziel vor allem darin, hinter die historisch-gesellschaftliche Situation der Erziehung zu blicken. Der Gegenstand der Erziehungswissenschaft liegt für (I) in der Formulierung der Erziehungsziele und der Bedingungen für deren Verwirklichung. Für (II) ist der Gegenstand die konkrete Erziehung in der Form eines kommunikativen Handelns. Es soll als Problematisieren von Lebenszusammenhängen zu einer vernünftigen Verständigung und Konsensbildung führen. Ein solcher Prozeß wird Diskurs genannt. Für (I) kommen als Methoden nur empirisch-analytische Verfahren in Frage. Denn nur sie sind in der Lage, Hypothesen zu widerlegen. Hermeneutik dient bestenfalls der Hypothesenbildung, der Interpretation und Begriffsbildung, nicht aber der Überprüfung. Für (II) können empirisch-analytische Verfahren nicht den ideologischen Zweck von Praxis disFür Brezinka

kutieren. Nur die Hermeneutik kann dazu den Kommunikationszusammenhang entschlüsseln. Allerdings ist auch die Hermeneutik auf Empirie angewiesen. Denn sie ist ein notwendiges Instrument der Emanzipation. Dementsprechend wird auch ein Begriff von Erziehungswissenschaft formuliert. Für (I) umfaßt er nur Aussagensysteme, die intersubjektiv nachprüfbare Sätze über den Wirklichkeitsbereich Erziehung enthalten. Für (II) ist Erziehungswissenschaft der permanente Diskurs über deren normative Grundlage (insbesondere im Hinblick auf die Norm der Eman-

zipation). Heutige Antworten

auf diese ungelöste und hier stark verkürzte Auseinandersetzung gehen in verschiedene Richtungen: Eine erste ist eine analytisch geprägte Auseinandersetzung (nach dem Modell der Logischen Propädeutik von 1967 der Erlanger Schule von W. Kamiah und P. Lorenzen, einer Weiterentwicklung des Wiener Kreises). Ebenso weiterentwickelt wurde sie durch E. König (1975 f.), der ein nach Regeln vorgehendes Argumentationskonzept vorschlägt, mit Hilfe dessen erziehungswissenschaftliche Normen in Diskursen behandelt werden können. Eine zweite Richtung versucht naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Prämissen über ein Handlungskonzept in Bezug zueinander zu stellen. Sie will als Hand-

Kapitel

II:

Erziehung im Rahmen von Wissenschaft und Theorie

55

die klassische Subjekt-Objekt-Trennung aufheben. In der Erziehungswissenschaft wurde sie insbesondere durch W. Klafki (1973) in die Diskussion gebracht. Eine dritte Richtung ist die gegenwärtig stark florierende Systemtheorie, die als zusätzliches Element die Distanz zu einzelnen in sich geschlossenen Systemen einführt, um (z.B. mit der Norm der Emanzipation) auch verantwortlicher handeln zu können.

lungsforschung

5. 4.

Handlungswissenschaft als Synthese

Der Wunsch, die gegensätzlichen Standpunkte der empirisch-analytischen und der gesellschaftskritischen Forschung in der Erforschung und Erfassung einander anzunähern, führt zu Ansätzen eines Kompromisses. Vor allem in der pädagogischen Forschung soll die Aufhebung der Subjekt-Objekt-Trennung möglich werden. Ein Ergebnis dieses Ansatzes ist die Orientierung an einer Konzeption, die mit einer genauen Beziehungsklärung der Forschenden und der Erforschten beginnt. Das erkenntnisleitende Interesse muß vorweg deutlich sein, bevor teilnehmende und aktivierende Methoden in Kombination mit hermeneutischen, dialektischen und phänomenologischen Recherchen einbezogen

werden. Ein solches Vorgehen beruht auf einem erweiterten Verständnis gesellschaftlicher IstZustände. Sie werden nicht statisch betrachtet, sondern dynamisch behandelt, also eingebettet in einen historischen Kontext. Objekte werden als Subjekte mit einer eigenen Geschichte, einem kulturellen, einem nationalen und /oder globalen Bewußtsein verstanden, als Handelnde, die sich ihrer Welt gegenüber nicht passiv, sondern aktiv verhalten. Das Konzept der Handlungswissenschaft (Action Research) will praxisbezogene und verwertbare Ergebnisse liefern, d.h. sie will nicht nur analysieren, sondern auch interagieren und konstruktiv verändern. Forschung wird so zu einem Projekt.

6. Klassische

Forschungsergebnisse zum Erziehungsbegriff

wichtigsten, immer wieder zitierten Forschungsergebnisse Erziehungsbegriff aufgelistet. Sie stammen zwar ursprünglich aus unterschiedlichen Wissenschaften, wurden aber als Basiserkenntnisse in die Pädagogik integriert und gehören somit zum klassischen Repertoire. Eine ausführliche Zusammenfassung dazu findet sich in: Braun, W. 1983, S. 26 69, auch in: Weber, E., 7. Aufig. 1977, S. 11 36. Beide sind mit entsprechenden Quellennachweisen versehen, so daß hier darauf verzichtet werden kann.

In diesem Abschnitt werden die zum

-

-

6. 1.

Ergebnisse aus der Anthropologie

Die Anthropologie als Wissenschaft vom Menschen wurde für die Pädagogik vor allem durch die Forschungen von Adolf Portmann und Arnold Gehlen relevant. Aus der Tatsache, daß der Mensch als sekundärer Nesthocker eine physiologische Frühgeburt ist, folgt die Vorstellung eines Mängelwesens, das gegenüber dem Tier instinktreduziert und unspezialisiert ist und daher prinzipiell erziehungsbedürftig ist. Damit wird auch der Auftrag der Gesellschaft abgeleitet, jedem Neugeborenen die bestmögliche Geborgenheit und Orientierung zu gewährleisten, um frühzeitig Fehlformen seiner Entwicklung (wie z.B. die der Verwahrlosung) zu verhindern.

Modelle des

56

Erziehungsbegriffs

Ein weiteres Ergebnis, das damit einhergeht, ist die prinzipielle Anpassungsabhängigkeit des Menschen von seiner Umgebung. Würde z.B. ein Mensch unter Wölfen aufwachsen, dann würde er auch deren Sprache und Verhaltensweisen imitieren. Damit wird für die Pädagogik der Auftrag formuliert, auch ein entsprechend positives Imitationsmodell (bzw. Vorbildsmodell) bereitzustellen. Mit dem Wandel der Vorstellungen darüber, was positiv sei, wird allerdings die Verwirklichung des Prinzips der Vorbildhaftigkeit erzieherischer Modelle nicht gerade leichter. Darum wird die Formel der Erziehungsbedürftigkeit heute, vor allem aus der Richtung der emanzipatorischen Pädagogik stark kritisiert.

6. 2.

Ergebnisse aus der Psychologie

Von der Psychologie als Wissenschaft von den (dem Verhalten zugrundeliegenden) seelischen Strukturen stammen die umfangreichsten Untersuchungen. Das kommt vor allem daher, weil sich die Psychologie selbst in eigene Richtungen und Teildisziplinen aufgliedern läßt, die sich durch ihren Betrachtungsgegenstand, durch ihre erkenntnistheoretischen Prämissen und wissenschaftlichen Forschungsmethoden erheblich unterscheiden. So scheinen die Verhaltenspsychologie (als Behaviorismus) und die psychoanalytische Psychologie (als Tiefenpsychologie und Psychoanalyse) am weitesten von einander entfernt zu sein. Dazwischen gibt es zudem mittlerweile eine Reihe von synthetisierenden Psychologien. Sie lassen allerdings eine Systematisierung schwieriger denn je erscheinen. Trotzdem wollen wir nachfolgend in Anlehnung an W. Braun 1983 (S. 34 55) die Hauptergebnisse aus der Entwicklungspsychologie, der Lernpsychologie, der Sozialpsychologie und der Tiefenpsychologie (bzw. Psychoanalyse) nennen mit der Bitte, auch die dort angegebne Literatur zu beachten: Die für die Pädagogik relevanten entwicklungsspychologischen Forschungsergebnisse sind insbesondere mit den Untersuchungen von Charlotte Bühler, Adolf Busemann und Jean Piaget verbunden. In die Pädagogik übertragen wurden sie u.a. von Maria Montessori, auf die wir noch später zu sprechen kommen. So unterschiedlich die Ergebnisse der einzelnen Personen sind, haben sie eines gemeinsam: Sie gehen von einer altersbedingten Reifung des Menschen aus, die sich quasi wie ein genetisch festgelegtes Programm in den einzelnen Altersstufen unterschiedlich entfaltet. Dabei ist umstritten, ob dieses Programm geradlinig oder sprunghaft abläuft, und ob nicht die Umwelteinflüsse eine ganz gravierende Bedeutung spielen. Der Pädagogik jedenfalls bleibt anheimgestellt, wie sie auf die einzelnen Phasen (im Sinne einer natürlichen Entwicklungsförderung) eingehen kann. Die Aussagen der Entwicklungspsychologie liefern zwar eingängige Erklärungen darüber, warum ein Kind sich in einem bestimmten Alter so und so verhält bzw. wofür sich ein Kind in einem bestimmten Alter interessiert, was es verarbeiten kann und was nicht. Die Aussagen selbst aber sind künstliche, meist statische Konstrukte, so daß die Pädagogik heute eher wieder von dieser Sicht abgekommen ist. Die behavioristische Lernpsychologie hat auf die Pädagogik, insbesondere die Schulpädagogik, den wahrscheinlich größten Einfluß genommen. Die klassischen Reiz-Reaktions-Modelle inklusive der Vorstellungen über entsprechende Reaktionsverstärker haben zu sehr differenzierten Konzepten einer lernzielorientierten Pädagogik geführt. In diesem Zusammenhang steht auch die Entwicklung von Lernprogrammen und Lehrplänen. Etwas anders gestaltet sich der Umgang mit den kognitiven Lerntheorien, die davon ausgehen, daß das Gelernte eine, durch entsprechende Dispositionen hervorgerufene Einsicht ist, die u.a. erst durch (vorweg gegebene) Gestalten zustande kommt. Dem entsprechend neigt die -

-

-

-

-

Kapitel

II:

57

Erziehung im Rahmen von Wissenschaft und Theorie

hier zu einer mehr ganzheitlichen Sichtweise (am deutlichsten sichtbar im Lesenlernen ganzer Wörter vor dem Zerlegen in einzelne Laute und Buchstaben.) Ein Teil dieser Vorstellungen es ist jener, der von der Annahme einer kognitionsgebundenen Erfahrung ausgeht führt in der Pädagogik zur Formulierung von Lernstufen, die ihren Ausbzw. Prägung von gang vom Handeln als Erfahrungsmedium nehmen, zur Verinnerlichung auf zukünfeine einen führen Transfer, Schemata und und Lernübertragung Mustern Spuren, tige, ähnliche Situationen ermöglichen. Wir werden auf dieses Lernmodell noch ausführlicher eingehen. Exkurs: Die Individualpsychologie hat zu den Annahmen einer Innenwelt des Menschen zwei grundlegend verschiedene Vorstellungen entwickelt: Es ist einmal die Vorerst stellung, der Mensch sei zunächst eine tabula rasa, ein unbeschriebenes Blatt, auf dasähnliwird. Eine beschriftet es damit sozusagen von außen Einflüsse einwirken müssen, che Vorstellung hat auch die Black-Box-Theorie, die den Menschen als eine Art schwarmachen kann. Nach zen Kasten sieht, über dessen Inneres man nur spekulative Aussagen einen möglichen Zusammenhang von Reiz und ihr läßt sich bestenfalls im Rückgriff auf Reaktion auf innere Komponenten und Gesetzmäßigkeiten des Verhaltenserwerbs schließen. Im Erziehungsprozeß führt diese Vorstellung zu einer Überbetonung der Umwelteinflüsse, bis hin zur Überzeugung, Kinder lassen sich prinzipiell zu allem bilden besser gesagt manipulieren -, was den Zielen der Erwachsenen entspricht. Damit gibt es auch die Möglichkeit, nicht erwünschte Verhaltensweisen durch entsprechende positive Verstärkungen zu erwünschten zu machen. welches Demgegenüber steht die Vorstellung eines von Natur aus gegebenen Innenlebens, das Verhalten. Ein erzeugt Apparat erst hervorbringt. das Verhalten quasi apriorischer Wie dieses Apriorische aussieht, ist jedoch umstritten. Einmal sind es generierende Dispositionen, dann wieder Archetypen, Triebe bzw. andere bewußtseinsgestaltende Energieformen. Für ein solches Theoriespektrum sind pädagogische Einflüsse deswegen außerordentlich schwierig, weil sie sich nicht in einen planbaren Handlungsablauf zwängen las-

Pädagogik

-

-

-

sen.

Forschungsergebnisse

Die sam.

der Sozialpsychologie sind ebenso umfangreich wie bedeutmarkante nennen. Sie beziehen sich in erster Linie auf das Phä-

aus

Wir können nur einige Gruppe. Dazu drei wichtige

nomen

Ergebnisse:

Innerhalb jeder Gruppe existiert eine sozialpsychologische Hackordnung. Sie gleicht einer ist Rangordnung, nach der Positionen und Rollen verteilt sind. Die Rangordnung ihrerseits des in hierarchisch Richtung jeweils Mächtigsten geordnet. In Gruppen wird die Hackordnung durch Rituale und subkulturelle Symbole zur Schau werden gestellt. (Der Boss geht immer voraus und trägt die meisten Orden. Wer Mitglied den Nonnen und der beugen.) will, muß sich Ordnung ist daJede Gruppe wird durch Sympathie- und Antipathie-Beziehungen strukturiert. Sie werden, dann sichtbar Konturen immer dessen mit ein sensibles emotionales Gebilde, unterschiedlicher wenn Konflikte und Störungen auftreten, die auf das Zusammentreffen meist auf Bedürfnisse die sind Dabei und Interessen beruhen. Bedürfnisse, Erwartungen nach einem angemessenen Anerkennung ausgerichtet, die Erwartungen auf die Forderung Platz dazu und die Interessen auf die Verwirklichung entsprechender Rechte. der sich z.B. Jede Gruppe durchläuft einen gruppendynamischen Interaktionsprozeß, oder Orientierungsphase der Anfangsphase durch Phasen darstellen läßt. Sie reichen von

Modelle des

58

bis zur Trennungsphase. L. Lowy 1973, 1975)

Erziehungsbegriffs

(Am bekanntesten sind die Gruppenphasen von

S. Bernstein und

von Kurt Lewin entmit verschiedenen weiterentwickelt und &Tausch Tausch Fragestellungen kombideckt, von niert. (Hierzu gibt W. Braun 1983, S. 49 eine Übersicht nach K. Sprangenberg. Chancen der Gruppendynamik, Weinheim/Basel 5. Aufl. 1974, S. 97 ff. und 82.)

In diesem

Zusammenhang wurden auch die berühmten Erziehungsstile

6. 3.

Ergebnisse aus der Soziologie

Begriffe Rolle und Position sind, durch die Soziologie entworfen, zu einem Diskussionspotential für die Pädagogik geworden. So löst die Antwort auf die Frage nach einer der Erziehung angemessenen Rollenverteilung in der Familie heftige Kontroversen meist geschlechtsspezifischer Art aus. Theoretischer Hintergrund dazu ist der Wandel des Rollenbegriffs selbst, vom funktionalen Eingebettetsein in ein System zu offeneren Tauschvorstellungen. Ähnlich verhält es sich mit dem für die Pädagogik wichtigen Begriff der Sozialisation und den damit verbundenen real existierenden Lebensgemeinschaften und Lebenswelten (Milieu, peer group, Team). Er ist letztlich von den jeweils gegebenen gesellschaftlichen Strukturen abhängig, die zu analysieren mit zunehmender Komplexität in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht immer schwieriger geworden ist. Insbesondere die enormen

-

-

6. 4.

Ergebnisse der Philosophie

Am sensibelsten hervorgehoben hat die Philosophie der Gegenwart wohl den Begriff des Subjekts. Er wird zum Ausgangspunkt einer Reihe von pädagogischen Ansätzen, wie z.B. dem Begriff der Person, aber auch zum Indikator von Erscheinungen des Zeitgeistes, wie z.B.

der zunehmenden Isolation und Privatisierung des Menschen. Im Gegensatz zu den anderen Wissenschaften kann die Philosophie jedoch keine fertigen Forschungsergebnisse für die Pädagogik bereitstellen. Sie würde dies auch überhaupt nicht wollen. Von ihr gehen jene Impulse aus, die eine distanzierte Sichtweise erst möglich machen. Würde man z.B. die Pädagogik als ein Planungsinstrument für die Bearbeitung konkreter Problemfelder sehen, so würde die Funktion der Philosophie darin bestehen, Handlungen nach deren Sinn zu befragen und die darin enthaltenen Denk- und Erkenntnisformen, Ziele, Menschenbilder und Ideologien zu reflektieren. Die Philosophie wird damit zu einer kritischen Analyseinstanz für die Pädagogik, sie wird zur Kritik der Pädagogik an sich selbst. So wäre sicherlich zu fragen, warum sich die Pädagogik so vieler anderer Wissenschaften bedient, wenn sie doch eine eigene sein will. Oder anders: Wenn ein Pädagoge z.B. die Soziologie zitiert, benutzt der diese dann nicht als Alibi für das mangelnde Vermögen, einen pädagogischen Zusammenhang auch fachspezifisch zu begründen? Diese Frage kann wohl auch nur damit beantwortet werden, daß Theorie und Praxis der Pädagogik selbst Teil eines Netzwerks sind. Wenn allerdings die Jagdreviere nach Privilegien verteilt werden, dann freilich wird die Pädagogik arg in die Zange genommen. Sie kann ihr nur dadurch entgehen, daß sie entweder nur die ihr angehörenden historischen Texte großer Pädagogikpersönlichkeiten betrachtet oder ganz eigensinnig, engstirnig und stur empirisch forscht.

Kapitel

II:

Erziehung im Rahmen von Wissenschaft und Theorie

59

6. 5. Wissenschaft der Sozialen Arbeit Die Soziale Arbeit als eigenständige Wissenschaft und Disziplin inklusive deren Praxiskomponenten der Sozialarbeit hat die Lösung von Problemen sozialer Brennpunkte zum Gegenstand. Da sie noch relativ jung ist, kann sie noch nicht in vergleichbarem Maße mit klassischen Forschungsergebnissen aufwarten. Durch ihre Professionalisierung unterliegt jedoch die Hilfestellung für Menschen, die benachteiligt sind, in besonders diffiziler Weise pädagogischen Zielvorstellungen. Im Medium der Einzelfallhilfe, Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit nimmt dabei mit Sicherheit die Identitätshilfe neben der Emanzipationshilfe einen sehr großen Raum ein. Daneben aber ist auch die Enkulturationshilfe als Bildungsarbeit mit Randgruppen durch neuere Konzeptionen in zunehmendem Maße vertreten. Als Wissenschaft von der Integrationshilfe und der Beziehungshilfe versucht sie, den Symptomen und Ursachen von Armut, Verwahrlosung und Isolation zu begegnen, ebenso wie dem Leid, der Krankheit und der Stigmatisierung. Hierbei versucht sie, die gesellschaftlichen Mechanismen, die dazu führen, zu erkennen und zu verändern (vgl. Winkler, M. 1988, S. 183 ff. "Von der Topologie der sozialpädagogischen Praxis"). -

-

6. 6.

Zusammenfassung

(a) Die Pädagogik ist die Wissenschaft der Erziehung. Sie umfaßt:

die Geschichte der Pädagogik die pädagogische Tatsachenforschung die pädagogische Theorienbildung die Kritik der Pädagogik an der Pädagogik in Form eines reflektiertes Hinterfragens der normativen, ethischen und ideologischen Prämissen pädagogischen Handelns.

(b) Die Pädagogik repräsentiert die Praxis der Erziehung. Damit

gemeint sind:

die natürliche erzieherische

Beeinflussung als ungeplant gegebene Interaktion (z.B.

in der

Familie)

das professionelle erzieherische Handeln als bewußt organisierte und reflektierte Interaktionskette von Erziehungszielen, -mittein und -maßnahmen, aufgrund spezifischer Kompetenzen in den einzelnen Feldern, in denen pädagogische Dienstleistungen erforderlich sind die konkrete Vernetzung von Anspruch und Wirklichkeit im Spannungsfeld des Rollenund Positionsverständnisses der Erziehenden gegenüber den Zu-Erziehenden und ihrer Bedürfnislage, sowie im Spannungsfeld des Selbstverständnisses von Erziehungsinstitutionen gegenüber dem Feld praktischer Anforderungen und Gegebenheiten.

(c) Die Pädagogik subsummiert als Erziehungstheorie unterschiedliche (teilweise konträre) Erziehungsvorstellungen.

Erziehung ist Lernhilfe für die Übernahme und Verinnerlichung von Verhaltensmustern zur Bewältigung von Situationen. Sie ist Lernhilfe für die Verhaltensweisen, von denen allgemein erwartet wird, daß man sie können muß oder können sollte. Im weiteren Sinne

Modelle des

60

Erziehungsbegriffs

ist sie damit vor allem Lernhilfe für das Erlernen von geistigen Fähigkeiten, emotionalen Haltungen, bzw. Einstellungen und praktischen Fertigkeiten. Sie ist damit Lernhilfe für eine sozio-kulturelle Integration. Erziehung ist Enkulturationshilfe. Erziehung ist Hilfe zur Autonomie und damit Hilfe zur Weckung eines mündigen Bewußtseins in der Form einer Fähigkeit zur Kritik und Distanz (z.B. gegenüber ideologischen Grundlagen eigener und der fremder Erziehung, der eigenen Lebensziele und den gesellschaftlichen Erwartungen). Sie ist damit Emanzipationshilfe. Erziehung ist Hilfe zur Entfaltung der inneren Kräfte und der zentralen Energien der Persönlichkeit (entweder in der Form einer pflegerischen Zuwendung oder einer therapeutischen Stütze für die Wiedergewinnung verlorengegangener Anerkennung). Erziehung ist damit Hilfe zur Entfaltung der Persönlichkeit, ist Personalisationshilfe. Erziehung ist damit auch Identitätshilfe.

(d) Pädagogik tritt in der Praxis als organisierte Erziehungskonzeption auf. Als methodisches Hilfssystem steuert sie erzieherische Kommunikations- und Interaktionszu-

sammenhänge, die u.a. von folgenden Kräftefeldern beeinflußt werden: den Erziehungszielen und Erziehungsmitteln, die intentionale Interessen verfolgen und sich bei ihrer Realisierung immer der Sprache und bestimmten Machtmitteln bedienen den normativen Vorstellungen und den Erwartungen an die Effektivität der Erziehung dem soziokulturellen Kontext der Situation, durch die die Erziehung in gesellschaftliche Interessen- z.B. dem Interesse der Erhaltung einer gesunden und leistungsfähigen Gemeinschaft eingebettet ist dem jeweiligen Menschenbild. -

(e) In der Form eines äußeren Anpassungsprozesses tangiert Erziehung den Teil der permanent stattfindenden Sozialisation bzw. der Verinnerlichung gesellschaftlicher Normen und Regeln. Sozialisation ist darin die funktionale Begleiterscheinung der Erziehung. Als personale Entwicklungshilfe begünstigt Erziehung die Personalisation, also die Reifung der Persönlichkeit.

(f) Der Erziehungsbegriff unterliegt unterschiedlichen Theorietypen. Die Diskussion um eine wissenschaftliche Grundlegung der Erziehung folgt unterschiedlichen

Theorietypen. Im einzelnen sind dies: der empirisch-analytische (positivistische) Theorietypus, der Pädagogik als Erfahrungswissenschaft (oder als Realwissenschaft) sieht der geisteswissenschaftliche Theorietypus, der als hermeneutisch-spekulativer, als dialektisch-kritischer und phänomenologisch-deskriptiver seinerseits unterschiedliche Entwürfe hervorbringt. So gibt es theologische, wertphilosophische und gesellschaftskritische Entwürfe, die die Pädagogik einmal als weltanschauliche Prinzipienwissenschaft, als reine Geisteswissenschaft und als kritische Konflikttheorie in Erscheinung treten lassen.

(g) Die Pädagogik verwendet Forschungsextrakte relevanter Bezugswissenschaften. Aus der Anthropologie stammt z.B. das Theorem der Erziehungsbedürftigkeit. Aus der Psychologie kommen Vorstellungen über die Grundlagen der Entwicklung, der Lernfähigkeit und der Gruppenabhängigkeit des Individuums.

Kapitel

II:

Erziehung im Rahmen von Wissenschaft und Theorie

61

Aus der Soziologie stammen Erkenntnisse über die Strukturen und die Dynamik von Gruppen und aus der Philosophie kritische Impulse zu den Erziehungszielen. Aus der Sozialen Arbeit kommen praktische Konzeptionen, die über Formen der Organisation, Beratung, Leitung und Therapie Entwicklungshilfen für Einzelne, Gruppen und Teams enthalten, die liefern der Pädagogik vor allem Erkenntnisse über die Beziehungs-

und

Integrationsarbeit liefern.

(h) Die Pädagogik kämpft gegen Entmündigungsprozesse durch andere Wissenschaften und ringt um die innere Ordnung ihres Systems. Eine Ordnung der unzähligen pädagogischen Konzeptionen und Aktivitäten ist gewiß keine leichte Aufgabe. Der Einfluß fremder wissenschaftlicher Disziplinen, der Facettenreichtum der Praxis und die Problemdichte der konkreten Aufgabenstellungen erschweren oft eine genauere Betrachtung dessen, was pädagogisch eigentlich geleistet und bewirkt wird. Hinzu kommt der, oft auch mit dem (kommerziellen) Wunsch nach Ablösung der Pädagogik durch andere Wissenschaften und Professionen verbundene Vorwurf, Pädagogik habe grundlegend den Hang zur Pädagogisierung von Entwicklungsprozessen. So gibt es u.a. Ansätze aus der Psychologie und der Sozialen Arbeit, die die Pädagogik als System einer rein fremdbestimmten Lerndisziplinierung verstehen und sich berufspolitisch von ihr abgrenzen wollen. Sie betonen dabei vor allem die kreativen Selbstentwicklungsfähigkeiten des Individuums ohne die eigenen methodischen Prämissen hinreichend zu durchleuchten und ohne zu sehen, daß der Ansatz kreativer Fähigkeiten- und Talententfaltung immer schon das Denken und Handeln der kritischen Pädagogik bestimmt hat. (i) Die Pädagogik bedient sich eigener formaler Strukturelemente bei der Ordnung ihres Systems. Der oft beklagte Dschungel der pädagogischen Praxis verliert seine geheime Schicksalhafügkeit nur dadurch, daß gewisse Spuren ausfindig gemacht werden, die sich selbst auf Grundzurückführen lassen, und mit Hilfe derer sich eine der zahlreichen Pädagogiken systematisieren ließe. Es wäre schon ein großartiges Ergebnis, wenn es gelänge, eine konkrete pädagogische Handlung als typisch für eine bestimmte Richtung zu erkennen. Für ein solches Praxis reduzierendes Vorgehen kämen jedenfalls folgende Fragen in Betracht: muster

o o

o o

o

o

Mit welchen Mitteln wird gehandelt? Welche Wege werden skizziert? Welchen Vorüberlegungen folgen die Wege ? Was leisten Wege und Mittel und wo liegen ihre Grenzen? (So könnte es z.B. sein, daß der Erfolg des Gruppenleiters auf das verbale Mittel der Anrede in der Ich-Form zurückzuführen war, mit Hilfe dessen er kundtat, daß ihm persönlich viel daran lag, gemeinsam das Ziel zu erreichen, verbunden mit der Bitte, ihm für diesen befristeten Weg ein Stück weit zu vertrauen.) Welches sind die Ziele und Endpunkte, die durch die Mittel und Wege erreicht werden sollen? (In unserem Fall könnte es ein Punkt sein, der lautet durch eigenes Engagement ein Vorbild für die Arbeitsfähigkeit in der Gruppe zu sein.) Wie sehen die theoretischen Begründungen und Bezugssysteme der Ziele und Mittel aus? Im Hinblick auf die Methoden muß die Frage nach der Funktion von Methoden gestellt werden, im Hinblick auf die Ziele die Frage nach deren Sinn, Legitimation und Realisierbarkeit. Hinzu kommen Fragen zum Menschen- und Gesellschaftsbild.

Modelle des

62

Erziehungsbegriffs

(k) Pädagogik ist die Metatheorie unterschiedlicher Erziehungsrichtungen. Eine Bestimmung der Möglichkeiten und Grenzen von Konzepten, Maßnahmen und Hand-

lungsformen der Praxis ist prinzipiell nur durch eine abstrakte, allgemeine und metatheoretische Charakterisierung und Typisierung möglich. Eine solche geht von der Annahme aus, daß jedes pädagogische Handeln (gleich welcher Art und Ebene) immer schon Ziele (gewissermaßen automatisch) impliziert. Schält man diese Ziele heraus, kommt man von selbst zu den Hintergründen und Zusammenhängen. Es werden Normen sichtbar, Menschen- und Gesellschaftsbilder ebenso wie die theoretischen Prämissen der Handlungen selbst. Das heißt: Wenn wir von der Vorstellung ausgehen, daß Erziehung eine spezifische Form der Beeinflussung von Menschen durch Menschen ist, so wird damit impliziert, daß es Richtungen gibt, zu denen

hin gezogen wird. Wir könnten hier bereits mindestens drei unterscheiden:

Einmal werden Menschen über Erziehung in die Richtung derer (mit)gezogen, die sie ziehen, weil sie selbst hilflos sind und irgend eine Art von Aufgehobensein brauchen, oder weil sie machtlos sind und auf die, die sie ziehen, angewiesen sind. Voraussetzung dazu ist die Bereitstellung von geeigneten Lernorten. Zum anderen werden Menschen über Erziehung zum Bewußtsein geführt, daß die Richtung, zu der sie von außen beeinflußt werden, nicht in jeder Hinsicht die richtige ist. Sie sollen kritisch erkennen, was davon vernünftig und gerechtfertigt ist und wovon sie sich konkret befreien müssen, weil sie nicht ständig manipuliert leben wollen, sondern mitreden und mitbestimmen wollen. Voraussetzung dazu ist die Bildung eines kritischen Bewußtseins. Schließlich werden Menschen über Erziehung zu Selbsterfahrungen geführt, durch die sie die Kräfte gewinnen, Lebensziele und Wege aus dem eigenen Ich heraus zu entdecken. Voraussetzung dazu wäre die Bildung einer Persönlichkeitsstabilität, die für die Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt alle Energien aus inneren Ressourcen schöpft. Die Zug-Richtungen sind nicht nur inhaltlich und methodisch unterschiedlich, sondern sie gehen von verschiedenen Idealvorstellungen aus. Auf sie werden wir noch bei der Darstellung der einzelnen Modelle eingehen. Daß es in der Praxis Mischformen der ZugRichtungen und der ihnen zugehörigen Methoden gibt, erleichtert nicht gerade eine Orientierung. Aus der Perspektive der Pädagogen und Pädagoginnen betrachtet gleicht die Suche nach Orientierung einer Gratwanderung zwischen dem Angepaßt-Sein und dem Davon-befreit-Sein, wobei in der Mitte das eigene Ich mit seinen Bedürfnissen, Erwartungen, Interessen, Einstellungen, Neigungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten nach dem SelbstSein ringt.

Kapitel III: Hauptmodelle des Erziehungsbegriffs 1.

Erziehung als Enkulturationshilfe 1.1.

Begriffsklärung

„Erziehung ist Enkulturationshilfe" war bis in die achtziger Jahre hinein Ausfür den Erziehungsbegriff. Sie wurde damals insbesondere durch W. Loch 1968 gangspunkt fundiert und ausdifferenziert. Grundlegend wird davon ausgegangen, daß der Mensch inmitten immer schon gegebener kultureller Lebensweisen heranwächst und diese durch Imitation und Erprobung lernt. Enkulturation vollzieht sich funktional durch die Wechselwirkung ständig stattfindender Kontakte der Heranwachsenden mit der sie umgebenden Lebenswelt und durch die Verinnerlichung deren Substrate. Die Formel

Exkurs: Ein Beispiel für ein in unserem Kulturkreis üblicher Brauch ist das Ausblasen der Kerzen auf der Geburtstagstorte. In anderen Kulturen hat das Ausblasen von Kerzen anläßlich einer solchen Feier symbolisch eher etwas mit dem Tod als mit der Geburt zu tun. In Mexiko ist es z.B. Brauch, die Kerzen brennen zu lassen und in die Torte zu beißen, ohne sie zu berühren. So werden die Muster kultureller Lebenswelten durch lokale Rituale und Mythen tradiert, deren Herkunft oft unbekannt ist. Der Begriff Enkulturation erklärt in erster Linie die Übernahme von Lebensformen, Verhaltensweisen, Verhaltensregeln, Sitten und Gebräuchen in ein subjektives Verhaltensrepertoire. Er umfaßt damit auch die Sozialisation, die auf die automatische, also nicht erzieherisch ge-

steuerte Verinnerlichung von zwischenmenschlichen (sozialen) Austauschmustem und deren Normen und Werten beschränkt bleibt. Mit dem Begriff „Kultur" ist die gesamtgesellschaftliche (und so gesehen auch transzendentale) Lebensordnung gemeint, die ihrerseits einzelne Teilordnungen moderner gesagt Teilsysteme wie z.B. Familie, Religion, Milieu enthält. Die Bereiche, an denen Kultur unmittelbar sichtbar wird, sind vor allem die Sprache inklusive der damit verbundenen Interaktionsforund die durch Arbeit hervorgebrachten Artefakte. Letztere sind die vom Menschen men kunstvoll und künstlich-technisch gemachten Objekte (Dinge, Gegenstände, Bauwerke, Kunstprodukte), hinter denen zunächst Notwendigkeiten stecken (z.B. die, daß man in einem geschützten Raum wohnen muß), hinter denen aber auch Wünsche, ästhetische und künstlerische Ideen stehen. Letztere gewinnen in einer immer stärker vom Menschen umgestalteten Welt an Bedeutung. Sie bestimmen nämlich als Form-, Färb- und Materialobjekte zunehmend -

-

-

-

unsere

Wahrnehmung.

Die Enkulturationspädagogik geht davon aus, daß das Hineinwachsen in die jeweilige Lebenswelt und Kultur nicht ohne Hilfestellung geschehen kann. Daher muß die Erziehung der funktionalen Enkulturation, also der Sozialisation, als bewußtes, geplantes, überprüfbares und damit legitimierbares Handlungsfeld gegenübertreten, sie ergänzen, unterstützen und weiterentwickeln. Erziehung ist somit wesentlich Enkulturationshilfe. Das heißt: Erziehung ist ein Hilfssystem der Unterstützung für alle Heranwachsenden, in die sie umgebende Lebenswelt, in deren Kultur, deren Ordnungsregeln und Prinzipien in möglichst optimaler Weise, angstfrei, schadensfrei, schmerzfrei mit viel Kreativität, Lust und Spaß an der Sache so hineinzuwachsen, daß sie später dort auch einen Platz finden können. Sie sollen also Fähigkeiten und Fertigkeiten lernen, in der Welt, in die sie hineingeboren oder auch hineingeschickt wurden, zurechtzukommen.

Modelle des

64

Erziehungsbegriffs

Die Enkulturationshilfe dient grundsätzlich der Systemintegration. Sie ist lebenslang und alters- und lebenslagenübergreifend für alle Menschen konzipiert, die sich durch Lernen entwickeln wollen, um mehr zu wissen, um leistungsfähiger zu werden und um ihre Kompetenzen zu erweitern. Exkurs: Von der Integrationshilfe im engeren Sinn spricht man in der Regel, wenn bereits vorhandene Enkulturationsmuster mit neuen kombiniert werden müssen. Nicht gemeint ist, vorhandene Enkulturationsmuster durch neue zu ersetzen und durch Anpassungszwänge lediglich gegen solche auszutauschen, die von der herrschenden Kultur vorgegeben sind und bei nicht Beachtung sanktioniert werden. Der Gedanke einer Koexistenz unterschiedlicher Kulturen in einer homogenen Kultur, die wirtschaftlich, geistig und religiös mächtig ist, ist wie wir wissen hindernisreich. Hier ist die gesamte Leistungsfähigkeit der Enkulturationshilfe kulturübergreifend gefordert. -

-

1.2. Basis und Struktur Wir wollen dazu o o o o

o o

folgenden Fragen nachgehen:

Was charakterisiert die Enkulturationshilfe? Welche Lerndimensionen werden angesprochen? Mit welchen Mitteln und Hilfsmitteln wird gearbeitet? In welchen Praxisfeldern wird nach ihr gearbeitet? Für welche Problemstellungen und Anforderungen ist sie besonders geeignet? Was läßt sich mit ihr und durch sie erreichen?

(1) Die Enkulturationshilfe ist ein Anpassungs- und Integrationssystem. Die Enkulturationshilfe steht in Verbindung mit der Vorstellung, „wenn du ein Mitglied eines Systems werden willst, dann mußt du zunächst wissen, wie es dort zugeht und welche Erwartungen du erfüllen mußt." Das Pädagogische daran ist, daß es immer schon Mitglieder des jeweiligen Systems gibt, die ein erzieherisches Interesse nach dem Motto haben, „ich selbst bin schon Mitglied dieses Systems, ich kenne mich aus und kann dir daher helfen, möglichst gut dort hineinzufinden". So entsteht der Geschmack am System und den Vorteilen und Privilegien, die es verspricht. Exkurs: Der ursprünglich aus der Biologie stammende Begriff der Anpassung spricht die existentiell notwendige Fähigkeit an, auch unter Lebensbedingungen, die ständig im Wandel begriffen sind, überlebensfähig zu sein. In der Pädagogik wurde Anpassung meist im Sinne von Anpassungszwang negativ verwendet. So schreibt E. Weber, der sich gegen den Soziologismus in der Pädagogik wendet (1977, S. 69): „Die bloße Anpassungspädagogik kommt einer Kapitulation vor der Wirklichkeit gleich. Die Welt kann aber so im Argen liegen, daß eine bloß auf Anpassung bedachte Erziehung nur noch Zuhälterarbeit

wäre." Heute jedoch scheint sich das Bild etwas gewandelt zu haben. Einerseits sind die Freiräume (z.B. durch die Arbeitsplatzverknappung) in der Gesellschaft enger geworden, zum anderen wächst auch die Notwendigkeit zur Orientierung an festen Strukturen. Denn die Bezugslosigkeit scheint zum Identitätsverlust zu führen. So gesehen kann Anpassung (als Adaption sozialer Gegebenheiten und deren Regeln und Normen) positiv zu einer sinnstiftenden Figur werden. Ähnlich ist der Begriff der Integration zu sehen. Er meint das Hineinwachsen in die Strukturen eines Systems, ohne dabei die eigene Identität (z.B. die nationale Identität) aufgeben zu müssen. Integration ist eine Form der Anpassung, die die Dimension des Individuellen und Personalen integer hält.

Kapitel

III:

Erziehung als Enkulturationshilfe

65

Vermittlungssystem kulturell bedeutsamer Inhalte. Enkulturationshilfe will die Weitergabe inhaltlich bedeutsamer kultureller Zusammenhänge

(2) Die Enkulturationshilfe

ist ein

Bildungszwecke instrumentalisieren. Sie will Menschen durch Wissen fördern und sie zu Fähigkeiten und Fertigkeiten führen, damit sie Hintergründe sachgemäßer und umfassender verstehen, damit sie die Probleme des Alltags und des Berufs besser bewältigen kön-

für

neuen

leistungsfähig werden. Exkurs: Das Charakteristische soll durch das folgende Beispiel verdeutlicht werden: An vielen Hochschulen werden zum Wintersemester für die Neuankömmlinge Einführungs-

nen,

und damit sie in der Gesellschaft flexibel, mobil und

tage veranstaltet. Studentinnen und Studenten sowie Dozentinnen und Dozenten diskutieren darüber, wie eine möglichst große Orientierung in einer Anfangssituation gegeben werden kann, in der vieles noch unbekannt ist. Ziel ist es, in das System Hochschule und Studium in einer Weise einzuführen, die weder Verunsicherung noch Angst erzeugt. Dabei ist klar, daß sich alle an die bestehende Studienordnung, den Stundenplan anpassen müssen, um überhaupt einen Einstieg in das System Hochschulstudium finden zu können.

Dazu werden Hilfen für den Weg in die Notwendigkeit der Integration bereitgestellt. Ein bewährtes Mittel ist, alle Erstsemester in kleinere Gruppen aufzuteilen und zunächst einmal zwanglos mit einem Frühstück zu beginnen, um sich erst einmal besser kennenzulernen. Meist wird dies auch durch ein Kennenlernspiel aus der pädagogischen Methodenkiste ergänzt, bevor versucht wird, schrittweise in einen komplexen Zusammenhang einzuführen. Klappt es einmal nicht so ganz, so wird im Nachhinein meist darüber gesprochen, ob dieser sanfte Weg einer pädagogischen protection nicht zwangsläufig zu einer overprotection werden muß, einer Überbehütung, die ganz und gar nicht erwachsenengerecht ist. Umsomehr ist es daher erstaunlich, daß sich trotzdem bisher der Konsens halten konnte, daß Anpassung und Integration erst dann pädagogisierbar sind, wenn methodisch auch entsprechende Schutzräume bereitgestellt werden. Unpädagogisch wäre es jedenfalls, wenn man sagen würde: „Findet Euch gefälligst selbst zurecht". Unpädagogisch wäre es auch, alle durch einen Vortrag lediglich zu informieren. Solche Vorgehensweisen wären mit Sicherheit keine Enkulturationshilfe, im Sinne einer Hilfestellung für das Hineinwachsen in unbekannte Anforderungen.

(3) Enkulturationshilfe ist organisiertes Lernen im Medium der Erfahrung. Der Erziehungsbegriff der Enkulturationspädagogik geht von dem Bild des organisierten Lerin einen für sie noch unbenens mit Hilfe bereitgestellter Erfahrungen aus. Menschen sollen sie dazu machen können, daß Erfahrungen so kannten Zusammenhang hineingeführt werden,

und sium mehr als vorher darüber zu wissen, um sich besser als vorher darin auszukennen cherer als vorher darin handeln zu können. Exkurs: Ein sehr häufig diskutiertes Problem ist dabei der Erfahrungsbegriff. Er ist besonders durch seine philosophische Tradition enorm vorbelastet. Einerseits sind Erfahrungen bereits verarbeitete Anschauungen (also allgemeine Spuren und Muster, aus denen deduziert wird), andererseits sind sie die ersten (empirischen und individuellen) Ausfür die Erziehung gangspunkte. Nun ist, unabhängig davon, wie der Begriff geklärt wird, stets der Kontakt mit einer Kontextsituation ausschlaggebend. Über ihn sollen inhaltliche Erfahrungen gemacht werden, die zu allgemeinen Anschauungen, zum Wissen, zu Ein-

führen. Daß Sprache und Bild darin einziges in Erfahrung sind, ist aber nicht unproblemaInhalts eines der Medium Transformation tisch. Der Vermittlungsvorgang wird dadurch zwar möglich, bietet aber keine Gewähr für die Bildung von Haltungen. Ein Beispiel: Nehmen wir an, jemand liest ein historisches Dokument über das Kriegsschicksal von Menschen vor, so würde eine Art Erfahrung vermittelt werden. Es wäre aber eine Erfahrung, die selbst wenn der Text noch so an-

stellungen und Handlungsbereitschaften

-

Modelle des Erziehungsbegriffs

66

schaulich wäre nie die vergangene Erfahrung, im Sinne einer Erfahrung der Sinnlosigkeit eines Krieges, ersetzen könnte. In diesem Zusammenhang gibt es in der Pädagogik die Meinung, daß nur authentische Erfahrungen aus erster Hand und nicht sprachlich oder anders vermittelte Erfahrungen aus zweiter Hand jene Macht der Betroffenheit auslösen, die ein Kind bewegt, nicht mehr ans Feuer zu langen. Die Kehrseite der Medaille allerdings kann nur die Hoffnung zum Ausdruck bringen, daß nicht erst traumatische Erlebnisse zu pazifistischen Haltungen fuhren, sondern daß es über vorbildliche soziale Kontakte ebenso möglich ist, die Sinnlosigkeit von Gewalt zu erkennen und zur Friedfertigkeit zu erziehen. In ähnlichem Tenor wird der Begriff Erlebnis als situationsgebundene Erfahrung behandelt. Auch der erlebnispädagogische Ansatz ist ein nach Authentizität suchender Lernansatz und ist mit den selben Problemstellungen konfrontiert. Denn sich der Härte der Realität zu stellen und durch mehr Zutrauen zu sich und anderen Ängste vor Bedrohungen zu überwinden, hat disziplinierende und auch militante Züge. -

(4) Enkulturationshilfe realisiert universelle

Lerndimensionen.

In jeder Maßnahme der Enkulturationshilfe werden unterschiedliche Lerndimensionen, auf die im Sinne einer Entwicklung und Erweiterung hin erzogen werden soll, fokussiert. Zu den meist erwähnten zählen: die kognitive Dimension, die die geistigen Fähigkeiten und den Wissensstand umfaßt die instrumenteile Dimension, die die Verhaltensgeschicklichkeit sowie die Handlungsfähigkeiten und -fertigkeiten beinhaltet die affektive und emotionale Dimension, deren Inhalte gefühlsmäßige Einstellungen (Sympathie und Antipathie) und die Motivationen (Handlungsantriebe und -energien) betreffen. Ferner treten noch zwei weitere hinzu (vgl. R. Weinschenk 1981, S. 51):

die soziale Dimension, die dem „Erwerb sozialer Verhaltensweisen und gesellschaftlichem Engagement" dient die ethische Dimension, die zur „Entwicklung eines verantwortlichen Verhaltens" führt. Das Besondere der Dimensionen

ist, daß durch ihre Einteilung auch bestimmte Bereiche über geplante Erziehungsprozesse gezielt angesprochen werden können. Das heißt, die gesamte Vermittlung wird planbar, und einzelne Lernziele können konkret formuliert werden. Exkurs: Auf unser Beispiel bezogen könnten die Lernziele folgendermaßen aussehen: Die Erstsemester sollen in den Einführungstagen mehr über Abläufe und Hintergründe des Studiums wissen (kognitive Dimension), Einschreibungs- und Belegungsmodalitäten sowie die Stundenplangestaltung handhaben können (instrumentelle Dimension), Schwellen- und Isolationsängste überwinden (emotionale Dimension), um motiviert beginnen zu können (affektive Dimension). Sie sollen soziale Wahrnehmungs- und Kommunikationsfähigkeiten bekommen (soziale Dimension) und verantwortlich im Sinne von kritischkonstruktiv mit ihren Rechten und Pflichten umgehen. -

-

(5) Enkulturationshilfe folgt lerntheoretischen Prämissen. Enkulturationshilfe ist organisiertes Lernen auf der Basis lerntheoretischer Überlegungen. Ausgang ist der Gedanke, „wenn wir wissen, wie Menschen lernen, wissen wir auch, was zu tun ist, so daß sie optimal lernen können". Damit wird der Bezug zur Lerntheorie deutlich. Zentrales Anliegen der Planung konkreter Lernkonzeptionen ist die Umsetzung theoretischer Lernkonstrukte, Lernnormen und Lernprinzipien. Was jedoch die Darstellung der Lerntheori-

Kapitel

III:

Erziehung als Enkulturationshilfe

67

im einzelnen betrifft, so müssen wir der Informationsfülle wegen auf die entsprechende Literatur verweisen (vgl. dazu Braun, W. 1983, 38 42). Resümee daraus bleibt aber folgendes: Die Enkulturationspädagogik hat aus der reichhaltigen Diskussion um Lerntheorien eine Art Kombination von praktikablen Grundlagen entwickelt. So wird z.B. in Anlehnung an Jean Piaget (1973) davon ausgegangen, daß über die Erfahrung Muster in uns gelangen, aufgrund derer wir in Situationen handlungsfähig sind. Die Muster sind als Schemata bzw. Strukturen von Erfahrung, so eingebrannt bzw. verinnerlicht, daß sie abrufbereit auf ähnliche Situationen übertragen bzw. transferiert, werden können, nach dem Lehrsatz: „Wer sich am Ofen die Finger verbrannt hat, hat die Erfahrung gemacht, daß ,heiß' weh tut". Diese Erfahrung kann als Verhaltensmuster vor Situationen schützen, vor denen mit den Worten „Vorsicht heiß" gewarnt wird. Dieses Transfergesetz macht sich vor allem die Enkulturationsplanung zu Nutze. Inhalte werden über Erfahrungsbausteine präsentiert, um prinzipiell als Muster gespeichert werden zu können. Einen Inhalt erfahren heißt, ihn durch bereitgestellte Situationen erleben. Nun ist klar, daß sich viele Inhalte, vor allem abstrakte, nicht im eigentlichen Sinn erleben lassen. Um dies wenigstens annähernd zu ermöglichen, sucht man nach Situationen, in denen sich wenigstens Spuren davon zeigen. In der Pädagogik gilt diese Suche als eine große kreative Kunst. Denn es gibt keine Patentrezepte dafür, immer geeignete Erfahrungsfelder zu finden. Wichtig ist nur, daß es Situationen sein müssen, in denen die jeweiligen Inhalte möglichst aus erster Hand, d.h. in natürlicher und echter Weise vorliegen. Da dies aber oft unmöglich ist, weil sich die eigentliche Wirklichkeit nicht immer in voller Größe in den Raum stellen läßt, werden in den meisten Fällen komplexe Simulationen von authentischen Erfahrungen (wie z.B. Bilder, Filme, Geschichten) ersatzweise benutzt, damit an ihnen exemplarisch übertragbare Erfahrungen gemacht werden können. Diesem Lernprinzip liegt auch das Bild einer Wiederkehr von Gleichem zugrunde. Im Sinne von Jean Piaget (1973) hat eine Erfahrungssituation zu Beginn einen besonderen Aufforderungscharakter. Mit anderen Worten: Dadurch, daß Lernende selbst Teil der Situation sind, sind sie auch gezwungen zu handeln, und Erfahrungen mit der Materie selbst zu machen. Übertragen auf die Enkulturationspädagogik heißt das, daß die Eingangssituation, die in der Regel ja vororganisiert ist, wenn sie geplant sein soll, eine Aufforderung zum Handeln, zur Auseinandersetzung mit ihr enthalten soll. Würde die reine Berieselung am Anfang stehen, so könnte nur das Muster des Konsumierens von Inhalten ohne Eigenverarbeitung gelernt werden. Das kann zwar, wenn es perfekt dargeboten wird, Motivationsgefühle wecken, weil man sich entspannt in einer Klubsesselsituation befindet. Es macht aber letztlich unkritisch. Daher sollte die Eingangssituation eine exemplarische Handlungssituation sein, damit sich Spuren der Auseinandersetzung bilden können. Der klassische Planungsweg der Enkulturationshilfe durchläuft darum folgende Stufen: en

-

• • • •

Erfahrung Handlung Verinnerlichung Transfer z.B. in der

Wer dieses Modell in der Praxis

Schulpädagogik, der Jugend- und Erwachsenen-

unterschiedlichster Zielüberwiegend an dieser Stufengruppen, Inhalte und institutioneller Rahmenbedingungen und der des Veranschaulichung von Lerninhalten mit Exemplarischen folge und ihrem Prinzip

bildung

betrachtet, wird feststellen, daß Veranstaltungen -

usw.-

sich

trotz

Modelle des

68

Erziehungsbegriffs

Hilfe von Situationen oder dem Ersatz von Situationen z.B. durch Beispiele, Bilder, Filme orientieren. Vom Vorgang her gesehen ist es der organisierte, geplante Versuch einer Umwandlung von als sinnvoll erachteten Inhalten in Erfahrungen, die die Beteiligten in die Lage versetzen, Situationen der Zukunft besser bewältigen zu können, weil sie aufgrund dessen das Wissen dazu haben und das entsprechende Handwerkszeug. -

-

(6) Enkulturationshilfe folgt didaktischen Überlegungen. Die Wissenschaft, in der die Transformationsprobleme der Enkulturationspädagogik erforscht und diskutiert werden, ist die Didaktik, die sich als Wissenschaft vom Lehren und Lernen in erster Linie mit dem Sinn von Lerninhalten beschäftigt. Sie versucht die Frage zu beantworten, warum bestimmte Inhalte gelernt werden müssen und sollten. Exkurs: In unserem Beispiel würde die Didaktik zu klären versuchen, warum die Erfahrung von Vertrauen überhaupt einen Sinn hat. Sie würde aber auch klären, wo die Grenzen

Eine solche Sinnfrage durch die Didaktik ist unbedingt erforderlich. Denn es ist klar, welche Funktion das Vertrauen in einem durch Notenkonkurrenz geprägten Hochschulsystem einnehmen kann. Man könnte genauso die pädagogische Operationalisierung des Mißtrauens als sinnvoller für den späteren Beruf proklamieren. Bezugswissenschaft zur Didaktik ist damit die Philosophie, die über die Reflexion von Menschenbildern, Begründungen liefert, warum Vertrauen wichtiger ist als Mißtrauen. Aus der Didaktik ist die Curriculumforschung hervorgegangen. Es ist die Erforschung einer sinnvollen Zusammenstellung von Lehr- und Lerninhalten für die verschiedenen pädagogischen Institutionen. Von ihr stammen nicht nur die für die Schulen und Hochschulen verbindlichen Lehrpläne, sondern auch Anregungen zu deren Revision. Bei der Findung von Lehr-und Lerninhalten und deren Legitimation werden unterschiedliche Ausgangspunkte verwendet: Einmal wird gesagt, daß der Inhalt sinnvoll ist, wenn er der Bewältigung von konkreten Situationen in der Gesellschaft dient. Dazu muß erforscht werden, welche Situationen besonders wichtig sind und welche Erfahrungsmuster Chancen versprechen und handlungsfähig machen. Ein Beispiel: Entwickelt sich die Gesellschaft immer mehr zu einer technologischen, so sind auch die zu bewältigenden Situationen immer technologischer Natur. Sie enthalten Probleme der künstlichen Intelligenz und erfordern entsprechende Erfahrungsmuster. Daher fordert diese Richtung auch die möglichst frühzeitige Förderung technologischer Fähigkeiten. Sinn haben die Inhalte, die auch Entwicklungschancen bieten. Eine solche Überlegung führt zu einer umfassenden Bildungsplanung, in der das wichtige Gesamtwissen als Bildung durch Details transferiert werden kann. So wird z.B. in der Grundschule in Physik das Thema „Warum der Ball springt" behandelt, um damit Spuren vorzubereiten, die später in der Kollegstufe beim Thema „Druck und Gegendruck" wieder aktiviert werden. Bei einem solchen curricularen Aufbau wird angenommen, daß formale Fähigkeiten besonders gut übertragbar sind und damit besonders berücksichtigt werden müssen. Formale Fähigkeiten sind z.B. Lesen, Schreiben, Rechnen und logisches Denken. Wenn man sie besitzt, so kommt man in jeder möglichen Welt zurecht. Aus dem Gesagten werden neben den Lernprinzipien auch Normen sichtbar. Sie richten sich nach den Lernmöglichkeiten und Lerngewohnheiten der Zielgruppe. Alte Menschen in einer Bildungsveranstaltung in Kleingruppen zu schicken, ruft mit Sicherheit große Widerstände hervor. Daher ist die Teilnehmer/innen-Orientierung als Norm eines möglichst selbstbestimmten Lernens, das sich an der Erfahrung orientiert, also am exemplarischen learning by doing, auch immer vom Stand der Zielgruppe selbst abhängig. Dabei wird freilich angenommen, daß Lernnorm und Lernprinzip keine Gegensätze sind.

liegen.

nicht

so

Kapitel

III:

Erziehung als Enkulturationshilfe

69

(7) Enkulturationshilfe ist methodisch-technische Planung von Lernprozessen. Die methodisch-technische Planung von Lernprozessen ist eine Vorwegnahme zukünftiger Erziehungsaktionen. Ihr Bezugssystem ist die Methodik. Sie hat das Ziel, das durch die Di-

daktik bestimmte Was durch das Wie und Für wen umzusetzen. Die Transformation von Lehrinhalten in Lerninhalte geschieht durch die Bestimmung von Lernzielen sowie die Ableitung von Feinzielen aus Grobzielen mit Hilfe der oben genannten Dimensionen und durch die Aufgliederung eines Inhalts in Teilinhalte. Damit die einzelnen Dimensionen auch adressiert werden können, werden Methoden und Techniken verwendet, um vom Vertrauten schrittweise zum Noch-nicht-Vertrauten zu gelangen. Sie kennzeichnen über Phasen und Schritte den Weg, innerhalb dessen wiederum Techniken und methodische Hilfsmittel angesiedelt sind. Methodisch verstandene Enkulturationshilfe ist damit die geplante Konzeption der Vermittlung von Inhalten, Handlungsmöglichkeiten und Einstellungen im Medium vertrauensfördernder und motivierender Lernhilfen. Eine solche Konzeption hat den Charakter der gezielten Gliederung und Absicherung von Lernprozessen und ist darum auch ein Lernprogramm, in dem in Entsprechung zu den Dimensionen kognitive, instrumenteile, affektiv-emotionale, soziale und ethisch orientierte Methoden eingesetzt werden: Zu den kognitiven Methoden zählen Veranschaulichungsformen, die alle Lernextrakte visuell übersichtlich gliedern und verbal auf Metaebenen repräsentieren. Zu den instrumentellen gehören organisierte Handlungsformen, wie z.B. Übungen, Spiele, Exkursionen, die praktische Kenntnisse vermitteln. Die affektiv-emotionalen Methoden planen die Lernatmosphäre, indem sie den Lernraum ästhetisch gestalten. Sozial dimensionierte Methoden enthalten Kontaktformen, durch die Sozialverhalten, wie z.B. Kooperationsfähigkeit, gelernt wird. Dazu zählen auch ethisch dimensionierte Hilfsaktionen, z.B. zur Linderung sozialer Benachteiligung. Exkurs: Im Vorfeld der Auswahl und Findung geeigneter Methoden und Techniken muß geklärt werden was, für wen, wozu und warum Sinn macht, gelernt zu werden, erst danach kann das Wie überlegt werden. Zu diesem Zweck müssen nicht nur die Inhalte zu den Lernzielen und Adressaten, sondern auch die Lernziele zu den Methoden in einer sinnvollen Beziehung stehen. Sie dürfen sich nicht gegenseitig widersprechen. Darüber hinaus müssen sich auch die genannten Dimensionen untereinander ausgleichen. Denn wenn die kognitive Dimension überwiegt, entstehen Kopfschmerzen, wenn die affektivemotionale Dimension überwiegt, entstehen Bauchschmerzen, in der rein instrumenteilen Dimension fehlt der theoretische Überbau und eine Konzentration auf eine rein soziale Dimension führt nur zu einem unlösbaren gruppendynamischen Hickhack.

(8) Die Enkulturationspädagogik arbeitet mit dem Planungsinstrumentarium der Didaktischen Analyse. Das konkrete Planungsinstrument der Transformation eines Lehrinhalts in einen Lerninhalt ist die Didaktische Analyse. Sie wird von makrodidaktischen und mikrodidaktischen Überlegungen begleitet. Erstere beschäftigen sich mit der Bedarfsermittlung und der entsprechend erforderlichen Öffentlichkeitsarbeit (z.B. der Bekanntmachung und Werbung durch ein Programm sowie mit der organisatorischen Realisierung). Die zweite mit der eigentlichen Lernplanung, der Aufteilung in Lernziele, Lernschritte und konkrete Interventionen, Methoden und Techniken. Die Didaktische

Analyse versteht sich als praktikables Instrumentarium für alle Lern- und Bildungsmaßnahmen. Sie enthält einen didaktischen Analyseteil, einen methodischen Kon-

Modelle des

70

struktionsteil und einen

Erziehungsbegriffs

pragmatischen Evaluationsteil. In allen stehen formale Checklisten im

Zentrum, die gebildet und anschließend absolviert werden müssen.

(a) Anforderungen der Analyse: Anwerbung der Zielgruppe Bestimmung der Lernideen und Lernziele Klärung des Lernbedarfs und Lernumfangs

Sachanalyse der Lerninhalte Allgemeine Definition der Grob- und Feinziele Bestimmung der Lerndimensionen Konkrete Operationalisierung aller Lernziele (durch Bestimmung der Reihenfolge) Auswahl der Methoden und Materialien (Experimentier- und Handlungsobjekte, schaulichungsmedien, Übungsräume und -regeln) Erstellung eines genauen Zeitplans (b) Anforderungen der Konstruktion: Vorbereitung und Umsetzung der Lernsituation mit Hilfe Maßnahmen

von

Veran-

Methoden, Techniken und

Leitung, Steuerung und Begleitung des Lernprozesses flexibler Umgang mit Veränderungen und Widerständen (c) Vorgaben zur konkreten Planung der Vermittlung (Umsetzung): Die Erstellung eines genauen Plans und dessen zeitliche Abfolge (Sie kann durch eine geistige Vorwegnahme von Schritten geleistet werden. Dabei werden durch Antizipation die beabsichtigten Aktionen der Reihe nach geistig durchgespielt, so als würde der Parcours vor einem Springen meditativ absolviert.)

(d) Forderungen der Evaluation und Nachbearbeitung: Reflexion des Leitungsverhaltens

Überprüfung des Lernerfolgs und der Effektivität Planungsbeispiel: Nehmen wir an, Lernidee und Lernziel hießen, „Herstellen einer vertrauensvollen Atmosphäre, damit in einer Gruppe angstfrei kommuniziert werden kann", so wäre der erste Schritt die Sachanalyse des Begriffs Vertrauen. Es müßte allgemein geklärt werden, was Vertrauen ist, wozu es gebraucht wird und wie und wodurch es gewonnen wird. Eine solche Sachanalyse ist deshalb notwendig, weil die methodische Veranschaulichung eines Begriffs automatisch immer einen inhaltlichen Bezug benötigt. Bedeutsam dabei allerdings ist ein Gesichtspunkt: Kein Inhalt kann absolut analysiert und planungsmäßig abgesichert werden. Dem sind natürliche Grenzen gesteckt. Daher dient dieser Vorgang auch mehr der methodischen Orientierung. Das heißt: Wenn z.B. bei einer Sachanalyse des Vertrauensbegriffs der Ausdruck Abbau von Blockaden als Voraussetzung für die Bildung von Vertrauen gefunden wird, so wird eine mögliche Realisierung stärker beachten, daß alle Gruppenmitglieder auch als Personen mit individuellen Erwartungen, Bedürfnissen und Interessen anerkannt werden wollen. Für das Erreichen eines solchen Ziels spielt beispielsweise auch die Sitzordnung eine wesentliche Orientierungsrolle und wird zu einer jener Herstellungsbedingungen, die vorweg geplant werden müssen.

Kapitel III: Erziehung als Enkulturationshilfe

71

Im Anschluß an die Sachanalyse muß überlegt werden, welche Dimensionen besonders berücksichtigt werden müssen und welche zusätzlich einfließen sollen. So muß z.B. darüber entschieden werden, ob nicht auch von Anfang an die instrumentelle Dimension angesprochen werden soll, etwa dadurch, daß gefragt wird, wie sich Vertrauen auch als Handlungsform konkret herstellen läßt. In den Ausschreibungen tauchen in diesem Zusammenhang meist Formulierungen auf, wie, „durch die Lernmaßnahme werden die Lernenden mehr wissen, sie werden mehr können und genauer empfinden, spüren und bemerken". Nach der Sachanalyse folgt die Operationalisierung von Lernzielen. Grob- und Feinziele werden konkret formuliert und inhaltlich der Erfahrung zugänglich gemacht. Nach der Operationalisierung folgt die Auswahl der Methoden aus den sie einklammernden und zugeordneten Methodiksystemen. Diese Aufgabe stellt ein besonderes Problem dar. Es muß nämlich geklärt werden, ob die Methoden und ihre Techniken auch tatsächlich den gewünschten Inhalt, bzw. das anvisierte Ziel vermitteln und ob sie von der Zielgruppe auch angenommen werden können. Es müssen also Charakter, Funktion und Reichweite der Metho-

den vorweg transparent sein. Exkurs: Die Prüfung, ob eine Methode einen Inhalt auch tatsächlich trifft, kann nur durch einen Kriterienkatalog geleistet werden. Ein solcher eruiert das, womit sich die Methode inhaltlich beschäftigt und beschäftigen kann. Auch die Lerndimensionierung wird dabei ins Auge gefaßt. Wenn z.B. eine Methode die kognitive Dimension anspricht, so ist sie für die emotionale eher ungeeignet. In der Praxis wird allerdings meist aufgrund eigener Erfahrungen entschieden, ob sich eine Methode auch für die betreffende Zielgruppe eignet, welchen Freiraum sie läßt und in welcher Hinsicht sie die Lernenden gängelt. Ob eine Methode auch direkt für eine bestimmte Zielgruppe paßt, kann nur durch Einfühlungsvermögen (Empathie) beantwortet werden. Hierbei wird reflexiv gefragt, ob man als Teilnehmer oder Teilnehmerin einen methodischen Vorschlag (z.B. die Beachtung bestimmter Regeln, eine Übung, ein Spiel, ein Medium zur Veranschaulichung usw.) persönlich akzeptieren würde oder nicht. Darüber hinaus sind natürlich auch theoretische Kenntnisse über Lernprozesse in Gruppen erforderlich (z.B. wie verarbeitet die Gruppe Informationen oder in welchem Beziehungsstadium befindet sie sich). Auf diese Weise kann die Eignung von Methode methodenimmanent nach jeweiligen Methodentyp entschieden werden. Denn jede Methode hat ein spezifisches Eigenleben und eine Eigendynamik. Sie spricht durch die konkrete Frage nach dem, was durch sie Zielvom Inhalt erfahren wird, bereits von ihrer Anlage her nur bestimmte Inhalte und wenn machen, nur dadurch dieser sich Tatbestand ausfindig gruppen an. Im Vorfeld läßt wir uns empathisch in die Lage der Teilnehmer und Teilnehmerinnen hineinversetzen und überlegen, was würden wir als Lernende vom Inhalt denn eigentlich erfahren. Dazu ein Beispiel: Wollte man in einer Bildungsmaßnahme zum Thema „Mißbraucht die Werbung den Menschen?" vor allem den Mißbrauch darstellen, so wäre es sicher verkehrt, die Teilnehmer/innen lustige Werbespots zu einem neuen Produkt kreativ erfinden zu lasden sen. Was sie nämlich dabei nur erfahren können ist, daß Werbung eher lustig ist und welklar muß also sein, einer Methode ganz Menschen nicht mißbraucht. Bei der Wahl ches Lernziel man erreichen will.

(e) Anforderungen an eine Realisierung: Die Realisierung einer Lernsituation folgt einer Checkliste.

Sie enthält äußere Bedingungen, wie Raum, Medien, Materialien usw. Sie richtet sich aber auch nach inneren Bedingungen und der Strukturierung der bereitgestellten Situation wie Sitzordnung, Kontrakt mit der Grupder Enkulturationspädagogik pe usw. Bei diesem Vorhaben tritt wiederum das Denkmodell Sie versucht, die orientiert: in Kraft, das sich an einer bestimmten logischen Reihenfolge

Modelle des

72

Erziehungsbegriffs

zu beantworten, was konkret hergestellt sein muß, damit etwas Bestimmtes möglich wird. Oder anders: Welche konkreten Bedingungen vorhanden sein müssen, damit gegenseitiges Vertrauen in einer Gruppe möglich wird. Ein solches Denken folgt einer Denkkette der Bedingung für die Möglichkeit und fragt, was methodisch hergestellt werden muß, damit das, was sein soll, auch real erkannt und gelernt werden kann. Es würde also zunächst fragen: Wie muß eine Situation prinzipiell aussehen, in der Vertrauen herrschen soll? Erst wenn die Antwort darauf gefunden ist, ergeben sich Anhaltspunkte dafür, wie sich die Situation auch konkret herstellen läßt. In dieser Weise antizipiert eine begründete Realisierung die zu strukturierende Zukunft vorweg, um sie auch sicherer und effektiver gestalten zu können. Mit anderen Worten heißt das: Man nimmt das, was sein oder kommen soll, durch die gedachte Bereitstellung bestimmter Realitäten vorweg in den Griff. Das Ergebnis solchen virtuellen Hinterfragens führt jedenfalls immer zu einer kontrollierten Lernstruktur. Sein äußerer Verlauf und sein innerer Prozeß folgt einem Angebot von Verfahrensregeln, Informationsarten, Spielweisen, Übungsformen und Veranschaulichungsmöglichkeiten, von denen es bekanntlich viele gibt.

Frage

Exkurs: Bei allem Perfektionismus aber kann aber eine noch so exakte Vorbereitung nie die Realität ersetzen. So können z.B. Widerstände gegen das Vorgehen und die Leitung auftreten, die den gesamten Lernprozeß in Frage stellen. So werden neben dem Planungswissen genaue Kenntnisse über gruppendynamische Prozesse, deren Entstehung und Verlauf relevant, die in vollem Umfang nicht prophylaktisch abgesichert werden können. Dasselbe gilt für den Begriff Leitung in seiner auf die Person bezogenen Dimension. Wir können in diesem Zusammenhang nur einige Stichpunkte liefern, da die Themen Umgang mit Widerstand und Gruppenleitung mehr im Rahmen einer Darstellung pädagogischer Handlungskompetenz ihren eigentlichen Ort haben. Tangierend sind Theorien und Interventionsformen zu den Begriffen Kommunikation, Interaktion, Konflikt, Aggression, Rolle, Position, Macht ebenso wie Gruppenphase, Gruppenprozeß, Gruppenstruktur, Gruppen- und Teamarbeit.

(f) Anforderungen für die Nachbearbeitung: Die Enkulturationspädagogik will in der Nachlernphase Transferleistungen überprüfen. D.h. sie will herausbekommen, was von dem Gelernten auch angewendet wurde. Damit sollen die Brauchbarkeit und der persönliche Gewinn des gesamten Lernkonzepts reflektiert werden. Die Prüfung der Effizienz wird notwendig, wenn eine Maßnahme im nachhinein etwa einem Geldgeber gegenüber legitimiert werden soll. Dazu ist es in der Fort- und Weiterbildung erforderlich, die Ergebnisse von Seminaren z.B. mit Hilfe von Fragebögen und Audits zu dokumentieren, um nachzuweisen, wie sinnvoll eine Fortführung wäre. Die Nachbearbeitung dient auch der Reflexion des eigenen Lehrverhaltens. In Form einer Metakommunikation wird über den Kommunikationsverlauf durch die Frage, was gelungen war und was nicht, die Basis für eine Optimierung gelegt. Eine solche Reflexion dient der Revision und Innovation neuer Planungsmöglichkeiten. Denn erst durch positive und negative Erfahrungen gegenüber der Verwirklichung von Enkulturationszielen zeigt sich, welche von ihnen auch auf zukünftige Gruppen übertragen werden können. -

-

-

-

(9) Die Enkulturationshilfe arbeitet mit ästhetischen Veranschaulichungs- und Erfahrungshilfen in Form von Theatralik, Lernmaterialien und Lernmitteln. Die Transformierung von Lehrinhalten in Lerninhalte und Lernprozesse muß abstrakte und

komplexe Zusammenhänge auf das Wahrnehmbare verkürzen. Solche Verdinglichungen wandeln ihre Essentials in dramaturgisch fabrizierte Situationen um. Die Verpackungen selbst sind in ihrem Ambiente und ihrer Atmosphäre gestaltreich. Bisweilen verkörpern sie eine Art

Kapitel III: Erziehung als Enkulturationshilfe

73

rhetorischer Show, bisweilen gekonnte Theatralik und Herstellung einer durch Licht, Beschallung und Parfümierung getragenen Stimmung. Wenn die Präsentation gekonnt gemacht ist, erzielt sie durch entsprechende Effekte die beabsichtigte, für sie selbst werbende Wirkung. Sie schafft Anteilnahme, sorgt für Spannung und Erholung und bietet Handlungsanreize. Exkurs: Das wohl deutlichste und eindrucksvollste Beispiel für künstlich erzeugte Erfahrungen sind die Simulationsräume in amerikanischen Filmstudios. Der Besucher wird dort in Sekundenschnelle mit den verschiedenen Wahrnehmungen konfrontiert: Man jagt ihm erst Angst ein und macht ihn im nächsten Moment sentimental. Riesige Trickräume täuschen Erdbeben und andere Naturkatastrophen vor. Man spürt die trockene Hitze von Wüsten und die Kälte eines herannahenden Eisbergs. Man gewinnt eine Vorstellung von Verhältnissen auf anderen Planeten, auch wenn man nie dort sein kann. Erfahrung wird zu einer Stilisierung besonderer Art. Je eindrucksvoller das Beispiel, je perfekter seine Darstellung in Bild und Ton, um so größer ist die beabsichtigte Wirkung. Das mag wohl auch mit dem ständigen Konsum von Perfektion und der damit einhergehenden Gewöhnung und Konditionierung zu tun haben. Ein besonderes Medium der Veranschaulichung nehmen Geschichten und insbesondere Märchen ein. Ihr Szenarium verkörpert einen emotionalen und bildhaften Zusammenhang, mit dessen narrativer Erschließung auch Kognitives einhergeht. Über den Kontakt zum Geheimnisvollen und Phantastischen wird auch ein Stück innerer Realität erkennbar. Alles in allem sind diese Medien technische Lernhilfen, mit denen kognitive, instrumentelle und affektiv-emotionale Zusammenhänge müheloser, angenehmer und reibungsloser zu neuen Einsichten und Befähigungen führen. Sie lassen sich in rezeptive und gestalterische einteilen: Rezeptive Mittel sind Veranschaulichungshilfen in Form von Beispielen, Fällen, Geschichten, Bildern, Filmen. Es sind optische und akustische Szenarien und Wirklichkeitsausschnitte, die einen komplexen Zusammenhang vereinfacht verdeutlichen wollen. Die Basis dazu ist das Alltagsverstehen und -Verständnis, die beide aus sich heraus hinreichend attraktiv sind und nicht weiter erläutert werden müssen. In der Regel sind Veranschaulichungen Simulationen und haben die Funktion eines Wirklichkeitsersatzes. Sie konkretisieren und verdinglichen Abstraktes und knüpfen am Vertrauten an. Die passenden Veranschaulichungen zu finden ist. vergleichbar mit den Methoden, nicht einfach. So muß immer gefragt werden, ob das entsprechende Medium auch tatsächlich ein Beispiel für das ist, was veranschaulicht werden soll. Ferner muß gefragt werden, ob das Medium auch attraktiv genug ist, um als Erfahrungsersatz fungieren zu können. Die Hauptgesetzmäßigkeit dabei ist: Je perfekter und professioneller die Simulation präsentiert wird, um so mehr wird sie auch als Erfahrungssubstitut angenommen. Gestalterische Mittel sind Spiel- und Experimentiermaterialien. Es sind aktionsfördernde Lernhilfen, die weniger passiv, weniger konsumorientiert sein wollen. Als Handlungsmaterialien haben sie einen Aufforderungscharakter, haptisch mit ihnen umzugehen, sie also anzu-

-

fassen, zu testen und zu erproben.

Exkurs: Die Pädagogin Maria Montessori hat für ihre Integrationsarbeit mit behinderten Kindern Materialien entdeckt, die bis heute in fast allen Kindergärten und Schulgattungen in variierter Form vor allem natürlich in den namhaften Montessorieinrichtungen verwendet werden. Es sind die Sensibilität fördernde Materialien. Unter ihnen befinden sich überwiegend geometrische Körper unterschiedlicher Form, Größe und Farbe. Das wohl bekannteste Beispiel ist der Turm, der aus immer kleiner werdenden Würfeln besteht. Bis auf den heutigen Tag hat vor allem die Spielzeugindustrie viele Variationen (von Playmobil bis Lego) davon hervorgebracht. Die Tatsache, daß diese Materialien aus. geometrische (und nicht z.B. amorphe) sind, sagt etwas über derendieLernfunktionreinen möglichst Durch das Anfassen (auch durch das In-den-Mund-stecken) werden -

-

Modelle des

74

Erziehungsbegriffs

Konturen des Gegenstandes, also seine formalen Form- und Farbqualitäten erfahren. Durch den taktilen Umgang mit ihnen werden diese Erfahrungen zu Mustern absorbiert und verinnerlicht. Als stilisierte Muster einer geordneten logischen Welt sollen sie zu grundlegenden Fähigkeiten fuhren, die Welt differenzierter wahrzunehmen und so vom Greifen zum Begreifen zu gelangen. Mit dem erweiterten Wahrnehmungsvermögen geht auch das Unterscheidungsvermögen einher, und durch dieses wiederum kann das abstrakte logische Denken aufgebaut werden. Damit ist die Vorstellung verbunden, daß diejenigen, die frühzeitig diesbezüglich gefordert werden, es später leichter haben, komplexere Zusammenhänge zu verstehen. Hier ist auch das bereits oben genannte Didaktik-Prinzip des Exemplarischen wirksam: Das, was einmal am Typischen erarbeitet wurde, läßt sich auf anderes übertragen. Die Übertragungsbasis ist damit ein Repertoire an formalen Fähigkeiten, wie z.B. Linien von Flächen unterscheiden zu können, Formen und Farben benennen zu können. Das Ziel lautet mit anderen Worten, die Techniken des logischen Denkens, des Rechnens, des Lesen und Schreibens zu beherrschen. Auch die im Handel erhältlichen Bau- und Experimentiermaterialien haben dieselbe Funktion: Über den Umgang mit ihnen sollen grundlegende Einsichten gewonnen werden, um hernach einen besseren Zugang zu physikalischen, chemischen, biologischen, geographischen und historischen Gegebenheiten zu bekommen. Von Maria Montessori stammen darüber hinaus auch die bekannten, an die körperliche und geistige und emotionale Lernentwicklung von Kindern geknüpfte Lernphasen sowie die methodisch-didaktischen Hinweise zur Notwendigkeit einer entsprechend vorbereiteten Umgebung, die den Lernort im eigentlichen Sinn darstellt.

Auch Übungen, wie Rollenspiele, Planspiele, Exkursionen und geplante Aktionen sind Lernhilfen in diesem Sinn. Vor allem in der Gruppenarbeit werden sie dazu benutzt, Erkenntnisse über inhaltsbezogene und gruppenbezogene Zusammenhänge zu gewinnen und anzuwenden. Sie geben jedem einzelnen die Chance, sein Wissen in einer fingierten Situation umzusetzen und durch Beobachtung (z.B. per Video) kontrollieren zu lassen. Während das Rollenspiel Verhaltensweisen von unterschiedlichen Rollenträgern transparent macht, werden im Planspiel konkrete Abläufe möglichst genau simuliert, um Erkenntnisse über den Prozeß und die Entstehung von Entscheidungen zu gewinnen. Wer z.B. mit Jugendlichen ein Rollenspiel zum Thema Vorstellungsgespräch macht, tut dies, um Verhaltensweisen und deren Wirkung bewußt zu machen. Die fingierte Situation wird gespielt, um hernach zu erfolgversprechenden Handlungsrezepten zu fuhren. -

(10) Die Enkulturationshilfe findet an institutionalisierten Lernorten statt. Erziehung als Lernhilfe deckt den vielleicht größten Teil pädagogischer Praxis ab.

Er reicht

der

Elementarerziehung, der Vorschule, der Schule und Hochschule bis hin zur Weiterbildung und Erwachsenenbildung. Es sind damit all jene Situationen gemeint, in denen über den Weg methodisch-didaktischer Überlegungen Hilfestellungen gegeben werden, an deren Ende der Erwerb von Fähigkeiten und Ausführung von Leistungen stehen. Die meisten Qualifikationen dazu müssen über Prüfungen erbracht werden, zumindest dann, wenn sie durch von

ein entsprechendes Zertifikat öffentlich anerkannt werden sollen. Die Zertifikate selbst sind nach den Schwierigkeiten einzelner Fachgebiete abgestuft und haben einen unterschiedlichen gesellschaftlichen Wert. Neben den schulischen oder schulähnlichen Institutionen wird das Enkulturationsmodell auch in den Feldern praktiziert, in denen ohne ein öffentliches Zertifikatsystem gearbeitet wird. Es handelt sich dann um Lernhilfen ohne Zwang. Man darf dabei aber nicht vergessen, daß auch dort immer Fertigkeiten angepeilt werden, die darauf abzielen, leistungsfähiger zu werden.

Kapitel 111: Erziehung als Enkulturationshilfe

75

Vor allem innerhalb der Sozialpädagogik gibt es hierfür eine Menge Beispiele. Wir wollen hier nur einige nennen: Hausaufgabenhilfen im Heim, Projektarbeit des Schülerreferats, Bildungsarbeit in der Freizeit mit Jugendlichen in geschlossenen Jugendgruppen, politische Bil-

dung, Elternbildung, Altenbildung. Es gibt auch Beispiele für die Bildungsarbeit mit Randgruppen, die nach dem Muster der Enkulturationspädagogik vorgehen. Eines davon wollen wir hier kurz darstellen. In der Zeitschrift „Gemeinsam für die praktische Arbeit mit Jugendlichen, 8. Jahrgang -1/91" wird das Thema „Drogen und Abhängigkeit Suchtprävention im pädagogischen Alltag. Mit Modellen, Filmtips, Literatur, Arbeitshilfen und Adressen" behandelt. Die dort beschriebenen Praxismodelle orientieren sich stark am Denkmodell der Enkulturationspädagogik. So werden z.B. S. 14/15 zur „Aufarbeitung" einer „Bildungseinheit" zu einem konkreten Fall zwei Richtziele

vorgeschlagen: „1. Die Teilnehmer sollen erkennen, wie Medikamente wirken und daß sie abhängig machen können. 2. Die Teilnehmer sollen lernen, in welchen Phasen eine Medikamentenabhängigkeit verläuft." Daneben wird die Enkulturationspädagogik auch noch in Zwischenräumen praktiziert. Es sind aber auch dort immer solche, in denen nach dem Muster der enkulturativen Antizipation und dem entsprechenden Denkmodell gearbeitet wird. Ein Beispiel: Eine Sozialarbeiterin muß einen Hausbesuch aufgrund eines Vormundschaftsproblems machen. Sie muß sich über die Wohnverhältnisse vor Ort informieren, weil von ihr eine Stellungnahme in Form eines Gut-

achtens verlangt wird. Sie bereitet sich auf den Hausbesuch vor und macht sich dazu eine Reihe von Überlegungen. In erster Linie will sie eine möglichst parteilose, neutrale Atmosphäre verbreiten, um objektiver beurteilen zu können. Nach der Enkulturationspädagogik muß sie sich daher überlegen, was die Bedingungen für die Herstellung einer solchen Atmoalle Parteien sphäre wären. Dazu überlegt sie sich, daß sie auf jeden Fall eine freundliche, unterstützende Atmosphäre verbreiten will. Sie überlegt sich ferner konkrete Realisierungsmöglichkeiten dazu, etwa so: „Ich muß die Schwellenangst meiner Person gegenüber möglichst gering halten. Dazu werde ich nach meiner telephonischen Anmeldung ganz pünktlich sein. Ich werde auch nach dem Öffnen der Tür erst einen Schritt zurückgehen, an das Telephongespräch anknüpfen und erst einmal erklären, wer ich bin, um nicht gleich hereinzuplatzen". Auch solche Gedanken folgen dem Denkmodell der Enkulturationspädagogik, die immer sofort fragt, was sind die Bedingungen dafür, daß bestimmte als notwendig und sinnvoll erachtete, Erfahrungen möglich werden, und durch welche erzieherischen Hilfsmittel und Verhaltensweisen sie vermittelt werden können.

1.3. Kurzes Resümee Die Enkulturationspädagogik ist ein instrumentelles, begleitendes Hilfssystem zur Gewinnung und Erweiterung des Wissens, Könnens und der emotionalen Sensibilität. Sie ist darin vor allem ein Antizipationssystem zur Bereitstellung von Erfahrungsräumen. Als Didaktik ist sie besonders für die Diskussion um Sinn und Wert von Bildungsinhalten, von Lehrinhalten und Lernzielen, als Methodik besonders für die Planung und Strukturierung von Lehr- und Lernsituationen mit Zielgruppen unterschiedlichsten Alters und Herkunft zuständig. Enkulturationsarbeit dient also in erster Linie der Bildung und Bildungsförderung, und diese ihrerseits dem Aufbau menschlicher Wesenmerkmale, der Intellektualität, der Geschicklichkeit und des Talents sowie der Emotionalität, dem Sozialverhalten und der Ethik. Zur Fördein Form von Flexibilirung der gehört auch die Förderung geistiger Mobilität und Kreativität kritischen Distanz. zur der die sowie Fähigkeit Förderung tät und Problemlösungsvermögen

Modelle des

76

Erziehungsbegriffs

Der darin involvierte Bildungsbegriff ist ebenso weitverbreitet, wie auch schillernd und antiWir müssen hier verzichten, ihn in seiner historischen Entwicklung etwa von Humboldt bis zur Gegenwart darzustellen. In der Umgangssprache versteht man unter einem gebildeten Menschen meist einen ordentlichen Menschen, der viel weiß. Bildung ist von daher mit dem Besitz von allgemeinen Kenntnissen zu den verschiedensten Themen verbunden, wie z.B. Geschichte, Politik, Musik, Kunst, Kultur usw., und geht mit einem Bild in Form eines

quiert.

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-

Überblicks, eines Denkens in Zusammenhängen, einer gehobenen Sprach- und Abstraktions-

einher. Ohne ein Mindestmaß an Bildung ist ein aktives Überleben in der Geselleigentlich nicht möglich. Die Meinung aber, Bildung garantiere den sozialen Karriereaufstieg, hat bisher noch keinem habilitierten Taxifahrer einen angemessenen Job verschafft.

fähigkeit schaft

zwar

1.4. Kritische Die durchaus

Stellungnahme

würdigende Leistungsfähigkeit der Enkulturationspädagogik als Anpasund als Pädagogik der Integration durch Lernen hat zwei Seiten einer Medaille. Die eine zeigt die Möglichkeiten gesellschaftlicher Orientierung und führt zu öffentlicher Wertschätzung der Chancenvielfalt des sozialen Aufstiegs durch schulische Bildung. Die andere zeigt das Versagen derjenigen, die oft schuldlos ausgeklammert von der Treppe des sozialen Aufstiegs stürzen, weil sie die geforderten und erwarteten Leistungen nicht bringen können oder wollen. Kritische Gesichtspunkte an der Enkulturationspädagogik kommen in der Regel daher aus der Ecke der anti-pädagogischen Position, vor allem von der emanzipatorischen Pädagogik, und sie sind als Kontrapunkte erst durch sie entstanden. Da wir dieses Modell aber erst noch beschreiben, kann die Kritik hier auch nur pauschal aufgelistet werden und lediglich zum Nachdenken anregen. Die Hauptkritik jedenfalls richtet sich gegen folgende Begriffe und Zusammenhänge: Anpassung schafft zwar Kompetenzerweiterung, bringt aber durch die Leistungsspirale auch Verlierer und Außenseiter hervor. Deren Abgrenzung wiederum führt aber wegen des Anpassungsgedankens nicht zu einer Integration und damit auch zu einer wirklichen Enkulturation, sondern eher zu einer Verfestigung von Anpassungsleistungen an die Gesellschaft, insbesondere an die Leistungsgesellschaft. In ähnlicher Weise schmälert auch eine Leistungselite die Leistung der Nicht-Elite und degradiert sie dadurch menschlich. Ein Teufelskreis entsteht: Bildung wird zur Produktionsstätte von Konkurrenz. Der Katalog der Anforderungen und Lernziele z.B. das Curriculum wird über die Köpfe der Betroffenen hinweg gemacht. Sie haben oftmals keinen Einfluß auf das, was und wie sie lernen sollen. Sie werden manipuliert. Lerninhalte trifft oft der Vorwurf des Formalismus, nach dem Motto: Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir. Das heißt: Formale, kognitive Fähigkeiten sind wichtiger und ranghöher als z.B. soziale. Von Kenntnissen, die technologisch anwendbar sind, und das sind in der Regel auch formale -, geht nicht nur mehr Faszination aus, sondern auch mehr Macht, die Dinge zu beherrschen. Dahinter steht der zu hinterfragende Wunsch nach dem berühmten Knopfdruck für die Lösung von Problemen. Die sozialen und ethischen Lernzieldimensionen sind nur Alibis. Denn sie können von der Enkulturationspädagogik nicht erfaßt werden, weil sie nicht zu evaluierbaren Lerninhalten passen. Die Pädagogik kommt an dieser Stelle an eine Grenze ihrer eigenen Operationalizu

sungspädagogik

-

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-

-

-

sierungsfahigkeit.

Eine methodisch-technisch raffiniert inszeniertes Szenarium schafft mehr Eindruck als kognitiv Wissen.

Kapitel

III:

Erziehung als Enkulturationshilfe

77

Die Konsumgesellschaft hat den technischen Perfektionismus schon so verinnerlicht, daß in der Bildungslandschaft nur noch das Feinste vom Feinen Wert besitzt. So ist eine Bildungsveranstaltung ohne Overheadprojektor, ohne Farbfolien, ohne Flippchart, ohne Pinwände und Metaplankärtchen, ohne Einsatz von Filmen und Powerpoint-Präsentationen fast schon undenkbar. Das schlecht an die Tafel Geschriebene würde unfertig wirken, unvorbereitet und unprofessionell, selbst wenn auf einer perfekt gestalteten Folie genau das selbe stehen würde wie auf der Kreidetafel. Es scheint, als ob nicht mehr die Inhalte ausschlaggebend sind, sondern nur noch die Präsentationsfassaden, verbunden mit perfektionistischen Eindrücken, die sie erzeugen. Wer aus den Simulationsräumen dieser Pädagogik geht, hat zwar das Gefühl, gut versorgt worden zu sein, kann aber meist nicht erklären und begründen, was er denn da eigentlich gelernt hat und warum. Eine perfekt inszenierte Vermittlung von Inhalten erspart eben mühsame und lästige kritische Reflexionen. Trotz all dieser Einwände ist das Hineinwachsen in die Gesellschaft mit Hilfe der erzieherischen Beeinflussung durch methodisch organisiertes Lernens weder aus der Elementarerziehung, noch aus der Schulpädagogik, der Hochschuldidaktik, der allgemeinen und berufsbezogenen Fort- und Weiterbildung, der Umschulung, der Jugend- und Altenbildung, um nur

einige zu nennen, wegzudenken.

Modelle des

78

2.

Erziehungsbegriffs

Erziehung als Emanzipationshilfe

In der pädagogischen Diskussion der letzten zwanzig Jahre war das Wort Emanzipation nicht nur theoretisch in aller Munde, sondern es zierte auch die Konzepte nahezu aller Institutionen. Man hatte den Eindruck, als ob die Pädagogik es sich nicht mehr leisten konnte, ohne diese Formel zu arbeiten. Der emanzipatorische Ansatz wurde allerorts lautstark proklamiert, wenngleich es alles andere als eine einhellige Vorstellung dazu gab. Am deutlichsten und provokativsten wurde der Begriff in der Studentenbewegung der 68-iger Zeit und deren Feldzug gegen alle Formen bürgerlicher, institutioneller und staatlicher Verfaßtheit formuliert. Das Vokabular daraus allerdings verlief im Sand, und es blieb eine nur noch verschwommene Vorstellung, die in der Gegenwart durch den Niedergang von Kommunismus und Sozialismus und deren Ablösung durch den Kapitalismus eher noch zunimmt. Der Begriff beginnt sich zu entpolitisieren und unterzutauchen. Er scheint sich in andere Schlagwörter zu verwandeln wie etwa „Selbstbestimmung" und „Selbstverwirklichung" und er ist auch vorübergehend durch aktuellere ersetzt zu worden wie z.B. Mündigkeit und Zivilcourage, Autonomie und Autarkie. Maßgeblich beteiligt war die Emanzipation an großen Bewegungen wie z.B. der Friedensbewegung, der Öko-Bewegung und nicht zu vergessen der Frauenbewegung. Teile davon haben sich wieder aufgelöst oder sind ganz verschwunden. Geblieben aber sind neue Positionen wie die Ökologie und der Feminismus. Es wurden durch den Emazipationsbegriff aber auch Fehlformen, Fehlentwicklungen und Fehldeutungen wie z.B. die von Politideologien und des Terrorismus verteidigt. Trotz dieser Entwicklung sind emanzipatorische Vorstellungen nach wie vor lebendig, auch wenn viele sagen, sie seien aussichtslos, weil zu extrem, und wenn überhaupt, dann nur in so winzigen Schritten zu erreichen, daß es sich schon gar nicht lohne. Der vom Idealismus durch Hegel geprägte Gedanke, „wenn sich die Idee der Emanzipation in Wirklichkeit nicht verwirklicht, dann ist es um so schlimmer für die Wirklichkeit", lautet in anderer Fassung, „das, was ethisch richtig ist und das heißt im Sinne Kants auch vernünftig ist -, das soll auch sein". Das Streben nach Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung in Freiheit gehört zum Wesen der Würde des Menschen. Er hat ein Grundrecht auf Emanzipation, selbst wenn deren konkrete Herstellung ideell bleibt. Das emanzipatorische Prinzip ist der Erziehungspraxis gegenüber jedenfalls ein normativ ethisches. -

2. 1.

Begriffliches Umfeld

Das Wort Emanzipation stammt aus dem Lateinischen e-man-cipatio und bedeutet Freilassung (ex) aus der Hand (manus) und Freisprechung von der Obhut des Kindes hier des Sohund der Gewalt (captus im Sinne von gefangen) durch die väterliche Familie. nes An die intellektuelle Basis eines neuzeitlichen Begriffes von Emanzipation aber zu gelangen, ist ein ziemlich kompliziertes Unternehmen, da das Begriffsmaterial sehr umfangreich ist und das gesamte philosophische Denken auf den Plan ruft. Es sind zunächst die vier Begriffe Erkennen, Denken und Vernunft. Ihnen folgen weitere wie Autonomie und Freiheit sowie Ethik im Wechselspiel von Neigung und Pflicht, ferner der Begriff der Ideologie und deren Auswirkung auf die Begriffspaare Wille und Macht, Herrschaft und Gewalt. Dann gibt es selbst wiederum Ausformungen dieser wie z.B. Individualität und Egoismus und es gibt noch alle anderen, die dem Subjekt unmittelbar gegenüberstehenden wie Welt und Gesellschaft, Sein und Bewußtsein, Theorie und Praxis. Dazu kommen noch die sich zwischen Subjekt und Objekt bewegenden Begriffe Kritik und Reflexion. Auch normative sind dabei tangiert wie das -

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Kapitel

III:

Erziehung als Emanzipationshilfe

79

Recht, bzw. Naturrecht, aber auch die Wahrheit, die Gerechtigkeit, die Solidarität und das Glück, um nur einige zu nennen. Das alles macht das Unternehmen nicht gerade einfach. Daher werde ich die begrifflichen

Zusammenhänge so kurz wie möglich beschreiben und aus ökonomischen Gründen auch weitgehend nur aus meinem persönlichen Vorwissen und Vorverständnis heraus zur Diskussion stellen, ohne sie mit genauen Quellenangaben zu überfrachten. Die geistige Entfaltung gegen jeden Widerstand ist nicht erst ein Produkt der Liberalität der Neuzeit. Es ist mit den Anfängen des Denkens und der Erkenntnis selbst verknüpft und beginnt mit der Geschichte der Menschheit, explizit mit der Philosophie. Das Material dazu ent-

steht durch das Zusammentreffen von zwei Teilen, der Welt und der Idee von der Welt, die zueinander ganz verschieden sind und sich aneinander solange reiben, bis etwas geschichtlich Neues entsteht. Der Vorgang kann verglichen werden mit der Reibung von Holz an Stein. Ein Holzstück wird in einer Steinmulde solange gedreht, bis es sich entfacht, zu brennen beginnt und einem anderen Zustand zugeführt wird. Dabei bleibt immer etwas auf der Strecke: Das Holz verkohlt, der Stein wird abgenutzt. Für das erstere vielleicht schlimmer, weil es sich opfern muß. Und doch: Es entsteht etwas Lebensnotwendiges, nämlich das Feuer. So sichert sich vielleicht die Natur des Denkens durch Neugierde und Experimentierfreudigkeit geweckt mit Hilfe des Erkennens ihr eigenes Überleben. Die Befreiung aus der wilden Bedrohung durch die Natur beginnt also mit dem Denken und Erkennen. Das Denken scheint ein Werkzeug der Erkenntnis zu sein, mit dem wir uns aus dem Zwang, sich einem unvermeidbaren Schicksal hingeben zu müssen, befreien können. Vielleicht ist es der Geist, der es belebt, die Logik, die es ordnet und das Bewußtsein, das es uns spürbar werden läßt. Es ist ein Denken, das einem Vernehmen nach Höherem folgt und das aus dem Käfig mythologischer Vernebelung ausbricht. Es kann aus dem Staunen heraus nach Antworten suchen, indem es schöpferisch Wege findet und erfindet, um zu überleben. Es kann verändern und sich dadurch selbst weiterentwickeln. Das Erkennen kann die Welt auf den Begriff bringen. Das Denken ordnet die Begriffe durch die Logik, das Bewußtsein macht sie spürbar und die Vernunft prüft sie, die Wahrheit vernehmend. Mit Hilfe des Willens werden Erkennen, Denken und Vernunft zum Handeln. Der Wille kann Welt machen. Um die Welt aber auch richtig zu machen und nicht nach dem stärksten Willen auszurichten, braucht er die Vernunft. Die Vernunft ist so zentraler Angelpunkt. Sie ist das Vernehmen von Wahrheit und Lüge, das Wahrnehmen, Erkennen und Denken von dem, was sein soll, und dem was nicht sein darf. Durch die Vernunft kann der Mensch auch erkennen, welchen Sinn Feuer hat, wie man es wieder löscht, wie gefährlich es ist, wann es sein muß und wann es nicht sein darf. Und sie kann die Tat beurteilen und verurteilen, die das Feuer mißbraucht. So kann Vernunft auch zur Einsicht werden, daß der Wille immer zugleich auch nur das Richtige, Wahre, Schöne, Gute und Gerechte wollen und in die Welt bringen darf, und zur Erkenntnis, daß er sich schuldig macht, wenn er es nicht tut. Vernunft und Unvernunft beginnen sich im Spiegel zu betrachten, indem Erkennen und Denken sich auf sich selbst beziehen und zum bewußten Denken werden, zur Reflexion und zur Kritik. Eine Reflexion wird Kritik, wenn sie dem Erkannten seine Absolutheit raubt, es in Frage stellt, verneint und verwirft. Bei diesem sich von sich selbst trennenden Vorgang gehen Denken und Erkennen nicht immer Hand in Hand, auch wenn sie sich nach wie vor gegenseitig brauchen. Das Denken bleibt dabei bisweilen der Motor und das Erkennen die Bewegungskraft, die es erzeugt. Manchmal ist aber auch die Erkenntnis das Ergebnis eines Denkvordas Ergangs. Erst die Vernunft als kritische Reflexion erkennt die Macht, die das Denken, sich nur Sie fühlt verbunden die sind. damit kennen und der Wille haben und die Gefahren, -

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Modelle des

80

Erziehungsbegriffs

sich selbst als ewige Vernunft des Nein-Sagens verpflichtet. Der Philosoph sagt, sie ist „die Wacht am Nein". So hat auch das kritische Bewußtsein die Vernunft als letzte Instanz. Die einen stehen der Vernunft als Wachposten der Menschheit skeptisch gegenüber, indem sie sagen, daß die Vernunft durch die Macht sich selbst nicht treu bleiben kann, auch wenn sie es noch so wolle. Denn das, was Recht ist, wird immer durch das Stärkere geschützt. Und das ist selbst Androhung von Gewalt, die in sich selbst unvernünftig ist. Daher muß das kritische Bewußtsein immer über der Vernunft stehen, es muß zur eigentlichen Vernunft werden. Andere hingegen sagen, solange die Vernunft noch die Treue zu sich selbst zumindest kennt, vermeidet sie von selbst jeden Mißbrauch und jede Degradierung zum reinen Interesse. So komme es darauf an, die Macht auch mit Gewalt solange einzusetzen, solange die Erhaltung eines schon einmal erreichten (vernünftigen) Status gefährdet ist. Erstere antworten darauf: Für den, der das meint, wäre auch das, was vernünftig ist im Sinne des Satzes: „Sei vernünftig!" gleichgesetzt mit der Vorstellung, daß es bequemer sei, nicht danach zu fragen, sondern sich nach den allgemeinen Geboten und Verboten einfach zu richten, solange es einem nur gut geht, ohne daß man deren Sinn selbst einsieht. Sieht man ihn ein, so ist damit noch nicht klar, ob er auch allgemein für alle Menschen und fur die Gesellschaft der Menschen und ihrer Entwicklung sinnvoll ist. Die Fronten in dieser Frage sind verhärtet. Die einzige Lösung liegt in dem Standpunkt, daß vernünftig nur das heißen kann, was dem Wohle aller dient, und unvernünftig die Verhinderung dessen was man (so bei Kant) nicht vernünftigerweise wollen kann und darf. So gesehen ist die Vernunft als kritisches Bewußtsein die Pflicht zur Verwirklichung Allgemeinwohls. Auf die Frage, wann und wie sich die Menschen wohlfühlen und glücklich sind, insbesondere die, die noch heranwachsen, läßt sich nur antworten: Menschen fühlen sich nur in einer Welt wohl, in der es gerecht zugeht, in der keine Ungleichheit herrscht und auch kein Hunger. Eine solche Welt läßt sich zwar vernünftig denken. Aber läßt sie sich auch machen? Die Forderung, Vernunft in die Welt zu bringen, wird von einer Geschichtsepoche zur anderen vertagt. Sie wird zu einem Sisyphus-Bemühen, zum Kampf gegen Windmühlen, zum Schwimmen gegen den Strom und zur Revolte und Revolution. Die Geschichte hat uns gelehrt, gewaltsam etwas zum Wohl werden zu lassen, war immer schon ein Irrtum, ein Irrtum einer sich im Recht wähnenden Vernunft, die ihre Absicht mit dem reinen Interesse verwechselt. Sie bemerkt die Verwechslung nicht, wenn sie sich gut dafür bezahlen läßt. Dann werden die Vernunft und das Geld heimliche Verbündete. Dann wird die Vernunft bestechlich, weil das Geld bekanntlich nicht stinkt. Die echte und wahre Vernunft aber setzt sich die Maxime, sich selbst zu verneinen, verneinen zu können, verneinen zu dürfen, an sich selbst radikale Kritik zu üben und auch wieder an der Kritik, und wenn es sein muß und so wird es sein bis ans Ende ihrer Tage. Sie wird damit zum eigentlichen Bewußtsein, zum Bewußtsein von Eigentlichkeit, jenem Zustand von Wachheit, in welchem wir uns im Klaren darüber sind, was die Hintergründe unseres Seins und Handelns sind, wann wir wir selbst sind und wann wir von fremder Hand gegen unseren Willen geführt und manipuliert werden. Eine solche Wachheit hat sich die Bürde auferlegt, sich einem Streben zu verpflichten, das permanente Kritik an sich selbst und der Gesellschaft übt. So wird das eigentliche Bewußtsein zu einem emanzipatorischen. Die Vernunft und das Erkennen werden darin zum Antidenken, sie werden zur Kritik an der Kritik, zur permanenten Kritik an der Macht und ihrer Ideologie. -

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,

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Kapitel III: Erziehung als Emanzipationshilfe 2. 2.

81

Emanzipation als programmatischer Entwurf

Emanzipation unterliegt

dem allem Erkennen und Denken innewohnenden Subjekt-Objektvon Bewußtsein und Sein konkreter gefaßt: von Lebenswelt und Lebenslage grundlegend definiert. Es wird die Frage relevant, welcher Teil welchen in seiner Freiheit einschränkt und daher auch in ethischen Sinn verändert werden muß. Spielen wir die Möglichkeiten durch: Wenn das Bewußtsein (bzw. die Lebenswelt) das Sein (bzw. die Lebenslage) bestimmt, so formt eine subjektive Vorstellung einzelner das Sein nach ihrem Sinnhorizont. Ist dieser Deutungshorizont ein politischer, formt er sie nach seiner eigenen Ideologie. Wenn das Sein (bzw. die Lebenslage) das Bewußtsein (bzw. die Lebenswelt) bestimmt, so diktieren die konkreten Systemstrukturen auch die Lebenswelt. In beiden Wendungen stecken entartete Automatismen politischer Macht, die nur durch Ideologiekritik sichtbar werden:

Verhältnis, das das Zusammenspiel

-

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Wenn das Bewußtsein das Sein ner

zum

Selbstzweck benutzt, entfremdet

es

das Sein

sei-

von

eigentlichen Bestimmung.

manipuliert es das Bewußtsein. Das wahre Bewußtsein und das wahre Sein zu gewinnen, macht eine emanzipatorische Läuterung und Veränderung durch die Entlarvung des falschen Bewußtseins und durch die Aufdekkung inhumaner Strukturen notwendig. Die Beseitigung von Unvernunft ist somit das generelle Programm der Emanzipation. Dazu gibt es für das kritische Bewußtsein auch keine ethische Alternative. Das heißt: Es darf niemand wollen, daß Menschen ungleich sind und ungleich behandelt werden. Denn die Vernunft sagt, daß sie alle Menschen sind und somit gleich. Anderenfalls würde das bedeuten, daß es kein Wesen des Menschen gibt, und daß die Menschen also auch nicht zusammengehören. Exkurs: Die Frage, wie das kritische Bewußtsein zum emanzipatorischen wird, kann nur durch die Beschreibung von Entmächtigungsvorgängen geleistet werden. Auf das Subjekt bezogen heißt das: Zum einen muß der Wille zur Macht und das Streben nach persönlicher Bereicherung von der Sklavenhaltermentalität befreit werden. Zum anderen muß sich die subjektive Erkenntnis von Absolutheitsansprüchen verabschieden. Auf das Sein bezogen bedeutet das die Beseitigung ungerechtfertigter Lebenslagen durch eine Realisierung einer gerechteren Gleichstellung der Menschen. Auf einem solchen Weg will das kritische Bewußtsein sich selbst und der Welt gegenüber einen ethischen Dienst verWenn das Sein das Bewußtsein benutzt,

richten. Es will das Bewußtsein und die Verhältnisse dem Sollwert ihrer Vernunft annähern. Die Kritik ist darin eine emanzipatorische Kraft.

2. 3. Von der Autonomie

zur

Emanzipation

Die Idee einer Selbstbestimmung in Freiheit hat zu allen Zeiten Spuren einer Veränderung hinterlassen. In der Zeit der Aufklärung aber hatte sie ihre wohl größte und nachhaltigste Eruption. Der Tenor des pädagogischen Gedankengutes dieser Zeit läßt sich mühelos auf einen Punkt bringen: Der Mensch wird nur durch Erziehung zu dem, was er ist. Dabei aber, so sagt John Locke (1632 1704), braucht man ihn nur der eigenen Erfahrung überlassen, dann wird er angeregt durch seine Selbsttätigkeit durch die eigene Erfahrung erwachsen. (Vgl. im 1966 folgenden dazu auch H. Hierdeis 1976, S.33 45, zu J. Locke insbesondere H. Wohlers 80. S. 77 und Philosophen sowie auch den Quellennachweis zu den genannten Pädagogen -

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Modelle des

82

Erziehungsbegriffs

Hierdeis verfolgt dabei allerdings mehr die Entwicklung der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft im Spannungsfeld zwischen Empirie, Metaphysik und Geisteswissenschaft.) Jean Jacques Rousseau (1712 1778) beschreibt in seinem berühmten Erziehungsroman eines die Knaben, der auf dem Land erzogen wird. H. Hierdeis Lebensgeschichte „Emile" schreibt dazu S. 35 f.: "Äußerlich gesehen teilt er (Rousseau) mit Locke die Beobachtung der kindlichen Natur, die Unterscheidung des Kindes vom Erwachsenen, die zurückhaltende Führung, den Vorrang der Selbsterfahrung vor der Wissensvermittlung". Dabei motiviert ihn "die Kritik an der Entartung des Menschen, wie sie ihm in der Gesellschaft seiner Zeit entgegentritt; erhegt ein tiefes Mißtrauen gegen die öffentlichen Erziehungseinrichtungen, weil sich in ihnen die Denaturiertheit der Kultur fortsetzt. Also heraus mit dem jungen Menschen aus der Zivilisation." Um dies zu unterstützen "enthält sich der Erzieher überwiegend der direkten Einflußnahme". (H. Hierdeis bezieht sich hier seinerseits auf M. Rang 1965, S. 247 f.) Immanuel Kant (1724 1804) sagt, daß die Mündigkeit eigentlich automatisch mit dem richtigen Gebrauch der Vernunft einhergehe. Der Mensch ist fähig, die gewünschte Klarheit über sich und die Dinge zu bekommen, wenn er nur will. Und wenn er nicht will, aus welchen Gründen auch immer, so ist er zumindest selbst schuld. Das bedeutet: Wer nicht mündig ist, bedient sich selbst auch nicht der Fähigkeit, das Richtige vom Falschen zu trennen, das Wahre, Schöne und Gute zu erkennen, Gerechtigkeit zu wollen, sie zu erkennen und nach ihr zu streben. Für Kant jedoch bedeutet dieser Vorgang Selbstzucht. Er muß sie aus freien Stücken leisten, dann erst kann er es als seine Pflicht erkennen, dann besitzt er auch die Moral und den Charakter einer sittlichen Persönlichkeit (vgl. H. Hierdeis 1976, S. 37; ebenso H. Holstein -

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1959).

Aus der Zeit der Aufklärung stammen in

Ausweitung dessen folgende Gesichtspunkte: Die Gleichberechtigung oder würdevolle Gleichbehandlung und das Recht auf Selbstbestimmung sind die Prinzipien eines Zusammenlebens in Freiheit. Um diese Rechte müssen wir nicht mehr prinzipiell kämpfen, aber wir müssen sie immer noch demokratisch verteidigen, bewahren und bewachen. Es scheint, als ob sich der Mensch als autonomes Wesen das Recht auf eben dieses Wesen strukturell ständig neu mehrheitlich sichern muß. Die Autonomie erhält damit ihre politische Dimension und ist mit der Emanzipation sind eng verflochten. Im Begriff der Autonomie steckt der Gedanke der Freiheit und der Selbstbestimmung, in dem der Emanzipation der Begriff der Selbstverwirklichung auf der Basis von Freiheit und Selbstbestimmung. Der Unterschied ist der Handlungsaspekt im Begriff der Verwirklichung. Er bedeutet Befreiung aus einem Zustand der Unterdrückung. So meint die Autonomie mehr die Fähigkeit zur Freiheit und die Emanzipation die Verwirklichung der Freiheit. Exkurs: Die tragischen Auswirkungen des schicksalhaften Zusammentreffens von Neigung und Pflicht werden in Schillers ,Räubern' zu einer emanzipatorischen Dramaturgie. Zwei Brüder geraten durch ihren Drang nach Selbstverwirklichung in den Strudel einer Haßliebe. Sie gehören zwar zu einem Stamm, an ihnen inkarnieren sich jedoch zwei widersprüchliche Prinzipien: Narzißmus und Aufopferung für die Pflicht, die Idee der Gerechtigkeit zu verwirklichen. Beide Teile besitzen Macht, sie handeln beide zwanghaft, zumal sie auch noch aus einer gemeinsamen Familientradition verkörpert durch den sie eigentlich beide liebenden Vater stammen. Das freie Spiel der Kräfte nimmt seinen Weg in die Ausweglosigkeit individueller Emanzipation. -

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Kapitel 2. 4.

III:

Erziehung als Emanzipationshilfe

83

Topographie des gegenwärtigen Emanzipationsbegriffs

der Emanzipationsgedanke eigentlich nur noch in den AktiviGruppierungen auf und wird dort meist zu einem Katalog von Forderungen nach einer Korrektur der sozialen Ungleichheit für einzelne Teile, nicht aber mehr für das globale Ganze. Selbst wenn nunmehr weniger Menschen das Wort Emanzipation noch öffentlich auf ihren Lippen tragen (und vielleicht auch in ihren Herzen), so zeugt das nicht automatisch davon, daß sie emanzipierter geworden sind. Das mag auch daran liegen, daß das einst heraufbeschworene Denken von der Einheit der Idee der Emanzipation in eine zerstrittene Vielheit zerbröselt ist. Der rote Faden, der einst aus einem Munde kam, hat die Brüche und Lücken einer gestrichelten Linie angenommen. Die Bewegung der 68-iger Jahre hat theoretisch untermauert von der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, auf die wir gesondert eingehen sich auf die Formel verständigt, daß Emanzipation das Selbstverwirklichungsrecht bedeute, zum Subjekt eigener Interessen werden zu können. Damit war die Front definiert: Es waren zunächst die Strukturen staatlicher und institutioneller Verordnungen, über die die einzelnen nicht mitbestimmen konnten. Dann war es die Gesellschaft überhaupt, die an allem schuld war. Die Antworten forderten Mitspracherecht, Mitbeteiligung der Basis, herrschaftsfreie Kommunikation, Parität von Positionen und deren Reversibilität und Austauschbarkeit der Macht. Der Katharsis-Gang durch die Institutionen jedoch ging bekanntlich daneben. Es blieb die Resignation, die entweder in die vorher bekämpfte Bürgerlichkeit flüchtete oder in einer Art Ausstiegswelle verwahrloste. Trotzdem aber hielt sich der Gedanke einer Subjektwerdung und Befreiung von inneren und äußeren Zwängen als Feuerwerksidee am Leben. Der Unterschied war nur, daß er von nun an eine Metamorphose durchlebte und in fremden Gewändern wiederkehrte. Neue Bewegungen formierten sich, deren Subjektsbegriff die Solidarität war, mit der Absicht der Konstituierung einer neuen Vernunft. Es entstanden die Friedensbewegung, Öko-Bewegung und Frauenbewegung mit den Zielen einer Befreiung von Bedrohung und der Verwirklichung der Gleichbe-

Allgemein taucht gegenwärtig täten einzelner

-

-

rechtigung. allerdings fragen, was in diesen Strömungen und Bewegungen aus der geworden ist. Hat die Emanzipation, die gegen die Gesellschaft zu Felde gezogen ist, um mehr Vernunft in die Welt zu bringen, etwas erreicht? Haben wir eine gerechtere Welt, in der Menschen nicht mehr unter einer irrationalen Macht leiden und von der Heute müssen wir

emanzipatorischen

Idee

ihr mißbraucht werden? Haben wir eine friedlichere Welt. Oder leben wir immer noch in schlechtesten aller Welten, die es radikal und kompromißlos zu verändern gilt? Hat die Emanzipation uns auch tatsächlich das gegeben, was wir wollten, wonach wir immer schon riefen: mehr Subjektivität und Freiheit? Mehr Verantwortungsbewußtsein? Oder müssen wir die Rechnung dafür jetzt begleichen? Hat uns die Emanzipation lediglich die Augen geöffnet, für die Freiheit der neuen Generation in einer neuen Gemeinschaft: In der Einheit der Idee des Abendlandes? In einer Gesellschaft, die sagt, daß das, was in der Realität die Verschiedenheit ausmacht, in der Gegenwirklichkeit die Utopie der Einheit ist? Oder sollte man sich lieber vor solchen Gedanken hüten, weil sie selbst Ideologie sind? Außerdem müssen wir uns heute nicht von ganz anderen Dingen emanzipieren, vom Konsum, vom technischen Bewußtsein? Von einem Bewußtsein, das unsere Welt mehr und mehr ökologisch an den Abgrund führt? Für die Pädagogik, insbesondere für die emanzipatorische Pädagogik, die zum kritischen Bewußtsein erziehen will und an Utopien und Visionen glaubt, sind dies alles Fragen, die verantwortlich beantwortet werden müssen.

Modelle des

84

Erziehungsbegriffs

Exkurs: Ein Zwischenspiel zur Lockerung soll das farbige Bild des Emanzipationsgedankens der Gegenwart etwas verlebendigen, indem fiktive Äußerungen, die für einige Gruppen in der Gesellschaft stellvertretend sein sollen. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Äußerungen sind rein zufallig. (Vielleicht gibt es aber auch keine Zufalle!): Ein Kritiker, der im Laufe seines Lebens zu einem Zyniker geworden ist: Von Emanzipation reden nur diejenigen, die sich den Luxus dazu auch leisten können. Eine politisch aktive Frau, die Engagement für das Wichtigste hält: Emanzipation verwirklichen heißt zwar Sprachlosigkeit überwinden, heißt aber nicht von Freiheit und Selbstbestimmung schwafeln, sondern sie kompromißlos leben. Ein Moralist, der den Zeigefinger hochhebt: Solange du über Emanzipation redest, treibt es dich nicht zur üblen Tat. Also rede, solange du reden kannst in allen Variationen darüber. Eine Intellektuelle, der die Gedanken nicht wehtun: Emanzipation ist die Verwirklichung des Rechts auf Subjektivität. Sie ist dessen politische Inkarnation im Jetzt-Zustand der Geschichte. Ein Pessimist, der den Überblick zu haben glaubt: Emanzipation nutzt nichts. Ist sie nämlich einmal erreicht, ist das Gegenteil davon wieder attraktiv. Das wahre Glück ist eine Illusion. Eine Optimistin, die nicht aufgibt: Der Emanzipationsgedanke hält uns alle am Leben, wenn wir uns von einem Käfig in den anderen wandern. Ein Toleranter, der an Grenzen denkt: Die Spannweite der Pluralität der Emanzipation ist genauso unendlich wie die Normalität. Sie ist lediglich von der Gewalt begrenzt. Eine Sensible, die sich zum ersten Mal zu Wort meldet: Nur die schweigende Mehrheit sagt, wieviel Emanzipation noch nötig ist. Ein 68iger, der seiner Vergangenheit nachträumt: Positionen machen arrogant. Vorallem politische. Will man die Arroganz durch Emanzipation beseitigen, so muß man die Position

beseitigen.

Eine Künstlerin: Als Kinder haben wir uns immer nach dem Spielzeug gesehnt, das wir nicht hatten. So ist das auch mit der Emanzipation. Ein Meditationsspezialist: Die wahre Emanzipation findest du nur in der Harmonie mit Dir. Geh in Dich und suche sie! Eine Esoterikerin: Emanzipation ist eine Form von Sehnsucht nach Para-Sinnlichem. Ein Alternativer, der in einer Großstadt lebt: Nur in der reinen Natur kann sich der Mensch vom Gift der Zivilisation emanzipieren. Aussteigen ist die einzige Alternative. Eine Alternative, die eine ziemliche Wut hat: Ich hoffe, daß die Demonstration gegen die Vernichtung der Regenwälder die Verantwortlichen endlich so überzeugt, daß sie sich von ihren kapitalistischen Zwangsvorstellungen emanzipieren. Eine Philosophin: Emanzipation?! Ja bitte, aber wo? Ein Politiker: Emanzipation heißt auch, mehr Macht und Einfluß zu gewinnen. Eine Theologin: Die emanzipatorische Frage nach der Weiblichkeit Gottes ist noch offen. Ein Jurist: Emanzipation ist die Autonomie im Recht. Eine Politologin: Den Frauen fehlt es oft an rhetorischen Fähigkeiten, um sich politisch zu profilieren und sich von ihren Kollegen zu emanzipieren. Ein Psychologe: Emanzipation heißt, über Angst reden können. Eine Soziologin: Auch die emanzipierte Gesellschaft muß ein funktionierendes System sein. Sie kann sich kein Chaos leisten.

Kapitel

III:

Erziehung als Emanzipationshilfe

85

Ein Germanist: Die emanzipatorische Sprachregelung mit dem großen I nach den Vorstellungen einiger Frauen ist mit dem Duden nicht in Einklang zu bringen. Und der ist immer noch maßgebend in allen Zweifelsfällen. Eine Kunsthistorikerin: Die künstlerische Darstellung des Emanzipationsgedankens ist in klassischen Werken oft auf Nebenschauplätze beschränkt geblieben. Ein Theaterwissenschaftler: Theater ist immer schon gespielte Befreiung gewesen. Eine Anthropologin: Das funktionierende Matriarchat in noch bestehenden primitiven Gesellschaften, die nichts von Emanzipation wissen müssen, ist ein Beweis dafür, daß es auch anders geht. Ein Arzt: Arzt und Ärztin sind in der Gesellschaft gleichermaßen anerkannt. Das genügt doch. Sie brauchen sich nicht mehr beruflich zu emanzipieren. Daß in der medizinischen Forschung die Männer das Sagen haben, hat damit nichts zu tun. Eine Mathematikerin: Vielleicht ist die Emanzipation mit einer unerwarteten, kreativen

Problemlösung vergleichbar. Ein Physiker: In der Physik ist von der Emanzipation nicht die Rede. Es sei denn im Kampf um einen Laborplatz. Eine Biologin: Das Überleben des Stärkeren in der Natur hat einfach seinen Sinn. Es gehört zur Emanzipation einer Gattung. Geologe: Die unbelebte Natur kennt diesen Quatsch von der Emanzipation zum Glück

nicht. Die Natur macht sich höchstens bei Vulkanausbrüchen Luft, wenn man so sagen kann. Eine Geographin: Die Überbevölkerung ist die natürliche Grenze des Emanzipationsgedankens. Eine Lehrerin: Die Arbeit in Kleingruppen während des Unterrichts hat durchaus starke

emanzipatorische Züge. Ein Diplom-Pädagoge: Die Pädagogik

hat sich

zu

allen Zeiten

um

eine

emanzipatorische

Erziehung bemüht. Man kann immer erst im Nachhinein sagen, ob es auch richtig war. Eine Sozialpädagogin: Emanzipation heißt gegen den Strom schwimmen. Ein Sozialpädagoge: Am Anfang war ich ganz scharf auf die Idee der Emanzipation, doch dann kam der Burnout. Trotzdem muß man an die Idee glauben. Eine Erzieherin: Emanzipatorische Arbeit im Kindergarten funktioniert nur dann, wenn

die Eltern auch mitmachen. Ein Heimleiter: Die notwendige Hausordnung eines Heimes enthält zu viele Hindernisse, so daß sich Emanzipation hier nur im Kleinen verwirklichen läßt. Eine Frau: Emanzipation ist das Recht, über den eigenen Körper und die eigene Psyche selbst und ganz allein verfügen zu können, auch wenn andere es anders haben wollen. Ein Mann meint: Emanzipation ist die Möglichkeit, das Recht zu haben, das, was einen stört oder behindert, zu beseitigen. Eine Feministin: Die Frauen müssen mehr Mut bekommen, ihre Gleichstellungsrechte auf allen Gebieten gegenüber den Herren der Schöpfung zu fordern. Sie müssen sich zu ihrer Emanzipation vor allem gegenseitig motivieren. Zwischenstand zur Emanzipation: Halbzeit oder fünf nach zwölf? Frust? Oder Hoffnung? Oder einfach notwendiges Gelabere? Wir haben uns die Emanzipation mühsam erkämpft, und jetzt weiß keiner etwas damit anzufangen. Ein Chef: Der Emanzipationsgedanke hat natürliche Grenzen: Es ist der Konkurrenzkampf der freien Marktwirtschaft! Wenn die Produktion sich nicht verkaufen läßt, wächst

Modelle des

86

Erziehungsbegriffs

der Druck auf den einzelnen im Betrieb. Ob Job-sharing oder nicht ist mir egal. Das sollen die Ehepaare unter sich ausmachen. Hauptsache die Produktivität des Unternehmens bleibt erhalten. Eine Arbeitnehmerin: Emanzipation? Von wegen! Frauen machen doch in der Regel die lästigen Nebenjobs. Da nützt mir meine Mitbestimmung nichts. Ein Arbeitnehmer: Emanzipation? Von wegen! In unserem Betrieb machen wir Kurzarbeit. Eine Hausfrau: Wenn die Kinder größer sind, will ich wieder studieren und mich dadurch

emanzipieren.

Ein Hausmann: Wenn ich in der Küche stehe und mich um die Kinder kümmere, fühle ich mich emanzipiert, denn dort bin ich mein eigener Chef. Eine Lesbe: Frauen müssen sich von den Frauen emanzipieren, die in ihrem Denken und Handeln von einer Fixierung auf das Männliche beherrscht werden. Ein Schwuler: Emanzipation heißt Mut zu haben, sich auch in der Öffentlichkeit dazu zu bekennen. Eine Rollstuhlfahrerin: Von wegen emanzipiert! Behinderte sind alle nicht integriert. Sie lassen sich auch selbst zuviel gefallen. Ein Drogenabhängiger: Die Legalisierung von Drogen ist die Grundlage für eine Emanzipation. Sie ist die einzige Chance, sich aus der Gefahr der illegalen Beschaffung zu befreien. Eine Asylantin: Ich bin geduldet, aber nicht anerkannt. Was soll ich da schon machen? In dieser Hinsicht gibt es keine Emanzipation. Eine Bewohnerin eines Altenheims: Emanzipation? Brauchen wir nicht mehr. Wann kommt wieder der nette Showmaster zu uns? Zurück zur pädagogischen Klientel: Entweder alles abschaffen, was Druck macht, oder einfach raus. Ein angepaßter Schüler: Die Emanzipation wird uns mit dem Abschlußzeugnis versprochen. Und die Kinder und Jugendlichen: Emanzipation? Keine Ahnung. Auf jeden Fall Null Bock. Jetzt machen wir erst mal was, dann sehen wir es schon. Und zuletzt alle anderen: Sie können sich keine Gedanken zur Emanzipation machen, weil sie nicht denken und nicht nachdenken können, weil sie Hunger haben, weil sie krank sind, weil sie sich verstecken müssen oder versteckt werden, weil sie keiner so recht haben will. Und wenn sie könnten, würden sie vielleicht zum Gedanken der Emanzipation selbstkritisch sagen, daß die Formel, zum Subjekt eigener Interessen zu werden, zumindest bei denen, die sich emanzipiert haben, auch zur Gleichgültigkeit führe. Solange es oben und unten gibt, wollen die, die unten sind nach oben, und die die oben sind, wollen oben bleiben denn dort ist es auch bequemer -, aber keiner will freiwillig runter. Wenn alle nach Selbstverwirklichung streben, kann sich niemand mehr um die kümmern, die sich nicht selbst verwirklichen können, weil ihnen Lebensbasis und Lebensraum fehlen. Deren Finger würden auf Paradoxien deuten: Das Recht einer Besitzstandwahrung derer, die oben sind, steht auf der einen Seite. Auf der anderen steht die Forderung nach der gleichen Verteilung aller Güter an die, die unten sind. Was bleibt, wenn Emanzipation keine, das Gewissen beruhigende Spende ist? Es bleibt die Erkenntnis eines Widerspruchs. Ihn zu überwinden, bedeutet, immer wieder neu nach Auswegen suchen, unattraktive Wege gehen, Konfliktbereitschaft besitzen und eine Kultur des Streitens pflegen. Und es bleibt die Erkenntnis, daß wir dazu alle am Ball bleiben müssen. -

Kapitel III: Erziehung als Emanzipationshilfe 2. 5. Theorie der

87

emanzipatorischen Pädagogik

emanzipatorischen Pädagogik zu finden, werden wir zuphilosophischen Grundlagen darstellen und danach die entsprechenden Modellvorstellungen beschreiben. Dazu werden wir exemplarisch die pädagogischen Vorstellungen von Theodor Adorno, Klaus Mollenhauer und Paolo Freire umreißen. Die Auswirkungen des Emanzipationsbegriffes auf die Pädagogik der Gegenwart werden sodann anhand der in Erscheinung getretenen Hauptströmungen aufgezeigt. Es sind die die Friedensbewegung und Friedenspädagogik, die Öko-Bewegung und Öko-Pädagogik, der Feminismus und die feministische Pädagogik. Um einen nächst die

Zugang

zur

2. 5. 1.

Theorie der

Philosophische Grundlagen der Emanzipation

(a) Emanzipation vollzieht sich durch Entlarvung des Interesses in der Erkenntnis. Der Vemunftbegriff der Aufklärung ist ein Januskopf. Er blickt in zwei gegensätzliche Rich-

tungen. Einerseits ist der Mensch von sich aus, auf Grund seines Wesens und seiner Natur, in der Lage, die Prinzipien seiner Autonomie (transzendental) zu denken. Andererseits muß er sie auch erst gegen den Widerstand der Welt durchsetzen. Vernunft und Politisches Handeln sind Antipoden, die darauf hinweisen, daß alle aufklärerischen Gedanken eigentlich solange wertlos sind, solange nicht Freiheit, Gleichberechtigung und Solidarität auch politisch realisiert sind. Vor diesem Hintergrund wird die (dialektische) Trennung von Bewußtsein und Sein zum Ausgangspunkt pädagogischer Überlegungen. Exkurs: Im deutschen Idealismus insbesondere bei G.W.F. Hegel (1952) steht die Erkenntnis als Bewußtsein des Subjekts über dem des Seins des Objekts. Von der Erkenntnis geht die eigentliche Bewegung und Energie für eine Veränderung aus. Anders durch ausgedrückt heißt das: Die Welt (das Sein) macht sich nicht selbst, sondern sie wird AusfühChr. Callo ist erfaßbar 1983, die durch die Erkenntnis nur Idee die (vgl. gestaltet, Idee durch rungen zu Hegel). Die Annäherung der Welt (des Seins, des Objekts) an die das Bewußtsein des Subjekts darüber, wie sie sein soll, ist zwar eine Qualitätsverbesserung, sie ist aber auch immer nur Annäherung. Das heißt, die Welt, das Sein und die konkrete Lebenslage, laufen der Idee stets unendlich hinterher, sie versagen und scheitern. Das aber wiederum kräftigt die Idee, macht die Erkenntnis ein Stück vollkommener. Am Ende dieser Erkenntnisbewegung und der Bewußtseinsentwicklung steht falls man sich ein Ende denken kann die vollkommene Erkenntnis. Sie ist so vollkommen, daß sie das Objekt, die Welt, absolut von sich abgespalten hat, sie also nicht mehr braucht, um sich zu erkennen. Das Subjekt benötigt kein Objekt mehr, denn es besitzt sich selbst in vollkommener Weise als reine Geistigkeit. Die Welt wird total vergeistigt, sie wird zum Denken und Erkennen. Die Welt wird zum Begriff. Das Problem dabei ist, wenn die Welt als theoretischer Begriff in ihrer Materialität entschwindet, weil sie durch einen gewaltigen letzten dialektischen Sprung der Erkenntnis ihrer eigenen Bestimmung zugeführt wird, nämlich total erkannt zu sein, dann hat die Erkenntnis nur noch sich und ihre Absolutheit und kein Gegenüber mehr. Es bleibt die Frage, ob sie dann nicht (wieder) in die totale Finsternis -

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fällt. Das Bild läßt sich auch umgekehrt denken: Die absolute Erkenntnis bei Hegel der absolute Geist braucht ein Gegenüber, um sich als Erkenntnis zu erweisen. Schließlich ist sie als das, was sie wesentlich ist, nämlich Erkenntnis, mit sich selbst identisch. Das heißt sie ist total anders als das, was sie als Objekt erkennen will. Wenn nun die Erkenntnis sich -

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88

Modelle des

Erziehungsbegriffs

selbst erkennen will, muß sie selbst zum Objekt werden. Der absolute Geist muß sich also in sein Gegenteil kehren, in den Nicht-Geist, in das von ihm als Subjekt vollkommen getrennte Objekt. Was passiert ist folgendes: Der Geist wird zur materiellen, endlichen Welt und hat die Chance, sich durch sie zu erkennen, sich durch sie also zu vervollkommnen. Durch sein Gegenteil erkennt er sich also positiv. Indem er weiß, was er nicht ist, erkennt er sich. Über den Weg der Negation der Welt durch den Geist, erkennt dieser sich schrittweise im Laufe der Geschichte. Wir können uns den Weg der Erkenntnis in Form der Auflösung des Objekts ein wenig dadurch verdeutlichen, wenn wir uns bewußt machen, daß z.B. die Erkenntnis von Feuer, also die Bewußtwerdung, die Vorstellung und der Begriff, selber nicht brennen. Wenn dies so wäre, müßte unser Kopf tatsächlich rauchen, wenn wir an Feuer denken. Im Kopf selbst können wir den Begriff des Feuers von anderen Begriffen (z.B. dem des Wassers) nur dadurch abgrenzen, daß wir auch all das denken, was Feuer nicht ist. Ein Begriff wird also als Begriff dann vollkommen erkannt, wenn erkannt wird, was er nicht ist, wenn seine Vorstellung von ihm also nicht mehr mit anderen Vorstellungen vermischt ist, die die Erkenntnis nur verwirren. Durch das negativierende Trennen wird die Vermischung gereinigt, das Indifferente wird differenziert erfaßt und positiv als Erkenntnis registriert. Jede neue und natürlich auch wahre Erkenntnis entsteht auf diese Weise durch das (kosmische) Prinzip der Negativierung. Der Ausdruck Negation der Negation drückt zudem aus, was eigentlich parallel dazu im Hintergrund geschieht: Die Erkenntnis vervollkommnet sich als Ganze qualitativ dadurch, daß sie durch ihr eigenes Wissen darüber, was sie alles nicht ist, immer besser weiß, was sie eigentlich ist. Das Subjekt kommt so immer mehr zu sich, und das Objekt löst sich auf. Die Erkenntnis ist also in der Lage, die Realität aufzuheben, indem sie sie gewissermaßen visionär durch Vorstellungen und Begriffe entmaterialisiert. Sie macht das Objekt zum Subjekt, hebt es auf eine höhere Stufe des Seins und läßt es so wirklicher, weil bewußt, werden. Die Erkenntnis schafft damit die eigentliche Wirklichkeit. Die Quantität des Materiellen wird zur Qualität. Ein Feuer anzuzünden, ist dann nichts anderes, als die Erkenntnis zu realisieren. Im Handeln spielt die Erkenntnis den wichtigeren Part. Vernunft in die Welt bringen, hieße, Erkenntnis in die Welt zu bringen, den Widerspruch zur Welt zu beseitigen und die Welt selbst zu ent-realisieren. Die Identität der absoluten Erkenntnis trägt aber in ihrer Natur ein gewaltiges Potential. Die absolute Erkenntnis muß absolut notwendig (und absolut zwanghaft) ureigene Bestimmung sein. Die absolute Erkenntnis (der absolute Geist) kehrt sich also, notwendigerweise und nicht durch den Willen, in ihr (sein) absolutes Gegenteil. Der absolute und unendliche Geist schafft sich auf diesem Weg die relative und endliche Welt als fremdes Objekt, als Antithese seiner selbst. Er macht aus dem Nichts das Etwas, und er macht sich auf den Weg, dieses Etwas zur Synthese der Erkenntnis zu machen. Der Weg selbst ist die Geschichte der Erkenntnis, die sich zu sich selbst emanzipiert, die Geschichte des Menschen und der Menschheit. Die relative Erkenntnis ist die aktive Sklavin an der Vervollkommnung der absoluten Erkenntnis. Das Individuum bleibt dabei auf der Strecke. Es ist nur das berühmte Zahnrad am Weltgetriebe. Indem es sich selbst erkennt, erkennt sich das Absolute, nicht das Relative. Davon hat das Individuum am Ende nichts. Für Karl Marx geschieht dies umgekehrt durch eine Vervollkommnung der Welt durch die Erkenntnis. Indem die Welt geistig ihrer Bestimmung zugeführt wird, nämlich Welt und reine Lebenslage zu sein ohne Entfremdung durch theoretische Herrschaftsansprüche, wird sie auch praktisch ihre ursprünglichen Bestimmung wiedergewinnen, human zu sein. Marx kehrt damit den (dialektischen) Idealismus Hegels um in einen (dialektischen) Ma-

Kapitel

Erziehung als Emanzipationshilfe

III:

89

terialismus. Nicht die Erkenntnis soll sich vervollkommnen einen solchen Gedanken hält er für nicht sozial und damit für unethisch -, sondern die Gesellschaft. Das Individuum ist das notwendige Zahnrad auf dem Weg der Beseitigung von Ungleichheit. So wird der Weg zur vollkommenen Gesellschaft ähnlich dem Weg zur vollkommenen Erkenntnis über die Beseitigung von Widersprüchen erreicht bei Hegel durch die Negation im Denken, hier durch Negation der realen Verhältnisse. Damit wird auch das Sein höherrangig über das Bewußtsein gestellt, und die politische Praxis zum Moment und zur Triebkraft der Veränderung. Die Rationalität Hegels stellt für Marx keine Emanzipation dar im Sinne einer Befreiung oder Aufhebung von Widersprüchen. Emanzipation wird erst durch ihre politische Dimension wirklich. Es geht ihm wesentlich um die Aufhebung der politischen Unfreiheit durch die ökonomischen Bedingungen des Kapitalismus, der den Menschen von seiner natürlichen und ursprünglichen Bestimmung, ein soziales Wesen zu sein, entfremdet. Um der Entfremdung zu begegnen, müssen die Widersprüche im Sein aufgehoben werden. Dies geschieht in erster Linie über die Abschaffung des Privateigentums durch den Widerstand der Nicht-Besitzenden, dem Proletariat, gegen die Besitzenden. Auf diese Weise kommt es zu einer Revolutionierung der gesamten Gesellschaft. Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, genauer gesagt des Instituts für Sozialforschung, das der Universität Frankfurt/a.M. angegliedert war, und das sich der Erforschung des Marxismus widmet, nimmt mit Max Horkheimer und Th. Adorno an der Spitze ihren Ausgang von der politischen Ökonomie des Marxismus. Zunächst wendet sie sich gegen die Totalität des Hegeischen Denkens, wo alles zum Diktat eines allmächtigen Subjekts wird. Sie wendet sich aber auch gegen die Totalität der Gesellschaft bei Marx, der diese zum allmächtigen Objekt macht. In der Subjekt-Objekt-Theorie wird daher die Individualität zwischen eitler Macht und Unterdrücktsein als freie und autonome Größe betont. Damit macht sich eine Art Existentialismus breit, der das transzendentale Subjekt Kants mit der Freiheit zu unwiderruflicher Einmaligkeit des Ichs (vielleicht eines G. Fichte) kombiniert. Das durch Machtverhältnisse entmenschlichte Ich ist Gegenstand der emanzipatorischen Entfremdungstheorie. Sie wird auf die Totalität der Gesellschaft und des Individuums bezogen und beruht auf dem sozialphilosophischen Gedankengebäude einer sittlichen Gegengesellschaft. Bei Hegel basiert sie auf der Verwirklichung von Sittlichkeit als allgemeiner Idee, bei Marx auf der Verwirklichung der klassenlosen Gesellschaft, in der auch kein entfremdendes Bewußtsein mehr entstehen kann. In der Kritischen Theorie aber wird das Individuum zum Angelpunkt der Verwirklichung von Sittlichkeit. Es muß sich seiner Entfremdung bewußt werden und sie durch Kritik beseitigen. Entfremdung meint dabei einen Zustand, in dem der Mensch dem Menschen dadurch fremd ist, daß einer den anderen in der Regel eine Minderheit eine Mehrheit nur für die eigenen Interessen benutzt. Entfremdung kommt damit durch Macht und durch das ihr zugrundeliegende Herrschaftsinteresse zustande. Kritik üben heißt darum, mit J. Habermas, dem Protagonisten der Kritischen Theorie der Gegenwart, Entlarvung von falschem Bewußtsein, durch Ideologiekritik. Zunächst wird festgestellt, daß der marxistische Begriff der Klasse die Realität nicht mehr erfaßt. Durch die freie Marktwirtschaft verschwimmt die Lokalisierung der Entfremdung des einzelnen. Sie wird zu einem anonymen Faktor. H. Marcuse, ein weiterer Vertreter, spricht von der Eindimensionalität des Menschen (1967). Die Anonymität der Macht wirkt als ein magischer Sog eines vorgegaukelten Glücks in ihrer Manipulationskraft auf den einzelnen, in dem sie ihn verdummen läßt. Das Glück des Individuums wird zu einer Schablone von Konsumzwängen, der Konsum wird zum modernen Opium der Masse. -

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Modelle des

90

Erziehungsbegriffs

Verwirklichung von Autonomie in Freiheit, also die VerwirkliEmanzipation, an die Rationalität im Tenor ist das die sittliche Rationalität chung der Macht von Verhältnissen bewußt zu werden. Emanzipation beginnt sich sich geknüpft, zu realisieren, wenn die Erkenntnis von sich selbst durch die Aufdeckung ihres Interesses Für J. Habermas ist die von

-

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getrennt wird,

wenn

die Erkenntnis sich ihrer technischen Absicht und des damit einher-

gehenden Herrschaftsinteresses bewußt wird. Dann erst kann sie erkennen, wann sie eine rein technologische Erkenntnis ist, wann sie die Welt nur technisch sezierend erkennt, und wann sie eine kritische ist, die die Gefahren einer Entfremdung durch Technologie er-

kennt und aufdeckt. Diese Gedanken machen deutlich, daß das Herrschaftsinteresse nicht allein die Unterdrückung des Menschen durch den Menschen meint, sondern auch die irrationale Abhängigkeit vom gesamten Apparat, der durch die technische Vernunft, insbesondere der des positivistischen Denkens, entstand. Technologie und technologische Abläufe, sowie die permanente Innovation in Richtung einer Metamorphose der Welt in den Maschinenautomatismus, sind die modernen Gestalten der Entfremdung. Für Habermas ist darum permanente Ideologiekritik erforderlich. Damit wird Emanzipation zu einer, das Leben unaufhörlich begleitenden Notwendigkeit, die verloren gegangene Einheit von Erkenntnis und Interesse ähnlich der Platonischen Rückerinnerung im Höhlengleichnis zurückzugewinnen. So wird, wie man vielleicht sagen könnte, Emanzipation zu einer (Ur)-Sehnsucht nach Einheit oder existentieller Identität. Methodisches Medium der Ideologiekritik ist für J. Habermas die Dialektik. Darin unterscheidet er sich auch von anderen (z.B. von H.-.G. Gadamer, der das kritische Bewußtsein als ein hermeneutisches sieht; vgl. dazu J. Habermas u.a. Hrsg. 1971, S. 57 82.). Damit tritt die moderne Fassung des Emanzipationsbegriffes in eine neue Phase, die auch den -

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Erziehungsbegriff mitreißt.

(b) Emanzipatorische Erziehung ist ein dialektischer und hermeneutischer Prozeß der Erweiterung von Kognitionen Die Dialektik und Hermeneutik gehören zu den zentralen Erkenntnismethoden, die natürlich auch den Erziehungsbegriff im Rahmen der emanzipatorisehen Pädagogik schattieren. Wir wollen die Hauptunterschiede kurz charakterisieren und drei Bezugsfelder anführen, innerhalb derer sie wirksam sind (vgl. im folgenden Chr. Callo 1978, S. 313 330): Bezugsfeld 1: Kognitionen als geistige Reflexion und Abstraktion in Form von dialektikritischen

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schem und hermeneutischen Erkennen und Denken Bezugsfeld 2: Sprache als Kommunikation und Interaktion Bezugsfeld 3: das Sein der Gesellschaft als Geschichte gesellschaftlicher Verhältnisse

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Mit dieser Aufteilung wird auch die Frage nach dem Funktionszusammenhang gestellt, so u.a. die Frage, wie denn Kognitionen, Sprache, Kommunikation und Interaktion und die Geschichte gesellschaftlicher Verhältnisse innerlich zusammenhängen, oder welchen Prinzipien (bzw. nach welcher Gesetzmäßigkeit) sie folgen. Dialektik und Hermeneutik bieten zu diesem Fragenkomplex gegensätzliche Antworten an:

Bezugsfeld

1:

Kognitionen im dialektischen und hermeneutischen Sinn

Kognitionen in dialektischer Form funktionieren nach dem Negationsprinzip. Es sagt, daß wir dann etwas auch positiv (substantiell und inhaltlich) erkennen, wenn wir wissen, was dieses Etwas nicht ist. Wir erkennen z.B. den Inhalt des Wortes „Erziehung" dann, wenn wir ihn negativ gegen andere Begriffe abgrenzen können, wenn wir also sagen können, worin er nicht besteht. Läßt er sich total abgrenzen, dann ist er auch total erkannt. Dialektik ist also ein Denken, daß negiert, das verneint, das sich auf die Suche nach dem wahren Inhalt macht, indem

Kapitel

III:

Erziehung als Emanzipationshilfe

91

sagt, was er im Moment alles nicht ist. Die Ist-nicht-Aussage ist damit die zentrale Denkfigur des dialektischen Verstehens. Es entwirrt widersprüchliche Bilder, die nicht zusammenpassen, es deckt widersprüchliche Erfahrungen auf, die in ihrer totalen Individualität nicht zusammenpassen können. Es lebt in der Spannung sich ständig aneinander reibender Teile von Subjekt und Objekt. Das dialektische Verstehen kommt zwar zu qualitativ immer höherstehenden Erkenntnissen, es kommt damit parallel aber auch zu immer größer werdendem man

Nicht-Wissen. Nach Sokrates könnte man sagen: Je mehr ich weiß, um so mehr weiß ich, daß ich nichts weiß. Die geistige Auseinandersetzung im hermeneutischen Sinn funktioniert nach einem Rekonstruktionsprinzip. In gewisser Weise ist es dem der Psychoanalyse ähnlich. Es sagt, daß wir dann etwas erkennen, wenn wir es als Teil eines verborgenen Ganzen eines Zusammenhangs betrachten und es auch dorthin einordnen können. Das Ganze läßt sich so nur über den Vorgang des ergänzenden und zusammensetzenden Erschließens und Deutens erkennen. Dabei wird das Vorverständnis in der Regel zum Ausgangspunkt für die Erinnerung an das noch verborgene, sich nur in Symbolen äußernde Eigentliche. Dieser Vorgang im Erkennen und Denken wird hermeneutisches Verstehen genannt. Es ist die Gewinnung eines harmonischen Bildes einer Sache, das ein Objekt im Subjekt als stimmige Einheit vergegenwärtigt. Voraussetzung ist, im Gegensatz zur Dialektik, die Subjekt-Objekt-Einheit oder zumindest eine konfliktfreie Verbindung von Subjekt und Objekt. Zu den Voraussetzungen gehört ebenso, daß es das Ganze überhaupt gibt, z.B. den ganzen Menschen, die ganze Menschheit, die ganze Geschichte usw., an dem dann die Teile teilhaben. Eine Form der Teilhabe könnte ein Konsens sein oder eine Art von Analogie, einer Ähnlichkeitsbeziehung, die sagt, alles hängt mit allem zusammen, im Unterschied zur Dialektik, die sagt, daß alles mit allem in und durch Trennung lebt. Beide, Dialektik und Hermeneutik, wollen die Trennung zwar aufheben und zu einer Einheit machen oder werden lassen, also zu einem Ganzen mit einer einheitlichen Identität, sie unterscheiden sich aber grundlegend in den Wegen. Für die Dialektik ist das Ganze im Grunde bereits der im Widerspruch lebende Teil. Für die Hermeneutik ist das Ganze die Summe der Teile. Daher versucht auch die Dialektik, die Einheit des Ganzen durch Aufhebung, durch Beseitigung oder auch durch das schmerzliche und konfliktreiche Durchleben von Widersprüchen herzustellen. Die Hermeneutik hingegen will das Ganze durch den Rekurs auf die Überlieferung, auf die Tradition, in deren Schema sie einrückt, harmonisch, organisch und eher schmerzfrei zur Einheit bringen. Der Begriff der Einheit, der dabei immer verwendet wird, ist ein Symbol für die Suche nach dem Sinn. Wenn der Sinn sich erfüllt, ist die Einheit erreicht. Zum Bezugsfeld 2: und Hermeneutik

Sprache als Kommunikations- und Interaktionsträger

der Dialektik

Die Dialektik als Kunst der Gesprächsführung ist im Gegensatz zur Überredungskunst der Rhetorik wesentlich inhaltliche Überzeugungskunst. Aus dem Wechsel von Meinung (These) und Gegenmeinung (Anti-These) entsteht der Kompromiß (Synthese), der bekanntlich so lange hält, solange nicht der ursprüngliche Widerspruch aufflackert. Dialektische Gesprächsfühdie Gegensätze nicht rung deckt Gegensätze auf und treibt über sie das Gespräch voran. Sind sichtbar, so werden sie bisweilen auch direkt geschürt. Eine sich dialektisch verstehende Erziehung läßt z.B. Störungen und widersprüchliche Forindem sie sich heraushält men des Verhaltens als Quellen positiver Prozeßentwicklung zu, und den Prozeß sich selbst und seiner autonomen Regulierungsenergie überläßt. Die Hermeneutik als Kunstlehre des Verstehens und des Sich-Verständlich-Machens sucht hingegen von vorne herein nach Gemeinsamkeiten. Es geht ihr nicht um Ausdifferenzierung, sondern um Zusammenführung durch Teilhabe. Das Verstehen der Symbolik eines Textes

Modelle des

92

Erziehungsbegriffs

und eines Kontextes geschieht durch die Rekonstruktionsarbeit und durch das Ergänzen zu einem Ganzen aus Bruchstücken, ähnlich der Arbeit eines Archäologen, der aus den Teilen einer Vase auf die Lebensweise der Menschen in dieser Kultur schließt. Eine sich hermeneutisch verstehende Erziehung sieht im abweichenden Verhalten einen Regulierungsbedarf. Sie läßt Menschen nach der Aufdeckung dessen, was sie in einer Beziehung zu anderen stört, nicht allein. Sie führt sie auch nicht zu einem Nullpunkt, aus dem heraus sie zu neuer Autonomie finden sollen, sondern sie sucht nach Gemeinsamkeiten für einen Neubeginn und appelliert an die harmonisierende Wirkung gegebener Ordnungen.

Bezugsfeld 3: Das Sein der Gesellschaft als Geschichte gesellschaftlicher Verhältnisse Am deutlichsten wird der Unterschied dort, wo Dialektik und Hermeneutik als Prinzipien des Seins, als Mechanismen der Welt und der Geschichte betrachtet werden. Die Dialektik ist das

Prinzip für Werden und Vergehen der Geschichte und insbesondere der gesellschaftlichen Verhältnisse, die durch die Abfolge von Konflikten, Revolutionen und Kriegen gegensätzlicher Gruppierungen (bzw. Klassen) entstehen. Der Hermeneutik hingegen geht es um den inneren Zusammenhalt und Zusammenhang der gegensätzlichen Parteien. Auf dem Weg der gesellschaftlichen Entwicklung in Richtung einer besseren Welt ist die Dialektik sezierend und die Hermeneutik ausgleichend. (c) Dialektische men

und hermeneutische der Selbstverwirklichung.

Emanzipation präferieren

unterschiedliche For-

Die dialektische Emanzipation ist ein Prozeß der Veränderung realer Gegebenheiten und Strukturen, ein Prozeß, der unentwegt Kraft erfordert und in dem permanent innere und äußere Hindernisse und Blockaden mühsam überwunden werden müssen. Ziel ist die Selbstverwirklichung in der Gesellschaft. Aus diesem Blickwinkel wird die hermeneutische Emanzipation als gesellschaftliche Resignation und Flucht in eine entpolitisierte Scheinwelt betrachtet, die nach außen hin blind ist. Wenn im Rahmen der dialektischen Emanzipation überhaupt von einer Harmonie die Rede sein kann, so sieht sie eine solche eher im Vorhandensein gerechter Verhältnisse. Da es diese aber nicht auf allen Ebenen gibt und vielleicht überhaupt nicht für alle Menschen gleichermaßen geben kann, muß die Gesellschaft stets von Neuem humanisiert werden. Die hermeneutische Emanzipation sieht ihre Erfüllung mehr in der Suche nach einer inneren Harmonie. In ihr befreit sich das Subjekt von den äußeren Zwängen der Gesellschaft, um zu einer Einheit mit sich zu gelangen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst werden dabei so wie sie sind bewahrt. Eine dialektische Emanzipation wird in gleichem Tenor als destruktive Opposition klassifiziert. Exkurs: Hinter der Dialektik und der Hermeneutik stehen auch gegensätzliche, weltanschauliche Haltungen. Wollte man sie durch thesenformige Kalendersprüche verdeutlichen, so könnten sie in etwa so lauten: -

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Dialektik: Aus nichts wird etwas. Aus etwas wird nichts. Hermeneutik: Aus nichts wird nichts. Nur aus etwas wird etwas. Dialektik: Je mehr Reichtum, um so mehr Armut. Hermeneutik: Je mehr Reichtum, um so weniger Armut. Dialektik: Je mehr Verstehen, um so mehr Erkenntnis von Verschiedenheit. Hermeneutik: Je mehr Verstehen, um so mehr Erkenntnis von Gemeinsamkeit. Dialektik: Konflikte sind unvermeidbar und notwendig, denn sie reinigen die Welt und zeigen die Wahrheit.

Kapitel

III:

Erziehung als Emanzipationshilfe

93

Hermeneutik: Konflikte sind vermeidbar und unsinnig, denn sie zerstören die Welt und lenken von der Wahrheit ab. Gibt es überhaupt eine Synthese vor dem Hintergrund der Tatsache, daß es den Anschein hat, als würden Menschen nicht zusammenpassen, obwohl sie zusammengehören, weil sie zusammenleben (müssen)?

2. 5. 2.

Grundlagen

des

emanzipatorischen Erziehungsbegriffs

Der Entwurf einer emanzipatorischen Pädagogik ist eher ein kritisches Gedankengebäude als ein praktisches Konzept. Das hängt vor allem damit zusammen, daß Erziehungsmethoden generell den Verdacht einer Manipulation nicht gänzlich von sich weisen können. Pädagogik, die Erziehung weitgehend instrumentalisiert, läuft Gefahr, den Menschen zum Objekt fremder Interessen zu machen. Zu diesem Zusammenhang wollen wir drei Positionen umreißen:

(1) Theodor Adorno entwirft in ,Erziehung zur Mündigkeit' (4. Aufl. 1975, S. 88 147) im Gespräch mit Helmut Becker seinerzeit Direktor für Bildungsforschung in der Max-PlankGesellschaft in Berlin ein Resümee seines schon 1959 begonnenen Disputes um eine Erziehung nach Auschwitz. Der Sinnlosigkeit einer grenzenlosen Barbarei kann nur durch eine Erziehung in Form kritischer Selbstreflexion entgegengearbeitet werden. Erst durch sie wird das verdinglichte Bewußtsein, das sich nur blind an Kollektive anpaßt, als schuldig erkannt. Unter Erziehung versteht er (S.107): „Eben nicht sogenannte Menschenformung, weil man -

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kein Recht hat, von außen her Menschen zu formen; nicht aber auch bloße Wissensvermittlung, deren Totes, Dinghaftes oft genug dargetan war, sondern die Herstellung eines richtigen Bewußtseins. Es wäre zugleich von eminenter politischer Bedeutung; seine Idee ist, wenn man so sagen darf, politisch gefordert. Das heißt: eine Demokratie, die nicht nur funktionieren, sondern ihrem Begriff gemäß arbeiten soll, verlangt mündige Menschen. Man kann sich verwirklichte Demokratie nur als Gesellschaft von Mündigen vorstellen." Mündigkeit ist für ihn „in eine Dialektik verstrickt" (S.108) zwischen ideologischer Verdunklung und rationaler Klarheit, zwischen zeitweise notwendiger Anpassung und sich davon befreiender Rationalität. „Mündigkeit bedeutet soviel wie Bewußtmachung, Rationalität. Rationalität ist aber immer wesentlich auch Realitätsprüfung" (S.109). Gemeint ist damit vor allem permanente Kritik. Es geht in der Erziehung darum, „Widerstand zu kräftigen" und nicht darum, „Anpassung zu verstärken" (S.l 10). Voraussetzung dazu ist eine neu zu gewinnende Erfahrungsfähigkeit. So sagt er (S. 113): „Der tiefste Defekt, mit dem man es heute zu tun hat, ist der, daß die Menschen eigentlich gar nicht mehr zu Erfahrung fähig sind, sondern zwischen sich und das zu Erfahrende jene stereotype Schicht dazwischen schieben, der man sich widersetzen muß." Die Masse meidet für ihn das Differenzierte, weil es anstrengend ist, weil es den Kopf forden und, nach Karl Jaspers, die Daseinsorientierung erschweren würde. Adorno beruft sich dabei auch auf die Tiefenpsychologie: „Die Herstellung der ErfahrungsfäAbbau dieser Verdränhigkeit bestünde sehr wesentlich im Bewußtmachen und damit imselber ihre Erfahrungsfäden Menschen die in und Reaktionsbildungen, gungsmechanismen die Feindschaft ist der von die Punkt, Nicht „sondern Bildung" „Absenz higkeit verkrüppeln."

dagegen" (S. 115).

Das Plädoyer Adornos läuft damit in die Richtung einer Förderung der Rationalität. Nur durch sie lebt das kritische Bewußtsein. Nur durch sie ist Ideologiekritik möglich. Allerdings zeigt in diesem Zusammenhang die Frage, wieviel Anpassung dabei erlaubt sei, oder wo die blinde Anpassung zu einem „verschlampten Bewußtsein" (S. 118) wird, auch die paradoxe Situation

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Erziehungsbegriffs

der Erziehung. Sie steht im Spannungsfeld von Manipulation und Widerstand, von Individualität und Gesellschaftlichkeit, von Theorie und Praxis. Weiter meint er: „Aber dann muß die Erziehung auch auf diesen Bruch hinarbeiten und diesen Bruch selber bewußt machen, anstatt ihn zuzuschmieren und irgendwelche Ganzheitsideale oder ähnlichen Zinnober zu vertreten"

(S. 119). Eine „Erziehung zur Entbarbarisierung" ist zunächst im Anschluß an die Erkenntnisse aus der Psychologie mit dem „primitiven Angriffswillen" und dem „Destruktionstrieb" (S. 120) konfrontiert. Barbarei ist die perfektionierte Form von Unterdrückung und von Vernichtung individueller Lebensrechte um der Aufrechterhaltung irrationaler Macht willen. Die Geschichte lebt geradezu von solchen Beispielen. Aber auch in der Kultur wie auch Freud zeigt liegen repressive, den Menschen unterdrückende, Momente. Auch durch sie wird Barbarei produziert und reproduziert (S. 122). Gegen sie nutzt jedoch keine Rationalität in der Form einer „Reflexion in abstracto" (S. 125). „Reflexionen müssen selber in ihrem humanen Zweck durchsichtig sein" (S. 125). Dabei stellt sich die Frage, ob das in unserer Wettbewerbsgesellschaft überhaupt möglich ist. Die Antwort Adornos darauf: Man muß den Menschen abgewöhnen, „die Ellenbogen zu gebrauchen" (S. 127). Die eigentliche Erziehung zur Mündigkeit entwirft Adorno, indem er Kant zitiert: „Aufklärung ist Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" (S. 133). Zur Verwirklichung dessen „sind die Fähigkeit und der Mut jedes Einzelnen, sich seines Verstandes zu bedienen, vorausgesetzt" (ebenda). Auf das Problem, daß die Bildungsfahigkeit bereits im Kleinkindalter festgelegt wird, und sozusagen die Unmündigkeit vorprogrammiert ist, kommt eine Anklage: „Man sagt im allgemeinen, daß die Gesellschaft, nach dem Wort von Riesmann, ,von außen her gesteuert', daß -

sie heteronom sei, und

man

unterstellt dabei

einfach, daß, wie

-

es

ganz ähnlich auch Kant in

jener Schrift ausführt, die Menschen mehr oder minder widerstandslos das schlucken, was das überwältigende Seiende ihnen vor Augen stellt und außerdem noch ihnen einbleut, als ob, was einmal ist, so sein müßte" (S. 141). In dieser Verstrickung spielen die Menschen Rollen, die ihnen ihre Identität rauben: „Wenn die Rolle zu einem sozialen Maß gemacht wird, so wird darin auch perpetuiert, daß die Menschen nicht die sind, die sie selbst sind, also daß sie unidentisch sind" (S. 141). Erziehung zur Mündigkeit muß diese Ohnmacht beseitigen. Dazu muß sie die Manipulation allerorts entlarven. Sie muß sich bewußt werden, „daß die Welt betrogen werden will" (S. 146), und sie muß Kräfte zum Widerstand dagegen wecken. „Wer ändern will, kann es wahrscheinlich überhaupt nur, indem er diese Ohnmacht selber und seine eigene Ohnmacht zu einem Moment dessen macht, was er denkt und vielleicht auch was er tut" (S. 147). nun

(2) Klaus Mollenhauer versucht in ,Erziehung und Emanzipation' (3. Aufl. 1970), die Notwendigkeit einer emanzipatorischen Erziehung über eine polemische Skizzierung der Gesellschaft zu begründen. Ziel ist die „Aufhebung von Verdinglichung und Selbstentfremdung des Menschen" (S. 10; er zitiert dazu H. Blankerts, siehe Literaturangabe dort). Dieses Ziel zu erreichen, bedarf der Empirie wie auch der Kritik an ihr. Unter Kritik versteht er „nichts anderes als (die) intersubjektiv prüfbare Analyse der Bedingungen für Rationalität" und unter Emanzipation „die Befreiung der Subjekte- in unserem Fall der Heranwachsenden in dieser Gesellschaft- aus Bedingungen, die ihre Rationalität und das mit ihr verbundene gesellschaftliche Handeln beschränken" (S. 11). Der Erziehungsforschung im Rahmen empirisch-analytischer Erziehungswissenschaft wirft er vor, Erziehung nur zum Objekt der Erkenntnis zu machen, so als existiere sie ganz „außerhalb der Sinn-Intentionen einer Kommunikationsgemeinschaft" und der darin enthaltenen „kommunikativen Erfahrung", zu der die Forschenden selbst gehören (S. 15).

Kapitel III: Erziehung als Emanzipationshilfe

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An den emanzipatorischen Bestrebungen anderer Pädagogiken kritisiert Mollenhauer, daß sie „eine idealistische Konzeption des guten Willens und der reinen pädagogischen Gesinnung" (S.24) seien. Sie stehen damit auf der Stufe der reinen Reproduktion von Überlieferungen. Emanzipatorische Pädagogik hingegen arbeitet „gegen dieses Niveau" (S. 27). „Ein derart emanzipatorischer Begriff von Erziehung ist nicht mehr funktional, sondern im Sinne des gegebenen sozialen Systems dysfunktional. Er markiert einen gesellschaftlichen Konflikt" (S. 27). „Konflikte und Antagonismen" stehen in einem Wirkungszusammenhang und sind konstitutiv für die Erziehung (S. 35). Was Mollenhauer damit meint, wird im Kapitel „Jugend und Schule im Spannungsfeld gesellschaftlicher Widersprüche deutlich" (S. 97 118). Zunächst geht er davon aus, daß das Bild von Aggressivität generell gegen die Prinzipien von Zucht, Autorität und Gehorsam gerichtet -

sind. Der oppositionelle Protest der Jugend dagegen wird damit sofort zu einer Schuld oder als Ausdruck von Unreife betrachtet. Auf diese Weise reproduziert sich auch die permanente Identitätskrise der Jugend. Unterstützt wird dies auch noch von den Forschungsergebnissen der Anthropologie, die sagt, daß der Mensch „darauf angewiesen ist, das bereits Entwickelte und gleichsam als kulturelles Arsenal der Daseinsbewältigung zur Verfügungstehende" sich anzueignen (S. 100). „Verschleiert wird in solcher Meinung, daß die zu überliefernden Ordnungen nicht schon dadurch als vernünftig ausgewiesen sind, daß sie sich, wie es dann ebenso verschleiernd heißt, bewährt haben, daß die erwachsene Generation in ihnen ihre Sicherheit gefunden hat... Sie beschränkt vor allem den Blick dafür, daß der Prozeß des Überlieferns auch als eine Veränderung des Überlieferten bis zur völligen Verformung gedacht werden kann" (S. 100). Das Hauptziel vor diesem Hintergrund ist die Aufdeckung von Widersprüchen in der Gesellschaft (S. 102 117, hier ohne Numerierung): -

von Integration und kritischer Beteiligung", wobei vor allem "das Ereigenen Interesses oder der Gruppeninteressen die notwendige, aufklärende Voraussetzung einer politischen Beteiligung" ist. „Der Widerspruch zwischen Aufstiegschancen und Aufstiegsstreben", der zeigt, daß „Mädchen diesem Widerspruch noch stärker, noch folgenreicher ausgeliefert" sind. „Der Widerspruch zwischen der Suggestion des schönen Lebens und tatsächlicher Abhänals gigkeit". Zitat: „Ein 16-jähriger Lehrling formulierte das so: Im Betrieb gelten wir nuraber halbe Figuren; zu Hause müssen wir, wenn es darauf ankommt den Mund halten;

„Der Widerspruch

kennen des

..,

,

wir ein Geschäft betreten und für Geld etwas kaufen, dann werden wir mit Herr und Fräulein angeredet, und dann benehmen wir uns auch danach". Der Widerspruch zwischen ökonomischem Interesse und Bildungsinteresse" Die Investitionen in die Bildung und die Forderung nach Effektivität gehen an den Interdes Kindes" essen der zu Bildenden vorbei. Daher muß der Pädagoge sich zum "Anwalt

wenn



machen.

-

„Der Widerspruch zwischen der politischen Funktion der Allgemeinbildung und ihrem faktisch unpolitischen Charakter" Die Institution Schule wird ihrem Auftrag, mündige Bürger hervorzubringen, nicht gerecht. „Der Widerspruch zwischen rationalem Anspruch und irrationaler Wirklichkeit" Die Gesellschaft und insbesondere die Institutionen lassen Kritik an sich selbst nicht zu. Damit wird die unentbehrliche Fähigkeit, Herrschaft als Herrschaft zu erkennen, blockiert.

Modelle des

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-

Erziehungsbegriffs

Wenn das sich aus den Widersprüchen ergebende „Unbehagen" nicht „im Privaten, in infantilen Regressionen, im Narzißmus" stecken bleiben will, dann müssen die sich daraus ergebenden Defizite für die heranwachsende Generation bearbeitet werden.

Es sind:

„das Defizit an Beteiligungs- und Entscheidungsspielraum" „das Defizit an Gerechtigkeit im Hinblick auf die Verteilung der Lernchancen" „das Defizit an emanzipierter Freizeit" „das Defizit an Autonomie gegenüber den wirtschaftlich herrschenden Interessen" „das Defizit an politischem Bewußtsein und politischer Bildung" „das Defizit an Rationalität in unserem Erziehungssystem". Daß danach ein Kapitel „Zur pädagogischen Theorie der Geselligkeit" (S. 119 133) folgt, ist

-

-

Absicht. Mollenhauer will zeigen, daß einige Größen der Pädagogik unter ihnen auch Rousdoch recht verknöcherte Typen waren. Sie haben zwar von Freiheit geseau und Pestalozzi aber selbst waren Dilettanten, die vernarrt waren in den Gedanken der Pädagogisierung redet, und damit der Instrumentalisierung der Erziehung. Und dabei gibt es eben kein Pardon. Denn Erziehung ist schließlich eine ernsthafte Sache. Was Mollenhauer vielleicht sagen will, ist dies: Es fehlt dieser Pädagogik besonders unter der Obhut deutscher Mentalität an der Atmosphäre wirklicher Geselligkeit, an Offenheit, Unstrukturiertheit und Zwanglosigkeit, in der erst eigentlich die aufklärerischen Gedanken gedeihen können. Schließlich jedoch werden im Kapitel „Gesellschaftliche Bedingungen der Sozialpädagogik" (S. 134 150) weitere kritische Töne angeschlagen. Es wird die Frage bearbeitet, ob eine Emanzipation aus der „Dissozialität" im Rahmen der Jugendhilfe nicht ein endloses Unterfangen ist. Denn einerseits müssen die sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Bedingungen, die von einander abhängig sind, geändert werden, andererseits setzt diese Änderung die Möglichkeit dazu voraus, die wiederum erst durch entsprechende strukturelle Freiräume entstehen kann. Das Unternehmen gerät in einen Kreis, der nur mühsam zu durchbrechen ist. Sollte es gelingen, so entsteht eine weitere „fatale Situation" für die Jugendhilfe: „Denn selbst wenn sie durch eine konsequente Veränderung der Bedingungen, unter denen sie zu erziehen sucht.... den Kreis durchbrechen wollte, würde sie nicht mehr leisten können, als nun dem einzelnen Probanden nach seiner Entlassung den Kampf mit der Sozialstruktur aufzubürden" (S. 150). Hilfe zur Selbsthilfe bzw. „Fürsorge als persönliche Hilfe" gleicht einer „bewußtlos resignativen Anpassung in die Unvermeidlichkeit der Zirkels". Das einzige, was den Fürsorgeeinrichtungen bleibt, ist die Aufhebung von „restriktiven Bedingungen" im Einzelfall (ebenda). Im Anschluß daran wird eigentlich nur um so deutlicher, daß für Mollenhauer nur durch politische Bildung als politischer Aufklärung etwas erreichbar ist (S. 151 168). Dazu rechnet er auch „solche Lernfelder, die außerhalb jedes organisierten Bildungsprozesses liegen, wie politische Clubs, ad-hoc-Solidarisierungen, Demonstrationen usw." (S. 167). -

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(3) Paolo Freire hat in seiner ,Pädagogik der Unterdrückten' (1973, 1990) ein emanzipatorisches Konzept entwickelt, das weltweit Beachtung fand. Die darin beschriebene Pädagogik gilt zwar vorwiegend den Menschen der Dritten Welt, seine Forderung nach Bewußtmachung der Ursachen und Mechanismen der Unterdrückung richtet sich aber auch gegen die traditionellen Bildungssysteme, die der Entmündigung Vorschub leisten (siehe Klappentext). In der Einführung von Ernst Lange (ebenda S. 9 23) wird der grundlegende Standpunkt zu dieser Pädagogik deutlich gemacht. Menschen, die in Unterdrückung leben, hausen fur Freire zugleich auch in einer „Kultur des Schweigens". Sie leiden dort mit der Zähigkeit einer „On-

kel-Tom-Mentalität" in Gettos, wobei der Beherrschte sich selbst beherrscht „im Interesse der Herrschenden" (S. 11). Etwas weiter schreibt Lange: „Wo marginale Gruppen sind, da ist

Kapitel

III:

Erziehung als Emanzipationshilfe

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immer nach den Verhältnissen zu fragen, die sie marginalisieren. Und nur über die Veränderung dieser Verhältnisse durch die Marginalisierten selbst und mit ihnen ist dem Phänomen beizukommen" (S. 11). Dazu sind für ihn vor allem die Kirchen aufgerufen. Die „Kultur des Schweigens" muß zu einer des Wissens werden, um das Gesetz „Wissen ist Macht" zu durchbrechen. „Die Herrschaft der Wissenden ist gefährlich, weil sie sich nicht allein über den gesellschaftlichen Status oder das Eigentum an Produktionsmitteln, sondern über ein selektives Sozialisations- und Bildungssystem aufrechterhält.."(S. 12). „Die Macht ...

der einen braucht die Dummheit der anderen" (S. 13). Das Denksystem Freires bezieht sich stark auf die Dialektik bei Hegel, insbesondere auf se ine Ausführungen zum Verhältnis von Herr und Knecht. Dabei ist die Solidarität mit den Unterdrückten ein „Akt der Liebe" (S. 37). Marxistisch argumentiert Freire an der Stelle, an der er von einer kämpferischen Solidarität spricht: „Man muß den wirklichen Druck noch drückender machen, indem man ihm das Bewußtsein des Drucks hinzufügt, die Schmach noch schmachvoller, indem man sie publiziert" (Marxzitat, Literaturangabe S. 38). Die Unterdrückten müssen ihre wahren Interessen erkennen, im Gegensatz zu den Interessen der Unterdrücker. Sie erkennen dabei oft nicht, daß ihre Kolonialisierung nicht von ihnen kommt, sondern von oben. Deswegen richtet sich auch ihre Aggression hauptsächlich „horizontal" gegen sich selbst. Sie bekämpfen sich untereinander, anstatt sich gegen die Verursacher aufzulehnen (S. 48). Freire zeigt nun, daß nur eine emanzipatorische Pädagogik dem entgegenwirken kann. In ihr geht es darum, die Kultur des Schweigens zum Reden zu bringen. Dazu sind Lern- und Bildungsprozesse erforderlich, die von vornherein eine Sozialisierung mittels Infiltration von ungerechtfertigter Herrschaft verhindern. Was geändert werden muß, ist das grundlegende Verhältnis von Lehrer und Schüler. Es muß ein dialogisches werden. Der Lehrer muß zum Lehrer-Schüler und der Schüler zum Schüler-Lehrer werden, um dem Widerspruch einer „Bankiers-Erziehung" zu entgehen, in der nur über die Köpfe hinweg doziert wird und in der lediglich Anpassung und Passivität gelehrt werden (S. 58 u. 61). „Befreiende Erziehungsarbeit besteht (dem gegenüber) in Aktionen der Erkenntnis, nicht in der Übermittlung von Informationen" (S. 64). Ausgangspunkt dazu ist nicht eine Pädagogik, die im „Labor" entsteht (S. 65), sondern die im „Hier und Jetzt" ansetzt, „das die Situation konstituiert, in der er (der Mensch) untergetaucht ist" (S. 69). „Ein vertieftes Bewußtsein seiner Situation führt den Menschen dazu, die Situation als eine historische Wirklichkeit zu begreifen, die der Verwandlung zugänglich ist" (S. 69). Und weiter schreibt er: „Die problemformulierende Bildungsarbeit als humanistische und befreiende Praxis geht von der grundlegenden These aus, daß Menschen, die der Herrschaft unterworfen sind, für ihre Emanzipation kämpfen müssen. Für dieses Ziel befähigt sie Lehrer und Schüler, Subjekte des Erziehungsprozesses zu werden, indem sie Autoritarismus und entfremdenden Intellektualismus überwindet" (S. 70). Eine Änderung der Lebenssituation aber ist für ihn nicht durch einen politischen Aktionismus erreichbar, sondern nur durch den Dialog. Durch ihn muß der (lernende) Mensch zu einem „historischen Gewahrwerden" seiner Situation kommen. Für die Pädagogik heißt das, sie muß dazu beitragen, „Welt zu repräsentieren" (S. 91). Die Methode, die er dazu erarbeitet hat, geht von Schlüsselwörtern der natürlichen Kommunikation aus. Das sind für ihn „generative Wörter" eines „lebendigen Codes" (S. 93 f.) So ist z.B. das Wort „Armenviertel" (favela) ein solches. Es zu betrachten bedeutet, es lesen und schreiben zu können, es mit anderen Wörtern kombinieren zu können. Das Ziel dieser Art von Alphabetisierung ist es, eine Distanz zur erdrückenden Last der realen Bedeutung der generativen Wörter zu bekommen. Die didaktischen Mittel dazu nimmt Freire aus einer modernen Enkulturationspädagogik, was für unsere

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Erziehungsbegriffs

Augen gewiß nicht unproblematisch erscheint. Andererseits geht es ihm aber um eine sinnstiftende Bildung, für die technische Hilfsmittel nur Brückenfunktionen haben. Im letzten Kapitel wird deutlich, worum es in Freires Pädagogik geht: Es geht ihm um Veränderung, um „Vermenschlichung als dauernder Prozeß" (S. 114). Schritte dazu (S. 116 157) sind die Emanzipation von der „Unterwerfung", die Loslösung vom Machtprinzip „teile und herrsche", die Bewußtmachung jeglicher Form von „Manipulation", die Verhinderung einer teils schleichenden, teils gewaltsamen „kulturellen Invasion", die Förderung von „Kooperation" durch den Dialog, die Mobilisierung einer „Einheit zur Befreiung", die Errichtung einer „Organisation", die den Prozeß begleitet, und die schrittweise Verwirklichung einer „kultu-

rellen Synthese". Sie besteht in der Wertschätzung der Unterdrückten durch die Unterdrücker und in der Möglichkeit, die Wertschätzung von den Unterdrückern auch einzufordern.

2. 5. 3.

Auswirkungen des Emanzipationsbegriffes auf pädagogische Strömungen

Das emanzipatorische Gedankengut fand trotz des Scheiterns der Revolte der 68er einen doch recht wirksamen geistigen Eingang in verschiedene Bewegungen, die die Idee der Emanzipation weiterentwickelt haben. Es lassen sich bis heute im wesentlichen drei Strömungen unterscheiden:

(a) die Friedensbewegung und Friedenspädagogik

(b) der Feminismus und die feministische Pädagogik (c) die Ökologie-Bewegung und Öko-Pädagogik Obgleich diese Richtungen von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen und auch unterschiedliche Ziele verfolgen, ist ihnen die Idee einer Befreiung von Unvernunft gemeinsam. Leider ist es uns in diesem Rahmen nicht möglich, genauer und ausführlicher die einzelnen Strömungen zu behandeln. Wir können auch nicht auf die Auswirkungen der zahlreichen emanzipatorischen Initiativen eingehen, die alle mit dem Wort „Selbst" beginnen, wie z.B. Selbsthilfe, Selbsthilfegruppe, Selbstorganisation und Selbstverwaltung. Wir wollen es trotzdem nicht unterlassen, die Hauptbewegungen kurz zu beschreiben. Für eine Vertiefung empfehlen wir die angegebene Literatur. (a) Friedensbewegung und Friedenspädagogik (Vgl. im folgenden Chr. Wulf. 1974, S. 218 223, sowie die ausführlichen Literaturangaben dazu.) Kriege und organisierte Gewalt gehören zu den Prototypen von Unvernunft. Sie erzeugen international Leid und Elend. Eine Gesellschaft, die vernünftige Individuen erziehen will, -

muß sich also dem offen stellen. Sie muß Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit zu Prinzipien erheben. Friedenserziehung ist damit eine der größten Herausforderungen der emanzipatorischen Erziehung überhaupt. Sie muß sich zunächst mit den strukturellen Bedingungen der Gewalt beschäftigen. Sie muß also fragen, woher Gewalt kommt, was sie auslöst und welche Formen sie zeigt und welche Wege sie geht. Dabei ist eine Theorie der Gesellschaft, eine Theorie ihres funktionalen Aufbaus und ihrer Ideologie ebenso erforderlich, wie eine Theorie zum Individuum, das z.B. über aggressives Verhalten auf konkrete Bedingungen reagiert. Die konkrete Friedenserziehung bildet dabei ein äußerst sensibles Feld. Zum einen wird die Vorstellung vertreten, daß sich die Orientierung an einem friedfertigen Modell, in dem Konflikte partnerschaftlich ausgehandelt werden, sich auch nach außen hin multipliziert und nicht wieder Erziehungsprivileg weniger bleibt. Dahinter verbirgt sich die Hoffnung, daß es über die Bildung von friedfertigen Einstellungen vor allem im affektiven Bereich auch zum fried-

Kapitel

III:

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fertigen Handeln kommt. Zum anderen will man auch Strukturen, die die Gewalt fördern entweder verändern oder sie im Entstehen verhindern. Dazu ist ein starkes Maß an politischer Aktivität erforderlich, dann auch wach zu sein, wenn sich neue Gefahren in der Gesellschaft diesbezüglich anbahnen. Daß dies angesichts einer weitverbreiteten politischen Lustlosigkeit, Sorglosigkeit und fehlender Zivilcourage (Chr. Wulf spricht von „politischer Apathie") oft sehr schwierig ist, ist einsichtig. Das methodische Vorgehen, den Erziehungsprozeß darauf zu lenken, skizziert eher allgemeifür manifeste und latente ne als konkrete Schritte. So sollen „die Wahrnehmungsfähigkeit Konflikte" geschärft werden, die „Konfliktfähigkeit" entwickelt und das „Verfahren der Konfliktaustragung" vermittelt werden (S. 219). Das emanzipatorische Ziel dazu lautet: Bewußtmachung von subjektiven Interessen. Dabei ist es auch eine Angelegenheit der Didaktik, ob deduktiv mit veranschaulichenden Lernhilfen gearbeitet wird oder ob induktiv von der konkreten Konflikterfahrung ausgegangen wird. Es soll jedenfalls zu einem „Prozeß der Bewußtwerdung" (ebenda) kommen. (Chr. Wulf zitiert hier auch P. Freire.) Um diesbezüglich auch eine politische Einflußnahme geltend machen zu können, sind zu diesem Prozeß alle gesellschaftlichen Bereiche, vor allem auch die Medien, gefordert. Unter anderem hat insbesondere die „Aufdeckung von rüstungswirtschaftlichen Interessen" dabei Priorität (S. 220). Die Friedensbewegung fand ihren Höhepunkt in Bürgerinitiativen größeren Ausmaßes gegen Aufrüstung und atomare Bedrohung. Gegenwärtig scheint sie nicht mehr auf eine breitere Solidarität zurückgreifen zu können. Vielleicht ist auch der Gedanke einer gewaltlosen Selbstverteidigung in etwas weitere Ferne gerückt. Auch das anscheinend in der Öffentlichkeit doch weiter verbreitete Verständnis für die Krawalle rechtsgerichteter Gruppen gegen Ausländer deutet auf ein merkwürdig ambivalentes Bewußtsein hin. Es will zwar tolerant sein, tut aber so, als ob die Gewalt doch ein legitimes Mittel sei, einen möglicherweise einmal emanzipatorisch hart errungenen Lebensstandard zur sichern. Exkurs: So läßt sich auch nach vollziehen, daß ein Sozialpädagoge und Leiter einer Asylunterkunft in einer Diskussion zum Thema Ausländerfeindlichkeit meint, daß er beim besten Willen kein Verständnis mehr für Skinheads, die ganz wild darauf seien, „Molis" (Molotowcocktails) unter die Stockbetten zu werfen, aufbringen könne, weil ihm allein bei dem Gedanken schon die „Kotze hochsteigen würde". Eine jüngere Kollegin meint jedoch dem gegenüber, daß die Gegengewalt auch keine Antwort sei, sondern daß es gerade darauf ankäme, sich eben in die Situation dieser Jugendlichen hineinzuversetzen. Denn wer außer der Sozialarbeit setzt sich noch mit den abartigen Phänomenen in der Gesellschaft auch erzieherisch auseinander? In der Diskussion kommen sie sich zwar in ihren Standpunkten nicht näher, sie können sich beide aber wenigstens darauf einigen, daß der Prophylaxe diesbezüglich weitaus mehr Bedeutung vor allem von den politisch Verantwortlichen eingeräumt werden müsse. Solange die Sozialarbeit eine nur schlecht bezahlte Reparaturwerkstätte bleibe, wird sich nichts daran ändern. Im Gegenteil. ...

(b) Feminismus und feministische Pädagogik Den wahrscheinlich größten Einfluß hat der Emanzipationsbegriff auf die Frauenbewegung ausgeübt. Das belegt auch die inzwischen sehr umfangreiche Literatur dazu. Die Begriffe Frauenbewegung und Feminismus sind zwar nicht identisch, sie enthalten im Kern aber beide die Forderung nach Gleichberechtigung und realer Gleichstellung der Frauen gegenüber den Männern. Dieses Recht wird für alle Bereiche eingeklagt. Damit ist nicht nur die Stellung der Frauen am Arbeitsplatz und in der Familie gemeint, sondern auch die entsprechende öffentliche Anerkennung. Letzteres hängt vor allem auch mit der Forderung nach einer neuen Sprachregelung zusammen, in der sich die Frauen auch angesprochen fühlen.

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Zur Theoriebildung der Frauenbewegung und des Feminismus als Gegentheorie zur Herrenkultur liefert das Buch von Luise F. Pusch (1983 herausgegeben) einen interessanten Beitrag. Eine feministische Pädagogik hat sich bisher jedoch noch nicht in dem gewünschten Maß etabliert. Dort, wo es sie jedoch gibt, werden meist Themen wie Frauenbildung und politische Frauenarbeit behandelt. (Vgl. dazu Helga Glantschnig 1969 S. 632 648). Nur innerhalb der Sozialarbeit werden bisher die wirklich brennenden Probleme und deren Folgen diskutiert wie z.B. Mißhandlung, Vergewaltigung und Erniedrigung von Frauen durch Männer. Die pädagogische Arbeit in Frauenhäusern und Frauenbörsen ist grundlegend emanzipatorisch. Denn sie versucht, den Frauen zunächst ein realistisches Bewußtsein ihrer Abhängigkeit zu vermitteln, insofern ist sie auch aufklärerisch tätig. Danach will sie die Frauen zu neuen Lebensperspektiven führen. -

(c) Ökologie-Bewegung und Öko-Pädagogik Die Ökologiebewegung, auch Öko-Bewegung, macht auf breiter Ebene Front gegen die zunehmende Zerstörung der Umwelt und deren lebensbedrohliche Folgen. Dabei wird ein emanzipatorischer Zusammenhang dort formuliert, wo es um die Produktion von Gütern auf Kosten natürlicher Lebensrechte des Menschen geht. Auch hier kommt die Vernunft zu Wort: Jeder Mensch hat das Recht, in einer Welt aufzuwachsen, die kein Risiko für seine Biologie darstellt, er hat ein Recht auf reine Luft, auf reines Wasser und auf unverdorbene Nahrungsmittel. Er ist darauf angewiesen, den Herstellern all jener Stoffe, die er in seinen Körper aufnimmt, in dieser Hinsicht auch vertrauen zu können. Nun wissen wir zwar, daß mit Tchernobyl die Welt zwar etwas anders geworden ist, aber längst nicht so, daß diejenigen, die an den Hebeln der Produktion von Stoffen jeder Art sitzen, verantwortlicher und im Sinne der Emanzipation auch vernünftiger für das Gemeinwohl entscheiden. Der Gedanke der Emanzipation ist in diesem Bereich somit stark vom Begriff des Alternativen geprägt. Damit ist eine Art von Gegenwirklichkeit gemeint, einer Wirklichkeit, in der das Lebensrisiko auf dem geringsten Niveau gehalten wird. Vor diesem Hintergrund will die Öko-Pädagogik zu einem verantwortlichen Bewußtsein erziehen, das der ethischen Maxime folgt, daß der Mensch nicht mehr alleiniger Mittelpunkt der Welt ist, und daß er seine wirtschaftlichen Interessen in Zukunft immer mehr nach deren Umweltverträglichkeit kritisch betrachten und entsprechend danach handeln muß. F. Preißer und A. Neumann-Lechner (1991) erörtern (S. 47 49) diesen Zusammenhang näher. Sie beziehen sich dabei auf einen Bericht des Club of Rome von 1980. Sie schreiben: „Ebendiese Qualifizierung zur Mündigkeit, die vom ,Club of Rome' mit Nachdruck geforderte Autonomie des Denkens und Urteilens als Lernziel und als Element des persönlichen Lebensvollzugs und Lebensstils sowie einer eigenständigen Urteilsbildung ist in emanzipierender.. Form ein grundlegendes didaktisches Kriterium einer erfolgversprechenden Umweltpädagogik ..." (S. 49). (Das Buch enthält auch eine umfangreiche Literaturliste.) Den größten theoretischen Einfluß auf die Öko-Bewegung und auch die Öko-Pädagogik übt das neue systemische Denken aus. Wir werden es in dem folgenden Kapitel zur systemischen Pädagogik näher erläutern. -

...

2. 6. Konkretionsversuche

emanzipatorischer Pädagogik

Die emanzipatorische Pädagogik steht dem Einsatz von Methoden prinzipiell skeptisch gegenüber. Sie sieht nämlich hinter jedem Methodikapparat eine raffinierte Form von Manipulation. Darum müssen alle Methoden, die offenkundig den Menschen zum Objekt fremder Interessen machen, ausgeklammert bleiben. Damit wird das erzieherische Handeln nicht gera-

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de erleichtert, denn ohne die Konzeption eines Weges läßt sich auch kein Ziel verfolgen. Darum muß sie sich die emanzipatorische Pädagogik auch dieselben Argumente, die sie gegen andere Pädagogiken verwendet, gegen sich selbst gefallen lassen. Um aber emanzipatorische Erziehungseinflüsse zu ermöglichen, kann nicht methodenlos gearbeitet werden. Dazu muß der anti-emanzipatorische Touch von Methoden durch ein hohes Maß an Selbstbestimmung auf niedrigstem Niveau gehalten werden. Das führt dazu, daß Methoden eher Wege, Schritte, Phasen und Perspektiven von Lernprozessen sind. Die Formel, zum Subjekt eigener Interessen zu werden, bedeutet hier, Wege zum selbstbestimmten Lernen zu finden. Der Lernbegriff, der dem zugrunde liegt, ist hier natürlich keiner, der mit der Vorstellung von Konditionierungen arbeitet. Selbstbestimmtes Lernen heißt vielmehr, selber die Anfänge zu setzen und darüber mitzubestimmen, was, wie, warum, wozu und für wen gelernt wird. Lernziele und Lerntempo werden ebenso individuell bestimmt wie die Lernformen. Dabei rückt meist der Lernprozeß selbst an eine zentralere Position als die Lernziele und -inhalte. Arbeitsfähigkeit, Umgang mit Widerständen und die Einführung von demokratischen Kontrakten und Regelungen sind die daraus hervorgehenden Faktoren, die im Lernprozeß das Verhältnis von Beziehungs- und Inhaltsebene steuern. Der zu realisierende Rahmen dafür besteht grob skizziert aus drei Schritten (Phasen): Der erste ist die Vermittlung einer authentischen Erfahrung. Sie löst Betroffenheit aus, da sie dem einzelnen einen Spiegel der Zwänge und Blockaden seiner Lage vor Augen stellt. Erst sie führt zu einem Bewußtsein dessen, was eigentlich sein sollte. Der zweite will die Herstellung eines kreativen Freiraums, in dem jeder und jede für sich jene Gegenwirklichkeit entwickeln kann, die eigentlich real sein sollte. Mit anderen Worten wird in dieser Phase eine Utopie errichtet, die den Anfang für ein Zukunftsmodell bilden soll. Der dritte strebt nach einer Konstituierung der Solidarität mit anderen, die an der Realisierung derselben oder einer ähnlichen Utopie arbeiten. Es wird in dieser Phase gefragt, was sich von den kreativen Entwürfen überhaupt realisieren läßt. Damit verbunden ist auch die Erfahrung, daß es notwendig ist, sich mit anderen zusammenzuschließen, um überhaupt etwas (politisch) verändern zu können. Exkurs: Auch hier zeigt sich erneut die dialektische Struktur der emanzipatorischen und BewußtVorgehensweise: Die Wirklichkeit als These in Form des Bewußtwerdens seins der eigenen realen Situation wird an einer Gegenwirklichkeit, an einer Anti-These und Utopie gemessen. Durch den Widerspruch zwischen dem, was ist und dem, was sein soll, kommt es zu einer Auseinandersetzung der beiden Pole. In dessen Verlauf wird das Machbare sichtbar. Es folgt eine gemeinschaftliche Aktion und mit ihr die Veränderung der Praxis in Form einer Synthese bzw. eines Kompromisses. Die Ermöglichung einer Erfahrung von Betroffenheit durch negative Abhängigkeiten, einer Erfahrung von positiver die Schlüsselbegriffe der Utopie und Vision und einer Erfahrung der Solidarität sind mehr zu verdeutlichen, wollen emanzipatorischen Praxis. Um dieses Vorgehen noch etwas den aus Praxisfeldern Schule, Jugendarbeit und Erwir exemplarisch drei Ausschnitte

wachsenenbildung darstellen.

Praxisfeld Schule: Ein Lehrer der 5. Klasse Hauptschule (30 Kinder im Alter zwischen 10 und 11) möchte das Thema „Manipulation durch Werbung" behandeln. In einer Fortbildung hat er mit anderen Kollegen und Kolleginnen über den Begriff „Erfahrung aus erster Hand" auch im Zusammenhang mit dem der Emanzipation diskutiert. Der Gesprächskreis ist zu dem Ergebnis gekommen, daß die Schule von ihrer Struktur her, emanzipatorische Versuche

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Erziehungsbegriffs

nicht in dem Maße erlaube, wie sie vielleicht erforderlich wären. Wohl aber sollte es in Zukunft möglich sein, mehr authentische Erfahrungen in den Unterricht mit einzubeziehen, auch wenn dies auf Kosten der Leistungsorientierung geschehe.

dieses, dem Emanzipationsgedanken gegenüber nicht gerade ermutigenden Ergebnisses will der Lehrer einen Versuch in diese Richtung wagen. Er verabredet mit der Sekretärin aus der Verwaltung, etwa 10 Minuten nach Unterrichtsbeginn zu ihm ins Klassenzimmer zu kommen. Er bittet sie, dort ein Schreiben des Rektors zu verlesen, in dem ein neuer Kugelschreiber angepriesen wird, der nachweislich keine Rechtschreibfehler mehr schreibe. In dem Brief wird erwähnt, daß es sich um eine Weltneuheit handele, und daß der Stift nur in Schulen vertrieben werden würde und 39,50 DM koste. Der Lehrer beginnt seinen Unterricht, indem er verkündet, daß heute eine Diktat geschrieben werden würde. Die Klasse ist nicht begeistert, schließlich aber haben alle ihr Hefte vor sich liegen und warten mit den Stiften in der Hand auf den Beginn. Nach den ersten Sätzen klopft es an der Tür. Die Sekretärin kommt herein. Sie entschuldigt sich für die Störung, aber sie habe den Auftrag vom Rektor erhalten, in allen Klassen der Schule dieses Schreiben zu verlesen. Sie müsse sich auch diejenigen Schüler und Schülerinnen notieren, die den Superstift bestellen. Nach einer kurzen Schweigepause melden sich fünf der Klasse, die den Stift für dieses Geld kaufen wollen. Sie haben offensichtlich genügend Taschengeld. Die anderen schauen zunächst etwas neidisch, dann aber melden sie sich auch der Reihe nach. Am Ende hat die Sekretärin fast dreiviertel der Klasse notiert. Sie bedankt sich und sagt, daß der Stift in einer Woche geliefert werden würde und daß sie dann das Geld einsammeln werde. Schon im Gehen sagt sie dann noch, daß sie ein Probeexemplar dabei habe und es hier lassen könne, weil dies ohnehin die letzte Klasse sei, die sie besucht hätte. Der Lehrer fährt danach mit dem Diktat fort. Nach einigen Minuten fragt bei dem Wort „Apotheke" ein Schüler, ob er nicht den Stift einmal ausprobieren könne, nachdem er ihn schließlich gekauft habe. Der Lehrer erlaubt es, und es ist klar, daß nun der Rest der Klasse um ihn herum voll Spannung schaut, ob der Stift tatsächlich alle Wörter richtig schreibt. Es dauert nicht lange, um den Betrug zu erkennen. Ein riesiger Tumult entsteht. Für den Lehrer ist das erreicht, was er beabsichtigt hatte, nämlich Manipulation am eigenen Leib zu erfahren. Das anschließende Gespräch ist für ihn ziemlich schwierig, weil er der Klasse genau erklären muß, warum er sie alle reingelegt habe. Am Ende aber glaubt er eines erreicht zu haben: Die Kinder haben erlebt, wie leicht sie manipulierbar sind. Trotz

Praxisfeld Jugendarbeit: Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch ,Die Jugendarbeit' (in der 3. Aufl. 1975) einen emanzipatorischen Weg. (In den späteren Auflagen hat er sich völlig vom Begriff der Emanzipation abgewandt, da er ihn für unbrauchbar hielt. Wir wollen in der kritischen Zusammenfassung darauf eingehen.) Was den ersten Punkt, die Erfahrung von Abhängigkeiten, betrifft, so zeigt er auf, welche Widersprüche für Jugendliche bewußt gemacht werden müssen (S. 155 162): „1. Der Widerspruch zwischen Jugendlichen und Erwachsenenrollen 2. Der Widerspruch von Pflichten und Rechten 3. Widersprüche zwischen den Erwachsenenrollen 4. Der Widerspruch zwischen Triebbedürfnis und Befriedigung 5. Der Widerspruch von Lust und Leistung 6. Der Widerspruch von ideologischer und realer Lebensperspektive 7. Der Widerspruch von Bedürfnissen und ökonomischen Chancen 8. Der Widerspruch von Mitbestimmung und Herrschaft". -

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103

Kapitel III: Erziehung als Emanzipationshilfe

Widersprüche thematisieren zu können, muß „das Feld frei sein von fremdbeLernansprüchen", von Sanktionen und Repressionen (S. 177). Hierzu schlägt 184) sechs Schritte vor: „1. Die Erfahrung verminderter Repression; 2. die Erfahrung von Verhaltensalternativen; 3. die Erfahrung verminderten Leistungszwangs; 4. die Erfahrung kollektiver Problemlösungen; 5. die Erfahrung unvermuteter Erfolge; 6. die Erfahrung als Subjekt". Neue Programme gegen Gewalt und Diskriminierung versuchen vor allem im Rahmen der Arbeit mit Mädchen und Jungen präventiv zu wirken. Durch Formen des Widerstandleistens und der Selbstverteidigung werden Schutzmaßnahmen geübt, die Mut machen wollen, sich rechtzeitig gegen Übergriffe zu wehren. Eingeschlossen darin sind auch die Anti-Rassismus-Kampagnen und deren Vision einer interkulturellen Verständigung auf breiter Ebene. Das Emanzipatorische in all diesen Ansätzen liegt in der Verteidigungsfähigkeit gegen ungerechtfertigte Dominanz schlechthin. Um diese stimmten er (S. 181

...

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Praxisfeld

Erwachsenenbildung: Das Buch ,Bildungsarbeit mit Erwachsenen' (von Klaus Bermann und Günter Frank 1977 hrsg.) beschreibt eine Reihe praktischer Konzepte für selbstbestimmtes Lernen. Grundte-

aller darin enthaltenen Artikel ist der Versuch einer Konzeption zur Gestaltung emanzipatorischer Lernprozesse. Alle die Lernenden selbst existentiell „bedrängenden Fragen und Probleme" sollen „zum Thema des Lernprozesses" gemacht werden (S. 23). Beschrieben werden ferner Lernprozesse in Bürgerinitiativen (S. 60 85), das Verhältnis von Lohnarbeit und Bildungsarbeit und die Notwendigkeit einer emanzipatorischen betrieblichen Weiterbildung (S. 86 117). Auch die Stellung der Volkshochschulen wird in diesem Zusammenhang neu definiert (S. 117 145). Im Vermittlungsprozeß selbst wird die Gruppendynamik neu entdeckt (S. 237 266) und in „Selbsterfahrungsgruppen von Frauen als Beginn emanzipatorischer Veränderung" (S. 267 294) methodisch praktiziert. Auch hier wird die bereits genannte emanzipationspädagogische Vorgehensweise beschrieben: Das Unbehagen wird bewußt gemacht und formuliert. Es werden die Gemeinsamkeiten der Einzelerfahrungen herausgearbeitet. Dann werden die gesellschaftlichen Hintergründe dazu analysiert, und die Möglichkeiten neuer Perspektiven diskutiert. Als Verfahrenstechniken in Form von Regeln für Selbsterfahrung wird (S. 270) auch das „Blitzlicht" vorgeschlagen, in dem jede Frau unmittelbar im Anschluß an eine Gesprächsrunde ihren emotionalen Zustand in der Gruppe und im Lerngeschehen spontan wieder-

nor

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gibt. 412) zeigt, daß damals wie heute die Förderung emanziallem auch als berufliche Weiterbildung auf breiter Ebene durch Gelder der öffentlichen Hand noch große Defizite aufweist.

am Schluß (S. Weiterbildung patorischer

Der Artikel

381

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vor

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2. 7. Kritische

Betrachtung

der Emanzipation werden folgende Hauptargumente angeführt: Angesichts der ökonomischen Vorgaben des Machbaren sind die Realisierungsmöglichkeiten der Emanzipation zunehmend eingeschränkt. Ihre Kraft schwindet. Der sezierende und scharfsinnige Keil des kritischen Bewußtseins steht einem Trend gegenüber, das Intellektuelle als rein akademisches Spielfeld abzustempeln. Der Vernunft wird zwar noch Erkenntniskraft eingeräumt, sie kann aber offenbar gegen das Menschen verachtende wenig Überzeugungsarbeit leisten.

Aus der generellen Kritik

an

Modelle des

104

führen in eine Aufspaltung des gesamten Erkenntnisapparats in anscheinend nicht mehr vereinbare Teile, deren ursprüngliche Einheit verlorengegangen ist: in die Vernunft und in die Welt. Es wird ein Widerspruch formuliert, der zwar Wahres aufdeckt und zugleich aber verwirrt. Aus der Orientierung im Geiste wird die Orientierungslosigkeit im Handeln. Interessen werden zwar erkannt und kommen bewußter ins Spiel, der Wille zur Macht und Machterhaltung aber überwiegt politisch. Das heißt, für das, was vernünftigerweise realisiert werden müßte, fehlt meist die Macht. Aus der mühsamen Abstraktion wird die Flucht in die Oberflächlichkeit, in das Klischeehafte und in die Naivität. Es zählt nur das, „was etwas bringt". Auch in den intellektuellen Kreisen, denen das kritische Bewußtsein in der Tat einst am Herzen lag, macht sich Rückzug breit. Den Alternativen gehen angesichts der Meinung, alles sei bereits zur Bewußtlosigkeit erkannt, die Anti-Thesen zu zentralen Themen aus, Macht und Gewalt, Normen und Tabus, Rollen und Positionen, Ungleichheit und Ungerechtigkeit, Mißhandlung, Unterdrückung, Krieg und Sklaverei. Es scheint, als trieben die Kräfte, die von Kritik sprechen, nur noch in Scheingefechten ihr politisches Spiel. Der emanzipatorische Erziehungsbegriff wird insbesondere aus dem Blickwinkel der Enkulturationspädagogik kritisiert: Erziehung zur Autonomie darf keine Erziehung zu grenzenloser Freiheit sein. Das heißt, Erziehung, die permanent gegen Anpassung arbeitet, mißachtet OrientierungsmöglichkeiDie

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Erziehungsbegriffs

Auswirkungen

ten.

Gefordert ist daher eine Gratwanderung zwischen dem, was die kritische Vernunft vorgibt und dem, was die Gesellschaft dem Individuum abverlangt. Es wird die Meinung vertreten, daß die Welt durch ihre Strukturen und Rahmenbedingungen immer auch in der Erziehung den mächtigeren Part darstellt. Diese Form von Realismus muß aber nicht zugleich bedeuten, daß jede Erziehung zu kritischer Intellektualität profitlos bleibt. Eine Orientierung an den Tatsachen macht nur deutlich, daß eine Erziehung, die dem ökonomischen Wandel gerecht werden will, sich von der reinen Kritik verabschieden und zu konstruktiven Haltungen kommen muß. Dazu muß der grundsätzliche Widerstand jeglicher Form von Systeminteresse gegenüber aufgeben werden. Kritik kommt aber auch aus der Allgemeinen Pädagogik: Die emanzipatorische Pädagogik wird von einer Reihe von Pädagogen unter ihnen auch Hermann Giesecke (1990) als unbrauchbar bezeichnet. Denn hinter ihr verberge sich eine rein idealistische Position, deren negativistisches Denken im Grunde zu nichts führe: Die Welt wird als die schlechteste aller Welten hingestellt und nur noch zum Objekt von Kritik degradiert. In einer Erziehung zum Ungehorsam, zum Widerstand und zur Kritik um der Kritik willen werden nur Außenseitertum, Depressivität, Orientierungslosigkeit und Instabilität gefordert. Die reine ,Ergötzung im Motzertum' ist alles andere als konstruktiv. Der Mensch ist auch nicht in der Lage, so wie der Gedanke der Emanzipation es lehrt, sich wie Münchhausen am eigenen Schopf zu packen und zu befreien. Für seine Autonomie braucht er immer eine feste Struktur, an die er sich anlehnen kann, die ihm die Angst nimmt, die ihm Sicherheit gibt und in der er weiß, wie er dran ist. Erst die Anpassung an die realen Bedingungen und deren Möglichkeiten eröffnen jene Perspektiven, die auch einen emanzipatorisehen Charakter haben. Außerdem leben wir mehr und mehr in einer Welt, in der die beruflichen Freiräume geringer geworden sind. Es gibt z.B. keine so große Auswahl an Berufsmöglichkeiten mehr wie noch vor 20 Jahren. Auf eine frei gewordene Stelle bewerben sich immer mehr gleichqualifizierte Personen. -

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Kapitel III: Erziehung als Emanzipationshilfe

105

An den Platz eines emanzipatorischen Vermögens tritt das Durchsetzungsvermögen. Es ist das Vermögen, sich attraktiv darzustellen, sich gut zu verkaufen, die richtige Personenpromotion zu betreiben und die persönlichen Zielvorstellungen insbesondere auch nach effektiven marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten zu managen. Wirksam verändern läßt sich nur das, was optimal organisiert ist und werbewirksam mit Hilfe öffentlicher Informationsträger auch perfektionistisch repräsentiert wird. Die emanzipatorische Pädagogik wird damit von einer Neuauflage der Enkulturationspädagogik und auch der Identitätspädago-

gik abgelöst. Was bleibt? Ganz verdrängt werden, so wie es manche vielleicht wollen, kann die Emanzipation und damit auch die emanzipatorische Erziehung nicht. Denn mit der Zunahme der wirtschaftlichen und der technischen Komplexität unserer Welt und deren ökologischer Auswirkung wird der Gedanke der Verantwortung nicht ohne den der Emanzipation auskommen können. Ferner werden wohl auch in Zukunft idealistisches Denken und Ideologiekritik notwendig bleiben, wenn sowohl Utopien durchdacht, als auch Realitäten hinterfragbar sein sollen. Auch wenn die oben dargestellte Neigung im Moment zu triumphieren scheint, muß die Vernunft Basis bleiben, auch dann, wenn sich das nach einer Sonntagsrede anhört. Denn erst die Hoffnungen auf eine Verwirklichung sinnvoller Zielen ergeben selbst Sinn. Es bleibt die Idee einer sich durch das kritische Bewußtsein in einem unendlich erscheinenden Prozeß selbst verwirklichenden Vernunft. Es bleibt die Philosophie eines G.W. Hegel.

Modelle des

106

3. 3. 1.

Erziehungsbegriffs

Erziehung als Identitätshilfe

Begriffs- und Bedeutungsumfeld der Identität

Die

Auffassung, das Potential der Lebensmöglichkeiten hinge hauptsächlich von der Erfüllung gesellschaftlicher Vorgaben ab, steht der Vorstellung gegenüber, daß es dem Wesen des Menschen mehr entspreche, wenn er seine Talente aus sich selbst heraus entfalten könne, oh-

vornherein für die Welt um ihn herum funktionieren zu müssen. Diese These behauptet, daß Entwicklung und Reifung von Beginn an einem inneren, energiegeladenen und wirkungsträchtigen Programm folgen, das entweder angeboren sei oder zumindest sehr frühzeitig entstehe. Umfassend betrachtet ist dies die Natur der Person, die Struktur des Ichs, des Selbst und seiner Entfaltung. Das Programm als solches ist in sich integer. Es genießt den Schutz eines human-ethischen Rahmens und darf innerhalb dessen nicht überfrachtet werden, sondern es sollte lediglich in seinem Wachstum soviel wie nötig und so wenig wie möglich erzieherische Unterstützung finden. Hinter diesem Gedanken steht der inzwischen klassische pädagogische Begriff der Personalisation sowie der noch ältere des Subjektseins. ne von

Exkurs: Erich Weber (1977) nennt (S. 45 nach U. Schlottmann) Merkmale des PersonCharakters, die seine Personalisation kennzeichnen: die „nicht absolute Freiheit der Wahl und Distanzierungsfähigkeit gegenüber den Angeboten, Zumutungen und Möglichkeiten der Gesellschaft und Kultur" „seine Spontaneität im Sinne der selbstverantwortlichen Initiativen, durch die er mit Ursache für seine eigenen Zustände und diejenigen in der Welt werden kann" „seine Autonomie, verstanden als Selbstbestimmung seines Handelns" „seine Verantwortlichkeit"

zur

Er fahrt fort: „Dieses Personsein bewirkt, daß der Mensch niemals als bloßes Mittel gebraucht werden darf, sondern eine eigene Würde besitzt. Grundsätzlich wird hier jedem Menschen das Recht der Personalisation zuerkannt Die Erziehung hat dabei Hilfe zu leisten." Der gegenwärtige Begriff der Person ist eher nüchtern konzipiert. Er ist nicht mehr von der überschwenglichen philosophischen Metaphysik früherer Zeiten überfrachtet und sieht sich vorwiegend im Spiegel konkreter gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Kräftefelder und deren Auswirkung auf die Psyche des Subjekts. Daher bildet er auch im Zentrum des Wechsels von Innen- und Außenwelt die synthetisierende Grundlage. Er ist zugleich die Mitte zwischen Einheit und Zerwürfnis von Ich und Welt und sowohl die Basis für eine nach Harmonie strebende Dialog-Beziehung als auch die Basis für eine nach Widerstand rufende Konflikt-Beziehung. ...

Der moderne Begriff einer Erklärungsgrundlage oder eines Konstrukts für das Wesen der Person ist der Begriff der Identität. Aus philosophischem, soziologischem und psychologischem Gedankengut stammend, ist er interdisziplinär. Er geht über den der Personalisation insofern hinaus, als er sowohl die Ganzheit des Subjekts das ist die Einheit des Ich und des Selbst als auch die Interaktion des Subjekts mit der Gesellschaft umfaßt. Umgangssprachlich wird das Wort „Identität" meist so verwendet, als bedeute es den Besitz eines erstrebenswerten Gutes. Wir sagen z.B. ,jemand hat eine Identität oder nicht". Wenn er oder sie keine Identität hat, dann sollten beide tunlichst danach streben, weil sie sonst No-

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Kapitel

III:

Erziehung als Identitätshilfe

107

name-Produkte sind und nicht zur Gesellschaft gehören. Ohne Identität wissen wir nicht, wer und was wir sind und hier oder dort sein sollen. Ohne Identität hat man keinen Platz, ist unerwünscht, fühlt sich nutzlos und nicht anerkannt. Dann steht es jedenfalls ziemlich schlimm um einen, man kommt mit sich selbst nicht klar, weil der Boden unter den Füßen fehlt. Kurz gesagt (in Umkehrung des Titels von Th. A. Harris 1987): „Man ist nicht mehr o.k." Für das Nicht-o.k.-sein gibt es zwei Ursachenfelder. Das eine richtet sich nach innen: Das Ich kommt mit sich selbst nicht klar. Das andere richtet sich nach außen: Das Ich kommt mit der Welt nicht klar. Beide Felder sind oft schwer zu unterscheiden, weil sie sich gegenseitig be-

dingen:

Wenn man nicht o.k. nach innen ist und unter sich selbst leidet, dann können Ängste und Unsicherheiten den beruflichen und privaten Alltag beeinflussen. Sie führen zu Wahrnehmungsstörungen, zu Instabilität, zu mangelndem Selbstbewußtsein und Durchsetzungszu Lustlosigkeit und Willensschwäche, Neurosen und Phobien. Von innen herquälen seelische Verletzungen, Enttäuschungen und Frustrationen, die aus der Vergangenheit und der Lebensgeschichte stammen. Sie gären wie Hefe und rufen manchmal nach gewaltiger Rache. Aggressionen werden produziert, und keiner weiß zunächst genau

vermögen, aus

warum.

Wenn wir nicht o.k. nach außen sind, versagen wir. Alles mißlingt. Die Folge ist, wir entscheiden uns überhaupt nicht mehr, und falls doch, so immer für das Falsche. Wir hören andere sagen, wir seien „lasch", wir seien „Nieten" oder „nicht mehr ganz dicht". Dann hat es den Anschein, als fänden wir in der Gesellschaft nur schwer Anerkennung, als käme nie ein Echo auf das, was wir zumindest zu tun versucht haben. Und wenn wir krampfhaft bemüht sind, uns ein bißchen Lob und ein paar Streicheleinheiten von anderen zu holen, kann es passieren, daß wir erkennen müssen, wie unendlich abhängig wir sind, fast so, als wäre es eine Gnade der Umwelt, uns einmal zu loben. Dazu kommt, daß wir uns schlecht an die Tatsache gewöhnen wollen, daß wir anderen gegenüber durchaus ein positives Bild abgeben, solange wir von diesen nichts über uns hören. Erst wenn über uns geredet wird, stimmt irgend etwas mit uns nicht. Wir erleben Neid statt Würdigung, Ablehnung statt Akzeptanz, Ausklammerung statt Toleranz. Und dann spüren wir es am eigenen Leib, wie verletzlich und labil wir sind, und wie anfällig unsere psychosomatische Kondition ist, wenn wir uns permanent einen Platz inmitten dieses schier endlosen Feldes von Hackordnungen erkämpfen müssen. Wenn wir es nicht schaffen, sind die Folgen Vereinsamung. Isolation, Apathie und das Gefühl von Sinnlosigkeit. Der Weg in eine Art inneres Ghetto ist vorgezeichnet, und die Gefahr der äußeren Ausgrenzung ist dann meist nicht mehr weit. Die Auswirkungen dazu haben viele Namen. Sie heißen Isolation, Obdachlosigkeit, Suchtabhängigkeit, Delinquenz und anders.

Eine Pädagogik, die der Identität entgegengehen will, möchte ihrem Wesen, nämlich ell o.k. sein zu wollen, gerecht werden. Sie will dabei:

prinzipi-

die positive Entwicklung der Person unterstützen und versuchen, Fehlentwicklungen, soweit dies möglich ist, zu korrigieren; das System der Einflüsse von außen so gestalten, daß optimale Entfaltungsmöglichkeiten

vorliegen.

Hinter dem ersten Punkt steckt der Gedanke der Korrektur und Beseitigung innerer Mängel, an denen die Betreffenden leiden oder an denen sich andere stören, hinter dem zweiten der eines natürlichen Wachstums im Rahmen einer Zugehörigkeit zum System und einer entsprechenden Versorgung und Behütung durch es. Pädagogische Identitätshilfe ist daher eine noch näher zu bestimmende erzieherische Form therapeutischer Beeinflussung, die das Ziel der Stabilisierung des Individuums hat.

Modelle des

108

Erziehungsbegriffs

Exkurs: Der Begriff therapeutisch läuft mit dem Begriff heilend weitgehend konform. Eine therapeutische Beeinflussung bedient sich eines auf Heilung der seelischen Erkrankung der Person ausgerichteten Weges der Betreuung und Begleitung. Was einzelne Therapien und auch therapeutische Richtungen betrifft, so gibt es gegenwärtig einen nahezu unüberschaubaren Markt. Er wird von Spezialisten beherrscht, die speziell dazu ausgebildet sind und die auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse aus einzelnen Psychologien arbeiten. Leider wird er aber auch von Gurus beherrscht, von denen einige Scharlatane sind. Sie setzen ihre charismatische Wirkung als Droge für Hilflose ein und nutzen diese finanziell aus. Ziel der Identitätshilfe ist die Annäherung an ein Ideal, an einen Zustand, in dem die Identität, als Selbstsein und Zugehörigkeit, ungebremst gelebt werden kann. Das Ideal aber hat viele Namen: Für die einen heißt es glückliches Leben, für andere Sinnerfüllung. In jedem Fall setzt es in unserer vom Technologischen und Wirtschaftlichen beherrschten Gesellschaft identitätsstiftende Fähigkeiten voraus, die sich bemühen, eine ins Ungleichgewicht geratene oder verlorengegangene Identität wiederzuerlangen. Identitätshilfe wird so gesehen zu einer die Existenz betreffenden Herausforderung, das Vermögen zur Stabilitätsbildung nach innen und außen prinzipiell regenerieren zu können. Dem Individuum dient diese Herausforderung zum Erwerb der Kunst, schwierige Situationen zu meistern, bei allem immer auch das Positive zu sehen und zu entdecken, kommunikationsfreudig zu bleiben sowie kreativ, mobil, flexibel, belastbar, durchsetzungs- und konfliktfahig. All diese Künste bräuchte man eigentlich nicht erst durch eine Identitätspädagogik wiedergewinnen, wenn die Entwicklung der Identität von vornherein o.k. gewesen wäre. So aber sind durch die gut oder nicht gut gemeinte Pädagogik der Eltern und der Gesellschaft Brüche im heranwachsenden Ich entstanden, die nun mit einer anderen Pädagogik repariert werden müsnach dem sen. Es könnte z.B. sein, daß das Leistungsdenken der Enkulturationspädagogik Motto „Kannst du was, dann bist du was" zur inneren Krise geworden ist und von einer Identitätspädagogik abgelöst werden muß. -

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Exkurs: Viele Menschen jagen mit den unterschiedlichsten Methoden ihrer eigenen Selbsterkenntnis und Anerkennung hinterher. Von manchen wird behauptet, ihre Identitätssuche gerate durch ihre Obsession zunehmend in die Mühlen einer Suchtstruktur und damit in pathologische Zonen. Die geschlechtsspezifischen Formen der Identitätssuche sind auf diesem Gebiet oft sozial- und leistungsmotiviert. Frauen verfolgen auch wenn dies nicht vorurteilsfrei ist mehr soziale Motive, Männer hingegen mehr sportliche: Frauen helfen bei der Beseitigung von Minen, damit Frauen des Dorfes wieder gefahrenfrei an Wasserstellen kommen können, um dort die Wäsche zu waschen. Männer laufen wochenlang durch Sümpfe und Wüsten oder ersteigen viertausend Meter hohe Steilwände von Achttausendern. Extreme Beispiele dieser Art sind nicht selten und sie zeigen, wie sehr die Identitätsfindung ein Hauptthema unserer Zeit ist. Sie zeigen Verhaltensabweichungen, die von einer zunehmenden Sinnsuche und Suche nach Orientierung rühren und der darin enthaltenen Meinung, das Leben erhalte nur durch den Nervenkitzel Sinn. Nicht weniger selten gibt es die Oberzeugung, daß nur die totale Aufopferung für eine Idee einen identitätsstiftenden Wert darstellt. Manchmal läßt sich dabei jedoch schwer unterscheiden, ob die Identitätssuche echt ist, oder ob es nur einem allgemeinen Trend unter-

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liegt.

Alles in allem scheint das Thema aber Konjunktur zu haben. So zeichnet sich auch im Hinblick auf populärwissenschaftliche Literatur ein wahrer Boom ab. Wir finden im Buchhandel eine geradezu unüberschaubare Fülle an Ratgeberliteratur. Sie enthält Rezepte und Tricks zum Thema, wie wir uns selbst erkennen können, unseren wunden Punkt entdecken und überwinden, wie wir wieder o.k. werden können, wie wir uns selbst neu

Kapitel

III:

Erziehung als Identitätshilfe

109

verwirklichen können, wie wir unsere Selbstsicherheit grundlegend stärken können, wie wir knifflige Situationen mit Routine meistern, wie wir Anerkennung finden, wie wir mit einander besser reden, streiten und diskutieren können, wie wir uns ändern können, wie wir wieder zu uns und zu anderen finden können, wie wir harmonischer mit uns und mit anderen leben können, wie wir glücklicher und vor allem auch erfolgreicher werden können usw. usw. Neben der literarischen Schwemme zu einer neuen Art von zielgerichteter Selbstdarstellung und Präsentation in der Öffentlichkeit gibt es auch eine reichhaltige Palette an anderen Erfahrungsangeboten zur Identität. Sie laufen unter der Rubrik Einheit von Seele und Geist durch Selbsterfahrung mittels Kreativität, durch Körperbewußtsein über Bewegung, Tanz, Malerei und Spiel. Ihre Namen haben bereits einen festen Markt. Sie heißen Eurhythmie, Meditation, aber auch autogenes Training, progressive Entspannung und Heilfasten. Sie versprechen Hilfe gegen den Stress und dessen gefährliche identitätszerstörende Symptome. Daß all dies so erfolgreich ist, stammt offensichtlich aus einer weitverbreiteten Sehnsucht nach der verlorengegangenen Ganzheit der Person. Dieser Mangel scheint der seelische Preis für unsere, lange Zeit hart erkämpfte Autonomie der Subjektivität zu sein, einer Autonomie, die das Lebensrecht des Ich zwar neu formuliert hat, die aber im Verlauf dessen in eine eigene Form von Vereinsamung, nämlich in einen psychischen Solipsismus geraten ist. Auch der enttabuisierende und entprivatisierende Prozeß der öffentlichen ,Versubjektivierung' unserer Welt deutet in die gleiche Richtung. Er meint, daß es in unserer Zivilisation eine gleichzeitig nebeneinander existierende Vielfalt privater Lebensentwürfe in aller Öffentlichkeit gibt. Nahezu alles wird ohne Tabu gezeigt und beredet. Nahezu alles ist möglich und erlaubt, nahezu alles ist in allen erdenklichen Variationen erhältlich. Dazu kommt, daß auch die Pluralität der Weltanschauungen auf ihrem Höhepunkt angelangt scheint, und es verwundert, daß trotzdem immer wieder neue Bewegungen entstehen. Auch der sogenannte Fortschritt erscheint endlos, obwohl es oft so aussieht, als seien alle Gedanken zerdacht. Infolge der globalen Verfügbarkeit von Pluralität konzentriert sich der Mensch immer stärker auf das Hier und Jetzt. Er schöpft daraus seine allgemeine Befindlichkeit, indem er sich an den Augenblick bindet und sich so an ihn klammert, als wäre er seine einzige Heimat. Dem entspricht auch das Menschenbild des ganz bei sich seienden Menschen, der die Kraft seines Handelns aus der Übereinstimmung von Denken und Fühlen schöpft. Er ist kein Faust und auch kein Homo Faber, wie in der Enkulturationspädagogik, er ist kein nach immer mehr Wissen strebender Unruhegeist. Er ist vielmehr ein meditativer, ausgeglichener Mensch, der sagen würde: „Bleib im Hier und Jetzt, bleib ganz bei Dir und hetz nicht ständig Deiner Zeit voraus!" Ein solcher Mensch begibt sich auf einen gefährlichen, jede Form des Sozialen mißachtenden Egotrip, der durch das öffentliche Recht auf individuelles Glück bestärkt wird. Dabei stellt sich die Frage, wie sich die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft verändert, wenn jeder und jede alle Möglichkeiten haben, ihr Glück selbst zu definieren. Nun egal wie die Identitätssuche im einzelnen gestaltet wird, von der Pädagogik wird jedenfalls gefordert, dazu beizutragen, die Identität, wenn sie durch ein Stigma diffus geworden ist, wieder zu rekonstruieren und ihren angeknacksten Zustand zu kitten oder neu aufzubauen. Notwendigkeit und Legitimation dazu stammen aus einem philosophischen Hintergrund. Man befürchtet den Verlust der Ganzheit des Denkens und den Verlust an weltanschaulicher Gemeinsamkeit: Zum einen ist vor allem die Einheit der Vernunft angesprochen, mit Hilfe derer wir in einer zunehmend komplexeren Welt noch einen Sinn erkennen und stiften können. Zum anderen wird das Fehlen eines gefühlsmäßig und sozial stabilen weltanschaulichen Überbaus beklagt. Die Furcht vor den Folgen eines solchen Verlustes erscheint nicht unbe-

Modelle des

110

Erziehungsbegriffs

Denn eine allgemeine Orientierungslosigkeit neigt in der Regel zur Irrationalität und bereitet den Nährboden zur Gewalt. Um den Begriff Identitätshilfe, der darauf eine Antwort geben soll, nunmehr näher betrachten zu können, schlagen wir folgende Vorgehens weise vor: Wir beschreiben zunächst einen inhaltlichen Vorbegriff von Identität. Danach stellen wir zwei unterschiedliche theoretische Gebäude zum Identitätsbegriff dar. Im Anschluß daran weisen wir auf verschiedene Ansätze und Modelle einer konkreten pädagogischen Identitätshilfe hin. Am Ende nennen wir noch einige kritische Gesichtspunkte zum gesamten Komplex.

gründet.

3. 2.

Bezugsfelder des Identitätsbegriffs

wer und was wir eigentlich sind, war schon immer intellektuelles HauptAn ihm nehmen alle Wissenschaftsgattungen teil, und sie kommen wie sollte es auch anders sein zu den unterschiedlichsten Ergebnissen. Wir wollen hierzu keinen Umweg gehen, weil uns dies vom Ansatz der Identitätshilfe zu stark abbringen würde. Was wir tun können, ist eine Bestimmung der an der pädagogischen Hilfestellung beteiligten Bereiche. Sie stammen hauptsächlich aus der Philosophie, der Psychologie und der Soziologie. Wir sind Menschen, wir sind Europäer, Deutsche, Frauen, Männer, Kinder, Jugendliche, Erwachsene. Wir sind Rollenträger, wir besetzen Positionen oder streben nach solchen. Haben wir einmal eine Rolle und Position, dann müssen wir sie auch nach außen zeigen, so daß sie andere wahrnehmen. Wir tun dies natürlich nur, wenn wir es tun können-, indem wir uns entsprechend einkleiden und benehmen, so daß alle sehen können, welcher Subkultur wir zugehören wollen, ob wir im Normensystem der Subkultur unserer Umgebung bleiben wollen oder ob wir aus dem Rahmen des ästhetisch Üblichen fallen wollen.

Die

Frage danach,

menu.

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Exkurs: Was das Verhältnis von Kleidung und beruflicher Identität betrifft, so scheint es sein, daß hinter der Kleidung auch immer eine nach außen zur Schau getragene Wertschätzung der Rolle und dem Beruf gegenüber steckt. Bei den Sozialpädagogen und Sozialpädagoginnen ist es vielleicht das Ethos eines mobilen Berufs, der sich als unkonventionell präsentiert. Eines aber scheint Regel zu sein: Wer sich als Mitglied eines Berufsstandes nicht nach dessen äußeren Formen richtet, setzt sich in manchen Kreisen dem Verdacht aus, in Wirklichkeit sich nicht mit dem Beruf zu identifizieren. Auch der berühmte Satz „Kleider machen Leute" sagt diesbezüglich eigentlich alles aus: Die PR-Wirkung (Public-RelationsWirkung) der Person versteckt ihre Identität hinter einer Maske, die wir tragen müssen, um nach außen hin den Erwartungen entsprechen zu können. In der Regel denken wir immer dann darüber nach, welche Identität wir haben, wenn uns der Magen nicht allzu knurrt. In einem solchen Zustand, halb hungrig und halb satt meinen wir bisweilen, aus welchem Anlaß und aus welchen Gründen auch immer, nicht die zu sein, die wir sein wollen oder sein sollen. Da gibt es nämlich neben unseren von außen auferlegten Etiketten noch die uns allein zugehörigen Brandzeichen unserer individuellen Geschichte, unserer Sozialisation, und da gibt es noch die nur uns angehörende Struktur unserer Persönlichkeit, unseres Charakters, bestehend aus Vorlieben, Neigungen, Bedürfnissen, Erwartungen und Interessen. so zu

Aus diesen

(b)

Vorüberlegungen lassen sich zwei Vorbegriffe erkennen: (a) ein ein psychologischer und (c) ein philosophischer.

soziologischer,

Kapitel

III:

Erziehung als Identitätshilfe

111

(a) Der soziologisch orientierte Vorbegriff von Identität heißt Zugehörigkeit und meint den Grad der Integration. Jedes soziale Teilsystem hat seinen eigenen normativen und ästhetischen Kodex, an den eine Art interner, nicht immer rationaler Anerkennungsordnung geknüpft ist. Sie sagt, wer dazu gehört und wer nicht. Für die Heranwachsenden verkörpern sie die primären Bezugspersonen und die Peer-Gruppen, mit denen sie Kontakt halten. Sie sind deren Identifikationsmodell. Fehlt es, so hat man auch keine Familie, hat man keine Zugehörigkeit zu einer Heimat und

damit auch keine Identität. Die Anerkennungsordnung ist hauptsächlich von der Machtstruktur des Subsystems abhängig. Sie trägt und reproduziert die Werthierarchie in bezug auf die verschiedensten Bereiche. So wird z.B. jemand in einer Gruppe bewundert, wenn er ein tolles Auto fahrt, in einer anderen nur dann, wenn er ein Motorrad besitzt, und wieder in einer anderen, wenn er alles mit dem Rad oder zu Fuß macht. Solche Abstufungen von Bewunderung sind immer Ausdruck einer bestimmten Dominanzstruktur. Sie sagt den einzelnen, auf welcher Stufe der Hierarchie sie sich befinden und was sie sich in Folge dessen auch erlauben dürfen. Wer in einer Motorradgang die „heißeste Kiste" hat, ist der Boss, der stets vorausfährt. In einer Gruppe von Fußgängern und Radfahrern sind es diejenigen, die den Weg kennen. Und ein Dozent darf Fragen stellen, die er nicht selbst beantworten muß. Was uns erlaubt und was uns verboten ist und wird, kennzeichnet das Gerüst unserer Identität. Dabei ist der Vorgang, Erlaubnisse auszusprechen, offensichtlich befriedigender, als sie zu erbitten. Exkurs: Oft wird allein schon durch die Sprache die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen früher sagte man „Schichten" dokumentiert. Der subkulturelle Slang von Jugendlichen ist ein Indiz dafür. Wollte man als älterer Mensch z.B. eine Diskothek von Jugendlichen besuchen, dann kann es sein, daß man sich am Eingang den Spruch gefallen lassen muß: „Husch Opa, zurück ins Grab!" Basil Bernstein hat in Untersuchungen zum Verhältnis von Sprache und sozialer Herkunft zwei verschiedene Sprachebenen entdeckt, den restricted code und den elaborated code. Sie waren lange Zeit vor allem in der Pädagogik Ausgangspunkt für die Frage nach einer Abhängigkeit und Determinierung der Identität von der Erfahrung der sozialen Wirklichkeit und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für die erzieherischen Interaktionen (vgl. B. Bernstein 1974). Die Zugehörigkeit zu einem Volksstamm oder einer Nation bringt solange keine wirklichen Identitätsprobleme hervor, solange nicht der ethnische Zusammenhalt, der durch die Einheit der Lebensweise und auch des Lebensstandards, z.B. über Religion, Kultur und Wirtschaft, gewährleistet ist, durch Anfeindungen oder innere Verfallserscheinungen sich aufzulösen beginnt oder zu zerbrechen droht. Ebenso sind auch Probleme von Minderheiten neben anderem ein Ausdruck fehlender Identität. Menschen dieser Gruppen werden oft nur geduldet, weil sie nun einmal in einem Land leben (müssen), um irgendwo leben zu können. Traurig ist, daß sie oftmals nur als billiges Arbeitspotential mißbraucht werden, sonst aber keine Identitäts-Chance im Sinne echter Zugehörigkeit haben. Noch trauriger ist es, wenn sie zum Projektionsfeld einer rassistisch motivierten Massenhysterie werden. Identitätsverluste aufgrund nicht anerkannter Zugehörigkeit führen jedenfalls zu Formen der Resignation und fördern die Gewaltbereitschaft. -

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Modelle des

112

Erziehungsbegriffs

(b) Der psychologische Vorbegriff von Identität beschreibt ein inneres Gleichgewicht. Dieser Begriff bezieht sich auf einen psychisch-somatischen Zustand. Er wird durch die eteiner Übereinstimmung mit sich zum Ausdruck gewas esoterisch klingende Vorstellung bracht. Mit dem Begriff Übereinstimmung ist eine Art innerer Harmonie gemeint, in der sich jemand befindet, wenn er oder sie mit sich, mit seinem oder ihrem Leben zufrieden ist. So etwas kann der Fall sein, wenn Bedürfnisse befriedigt sind, wenn Ziele erreicht sind, wenn sich Teile der Persönlichkeit (z.B. Gefühle) mit anderen Teilen (z.B. dem Gewissen) decken oder wenn insgesamt das körperliche Sein mit dem Bewußtsein übereinstimmt und das Denken und Handeln als Einheit empfunden wird. So gesehen hat ein Mensch dann eine Identität, wenn seine Selbsterfahrung abgeschlossen ist. Ist das Gleichgewicht im Bereich des Psychosomatischen verschoben das kann auch hier durch mangelnde Anerkennung passieren -, so treten unterschiedliche Identitätsstörungen auf: Die Wahrnehmung ist entweder nur nach außen oder nur nach innen gerichtet. Eine Folge, die noch nicht pathologisch sein muß, ist die Tatsache, daß das Selbst- und das Fremdbild nicht übereinstimmen, daß man die anderen nur durch sich selbst sieht und nicht mehr wie sie selbst sind. Oder man kennt nur die anderen und sich selbst überhaupt nicht. In beiden Fällen trägt man eine Brille. Von ihnen gibt es eine Menge Variationen, z.B. die Rollenbrille, die hinter allem ein Rollenproblem sieht, oder die Psychobrille, die alles auf psychologisches Wissen reduziert. Wirklich pathologische Wahrnehmungsstörungen sind natürlich noch viel schlimmer. Sie werden hier nicht aufgeführt. Störungen, die sich auf der Ebene der Bedürfnisbefriedigung ergeben z.B. wenn das Ich etwas anderes will, als es tun darf oder soll -, führen generell zur Frustration und deren Folgen. -

-

-

-

(c) Der philosophische Vorbegriff von Identität definiert die Korrespondenz des Den-

Subjekts mit der Welt. Dieser Vorbegriff geht von der Einheit des ontologischen und erkenntnistheoretischen Seins aus. Dahinter verbirgt sich die Frage, wie die Begriffe in unserem Kopf, wie die Sprache, die Laute, die Wörter und Sätze, die wir hervorbringen, mit dem identisch sind, was sie meinen. Man fragt sich hier, ob es die Bedeutungen, die wir uns denken und durch Denken ausdrükken, auch außerhalb von uns tatsächlich gibt, oder ob sie nur als nebulöse Phantasien in uns existieren. Umgekehrt kann man natürlich auch fragen, ob es für die enorme Vielfalt und Vielheit von Erfahrungen, von Einzelheiten und Einzelschicksalen noch einen Begriff gibt, der mit dem identisch ist, was er auch inhaltlich aussagt. Drückt z.B. der Begriff „Konzentrationslager" die Identität von Denken und realer Erfahrung aus? Eigentlich müßte man sagen: kens und Erkennens des

Nein. Er tut es nicht. Denn man kann das Wort „KZ" denken, ohne den Schmerz, den es verbreitet hat, zu spüren. Man könnte dabei z.B. seelenruhig eine Pizza essen. Und umgekehrt: Würde man ihn beim Pizza-Essen real erleben, so könnte man ihn vor lauter Schmerzen nicht mehr denken. Kein geringerer als Theodor Adorno, neben Max Horkheimer, einer jener Spitzenvertreter der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, hat uns diesen Sachverhalt nahegebracht. ( Th. W. Adorno 1972; M. Horkheimer 1968.) Exkurs: Von der Soziologie wird schon länger ein dem nicht unähnliches Problem under Formel „Reduktion von Komplexität" diskutiert. Dabei geht es um die Frage, ob bei zunehmender Komplexität und Vernetzung unserer Welt noch ein Sinn erkennbar ist oder ob wir sinnstiftende Momente in Handlungen nur als historische ad acta legen können. Man kann hierzu nur sagen: Hoffentlich nicht. Denn die Zukunft der Menschen würde auf dem Spiel stehen, wenn keine Vernunft mehr in die Welt kommen kann, d.h. konkret, wenn sich keine vernünftige Identität in der Gesellschaft mehr ausbilden und leben läßt. (Vgl. J. Habermas ; N. Luhmann 1974) ter

Kapitel III: Erziehung als Identitätshilfe

113

Zusammengefaßt und auf einen Begriff reduziert ließe sich ein Vorbegriff von Identität folgendermaßen formulieren: Identität ist das Ich als Ganzheit und Einheit in rationaler und psychosomatischer Übereinstimmung mit sich und der Welt.

3. 3. Theorien der Identität Wir werden im folgenden drei theoretische Ansätze mit unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Hintergründen umreißen. Sie unterscheiden sich durch Vorstellungen von der Stellung des Menschen in der Gesellschaft. An sie lehnen sich auch die im Anschluß daran zu beschreibenden pädagogischen Modelle einer Identitätshilfe an. F.W. Krön (2001) klassifiziert (S. 174 181) dazu folgende Positionen: „1. Der Mensch im Regelkreis der Verstärkung" (nach B.F. Skinner) In ihm hat die Erziehung die Aufgabe der „Übung und Sicherung situativen Verhaltens für zukünftiges Verhalten" (S. 176). Dazu ist ein „kluges Arrangement der verschiedenen gewünschten Umweltfaktoren" notwendig, „mit dem die Lernenden herausgefordert werden, sich entsprechend zu verhalten" (ebenda). „2. Der Mensch als Subsystem im System" (nach T. Parsons) Hier wird die Auffassung vertreten, daß dem „Durchsetzungsapparat" der Gesellschaft gegenüber der Mensch keine andere Chance hat, als ein „Persönlichkeitssystem zu entwickeln, das dem gesellschaftlichen Rollenangebot und den Rollenzuweisungen des jeweiligen sozialen Systems entspricht" (S. 177). Aufgabe der Erziehung ist es, die „kulturelle Ausstaffierung" des einzelnen möglichst optimal zu sichern. „3. Der Mensch als produktive Stelle im System" (nach G.H. Mead) Die Tatsache, daß Rollen sich als instabil erweisen, führt zur Forderung nach einer permanenten Deutung und interaktiven Aushandlung von Rollen (vgl. S. 179). Erziehung hat hier die Aufgabe, das ,Spielfeld' dafür zu Verfügung zu stellen, auf dem „signifikante Gesten menschlichen Kontakts" eingeübt, erprobt und weitergegeben werden können. „4. Der Mensch als Konstrukteur von Wirklichkeit" (nach J. Piaget) Die Vorstellung, die dabei zugrunde liegt, ist der des Interaktionismus insofern nahe, als hier der Mensch den Entwurf seiner „antizipatorischen Handlungspläne" der Wirklichkeit anpassen muß. Die Erziehung hat die Aufgabe, vor allem die kreativen Momente der Konstruktion der Welt zu fördern und durch eine Begleitung der Transformationsversuche von Vorstellungen in Handlungen zu unterstützen. 5. Der Mensch als Träger biographischer Entwicklungsgenesen (nach E.H. Erikson) Im Zentrum steht hier die Vorstellung einer Entfaltung des Ichs aus „epigenetischen Kräften". Erziehung hat hier die Aufgabe einer behutsamen Begleitung der Krisenphasen, durch die sich die Reifung der Identität äußert. -

3. 3. 1. Zur Identitätstheorie des Behaviorismus und des strukturellen

Funktionalismus (a) Identitätstheorie des Behaviorismus vom Behaviorismus und seiner Stimulus-Response-Theorie abstammenden Konzept ist Identität zunächst das tatsächlich gezeigte Verhalten und die Wirkung, die es hervorruft.

In dem

Modelle des

114

Erziehungsbegriffs

Jedes Verhalten läßt sich durch empirisch erfaßbare Merkmale begrifflich kategorisieren. So besteht auch das reale Identitätsverhalten aus einem Reaktionspaket. Indem wir z.B. jemandem ein bestimmtes Verhalten attestieren, geben wir ihm auch ein bestimmtes Bild von sich. Wenn ich z.B. einen Vortrag mit den Worten eröffne „Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich freue mich, daß sie alle gekommen sind, ich möchte Ihnen zunächst mein Programm vorstellen..", dann könnte ich das Bild meiner Identität dadurch bestimmen, daß ich die Wirkung dieser Sätze über Beobachtungen festhalte. Die Reaktion des Publikums liefert mir die Bausteine dazu. Verhallt die Einleitung ungehört, ist die Identität gleich Null. Die Identität setzt sich danach aus den durch positive wie negative Reaktionen zustande gekommenen Verhaltensmustern zusammen. Sie ist das Produkt aus dem subjektiven Verhalten und der objektiven Antwort, dem Echo oder Feedback darauf. (B.F. Skinner 1959) Identität ist innerhalb des behavioristischen Konzepts somit die vom funktionierenden Normalverhalten gefüllte Black Box. Sie ist das Ergebnis von freiwilliger Angleichung (Assimilation), von zwangsläufiger Anpassung (Akkommodation), von Wettbewerb und siegreicher Konfliktbewältigung, (vgl. die Darstellung von H. Hierdeis 1976, S. 94 ff. zu H. Seiffert 1973, S. 97 f.)

(b) Identitätstheorie des strukturellen Funktionalismus Hier wird die Position vertreten, daß jedes erlernte Verhalten durch ein strukturell funktionierendes Rollengefüge gefestigt wird. Vertreten wird diese Position speziell in der strukturellfunktionalen Rollentheorie von T. Parsons (1968). In diesem Gebilde hat das Individuum dann eine Identität, wenn es den Erwartungen von außen voll und ganz gerecht wird. Erst dadurch wird ein positives Feed-back möglich. Identität kommt durch eine Etikettierung von außen zustande. Sie ist eine Art von Zertifikatsvergabe durch die Gesellschaft, eine Art von Funktionsbestätigung, durch die der Selbstwert konfiguriert wird. „Beständigkeit und Eindeutigkeit der Rollenerwartungen" (H. Hierdeis 1976, S. 101) geben ihr die notwendige Orientierung. Kritisiert wird dieses Konzept vor allem durch R. Dahrendorf (vgl. ebenda S. 95) und J. Habermas. Letzterer bezeichnet den Normalfall, der bei Parsons die Norm der Funktionsfähigkeit zeigt, als „pathologischen Grenzfall". 3. 3. 2. Zur Identitätstheorie

aus

psychoanalytischer Sicht

Eine mittlerweile bereits klassische Identitätstheorie ist die von Erik H. Erikson (1966). An ganz entscheidenden Stellen beruht sie auf einer Weiterentwicklung des Modells der Psychoanalyse. Wir können diesen Zusammenhang nicht vertiefen, sondern nur die Hauptergebnisse darstellen. Es handelt sich hierbei um eine Theorie, die von der Vorstellung ausgeht, Identität sei eine Art Programm, vergleichbar mit einem Betriebsprogramm, das ist es einmal in uns durch eine Software aktiviert auch eine individuelle Eigendynamik entwickelt. Wesentliches Kennzeichen dabei ist der endogene Ausgangspunkt. Die Strukturen der Ich-Identität sind genetisch angelegt und orientieren sich an Wachstumsenergien einzelner Entwicklungsphasen. Dabei ist das Urvertrauen die grundlegende Voraussetzung für gesunde Ich-Stärke. „Das Ur-Vertrauen ist der Eckstein der gesunden Perönlichkeit" (S. 63). Es ist „das Gefühl des Sich-Verlassen-Dürfens und zwar in bezug auf die Glaubwürdigkeit anderer wie die Zuverlässigkeit seiner selbst." (S 62) Eine Stärkung der Verlässlichkeit der Welt wird durch Tradition und Religion repräsentiert (S. 74). Das Ur-Vertrauen zieht sich wie ein roter Faden als Ich-Wachstum der gesunden Persönlichkeit durch alle Entwicklungsphasen. Es bedingt Autonomie, Initiative und das Zutrauen zu sich. -

-

...

Kapitel

III:

Erziehung als Identitätshilfe

115

Der gesunden Persönlichkeit steht der in die Krise geratene Mensch gegenüber. Dahinter steht das Bild, daß nur die gesunden Anteile den kranken zu Hilfe kommen können. Es ist ein Bild, das natürlich Kritik wachruft, zumal die Begriffe „gesund" und „Normalität", die darin enthalten sind, sich an einem doch weitgehend nicht hinterfragten Gesellschaftsbild des sogenannten Normalbürgers und der Norm seiner Integration des organized me (nach G.H. Mead) in das generalized other (nach Goffman) orientiert. Ich-Identität wird in dieser Vorstellung durch die konstruktive Reparaturfahigkeit erreicht, genauer gesagt durch die prinzipielle Fähigkeit zur Selbstheilung des Menschen, der durch eine Krise in pathologische Zonen geraten ist. Voraussetzung dazu ist die möglichst uneingeschränkte Entwicklung der lebensbejahenden endogenen Achse von Geburt an, beginnend mit dem Ur-Vertrauen. Parallel dazu verläuft die Entwicklung einer Art von Kontrapunkt-Achse des Mißtrauens, des Zweifels, des Schuldgefühls, des Minderwertigkeitsgefühls, der Diffusion, der Isolierung, der Selbstabsorption und des Lebens-Ekels. Diese Achse ist nicht direkt destruktiv, eher vielleicht lebensverneinend, wohl aber setzt sie sich der Anpassung gegenüber in Distanz. Beide Achsen werden durch die Erziehung individuell miteinander konfrontiert und in den einzelnen Lebensabschnitten auch unterschiedlich inhaltlich geprägt. Erikson entwirft dazu (S. 150 f.) ein Modell, in dem sich zwei gegensätzliche Kräftefelder gegenüberstehen. Zusammengefaßt sind dies:

„Urvertrauen gegen Mißtrauen" (im Säuglingsalter) „Autonomie gegen Scham und Zweifel" (im Kleinkindalter) „Initiative gegen Schuldgefühl" (im Spielalter) „Werksinn gegen Minderwertigkeitsgefühl" (im Schulalter) „Identität gegen Identitätsdiffusion" (in der Adoleszenz) „Intimität gegen Isolierung" (im frühen Erwachsenenalter)

„Generativität gegen Selbstabsorption" (im Erwachsenenalter) „Integrität gegen Lebens-Ekel" (im reifen Erwachsenenalter) Ein wesentliches Moment der Ausprägung einer positiven Identität

scheint die Möglichkeit Identifikation der Heranwachsenden mit den Identitäten von Vorbildern zu sein (S. 139). Mit ihnen muß allerdings eine befriedigende gegenseitige Beziehung vorausgehen, ähnlich der zwischen „mütterlich betreuenden Erwachsenen und dem betreuten Kinde" (S. 140). So schreibt Erikson: „Das Schicksal der Kindheitsidentifikationen hängt wiederum davon ab, daß das Kind in ein befriedigendes Wechselspiel mit einer vertrauten und sinnvollen Hierarchie von Rollen kommt, wie sie ihm von den in der Familie zusammenlebenden Generationen vorgelebt werden" (ebenda S. 140). Besonders in der Pubertät, die durch eine Identitätsdiffusion gekennzeichnet ist, scheint es wichtig zu sein, über solche positiven Ressourcen zu verfügen, um „gegen die potentiell schädliche Vorherrschaft des kindlichen Über-Ichs" und „der übermäßigen Selbstverurteilung und dem diffusen Haß auf Andersartiges" ankämpfen zu können zur

(S.212).

3. 3. 3. Zur Identitätstheorie des Interaktionismus Wir haben hier eine Theorie, die für die Pädagogik im Rahmen der Sozialen Arbeit adäquater erscheint. Sie wird darum auch etwas ausführlicher dargestellt. Lothar Krappman (1973) beschreibt in seinem Buch ,Soziologische Dimensionen der Identität' eine viel zitierte, interessante Position. Für ihn ist Identität ein Konstrukt für ein ständig neu ansetzendes Bemühen, in eine Balance mit sich und der Welt zu kommen. Identität hat

Modelle des

116

Erziehungsbegriffs

nicht, sondern man muß sie immer wieder neu erwerben, indem man sich mit anderen auseinandersetzt. Jede Situation ist eine Interaktionssituation, in der ich mit Bedürfnissen, Erwartungen und Interessen anderer konfrontiert bin und in der Erwartungen auch an mich gestellt werden, die ich mit meinen Vorstellungen koordinieren muß. Bildlich gesprochen zerre ich an anderen, weil ich etwas von ihnen bekommen will, und sie zerren an mir, weil sie etwas von mir haben wollen. Solange dieser gegenseitige Austausch nach dem Motto „Gibst du mir dies, dann gebe ich dir das" stattfindet, realisiert sich Identität. Wenn er ungleich verläuft, entsteht ein Konflikt, und wenn er einmal ausfällt, dann entsteht Rückzug in die Resignation. Das könnte z.B. der Fall sein, wenn man die Ansprüche anderer an einen nicht mehr aushält und dem Konflikt aus dem Weg geht oder wenn die anderen fliehen, weil sie die Ansprüche nicht ertragen. Was die Erforschung der Identität betrifft, so gibt es eine Reihe von Ergebnissen mit unterschiedlichen und natürlich auch gegensätzlichen Erkenntnissen. Vor allem in den Jahren zwischen 1950 und 1970 wurde diesbezüglich besonders in Amerika viel publiziert. Krappmann (1973) gibt hierzu im ersten Kapitel eine Übersicht. Basistheorie seines Identitätsbegriffes ist der Symbolische Interaktionismus. In ihm sind die Interaktionen des Alltags Ausgangspunkt für Analysen. Der Begriff „symbolisch" beschreibt die Tatsache, daß ein sprachlicher Austausch von verbalen und nonverbalen Zeichen im Medium von Interaktionen nicht eindeutig festgelegt werden kann. Jedes Zeichen als Wort, Geste, Mimik ist in seiner Bedeutung von unterschiedlichen Bezugsfeldern und Verhandlungsformen der Interaktion abhängig und darum immer mehrdeutig bzw. symbolisch. Die bekanntesten Mitbegründer dieser Theorie in der Soziologie sind E. Goffman (1967), A. Schütz (1960, 1974) und G.H. Mead (1968, 1973). Auch H. Hierdeis (1976) geht im Zusammenhang zur interaktionistischen Rollentheorie im Gegensatz zur strukturell-funktionalen Rollentheorie auf Lothar Krappmann ein. Er faßt S. 99 die bei Krappmann S. 20 und 21 genannten Merkmale zusammen, der seinerseits dabei den Amerikaner A.M. Rose zitiert: man

„1. Der Interaktionismus geht von der Analyse von Alltagserfahrungen aus, die jedermann

zugänglich sind..."

-

-

„2. Der Interaktionismus bevorzugt daher die Beobachtung des Verhaltens, wie es unter normalen Umweltbedingungen abläuft..." „3. Der Interaktionismus ist der Auffassung, daß das Individuum auf soziale Beziehungen ein Selbst aufbauen bzw. Identität gewinnen kann..." „4. Der Interaktionismus behauptet folglich, daß die Gesellschaft, das Geflecht interagierender Individuen mit ihren Werten und Normen, genetisch dem Individuum vorausgeht. Im Sozialisationsprozeß werden dem Kind die Fähigkeiten vermittelt, sich erfolgreich an Interaktionen zu beteiligen, und zwar in einer Weise, die nicht nur passive Anpassung, sondern aktive Einflußnahme ist.." (Krappmann bezieht sich hier auf G.H. Mead und seine Unterscheidung von / und me, also von spontanem Ich und dem von den anderen übernommenen

Ich.)

„5. Der Interaktionismus betrachtet das soziale Geschehen als einen offenen, dynamischen Prozeß. Jedes Interaktionssystem muß folglich immer wieder neu Integration suchen. Jedes Individuum muß sich ständig bemühen, seine Beteiligung an Interaktionen und somit zugleich auch sein Selbst, bzw. seine Identität, neu zu stabilisieren." „6. Der Interaktionismus erklärt Verhalten nicht im Schema von Stimulus und Response Er weist vielmehr nach, daß der Mensch in seiner symbolischen Umwelt lebt. Alle Gegenstände, Strukturen, Personen und Verhaltensweisen erhalten durch gemeinsame Interpre.

tation soziale

Bedeutungen (meanings) Auf dieser Grundlage begreift der Interaktionismus

Kapitel

HI:

Erziehung als Identitätshilfe

1 17

soziales Handeln zum Beispiel Rollenhandeln stets als interaktional, nämlich als Bemühung, einen Sinngehalt zu verwirklichen." Auf das Verhältnis von / und me bei G.H. Mead geht L. Krappmann S. 59 ein. „Am brilliantesten ist der Baseball-Spieler, der so spielt, wie es die anderen Mitglieder seiner Mannschaft erwarten. Durch das me wird das Individuum Mitglied einer Gruppe oder einer Gesellschaft. Durch das I gibt es mit den konventionellen Mitteln, die seine Gruppe oder Gesellschaft anbieten, zu erkennen, daß es eine eigene, einmalige Identität aufrecht zu erhalten versucht. Das me, die Erwartungen der anderen, erlegt also einerseits dem I Einschränkungen auf, andererseits gibt es jedoch für das I keinen anderen Weg als über dieses me, um sich in seiner Besondas I derheit verständlich zu machen... Die jeweils neu zu entwerfende Struktur, in die durch interpretierende Organisation die me's bringt, wird hier als Identität bezeichnet. Sie ist die kreative Antwort des Individuums auf angesonnene Erwartungen." -

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...

Identität ist für ihn die immer wieder neu herzustellende Balance zwischen den Normen und Erwartungen, die an das Individuum gerichtet sind, und den Bedürfnisdispositionen, die es von innen heraus nach außen hin zeigt, und mit denen es den Ansprüchen Grenzen setzt. Um generell einen Austausch durchführen zu können, müssen wir verhandlungsfähig sein, d.h. wir müssen eigene Bedürfnisse mit fremden Erwartungen kombinieren können. Dazu braucht das Ich aber spezielle Fähigkeiten. An zentraler Stelle stehen dabei die „identitätsfördernden Fähigkeiten", die neben dem „flexiblen Normensystem" des „role making" aufseiten der Gesellschaft im Individuum vorhanden sein müssen, damit Interaktionen glücken können. Es sind dies die Fähigkeiten: zur

..Rollendistanz" (S. 133 ff.),

„Role taking" und zur „Empathie" (S. 142 ff.), zur „Ambiguitätstoleranz" und zu „Abwehrmechanismen" (S. 150 ff.) und zur „Identitätsdarstellung" (S. 168 ff.). Die „Rollendistanz" zeigt sich vor allem in der individuellen und kreativen Antwort des Indi-

-

zum

viduums auf die Anforderungen von außen. „Role taking" und „Empathie" als Einfühlungsvermögen und Antizipation der Reaktionen anderer sind die Voraussetzung für die „Formulierung einer Ich-Identität" (S. 143). Unter „Ambiguitätstoleranz" wird eine Fähigkeit verstanden, den „Belastungen", die durch Rollendistanz und Empathie dem Ich auferlegt sind, entgegenzuwirken. Sie trägt dazu bei, trotz Unterschiedlichkeit der Interaktionspartner an Interaktionen teilzunehmen (S. 151). Die „Identitätsdarstellung" ist eine Fähigkeit, die „persönliche Ich-Identität den anderen vor-

zutragen" (S. 169). 3. 4.

Allgemeine Ansätze einer pädagogischen Identitätshilfe

Die pädagogische Identitätshilfe geht über die Vorstellung einer caritativen Beziehung hinaus und bewegt sich vor allem methodisch auf therapeutischem Terrain. In bezug auf das ins Ungleichgewicht geratene Ich umfaßt es mehrere unterschiedliche Leistungsbereiche. In der Hauptsache sind es begleitende Hilfen zur:

Linderung Heilung

Klärung Orientierung

Vorsorge Nachsorge

Modelle des

118

Erziehungsbegriffs

Die Linderung kann Trost heißen, aber auch Begleitung und Unterstützung, die Heilung Genesung und Wandel, die Klärung Vergangenheitsbewältigung und Selbsterfahrung, die Orientierung persönliche Standortbestimmung, die Vorsorge Schutz vor Gefährdung und die

Nachsorge Betreuung. Die entsprechenden Vermittlungsfelder, in denen in Form von Einzelfallhilfe und Gruppenarbeit mit einzelnen, mit Gruppen und Teams professionell pädagogische Identitätshilfe geleistet

wird, sind (u.a.):

Verhaltenstraining (mit dem Theorem Verhaltensmodifikation) Beratung (mit dem Theorem Supervision) Gruppenarbeit (mit dem Theorem Gruppendynamik) Die Absichten sind (u.a.): Verhaltensänderung durch Erkennen neuer Perspektiven und Wege Bewußtwerden der Verhaltenswirkungen auf andere Einüben und Erleben

von

Sozialverhalten

Wesentlich ist, daß alle Gesichtspunkte zur Identitätshilfe immer etwas mit dem Ich und seiAnerkennung durch andere zu tun haben. Ziel ist es, dem Anerkanntsein, der Akzeptanz und Würdigung der Individualität einen Platz einzuräumen, von dem aus der einzelne gehört wird und von dem aus er auch fähig ist, andere zu hören. ner

Exkurs: Anerkanntsein kann eine Menge heißen: geliebt sein, geschätzt werden, bewundert werden, Verantwortung übertragen bekommen, eine wichtige Aufgabe erfüllen, eine Bedeutung haben. Anerkennung ist sicher nicht gleich Lob. Im Gegenteil. Wer zu jemanden sagt: „Ich muß Dich loben", drückt oft eher etwas anderes aus: Das, auf was ein Mächtiger neidisch ist. Echte Anerkennung kommt ohne Hierarchie aus. Aus dem

Bisherigen können wir folgendes festhalten: Pädagogische Identitätshilfe ist erzieherische Einflußnahme über hilfreiche und wirkungsvolle therapeutische Interaktionen. Sie ist aber nicht Therapie. Denn sie findet z.B. auch im Rahmen von Beratung statt. Zusammengefaßt heißt dies: Pädagogische Identitätshilfe hat das Ziel der Verminderung eines Verlusts an individueller und gesellschaftlicher Identität. In beiden Fällen handelt es sich um Hilfe, also um den Versuch einer Verringerung eines Identitätsdefizits, das sich als Anerkennungsdefizit im mangelnden Selbstwert der Person zeigt, z.B. im Zutrauen zu sich selbst und in einer für die Person problematischen Rollenzuweisung von außen. Gegenstand der Identitätshilfe ist die Störung nach innen und nach außen, die sich verdeckt in den Symptomen der Isolation und offen durch abweichendes Verhalten, durch Aggression und Mißachtung allgemeiner Regeln und Normen zeigt. Ursache dazu ist immer die in Unordnung mit sich und der Welt geratene, sich in einer Krise befindliche Identität, und erlebt wird sie durch die Situation des Ausgeklammertseins, im Mangel an Anerkennung und im Fehlen eines Selbstwertgefühls. Die emotionalen Komponenten dazu können Angst sein, Niedergeschlagenheit Unsicherheit und Einsamkeit, aber auch Wut und Zorn. Die Konstrukte dazu heißen u.a. Neurose, Phobie, Depression, Apathie und Aggression, ganz zu schweigen von den wirklich pathologischen. Das der Praxis der Identitätshilfe zugrundeliegende Denkmodell, nach dem hier gehandelt wird, ist anders als in der Enkulturationspädagogik grundlegend nicht antizipatorisch im Sinne der Vorwegnahme von Lernzielen und auch nicht im Sinne eines Wissens darüber, was -

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119

Kapitel III: Erziehung als Identitätshilfe

Menschen gut tut. Es versucht Wahrnehmungen und Erkenntnisse über das momentane Erscheinungsbild der Identität zu gewinnen und geht so möglichst unvoreingenommen vom gegebenen Phänomen des Verhaltens aus. Dann orientiert es sich an einem theoretisch dahinter stehenden Persönlichkeitsmodell. Das Interesse, an das sich dieses Modell anlehnt, ist seinerseits wiederum an die Kategorien der Hilfestellung geknüpft, das heißt, es versucht möglichst optimale therapeutische und prophylaktische Wege zu konzipieren, die dem Menschen vor allem in seiner Autonomie auch anmessen sind. Auf einen Nenner gebracht könnte man sagen: Das Denkmodell, dem das Handeln der Identitätspädagogik folgt, geht vom Hier und Jetzt des konkret gezeigten Verhaltens aus und von der Situation und der Lebenswelt, die dieses Verhalten bewirkt. Es versucht das Verhalten zu analysieren und zu diagnostizieren, entweder empirisch oder phänomenologisch oder hermeneutisch oder dialektisch oder durch eine Mischform dieser Methoden. Es konzipiert methodisch-pragmatisch persönlichkeitsstützende und -fördernde Wege, die zur Selbstentfaltung über Selbsterfahrung, Selbsterkenntnis, Selbstregulierung und -Veränderung führen sollen.

3. 5.

Therapeutische Erziehungsansätze

In den Fällen, in denen Identitätsstörungen von außen erzeugt wurden, vertritt die Pädagogik die Auffassung, daß sich die Identität auch wiederum durch eine Veränderung von außen, durch Interaktionen und Identifikationen zum Positiven hin stabilisieren läßt. Die Erziehungsansätze dazu sind entweder rein therapeutisch im Sinne einer Linderung und Heilung oder prophylaktisch im Sinne ethischer Vorsorge konzipiert. Im ersten Fall steht der Gedanke einer psychologisch-klinischen Betreuung im Vordergrund in der Sozialen Arbeit z.B. vor allem für diejenigen, die am Rande leben bzw. mit einer Behinderung und einer Krankheit leben müssen. Im zweiten soll rechtzeitig vor einem Identitätsverlust durch Konsumbedrohungen wie z.B. Videokonsum, Drogenkonsum, Kriminalität und durch andere Irreführungen wie z.B. der Zugehörigkeit zu Sekten und anderen gefährdenden Gruppen geschützt werden. Dazu sollen Lebensmodelle als Schutzschilde dienen, die von sich aus und auf natürliche Weise eine gesunde Identitätsentwicklung ermöglichen. Die therapeutische Pädagogik bedient sich dazu der Methoden der psychologischen Therapie, der klinischen Psychologie, der Verhaltenspsychologie, Tiefenpsychologie und Sozialentsprechenden Unterforpsychologie. Sie tut dies als Einzel- und Gruppentherapie mit den men aus der Spieltherapie und anderen Varianten. Sie bedient sich aber auch der Methoden der Beratung und der Supervision, die beide auch an entsprechende Psychologien geknüpft sind, und sie nutzt als Medium die Grundlagen der Systemtheorie, der Gruppendynamik und der Kommunikations- und Interaktionstheorie. So wird in der Praxis z.B. mit Methoden aus der „nicht-direktiven Beratung", der „Familientherapie", der „Krisenintervention", der „Themenzentrierten Interaktion" (TZI-Methode) und auch der „Transaktionsanalyse" (TA), um nur -

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einige zu nennen, gearbeitet. Die Hauptfelder der Praxis, in denen Identitätspädagogik in unserem Sinne betrieben wird, sind u.a. Jugendarbeit, Altenarbeit, Familien- und Gesundheitshilfen, Heimerziehung, Arbeit mit Behinderten, Resozialisierung und Drogenarbeit. Auf diese Bereiche können wir erst in einem späteren Kapitel eingehen, da sie neben der Analyse, der Diagnose und der Gesprächsführung und -leitung unmittelbar der professionellen pädagogischen Handlungs- und Feldkompetenz angehören. Um die Komplexität einer pädagogischen Identitätshilfe etwas zu vereinfachen, wollen wir an einem Beispiel unterschiedliche Wege verdeutlichen: Eine alleinerziehende Frau hat enorme Probleme mit ihrem 14-jährigen Jungen. Während sie berufstätig ist, streunt er, anstatt zur Schule zu gehen, den ganzen Tag an obskuren

Modelle des

120

Erziehungsbegriffs

Plätzen herum. Von ihr läßt er sich überhaupt nichts mehr sagen. Seit einiger Zeit ist er im Besitz eines Gameboys unbekannter Herkunft. Sie hat große Angst, er könnte eines Tages auf die schiefe Bahn geraten. Außerdem befürchtet sie, daß er alles seinem Vater nachmacht. Ihre Freundin hat sie nach langen Gesprächen dann doch davon überzeugen können, sich bei einer der Beratungsstellen für ein Gespräch anzumelden. In diesem Fall ist klar: Der Junge ist auf der Suche nach Identität. Er sucht Aufgehobensein und Anerkennung. Die Mutter ist in ihrem Erziehungsverhalten verunsichert und bedroht. Auch sie sucht nach Identität. Wir wollen dieses Beispiel zum Paradigma für verschiedene therapeutische Konzepte einer pädagogischen Identitätshilfe hernehmen. Wir wollen dabei auch die technische Frage stellen, wie denn die Identitätshilfe nun eigentlich funktioniert. Dazu wollen wir eine Art Gedankenexperiment zur Veranschaulichung machen. Wir stellen uns vor, die Beratung stellt drei unterschiedliche Interventionssysteme zur Auswahl, in die der Junge und seine Mutter gehen könnten. Diese Eingreif-Systeme werden durch Räume symbo-

lisiert:

im ersten Raum (3.5.1.) wird mit Verhaltensmodifikationen gearbeitet, der zweite (3.5.2.) folgt dem Modell der Psychoanalyse und Tiefenpsychologie, der dritte (3.5.3.) orientiert sich an der Sozialpsychologie und am Interaktionismus. Was in den einzelnen Räumen ganz konkret über einen längeren Zeitraum hinweg abläuft, können wir nur über die Beschreibung wesentlicher identitätsstützender, therapeutischer Merkmale erzieherischer Beeinflussung skizzieren. Wir verweisen hier auf die entsprechende Literatur. Außerdem sei noch hinzugefügt, daß es natürlich noch weitaus mehr und auch noch anders konzipierte Räume gibt und natürlich auch eigene Verbindungen zwischen den Räumen. Denn allein wenn man das Spektrum an Therapieansätzen aus der Psychoanalyse, Gesprächstherapie, Gestalttherapie, rational-emotiven Therapie, Familientherapie, Verhaltenstherapie, Primärtherapie, Musiktherapie, aus der Hypnotherapie, dem Focusing, dem Feidenkrais, der fähigkeitsaktivierenden Therapie, der feministischen Therapie und der Sozialtherapie betrachtet, ist die Fülle eher verwirrend. Das Taschenbuch Psychologie heute' (1989) gibt zum Thema „Psychotherapie heute" auf die Frage „Welche Therapie?" eine gute Übersicht. ,

3. 5. 1. Identitätshilfe durch Verhaltensmodifikation Szenarium des ersten therapeutischen Erziehungsraumes ist eine Identitätshilfe durch Verhaltenstraining nach dem Modell der Lernpsychologie und des Behaviorismus. Es ist (a) als Einzeltraining und (b) als Gruppentraining für den Jungen und die Mutter getrennt möglich.

(a) Einzeltraining Nach Petermann F. & Petermann U. (1978, S. 28) wären die positiven Ziele die Gewinnung einer optimistischen und aktiven „Haltung hinsichtlich der Bewältigung bevorstehender Probleme", der "Abbau von Defiziten" und „Herbeiführen von bescheidenen Erfolgen" sowie der „Abbau von Einschränkungen und Mißverständnissen in der Familie". Erreicht werden soll dies (S. 29) durch:

„verbesserte Selbst und Fremdwahrnehmung" „Selbstkontrolle und Ausdauer"

„Umgehen mit dem eigenen Körper und Gefühlen" „Selbstsicherheit und stabiles Selbstbild"

Kapitel

III:

Erziehung als Identitätshilfe

121

„Einfühlungsvermögen, Umgehen mit Kritik und Mißerfolg" „Integration der Ziele" Das Training beginnt mit einem diagnostischen Informationsgespräch (S. 47), in dem nach „allgemeinen Aussagen" über die „bisherige Entwicklung", vor allem in bezug zu seiner

Mutter und anderen Kontaktpersonen, die „aktuelle Situation" des Jungen in seinem Ablauf möglichst genau und möglichst konkret beschrieben werden soll. Dazu dient auch ein Fragebogen als „Leitfaden" sowie ein Papier zur Verhaltensbeobachtung, das mit Hilfe eines Kategoriensystems operationalisierte Merkmale enthält (S. 64 ). Das Einzeltraining selbst klärt zunächst über den Verlauf auf. Es wird ein schriftlicher Kontrakt geschlossen. Das Training bezieht sich inhaltlich auf verschiedene Themen, wie z.B. „Beruf und Zukunft", „Freizeit und Familie". Das methodische Vorgehen ist dabei immer ähnlich: Nach einer Beschreibung der eigenen Situation folgt eine Phase der Gestaltung dieser Situation (z.B. durch Malen) danach werden Wunschvorstellungen sichtbar, die in einem Rollenspiel dann bearbeitet werden. Am Ende werden Absprachen über eine „Beobachtungsaufgabe" zum jeweiligen Thema getroffen, damit das eigene Verhalten selbst beobachtet und eingeübt werden kann. Hierüber soll auch eine Art Tagebuch geführt werden. Durch dieses Vorgehen soll dem Jungen einerseits das eigene Verhalten durch Techniken der Selbstkontrolle schrittweise bewußt gemacht werden, indem er es in Distanz zu sich selbst setzen kann, andererseits werden auch neue Möglichkeiten und Verhaltensperspektiven für ihn sichtbar. Ziel ist es, eine positive Haltung zum Leistungssystem der Schule zu gewinnen. Parallel dazu verläuft auch die Beziehung zur Mutter. Identität im Sinne von Stabilität und Selbstbewußtsein wird für ihn damit lernbar. Den Regelkreis einer Verhaltensmodifikation beschreibt H. Feser (1981, S. 118). Die Schritte sind:

„Selbstverstärkung" „Aufbau von Kontrollverhalten" „Aufbau von Alternativverhalten" „Einsatz von Ko-Therapeuten" „Einübung von Entspannungstechniken u.ä." (S. 127). Für die Mutter würde das Einzeltraining nach ähnlichen Mustern verlaufen. Das Ziel wäre hier allerdings, sie zu einem professionelleren Erziehungsverhalten zu führen. Ansätze dazu werden in den „Techniken der Selbstkontrolle" beschrieben (Nach H. Feser 1981, S. 118

ff.). Ihre Stationen sind:

vor dem Handeln bewußt gemacht. So müßte sich die Mutter z.B. unmittelbar vor einer Erziehungsentscheidung fragen: „Wenn ich bei meinem Kind das Ziel X erreichen will, dann muß ich ihm auch den Weg dazu öffnen und das Erreichen des Ziels nicht durch etwaige Verbote verhindern". „Selbstkontrolle": Hier müßte die Mutter Vorkehrungen „selbststeuernd" für sich treffen, um „momentan unangenehme Bedingungen aushalten zu können" (S. 120). „Verhaltensbeschreibung in Beobachtungsbegriffen": Der Mutter müßten bei der gelegentlichen Beobachtung ihres Erziehungsverhaltens ihre eigenen „Beobachtungs- und Beurteilungsfehler" und die Quellen dazu bewußt gemacht werden. Sie muß sich darum in den Techniken des systematischen Beobachtens üben. „Verhaltensanalyse: Bestimmung des Problemverhaltens, Verhaltensziel, Widerstände": Dieser Komplex ist fur die Mutter der wohl schwierigste. Sie muß Zusammenhänge erkennen zwischen dem gezeigten Verhalten und der es verursachenden Situation sowie die

„Selbstbeobachtung": Erziehungsziele werden unmittelbar

Folgeerscheinungen, die sich daraus ergeben.

Modelle des

122

Erziehungsbegriffs

„Eigengesteuerte Verhaltensmodifikation":

Hier muß sie Alternativen in ihrem Verhalten

erkennen, einsetzen und kontrollieren lernen. „Kontrolle des geänderten Verhaltens": Sie besteht „in einem Vergleich

von Ist- und Sollwert nach einer angemessenen Zeit" (S. 127). Hier wird die Mutter erkennen, was ihr in einer bestimmten Zeitspanne bereits gelungen ist und woran sie folglich festhalten kann.

(b) Gruppentraining

Gruppentraining nach dem Konzept der Verhaltenstheorie würde den Jungen unter der Anleitung eines Therapeuten in eine Gruppe Gleichaltriger stecken. Das Buch Verhaltenstherapeutische Gruppenprogramme in der pädagogischen Praxis' (hrsg. von W. Wendlandt 1979) beschreibt (S. 67 96) ein „Selbstsicherheitstraining", das im Klassenzimmer der Schule durchgeführt werden kann. Es beruht im wesentlichen in einem Verstärkungsangebot des gewünschten Verhaltens. Für die Mutter ist ein Elterntraining konzipiert. Es wird in der Form von Elternsitzungen abgehalten, in denen die Eltern untereinander die ihrerseits zum Training notwendigen Unterstützungsmaßnahmen besprechen. Auch hier kommt das VerstärkerModell zur Anwendung. Ein ganz anderes, jedoch noch in diesen Rahmen gehörendes Konzept ist das der Familientherapie von Th. Gordon (1972). Es beruht auf einer in der Verhaltenstherapie anwendbaren Kommunikationstheorie, nach der Kommunikationsstörungen durch die Beachtung von formalen Gesprächsregeln, z.B. auch in der Form von Hausaufgaben, verbessert werden können. Ein

,

-

3. 5. 2. Identitätshilfe durch

psychoanalytische Rekonstruktion

Haus, in dem sich der zweite Raum befindet, ist nach dem Modell der Psychoanalyse und Tiefenpsychologie konstruiert. Die erzieherischen und therapeutischen Interventionen, die hier stattfinden, nehmen zwar auch ihren Ausgang vom Hier und Jetzt des Verhaltens, der Hauptunterschied aber ist, daß sie es nicht in Richtung eines gewünschten und vorformulierten Soll-Zustandes systematisch hin-modifizieren, sondern es auf seinen eigenen EntsteDas

hungszusammenhang reduzieren. Jedes Verhalten hat eine individuelle EntstehungsgeschichBewußtwerdung es verändert werden kann. Psychoanalyse und Tiefenpsychologie sind selbst schwer abzugrenzen, zumal es sich hier um große und auch engverbundene Richtungen handelt, deren Beschreibung an anderer Stelle erfolgen müßte. Daher haben wir uns daher auch für den Begriff Rekonstruktion entschieden, weil er auch das zentrale Arbeitsmaterial derjenigen Richtungen ist, die der klassischen Psychoanalyse und Tiefenpsychologie inzwischen kritisch gegenüberstehen. Im Unterschied zum ersten Raum wird angenommen, daß die Entstehungsgeschichte der Identität immer eine Geschichte von Beziehungen ist. Das Verhalten des Jungen ist somit ursprünglich ein Produkt der Beziehung zur Mutter, zum Vater und zu anderen Personen, mit te, über deren

denen er sich identifiziert hat und deren traumatische Anteile, bzw. Erfahrungen von Verletzungen, er verdrängt, abgelehnt und abgewehrt hat. Ausgangspunkt der negativen Erlebnisse sind jene schlimmen Situationen von Angst und Schmerz, hervorgerufen von Ereignissen oder Handlungen mißhandelnder Autoritäten, denen gegenüber man körperlich und moralisch machtlos war. „Identifikation" und „Abwehr" sind Schlüsselbegriffe, die wiederum mit den schon bei Erikson genannten Begriffen Urvertrauen und Urmißtrauen zusammenhängen. Wir können hier jedoch nicht auf den psychoanalytischen Background eingehen. Er ist sehr differenziert und

Kapitel III: Erziehung als Identitätshilfe

123

hat eine lebendige Historie. Wir können in diesem Rahmen nur Wesentliches festhalten und verweisen auf entsprechende Literatur. Die Psychoanalyse vertritt die Auffassung, daß die Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte eines Problems entscheidend ist für seine Bewältigung. Mit der Entstehungsgeschichte sind Schlüsselerlebnisse verbunden, die das als Erfahrungen von Verletzung und Glück in der Vergessenheit des Unterbewußtseins gespeichert sind und die sich energetisch und aktiv von innen heraus auf das Verhalten auswirken. Mit der Bewußtmachung der Schlüsselerlebnisse entsteht Klarheit und Distanz zum eigenen Verhalten, das nun vor allem der traumatischen nicht mehr seinen eigenen Fallen zum Opfer fallt. Damit wird auch der Teufelskreis bzw. der Wiederholungszwang eines Problems durchbrochen. Denn durch die Rationalisierung, so wird angenommen, läßt sich auch das Bild, das man von sich und von anderen hat, individuell aufarbeiten. Die Therapieformen, die aus der Psychoanalyse und der Tiefenpsychologie heraus entwickelt wurden, sind sehr vielfaltig (vgl. W. Toman 1978). Noch dazu reichen sie teilweise in weiterführende Richtungen wie z.B. die Gestaltspychologie und die Theorie von Archetypen. (Eine gute Übersicht geben auch E. und R. Zundel 1991.) Wir wollen, bezogen auf unseren Fall, zwei problemorientierte Vorgehensweisen im Rahmen von Einzel- und Gruppentherapie herausgreifen: (a) Der Junge soll sich der Beziehung zu seiner Mutter bewußt werden und durch die Aufarbeitung auch eine neue Beziehung zu sich bekommen. (b) Die Mutter selbst soll sich über ihr Erziehungsverhalten bewußt werden, inklusive darüber, wie sie selbst von ihren Eltern erzogen wurde, um einem neuen Bild ihrer Erziehungspraxis und zu einer neuen Beziehung zu ihrem Kind zu kommen. -

-

Diesen Zielen dienen auch hier Einzel- und

Gruppentherapie.

(a) Der psychoanalytische Weg würde sich innerhalb einer Einzeltherapie zunächst der Tiefenhermeneutik der Sprache des Jungen bedienen. Es geht hierbei darum herauszubekommen, welche subjektive Bedeutung die von ihm selbst gemachten Aussagen haben. Wenn der Junge z.B. sagen würde, er habe keine Lust mehr, in die Schule zu gehen, so müßte das Bedeutungsumfeld bzw. die Semantik des Begriffs „Schule" erhellt werden. Dazu müßte geklärt werden, an welche Erlebnisse seine Vorstellungen geknüpft sind, und warum diese Erlebnisse

so negativ für ihn waren. Letzteres ist sicher schwierig und braucht Zeit. Denn das Negative des semantischen Umfeldes über eine Schilderung konkreter Erlebnisse festzuhalten, führt unmittelbar in die Zone der Vergangenheit und verlangt ein behutsames Vorgehen. Dazu kommt das klassische Problem der Übertragung der eigenen Vergangenheit der das Gepräch führenden Person und auch der Gegenübertragung so wie auch das durch die Situation gegebene Machtproblem. Wir können hierauf allerdings nicht weiter eingehen, da es uns darum geht, den Verlauf allgemein zu skizzieren. Der psychoanalytische Weg will über reine Assoziationen in Form von Beschreibungen, Schilderungen und narrativem Ausmalen hinaus noch weiter in die Tiefe. Er will zu den generierenden Schlüsselerlebnissen selbst gelangen. Es wird gefragt, wovon die Semantik, die Vorstellungen und Gefühle zu Begriffen hervorgerufen werden. Um dorthin zu gelangen, muß der Junge zu den primären Bezugspersonen selbst zurückgelangen, indem er sich seiner Identifikations- und Vertrauenschancen defizitär erinnert. Dabei wird angenommen, daß die im für etwas, was therapeutischen Gespräch geäußerte Semantik zunächst ein Ersatz sein könntesich mit ihm zu er von sich wegschiebt, vielleicht der Vater, der ihn unfähig gemacht hat, könnte Dazu kommen, daß die messen oder sich konstruktiv mit ihm auseinanderzusetzen. natürlich sie als und daß Lernanstalt den Vater an ihrer erinnert, Schule in Autoritätsstruktur

Modelle des

124

Erziehungsbegriffs

nicht den in der Familie erlittenen Verlust an Liebesbeziehung wettmachen kann. Deshalb könnte sie verständlicherweise denn sie findet im Rahmen sozialer Beziehungen statt als Projektionsfeld einer Art aggressiver Abwehr betrachtet werden, aus der heraus Flucht und Suche nach einem Liebesersatz außerhalb, in einem vermeintlich enttabuisierten und entmoralisierten Raum, resultieren. Die Methoden zur Aufarbeitung der Beziehung zu den Primärpersonen sind in den einzelnen Therapien je nach ihrem Theorieansatz unterschiedlich konzipiert. Sie reichen vom symbolischen Ausmalen der Gefühle und ihres Wechsels, der freien Assoziation auf Reizwörter bis hin zur szenischen Rekonstruktion durch Rollenspiele. So könnte der Junge z.B. gefragt werden, wie das denn sei, wenn seine Mutter nach der Arbeit nach Hause käme. Die Szene würde bis hin zu den Räumlichkeiten nachgestellt werden. Der Junge müßte dann auch im Wechsel sich und seine Mutter spielen. Im Mittelpunkt allerdings stehen jene Szenen, die ein sehr hohes Maß an innerer Verletzung und innerer Sehnsucht beinhalten. Sie noch einmal zu durchleben und zu bearbeiten, bedeutet ein Stück Realitätsbewältigung und damit die Gewinnung einer inneren Kraft. -

-

-

-

Exkurs: Viele solcher Rollentauschmomente enthält auch die Transaktionsanalyse (TA). Sie geht davon aus, daß wir beim Sprechen verschiedene Ich-Zustände repräsentieren. Erwachsenen-Ich, Eltern-Ich und Kindheits-Ich werden meist unbewußt benutzt und erzeugen durch die Konstellation des Gegenüber bestimmte Kommunikationsprobleme (vgl. Th. A. Harris 1987). Ziel ist es, diese bewußt zu machen, um nicht immer wieder in dieselben Ecken gedrängt zu werden. Alle methodischen Ansätze, deren Ziel die Projektion innerer Realitäten ist, sind aber nur sinnvoll, wenn aus ihnen heraus auch Übertragungen im Sinne einer Anwendung der gewonnenen Kognitionen möglich werden. Deswegen sind, so ähnlich wie auch in der Verhaltensmodifikation, detaillierte pragmatische Handlungsschritte zu formulieren, die konkret erprobt und, wenn sie nicht gelingen, immer wieder neu analysiert werden müssen. Dazu muß natürlich auch die Mutter des Jungen einbezogen werden. Im gruppentherapeutischen Ansatz (z.B. nach Balint) wird (nach W. Toman 1978, S. 169) „versucht, unter Anpassung der Gesprächsführungsregeln der klassischen Psychotherapie an die Gruppensituation die Affekte, Motive und Konflikte in der Gruppe zu erkennen, zu kommentieren und zu deuten. Die Gruppenmitglieder sollen einander zu Beginn nach Möglichkeit unbekannt sein und während der Dauer der Gruppentherapie miteinander nicht außerhalb der Gruppensitzungen zusammenkommen." Für den Jungen bedeutet das, daß sein individuelles Thema schrittweise auch in der Gruppe zum Thema wird. Der positive Effekt für ihn ist dabei der Prozeß einer zunehmend intensiveren Bearbeitung der eigenen Problematik. Es wird ihm damit auch ermöglicht, sich geistig und gefühlsmäßig davon zu distanzieren.

(b) Steht das Erziehungsverhalten

der Mutter im Zentrum, so nimmt die psychoanalytische dabei an, daß die eigene, unaufgearbeitete Erziehungsvergangenheit ganz wesentlich das erzieherische Handeln beeinflußt. Dazu kommt natürlich auch ihre Situation als

Betrachtung

Alleinerziehende. Die Konzepte einer Familientherapie sind sich nicht einig bei der Frage, ob dazu auch Kinder zugelassen sind. In jedem Fall aber geht es nach ähnlichen Gesprächsführungsregeln wie oben darum, zu einem klareren Bild der gegenwärtigen und vergangenen Beziehungen zu gelangen, in die die Mutter verstrickt ist. In beiden Perspektiven wird sichtbar, daß die psychoanalytisch orientierte Familientherapie ein außerordentlich sensibles Feld pädagogischer Einflußnahme darstellt. Das zeigen auch weiterführende Ansätze, auf die wir hier nur verweisen können (vgl. dazu E.u.R. Zundel

1991).

Kapitel

III:

Erziehung als Identitätshilfe

125

Exkurs: Nach dem Konzept der Psychoanalytikerin und Anti-Pädagogin Alice Miller (1979,1988) muß die Mutter lernen, um ihre eigene Erziehung zu „trauern". Sie muß sich der sogenannten „Schwarzen Pädagogik" und ihrer irrationalen Traumatik besinnen. Die Autorin ringt in ihren zahlreichen Büchern engagiert um die Beschreibung eines Weges dazu. Sie kritisiert dabei auch zunehmend die psychoanalytische Therapie, wenngleich sie nach wie vor deren Vokabular für ihre eigene Theorie verwendet. Die größte Hilfe hat sie in einer Primärtherapie gefunden (1988, S. 208 ff). Durch sie war es ihr offensichtlich möglich, sich von der Schuldverstrickung zu den Eltern zu befreien.

3. 5. 3. Identitätshilfe nach dem Interaktionismus Wer die therapeutische Landschaft genauer kennt, weiß, daß es zwischen Psychoanalyse und Interaktionismus ein ganzes Spektrum vom Ubergängen gibt. Anschaulich wird dies auch beschrieben in ,Psychologie heute' zum Thema „Welche Therapie" (1989). Der Übergang geschieht schrittweise durch einen Wechsel der Systeme und deren Axiome. So ist im Interaktionismus vor allem die Alltagssprache Ausgangspunkt. Im Zentrum steht das Erkennen von Kommunikationsstrukturen und deren Steuerung. Es handelt sich hier um die Auffassung, daß Sprachschwierigkeiten und Kommunikationsprobleme vor allem durch die Aufstellung entsprechender Regeln steuerbar und transparent werden. Ein typisches Beispiel dazu ist die „Themenzentrierte Interaktion" (TZI-Methode) von Ruth Cohn (1975). Ihre berühmtesten Regeln sind: „Sprich per ich und nicht per man" und „Sei dein eigener Chairman". Durch die Beachtung solcher prinzipieller Regeln kann sich Identität authentischer einbringen und versteckt sich nicht mehr hinter der anonymen Maske generalisierter Redeformen. Die Kommunikationstheorie ist in Verbindung mit der Systemtheorie und der Kybernetik die theoretische Grundlage sehr vieler Beratungs- und Therapiekonzepte. Beispiel ist die Familientherapie des „Centro per lo Studio della Famiglia" (beschrieben in ,Psychologie heute' 1989, S. 103) Hier wird die Verbindung aufgezeigt, wie sich die Grundlagen der Kommunikationstheorie von P. Watzlawick (u.a. 1969) auf die Therapie erfolgreich übertragen lassen. Es gäbe in diesem Zusammenhang noch eine Menge weiterer Beispiele (vgl. S. Minuchin

1987). Exkurs: In der Psychologie wird die Entwicklung von der Psychoanalyse zum Interaktionismus durch die Sozialpsychologie beschrieben. Ein sehr interessantes Buch dazu ist Das affektive Leben der Gruppen von M. Pages (1974). Die Methode der Phänomenologie scheint darin ein ganz entscheidendes Bindeglied zu sein. Ein jüngeres Beispiel einer interaktionistischen Wende sind auch die Erfolgsbücher von F. Schulz von Thun (rororo Sachbuch). Hier wird Psychoanalytisches, Gestaltpsychologisches, Transaktionsanalytisches ganz pragmatisch zu einem interaktionistischen Paket verschnürt. Die Vermischung von theoretischen Hintergründen scheint eines deutlich zu machen: Es wird heute mehr nach dem Erfolg von Methoden gefragt als nach deren theoretischer Legitimation. Fall. Was ihn betrifft, so könnte ein Einzelgespräch nach der in der sehr nicht-direktiven Methode (C. Rogers, 1977) und ihrer weitverbreiteten Beratungspraxis wird durch Konfrontation mit ihrem eigenen VerDie verlaufen. Mutter Spiegelungstechnik halten dazu geführt, ihrer Erziehungsproblematik auf die Spur zu kommen. Wäre sie in einer Gruppe, so kämen vor allem gruppendynamische Prinzipien methodisch zum Zug. (Forschungsergebnisse zur TZI-Methode sind z.B. in B. Genser u.a. 1979 nachzulesen). In der Gruppe würde die Mutter unter interaktionistischer Anleitung lernen, wie sich für sie z.B. eine positive Wertschätzung durch Kommunikation herstellen läßt. Damit hätte sie

Nun zurück

zu unserem

126

Modelle des

Erziehungsbegriffs

auch die Möglichkeit, eine bessere Beziehung zu ihrem Jungen zu bekommen (vgl. dazu auch L. Schwäbisch, M. Siems 1974). Die neuere Diskussion um Kommunikationsregeln im Erziehungsprozeß will vor allem aus der Sicht der Anti-Pädagogik Regelungen durch natürliche Interaktion ersetzen, d.h. sie auf Zeit aufstellen und aufrechterhalten, solange sie brauchbar sind, damit sie nicht zu autoritären Machtinstrumenten werden können. Eine weitere, allerdings nicht mehr rein interaktionistische Methode wäre die einer gestalterischen Darstellung über das Medium einer Geschichte oder eines Märchens. Das Sozialtherapeutische Rollenspiel liefert hierüber genauere methodische Auskunft (vgl. A. Stein 1983). Durch das Nachspielen und weiterführende Spiel von Märchen und Geschichten können Grundbeziehungen, z.B. wie die Mutter ihre Erziehungsrolle sieht, nach-gefühlt und nachrationalisiert werden.

3. 6.

Pädagogische Praxismodelle der Identitätshilfe

Wir werden nachfolgend eine Reihe bekannter Modelle nennen. Wir können sie allerdings auch hier wiederum nur ganz knapp charakterisieren und verweisen auf die entsprechende Literatur.

(a) Antiautoritäre Erziehung Eines der großen Modelle in der Geschichte der pädagogischen Praxis ist „Summerhill", jene nach wie vor existierende, legendäre Internatsinsel in England, die durch Alexander Sutherland Neill gegründet wurde. Das theoretische Gerüst dieser Schule bedient sich zwar eines psychoanalytischen Hintergrunds, es ist aber weitgehend aus dem gesunden Menschenverstand heraus, eher aufklärerisch entwickelt worden. Die Vernunft des Menschen kann Sinn stiften, denn sie ist von Natur aus gut. Das Prinzip hört sich einfach an und es scheint auch in Summerhill zu funktionieren: Kinder finden in der Gemeinschaft auch ohne Verordnungen von oben in ganz natürlicher Weise zu Formen vernünftigen Zusammenlebens und damit zu einem glücklichen Leben. Man muß ihnen nur den Raum geben, ihre Bedürfnisse auch aushandeln zu können. Dann werden sie kommunikationsfreudig, innerlich stabil, selbstbewußt und kreativ (A.S. Neill 1969, S. 30). Kinder, die Summerhill wieder verlassen, können nicht in erster Linie mit schulischem Wissen aufwarten, sie gehen dafür erschütterungsfreier auf die Welt zu. In Deutschland hat Summerhill in den 60iger Jahren heftige Pro- und Contra-Diskussionen hervorgerufen. Im Nachhinein läßt sich deutlicher erkennen, wie sehr diese Richtung auch von Ideologien mißbraucht wurde. Das Antiautoritäre wurde mit dem Anti-bürgerlichen, dem Anti-Staatlichen, dem Anti-Religiösen usw. gleichgesetzt. Die daraus hervorgegangenen Kinderläden dieser Zeit waren alle durch ihre offene und auch verdeckte Politisierung auf Pfeilern gebaut, die die Kinder selbst so nicht wollten. So haben die Kinder selbst das ganze Unternehmen durch ihren eigenen Protest gegen Eltern, die wiederum gegen die Gesellschaft zu Felde zogen, letztlich zu Fall gebracht. Sie wollten eben die Lieder des „Baggerführer Willibald" nicht mehr singen. Es entstand eine neue Anpassung, aber es entstand auch ein Emanzipationsbegriff, der sich nachhaltig auf die Geschichte auswirkte. Leider teilweise wiederum auf dem Rücken der Kinder.

(b) Anti-Pädagogik Nach dem Verschwinden der antiautoritären Erziehung und seiner Ablösung durch die emanzipatorische Pädagogik meldet sich in jüngster Zeit mehr und mehr eine Richtung zu Wort,

Kapitel die sich

III:

127

Erziehung als Identitätshilfe

Anti-Pädagogik nennt (vgl. E. v. Braunmühl 1975). Auch ihr geht es um Identitätshil-

fe, allerdings ohne Pädagogik, ohne bevormundende Beeinflussung. Sie plädiert für die totale

Gleichberechtigung der Kinder gegenüber den Erwachsenen, auch im Hinblick auf das Wahlrecht. Es geht dieser Richtung in erster Linie um ein natürliches Aufwachsen. Ein Teil ihres Spektrums reicht darum auch in die ökologische Pädagogik. (c) Erlebnis- und Abenteuerpädagogik Mit einem Auge in Richtung einer großangelegten, internationalen Jugendarbeit, ähnlich der Pfadfindervereinigung, mit dem anderen Auge in Richtung einer Exklusivität körperlichseelischer Ertüchtigung haben sich mittlerweile eine Reihe von Organisationen diesem Bereich gewidmet (vgl. dazu: Fischer, D. u.a. 1985). Erstaunlich ist, daß die darin betriebene

Erlebnis-Pädagogik vor allem auf dem Gebiet der Integration straffällig gewordener Jugendlicher recht erfolgreich zu sein scheint. Nach einem abenteuerlichen Segeltörn, bei dem die Jugendlichen lernen, ein großes Segelschiff durch beachtliche Wellengänge zu manövrieren,

besitzen sie das Rüstzeug für eine neue Identität, bestehend aus Mut, Zuversicht, Selbstvertrauen, Ambiguitätstoleranz und Sozialverhalten. Vielleicht liegt das Erfolgsgeheimnis auch darin, daß der Reiz des Abenteuers keiner künstlichen pädagogischen Motivierung bedarf. Denn Grenzerfahrungen scheinen eine Gruppe schicksalhaft zusammenzuschweißen, nach dem Motto „Einer für alle, alle für einen". Was hinter diesem Slogan steckt, ist gewiß nicht unbedenklich. So sollten in dieser Richtung auch stets die Grenzen zu paramilitärischen Ausbildungen beachtet werden.

(d) Freizeitpädagogik

Leistungsgesellschaft sich auch immer mehr zu einer Freizeitgesellschaft entwickelt (vgl. Opaschowski 1976). Für die Pädagogik stellt sich die Frage

Es ist bekannt, daß

unsere

H.W.

nach einer sinnvollen Betreuung innerhalb der Freizeit und damit nach der Erstellung eines sinnvollen Angebots für die schönste aller Zeiten, die Zeit, in der Menschen nichts Offizielles für die Gesellschaft leisten, in der sie also nicht arbeiten müssen, in der sie sich gewissermaßen mit sich selbst beschäftigen (dürfen). Diese Zeit hat viele Namen: Sie heißt Feierabend, Urlaub, Ferien, Wochenende. In dieser Zeit sollten wir uns nicht langweilen. Denn Langeweile hat bekanntlich mitunter recht destruktive Züge. Sie gefährden all diejenigen, die nichts mit sich anzufangen wissen. Für die, die aus welchen Gründen auch immer keine Beschäftigung haben, ist es besonders wichtig, den Anschluß zur Gesellschaft nicht zu verlieren. Was sinnvolle Freizeitbeschäftigung ist, das zu erörtern, ist ein schwieriges Unterfangen. Einig ist man sich darin, daß die Kreativität und nicht der Konsum im Zentrum stehen sollte. Für die Freizeitindustrie allerdings hört sich das Ganze etwas anders an, und der „Master of the universe" scheint mit all seinen Monstern darin auch recht zu haben. Wir sehen hier bereits nach wenigen Sätzen, wie brisant das Thema ist. Die Pädagogik versucht darum, sich dem Problem global zu stellen. Sie tut dies allerdings unter dem Deckmantel der Kritik oft rein moralisierend, was eigentlich mehr die eigene Hilflosigkeit aufzeigt, wenn zu Recht gefordert wird, daß alle Gewaltvideos und sonstigen Angebote in dieser Richtung vom Markt verschwinden sollen, weil es schlecht ist, wenn man seine Langeweile mit visuellen Grausamkeiten füllt. Insgesamt plädiert die Freizeitpädagogik für eine ReduzieWas die rung des Freizeitkonsums, wo immer möglich, zugunsten aktiver Freizeitgestaltung. ihr sich die hat so Arbeitsgebiet sinnvoller Freizeitpädagogik betrifft, Angebote Erstellung -

-

aufgeteilt:

Spielpädagogik, inklusive der spieltherapeutischen Pädagogik, versucht sie durch zwanglose Möglichkeiten des Spielangebote, wie z.B. New Games, auch lustbetonte und 1983/ K.J. Kreuzer fordern zu 1984). Selbst- und Gruppenerlebens (vgl., Als

Modelle des

128

Erziehungsbegriffs

Als Medienpädagogik kümmert sie sich um eine Art Zensur, um alle negativen Beispiele der Beeinflussung über Medien zu verhindern (vgl. G. Wodraschke 1979.) Als Animationspädagogik kümmert sie sich um die Erstellung von sinnvollen Urlaubskonzepten in der Touristikbranche (vgl. W. Nahrstedt 1975). Als Museumspädagogik will sie die Auseinandersetzung mit der Kunst und ihrer Geschichte durch aktive Einbeziehung fördern (vgl. Ch. Liebertz 1988). Als Kulturpädagogik will sie generell Einfluß nehmen auf das von der Identität nicht abzutrennende kulturelle Bewußtsein (vgl. S. Müller Rolli 1988). Als Theaterpädagogik will sie durch Wort, Bewegung, Tanz, Musik, atmosphärische und dramaturgische Gestaltung gesellschaftliches Bewußtsein spiegeln und anregen (vgl. dazu ebenso S. Müller Rolli 1988). -

-

3. 7.

Zusammenfassung und Kritik

(a) Als Zusammenfassung können wir folgendes festhalten: Pädagogik als Identitätshilfe will erzieherische Beeinflussungen im Medium von Beratung und Therapie mit einzelnen und Gruppen und im Rahmen entsprechender Institutionen ausschließlich der Entwicklung der Person aus sich selbst heraus zugute kommen lassen. Der ältere Begriff der Personalisation wird durch den umfassenderen und zeitgemäßeren der Identität abgelöst. Hinter dem Begriff der Identität steht das ganzheitliche Bild der natürlichen Einheit des Individuums mit sich selbst und in harmonischer Beziehung zur Welt. Theorien zur Identität orientieren sich an unterschiedlichen Wissenschaften. Den größten Teil bestreiten dabei die Psychologie und die Soziologie. Das zugrunde liegende Menschenbild ist das eines im Hinblick auf sein Glück reparaturfähigen Menschen, der im naturalistischen Sinne der Aufklärung von Natur aus gut ist und dem nur die Chance gegeben werden muß, sich entsprechend entfalten zu können. Es ist auch der im Hier und Jetzt lebende Mensch, der solange er lebt, die Balance zu sich und den anderen halten muß. Die Pädagogik versucht durch Identitätshilfe, Brüche in der Identität zu beheben. Sie lehnt sich dabei stark an therapeutische Verfahren an, und diese wiederum an unterschiedlichen Wissenschaftstheorien und -richtungen. Was die Psychologie betrifft, so stammen die einzelnen Ansätze aus der Verhaltenstheorie, der Tiefenpsychologie und Psychoanalyse, der interaktionistisch-strukturellen Psychologie inklusive der Systemtheorie und der humanistischen Psychologie, auf die wir hier nicht einzeln eingehen konnten. Dadurch haben wir, der Übersicht halber, auch hier eine Dreiteilung beibehalten. Pädagogische Identitätshilfe bedient sich also entweder bewußt therapeutischer Mittel oder sie arbeitet mit dem Begriff der natürlichen Intervention durch vorbildliche Modelle. Die Antiautoritäre Erziehung ist eines davon.

(b) Kritische Anmerkungen: Bei dieser Richtung fallt vor allem auf, daß ein pädagogisches Problem in erster Linie in der Psychologie der Person, die es hat, lokalisiert bzw. fokussiert wird, bis auf einen rein systemischen Ansatz, den wir in einem späteren Kapitel erläutern werden. So wird auch das Erziehungsverhalten immer auf die Person projiziert und nicht auf die gesellschaftliche Situation, in der sie steckt und für die sie nichts kann. Die Verhaltens-

Kapitel

III:

Erziehung als Identitätshilfe

129

und Milieueinflüsse sowie die familiäre Sozialisatinicht aus, sie fuhrt die Ursache aber weniger auf diese Kräftefelder zurück. Damit wird die Schuldproblematik an die Identität, an deren Struktur und Vergangenheit gekoppelt. Es wird auch nur das Verhalten methodisch bearbeitet, nicht aber die gesellschaftlichen Strukturen, die es bestimmen. Anstatt den gesellschaftlichen Verhältnissen die Schuld zu geben, wird das Individuum zur Verantwortung gerufen. Daher arbeitet die therapeutische Identitätshilfe möglicherweise nur an Opfern und nicht an Verursachern. Das zeigt sich auch darin, daß die strukturellen Zwänge meist als persönliches Versagen deklariert werden. Die Schuld wird versubjektiviert und personalifiziert. Es gibt daher Stimmen, die sagen, die Identitätspädagogik beschäftige sich ausschließlich mit Symptomen und nicht mit den eigentlichen Ursachen. Ihr Blick nach draußen, z.B. zu den politischen Maßnahmen, aufgrund deren die Probleme entstehen können, bleibt zwangsläufig durch die Psychobrille versperrt. Dazu verbarrikadiere sich diese Pädagogik auch in methodischer Hinsicht, was sie zu einer nur oberflächlich beratenden Sandkastenpädagogik werden läßt, in der nur Kennenlern-, Kommunikations- und sonstige Spielchen zur Reparatur des Ich veranstaltet werden. Natürlich ist der Verweis auf die sich an der Identität des Individuums schuldig machende Gesellschaft sowie der Bezug zu den Methoden selbst wiederum nur eine noch zu rechtfertigende These. Der Ansatz dazu kann erst durch eine Emanzipationspädagogik in Angriff genommen werden. Wir werden dies im nächsten Kapitel erläutern. Ein weiterer kritischer Gesichtspunkt bezieht sich auf die, während des Hilfsvorgangs verwendete Methodenvielfalt sowie auf die Interaktionen und Kommunikationsmuster. Sie sind in der Regel durch den oder die Therapeutin in der Form von Techniken, Übungen, Spielen, Redeformen usw. durch ein Konzept oder eine Therapie vorstrukturiert. Abgesehen von den persönlichen Abhängigkeiten und Machtverhältnissen, die dadurch erzeugt werden, können Methoden die Klientel leicht zum Objekt therapeutischer Internas machen. Zusätzlich ergibt sich daraus, daß Methoden auch effektiv im Sinne der instrumentellen Bearbeitung von Problemen sein müssen. Die Folge ist: Sie lassen sich selbst dahingehend verfuhren, daß sie lieber ein angenehmes Gefühl verursachen wollen, weil es angeblich mehr entspannt, als kopflastige, womöglich auch gesellschaftskritische Rationalisierungen in Bewegung zu setzen. Und noch ein letzter Gesichtspunkt: Was in der Enkulturationspädagogik Lernmotivation heißt, ist in der Identitätspädagogik eher ein Problem von Vertrauen und Vorbild. Damit ist ein möglicher Transfer in den Alltag, in dem sich die Identität erst bewähren muß, unter Umständen stark blockiert. Die beste Chance, dem zu entkommen, scheinen immer noch die natürlichen Systeme zu besitzen. Doch davon später.

Problematik klammert zwar Umwelt-

on

Kapitel IV: Netzwerk des Erziehungsbegriffs 1.

Systemisches Denken als Bezugssystem

Erziehung ist ein System aus unterschiedlichen Kräftefeldern, in denen Ziele, Methoden Mittel, Menschenbilder, Institutionen und Organisationen, subjektive Befindlichkeiten und objektive Rahmenbedingungen ebenso zueinander in Funktion treten, wie ethische, kulturelle und gesellschaftliche Prämissen. Eine bunte und alles andere als konkurrenzfreie Landschaft pädagogischer Initiativen entsteht, in der alle um ihre Existenzberechtigung und Bedeutung ringen. Der Begriff des Systemischen will die Vielfalt von Realität und Theorie angemessen beschreiben. Er will Gegebenheiten aus der Vogelperspektive unter die Lupe nehmen und charakterisieren. Um den besonderen Merkmalen einen solchen Sichtweise aber auf die Spur zu kommen, müssen die Grundlagen des systemischen Denkens erläutert werden. Exkurs: Dem Blick in die aktuelle Literatur zu diversen Arbeitsfeldern begegnet schnell das Wort „systemisch". Für die einen gehört es unverzichtbar zum Handwerkszeug des zukünftigen pädagogischen Denkens und Handelns. Für andere hingegen ist es lediglich ein Modewort, das bislang eher die Neuauflage einer Haltung beschreibt, Dinge vernetzt und global zu sehen, und das von einer Theorie und methodischen Konzeption noch weit entfernt ist. Vor allem ist es die Diskussion um eine dringend erforderliche Weiterentwicklung und Systematisierung von Erziehungskonzepten, die eine Auseinandersetzung um den Begriff des Systemischen hervorruft. Vor dem Hintergrund der neueren soziologischen und sozialphilosophischen Erkenntnisse zum Begriff des Systems sowie auch durch das sogenannte Neuland des Denkens (F. Vester 1984) im Anschluß an die Ökologiedebatte werden auch neue Begründungsversuche zum Netzwerk der Natürlichkeit und damit zur eigentlichen Bestimmung des pädagogischen Handelns unternommen. In diesem Zusammenhang kommt auch die wissenschaftstheoretische Kontroverse zwischen Natur- und Geisteswissenschaft ä la Positivismusstreit wieder ins Spiel. In ihr wird insbesondere durch die Syntheseversuche der Handlungsforschung neuer Zündstoff in die Diskussion gegeben. Ein Ergebnis ist die Tatsache, daß die klassischen Erziehungsmodelle nicht in überkommenen, wissenschaftsideologischen Denkmustern verharren dürfen, sondern sich als Teile eines Gesamtganzen betrachten müssen, in der die Funktion der Erziehung als wesentliches multikulturelles und multinationales Feld der Beeinflussung des Menschen durch den Menschen und dessen Kultur zum Zwecke der Gewährleistung der Menschwerdung verankert ist. Eine solche Norm aber kann nur durch ein offenes Denken begründet werden, dessen transnationaler und multilateraler Blick die Ehrfurcht vor dem Gegebenen kennt. Einer solchen übergreifenden Ethik hat sich in gewisser Weise der systemische Ansatz generell verschrieben, auch wenn wir mittlerweile bereits kritisch fragen müssen, ob nicht durch die systemische Sicht wiederum eine neue Einseitigkeit entsteht. Die Globalisierungsdebatte scheint nämlich das systemische Denken bereits so zu verabsolutieren, daß der Kontakt zum individuellen Schicksal durch die Kategorie des Allgemeinen versperrt ist. Die Schlagworte sind hier: plurales Denken, Behutsamkeit, Distanz und Verantwortung.

Kapitel

IV: Netzwerk des

Erziehungsbegriffs

131

wichtigsten systemischen Erkenntnisse der letzten Jahre ist die, daß alles mit allem korreliert, daß alles mit allem interdependent ist bzw. direkt und indirekt interagiert und sich daher auch in einem unentwegten und permanenten Prozeß einer gegenseitigen Beeinflussung Eine der

befindet. Dieser Gedanke ist freilich nicht neu. Er erinnert auch an die vorsokratische Vorstellung des panta rei, was soviel bedeutet wie „alles ist im Fluß und in Bewegung". Im Vordergrund dazu steht die Erkenntnis, daß Systeme begrenzt sind und daß sie von einander abhängig sind, d.h. daß es offensichtlich kein absolutes System gibt bzw. daß Menschen kein absolutes System herstellen können, solange sie selbst Teil eines Systems sind. Die sogenannte Interdependenz von Systemen liefert darin das Bild einer unendlich erscheinenden Vernetzung von Teilen, von Handlungen, Aktionen und Ereignissen, die neue Sichtweisen erforderlich machen. Eine davon sagt: Wir dürften es uns heute nicht mehr erlauben, in rein kausalen Ketten zu denken. Denn das verfuhrt zu einer Technologie, die sich auf das gesamte Lebenssystem zerstörerisch auswirkt. Wir dürfen ferner auch nicht mehr annehmen, daß es für ein Problem genau eine Ursache oder einen bestimmten Ursachenkomplex gibt, die es entstehen lassen und regeln, manche sagen auch „generieren" und „regenerieren". Es ist vielmehr so, daß auch Ursachen ganz anderer Bereiche, denen das Problem auf den ersten Blick nicht angehört, in Frage kommen. Erst wenn man den Blick darauf richtet, wie ein Zusammenhang geregelt ist, also z.B. wie was wer wem antut und wie jemand darauf reagiert, wird das Erkennen den Tatsachen gerecht. Bevor wir diese Gedanken in ihren Auswirkungen betrachten, wollen wir einen kurzen Abstecher zur neueren Systemtheorie machen. Aus der systemischen Beratung stammt dieses öfter zitierte Bild: Wenn wir ein Fußballspiel nur durch ein Fernrohr betrachten würden, bekämen wir nur einen kleinen Ausschnitt mit. Wir würden z.B. nur den Schiedsrichter agieren sehen, ohne zu wissen, warum er das tut, was er tut. Wenn wir das aber herausbekommen wollen, müssen wir unser Blickfeld erweitern. Wir würden dabei feststellen, daß seine Aktionen im Zusammenhang mit den Spielern stehen und deren Aktionen wiederum mit den seinen zusammenhängen. Erst dann, wenn wir die Wirkungen der Aktionen insgesamt betrachten, wäre es uns möglich, hinter die Regeln des Spiels zu kommen. Auch Vertreter der neueren Naturwissenschaft insbesondere jene mit dem Blick auf ökologische Zusammenhänge benutzen systemische Denkansätze. So wurde in einer Fernsehsendung behauptet, daß für einen Regenschauer in München nicht mehr nur der Komplex bzw. die Makro-Kybernetik von Temperatur und Luftdruckverhältnissen an Ort und Stelle die alleinige Ursache ist, sondern daß mikro-kybernetische Abläufe in Zusammenhang mit ganz anderen Systemeinflüssen an anderen Stellen der Erde entscheidend sein können. So ist es durchaus vorstellbar, daß der Regen in München durch das Anzünden einer einzigen und zwar ganz bestimmten Zigarette in Hamburg verursacht wird, die eben das berühmte Faß zum Überlaufen bringt. Eine weitere Ursache wäre dann eben auch die Nikotinsucht eines einzigen Menschen. Daß dies nicht nachweisbar ist, sagt nicht, daß es nicht grundsätzlich möglich ist. Im Gegenteil, sie macht eben deutlich, daß sie Ereignisse multikausal verursacht sind. -

-

Auf das systemische Denken bezogen heißt das: Selbst die geringsten Veränderungen, Interventionen und Eingriffe wirken sich immer auch auf das Gesamtsystem aus. Für eine Wirkung kommen immer mehrere Ursachen in Betracht. Die Erkenntnis, daß es immer eine Vielzahl von Ursachen gibt, wendet sich auch kritisch geund gen einen mikroskopischen Blick, der die Welt nur mit einer Vergrößerungsbrille sieht, in Ursachen das ein Zusammenhängen komplexen vernetztes fordert demgegenüber Denken, sieht. Was ein solches für die moderne Wissenschaft genauer bedeutet, schildert anschaulich

Modelle des

132

Erziehungsbegriffs

der Biochemiker Frederic Vester in seinem Einige Thesen daraus:

populären

,Neuland des Denkens' (1999).

Buch

Die Welt des Menschen besteht aus einem „Sammelsurium von getrennten Einzelbereichen" (S. 19), die zusammenhanglos vor sich hinwirtschaften. Dabei übersehen sie in ihrem Spezialisierungstrend, daß sie in natürlicher Weise Wechselwirkungen unterliegen, die zu übersehen zu einem falschen Bild und zu Fehlhandlungen führen. Der Mensch wird zunehmend unfähig, „Probleme in komplexen Systemen zu lösen" (S.

24). Um den Zusammenhang zu erläutern, schildert der Autor ein interessantes und mittlerweile auch vielzitiertes Experiment des Psychologen Dietrich Dörner: Für ein fiktives afrikanisches Gebiet namens Tanaland sollte für dessen Ureinwohner eine Art Entwicklungshilfeprogramm entworfen werden, das einzig und allein das Ziel haben sollte, dem Volksstamm bessere Lebensbedingungen zu ermöglichen. „Zwölf Personen unterschiedlicher Fachrichtung bekamen die Aufgabe, ganz allgemein dafür zu sorgen, daß es den Leuten von Tanaland besser ginge. Sie konnten Staudämme bauen, Industrieund Kraftwerke ansiedeln, Medizin und Hygiene verbessern und Anbauarten und Dün...

gung ebenso ren."

verändern, wie

etwa

die

Jagdgewohnheiten

durch Bereitstellen

von

Geweh-

Das Ergebnis war: Die Fachleute richteten das Land zugrunde, weil sie in „Wirkungsketten., und nicht in Wirkungsnetzen" dachten (S. 24, F. Vester zitiert H.G. Burger 1975).

(1975) nennt dazu die wichtigsten Strategiefehler (S. 25): „Mangelhafte Zielerkennung"

Döner

„Man beschränkt sich auf Ausschnitte der Gesamtsituation stems

bleibt unerkannt."

„Einseitige Schwerpunktbildung

anderen Bereichen unbeachtet."

und die

Dynamik

des

Sy-

...

gravierende Konsequenzen

Hierdurch bleiben ...

in

...

„Unbeachtete Nebenwirkungen." „Tendenz zur Übersteuerung". Entweder wird gar nichts oder zu viel getan. „Tendenz zu autoritärem Verhalten. Die Macht, das System verändern zu dürfen, und der Glaube, es durchschaut zu haben, führt zum Diktatorverhalten." Die Lösung hierfür heißt für Vester Selbstorganisation und Offenheit von Systemen. „Nur offene Systeme sind überlebensfähig" (S. 29 ) Das aber erfordert ein neues Denken, das sich von mechanistischen Mustern löst, die nur für den Bereich von Maschinen gelten, nicht aber

für lebendige Systeme. Der Hauptansatzpunkt dazu ist eine Loslösung vom mikroskopischen Blick ins Detail (S.33). Auch er nennt das Fußballspiel als Paradigma. „Obwohl genaue Regeln bekannt sind, nach denen ein Spiel abläuft, ist keine der ständig wechselnden Konstellationen der 22 Spieler in irgend einer Weise im Detail vorherbestimmbar". Darum würden Prognosen nach dem Modell empirisch-analytischer Forschung zu falschen Erkenntnissen führen. Vester geht auch noch so weit zu sagen, daß Erkenntnisse dieser Art das Überleben eines Systems sogar gefährden können. Daher muß sich die Erkenntnisart der Wissenschaft grundlegend ändern. Sein Vorschlag dazu ist recht eingängig: Das analytische Erkennen muß zu einem Erkennen von Vernetzung werden. Ein Bild, ein Zusammenhang, eine Theorie werden erst aus der Distanz betrachtet zu einem Ganzen. Vester demonstriert dies an der "Mustererkennung" (S. 35 42), die wir nachfolgend in Zusammenhang mit dem Thema „subjektives Eingriffe in eine fremdes System" etwas modifizieren. -

Kapitel

IV: Netzwerk des

1.1. Distanz als

Erziehungsbegriffs

133

systemische Forderung

Abwandlung zu den Ausführungen wollen wir, in Anlehnung an Vester, ein weiteres Expehinzufügen: Stellen Sie sich vor, Sie hätten den Auftrag, die übereinanderliegenden, transparenten Quadrate der nachfolgenden Abbildung entweder so zu lassen, wie sie sind, In

riment

oder so zurechtzurücken, daß sie für Sie ästhetisch zusammenpassen. Die meisten von Ihnen würden wahrscheinlich das eine oder andere Quadrat so lange verschieben, bis es für sie an der Stelle ist, an der es passend wirkt.

(Vorlage aus F. Vester 1999, S. 36) Was Sie aber damit angerichtet haben,

sehen sie erst, wenn Sie das Bild aus der Entfernung betrachten. Erst dann läßt sich erkennen, was es darstellt: Ein Porträt von Abraham Lincoln. Jede Verschiebung, sei sie auch noch so gering, entstellt das Gesicht. Vester nimmt dies als Beispiel für die Erfassung von Systemen: Erst durch das Erkennen der Verbindungen der einzelnen Teile zueinander entsteht das Ganze eines Systems. Komplexität zu reduzieren heißt, Vernetzungen herzustellen, die das System zusammenhalten. Denn nur vernetzte Systeme sind lebens- und überlebensfähig. Vester gibt für diese Art der „Erfassung der Wirklichkeit" (S. 43) ein Schema (nach J. De Rossnay, Das Makroskop, DVA, Stuttgart 1977) an, das den Unterschied zum empirischanalytischen Vorgehen deutlich macht:

„Zwei Ansätze zur Erfassung der Wirklichkeit (nach Rossnay):

Analytischer Ansatz Isoliert: konzentriert sich auf einzelne Elemente des

Systems Berücksichtigt die Art der Wechselwirkung Stützt sich auf die

Genauigkeit der Details

Verändert jeweils

nur

eine Variable

Systemansatz Verbindet: konzentriert sich auf die Wechselwirkungen zwischen den Elementen Berücksichtigt die Ergebnisse der Wechsel-

wirkung_ Stützt sich auf die Wahrnehmung der Ganzheit Verändert Gruppen von Variablen gleich-

zeitig_

134

Modelle des

Erziehungsbegriffs

Ist unabhängig von der Zeitdauer: die betrachteten Phänomene sind reversibel Die Bewertung der Tatsachen erfolgt durch experimentellen Beweis im Rahmen einer Theorie Bildet genaue und detaillierte Modelle..., die jedoch kaum in Handlungen umsetzbar sind.

Bezieht Zeitdauer und Irreversibilitäten ein

Nützlicher Ansatz, solange es sich nicht um lineare und schwache Wechselwirkungen handelt Führt zu einer disziplinorientierten Ausbil-

Nützlicher Ansatz bei nichtlinearen und starken Wechselwirkungen

Führt zu einer im Detail programmierten

Führt zu einer durch Ziele bestimmten

Die

Bewertung der Tatsachen erfolgt durch

Vergleich der Funktion eines Modells mit der Realität Bietet Modelle, die nicht stichhaltig genug sind, um als Wissensbasis zu dienen..., jedoch für Entscheidungen und brauchbar sind.

Handlungen

Führt zu einer interdisziplinären Ausbildung

dung_

Handlungsweise_

Handlungsweise_

Erreicht gutes Detailwissen, jedoch schlecht definierte Ziele

Erreicht nur unscharfe Details, jedoch gutes wissen über die Ziele"

Exkurs: Entscheidend scheint der phänomenologische Hintergrund dabei zu sein. Im Gegensatz zu den Methoden der Hermeneutik und Dialektik sowie in Ergänzung zu den empirischen Methoden der Beobachtung, des Experiments und der Befragung will die Methode der Phänomenologie von der reinen Beschreibung einer Sache zum Wesen einer Sache gelangen (vgl. Chr. Callo 1978 Ausführungen zur Phänomenologie, S. 325): Es geht der Methode darum, eine Sache, einen Sachverhalt, ein Objekt in Reinform aus deren Selbst heraus zu erkennen. Die Frage dazu lautet: „Was ist das Wesen? Was ist das Wesentliche einer Sache? Was gehört wesentlich dazu und was nicht?" Zur Beantwortung dieser Fragen sind mehrere Ein- und Ausklammerungsschritte erforderlich: Einmal muß das subjektive Urteil, das Vor-Urteil ausgeklammert werden, indem gefragt wird, was nur Meinung, nur momentaner Eindruck und/oder lediglich vordergründige Wahrnehmung des Subjekts ist und folglich nicht zu dem gehört, was ein Objekt ist. In einem zweiten Schritt muß auch das, was nicht zum Eigentlichen eines Objekts gehört

aussondiert werden. Wenn wir z.B. einen Menschen kennenlernen, dann deckt sich unser erster Eindruck von ihm nicht zwangsläufig mit seinem Wesen. Wir stellen häufig fest, daß wir uns täuschen. Zum Wesen gehören sicher auch nicht Hautfarbe und Kleidung. Egal, welche Hautfarbe und Kleidung ein Mensch hat, er bleibt immer Mensch. Um das Wesen eines Menschen erkennen zu können, müssen wir demnach drittens sowohl unser Vorurteil, als auch die Wahrnehmung von ihm gewissermaßen wegschieben, um zum Eigentlichen, das heißt hier in erster Linie zum eigentlichen Bewußtsein seines Wesens zu kommen. Dieses Vorhaben kommt freilich nie zu einem Ende, weil es kein absolutes Einklammern geben kann. Manche leiten daraus auch die Unmöglichkeit der Phänomenologie ab. Sie sagen, wenn das Subjekt und das Objekt quasi weggeschoben werden, dann bleibt nicht das reine Wesen als reines Bewußtsein übrig, sondern eben nichts mehr. Dieses Dilemma hat lange Zeit dazu geführt, diese Erkenntnismethode als nicht wissenschaftlich seriös zu betrachten. Trotzdem scheint gerade das systemische Denken nicht auf die Phänomenolo-

Kapitel

IV: Netzwerk des

Erziehungsbegriffs

135

gie verzichten zu können, da es ihm vornehmlich um Wahrnehmung geht und um das, was in der Wahrnehmung relevant ist. Im systemischen Denken soll die Relevanz ganz vom Phänomen und dessen Wirkung ausgehen, also von seinem So-Sein und Wie-Sein Dabei ist das Ziel, sowohl alle subjektiven, möglicherweise falschen Ausdeutungen, Interpretationen und Einstellungen zugunsten einer Betrachtung der reinen Wirkung auszuklammern. Es geht dem Systemischen um das Wirkliche, im Sinne des Wesens des Wirkens. Es möchte dies auch möglichst behutsam in den Griff nehmen, ohne ihm hermeneutische Zusammenhänge oder dialektische Auseinandersetzungsstrukturen aufzuzwingen. Was jedoch Wirkliche als das Eigentliche ist, dafür wäre ein philosophischer Exkurs größeren Ausmaßes erforderlich, den wir hier .

nicht leisten. Die systemischen Auswirkungen der Phänomenologie beziehen sich vor allem auf die Kunst. Insbesondere die avantgardistische Kunst hat sich die Phänomenologie zueigen gemacht. Ihr Metier ist die hüllenlose Eigentlichkeit von Bewußtsein, bei dem es nicht mehr um das Verstehen geht, sondern um eine neue Form des Nachvollziehens. Ein Kunstwerk betrachten heißt nicht, über bereits mitgebrachte Assoziationen (Vorstellungen, Theorien usw.) „in ein Bild einsteigen, sondern über Ratlosigkeit". (So die Meinung von Kocherscheidts, einem österreichischen Künstler, im Zusammenhang mit der Dokumenta 92 in einer Fernsehsendung.) In der Erziehungspraxis ist die Phänomenologie eigentlich weit verbreitet. Zwei Wege werden bei der Beschreibung und Erfassung von Erziehungsphänomenen oft benutzt, (a) ein rezeptiver und (b) ein produktiver.

(a) Der rezeptive Weg: Wenn wir eine Situation passiv wahrnehmen, dann stellen sich in uns blitzschnell bestimmte Assoziationen und Gefühle ein. Das führt dazu, daß wir z.B. spontan sagen können, ob wir den Eindruck haben, die Stimmung sei gut oder schlecht. Daraufhin können wir prüfen, ob unser subjektives Urteil stimmt. Die Schritte wären hier:

subjektive Wahrnehmung eines Erziehungsfalls (und Beschreibung des Wie), Bestimmung des in der Situation relevanten Themas des Falls (durch Beschreibung des Was), Prüfung der beschriebenen Wahrnehmungen danach, was davon zum Thema gehört und was

nicht.

(b) Der produktive Weg: Nehmen wir einmal an, wir haben ein bestimmtes Erziehungsthema im Kopf, das uns interessiert, oder eine Idee, die uns beschäftigt, oder ein Gefühl, das zur Sprache gebracht werden sollte, dann muß sichtbar werden, was thematisch dazu von Bedeutung ist. Letztlich sollen die Beteiligten eine Vorstellung bekommen. Der Weg der Realisierung enthält folgende Teile: das Thema, die Frage nach dem, was es abbildet, oder die Relevanz des die Versinnlichung und Umsetzung.

Themas,

Hauptanliegen der Phänomenologie ist die ,behutsame Distanz'. Sie kommt darum dem systemischen Denken sehr entgegen. In Abgrenzung zur Dialektik wendet sie sich gegen die Unendlichkeit von Hintergründen der Vernetzung und in Abgrenzung zur Hermeneutik gegen ein historisch und inhaltlich vorinterpretiertes Ganzes. Sie beginnt mit der Wahrnehmung des Augenblicks, der Betrachtung seiner Wirkung und der Rückführung auf das dem gegenüber Das

relevante Bewußtsein.

136

Modelle des

Erziehungsbegriffs

Exkurs: Ein immer wieder diskutiertes Problem der Phänomenologie ist das Prinzip, auf dem sie beruht, nämlich die Gleichheit von Fremdseelischem bei der Rückführung eines Phänomens auf dessen Wesen. Wenn wir z.B. bei einem Menschen Schmerzsymptome wahrnehmen, können wir das Wahrgenommene nur unter der Bedingung auf den Schmerz reduzieren, wenn wir selbst Schmerzempathie besitzen und wenn feststeht, daß diese Empathie auch dem fremdseelischen Schmerz wesensmäßig gleicht. Kehren wir wieder zurück zu den theoretischen Grundlagen des Systemischen. Folgendes können wir aus dem Bisherigen in bezug auf das systemische Denken festhalten: Das Grundprinzip der Kausalität naturwissenschaftlichen Denkens wird verlassen. Die Analyse eines Problems ist nicht mehr die eindimensionale Zerlegung in UrsacheWirkungs-Ketten, in Gesetzmäßigkeiten und Prognosen. Hauptkennzeichen dieses Denkens ist die Annahme, daß Auswirkungen, auch wenn sie untereinander identisch sind, immer mehrere Ursachen aus unterschiedlichen Feldern haben. Dies tangiert insbesondere die Ebene des Organischen, des Lebendigen. Es betrifft aber auch vor allem den Bereich des Sozialen. Nicht Nähe, sondern Distanz öffnet den Weg zur Verantwortung. Durch Distanz wird ein System als ein Ganzes erst sichtbar. Dazu sind viele behutsame phänomenologische Beschreibungen und zwar im Vorfeld von hermeneutischen Interpretationen und vor der dialektischen Kritik erforderlich. Exkurs: Ein für das systemische Denken und deren Phänomenologie viel verwendetes Paradigma ist die Familie. Die dort aufeinander bezogenen Interaktionen kennzeichnen von sich aus ihren Systemcharakter. Denn die Art und Weise des Zusammenseins der Familienmitglieder bewirkt das Spezifikum ihres Zusammenhalts. Nach außen hin wird die Zusammengehörigkeit durch die Regeln des Zusammenlebens sichtbar. Soziologisch ausgedrückt heißt das: Die Familie wird nicht allein durch die Rollen, die die einzelnen ausfüllen und die damit verbundenen gegenseitigen Erwartungen, zu einem System, sondern vielmehr erst durch das natürliche Rollenspiel. In ihm wird durch das konkrete Aussprechen von Erwartungen und deren Auswirkungen auf das Verhalten der einzelnen Mitglieder die Familie zu einem systemischen Gebilde. Das Interaktionsspiel innerhalb der Familie selbst wird von Spielregeln zusammengehalten. Diese sind im Hinblick auf ihren Zeitraum, in dem sie gültig sind, und auch hinsichtlich der Inhalte und der Personen, die sie aufstellen oder auch aushandeln, offen und geschlossen. D.h. nicht nur der Ausgang der Interaktionen, sondern auch das Machtgefüge ist je nach der Familienstruktur sowohl statisch, als auch dynamisch. Unabhängig von den unterschiedlichen Problemen es sind meist Machtkämpfe, die sich aus offenen und geschlossenen Systemen ergeben scheint eines zuzutreffen: wenn es überhaupt keine Spielregeln mehr gibt, entsteht aus dem System ein zerfallendes Gebilde. In einem solchen Fall beginnt sich ein System aufzulösen. Die Mitglieder driften auseinander und gehen in andere Systeme, die ihnen attraktiver erscheinen. Die Bereitschaft, Regeln neu auszuhandeln, geben allerdings den offenen Systemen auch neue Chancen. Sie sind durch ihre Flexibilität nicht nur überlebensfähiger, sondern wahrscheinlich auch humaner. Systemische Problemanalyse und Problemdiagnose innerhalb der Familie bauen daher ein Netz von Zusammenhängen auf. Durch Beschreibungen und Fokussierungen entsteht ein Bild, mit Hilfe dessen Maßnahmen im Sinne der Betroffenen formuliert werden. -

-

Kapitel

IV: Netzwerk des

Erziehungsbegriffs

137

Bei diesem Vorgehen z.B. im Rahmen einer Beratung sind es besonders die Fragen, die sich von einem nicht-systemischen Vorgehen unterscheiden: Im Gegensatz zur Warum-Frage („Warum hast du das getan?" oder „Was hattest du davon?") wird nur nach den Phänomenen der Wirkungen gefragt („Wie hat sich das auf andere ausgewirkt?"). Vermieden werden sollen von vorneherein Schuldzuweisungen in der Form „B ist schuld an A". Nicht die Frage „Warum kommt der Vater schlecht gelaunt nach Hause?", sondern die Frage „Was tun die anderen, wenn er nach Hause kommt?" gibt zumindest in der Fragestellung durch die Abkehr von der Schuld allen Beteiligten eine höhere Chance, sich zu verändern. Wir können in diesem Zusammenhang nicht weiter darauf eingehen und verweisen auf die einschlägige Literatur (vgl. vor allem C.B.Germain und A.Gitterman 1988). Eines aber wollen wir dazu noch festhalten: Systemische Therapie und Systemische Beratung stellen zwei pädagogische Handlungsbereiche dar, die sich momentan mehr und mehr zu etablieren beginnen. -

-

1. 2. Mehrdimensionalität als Merkmal systemischer Sichtweisen der Erziehungspraxis

Wiedergabe eines Interviews: Ein Sozialpädagoge, der an einer Familienberatungsstelle arbeitet, sagt, daß er in seiner Arbeit über ein sehr umfassendes berufliches Instrumentarium verfügen muß. Es reicht von der Beratung bis zur Therapie und es erfordert pädagogische, psychologische, soziologische und oft spezielle juristische Kenntnisse. Dabei ist es wichtig, aus der Zusammenschau und der Integration all dieser Bereiche heraus ein Problem zu betrachten und entsprechend zu behandeln. So muß er Gespräche auf verschiedenen Ebenen fuhren, er muß Orientierung geben, muß anleiten, manchmal auch führen und er muß viel organisieren und entscheiden. Sich selbst sieht er als „Spezialist für Beziehungen und deren Zusammenhänge". Besonders wichtig für ihn ist dabei, alle auftretenden Probleme immer vernetzt zu sehen. Er meint damit, weniger nach den Problemursachen unterschiedlicher Etagen zu forschen, als vielmehr deren Auswirkungen auf das gesamte Familiensystem genauer zu betrachten. Daher fragt er in Gesprächen mit den Familienangehörigen nicht nur. wie es den einzelnen mit bestimmten Erziehungsproblemen gehe, im Sinne einer Frage nach der subjektiven Problemlast, sondern er fragt auch, wie die anderen reagieren, wenn jemand das Problem vorträgt. Demzufolge ist es für ihn weniger wichtig, die Schuldfrage zu stellen, die oftmals in einem Atemzug mit der Problemursache genannt wird, sondern es ist für ihn viel wichtiger, das Augenmerk auf die natürliche Interaktion innerhalb der Familie zu richten. Wenn z.B der Vater wütend reagiert, wenn eines seiner Kinder mit Hausaufgaben daherkommt, während er fernsehen will, dann hat es wenig Sinn bei den Motiven der väterlichen Aggression anzusetzen und gewissermaßen sezierend in die Tiefe zu gehen. Es käme nur zu endlosen Schuldzuweisungen bis in dessen eigene Kindheit hinein. Es ist vielmehr sinnvoller zu fragen, wie die Mutter und die anderen Familienmitglieder auf das Verhalten des Vaters reagieren, um den Spielregeln dieser Situation auf die Spur zu kommen. Kommunikationsmuster innerhalb der Familie sind die Hauptansatzpunkte für eine vernetzte Problemsicht. Auf die Frage nach den pädagogischen Zielen seiner Arbeit sagt der Sozialpädagoge, daß sich die Ziele wie z.B. Integrationshilfe, Emanzipationshilfe und Identitätshilfe in ihren Prioritäten in der Praxis ständig abwechseln und sich Variationen aktualisieren. Er könne daher nie sagen, welches von den Zielen nun gerade konkret den Vorrang hätte. Das bedeutet nicht, daß der Blick auf Ziele durch den Blick auf die Situation völlig verlorengehen darf. Es müssen nur Wir beginnen mit der freien

138

Modelle des

Erziehungsbegriffs

die Ziele selbst in sich verstrickt gesehen werden und aus den jeweiligen Situationen heraus bestimmt werden. Auf die Frage nach dem, was er unter verstrickt verstehe, sagt er, daß bei der Problembetrachtung und Problembearbeitung immer mehrere Ebenen als Ursachen betrachtet werden müssen. Verstrickt heißt darum, ein Problem auf verschiedenen Ebenen zu sehen, z.B. auf der individuellen Ebene, auf der gesellschaftlichen, auf der institutionellen, auf der wissenschaftlichen, auf der Ebene der konkreten Interaktionen usw. Alle Ebenen sind am Problem beteiligt. Würde man nur eine annehmen, so könnte man ein Symptom nur narkotisieren, mehr nicht. Auf die Frage, wie es sich mit den Ebenen selbst verhalte, meint er: Ebenen seien einfach eine Stütze, in bestimmte Richtungen zu denken. Ebenen sind Erklärungsvermutungen, an denen man sich entlang bewegt. Dadurch entsteht ein Bild, eine Art konstruktiver Hilfsvorstellung, ein Problem klarer zu sehen und genauer mögliche Perspektiven eines Auswegs zu erkennen. Ein solches Vorgehen ist seiner Meinung nach ein mehrdimensionales. Es betrachtet ein Problem auf verschiedenen, miteinander verbundenen Ebenen. Wir brechen hier die Darstellung ab und versuchen, die Gesprächsinhalte zu vertiefen. Im Rahmen eines systemischen Vorgehens lassen sich folgende Merkmale ausmachen:

(a) Mehrdimensionale Problemfokussierung Ein partielles Problem innerhalb der Familie kann nicht auf nur eine Ursache, einen Brennpunkt oder Fokus zurückgeführt werden. Es entsteht vielmehr durch das Zusammenspiel einer Vielzahl von Faktoren, von Einflüssen und von Kräften aus peripheren Ebenen. An einem Beispiel konkretisiert heißt das: Anerkennungsprobleme von Kindern in der Familie sind nicht nur von der internen Beziehung zu den Eltern abhängig, sondern auch von externen Einflußgrößen, z.B. der Schule, der Klassenstruktur, den Wohnverhältnissen, den Kontakten zu Peer-Gruppen, von den Einstellungen der Eltern zu politischen Fragen und vielleicht sogar von den Tapeten im Wohnzimmer, die zu einer bestimmten Atmosphäre bei-

tragen. Exkurs: Letzteres klingt zwar zunächst abwegig, aber es läßt sich durchaus vorstellen, daß die Kommunikation innerhalb der Familie nicht nur vom Verhältais zwischen Inhaltsund Beziehungsebene bestimmt ist, sondern auch von der Atmosphäre des Raums, im dem sie stattfindet. Bisher ist auch zu wenig erforscht, wie sich die Ästhetik eines Raums auf Kommunikationsstrukturen auswirkt. Dabei scheint es um nur ein Beispiel zu nennen Tatsache zu sein, daß sich die Ästhetik in Beratungszimmern, ähnlich wie in Wartezimmern, auf das Vertrauensverhältnis zu den betreffenden Personen auswirkt. Ein weiteres Beispiel könnte die Tatsache sein, daß insbesondere Jugendliche in der Pubertät, die auf der Suche nach Identität sind, von einer Vielzahl von Einflußgrößen abhängig sind, die außer Acht zu lassen ein nur reduziertes Verständnis ermöglichen würde. So kann die oft beklagte Unordnung im Zimmer der Kinder nicht nur Abgrenzung zur Beziehung zu den Eltern bedeuten, sondern auch Solidarität mit ihnen. Die könnte darin bestehen, daß Kinder, wenn sie beachtet werden wollen, dies demonstrativ wie ihre Eltern über Zurschaustellung tun. Wenn sie etwa dem verführerischen und sündhaft teueren Angebot von Lederjacken mit besonderem Design erliegen, dann sind sie vielleicht nicht anders als die Eltern, die auch irgendwelchen Herstellern ständig zum Opfer fallen, womöglich auch noch in einem Umfeld, das sich dieses Opfertum zum Mythos gemacht hat und aufgrund dessen perfekt funktioniert. -

-

139

Kapitel IV: Netzwerk des Erziehungsbegriffs

(b) Mehrdimensionales Verstehen und Nachvollziehen Probleme in der Familie, einem systemischen Paradigma des Sozialen, lassen sich aus systemischer Sicht nicht mehr im herkömmlichen, naturwissenschaftlich fabrizierten Sinn erklären, so wie sich durch ein allgemeines Gesetz erklären läßt, warum ein Stein mit einer bestimmten

Probleme im Bereich des Sozialen können nicht nur logischkausal theoretisiert werden im Sinne der Rückführung ihrer Symptome auf allgemeine Ursachen und Gesetzmäßigkeiten. Sie müssen in erster Linie verstanden werden, manche sagen neuerdings auch „nachvollziehbar" sein. Dabei ist nicht der Blick in Details, nicht der lineare analytische Blick auf die Strukturen eines Problems hilfreich, sondern der erweiterte Blick nach draußen. Er betrachtet die Facetten eines Problems, die Ebenen, Bereiche und dazugehörigen Lebenswelten immer vielfältig und denkt in den Kategorien des Sowohl-als-auch.

Geschwindigkeit zu Boden fällt.

Exkurs: Der Unterschied zwischen „verstehen" und „nachvollziehen" ist nicht leicht erkennbar. Das Verstehen führt Teile auf ein Ganzes, ein Bild, eine Theorie zurück. Das Nachvollziehen konfrontiert Erfahrungen von außen mit denen von innen. Wenn wir sagen, wir hätten etwas verstanden, dann meinen wir, daß wir es subjektiv auf den Punkt

bringen können.

Wenn wir sagen, wir könnten etwas

nachvollziehen, dann wird in

uns

ein

Ablauf von Handlungen und Ereignissen durch eigene Erfahrungsanteile sensibilisiert. Wir können dabei Erfahrungen miteinander vergleichen, eigene einbringen und fremde ausklammern. Am Beispiel: Wollte man z.B. die Motive der Eltern, die ihre Kinder mißhandeln, nachvollziehen, dann hieße das, fremde Erfahrungen mit eigenen zu konfrontieren und zu einem Erfahrungssystem zu machen. Und das wiederum würde bedeuten, alle Faktoren, die zum Erscheinungsbild einer Mißhandlung beitragen, zu sammeln und als Systemganzes zu betrachten. Bei dieser Sichtweise werden Aggressionen nicht auf Entstehungs- und Verursachungsmodelle zurückgeführt (z.B. Angstbewältigung, Triebstau etc.), sondern es werden auch aktuelle Ereignisse (z.B. Mietpreissteigerungen, Situation am Arbeitsplatz etc.) einbezogen. Neu daran ist der Blick auf das Konkrete im Kontext.

(c) Mehrdimensionale Auswirkung von Interventionen

Problemlösung oder gar Problembeseitigung wirkt sich immer auch auf das aus, wie sich auch umgekehrt die Eigenschaften eines Umfeldes auf die in ihm auftretenden Probleme auswirken: Der Systembegriff, vor allem der der Sozialökologie, weist nach, daß es in vielen Fällen besser ist, nicht direkt einzugreifen, sondern die Problembearbeitung dem freien und natürlichen Spiel der Kräfte vor Ort zu überlassen. Die Auswirkungen pädagogischer Interventionen sind in diesem Zusammenhang auch mehrdimensional, wenn die natürliche Metamorphose von Mensch, Gesellschaft und Welt nicht durch künstliche und gewaltsame Eingriffe gestört wird. Exkurs: Jemanden in der Erziehung sich selbst zu überlassen bedeutet systemisch nicht, ihm Neutralität und Teilnahmslosigkeit entgegenzubringen, sondern es meint umgekehrt, durch indirekte Anteilnahme seine Wandlungsfähigkeit zu unterstützen. Für das pädagogische Handeln heißt dies, es greift nicht direkt ein, sondern begibt sich in die Position der Distanz und übernimmt die Rolle der teilnehmenden Beobachtung, um von vorne herein einen Zustand nicht durch einen unüberlegten Eingriff verändern und/oder beseitigen zu wollen. Zustände sollen so sich selbst überlassen werden, damit sie sich aus eigenen

Jede sogenannte

gesamte Problemumfeld

Kränen verwandeln können. Der Hauptunterschied zwischen Veränderung und Verwandlung ist die Außen-InnenSteuerung. Unter Veränderung verstehen wir eine Änderung aufgrund äußerer Bedingungen und deren Auswirkungen auf innere Zustände. Unter Verwandlung verstehen wir den

Modelle des

140

Wandel einer sichtbaren Gestalt ander in Korrespondenz.

(d) Vermeidung

von

Erziehungsbegriffs

aufgrund innerer Kräfte.

eindimensionaler

Beide

Schuldzuweisung

Begriffe stehen unterein-

durch mehrdimensionale

Sichtweisen

Notwendigkeit, bei der Problembearbeitung in sozialen Gebilden systemisch und vernetzt denken, hängt mit der Annahme zusammen, daß es durch das analytische Denken der Rückführung von Problemen auf Problemursachen im Grunde nur zu einer endlosen Kette von Schuldzuweisungen kommen kann. Ein solches Vorgehen aber ist im Sinne einer positiven Veränderung wenig hilfreich, im Gegenteil es kann sogar gefährlich sein. Denn strenge Analysen klagen oft nur an und zeigen keine Verständnisalternativen auf. Das analytische, eindimensionale Fokussieren kann nur strategische Maßnahmen formulieren. Die aber gehen Die

zu

der Ganzheit und Eingebundenheit des Menschen in die unterschiedlichsten Bezugssysteme vorbei. Sie sehen den Menschen nur als Patienten oder Klienten von Behandlungsmethoden und technischen Eingriffen.

prinzipiell

an

Exkurs: Vor allem auch im Hinblick auf die Erkenntnisse

aus

der

Ökologie wird sicht-

bar, daß das empirische und im Sinne der Naturwissenschaft strukturierte, analytische Denken eine weitaus größere Gefahr darstelle, Systeme zu zerstören als sie zu erhalten. Es zeigt sich nämlich weltweit, daß durch mechanische Eingriffe, eben auf Grund empirischanalytischer Erkenntnisse, Veränderungen nur technisch möglich sind, daß sie aufgrund undurchsichtiger Entscheidungen oft auch gewaltsam herbeigeführt werden, und daß sich dann oft schon bald herausstellt, daß sie nicht zum Wohl der Menschen sind. 2.

Voraussetzungen des Systembegriffs

Die Vorstellung, daß Systeme grundsätzlich offen sind, also nach innen (zu sich selbst) und nach außen (zur Umwelt) hin angelegt und von dort auch abhängig sind, wurde erstmals durch den Biologen Bertalanffy (1968) beschrieben. In dieser allgemeinen Theorie sind auch Grundbegriffe einer Systemtheorie der Gesellschaft vorformuliert. Es sind dies die Begriffe: „System" als organische Ganzes „Element" als funktionales Teil „Umwelt" als eine eigenständig sich wandelnde übergeordnete Systemsumme „Struktur" als Konfiguration der Teile „Funktion" als Nutzen- und Zweckverbund „Austausch" als Interaktions- und Kommunikationsverbund „Prozeß" als Entwicklungskraft „Steuerung" und Regelung als Machtkomponenten „Sinn" als identitätsstiftende Einheit Zur generellen Leistung systemtheoretischer Vorstellungen zählt die Erkenntnis, daß Systeme als Organismen organisierte Ganze sind, die sich in Entwicklungs- und Austauschprozessen befinden. Sie sind daher grundsätzlich gut geeignet, soziale Gegebenheiten zu repräsentieren.

Ungeklärt allerdings ist dabei die Frage, ob Systeme Gegebenheiten lediglich konstruktiv darstellen oder ob Systeme selbst auch real sind. So gibt es z.B. bei der Frage nach einer Unterscheidung der Begriffe „Differenz" und „Unterschied" der Systemteile eine Diskussion

Kapitel

IV: Netzwerk des

Erziehungsbegriffs

141

darüber, ob die Erfassung der sozialen Lage von Menschen (etwa deren Armut) eher eine An-

der Definition ist oder ob es dazu auch harte Fakten gibt. Hinter dieser Frage stehen wiederum Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Prämissen, die zu unterschiedlichen Ansätzen und Begrifflichkeiten führen. Es lassen sich mindestens zwei Positionen unterscheiden (vgl. dazu auch die Darstellungen von T. Miller 2001, insbesondere S. 30 36):

gelegenheit

-

(a) ein funktionaler Ansatz (b) ein selbstreferentieller Ansatz Zu (a): Der funktionale Ansatz geht

in seiner Reinform auf T. Parsons (1968) zurück und sieht jegliche Funktion als den systemerhaltenden Wesensbestandteil der Struktur. Die Struktur bedingt hier die Funktion. Auf die Pädagogik übertragen heißt das: Strukturen geben der Erziehung eine bestimmt Funktion vor. In Abwandlung dazu hat N. Luhmann (1975) durch die Vorstellung einer ,System-UmweltDifferenz' den umgekehrten Schluß dargestellt. Die Funktion als Eigenschaft der Struktur hat unter der Prämisse der Veränderbarkeit Priorität. Hier wäre die Erziehung durchaus in der Lage, strukturverändernd zu wirken. Zu (b): Der selbstreferentielle Ansatz betont (nach H. Maturana 1982) schöpferische, autopoetische Eigenschaften von Systemen. Auch N. Luhmann (1988) hat diese Ausfassung in seine Systemtheorie aufgenommen. Erziehung müßte darin vor allem mit dem kreativen Wandel von Systemen umgehen.

Exkurs: Durch die Systemtheorie läßt sich damit auch das, was im Erziehungsbegriff bisher immer als Ebene bezeichnet wurde, noch deutlicher als eigenes System typologisieren. D.h. die Erziehung unterscheidet personale, strukturelle und interaktionistische Bezugssysteme und wird damit als Handlungssystem zu einem Jnter-System', das in Rücksichtnahme auf die verschiedenen Systeme als Anbieter von Bildung, Mündigkeit und Entwicklung der Person agiert. Erzieherisches Handeln in Systemen hat als Erziehungskompetenz auch eine Art von .Schnittstellenkompetenz', zwischen den Systemen und deren Repräsentanten zu vermitteln.

2. 1.

Systemqualität

(a) Die Begriffe „systematisch", „systemisch"

und

„systemtheoretisch" bezeichnen

un-

Betrachtungsweisen eines Systems. Das systemische Denken ist für die gegenwärtige Erkenntnisgewinnung unabkömmlich: Während die Wörter „System" und „systematisch" gebräuchlicher sind, ist die Worte „systemisch" und „systemtheoretisch" neueren Datums. Aus dem Griechischen stammend bezeichnet System ein geordnetes, gegliedertes Ganzes, wobei dieses Ganze sich auf unterschiedliche Bereiche beziehen kann. Bezieht es sich auf das Denken, so sind meist Logik und logische Gliederung gemeint, bezieht es sich auf die Gesellschaft, so sind der Staat, seine Form und die daraus hervorgehende Gemeinschaft gemeint. Bezieht es sich hingegen z.B. auf die Mathematik, die Physik, die Biologie und Musik, so sind in der Regel deren Einteilungsschema und deren Darstellungsart, etwa durch eine Metrik, gemeint. Das Wort „systematisch" wird in dem Ausdruck „systematisches Denken und Handeln" gleichbedeutend mit „systemgerecht" und „folgerichtig" verwendet (vgl. H. Seiffert 1985, S. 105). „Systemisch" hingegen wird als eine Eigenschaft betrachtet, die entweder einem System angehört oder als eine normative Kraft auf ein System einwirkt. In der Erziehung geht dieterschiedliche

Modelle des

142

Erziehungsbegriffs

se von den handelnden Personen aus. Inhaltlich bildet also der Begriff „systemisch" „Handlungsmuster, Systemmuster, Regeln und Strukturbildungen" (nach T. Miller 2001, S. 20) ab. Der Begriff „systemtheoretisch" meint dem gegenüber die wissenschaftliche Betrachtung von Systemen mit Hilfe von Modellen. Wenn wir die Lebensgemeinschaft der Menschen insgesamt als System sehen, dann sind die Modelle organischer Systeme für eine Theoretisierung geeigneter als die von anorganischen

und mechanischen. Eine solche Einsicht wird immer noch nicht von allen Wissenschaften geteilt. Auch heute noch ist die Vorstellung weitverbreitet, jeder Organismus sei ein riesiger mechanischer Apparat und künstlich kopierfahig. Erst durch die Ökologie und sicher auch, im Anschluß an sie, durch die neuere ganzheitliche Medizin und andere ähnlich konzipierte Disziplinen, findet ein Umdenken statt. Im Unterschied zu rein logischen und mechanischen Ordnungszusammenhängen bezieht sich der Begriff „systemisch" hauptsächlich auf dynamische Eigenschaften lebender Systeme. Das heißt: Die Interaktionsbeziehung der Teile zum Ganzen ist nicht computerisiert. Sie wird vielmehr in einer besonderen Weise als lebendige, kreative Generierungs- und Regenerierungsfähigkeit definiert. Lebendig meint prozeßhaft, meint, daß über Bewegungsenergien Veränderungen und Verwandlungen zustande kommen. „Systemisch" bezeichnet also die energetischen Eigenschaften, die in einem System insbesondere in organischen Systemen wie z.B. denen von Lebensgemeinschaften wirken, die das System am Leben halten, es also erhalten, sich entfalten und entwickeln lassen. Systemisch ist als Eigenschaft damit eine Art Power, die durch das Aufeinanderbezogensein der Teile eines Systems wesensmäßig und kräftemäßig einem System auch innewohnt (vgl. G. Oswald 1988 S. 9 ff). Erziehung systemisch zu betrachten heißt darum, sie als Spiegelbild gesellschaftlicher Merkmale zu sehen. Eigenschaften menschlicher Kontaktformen gestalten so gesehen den Charakter der Erziehungspraxis. -

-

(b) Systeme sind allgemeine Ordnungsgebilde. Ein System ist das geordnete Ganze einzelner Teile. Es ist also der besondere Ordnungsbezug

Teilen untereinander wie auch zum Ordnungsprinzip und der sich nach ihm richtenden Verteilung der Ordnung, z.B. in Form von Zuständigkeiten und Weisungswegen.

von

Systembegriff enthält ursprünglich den analytischen Gesichtspunkt der geistigen Ordnung von Begriffen und Sachverhalten. Diese sind nach den Regeln der Logik über- und untergegliedert. Helmut Seiffert gibt hierzu in seiner Einführung in die Wissenschaftstheorie Bd. 3, 1985, S. 95 141 einen Überblick, in der die Doppelnatur des Begriffs sichtbar wird. Was den Begriff des Systems betrifft, so wird Seiffert, der sich Exkurs: Der

-

seinerseits auf den österreichischen Biologen Ludwig von Bertalanffy beruft, oft zitiert, allerdings ohne zu prüfen, welcher wissenschaftstheoretischen Ecke er entstammt. (Auch Gerhard Oswald 1988, den wir später noch nennen werden, scheint einen Systembegriff einer empirisch-analytischen Wissenschaftstheorie auf ein hermeneutisch-dialektisches Wissenschaftstheoriemodell einfach zu übertragen.) Seiffert schreibt (S. 95): „Schon in der Antike hatte 'System' eine doppelte Bedeutung: 'zusammenordnen' kann man nämlich einerseits 'Gegenstände' oder 'die Wirklichkeit', andererseits 'Aussagen' oder 'die Erkenntnis der Wirklichkeit'. Der Ordnung im Denken steht die Ordnung im Sein gegenüber. Die Ordnung im Denken ordnet Begriffe durch die Ähnlichkeitsbeziehungen der Dinge untereinander, auf die sie sich beziehen und die sie bezeichnen. Die Ordnung im Sein wird durch eine Erkenntnistheorie geleistet. Seiffert be-

143

Kapitel IV: Netzwerk des Erziehungsbegriffs

legt dies auch durch eine Darstellung der Geschichte, wobei er insbesondere die Erkenntnis-Systematik von Nikolai Hartmann würdigt. Wird die Analytik jedoch verlassen und Beziehungen jenseits der Strenge der Logischen Propädeutik (nach Kamlah-Lozenzen 1969) betrachtet, so scheint seine Betrachtungsform am Ende zu sein. Sie kann nämlich das, was in seiner Mehrdeutigkeit oft als Prozeß beschrieben wird, nicht erfassen. Dazu reichen auch seine Erläuterungen zur Kybernetik nicht aus. Eher scheint uns hier die Position von Frederik Vester geeignet zu sein. Denn sie geht von einer der Analytik der Logik entgegenlaufenden Position aus, die von den Schlagwörtern „Kreativität", „Dysfunktionalität" und „Chaos" beherrscht ist. Erkenntnismethodisch entspringt sie eher dem Regelkreis von Hermeneutik, Dialektik und Phänomenologie. Das System, in dem die Erziehung als Subsystem eingebettet ist und dessen Eigenschaft sie spiegelt, übt als Gebilde insofern Macht aus, als darauf bedacht ist, seine innere Ordnung durch Erziehung nicht zu gefährden. D.h. Erziehungsleistungen werden gefördert, sobald auch klar ist, daß sie systemstabilisierend wirken. (c) Systeme sind natürliche und künstliche Ganze. Die Unterscheidung von natürlich und künstlich kann nur über eine Betrachtung ihrer Eigengesetzlichkeit geleistet werden: Das sogenannte Künstliche, das vom Menschen Konstruierte,

Entworfene und Realisierte ist das Verdinglichte und das Gemachte. Es unterliegt den mechanischen und kausalen Gesetzmäßigkeiten. Durch sie lassen sich Wirkungen genau prognostizieren und Ursachen genau analysieren. Das Natürliche ist demgegenüber das Gewachsene, Organische. Es unterliegt nicht-kausalen Gesetzen. Die Wirkungen lassen sich nicht abschätzen. Ein dazu häufig genanntes Beispiel ist die Tatsache, daß wir, wenn wir auf einen Stein treten, abschätzen können, was passiert. Wenn wir aber einen Hund treten, können wir die Wirkung nicht vorhersagen. Von einem natürlichen Ordnungszusammenhang von Teil und Ganzem spricht man, wenn der Zusammenhalt aufgrund von versteckten, oft internen und angeborenen Kräften aufrechterhalten wird. Der evolutionäre Zusammenhalt durch die Tradition und deren überliefertes, teilweise geheimes Wissen ist ein Beispiel. Künstliche Systeme sind hingegen durch Konstruktionen erdachte und durch Werkzeuge gemachte Ganze. Es sind Erfindungen, Maschinen und sonstige technologische Realisierungen. Es sind aber auch geistige, konstruktive und konstruktivistische Gebilde wie z.B. Begriffe, Modelle und Theorien. Der Unterschied zwischen dem Natürlichen und dem Konstruktivistischen und Künstlichen ist in Bezug auf die Erziehung außerordentlich schwierig. So erscheint eine Erziehung per se als ein künstliches System, weil sie trotz aller Selbstkritik doch konstruktivistisch denkt und plant. Eine natürliche Erziehung hingegen kann sich nur in einer Umwelt ereignen, in der die erzieherische Förderung ohne artiflzielle Hilfsmittel und Medien auskommt. Vielleicht ist dies nur in sogenannten primitiven Gesellschaften möglich, in denen einfach alles vorgelebt wird, was gelernt werden soll.

(d) Systeme

bestehen

aus

Teilen eines Ganzen und

aus

der Summe

von

Teil und Gan-

zem.

Systemische Einsichten sind gewiß älter als das Vokabular, das sie zu beschreiben sucht. Eine ihrer Grundlagen ist die einfache Erkenntnis, daß ein Teil, um dasein zu können, immer ein anderes Teil, ein Gegenüber und Miteinander braucht. A kann nicht A sein, wenn es nicht auch B gäbe. Ebenso einsichtig ist: Teile sind immer Teile eines Ganzen. Und das Ganze ist eine Art Summe der Teile, auf jeden Fall mehr als ein Teil. So benötigt ein Teil ein anderes und auch das Ganze der Teile. Es braucht also sich selbst und die anderen, um existieren zu

Modelle des

144

Erziehungsbegriffs

können. Der Gedanke, daß das Ganze auch mehr als die Summe seiner Teile ist, markiert die Geburtsstunde des Begriffes der Qualität. Die quantitative Summe von Teilen ist also die qualitative Bedeutungswirkung des Ganzen. In diesem Sinne ist auch die Pädagogik sowohl die Theorie als auch die Praxis der Erziehung.

(e) Die Existenz von Merkmalen entsteht durch Kontakt der Teile untereinander. Prinzip ist, daß nichts aus sich heraus so sein kann, wie es ist. Dinge, Sachen, Personen, Verhältnisse ect. sind nur durch und über die Beziehung zueinander qualitativ das, was sie sind. Erst durch den Kontakt der Teile eines Systems entsteht Identität, im Sinne einer Zuordnung und Zugehörigkeit. Im Rahmen der Pädagogik weist dieser Zusammenhang auf die generelle

Erziehungsbedürftigkeit des Menschen hin.

(f) Beziehungen sichern die Existenz und Einheit von Teil und Ganzem. Die Beziehung der Teile zueinander, zum Ganzen und umgekehrt sichert die Existenz, heute würden wir sagen das Überleben des Systems. Eine solche Beziehung ist systemisch, weil in ihr Teile mit dem Ganzen korrespondieren. Auch umgekehrt braucht auch das Ganze für seine

Konstituierung

die Teile. Damit sind die Teile im Rahmen der

Interdependenz auch

elemen-

tar. Besonders wichtige Teile werden damit zu den lebenserhaltenden Elementen eines Systems. Sie werden als eigene Summen oder Subsysteme wiederum zu den Organen eines Systems. Die Kultur ist ein solches Organ. In der Pädagogik bedingen sich Enkulturation, Iden-

tität und

Emanzipation wechselweise.

(g) Die dialogische Struktur von Teil und Ganzem regeneriert den Kontakt. Teile stehen untereinander im symbolischen Austausch, d.h. ihr Kontakt hat eine spezifische Bedeutung für alle Beteiligten. Der Kontakt der Teile untereinander ist damit lebensnotwendig. Die Funktion der Sprache in der Erziehung nimmt hier eine zentrale Stellung ein. (h) Zur Funktionsfahigkeit Systeme.

der Teile

gesellen

sich auch

allgemeine

Merkmale lebender

Erhalt, Entwicklung, Verwandlung und Veränderung sind die Kräfte zur Aufrechterhaltung der Funktionsfahigkeit. Zu den charakteristischen Eigenschaften im Sinne von Systemmerkmalen und Systemgesetzen lebender Systeme zählen darüber hinaus folgende Gesichtspunkte. (Die Auflistung lehnt sich der Zusammenstellung von E. Schuler und M. Steibli 1992, S. 19 22 an.): -

„Übersummation": Ein System als Ganzes betrachtet hat andere Eigenschaften als seine einzelnen Teile. Es entsteht durch die funktionale Beziehung der Teile zueinander eine neue Qualität. (C.B. Germain und A. Gitterman 1988 beschreiben dies S. 3 so: Dem Ganzen wohnen bestimmte Eigenschaften und Merkmale inne, "die in keinem seiner Teile für sich genommen zu finden sind.") „Ganzheit": Die Ganzheit eines Systems kann sich auch durch die Änderung einzelner Teile verändern „Zirkularität und Rekursivität": Jedes Teil steht mit jedem anderen in Beziehung. So führt der Eingriff in einen Teilbereich eines Systems zu Auswirkungen auf die anderen Teile „Äquifinalität": Die Systemganzheit als ein Zustand gesehen kann von unterschiedlichen Bedingungen herrühren „Äquipotentialität": Unterschiedliche Systeme können ein und denselben Entstehungszusammenhang besitzen

Kapitel

IV: Netzwerk des

145

Erziehungsbegriffs

Lebende Systeme haben die Möglichkeit, sich selbst steuern, sich also anzupassen, zu entwickeln und zu verändern „Homöostase": Damit ist die Fähigkeit zur „relativen Stabilität" (ebenda S. 22) gemeint Die „Wiederkehr von Gleichem und Ähnlichem": „Systeme haben ihre Geschichte ihre Lebenszyklen" (S. 22). Die Konstrukte dazu scheinen gleich und ähnlich zu sein Die „Stabilität eines Systems": Sie wird von dessen Überlebensfähigkeit bestimmt. Komponenten dazu sind: Widerstandsfähigkeit (Immunstärke) und Konfliktfähigkeit

„Autopoisie und Selbstorganisation":

zu

..

Im Zentrum steht also die Überlebensfähigkeit eines Systems. Wir wollen darum nachfolgend Grundlagen zu diesem Komplex mit Hilfe des Begriffs der Funktionsfähigkeit vor dem Hintergrund der Diskussion um Mensch und Maschine erörtern.

die

(i) Die Arbeitsfähigkeit von Systemen stellt ein kybernetisches Regelwerk dar. Die Arbeitsfähigkeit von Systemen, ob offen oder geschlossen, geht, wie wir gesehen haben, mit deren Überlebenschance einher. Dies wird durch den Zusammenhang von Funktion,

Regelung deutlich. Zum Begriff der Arbeitsfähigkeit

Funktionalität und

wissen wir, daß ein Organismus (z.B. eine eine ein eine Schulklasse Team, Gemeinschaft, Familie, usw.) dann als System funktioihm ihren Dienst d.h. wenn alle wenn von sie die Aufgaben erfüllen, die Teile tun, niert, sie als Teile in ihrer Funktion charakterisieren. Eine Störung liegt vor, wenn irgendwo Sand im Getriebe ist, wenn die Erfüllung einer Aufgabe aus irgendwelchen Gründen nicht mehr geleistet werden kann. In einem solchen Fall, so sagen wir, kommt der ganze Apparat durcheinander. Die Folge sind spürbare Probleme, die, wenn sie nicht beseitigt werden können, zu noch schlimmeren Zuständen fuhren. Um einen Zerfall des gesamten Organismus zu vermeiden, muß er wieder repariert werden. Im allgemeinen heißt das, es muß wieder seine alte Funktionsfähigkeit hergestellt werden. Die Wege der Medizin sind vor allem auf diesem Gebiet in großer Veränderung begriffen. Systemisch genannt werden sie, wenn der ganze Organismus im Mittelpunkt steht. Erwiesen ist in dem Zusammenhang auch, daß ein defektes Teil nicht allein durch ein neues funktionsfähiges ersetzt werden kann, wenn nicht auch der ganze Organismus mitmacht. Man weiß, wenn er es nicht tut, dann stößt er auch wenn er sich dadurch selbst zerstört einen Fremd-Körper wieder ab. Die Tricks, den Organismus als ganzen durch synthetische Stoffe zu täuschen, können und auch das wissen wir oft erst Jahrzehnte später teuer bezahlt werden. Ähnliches gilt auch für die Erziehung: Je größer die Fremdanteile sind, um so mehr werden auch Kontakte abgelehnt, weil sie oft nicht die notwendige Herzlichkeit besitzen (können). In vielen Pflegefamilien ist dies ein gravierendes Problem. Exkurs:

-

-

-

-

(j) Teile haben eine Funktion für das Ganze. Die Funktion eines Teils meint in erster Linie den Zweck, den es hat, dann die Aufgabe, die als Auftrag infolge dessen erfüllen muß, und schließlich den Sinn, den es als Teil insgesamt in Beziehung zum Ganzen, dem es angehört, besitzt. Der Begriff Funktion kann auch den Zweck, die Aufgabe und den Sinn eines Ganzen in Beziehung zu anderen Ganzen meinen. In jedem Fall aber ist damit die Eigenschaft einer Beziehung eines und mehrerer Teile zum Ganzen zu dem Zweck und Ziel gemeint, das Ganze zusammenzuhalten und zu erhalten. Zweck des erzieherischen Auftrags der Familie ist es z.B., die heranwachsende Generation durch private Geborgenheit zu schützen. es

146

Modelle des

Erziehungsbegriffs

(k) Zweck, Aufgabe, Ziel und Sinn hängen funktional zusammen. Die Begriffe dienen auf ihre Weise der Lebensfähigkeit und dem Erhalt des Systems, dem sie angehören. Ihr Wert besteht also darin, prinzipiell die Funktionsfähigkeit eines Systems zu gewährleisten. Nun wäre dies eigentlich ganz einfach, wären z.B. Zweck und Sinn dasselbe. Der Zweck der Erziehung, z.B. Kinder vor Verwahrlosung zu bewahren, ginge dann mit dem Sinn der Erziehung einher, Kinder zu wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen. Nun muß aber das eine nicht mit dem anderen konform gehen, solange nicht auch ein Funktionszusammenhang zwischen Zweck und Sinn definiert ist. Erst wenn der Zweck einem allgemeinen Sinn untergeordnet wird, entsteht seine Funktion im Hinblick auf das Ganze. In der Sinnbestimmung ist also das Ganze in einer mächtigeren Position. Es bestimmt für sich die Zwecke. Eine Funktion definiert also den Zweck eines Teils in Bezug zum übergeordneten Sinn eines Ganzen, wobei der Zweck meist als Mittel der Regelung eines Sinns erscheint. Der Sinn jedenfalls bliebt das übergreifende Ziel, das System zu erhalten und zu reproduzieren. Exkurs: Eines der Hauptprobleme wirtschaftlicher und bürokratischer Systeme ist die Ziel-Mittel-Relation. Eine Diskussion um eine angemessene Verwaltung und Einsetzung von Mitteln wird oftmals um deren selbst willen geführt. Es werden entweder Mittel gefordert, die nicht mehr mit den Zielen übereinstimmen, oder es bestimmen nur noch die Mittel allein die Ziele. Im diesem Fall wird meist nur Papier produziert. Auch in Wirtschaftsunternehmen wird in Form von Organisations- und Personalentwicklung in Zweck-Mittel-Relationen gedacht, vor allem wenn es bei Betriebsananlysen um eine Bestimmung des Verhältnisses von Produktivität und Marktchancen geht. Dabei wird in der Regel der Zweck der jeweiligen Mittel, also deren Art und Menge, von den Zielvorstellungen der Unternehmensphilosophie und Unternehmenskultur bestimmt.

Die Frage, ob Systeme in ihrer Aufgabe, ihrem Zweck und ihrer Bestimmung immer aus sich heraus Sinnträger sind, also selbst einen Sinn konstituieren können oder ob ihr Sinn nicht von ihnen selbst stammt, sondern immer von außerhalb, von einem anderen System, kommt, führt zu einer Auseinandersetzung zwischen der Systemimmanenz und Systemtranszendenz von Zweck und Sinn der Teile eine Systems. Die Frage, ob eine Erziehungsethik sich auch dem konkreten Erziehungssystem bereits ergibt oder einzig von außen, z.B. vom System der Religion, normativ herantritt, ist in diesem Zusammenhang zentral. Bei dieser Vorstellung ist die jeweilige Weltanschauung die jedenfalls letzte Instanz für eine Begründung von Sinn und Zweck der Erziehung. Obwohl wir wissen, daß wir auf eine Darstellung dazu verzichten müssen, weil wir uns in sehr Differenzierungen verstricken müßten, wollen wir der Übersicht halber fol-

komplizierte gende Begriffklärung vorschlagen:

Ist die Funktion der Erziehung ein Zweck, so ist ein praktischer und pragmatischer Nutzen oder Gewinn gemeint, der durch und über die Erziehung gegeben ist. Ist die Funktion der Erziehung eine Aufgabe, so gleicht Erziehung einer Dienstleistung, die einen bestimmten Zweck erfüllt. Hat die Funktion der Erziehung einen Sinn, so ist die Erfüllung eines allgemeinen Solls oder Ziels der Erziehung angesprochen. Wir sagen, die Funktion von Erziehung ist sinnvoll, wenn sie ein, als wertvoll erachtetes Ziel anstrebt und dieses zweckdienlich verwirklicht. Der Sinn eines Erziehungszwecks ergibt sich also in der Regel erst, wenn es auch ein eine Funktion, wenn übergeordnetes Erziehungsziel gibt. So bekommt ein Ziel erst dann Zielen tritt und ihnen gehöher und zu anderen, parallelen gelegenen es in Korrespondenz muß. werden oder gerechtfertigt genüber begründet

147

Kapitel IV: Netzwerk des Erziehungsbegriffs

(1) Die Zweck-Mittel-Sinn-Funktion dient dem Erhalt eines Systems. Exkurs: Ein Bild zur Auflockerung: Die Tischbeine eines Tisches haben die ZweckMittel-Sinn-Funktion, die Tischplatte zu stützen. Ihr Sinn und Zweck besteht darin, dafür sorgen, daß Menschen an der Tischplatte essen können. Würde das Essen ein hohes Gewicht haben, was z.B. der Fall wäre, wenn man ein Wildschwein auf einem Campingtisch verspeisen wollte, so müßten die Tischbeine entsprechend verstärkt werden. Die Verstärkungen haben mit dem Tisch selbst nichts zu tun, es könnten z.B. Metallschienen aus einem Auto sein. Ihre Aufgabe wäre es, das Verhältnis vom Wildschweingewicht und der Stabilität des Tisches zu regeln. Stabilisatoren aus anderen Systemen können also dazu beitragen, den Soll-Wert eines Systems zu optimieren. zu

Was läßt sich daran erkennen? Mit dem Begriff „Funktion" ist zwangsläufig ein Steuerungsverhältnis von oben nach unten verbunden. Das Sinnganze steuert die Funktion der Teile, und die Teile erhalten als Sinnträger darin ein einen Zweck. Werden die Aufgaben schwierig, muß das Ganze stärkere Teile anfordern. Macht kommt ins Spiel. Es kann geschehen, daß die starken Teile die Macht übernehmen und das alte Ganze ablösen. Das alte Ganze ist ihnen gegenüber nur dann überlebensfähig, wenn es sich behaupten kann. Ist ein Ganzes einem anderen Ganzen gegenüber schwächer, so scheint es nur eine Überlebenschance zu haben, wenn es sich den Zielen des anderen anpaßt oder wenn es selbst das andere beherrschen kann. Anpassung selbst ist also Macht-Akzeptanz und Macht Anpassungsproduktion. Statische und schen

(m)

dynamische

Funktionalität sind die

Haupteigenschaften

des

System i-

Wie wir gesehen haben, kann der Erhalt eines Systems nur durch die Stützen einer ZweckMittel-Sinn-Funktion gewährleistet sein. Eine solche Stützung ist statisch und dynamisch zu sehen, weil sie sowohl die Stabilität nach innen, wie auch die Veränderungsfähigkeit nach außen enthält. Das heißt: Die Stützen regeln das Innen-außen-Verhältnis, sie sichern als statische Größen die Stabilität und als dynamische die Veränderbarkeit, Assimilations- und Anpassungsfähigkeit eines Systems. Zu den statischen Größen gehören die Tradition und deren Riten, Rituale und Regeln, zu den dynamischen der Entwicklungsprozeß. Der Begriff der Funktionalität ist dem gegenüber die jeweilige Regelung eines Systemerhalts. Handelt es sich um ein künstliches System, so ist der Erhalt auch durch eine künstliche Intelligenz gemacht. Handelt es sich um ein natürliches System, so deckt es sich mit dessen Lebensprinzip. (Zur Diskussion vgl. J. Habermas; N. Luhman 1974) Funktionalität als prinzipiell systemische Eigenschaft wird besonders sichtbar, wenn ein System in Aktion tritt, d.h. mit anderen Systemen in Kontakt tritt. Durch die Art und Weise der Korrespondenz wird dreierlei sichtbar: wie stabil ein System ist, die Grenzen der Belastbarkeit liegen, und was sich Systeme gegenseitig antun,

wo

Dabei ist eine der wesentlichen oder gegeneinander arbeiten.

Fragen die,

wenn

sie miteinander interagieren.

ob Funktionalität und

Veränderung

miteinander

Exkurs: Die klassische Vorstellung von Funktionalität ist die einer reibungslos arbeitenden Maschine, in der alle Teile genau umrissene Aufgaben erfüllen. Wenn die Maschine läuft, dann funktioniert sie auch, und sie funktioniert optimal, wenn sie das tut, was sie tun soll, also wenn sie die Arbeit leistet, die sie leisten soll. So gesehen ist die Funktionalität gleich der Regelung einer durch einen Soll-Wert vorgegebenen Leistung.

Modelle des

148

Erziehungsbegriffs

Der Sollwert des gesamten Maschinensystems kehrt funktional im Sollwert seiner Teile wieder. In diesem Modell ist jede durch die Maschine hervorgebrachte Veränderung auf die Leistung der Maschine zurückzuführen und damit funktional zu sehen. Veränderungen sind damit auch steuerbar und planbar. Erziehung wird darin zu einer Kampagne.

Ein genaues theoretisches Abbild, das sich auch für eine Übertragung auf den Erziehungsbereich besser eignet, liefert uns die Kybernetik, die Wissenschaft von den Steuerungsprozessen: Sie geht von der Vorstellung aus, daß Erziehungswirkungen durch AustauschRegelungen hervorgerufen werden. So ist die erzieherische Wirkung der Teile eines Systems durch deren Austausch geregelt, den sie untereinander und nach außen hin führen. D.h. auch, daß wir uns diese Tatsache zunutze machen können und den Austausch gezielt steuern können. Auf diese Weise regelt eine Energie-Form auch eine andere. Erziehung regelt die Einstellungen und diese wiederum beeinflussen umgekehrt die Erziehung. Auf die Gesellschaft übertragen würde z.B. die Erziehungsmacht den speziellen Zusammenhalt des Gesamtsystems und seiner Teilsysteme regeln.

(n) Regelungsmechanismen bestimmen den Leistungsgrad von Systemen. Dabei rücken zwei Vorstellungen in den Mittelpunkt: Leistungsregelungen in geschlossenen und in offenen Systemen. Eine Bemerkung vorweg: Offenheit und Geschlossenheit sind Eigenschaften, die den Grad der Abgrenzung gegenüber anderen Systemen, also den Grad ihrer Intimität und Abkapselung, ansprechen und nicht ihre Stabilität meinen. Geschlossene Systeme wie z.B. das der Familie können instabiler sein als das offene Systeme wie z.B. das einer Elterninitiative. Natürlich gilt das auch umgekehrt. Der Unterschied besteht darin, daß die Spielregeln in geschlossenen Systemen genau festgelegt sind, daß sie z.B. durch Tabus begrenzt sein können und bei Nichtbeachtung sanktioniert werden. In offenen Systemen sind die Regeln variierbar. Die Pädagogik als System der Beeinflussung zwischen Obhut und Freiheit will zwar offen, d.h. etwa plural und tolerant bleiben, es gelingt ihr aber zumindest institutionell gesehen sicher nicht.

(o) Dysfunktionalität weckt positive Veränderungskräfte in offenen Systemen. Zum Gedanken einer dysfunktionalen Gegensteuerung kommen mehrere theoretische Quellen in Betracht: Es sind der bereits erwähnte Symbolische Interaktionismus sowie eine Systemtheorie mit Anteilen aus der Kritischen Theorie. In ihnen ist Dysfunktionalität eine positive Leistungsregelung in offenen Systemen. Dabei wird der Begriff der Funktionalität als statisches Element durch die Vorstellung einer kreativen Flexibilität ergänzt und abgelöst. Erziehungsleistungen sprengen darin herkömmlich Vorstellungen durch neue Freiräume, in denen auch unorthodoxe Regeln getestet werden dürfen. Das hat Auswirkungen auf alle Folgebegriffe systemischer Pädagogik. In offenen Erziehungssystemen ist eine auf Dialog und Klärung bedachte Kommunikation nicht nur ziel- und zweckgerichtet, sie ist nicht nur Leistungs-Skalpell und Differenzierungs-Instrument, sondern sie ist die natürliche Verbindung der Menschen untereinander, der das Zusammensein wichtiger ist als Leistung und Produktion. Die sinnstiftenden Teile sind darin die Veränderungskräfte im Sinne einer Verbesserung humaner Lebensqualität. Weiterentwickelt heißt das aber auch, wenn die humane Lebensqualität als Sollwert der Erziehung noch nicht erreicht ist, dann muß sie selbst dysfunktional wirken, um politisch auf sich aufmerksam machen zu können. Sie muß anders sein, um sinnvoll sein zu können. Zum Beispiel idealistisch. Für ein solches Denken muß in der Erziehung das Streben nach Disziplin und Ordnung auch Chaos werden können und dürfen, so wie sich die sinnvolle Notwen-

Kapitel

IV: Netzwerk des

Erziehungsbegriffs

149

und die positive Herrschaft durch die Anarchie finden können. Erst durch die Erlaubnis von Offenheit wird umgekehrt das Chaos zur sinnvollen Ordnung, der Zufall zur einsichtigen Notwendigkeit und die Anarchie zur vernünftigen Herrschaft. Gelingen kann dieser Prozeß aber nur, wenn die Gewalt tot ist. Es ist klar: Das alles hört sich gehörig nach einem heroischen Rundumschlag an. Andererseits muß die Sprache auch sämtliche Trümpfe ausspielen, die von ihr ausgespielt werden können, wenn es um die Vision der Zukunft von Systemen geht. Und was bei all dem die Pädagogik, die in der Praxis ja immer mit Chaos konfrontiert ist, betrifft, so kursiert gegenüber offenen Vorstellungen von Veränderungen zum Glück vieler Orts bereits ein Sowohl-als-auchDenken. Es sagt, dort funktional zu intervenieren, wo es erforderlich ist, z.B. wenn Orientierung gefragt ist, und dort dysfunktional zu intervenieren, wo Chaos im Sinne eines echten Freiraums notwendig wird, um verkrustete Muster aufzubrechen und neue Kreativität freizu-

digkeit durch den Zufall

setzen.

Interventionen in der pädagogischen Praxis sind Handlungen, die nicht in Linie an Erfolge denken, es sind Handlungen, die ein Geschehen sein lassen können, die nicht ad hoc eingreifen, sondern einen Prozeß ein Stück weit sich selbst überlassen. Auch innerinstitutionell gehört das zur pädagogischen Diplomatie. Exkurs: Die Frage, ob offene oder geschlossene Systeme leistungsfähiger und fortschrittlicher sind, ist nicht einfach zu beantworten. Das Team als Subsystem ist hierfür ein sehr gutes Demonstrationsobjekt. Es kann nämlich je nach der Perspektive sowohl offen als auch geschlossen gut funktionieren. Es ist geschlossen, wenn es in feste Rahmenbedingungen und Strukturen eines Unternehmens eingebunden ist und von dort alle Arbeitsaufträge erhält. Offen ist es durch die Beziehungsebene der Mitglieder untereinander. Zwei Perspektiven kommen dabei in Betracht, eine vertikale und eine horizontale: Die vertikale Perspektive weist dem Team eine genau umrissene Funktion zu. Die horizontale hingegen zeigt, daß die vertikale Ebene immer erst vor Ort die konkreten Interaktionsregeln praktiziert. Die Arbeit wird zwar von oben nach unten, funktional nach den Erfordernissen des Produkts, das hergestellt wird, verteilt, sie wird aber an der Basis immer interaktionistisch gelebt. Wir wollen versuchen, das sich daraus ergebende Problem am einem Beispiel zu erläutern: Ein Team, dessen Mitglieder nicht mehr richtig arbeitsfähig sind, ist für jede Institution oder Firma, der es angehört, eine gehörige Belastung. Gehen wir einmal davon aus, daß die Institution geschlossen ist, daß also alle durch Arbeitsvorgaben genau wissen (sollten), was die Ziele sind und was sie einzeln und im Verbund konkret tun müssen, so könnte z.B. die nicht funktionierende berühmte Beziehungsebene innerhalb des Teams daran Schuld sein, daß einzelne nicht mehr zusammenarbeiten können. Selbst wenn durch Gespräche einigermaßen geklärt wäre, was der springende Punkt der Arbeitsstörung ist, so wäre das Problem, daß sich zwei Teammitglieder eben einfach nicht riechen können, noch nicht aus der Welt. Wollte man beide, aus pädagogischen Erwägungen heraus, am Arbeitsplatz halten, so würde das folgendes bedeuten: Um die Arbeitsfähigkeit wieder herzustellen, muß erkannt werden, an welcher Stelle sich die vertikalen Erwartungen der Institution mit den horizontalen Erwartungen im Team treffen. Es muß ermittelt werden, in welchen konkreten Situationen sich also die geschlossenen Erwartungen von oben, in Richtung Qualitätssicherung der Arbeit und des Produkts, mit den offenen Beziehungserwartungen kreuzen. Ebenfalls geklärt werden muß, wie und in welchen Situationen es zum Konflikt kommt und wie er sich auf andere auswirkt. Die Beziehungsebene beinhaltet also, systemisch gesehen, individuelle und strukturelle Komponenten, die sich in Interaktionen kreuzen. Methodisch, im Sinne einer pädagogi-

Dysfunktionale erster

Modelle des

150

Erziehungsbegriffs

sehen Beratung betrachtet, könnte dies bedeuten: Wenn die Offenheit problematisch ist, muß die Geschlossenheit wieder den Vorrang gewinnen. Das heißt, in den Situationen, in denen die beiden Teammitglieder ihre gegenseitige Antipathie spüren, muß ihnen klargemacht werden, daß sie neben ihrer individuellen Beziehung auch eine Arbeitsbeziehung haben und daß diese jetzt von ihnen abverlangt wird. Die Erinnerung an die Funktion der Arbeit für die Institution kann in solchen Fällen eine gehörige Problementlastung bringen. Auf diese Weise sind Offenheit und Geschlossenheit interdependent.

(p) Systemische Sichtweisen ermöglichen Synergien. Der Selbsterhaltungscharakter von Systemen wird durch die Kraft eines Zusammenhalts der Teile erzeugt. Zugrunde liegt das Bild, daß einzelne Teile eine Systems über ihre Funktion hinaus von Natur aus Eigenkräfte besitzen, die sie erst im Zusammenspiel mit anderen Teilen zeigen. Die Ausstattung kann als Ressource positiv genutzt werden und führt im Verbund zu synergetischen Effekten. Teams und Gruppen sind auch hier das beste Beispiel. Durch die Zusammenarbeit und Kooperation entstehen neue Perspektiven, weil bereits zwei Menschen bekanntlich mehr sehen

als einer allein. Der Nutzen der Synergie als Kooperationsstärke ist im Erziehungsgeschehen offenkundig. Er führt zu einer Art natürlicher gegenseitiger Kontrolle der Teile eines Systems und auch zur Entwicklung der Verhältnismäßigkeit der Mittel. Insofern ist das systemische pädagogische Denken auch linearen Modellvorstellungen überlegen. Befürchtungen, der Kompetenzraum der Teile eines Systems würde durch die Förderung und Nutzung von Synergien überschritten, sind möglicherweise zwar berechtigt, sie reduzieren sich aber angesichts der doch damit verbundenen Chancen erheblich. Genauer gesagt heißt das, wenn nur die Widersprüche der Teile untereinander gesehen werden, entstehen wiederum nur endlose Abgrenzungskampagnen und Feindbilder. Wenn aber in der Differenz der Teile und in deren Abweichung voneinander das Positive gesehen wird, erhöhen sich die Chancen für Kompromisse. Für den Erziehungsbegriff ist Neills Summerhill dafür eigentlich das beste

Beispiel.

2.2.

Systemregelungen

(a) Leistungsregelung in geschlossenen Systemen

Leistungsregelungen setzen in der Kybernetik ein geschlossenes System vorEnergien gewährleistet. Was an Energie an der einen Stelle verlorengeht, taucht an einer anderen Stelle auf. Damit lassen sich Funktionen auch genau definieren, bewußt einsetzen und verlagern. Funktionalität heißt in diesem Kontext auch Regelung von Leistungen durch Ansteuern eines Soll-Wertes. Ein Beispiel hierfür könnte die Regelschule sein. Dort nämlich besteht ein enger Funktionszusammenhang zwischen Leistung und Bewertung der Leistung. Würde man dieses Modell allgemein auf den Erziehungsbereich übertragen, so hieße das z.B., daß alle erwünschten Veränderungen auch funktional herstellbar wären. Dazu müßten alle Teile in diesem Fall alle Personen genau die Aufgaben erfüllen, die von ihnen verlangt Die klassischen

aus, das den funktionalen Gesamtzusammenhalt der

werden. Um aber herauszufinden, welche Aufgaben konkret erforderlich sind, macht eine SollBestimmung (Zielvorgabe) und eine entsprechende Logistik der Durchführung erforderlich. Ersteres bestimmt das konkrete Ziel, zweites die erforderlichen Maßnahmen in Form der -

-

Kapitel IV: Netzwerk des Erziehungsbegriffs

Verteilung der Arbeit

durch

Aufgabenzuweisungen

im Sinne

von

151 Rollen- und Positionsver-

teilungen. Ein geschlossenes System ist also mit einem Apparat vergleichbar, in dem der Austausch von Energien über die Sprache, Kommunikation und Interaktion läuft. In ihm ist Funktionalität dann gewährleistet, wenn die Kommunikation auch tatsächlich die Energieversorgung gewährleistet. Funktionale Veränderung zu erreichen, heißt in diesem Modell, Sprache bewußt nach einem kybernetischen Sender- und Empfängermodell einzusetzen: Wenn z.B. eine Per-

A ein Ziel C erreichen will und sieht, daß sie dazu die Personen Bl, B2 und B3 als Hilfskräfte braucht, dann muß A jeder einzelnen Person genau sagen, was sie tun muß. Das heißt alle B müssen die Anweisungen von A vollkommen verstehen und sie auch genau ausführen können. Dafür werden sie auch belohnt und haben die Chance aufzusteigen. Das wiederum verbessert deren Lebensbedingungen, weil sie sich mehr leisten können. Funktionalität in einem geschlossenen System herstellen heißt: Kommunikation zielgerichtet einzusetzen. Mit dieser Zielvorgabe können auch Störungen als inhumane und dysfunktionale Erscheinungen durch die Herstellung neuer Funktionalität beseitigt werden. Dabei werden durch eine Art von Aufräumaktion genau die Stellen fixiert, an denen die Kommunikation nicht mehr läuft. Dann werden dort die Aufgabenstellungen im Sinne der Logistik neu präzisiert und, wenn dann alle genau das machen, was sie machen sollen, dann funktioniert auch alles wieder. Wenn alle wissen, was sie tun müssen, herrscht keine Verunsicherung mehr. So könnte die Handlungsmaxime dazu lauten: Nur die Veränderungen, die einem Plan entsprechen, sind auch sinnvoll. Alles andere ist wildwuchernde Chaotik, die bisweilen auch einer die Funktionalität untergraben wollenden Böswilligkeit entspringt. Aber egal, wie man es sieht, es wird in jedem Fall als systemschädigend betrachtet. Anwendungen dieses Modells sind überall möglich. Mit einer einfachen, zielgerichteten Kommunikation werden Anbindungen und Anpassungen an Interessen auf breiter Ebene erreicht. Adressatensprache ist hier das Schlagwort. Das, was niemanden anspricht, das ist auch nichts wert, es hat keine Funktion. Im Erziehungsbereich wirkt der Funktionalismus vor allem über die Vorstellung, jedes organisierte Erziehungsgefüge wird dann erst zu einem System, wenn es leistungsfähig ist. Die Voraussetzungen dazu sind genau beschriebene Rollen und eine entsprechende Positionsverteilung. Darüber hinaus müssen Ziele definiert sein und Mittel bereitstehen, durch die sie realisiert werden können. Dabei ist auf allen Ebenen ständige Effizienzkontrolle erforderlich. In ihr wird gefragt: Leisten alle noch das, was sie leisten sollen oder wollen? Stimmen die Ziele noch mit den Handlungen und umgekehrt überein? Wurden die Ziele erreicht? son

(b) Leistungsregelung in offenen Systemen In offenen

Systemen findet ein ständiger Wechsel von Funktionalität in Dysfunktionalität Beispiel dafür sind offene Erziehungszentren, in denen das Verhältnis von Angebot und Nachfrage frei nach Bedarf geregelt ist. Funktionalität wird hier vom Prozeß natürlicher Veränderungen beeinflußt, so daß auch die Dysfunktionalität als Einflußgröße wirksam wird. In Form von freier Kreativität ist sie gleichbedeutend mit den lebendigen und ursprünglichen Selbstbehauptungs- und Selbstverwirklichungskräften und -formen eines Systems. Rollenträger können ihre Rollen nach eigenen Vorgaben, Wünschen, Bedürfnissen und Interessen indistatt.

viduell definieren. Offene Systeme treten auch untereinander in einen Austausch. Die Folge ist, daß sich die Interna solcher Systeme ständig ändern. Während sie z.B. miteinander kooperieren, verändert sich auch permanent die Qualität ihrer Leistung. Offene System sind während risikofreudig, sich geschlossene Systeme anderen gegenüber eher abgrenzen aus Angst vor innerem Stabilitätsverlust.

Modelle des

152

Erziehungsbegriffs

Im Modell der offenen Systeme sind auch die Ziele offen. Sie stehen zwar auf dem Papier, sind aber immer wieder neu interpretationswürdig. Über ihnen steht bestenfalls eine aufklärerische Ethik des Diskutierens und des Verhandeins, die darin besteht, auf der Grundlage von Parität und Gleichberechtigung miteinander zu kommunizieren und zu interagieren. Im Erziehungsbereich würden wir sagen: Vorstellungen zu Erziehungszielen sind nicht eindeutig operationalisierbar, sondern sie sind immer einem Deutungsprozeß unterworfen. Sie konkretisieren sich erst durch Klärungsversuche. Die Handlungsenergien hierfür kommen auch nicht durch organisatorische Energieverlagerungen funktional zustande, sondern durch Energie-Kreationen eigener Art. Exkurs: Im Mittelpunkt offener Systembetrachtung steht der Mensch, der u.a. durch seine Sprache nach Noam Chomsky (1973) durch seine generative Sprachkompetenz eigene und auch vollkommen neue Anfänge setzen kann. Basis hierfür sind Kommunikation und Kommunikationsfähigkeit. Beide lassen sich nicht in das Korsett einer stringent geregelten Eindeutigkeit schnüren. Sie sind auch keinem Prozeß unterworfen, der sich nur aus Reparaturen an der Funktionalität ergibt. Ausgangspunkt ist das Feld des gegenläufigen Sozio-Emotionalen. Für die einen ist dies die Beziehungsebene, für andere die Ebene von Sympathie und Antipathie, von Behagen und Unbehagen. Das Potential stammt aus dem Subjekt und aus seinen Wünschen, Bedürfnissen, Einstellungen, Erwartungen und Interessen. Es kommt aber auch von dem, was als Macht bezeichnet wird, die zwischen Herrschaft und Gewalt pendelt. Auf dieser Ebene wird Funktionalität meist als ein künstliches, durch gewisse Herrschaftsinteressen heraufstilisiertes Produktions- und Fortschrittsdenken kritisiert, weil sie unter dem Deckmantel des Satzes „Wir müssen leistungsfähig sein" Menschen zum Objekt von Systemapparaten macht. Daß Sprache und die durch sie hervorgebrachte Kommunikation als Austausch nicht objektiv eindeutig genormt werden kann, unterstreicht die Formel von der prinzipiellen Unendlichkeit von Kommunikation (Habermas). Dabei ist auch der Gedanke enthalten, daß Veränderung von Grund auf eine neue Qualität ist, also nicht einer hermeneutischen Tradition entspringt, sondern eher einer unendlich zu denkenden Dialektik, in der der WiderGegenteil. Wollte man spruch unter kein funktionales Raster gezwungen werden kann. Im Macht Funktionalität erbürokratische durch formale, es, indem man gewissermaßen im Sinne der Dysführt das zu dann keiner Beseitigung unangenehmer Lösung zwingt, funktionalität, sondern es würde den Widerspruch gerade verstärken. Ein Beispiel: Wäre ein Arbeitnehmer in einem Betrieb aus welchen Gründen auch immer nicht in der Lage, der Forderung nach funktionaler Kommunikation nachzukommen, dann hätte er keinen Platz mehr im System. Ihm würde gekündigt werden, weil er die Funktionalität hier: in Form von Produktivität behindert. Der Zusammenhang läßt sich auch anders sehen: Die Funktionalität führt zu keiner positiven Veränderung im Sinne von Humanisierung des Arbeitsplatzes, sondern zu dessen Abbau. Durch eine Verstärkung von Funktionalität z.B. über Steigerung der Produktivität durch Rationalisierungsmaßnahmen werden Gruppen produziert, die aus dem System herausfallen. Die dahinterstehende These lautet also: Funktionalität behindert Veränderung, im Sinne der Norm einer humanen Verbesserung der Lebensbedingungen. -

-

-

-

-

-

Kapitel IV: Netzwerk des Erziehungsbegriffs 2. 3. Problemzonen des

153

Systemischen

Eine Kritik am systemischen Denken muß einseitig bleiben, solange Alternativen fehlen. Dennoch wollen wir hier die Hauptprobleme des systemischen Denkens nennen, die zu überwinden wären: Das Problem der kognitiven Distanz Der Blick auf die Zusammenhänge führt

zur kognitiven Distanz, die zwar das individuelle Blickfeld erweitert, ob damit aber auch Veränderungen im Bereich des Emotionalen einhergehen, bleibt offen. Das Komplexitätsproblem Dadurch, daß es im systemischen Denken keine singulären Ursachen gibt, werden Probleme schwer analysierbar. Sie sind in einem Komplexitäts-Dickicht verstrickt. Das Kontextproblem Probleme in einem systemischen Kontext zu betrachten, nimmt dem Handeln punktuelle Eingriffsmöglichkeit. Systemische Hilfen können durch ihren Blick auf Netzwerke des Kontexts zur Orientierungslosigkeit führen. Das Indifferenzproblem Der Blick auf das Ganze läßt das Einzelne als indifferent erscheinen. „Man sieht vor lauter Wald die Bäume nicht mehr." Die Forderung nach Klarheit der Wahrnehmung wird damit erschwert. Die Folge ist entweder ein Rückzug hinter Scheuklappen, der sich nur am jeweils Machbaren festhält, oder ein Rückzug in nebulöse Fernen. Das Problem des makroskopischen Blicks Es verführt zu einer verfrühten Beurteilung. Der hypothetische Charakter von Aussagen und Äußerungen geht verloren. Außerdem erschwert der Blick auf den Gesamtkontext das Handeln. Das Ambivalenzproblem Welche Interventionen nun richtig und welche falsch sind, läßt sich nicht mehr im voraus sagen. Das stellt sich erst hinterher heraus, und selbst dann ist nichts sicher. Damit sind Entscheidungen immer ambivalent. Diese Eigenschaft bezieht sich auch auf Konzepte, Modelle, ja sogar auf Menschenbilder und Weltanschauungen. Für die pädagogische Arbeit bedeutet dies: Bei der Bearbeitung eines Problems ist die Wertigkeit bestimmter Ebenen offen. Innenkontext, Außenkontext und Interaktionskontext sind in ihrer Bedeutung gleichrangig. Sie entziehen sich einer kritischen Betrachtung im Sinne einer Schuldzuweisung. Auch der Ideologiekritik wird dadurch der Boden entzogen. Der Umgang mit Ambivalenz erfordert Fähigkeiten, die noch weitgehend unbekannt sind. Das aber scheint den ,Mut zur Antwort' zum Thema unserer Zeit zu machen. Das Hypothesenproblem Mit dem Ambivalenzproblem geht das des Umgangs mit Hypothesen einher. Wenn alles fragwürdig ist, muß das Individuum seine eigenen Hypothesen zur Klärung seines Selbstwerts und seiner Beziehung zur Welt und Gesellschaft finden und erproben. Damit nimmt der experimentelle Charakter des systemischen Ansatzes eine zentrale Stellung ein.

Das

Entscheidungsproblem

Systemisches Denken erweitert zwar den Blick durch neue Perspektiven, neigt aber letztlich immer Unentschiedenheit durch das Sowohl-als-auch und damit auch Unentschlos-

Modelle des

154

Erziehungsbegriffs

senheit. Die konkrete Entscheidung jedenfalls kann durch das systemische Denken erschwert werden. Das Problem der Systematik der systemischen Praxis In der Praxis hat sich noch kein einheitliches Modell mit systemischen Handlungsansätzen durchgesetzt. Systemische Pädagogik ist bislang mehr eine Sichtweise, pädagogische Probleme vernetzt zu sehen, und weniger ein methodisches Lösungsmodell.

3. Bausteine Eine

systemischer Pädagogik

Klassifizierung der systemischen Pädagogik basiert auf folgenden Aussagen:

Das

systemische pädagogische

Denken betrachtet

Erziehungsmodelle

als vernetzte

Sy-

stemmodule.

Systemmodule sind Handlungsnetzwerke, konzeptionen der Praxis führen. 3. 1.

die

zu

systemischen Erziehungsansätzen

und -

Erziehungsmodelle als Systemmodule

Wir haben bisher die Pädagogik als Wissenschaft und Praxis der Erziehung im weitesten Sinn definiert. Unter Erziehung haben wir jene Formen von Beeinflussung verstanden, die der Integration in die Gesellschaft, der Förderung von Mündigkeit und der Persönlichkeitsentwickfür lung dienen. Anpassung, Widerstand und Ichstärke gestalteten darin markante Säulenderen zu als wurde als Praxis Die Handlungssystem theoretische Explikationen. Pädagogik Verwirklichung betrachtet. Dabei sind kognitive, emotionale und instrumenteile Dimensiound Hand, integrierte Universalien mit unternen, im Sinne der Einheit von Kopf, Herz schiedlicher Gewichtung. Das schulische Lernen orientiert sich mehr am Kognitiven, das außerschulische eher am Emotionalen und Instrumentellen. Wenn wir nun vom vernetzten pädagogischen Denken sprechen, so meinen wir nicht nur die Verzahnung von Theorie und Praxis, sondern vor allem die Tatsache, daß die Erziehungsbedie Querverbindungen untereinander und griffe in den genanten Erziehungsmodellen durch D.h. Grundlagen und Teilbereiche sind werden. zur Praxis zu dynamischen Systemmodulen in der Praxis nach ihrer jeweiligen Funktion untereinander austauschbar. Um dies zu verdeutlichen, wollen wir zunächst einmal die genannten pädagogischen Modelle nochmals über Schaubilder darstellen, um die jeweiligen Verbindungen und Unterschiede als auch markieren zu können. Damit das Bild nicht verschwimmt, brauchen wir Kriterien, die Die Reihenfolge konstante Größen eine Vergleichbarkeit der Erziehungsbegriffe sicherstellen. der Kriterien und deren inhaltliche Definition können dabei vernachlässigt werden. Folgende Ebenen tauchen kategorial in allen ,Pädagogiken' auf: die normative Ebene als Sollebene und Ebene der Vorgaben und Ziele die konstruktivistische Ebene als (subjektive) Verstehens- und Erklärungsebene die mediale Ebene als Vermittlungsebene die Feldebene als Ebene des situativen Kontexts die Unternehmensebene als Ebene der öffentlichen Veranstaltung. Die einzelnen Ebenen enthalten wiederum Fixpunkte und Kriterien, mit Hilfe derer sich die Erziehungsmodelle analysieren und unterscheiden lassen.

Kapitel

IV: Netzwerk des

Erziehungsbegriffs

155

konstruktivistische Ebene

normative Ebene

Denkmodelle Menschenbilder theoretische Grundlagen wissenschaftliche Bezugssysteme

Ziele Inhalte

mediale Ebene

Feldebene Praxiskontext

Praxisrichtungen

Methodik Methoden Mittel Techniken

Praxisfelder

Praxiskonzeptionen Praxisformen

Praxisprobleme

Unternehmensebene

Einrichtungen Institutionen

Organisationen

nachfolgenden Erläuterungen sind zum Verständnis der Übersicht und der sich daraus ergebenden Querverbindungen wichtig: Zu den Erziehungszielen gehören das, was erreicht werden soll, warum es erreicht werden soll sowie auch das Erkenntnisinteresse, das verfolgt wird, und die Begründungen dazu. Zusammengenommen führt dies zur Legitimation des gesamten Zielkomplexes der Die

Erziehung. Erziehungsinhalte beschreiben die Gegenstände der jeweiligen Erziehungsmodelle. Die Erziehungsmethodik markiert die gesamte logistische Strategie des Erreichens eines Erziehungsziels. Erziehungsmethoden markieren die konkreten Wege zum Erreichen eines Erziehungsziels.

156

Modelle des

Erziehungsbegriffs

Erziehungsmittel enthalten Materialien und Medien der Erziehungsvermittlung. Erziehungstechniken sind genormte und funktionale Erziehungsschritte. Sie kennzeichnen die spezielle Art und Weise von Erziehungsmethoden. Erziehungsstile charakterisieren die Erziehungsbeziehungen und die daraus hervorgehenden Erziehungsinteraktionen. Denkmodelle sind geistigen Grundlagen der praktischen Erziehungskonzeption. Menschenbilder beschreiben Wert und Stellung des Menschen in den jeweiligen Systemen.

Theoretische Grundlagen liefern Begründungen, Erklärungen und Zusammenhänge aus den Einzelwissenschaften. Wissenschaftliche Bezugssysteme umgrenzen den Charakter von Theorien, die in der Forschung und Praxis angewendet werden. Praxisrichtungen nennen exemplarisch die konkreten Hauptausprägungen der Erzie-

hungsmodelle.

Praxiskontexte bezeichnen Rahmenbedingungen von Erziehungssituationen und Erziehungsaktionen. Praxisfelder geben Hinweise, wo und in welchem institutionellen Rahmen die jeweilige Pädagogik angesiedelt ist. Praxiskonzeptionen enthält das konkrete Erziehungsbild der Einrichtung. Praxisformen beschreiben die Handlungsstrategien, in der die Pädagogik für eine bestimmte Zielgruppe stattfindet. Praxisprobleme nennen die Hauptkonfliktpunkte und -felder, mit denen das Pädagogik-

modell in der Praxis konfrontiert ist.

Kapitel

IV: Netzwerk des

Erziehungsbegriffs

157

3. 2. Modulkombinationen

Systemische Kombinationen, die in der Praxis aufgrund der Setzung unterschiedlicher Priorizu entsprechenden Ansätzen führen:

täten

Erziehung auf der Grundlage systemiPädagogik ist ein reflektierter Prozeß der Beeinflussung zwischen Obhut und Freiheit scher

ergeben sich sechs systemische Kombinationen

Daraus

in die Gesellschaft steht an oberster Stelle über der der Entwicklung und Entfaltung der Person. Lernen und Bildung sind Emanzipation die ersten Voraussetzungen für die Emanzipation. Erst wenn der Mensch mündig ist, kann

(a) Kombination I: Die Integration und der

er

eine

vernünftige Identität ausbilden.

158

(b) (c)

(d) (e)

(f)

Modelle des

Erziehungsbegriffs

Kombination II: Die Anpassung an das Leistungs-, Kultur-, und Normensystem ist die Voraussetzung für die Identitätsentwicklung. Erst nach vollendeter Identitätsentwicklung

kann sich der Mensch zu neuen Ufern hin befreien. Kombination III: Die Gewährung von Freiräumen für die Entwicklung eines kritischen Bewußtseins ist die Voraussetzung für geglückte Anpassung an Leistungsstrukturen. Visionen des Kollektivs haben Vorrang. Nach ihnen richten sich die Anpassungsleistungen. Erst aus dieser Kombination kann sich eine Identität ausbilden. Kombination IV: Durch die Bindung an Visionen wird eine Identitätsentwicklung erst möglich. Anpassungsleistungen stellen danach keine besondere pädagogische Herausforderung mehr dar. Kombination V: Eine geglückte Identitätsentwicklung muß an erster Stelle stehen, damit Anpassungs- und Assimilationsleistungen erfolgen können. Erst durch diese Reihenfolge entsteht ein emanzipatorisches Potential. Kombination VI: Die innere und äußere Stabilität des Individuums ist die Voraussetzung für die Autonomie. Erst dann wird ein Lernen in Freiheit möglich.

Kapitel

IV: Netzwerk des

3. 3.

159

Erziehungsbegriffs

Übersicht

Systemmodul A: Erziehung als Enkulturationshilfe

Wahrnehmung Erfahrung Handlung

Kontakt

Bildung von Fähigkeiten

Umgang

Fertigkeiten

Haltungen

Verinnerlichung

Transfer

Anwendung

Normative Ebene Ziele •

Integration in Leistungsstrukturen der Gesell-

schaft •



Entwicklung und Förderung kognitiver, instrumenteller und affektiv-emotionaler Fähigkeiten und Fertigkeiten Erweiterung der Wissens- und Handlungs-

kompetenz Kompensation von Wissensdefiziten Förderung von Lebenstüchtigkeit und Leistungsfähigkeit durch Lernen und Bildung Erziehungsinteresse: Aus weniger Wissenden sollen Wissendere •





werden

Inhalte

Bildungskodex

Allgemeines Wissen Fachwissen

Kulturtechniken

Erziehungsbegriffs

Modelle des

160

Konstruktivistische Ebene Theoretische

Menschen- und Weltbild

Denkmodell

Grundlagen

lebenslang

Lerntheorien, die die

nendem

anpassungsbedürfti

anthropogenen und so-

Lernobjekt Antizipation des

ge,

Trennung von lerSubjekt und

Der

anpassungsfähige,]

lernbedürftige, lernfähige und flexible

Lernprozesses durch

Mensch, der mit sei-

operationalisierte

Ziele und Inhalte Denken in den Bedingungen für die Möglichkeit des Ler-

nem

gebildeten Be-

wußtsein seine gegenwärtige Position optimal ausfüllen kann Der Mensch im Glauben an den grenzenlosen positiven Fortschritt Die Welt als die beste aller möglichen Welten

nens

Bildung als Karriereschmiede nach dem Spruch: "Den Tüchtigen belohnt das Schicksal."

ziokulturellen Voraussetzungen berücksichtigen sowie Transformationssysteme, die einen

Wissenschaftliche

Bezugssysteme

Anthropologie Lernpsychologie

Didaktik und Methodik

Zugang zu kognitiven, emotionalen, affektiven und instrumentellen Kompetenzen finden Impulssteuerung des

Lernprozesses von außen

Präsentation von Lerninhalten für Lernende durch Lehrende Umsetzung der Lehrinhalte in Lerninhalte über]

kognitive Planungen

Mediale Ebene Methodik

Methoden

Reduzierung

Pädagogische Gespräche zur

der Manipulation und Repression in der

Erziehung

Rekonstruktion

der Lebenswelt und Lebens-

lage

I Phasen:

Erfahrung und

Anschauliche

kritische Be-

Einbeziehung

wußtwerdung

historischer und gesellschaftlicher

lage Entwicklung einer Gegen-

Erziehungserfahrungen

der persönlichen Lebens-

wirklichkeit

,

einer Utopie und Vision

Realisierung

möglicher

Veränderungen über solidarische Aktionen

Erprobung

alternativer

Handlungsformen

Mittel

Bereitstellung Erlebnisfreiräumen Kreativitätsfördernde

von

Materialien und

Spiele

Techniken

Bewußte Abstinenz von Führungs- und

Leitungsvorgaben Erzeugung

konstruktiver Unruhe

Stile

Demokratische

Beziehungsregelung und

Mitbestimmung auf allen Ebenen

Diskursive und reversible

Kommunikationsformen im

Eltern-KindVerhältnis

Kapitel

IV: Netzwerk des

161

Erziehungsbegriffs

Feldebene Praxiskontext

Lehrer-Schüler-Beziehung Außensteuerung durch Lernangebote und Materialien

Praxisrichtungen

Praxisfelder

Kindergarten

Elementarerziehung Schulpädagogik Jugendbildung Erwachsenenbildung Fort- und Weiterbildung

Schulen Hochschulen

Allgemeine Bildungsein-

richtungen

Ausbildung_ Praxiskonzeptionen Curriculare Lernzielkonstruktionen und Lernzielrevisionen virtuelle Lernangebote

Integrationsmaßnahmen

Praxisprobleme

Praxisformen

Unterricht Seminar

Training Unterweisung Vortrag Vorlesung Podiumsdiskussion Einzel- und Gruppenarbeit

Konzeptionsprobleme: richtige Lernzielfindung und Lernzielanalyse passender Induktions- und •



Deduktionswechsel in der

Vermittlung Normierungs- und Bewertungs-

probleme: •



Formalismus und Fremdbestimmung der Lehrinhalte Quantifizierung der Leistung und Lernzielkontrolle

Umsetzungsprobleme: Berücksichtigung der Indi-



vidualität und Lebenswelt der Lernenden • •

Inhomogenität von Gruppen

Umgang mit Konflikten und Widerständen in Lerngruppen



Weckung von Lernmotivati-

und Lerninteresse Reduktion von Fremdbestimmung im Verlauf des

on •



Vermittlungsprozesses Leitung und Führung im

Spannungsfeld von Lern-

auftrag und Lernbedürfnis

162

Modelle des

Erziehungsbegriffs

Systemmodul B: Erziehung als Emanzipationshilfe

Bewußtsein der Unterdrückung

ü

Betroffenheit

Entwicklung einer Gegenwirklichkeit

Annäherung an die Vision (Utopie) durch Solidarität

Entwicklung

Kreativität Phantasie

eines kritischen Bewußtseins

Befreiung Veränderung

Normative Ebene Inhalte

Ziele

Erziehungshilfe zur Selbstbestimmung und Entwicklung eines kritischen Bewußtseins Erziehung zum sinnvollen Gebrauch von

zur

Freiheit

Erziehung zu friedfertigen und nach gewaltLösungen strebenden Haltungen Befreiung aus ungerechtfertigten Herrschaftsstrukturen durch Erziehung zur Zivilcourage Herstellung gerechter Beziehungsverhältnisse im Erziehungsprozeß Erziehung zum Subjekt eigener Interessen Lösung von Erziehungsbevormundung freien

Erziehung zur Mündigkeit und Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit Mitbestimmung bei der Auswahl der Lerninhalte und Lernmethoden

Erziehungsinteresse: Aus unfreien sollen freie Menschen werden.

Praktizierung herrschaftsfreier Diskurse im Erziehungsprozeß Konkretisierung friedenspädagogischer Gesellschaftsutopien und Visionen Herstellung von Chancengleichheit, Humanität, Autonomie, Gerechtigkeit in der Erziehung Abkehr von der Gewalt und Menschenver-

achtung Erziehungsprophylaxe gegen menschenverachtende Einstellungen, Entwicklungen und Bewegungen

163

Kapitel IV: Netzwerk des Erziehungsbegriffs

Denkmodell

Konstruktivistische Ebene Menschen- und WeltTheoretische Grundbild lagen

Erziehung zum

Der Mensch mit der

Politische Erzie-

kritischen Bewußtsein ist logische und

Fähigkeit, nein zu

hung zielgruppen- und

sagen Der aufgeklärte Mensch mit der Fähigkeit zur Ideolo-

notwendige Voraussetzung zur Demo-

kratisierung der Ge-

giekritik Der politisch aktive

sellschaft. Vernunft ist die moralische Instanz der Erziehungs-

Wissenschaftliche Be-

bedürfnisorientierte Didaktik Modell des exem-

zugssysteme Idealismus Marxismus Kritische Theorie Symbolischer Interaktionismus

plarischen Lernens

Mensch

praxis Veränderungen in

der Gesellschaft sind die Voraussetzung für einen Wandel des Individuums. Kritik durchbricht die Abhängigkeit von der Maxime, daß das Sein das Bewußtsein bestimmt.

Methodik

Methoden

Reduzierung der Manipula-

Pädagogische Gespräche zur

tion und Repression in der

Rekonstruktion der Lebenswelt und Lebens-

Erziehung

| Phasen: Erfahrung und kritische Be-

lage

Anschauliche

Einbeziehung

wußtwerdung der persönli-

chen Lebens-

historischer und gesellschaftlicher

lage Entwicklung einer Gegen-

Erziehungserfahrungen Erprobung

wirklichkeit einer Utopie und Vision

,

Realisierung möglicher Veränderungen über solidarische Aktionen

alternativer

Handlungs-

formen

Mediale Ebene Mittel

Bereitstellung

Erlebnisfreiräumen Kreativitätsfördernde Materialien und Spiele von

Techniken

Bewußte Abstinenz von Führungs- und

Leitungsvorgaben Erzeugung

konstruktiver Unruhe

Stile

Demokratische

Beziehungsregelung und Mitbestim-

mung auf allen Ebenen

Diskursive und reversible Kommunikationsformen im Eltern-KindVerhältnis

164

Modelle des

Erziehungsbegriffs

Feldebene Praxiskontext

Erziehungshilfen im Raheiner Einklagung von Rechten bei geschlechtsspezifischer und migrationsbedingter Ungleichbehandlung, bei der Beseitigung von Benachteiligung und der Lindemen

Praxisrichtungen

Friedenserziehung

Öko-Pädagogik

Feministische Pädagogik Politische Bildung

Praxisfelder

Selbsthilfegruppen

selbstverwaltete Zentren

Einrichtungen zur politiBildung Bürgerinitiativen

schen

autonome Kollektive

rung sozialer Ausgrenzung

Praxiskonzeptionen

Gewaltpräventive Jungenund Mädchenarbeit Anti-Rassismusaktionen und

-kampagnen Aufklärungsaktionen Alphabetisierungsmaßnahmen

Praxisformen

Offene bote

pädagogische Ange-

Gesprächskreise Selbstorganisierte und selbstbestimmte Lerngruppen Demonstrationen

Praxisprobleme Umgang mit Chaos in Gruppen Erziehungsarbeit mit politisch inhomogenen Einstellungen und Auffassungen

pädagogische Interventionen bei Krisen und Konflikten

Kapitel

IV: Netzwerk des

165

Erziehungsbegriffs

Systemmodul C: Erziehung als Identitätshilfe

Selbsterfahrung

Entdecken

von

Bildung von

Fähigkeiten und

Ichstärken

Ressourcen

(Empowerment) Zeigen der Fähigkeiten (Powerment)

Normative Ebene Ziele•

Entwicklung und Entfaltung der Person und

Persönlichkeit •

aus

sich selbst

Unterstützung und Förderung von Fähigkeiten Selbstfindung, Selbstbehauptung, Selbstdarstellung, Selbstdistanz, der Ambiguitätstoder







leranz und des Sozialverhaltens Befähigung zur Überwindung natürlicher Wachstumskrisen Pädagogische Unterstützung und Verstärkung von bereits vorhandenen Fähigkeiten Beseitigen innerer Blockaden, Zwänge und

Ängste •

Hilfestellung bei psychischen Erkrankungen,

Depressionen und Phobien Erziehungsinteresse: Der Mensch soll durch Ich-Findung stabil •

werden, sein Glück finden, seelisch gesund

und stark werden. Er soll selbständig aus Krisensituationen finden. Aus unglücklichen Menschen sollen glückliche werden.

Inhalte Struktur und Selbstwert der Person Fähigkeiten, Fertigkeiten und Talente der

Selbstbehauptung pädagogische Steuerung der positiven Persönlichkeitsentwicklung Beziehungshilfen in natürlichen Wachstums-

krisen

Beseitigung von Defiziten und Störungen der Persönlichkeit durch erzieherische Beeinflussung

Rücksichtnahme der Erziehung auf psycho-

somatische

Zusammenhänge

166

Modelle des

Denkmodell

Erziehungsbegriffs

Konstruktivistische Ebene Theoretische GrundMenschen- und Weltbild lagen

Das Subjekt lebt in Einheit mit sich selbst und seinen Wünschen, Bedürfnissen, Erwartungen und Interes-

Der

gesunde,

Selbstwert- und

selbstbewußte, stabile, sozialfähige,

durchsetzungsfähige, vertrauensfähige, mutige, willensstarke Mensch, der sich in erster Linie

sen.

Das Verhalten wird durch die generativen Kräfte des Ichs

sein psychosomatisches Glück und nicht um die Ideologie der Gesellschaft kümmert um

erzeugt. In der Erziehung hat die affektive und emotionale Dimension Priori-

Wissenschaftliche

Anerkennungstheorie

Therapeutische Erziehungsansätze

Bezugssysteme

Psychologien mit unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Ansätzen Behaviorismus

Verhaltenstheorie

Psychoanalyse und

Gruppendynamik Systemische Fami-

Tiefenpsychologie

lientheorie Interaktions- und Kommunikationstheorien Therapien auf wissenschaftlicher

Interaktionismus Gestalttheorie Klinische Psychologie und Medizin

Grundlage

tät.

Lernprozesse sind an

eine innere Rei-

fung gekoppelt. Natürliche Bezie-

hungen sind die Basis für jede Form erzieherischer Be-

einflussung._ Methodik

Behavioristi-

sche, psycho-

analytische

Methoden

Systematische

Sensibilisie-

rung und De-

und interak-

sensibilisie-

tionistische,

rung

therapeutische Mischverfahren

Verhalten-

spiegelung

Selbsterfah-

rung als Einzel- und

Gruppenerfahrung

Training

Biographische

Rekonstruktion Interaktions-

spiele Rollenspiele Themenzentrierte Interaktion (TZI) Transaktions-

analyse (TA) Gestaltarbeit

Psychodrama

Mediale Ebene Mittel

Techniken

Stile

Märchen und Geschichten Materialien zum kreativen Gestalten Musik Malerei

Verstärken des Verhaltens und der Gewohnheit durch positives Feedback Verhaltens-

Kommunikationsarten Nähe- und Distanzrituale Väterliche und mütterliche Identifi-

Theaterspiel

übungen

kationsvorga-

Tanz

Freie Assoziation

Psychodramatische

Darstellung Projektive Verfahren

Entspannungsübungen

ben

Kapitel

IV: Netzwerk des

167

Erziehungsbegriffs

Feldebene Praxiskontext

Therapeutische Maßnahmen von Erziehungs-

im Rahmen

Praxisrichtungen Erlebnis- und abenteuerpädagogische Angebote und Maßnahmen

angeboten Freizeitmaßnahmen

pädagogische Spiel-, Musik-, Theater-, Tanz-, Gestaltungsund Kunstaktionen

Praxisfelder

Therapeutische Einrichtungen

Psycho-somatische Rehabi-

litationszentren

Erziehungsberatungsstellen Freizeitpädagogische Einrichtungen Heime

Ganztagsschulen Begegnungsstätten Therapeutische Wohngemeinschaften

Praxisformen

Praxiskonzeptionen

Erfahrungs- und SpielaktioErlebnis- und Abenteuerrei-

fähigkeitsaktivierende Erziehungsansätze Einzel- und Gruppenbera-

sen

tung

nen

Gruppenarbeit Begleitung und Betreuung

Praxisprobleme Wachstumskrisen

Anerkennungs- und Selbstbehauptungsprobleme Verhaltensauffälligkeiten Stigmatisierungen Außenseitertum Isolation

Traumatisierungen Depressionen Phobien Neurosen Sucht Suizid Burnout Lebenskrisen

3. 4.

Erziehungsmaßnahmen als Handlungsnetzwerke

In der

Regel ist der überwiegende Teil der Erziehungsmaßnahmen in der Praxis mit allen drei Modellen mehr oder weniger gleichzeitig verknüpft. Die pädagogische Arbeit mit einzelnen und Gruppen kann in ein und derselben Handlungsform der Anpassung, der Selbstverwirklichung und der Ichstärkung dienen. Exkurs: Es kann sein, daß die Ziele innerhalb einer Maßnahme stark miteinander konkurrieren. So kommt in einer Bildungsmaßnahme zum Thema „Selbstbestimmtes Lernen" die Leitung z.B. nicht umhin, auch Strukturen von außen setzen zu müssen. Diese Art der Fremdbestimmung kann zwar durch Mitbestimmung etwas reduziert werden, nie aber ganz beseitigt werden, weil der Umgang mit der Orientierungslosigkeit vor allem in der Anfangsphase einer Gruppenbildung erst durch einen regulierten und gesteuerten Auseinandersetzungsprozeß bewältigt werden muß. Unter systemischem Blickwinkel erscheint jeder Kontext als Träger kompatibler Eigenschaften. Für das pädagogische Handeln bedeutet das: Es vereint immer Eigenschaften von inner und außerindividuellen Kontexten und ist so gesehen ein systemverbindendes Akti-

168

Modelle des

Erziehungsbegriffs

onswerk. Im inner-individuellen Kontext spielt dabei Lebenswelt eines Menschen die entscheidende Rolle. Sie ist mit einer inneren Landschaft oder einer Landkarte vergleichbar. Der außer-individuelle Kontext meint das Beziehungsgeflecht und die Kräfte des sozialen Umfeldes. Auch hier ist das Bild das einer Art von Geographie mit einer eigenen gesellschaftlichen und politischen Morphologie. Daraus wird sichtbar, daß auch konträr zueinander stehende Erziehungsmodelle durchaus mediative Eigenschaften besitzen. Diese Tatsache einer Vermittlungsmöglichkeit weist darauf hin, daß sich auch unterschiedliche Ziele netzwerkartig zueinander verhalten können. Die Ursachen dafür liegen in den Verbindungen, die bei der praktischen Umsetzung und dem Umgang in der Situation durch das pädagogische Handeln (automatisch) geknüpft werden. Durch die Unterscheidung von Innen- und Außenwelt werden in diesem Zusammenhang mindestens zwei sich dynamisch zueinander verhaltende Pole dieses Netzwerks angenommen, die es zu integrieren gilt: ein biographischer und ein struktureller. Die aus dem Zusammenspiel hervorgehenden Interaktionen werden in der Praxis als Handlungen, also als Verhaltensweisen, Tätigkeiten, Interventionen sichtbar. Erst dadurch entsteht ein dynamischer Kontext.

daher immer Ebenen und äußeren Kontext-Feldern.

Erziehungshandeln ist

pädagogische

Mediation zwischen inneren Kontext-

Exkurs: Der Begriff der pädagogischen Mediation versucht, die Beeinflussungsmöglichkeiten als integrative Momente von Systemen über deren Schnittstellen zu erkennen. Die entsprechenden Fragen dazu lauten: Auf welche Faktoren kann das erzieherische Handeln integrativ und damit positiv wirken? Was muß es dabei beachten? Auf was muß es Rücksicht nehmen? Auf was kann es zurückgreifen ? Was kann es nutzen? Der gesamte Kontext liefert also hierfür das Erkenntnis- und Handlungsmaterial aus den vorliegenden Teilen eines Systems.

Die erste mediative Verbindung (a) läuft zur inneren Kontext-Ebene der Subjektivität, also die zweite (b) zu äußeren zur individuellen Biographie, Lerngeschichte und Lebenswelt kulturellen und geden zu Lebensverhältnissen, Kontext-Feldern, Strukturen, Lebenslagen, sellschaftlichen Rahmenbedingungen. Die dritte Schiene (c) versucht eine Synthese. ,

(a) Mediative Verbindung zur inneren Kontext-Ebene Basis ist auch hier die niemals neutral verlaufene Lebenserfahrung aller am Erziehungsprozeß Beteiligten. Subjektive Erfahrungen zum Spannungsfeld von Anpassung und Selbstverwirklichung enthalten immer negativ und positiv besetzte Erinnerungen, die es zu differenzieren

Für das mediative Erziehungshandeln wäre es vor diesem Hintergrund daher wichtig, allem die Momente zu finden, in denen eine Integration geglückt ist. Sie als Ansatzpunkte zu nutzen hieße, den Versuch zu machen, eine größere Nähe der Beteiligung der Zielgruppen und den Bean der Erziehungsprojekten zu ermöglichen. Die Orientierung an der Lebenswelt einer den umfassenden daher Ansatz stellt Berücksichtigung innerer dürfnissen möglichst Befindlichkeiten dar.

gilt. vor

(b) Mediative Verbindung zur äußeren Kontext-Feldern Ein weiterer Gesichtspunkt kommt hinzu: Es ist der des „Feldes". Charakter und Organisati-

onsform eines sozialen Kontextes machen den außer-individuellen Kontext zu einem Feld. Stehen politische Kräfte im Vordergrund, so wird der Kontext zum Feld, ja geradezu zu einer Art Magnetfeld, dessen Teile nach den jeweils mächtigsten Polen ausgerichtet sind. Die Berücksichtigung der Lebenslage wird durch den Ansatz am sozialräumlichen Umfeld zu verwirklichen versucht. Finanzielle Lage, Wohnverhältnisse, Milieu und Umwelt sind hier die

Kapitel

IV: Netzwerk des

Erziehungsbegriffs

169

es im Sinne einer meund als zu nutzen (AusTeile Ressource die herauszufiltern positiven Verbindung, stattungsgedanke bei S. Staub-Bernasconi 1995)

Sektoren, die positive und negative Einflüsse ausüben. Auch hier gilt

diativen

(c) Synthese von (a) und (b) Die Verknüpfung von theoretischen Ebenen und praktischen Feldern durch den systemischen Kontext versucht, positive Veränderungen zu bewirken. Dazu wird das Prinzip der Ähnlichkeitsbeziehung, der Analogie, zwischen (a) und (b) genutzt. Es sagt nämlich, daß ein bestimmtes individuelles Problem immer Ähnlichkeitsbeziehungen zu anderen Kontexten besitzt. Die Tatsache, daß biographische Probleme in ähnlicher Weise auch auf institutionellen Ebenen wiederkehren können, hängt mit dem Spiegelungsphänomen zusammen, das dadurch entsteht, daß Menschen ihre Welt nach inneren Vorgaben gestalten und sich in der Welt auf diese Weise auch wiedererkennen. Die Struktur der Welt ist sozusagen der Struktur der menschlichen Biographie entnommen und umgekehrt. So entsteht ein systemischer Zusammenhang. Eine Welt, in der Gewalt dominiert, entwirft Biographien, die sich selbst wieder nur über Gewalt Geltung verschaffen können. Kinder, die sich immer gegen ihre Eltern auflehnen mußten, werden auch im beruflichen Alltag ihre Eltern in den Vorgesetzten wiedererkennen, und wenn nicht, dann werden sie sich vielleicht ein Arbeitsfeld suchen, in dem sie sie wiedererkennen. Die Tatsache der Spiegelung und des darin enthaltenen Wiederholungszwangs der Analogie können positiv genutzt werden, wenn solche Phänomene bewußt werden. Dazu muß deutlich werden, wie sehr wir die Fähigkeit zur Wahrnehmung und Bewältigung von Aufgaben aus unserer Biographie schöpfen und wie sehr die Welt das ist, was wir in ihr sehen. Nur dadurch läßt sich auch der Zirkel des Negativen durchbrechen. Zu all dem kommt ein weiteres systemisches Prinzip hinzu. Es ist das des Platztransfers und es besagt, daß Teile des uns umgebenden Systems stellvertretend Plätze bereithalten oder besetzen, die Symptome unserer Biographie tragen. In Umkehrung dessen ließe sich daraus die Forderung ableiten, Heranwachsende über Erziehungsmaßnahmen nicht an Plätze zu schikken, die keinerlei Symptome ihrer Biographie tragen. Dies wäre der Fall, wenn Kinder aus abgelegenen Bauernhöfen plötzlich in der Großstadt zurecht kommen müßten. Ein Erziehungsbegriff, der einer solchen systemischen Synthese selbst positiv gerecht werden will, muß sein Handlungskonzept der erzieherischen Beeinflussung als eine ausgleichende Gratwanderung verstehen. Er muß Verstrickungen entstricken, nebulöse Verwicklungen klären. Methodische Beispiele dafür liegen in den Versuchen einer am Systemischen orientierten pädagogischen Beratung und Gesprächsführung vor (vgl. dazu E. Schuler und M. Steibli

1992).

Nachfolgend

sollen in

Ergänzung dazu allgemeine Grundlagen und Schritte dargestellt

wer-

den:

Die Norm einer systemischen Gesprächsführung im Rahmen pädagogischer Beratung versucht nach dem Grundsatz zu verfahren, sich einem Problem wert- und vorurteilsfrei ohne Verwendung subjektiver Ausdeutungen und vorgefertigter Theorien anzunähern. Das Problem wird nicht ausschließlich individualisiert, auch nicht ausschließlich generalisiert, sondern es wird als ein mehrschichtiger und verzweigter Kontext gesehen. Dazu werden zwar einzelne Daten zum Ausgangspunkt des Gesprächs genommen, wesentlich aber ist eine Analyse der in der Gesprächssituation authentisch geäußerten Sprache und deren Einbindung in einen Entstehungszusammenhang. Die These dazu lautet: Erst im Medium lebendiger Sprechakte werden Probleme greifbar und bearbeitbar.

Modelle des

170

Erziehungsbegriffs

Ein Schritt in diese Richtung ist die kommunikative Klärung der jeweiligen Absichten Interessen und Motive der erzieherischen Beeinflussung. In ihr werden durch die Einfuhrung konstruktivistischer Meta-Ebenen die verwendeten Kommunikationsstrukturen transparenter. Durch Kognition des Gesamtverlaufs wird sodann eine emotionale Distanz geschaffen, durch die erweiterte Sichtweisen und Möglichkeiten eines Perspektivenwechsels entstehen (vgl. P. Watzlawik u.a. 1969; Schulz von Thun 1988, 1990). Der gesamte Weg der systemischen Gesprächsführung enthält eher offene Stationen als genau instrumentalisierte Techniken. Die wichtigsten hierzu nennt D. Krüger in seinem Artikel zur ,Bedeutung des systemischen Denkens für Supervision' (in: Sozialpädagogik, Mai 1991, S. 162 168). Ausgangspunkt ist die These, daß Jede Äußerung, jedes Verhalten beim Interaktionspartner die Bildung einer Hypothese" (S. 165) bedingt und daß die Beratenden die Hypothesen vor dem Hintergrund der Biographie, des Selbstwerts und der Autonomiebestrebung zu einem Bild werden lassen, an dem alle am Beratungsprozeß Beteiligten experimentell lernen und arbeiten können. Hier wiederholt sich auch die These von der Analogie der Probleme, ihrer prinzipiellen Ähnlichkeit und Wiederkehr auf allen Ebenen, zusammen mit der These, daß sich jeder Kontext auch auf das Gesamte auswirkt. -

...

systemischen Erziehungsbegriff festhalten? Durch die Vorgehensweise der Arbeit an offenen Hypothesen variiert die Problembedeutung. o

Was läßt sich dazu für einen

Ort und Herkunft eines Problems verweben sich mit einem Gesamtverstehen, das als Entwicklungs- und Veränderungsgröße zum einen in der Biographie verborgen liegt und zum anderen im sozialen Umfeld. Eine allgemeine Wertigkeit der Ebenen wird damit insofern aufgehoben, als sich nicht sagen läßt, welche Ebene allein für das Zustandekommen eines Problems verantwortlich ist. Die Schuldfrage ist damit prinzipiell nicht monokausal fixierbar. Auch die Pole selbst sind nicht hierarchisch zueinander geordnet. Es läßt sich nicht sagen, ob die biographischen Anteile eines Problems oder die strukturellen immer die mächtigsten sind. Erziehung wird damit zu einer besonderen Umgangsform mit der Ambivalenz von subjektiven und objektiven Betrachtungen. Mit diesem Standpunkt wird für eine pädagogische Problembearbeitung auch eine eigene Kompetenz erforderlich. Es ist die des flexiblen und kreativen Umgangs mit Veränderung, weil das Bild eines Problems immer unendlich viele Facetten zeigt und zahlreiche Metamor-

phosen durchläuft.

3. 5.

Erziehung als vernetztes Handeln

Da Modelle im einzelnen immer isolierte Sichtweisen von Handlungsanalysen darstellen, macht eigentlich erst die Kombination verschiedener Ziele die Lebendigkeit der Praxis aus. Dazu ein kleines Beispiel:

Eine Sozialarbeiterin, die im Rahmen einer familienpädagogischen Maßnahme einen Hausbesuch macht, überlegt sich vorher in ihrem Büro, wie sie beim Betreten der Wohnung eine möglichst gute Atmosphäre erzeugt. Wenn sie zur Planung dieses Vorhabens am Schreibtisch sitzt, denkt sie in enkulturationspädagogischen Kategorien. Sie überlegt sich, was für sie zu einer guten Atmosphäre gehört, sie überlegt sich, welche Ziele sie erreichen will, sie überlegt sich die Bedingungen, die sie schaffen muß, damit diese Atmosphäre möglich wird, und last not least antizipiert sie die Situation, um für den Ernstfall gewappnet zu sein. Der Ernstfall könnte z.B. so aussehen, daß sie befürchten muß, abgewiesen zu werden. Deswegen legt sie sich einzelne Schritte zurecht, die sie schützen, nicht falsch zu reagieren. Sie weiß, daß dies im Grunde eine Art Anpassungsspiel an ihre Inter-

Kapitel

IV: Netzwerk des

Erziehungsbegriffs

171

ist. Denn sie will, daß bestimmte Familienmitglieder auch bestimmte Einsichten gewinnen sollen. Auf der anderen Seite denkt sie auch in den Kategorien der emanzipatorischen Pädagogik. Denn sie möchte, daß diese Einsichten von den Familienmitgliedern selbst gewonnen werden. Sie hat auch therapeutische Aspekte dabei im Hinterkopf. Zu guter letzt will sie auch den systemischen Aspekt der Problemstellungen nicht aus dem Auge verlieren. Das inhaltliche Problem, mit dem die Familie konfrontiert ist, ist in sich essen

und nach außen hin vernetzt. Nur eine umfassende Sichtweise, in der alle Ebenen berücksichtigt werden, vermittelt ihr ein realistisches Bild der Situation. In dem Moment aber, in dem sie vor der Tür steht und klingelt, entscheidet die Situation, ob und wie sie vor dem Hintergrund dieser immensen theoretischen Verstrickungen noch handlungsfähig ist, und es entscheidet sich auch, welche Vorüberlegungen praktische Konsequenzen haben. Für das Handeln läßt sich

folgendes ableiten:

Das pädagogische Handeln muß unterschiedliche Ziele aktuell nach deren Möglichkeiten und Grenzen miteinander kombinieren und ist daher systemisch veranlagt. Bei der sozialen Analyse und Diagnose vor Ort muß das erzieherische Handeln ständig die Ebenen der Betrachtung wechseln und versuchen, ein umfassendes Bild einer Problemganzheit zu erhalten. Im Zentrum der Wahrnehmung stehen dabei Distanz, Empathie und Behutsamkeit. Das pädagogische Handeln im Bewußtsein einer sich ständig wechselnden Vernetzung und der Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen und Komplexität reduzieren zu müssen, darf die Verantwortung nicht aus dem Auge verlieren. Eine Erziehung aus Verantwortung heraus und zur Verantwortung hin, wird zur Leitfigur. Was es heißt, vor dem Hintergrund der Reduktion von Komplexität pädagogisch verantwortlich zu entscheiden und zu handeln, ist nicht einfach zu klären, ohne daß man sich nur an Appelle klammert. Dennoch wollen wir einen kleinen Versuch dazu wagen:

Verantwortlich entscheiden und handeln heißt, den Versuch zu unternehmen und immer wieder neu zu starten, Komplexität als Offenheit zu bewahren und vernünftig zu verwalten.

Pädagogisch verantwortlich entscheiden und handeln heißt, den Versuch zu unternehmen, im Bewußtsein der Möglichkeiten und Grenzen der einzelnen pädagogischen Beeinflussungssysteme den Weg zu finden, der durch Vernunft und Gewissen begründbar ist. Eine Erziehung zur Verantwortung geht von einem Ziel aus, das den Blick auf die Bewahrung des Ganzen vor den Willen zur Veränderung stellt. Exkurs: Im Bundestag wird bei besonders gravierenden Problemen immer die persönliche Gewissensentscheidung des einzelnen verlangt. Dabei kommen zwei konträre Weltbilder ins Spiel: Zum einen ist die Eigenverantwortlichkeit des Individuums letzte Instanz einer Entscheidung, zum anderen entscheidet übergreifend ein allgemeines Prinzip. Im ersten Fall wird dem Individuum das Recht auf Eigenverantwortlichkeit zugesprochen, im anderen ist das individuelle Gewissen an allgemeine (als vernünftig deklarierte) Grundlagen, Prinzipien und Maximen geknüpft. Bekanntlich ist die letzte Instanz das Bundesverfassungsgericht, das die Verbindlichkeit einer Auffassung zumindest juristisch unwiderruflich festlegt und als Ausführungsanweisung an die Politik weitergibt. Auf das pädagogische Handlungsfeld übertragen, führt dies zur Forderung, alle Maßnahmen bei der konkreten Bearbeitung eines Problems auch persönlich zu verantworten. Mit anderen Worten heißt das: Welche Wege, Strategien, Methoden, Techniken, Konzepte und Ansätze verwendet werden, entscheiden und verantworten der Pädagoge und die Pädagogin aufgrund -

-

172

Modelle des

ihrer persönlichen Gewissens ist.

Handlungskompetenz,

Erziehungsbegriffs deren letzte Instanz das ethische Bewußtsein des

Exkurs: Einer Kontrolle der Handlungskompetenz durch das Gewissen scheint angesichts gentechnischer Möglichkeiten gegenwärtig zunehmend der Boden entzogen zu werden. Wenn die Verantwortung der Eltern lediglich darin besteht, dafür zu sorgen, daß ihr Kind genetisch möglichst optimal designed ist, so kommt auf die Pädagogik massiv das Problem eines generellen Verlustes an Humanität zu. Was wird nämlich dann aus den nicht maßgeschneiderten Kindern, deren Eltern sich nicht rechtzeitig darum kümmern konnten, daß ihre angeborenen Schwächen vererbt werden? Der Ökonom Jeremy Rifkin stellt in einem Artikel der SZ (Nr. 87/ 2001, S. 13) die Frage nach den Folgen: „Wie wird es um das Kind stehen, das mit einer Behinderung geboren ist? Wird die übrige Gesellschaft diesem Kind mit Toleranz begegnen, oder wir sie es letztlich als einen Fehler im genetischen Code ansehen mit einem Wort als mangelhaftes Produkt?" Wenn der Mensch ansetzt, auf diesem Gebiet Gott zu spielen, dann kann Erziehung nur dem Unsterblichkeitswahn dienen, in Zukunft nur makellose Genotypen zu erzeugen. Einer solchen Pädagogik kann nur eine Ethik entgegentreten, die das natürliche Wesen des Menschen über die Attribute der Schönheit und Perfektion stellt. Wenn der Reiz zum Machbaren allerdings das Gebot einer Begrenzung übertrumpft und immer mehr Akzeptanz und Toleranz erhält, wird die Situation einer human begründeten Erziehung sehr eingeengt. Ob dann die Reparatur der Schäden noch pädagogisch leistbar ist, ist fraglich. Denn wie könnte man den Kindern erklären, daß ihre Eltern sich nicht mit ihren Schwächen in ihnen reproduzieren wollten und sie darum klonen ließen? Auch das Argument „Ich will, daß es dir besser geht als mir" wäre hier wenig aufrichtig, weil diese Kinder sofort merken würden, daß sie nur den Elitetraum ihrer Eltern realisieren sollen und nicht den der Fortführung ihrer Abstammung. Vielleicht wollen Kinder auch nur spüren, daß der Kinderwunsch ihrer Eltern so sehr er auch von Herzen kommen mag eben selbst auch leiblich ist. -

-

3. 6. Professionelle

-

Erziehung als kompetentes Handeln

Professionelle Erziehung ist jenes kompetente und mit erworbenen Fähigkeiten ausgestattete Handeln, das versucht, sich den konkreten Aufgaben der Praxis zu stellen. Die Haupthandlungsbereiche und Handlungsfelder sind:

Kontaktaufnahme und pädagogische Bedarfsregelung Analyse und Diagnose von Erziehungsproblemen Entscheidung und Umsetzung von Erziehungsmaßnahmen Konfl iktregelung

Planung, Management und Organisation der Erziehung Führung und Leitung in Erziehungssituationen Durchführung von Unterrichts- und Bildungsmaßnahmen Beratung und Therapie im Rahmen von Erziehungsaufträgen und -anfragen Vertretung pädagogischer Interessen in der Öffentlichkeit Daraus wird

allgemein sichtbar, daß die professionelle erzieherische Handlungskompetenz eine Reihe von komplexen und weiterreichenden Unterkompetenzen zur Bewältigung systemischer Anforderungen enthält.

Kapitel

IV: Netzwerk des

173

Erziehungsbegriffs

Die nachfolgende Übersicht soll das Netzwerk der für die Bewältigung von Erziehungsaufgaben erforderlichen Teil-Kompetenzen und Fähigkeiten verdeutlichen. Den einzelnen Kompetenzen lassen sich kognitive, affektive, instrumentelle, soziale, politische und ethische Dimensionen zuordnen. Die Bildung dieser Kompetenzen ist zugleich auch der Hauptgegenstand der

pädagogischen Ausbildung.

Erziehungskompetenz affektive Dimension

kognitive Dimension Analyse-Kompetenz Diagnose-Kompetenz

instrumentelle Dimension

Methoden-Kompetenz Vermittlungs-Kompetenz

Empathie-Kompetenz Kontakt-Kompetenz

soziale Dimension interkulturelle Kompetenz kommunikative Kompetenz

politische Dimension

ethische Dimension

Legitimationskompetenz

moralische Kompetenz kritische Kompetenz

Konfliktlösungskompetenz Jede

pädagogische Tätigkeit führt im Laufe der Zeit zur Weiterentwicklung einer allgemeinen Praxis-Kompetenz und auch zur Feldkompetenz als Erfahrungskompetenz in ganz spezifischen Bereichen.

3. 7.

Systemische Erziehungsansätze

Systemische Erziehungsansätze

stellen ein Netzwerk von Bemühungen dar, die eine Verauf der Grundlage realer Ausgangsbedingungen anstreerzieherischer Normen wirklichung ben. Sie alle unterliegen dem Ansinnen, dem Wohl von Individuum und Gemeinschaft zu dienen, und sie beruhen auf dem systemischen Grundsatz des Perspektivenwechsels zwischen dem Individuellen, dem Strukturellen und dem interaktioneilen Austausch. Hauptziel ist dabei die differenzierte direkte und indirekte Förderung der Identität von Individuen und Zielgruppen in unterschiedlichen Lebenslagen. Exkurs: Systemische Erziehungsansätze basieren auf normativen Annahmen, nach denen sich Handlungskonzepte ausrichten. In ihnen sind Start und Ziel ebenso definiert wie die Verzweigungen und Querverbindungen der Wege. Ihre Leistungsfähigkeit entsteht dabei durch dynamische Synergieeffekte zwischen den in Aktion tretenden Beteiligten und dem jeweiligen Sinnhorizont von Erziehungsnormen. Auf diese Weise kommt es zu folgenden Annahmen:

Die Norm, eine

Erziehung ohne Fremdeinwirkung und Manipulation durch Medien zu

realisieren, setzt auf natürliche Synergien.

Die Norm, eine Erziehung ohne und gegen Isolation sitive Kraft des Milieus und der Umgebung.

zu

ermöglichen,

setzt auf die po-

174

-

-

Modelle des

Erziehungsbegriffs

Die Norm, Erziehung nicht von geschlechtsspezifischen Prämissen zu trennen, setzt auf die Kraft der Gleichrangigkeit. Die Norm, Diskriminierungen und Feindbilder aus der Erziehung zu verbannen, setzt auf ein friedensstiftendes Ziel. Die Norm, Erziehung ohne Schuldzuweisung zu praktizieren, setzt auf die ethische Kraft von Wertschätzung und Anerkennung beim Aufbau des Selbstwertgefühls. Die Norm, Erziehung ohne Gewalt zu praktizieren, setzt auf die Kraft friedfertiger Haltungen und einer friedlichen Demokratie. Die Norm, den Blick der Verantwortung in der Erziehung nicht außer acht zu lassen, setzt auf die Kraft von Visionen und den damit einhergehenden Hoffnungen.

Aus den normativen Vorgaben gehen jedenfalls immer konkrete Ansätze hervor, die ihrerseits in verschiedene pädagogische Handlungskonzepte und Erziehungsprojekte münden. Sie sind gerade als systemische Ansätze alle immer Ansätze eines Sowohl-als-auchBezugs, d.h. sie sind sowohl personalbezogen, als auch struktur- und interaktionsbezogen.

Gegenwärtig lassen sich u.a. folgende Ansätze unterscheiden: (a) ein organisationskooperativer Netzwerkansatz (b) (c) (d) (e)

ein an der Lebenswelt und Lebenslage orientierter Ansatz ein am Gemeinwesen orientierter sozialräumlicher Ansatz ein geschlechtsspezifischer Ansatz ein interkultureller und transkultureller Ansatz

(a)

Der

organisationskooperative

Ansatz schafft ein Netzwerk

von

Erziehungsleistun-

gen. Das Netzwerk der

Jugendhilfe umfaßt die Jugendarbeit, Kinderhilfen, Heime und offene Erziehungshilfen (vgl. W. Gernert 4/1993 Tabelle S. 129), die alle als freie und kommunale Träger beratende Hilfsprogramme zur Linderung von „sozialer Bedürftigkeit" (ebd. S.191) bereitstellen. Individuelle Beratungshilfe im Sinne einer Erziehungsunterstützung zielen dabei auf die Weckung von Fähigkeiten einer positiven Lebensbewältigung allen auftretenden Konfliktfeldern gegenüber. Ziel einer Schulsozialarbeit ist es, Lehrer und Lehrerinnen bei Erziehungsproblemen im Klassenzimmer nicht allein zu lassen, sondern sie auch unter Einbeziehung externer Kräfte zu un-

Einbeziehung der Eltern in das schulische Geschehen. Eine zweite die Unterstützung der Lehrkräfte im Klassenzimmer und bei der Betreuung der Schüler und Schülerinnen in der Freizeit. Eine dritte ist die strukturelle Integration von Formen berufbezogener Beratung oder Supervision bei Erziehungsfragen für Lehrkräfte. Der vierte Aspekt bezieht sich auf eine generelle „Öffnung, Humanisierung und Demokratisierung" ( W. Wulfers 1991). Im Zentrum aller Aktivitäten steht ein vernetzte Beziehungsarbeit, die die Dynamik im Klassenzimmer wie auch deren Auswirkungen nach außen verbessern soll. Der individuelle Aspekt der Schulsozialarbeit bezieht sich aber über das Erlernen von Sozialverhalten hinaus auf eine verträglichere Bewältigung von Leistungsanforderung mit dem Ziel, dem Verlust von Leistungsanerkennung entgegenzuwirken (vgl. Raab, E.; Rademacker, H; Winzen, G. 1987; Raab E.; Rademacker H. 1994; Wulfers, W. 1991; Schriftenreihe 29/1978).

terstützen. Eine erste Form dabei ist die

Kapitel

IV: Netzwerk des

175

Erziehungsbegriffs

(b) Der lebensweit- und lebenslagenorientierte Ansatz setzt am individuellen und gruppenspezifischen Bewußtsein an Dieser Ansatz will eine Erziehung möglichst bedürfnisorientiert ohne Fremdeinwirkung realisieren und in besonderer Weise die konkrete materielle, soziale und psychische Situation der

Menschen betrachten. Die Lebenswelt als individuelle und bewußtseinsgebundene Verarbeitung der Schnittstelle von Subjekt und Umwelt (vgl. W. Thiersch 1999) ist dabei Ausgangspunkt für zentrale Themen und zugleich auch jene Energieressource, die Kräfte der Selbstverwirklichung und Veränderung mobilisiert. Der Ansatz an einem überindividuellen Gruppenbewußtsein thematisiert die Zugehörigkeit zum jeweiligen gesellschaftlichen Umfeld. Charakteristikum des lebensweit- und lebenslagenorientierten Ansatzes und zugleich auch seine Erziehungschance ist das Ansetzen an der Vertrautheit und Aufgehobenheit in ein strukturelles und kulturelles Sinnsystem, dessen Kontexte als Themen in die Erziehung inhaltlich bearbeitet werden (vgl. dazu M. Seithe, 2001 S. 149 203). Damit ergibt sich auch die besondere Betonung einer subjektbezogenen Ressourcenorientierung, die sich methodisch vor allem am Beispiel neuerer Empowermentkonzepte beschreiben läßt (vgl. W. Stark 1996; T. Miller; S. Pankofer 2000). Der darin enthaltene Gesichtspunkt der Fähigkeitsaktivierung aus den energetischen Kräften der Identität ist besonders aus der heilpädagogisch orientierten Theaterarbeit heraus entwickelt worden (vgl. R. Sack 1997; G. Theunissen 1984). -

(c) Der sozialräumliche Ansatz setzt bei den konkreten Lebenbedingungen an. Dieser Ansatz ist in seiner klassischen Form als Gemeinwesenansatz und Gemeinschaftsansatz darauf bedacht, Erziehung unter Berücksichtigung des kulturellen, ästhetischen und sprachlichen Milieus zu verwirklichen (vgl. H. Effinger 1999). Als Stadtteilarbeit kennt er die konkreten Wohn- und Lebensbedingungen und die subkulturelle Landschaft und will sie als Erziehungsressource nutzen. Er ist so gesehen auch eigentlich die praktische Umsetzung der Lebensweltorientierung, indem der Lebensraum als Sozialraum stärker in den Mittelpunkt gestellt wird. Angepaßt an die Strukturen des Umfeldes wird Erziehung als niederschwelliges Konzept verstanden, das durch alltagsorientierte Angebote eine größere professionelle Nähe zum Problemfeld erreichen will. Dazu werden Erziehungsangebote auch möglichst entbürokratisiert und dezentralisiert bereitgestellt. Angebote wie „Basketball um Mitternacht" für Jugendliche gehören in diesem Zusammenhang zum Bereich der milieuorientierten prophylaktischen Hilfen.

(d) Der geschlechtsspezifische Ansatz der Erziehung fordert die Berücksichtigung der Geschlechterperspektive in allen Maßnahmen. Dieser Ansatz macht deutlich, daß Erziehung immer auch Anteile einer geschlechtsspezifischen Förderung enthalten muß. Dies bestätigt die umfangreiche Literatur zur Mädchen- und Frauenbildung (vgl. W. Gieseke 2001). Klar herausgestellt wird, daß der weibliche und

männliche Lernkontext sowohl zu anderen Berufsverläufen als auch zu anderen Lebensaktivitäten führt. Die Forderungen an die Pädagogik sind dadurch enorm. Es müssen die Inhalte der Enkulturation, Emanzipation und Identität neu diskutiert werden, weil die weibliche Konstruktion der Welt anders ist als die männliche und weil die Auseinandersetzung mit der männlichen Dominanz und ihrem evolutionären Gedächtnis eigene Schlüsselqualifikationen, Autonomie- und Selbstverwirklichungsformen erforderlich macht. frühzeitig Umgekehrt ist auch die Erziehungsarbeit mit Jungen und Männern herausgefordert, ein tolerantes Verständnis für das andere Geschlecht zu entwickeln. Dieses Ziel wird in fast allen Anti-Gewaltprojekten zu erreichen versucht, (vgl. die vielen Beiträge in B.L. Behm; G. Heinrichs; H Tiedemann 1999) Die Hoffnung, daß die Tatsache des Geschlechts nicht immer in der „Unerreichbarkeit des Anderen" (B. Rendtorf ebenda S. 69 183) gründet, wird zum -

Modelle des

176

Erziehungsbegriffs

Versuch der Aufhebung einer Spaltung, vielleicht auf beiden Seiten. Für die Erziehung allgemein ist die Gender-Perspektive eine jener Voraussetzungen dafür, den eigenen Spaltungscharakter, der ihr innewohnt, durch Rollenhinterfragungen zumindest erst einmal zu thematisieren.

Der interkulturelle Ansatz und dessen transkulturelle Ausweitung wollen Erziehung auf der Basis von Integration und Partizipation von Migrantinnen und Migranten verwirklichen.

(e)

Jugendhilfe löst der Ansatz die aus der Diversität der Gesellschaft sich ergebende Verpflichtung ein, Kindern und Jugendlichen einen kulturseniblen Umgang mit Verschiedenheit näherzubringen (G. Pavkovic 2000 S. 75. In: Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe). Dabei geht es sowohl um reflektierte Haltungen und sensible Einsichten in Herkunftskulturen als auch um eine transkulturelle Handlungskompetenz, die nach gemeinsamen Handlungskonstruktionen sucht (ebenda S. 76). Für diesen Teil sind auch Kenntnisse über Universalien von Kulturen erforderlich. Eine dieser Kenntnisse ist die nahezu als universal geltende Sapir-Whorf-Hypothese, die den einen unmittelbaren Zusammenhang von Sprache und Wahrnehmung annimmt (vgl. dazu Ausführungen von W. Hinz-Rommel 1994, S. 49 55). In Übertragung auf die pädagogische Beratung und Therapie führt dies zur Forderung nach einem transkulturellen Wissen (Österreich 1998, S. 143. In: T. Heise 1998.) Allgemein will der interkulturelle Ansatz Begegnungsmöglichkeiten von Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen organisieren. Dazu muß die jeweilige Dominanzkultur in Kenntnis und Rücksichtnahme fremder Gepflogenheiten eine Migrationspädagogik praktizieren, deren Hauptaufgabe die „Deutungsarbeit" ist (R. Arnold 1992, S. 100, nach W. HinzRommel 1994, S. 115). Im Unterscheid zu dem Begriff „multikulturell", der lediglich die Tatsache der Koexistenz in einer modernen Industriegesellschaft meint, ist „interkulturell" bereits ein kommunikativer Auftrag. Im Bereich der Erziehung besteht er im wesentlichen darin, nicht mehr in Kategorien des sogenannten Üblichen („Bei uns ist das eben so") zu denken und zu handeln, sondern immer auch unbekannten Bedeutungszusammenhängen gegenüber eine offene und neugierige Haltung zu zeigen. Das interkulturelle Lernen versucht in diesem Kontext auch mit Methoden der Enkulturationshilfe, also mit Wahrnehmungsübungen, Veranschaulichungen und kreativen Techniken zu arbeiten, um eine Sensibilität gegenüber dem Verstehen von Andersartigkeit aufzubauen (vgl. P.Hölscher 1994; E. Johann u.a. 1998). Beispiel: Ein Mädchen aus einem Kulturkreis, in dem es gelernt hat, Männern in der Öffentlichkeit niemals in die Augen schauen zu dürfen, wird auf dem Schulhof ermahnt und vom Lehrer mit den Worten aufgefordert: „Schau mir gefälligst in die Augen, wenn ich mit dir rede." Ein solches Kind kommt zwangsläufig in einen inneren Konflikt zwischen den Verhaltensnormen der primären Sozialisation und den fremden Erwartungen einer Dominanzkultur. Neben der ethisch motivierten Empathie, also der Fähigkeit, dem Fremdseelischen ohne Arroganz zu begegnen, spielt die „Multiperspektivität" (ebenda S. 118) eine großen Rolle. Sie besteht darin, die Leistungen anderer Kulturen für die Vermenschlichung der eigenen zu nutzen. Daher sind die Ziele einer solchen Pädagogik (ebenda S. 121 in Anlehnung an W. KlafIn der Form der interkulurellen

-

ki):

Dialogfähigkeit Selbstkritik Bescheidenheit

Begegnungsbereitschaft

Kapitel

IV: Netzwerk des

Erziehungsbegriffs

177

Diese Ziele können nur durch eine Kommunikationsform erreicht werden, die selbst interkulturelle Züge hat. Dazu ist das Wissen um kulturspezifische Merkmale eine erste wichtige Voraussetzung. Gerhard Maletzke (1996, S. 42) nennt die Hautbereiche: Kulturspezifisch sind neben der Persönlichkeit und dem Nationalcharakter, die Wahrnehmung, der Umgang mit der Zeit und dem Raum, das Denken, die verbale und nonverbale Sprache und Kommunikation ebenso die Wertorientierung, die Verinnerlichung von Sitten, Normen und Rollen sowie die gelebten sozialen Formen. Zu den einzelnen Bereichen gibt es eine Fülle anthropologischer und sozialpsychologischer Studien, die die Merkmalsunterschiede deutlich machen. Die hinter jeder Empirie liegende pädagogische Botschaft ist aber immer die Forderung nach einer Verwirklichung humanen Zusammenlebens.

3. 8.

Systemische Konzeptionen und Projekte der Praxis

Konzeptionen und Konzepte sind konkret organisierte Hilfsangebote, die methodische Maßnahmen zur Verwirklichung von Vorgaben und zur Erreichung von Zielen enthalten. Projekte entstehen sobald sich die Konzeptionen auch institutionalisieren und damit in ein öffentliches Finanzierungssystem rücken. Durch die Anbindung an Träger entstehen eigenständige Erziehungsausrichtungen. Exemplarisch sollen hierzu kurz die Ziele von drei konkret verfaßten Ausrichtungen vorgestellt werden, die enkulturative, emanzipatorische und identitätsfordernde Verbundsysteme mit unterschiedlichen pädagogischen Aufträgen repräsentieren. 3. 8. 1. Die

integrative und partizipative Ausrichtung am Beispiel

eines in-

ternationalen Familienzentrums

von Erziehungshilfen für ausländische Familien steht die Vorstellung einer positiven Nutzung von Ressourcen des culturell crossing. Aus ihm hervor geht die Vision einer gegen- und wechselseitigen Teilhabe an kultureller Diversität. Im Medium von Begegnung, Beratung und Hilfe wird die Pflege einer sich selbst stützenden Gemeinsamkeit institutional isert. Klar und vorbildhaft formuliert ist dieser Hintergrund in der Konzeption des Internationalen Mütterzentrums (IZM) München-Westend (C. Giesemann 1996). Im Abschnitt über Leitideen und Ziele heißt es programmatisch (S. 7):

Im Zentrum

Wir haben die Vision eines kinder-, frauen- undfamilienfreundlichen Alltags. Wir haben die Vision einer Gesellschaft, in der Chancengleichheit von Frauen und Männern und die Gleichberechtigung von Nichtdeutschen und Deutschen verwirklicht ist, in der Nichtdeutsche Bürgerrechte haben und in der eine hohe Sensibilisierung gegenüber Diskriminierung und Rassismus herrscht. Wir haben die Vision einer Gesellschaft, in der das Neben- und Miteinander unterschiedlicher Kulturen und Religionen als Selbstverständlichkeit und Bereicherung betrachtet wird. Wir haben die Vision, daß Kultur als ständiger Prozeß einer lebendigen Auseinandersetzung mit Mitgebrachtem und Neuem verstanden werden kann. „

"

178

Modelle des

Erziehungsbegriffs

Die sich daraus ableitenden erziehungsrelevanten Ziele werden so formuliert (ebenda S.

8):

Unterstützung von „Eltern, insbesondere Frauen, in allen Bereichen von Erziehung", in erzieherischen „Schlüsselsituationen"., „bei der Identitätsfindung und Rollenklärung als Tochter, Frau, Mutter, Migrant in, Partnerin usw. ". Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen für Benachteiligte ermöglichen, insbesondere auch die unterprivilegierte Stellung ausländischer Kinder im Bildungssystem betreffend. "_ „

Zu den Schlüsselsituationen

gehören folgende Themen (ebenda):

„Mädchensein-, Tochtersein, Pubertät

jungverheiratet, sehr frühe Schwangerschaft Schwangerschaft, Geburt erste Jahre mit Kindern

Schuleintritt, Schulwechsel, Ausbildung der Kinder

Ablösung von den Kindern Berufstätigkeit, Wiedereinstieg in den Beruf, Probleme mit Kinderbetreuung Trennung, Scheidung, alleinerziehend Älterwerden, Abschied.."_ Weitere Themen sind (ebenda S.

9):

Auswirkungen des Aufenthaltsrechts Arbeitslosigkeit Doppelbelastungen (Beruf und Verantwortung für die Familie) Familiäre Suchtprobleme und Medikamentenmißbrauch Psychosomatische Störungen Erlernen von Sprachkenntnissen und den dazugehörenden Kulturtechniken Gewalt und Mißbrauchserfahrungen_ für die Umsetzung der Ziele ist insofern kombiniert werden (ebenda S. 9/10):

Die

Grundlage

„Der geschlechtsspezifische Ansatz:

systemisch

als verschiedene Anätze

Um die in der Herkunftskultur ausländischer Mädchen und Frauen wie auch in der deutschen Gesellschaft bestehenden Benachteiligungen auszugleichen und der Abwertung weiblicher Lebensformen entgegenzuwirken, sind die Angebote geschlechtsspezifisch, d. h. die besondere Lebenslage von (ausländischen) Frauen und Mädchen innerhalb und außerhalb ihrer Familien wird berücksichtigt; im Konfliktfall vertritt das IMZ die Interessen der betroffenen Kinder, heranwachsenden Mädchen und Frauen. Der interkulturelle Ansatz: Ausgehend von der Tatsache einer multikulturellen Gesellschaft in unserem Land, in München und besonders im Westend zielen alle Maßnahmen der Familien-, Kinder- und Mäd-

Kapitel

IV: Netzwerk des

Erziehungsbegriffs

179

darauf, die Kommunikationsfähigkeit und das Miteinanderleben auch und gerade Konflikte gibt zu üben und zu verbessern. Eltern und Kindern soll dabei vermittelt werden, daß unterschiedliche Kulturen und Lebensvorstellungen als Selbstverständlichkeit und Bereicherung und nicht als Problem und Belastung gesehen werden können. Gegenseitige Toleranz und Achtung soll als Grundlage für Demokratie, also auch gleichberechtigtes Zusammenleben in der Einrichtung bei allen Handlungen spürbar sein. Deshalb sind die Angebote interkulturell, d.h. unterschiedlicher kultureller Hintergrund, Wertorientierungen, Sprache, Religion usw. der Besucherinnen werden als Bereicherung betrachtet; Bewußtmachen des jeweiligen Andersseins, offene Auseinandersetzung darüber im Rahmen von Toleranz und Achtung, also interkulturelle Verständigung, hat Priorität. Der familienorientierte Ansatz: Die Angebote sind familienbezogen, altersübergreifend und altersspezifisch, d. h. sie sollen die Erziehungs- und Sozialisationsfunktion der Familie als Ganzes stärken; im Rahmen primärer Prävention kommt das IMZ dem Bedürfnis von Familien nach Treffpunkten, Entlastung, gegenseitiger Hilfe, Information und A ustausch entgegen, dazu gehören offene altersübergreifende Spielmöglichkeiten und Kinderbetreuung für Kinder. chenarbeit wo es

Der sozialräumliche Ansatz: Die Angebote sind sozialräumlich, d.h. das IMZ als geschützte Öffentlichkeit, als Raum sowohl für soziale Interaktion und umbauter Raum (Cafe, Spielzimmer, Gruppenräume mit Büchern, Spielzeug, Musikanlage usw.) stehen Müttern, Kindern und Mädchen zur Verfügung. Der Offene Bereich als zentrales Angebot ermöglicht neuen- und Stammbesucherinnen immer wieder, in der Kommunikation, der Aneignung und Mitgestaltung der Einrichtung und der Raumnutzung ihnen gemäße Formen zu finden. Stadtteilbezogen werden Mütter und Kinder unterstützt, an der Gestaltung und Aneignung öffentlicher Räume aktiv mitzuwirken, z.B. bei der Bürgerbeteiligung zur Messenachnutzung, bei der Gestaltung von Spielstraßen, beim Kinderstadtteilplan u. A. Im Rahmen der oben genannten Schwerpunkte bedient sich das IMZ auch aus Teilen anderer Arbeitsansätze, z.B. der kulturellen Kinder- und Jugendarbeit, des Schwerpunkts Gesundheit und Bewegung, der Umwelterziehung, der Suchtprävention und der Jugendberatung."_

sozial-politische Ausrichtung am Beispiel von Maßnahmen zur allgemeinen Gewaltprävention und an Maßnahmen von Kampagnen gegen

3. 8. 2. Die

Rechtsextremismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit

Pädagogische Aktionen zur Gewaltprävention, gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus versuchen auf breiter Ebene und in zahlreichen Feldern über Aufklärungsarbeit und emanzipatorische Erziehung und Bildung ein humanitäres Bewußtsein zu schaffen. Die Ansätze dazu sind individuell, gruppenbezogen und gesellschaftlich verortet. Anti-Aggressionstrainings, präventive Arbeit in der Familien und der Schule, Anti-Rassismuskampagnen und Versuche, die Geschichte des Nationalsozialismus diesbezüglich aufzuarbeiten, sind die einschlägigen Bereiche dazu. (a) Gewaltprävention

grundsätzlich das Ergebnis sozialisationsbedingter Prägungen und fehldurch die Familie, das soziale Umfeld und die Medien. GeErziehungseinflüsse geleiteter waltbereitschaft ist auch die Reaktion auf erlebte Unterdrückung, Stigmatisierungen und Gettoisierung. Die Bereitschaft geht von einzelnen und von Gruppen aus. Die nicht legitiGewaltbereitschaft ist

Modelle des

180

Erziehungsbegriffs

mierte Gewalt hat immer den Charakter böswilliger Zerstörung an sich. Mit der legitimierten verhält es sich äußerlich betrachtet nicht viel anders, wenngleich ihre Ziele andere sind. Gewaltanwendung als ultimatives Mittel dient hier der Aufrechterhaltung friedfertigen Zusammenlebens und der Erzwingung von Einsichten in die Notwendigkeit demokratischen Sozialverhaltens. Allein schon durch dieses immense Ursprungsfeld wird die übergreifende sozialpolitische Verantwortung deutlich. Sie enthält die Forderung, selbstreflexiv, kritisch und aktiv den gesellschaftlichen Ursachen nachzugehen und deren Behebung als ein langfristiges gemeinschaftliches Unternehmen zu verstehen, das nicht nur von einzelnen Projekten und Initiativen bewältigt werden kann, sondern übergreifend als Querschnittsthema behandelt werden muß. Alle direkt eingreifenden und präventiven Ansätze sind bemüht, Gewalt in jeglicher Form zu reduzieren und dauerhaft zu verhindern. Sie gehören zu den wohl schwierigsten pädagogischen Aufgaben, mit denen alle Einrichtungen der Praxis konfrontiert sind. Maßnahmen über das Medium der politischen Bildung, Antirassismuskampagnen und Jugendschutzaktionen sind dabei wichtige Ansatzpunkte. Bislang existieren zahlreiche Untersuchungen, Analysen und Diagnosen über Entstehungszusammenhänge und über Formen der Gewalt. Hintergründe der Gewalt liegen im Individuellen wie auch Strukturellen. Die Quellen dazu sind:

Aggressionen Machtgelüste dumpfe Einstellungen organisierte Kriminalität Rassismus und Fremdenfeindlichkeit Terrorismus Gewalt ist eine Form direkter körperlicher und seelischer Vernichtungs-Bedrohung. -

Die Formen der Gewalt sind verschieden, in ihrer Wirkung jedoch ähnlich. Die nicht legitimierte Gewalt hat immer den Charakter böswilliger Zerstörung an sich. Mit der legitimierten verhält es sich auf den ersten Blick ähnlich, wenngleich ihre Ziele andere sind. Gewaltanwendung als ultimatives Mittel sollte hier ausschließlich der Aufrechterhaltung friedfertigen Zusammenlebens und dem Erzwingen von Einsichten in die Notwendigkeit demokratischen Sozialverhaltens dienen. Körperliche und psychische Gewaltanwendung in der Familie sind Übergriffe von Mächtigeren auf Schwächere und führen zu traumatischen Erlebnissen, die schwer reparabel sind. Die Gesamtheit familiärer Mißbrauchsstrukturen bedingt in jedem Fall die Zerstörung der ursprünglich intakt angelegten Zonen der Person. Die Betroffenen werden beziehungsunfähig und infolgedessen seelisch krank. Gewaltbereitschaft wird

am

Modell

gelernt.

-

Werden in der Familie die Konflikte (des Alltags) aggressiv gelöst, so lernen die Kinder es nicht anders, sich das, was sie haben wollen, so wie es ihre Eltern vormachen, gewaltsam zu besorgen. Sie lernen, daß Meinungsverschiedenheiten nur mit martialischen Mitteln bezwungen werden können. Und sie lernen auch, daß die Gewalt des einen die des anderen nicht abschreckt, sondern daß Gewalt grundsätzlich als ein erfolgversprechendes Mittel erscheint.

Kapitel

IV: Netzwerk des

181

Erziehungsbegriffs

Gewaltandrohung führt auf diese Weise zur Aufforderung, selbst gewalttätig zu werden, weil dieses Muster sagt, für das persönliche Glück müssen zuerst alle Feinde eliminiert werden. Kinder lernen in einem solchen Umfeld auch, daß sie mit ihren Gemütszuständen allein gelassen sind und daß sie keine Unterstützung erfahren, wenn die Eltern aus welchen Gründen auch immer sich nicht hinreichend um sie kümmern. Der Bezugspunkt zum Lebendigen -

fehlt und damit der essentielle Rückhalt im Ausleben ihrer Kindheit. Als Ersatz bleibt den Kindern und Jugendlichen innerhalb der Familie oft nur das Fernsehen und außerhalb nur der Zusammenschluß mit anderen, deren Schicksal ähnlich gelagert ist. Auf diese Weise multipliziert sich die Gewaltbereitschaft in einer Gesellschaft, die die Qualität der Beziehungsarbeit nicht sonderlich wertschätzt. Das immense Ursprungsfeld der Gewalt auf nahezu allen Ebenen der Öffentlichkeit und des Privaten macht die übergreifende sozialpolitische Verantwortung aller pädagogischen Maßnahmen der Gewaltprävention gegenüber deutlich. Die Pädagogik muß hier größtmögliche Unterstützung erfahren. -

Pädagogische Gewaltpräventionen versuchen, die Gewaltbereitschaft zu hemmen. -

Präventionen gegen das Übel einer Akzeptanz von Gewaltbereitschaft sind für den Erziehungsbegriff insofern grundsätzlich schwierig, als sie gegen ein Phänomen zu Felde ziehen, das jedweder Erziehungsvernunft zuwiderläuft. Die aufgeklärte Pädagogik kämpft gegen mächtige Mühlen, wenn sie individuell versucht, Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu einem Bewußtsein zu fuhren, in dem weder Perversität, noch zerstörerische Aggression, weder blinder Haß, noch Grausamkeit einen Zugang finden. Es wäre schon viel erreicht, wenn

das Martialische in den Medien entweder nur als bedauerliche Realität oder als eine rein blödinnige, nicht nachahmenswerte Unterhaltung erkannt werden könnte. Allein, daß dies so gesagt werden muß, ist traurig genug. Eine Erziehung, die von den Klauen der Gewalt befreien will, muß daher umfassend ansetzen. Die Formulierung eines gewaltpräventiven Erziehungsbegriffs ist theoretisch leichter zu fassen als praktisch zu verwirklichen. Sie bedingt die Analyse aller gewaltfordernder Faktoren in der Familie, der Schule, in den Gleichaltrigengruppen, in der Gesellschaft und in den Medien. W. Schubarth (2000) hat hierzu viele Aspekte und Literaturhinweise beigetragen. Zentral ist vor allem die Forderung, selbstreflexiv, kritisch und aktiv den Ursachen der Gewalt nachzugehen und deren Behebung als ein langfristiges gemeinschaftliches Unternehmen zu verstehen, das nicht nur von einzelnen Projekten und Initiativen bewältigt werden kann, sondern übergreifend als Querschnittsthema behandelt und vor allem ausreichend finanziert werden muß. In der Praxis sind alle Ansätze bemüht, Gewalt in jeglicher Form direkt zu reduzieren und dauerhaft zu verhindern. Dem dienen Maßnahmen über das Medium der politischen Bildung in den Schulen, Maßnahmen für Familien und Anti-Gewalttrainings für Männer. Darüber hinaus gibt es Maßnahmen des Jugendschutzes, Formen der Gewaltverherrlichungen administrativ zu verbieten. Im Grunde aber sind all diese Maßnahmen immer nur ein Tropfen auf den heißen Stein, solange sich die Verhältnisse in der Familien nicht ändern, solange Eltern es nicht schaffen, die Bedürfnisse ihrer Kinder nach Zärtlichkeit und liebevoller Aufnahme zu berücksichtigen und zu entwickeln, hinter denen auch die Suche nach Sinn steht. Der Sinn aber war m. E. immer schon der beste Schutz vor Devianz und Delinquenz. Natürlich bleiben die Maßnahmen auch auf der Strecke, wenn die Schule nicht ebenso denkt und Leistung weiterhin nur als ein Hauptinstrument der Disziplinierung sieht (W. Schubarth ebenda S. 95 99). -

182

Modelle des

Erziehungsbegriffs

(b) Rechtsextremismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Terrorismus Rechtsextremismus Die klammheimliche Duldung rechtsextremistischen Gedankenguts und dessen Vokabulars in großen Teilen der Gesellschaft ist ein Nährboden für Kinder und Jugendliche, stellvertretend als die Täter solcher Haltungen und versteckter Wünsche Erwachsener aufzutreten. Die Beiträge in dem von G. E. Becker und U. Coburn-Staege (1994) herausgegebenen Buch zur ,Pädagogik gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Gewalt' machen den vollen Umfang dessen deutlich. Wie war das noch mit der berühmten Äußerung Hitlers zur völkischen Erziehung? Und wie ist die Meinung in informellen Kreisen heute dazu? „Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muß weggehämmert werden. In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. Schmerzen muß sie ertragen. Das freie, herrliche Raubtier muß wieder aus ihren Augen blitzen. Stark und schön will ich meine Jugend." (Zitat aus dem Artikel von W. Grünewald ebenda S. 218, entnommen aus H. Rausching, Gespräche mit Hitler, Zürich, New York 1940, S.237) E. Pomerenke (ebenda in G.E. Becker, U. Coburn-Staege 1994, S. 99 102) sieht den Ansatz in einer Neuorientierung der politischen Bildung nur dann als sinnvoll an, wenn auch Politik in Gesellschaft mitmachen. Er formuliert folgende Anforderungen: „Die Politik muß das Problem endlich ernst nehmen." „Politiker müssen mit der populistischen Diskussion der Themen Asyl und Einwanderung aufhören." „Politik und Gesellschaft müssen ernsthaft daran gehen, Gewaltbereitschaft und akzeptanz abzubauen." „Politik und Gesellschaft müssen Jugendlichen eine anderen Heimat als die rechte Szene bieten." „Die Einrichtung Schule in der die eigentliche Integrationsarbeit geleistet wird braucht die dafür notwendige materielle und personelle Ausstattung" „Politik und Gesellschaft dürfen gemeinsam zu leistende Aufgaben nicht allein der Schule -

-

-

-

abverlangen." Rassismus

Der Begriff der „Rasse" wird als eine Art Machtdokumentation meist gegen andere verwendet. So ist der Ausdruck die „weiße Rasse" eher selten zu hören. Ebenso gibt es für den Begriff Neger bekanntlich keinen ähnlich gearteten Begriff für Weiße. Rasse ist darum per se immer ein diffamierender Begriff. Auch seine Verwendung im biologischen Sinn ist letztlich auf den Menschen übertragen entwertend, weil Rassen bekanntlich gezüchtet werden. Entstehungszusammenhänge für rassistische Haltungen liegen sowohl im Bereich des Individuellen, als auch in gesellschaftlichen Strukturen. Mangelnde Anerkennung, Wertschätzung und Rückhalt in der Familie und im Lebensumfeld führen zu Defiziten in der Person und zu einer Fehlleitung der Entwicklung und Entfaltung des Endogenen. Natürliche Triebe und Energien eskalieren durch die radikale Einschränkung individueller Zuwendung und Liebe. Triebe werden zu Obsessionen der Grausamkeit. Machtbedürfnisse werden zu Machtgelüsten und zur Herrschsucht. Konkurrenz wird zur Rivalität und diese zum Haß gegen alles Fremde. Der Liebesentzug führt zu dem Bild, es werde einem etwas Substantielles weggenommen, was einem zusteht. Die Enttäuschung darüber beklagt nicht die Täter, sondern sie sucht sich

Kapitel

IV: Netzwerk des

Erziehungsbegriffs

183

andere Opfer (meist Schwächere), an denen sich das Gefühl des Verlustes rächen möchte oder sogar muß. Es gehört wohl zu den merkwürdigsten Geheimnissen der Seele, warum dieses Gefühl dann auch noch als existentielle Bedrohung empfunden wird und als Rassismus zur tiefgreifenden Verachtung Unschuldiger führt (vgl. D. Hoffmann-Axthelm 1998). In diesem Zusammenhang hat es den Anschein, als ob der Mensch diesbezüglich sich geradezu vor sich selbst schützen muß, zumal wenn eine so zustande gekommene Verachtung auch noch am nächst besten festgemacht wird, der nicht unmittelbar am Tisch der eigenen Familie sitzt. Die Suche nach den Schuldigen trifft nicht die eigenen Eltern, auch nicht die Einflüsse der Gesellschaft, sondern all diejenigen, die von der Gesellschaft und der eigenen Familie bereits vorstigmatisiert als die Anderen, die Fremden, die Ausländer bezeichnet werden. Für die eigene Misere, für das eigene Versagen sind nicht die idealisierten Eltern, selbst wenn sie noch so schrecklich sind oder waren, und auch nicht die idealisierte Gesellschaft, selbst wenn sie noch so leistungsorientiert ist, schuld, sondern diejenigen, die nicht zum Wir-Bewußtsein gehören. Unsäglich ist freilich leider die politische Ausbeutung dieses Seelen-Desasters unter dem Decknahmen der Rettung des Nationalen. Es entstehen der Gedanke des Erhalts von Blut und Boden und im Zuge dessen dumpfe Einstellungen gegen alle, die angeblich nicht aus diesem Boden stammen. Fremdenfeindlichkeit

Ähnlich dem berühmten Satz

aus

den Minima moralia

von

Th. W. Adorno

(1951, S. 141)

„Der Antisemitismus ist das Gerücht über den Juden" ist auch die allgemeine Xenophobie

zu

bewerten. M. Köhnlein, K. Rrjolli und K.M. Setzen beschreiben eindrücklich das Umfeld dazu (ebenda in G.E. Becker, U. Coburn-Staege 1994, S. 109 167). -

Die Überwindung der Ambivalenz des Fremden ist hier die Aufgabe der Erziehung. Fremdes nicht als Bedrohung, sondern als eine Bereicherung für die kulturelle Entwicklung zu sehen, gehört zu den Hauptanliegen interkultureller Pädagogik. Terrorismus

gehört zu den ultimativen Formen der Systemverachtung und gewaltsamen Systemzerstörung. Hintergrund ist blinder Haß gepaart mit einer erbarmungslos intoleranten Ideologie. Terror schreckt vor nichts zurück. Von Emanzipation im kritischen Sinn ist hier nichts mehr übrig. Vor diesem traurigen Hintergrund, muß bewußt gemacht werden, daß Terroristen immer zu dem, was sie sind, auch erzogen wurden. Erziehung wird in diesem Kontext vollkommen zum pervertierten Instrument der totalen Manipulation degradiert. Apokalyptische Visionen werden mit fundamentalistischer Absolutheit in den Köpfe der Heranwachsenden erzeugt. Um sie zu erfüllen, wird die Selbstzerstörung angeordnet. In der Regel werden dafür die natürliche familiäre Zugehörigkeit und Ideologieanfälligkeit von Kindern und Jugendlichen radikal ausgenutzt, um Rachegedanken von Erwachsenen zu übernehDer Terrorismus

und zu vollenden. Gewaltverzicht hat in diesem schrecklichen Szenarium keine andere Chance, als im Bewußtsein der sozialen Wurzeln und möglichen Ursachen terroristischer Gedanken zu versuchen, Kinder frühzeitig mit verschiedenen Lebenswelten und Kulturkreisen in einen kommunikativen Kontakt zu führen, damit sich möglichst viele Freundschaften ergeben können. Dies wäre eine jener unorthodoxen Maßnahmen, die zwar global und finanziell sehr aufwendig wäre, dafür m. E. aber äußerst effektiv. Für die Erziehung allgemein wichtig ist jedoch das Bemühen, die Wertschätzung unterschiedlicher Kulturen von Anfang an in der men

Erziehung zum

Modelle des

184

Sozialisation Armut und

zu

verankern. Ebenso

Erziehungsbegriffs

wichtig

sind aber auch

globale

Hilfsmaßnahmen gegen

Hunger.

( c) Kurze Übersicht allgemeiner Erziehungsmaßnahmen dazu Die pädagogischen Maßnahmen zur Erfüllung eines sozial-politischen Auftrags zur Gewaltprävention setzen vor allem an gewaltreduzierenden Erziehungsinterventionen an. Zu ihnen gehören (in Anlehnung und Weiterführung an A. Riedl ebenda in G.E. Becker, U. CoburnStaege 1994, S. 290 294) folgende Ziele und Inhalte: -

Förderung von opferbezogenem Denken

das Erlernen alternativen Verhaltens das Erlernen eines Umgangs mit aggressivem Verhalten das Erlernen von Formen der Konfliktbewältigung die Einübung von Empathie die Implementierung von positiven Identifikationsmöglichkeiten der Aufbau eines liebvollen Erziehungsklimas Förderung eines kulturellen Austausches auf allen Ebenen Verankerung der Wertschätzung unterschiedlicher Kulturen in der

familiären Sozialisation

3. 8. 3. Die identitätsfördernde Ausrichtung am Beispiel der Elternarbeit im Rahmen der Heimerziehung eines SOS-Kinderdorfes Im Mittelpunkt der Heimerziehung steht eine umfassende Beziehungsarbeit. Dabei sollen im Sinne des systemischen Ansatzes möglichst alle Kontaktpersonen (als unterstützende Hilfesysteme) in den Prozeß mit einbezogen werden. Das Sozialpädagogische Institut im SOS Kinderdorf e.V. München (2000) versucht dieses Ziel verstärkt über Elternarbeit (M.-L. Conen 1990) zu erreichen. Im Haus Leuchtturm (am Ammersee) werden dazu regelmäßig Sitzungen

Familienmitgliedern abgehalten, um durch eine Stärkung der Identität der Familie die Reintegrationsmöglichkeit der Kinder zu verbessern. Die Ziele sind folgende (ebenda S. 49): mit den

Förderung der vorhandenen, aber blockierenden Potentiale der einzelnen Familienmitglieder und des Familiensystems, Stärkung des Selbstwertgefühls, Entwicklung der Persönlichkeit aller Familienmitglieder, „

allem aber des Kindes, Klärung und Veränderung der Interaktionsmuster im Familiensystem, Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit, damit Gefühle, wechselseitige Ansprüche und Wünsche auf verständliche Weise mitgeteilt werden können, Erarbeitung von neuen Wegen zur Konflikilösung, Entlastung der Kinder von Delegationen, Einschränkungen und Aufträgen, die ihrem Alters- und Entwicklungsstand nicht entsprechen (dazu müssen auch Generationengrenzen gezogen werden), Unterstützung der Jugendlichen in ihren Autonomiebestrebungen "._ vor

185

Kapitel IV: Netzwerk des Erziehungsbegriffs Die

positiven Wirkungen dieses Vorgehens werden in der Einzelarbeit gendlichen verstärkt. Die Ziele hier sind folgende (ebenda S. 60):

mit Kindern und Ju-

neue Haltungen, Gedanken und Gefühle ausprobiezulassen können. beziehungsweise Sie dürfen ohne Wertung oder Leistungsdruck sie selbst sein. Sie lernen, räumliche und zeitliche Begrenzungen zu erleben und zu akzeptieren. Gefühle werden als normaler psychischer Verarbeitungsprozess erlebt, mit denen man adäquat umgehen kann. Die Kinder übernehmen schrittweise die Verantwortung für sich und ihre eigenen Anlie-

„Kinder sollen im geschützten Raum

ren

gen. Sie lernen, realistisch nen zu

verabschieden

zu

"

.

denken, ihre Wahrnehmungen

zu

schärfen und sich

von

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Freire, P. 96 f. Friedrichs, J. 41

Gadamer, H.-G. 90

Geißler, E.E. 16 Germain, C.B. 137, 144 Gernert, W. 174 Giesecke, H. 102, 104

Gieseke, W. 175 Giesemann, C. 177 Gitterman, A. 137,144

Glantschnig, H.

100

Goffman, E. 116 Gordon, Th. 122 Habermas, J. 40, 52, 89, 112, 114, 147, 152

Harris, Th.A. 107, 124

Hartmann, N. 143 Hegel, G.W.F. 39, 87, 89, 97, 105 16 176 T. Heise, Herbart, J.F. 17,47 Heydorn, H.-J. 20 Hierdeis, H. 41, 54, 81 f., 114 Hinz-Rommel, W. 176 Hölscher, P. 176 Hoffmann-Axthelm, D. 183 Holstein, H. 82 Horkheimer, M. 89, 112 Humboldt, W.v. 20 Hurrelmann, K. 19 Husserl, E. 40

Heidegger, M.

Johann, E. 176

Kamiah, W. 44, 54, 143 Kant, I. 18,82 Klafki, W. 20,55, 176 Köhnlein, M. 183 König, E. 48,54

Krappmann, L. 115 f.

Kreuzer, K.J. 127 Krön, F. W. 16, 19, 37 f., 40, 113

Krüger, D. 170 Lange, E. 96

Langevelds, M. J.

Liebertz, Ch. 128 Litt,Th. 38 Loch, W. 63

40

193

Locke, J. 81,82 Lorenzen, P. 44, 54, 143 Lowy, L. 58 Luhmann,N. 112, 141, 147

Maletzke, G. 177

Marcuse, H. 52,89 Marx, K. 39,89 Maturana, H. 141

Mead, G. H. 113, 115, 116 Miller, A. 16 Miller, T. 141, 142

Schuler, E. 144 Schulz von Thun, F. 125, 170 Schwäbisch, L. 126 Seiffert, H. 114, 141, 142 Seithe, M. 175 Setzen, K.M. 183 Siems, M. 126 Skinner, B.F. 114 Smith, A. 19

Spencer, H.

20

Sprangenberg, K. 58

Minuchin, S. 125 Mollenhauer, K. 18, 54, 94 f. Montessori, M. 20, 73

Stark, W. 175 Staub-Bernasconi, S. 169 Steibli, M. 144 Stein, A. 126

Müller-Rolli, S. 128

Strzelewicz, W. 16

Nahrstedt, W. 128 Neill, A.S. 17, 126, 150 Netzer, H. 16 Neumann-Lechner, A. 100

Theunissen, G. 175 Thiersch, H. 175 Toman, W. 123, 124

Opaschowski, H.

Vester, F. 130, 132

W. 127

Oswald, G. 142

Watzlawick, P. 125, 170 Weber, E. 55, 64, 106

Pages, M. 125

Weinschenk, R. 66 Wendlandt, W. 122 Winkler, M. 59 Winzen, G. 174

Petermann, F.u.U. 120 f. Petersen, P. 16

Wodraschke, G.

Palla, R. 15 Pankofer, S. 175 Parsons, T. 113, 114, 141 Pestalozzi, J.H. 17 Piaget, J. 20,56,67, 113 Platon 16

Pomerenke, E, 182 52 Preißer, F. 100 Pusch, L.F. 100

Popper, K.R.

Raab, E. 174 Rademacker, H. 174 Rang, M. 82 Rendtorf, B. 175 Rifkin,J. 172

Rogers, CR. 125 Rossnay, J. De. 133

Rousseau, J.J. 17,82 Rrjolli, K. 183

Sack, R. 175 Schlottmann, U. 106 Schubarth, W. 181 Schütz, A. 40, 116

128

Wohlers, H. 81 Wulf,Ch. 98,99

Wulfers, W. 174

Zink, D. 19 Zundel, E.u.R. 123, 124

194

Sachregister Affektive Dimension 66

Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe Allgemeine Pädagogik 6 Analogie 91 Analytischer Ansatz 133

176

Anpassung 17, 64, 104, 158 Anthropologie 55, 60

Anthropologischer Tatbestand Antiautoritäre Erziehung 126 Aussageformen 46

18

Autonomie 82, 104, 158 Autorität 16

Befragung

36

Behaviorismus 113 Beobachtung 35 Bewußtsein 87 Black-Box-Theorie 57

Bildung 20,68

Blickwinkel des Interaktionistischen 28 Blickwinkel der Interdependenz 25

Curriculumforschung

Erwachsenbildung

103

Erzieher/Erzieherin 10 Erziehende 26 Erziehung 13 ff, 27, 45, 62, 63, 104, 130 als Prozeß 20,22 als Lernhilfe 59 -

Erziehungshilfen 177 Erziehungsinhalt 162 Erziehungskompetenz 173 Erziehungslehre 18 Erziehungsmethoden 27, 156 Erziehungsmethodik 162 Erziehungsmittel 162 Erziehungsstil 58, 162 Erziehungstheorie 42 Erziehungswissenschaft 31 Erziehungsziel 27, 155

Fähigkeiten 68

Familientherapie

125

Feminismus 99

Friedenserziehung 98 Führen 16 Funktionalismus 51,114

Ebenen der Erziehung 29 f. Ebenen der Sprache 44 f. Einrichtungen 27 Eltern 11, 12

Emanzipation 78, 8, 87, 94, Empowerment 175 Empirie 46

Generative Wörter 97 Generierende Faktoren 20 100

Empirismus

Entwicklungspsychologie Erfahrungsbegriff 65

Erkenntnis 46, 79, 88 Erkenntnis- und Denkmethoden 35 Erklären 33

Ethische Dimension 66 Ethik 19,48 Experiment 36

68

Definition 47 Denken 79 Dialektik 38 f., 91 Didaktik 68 Didaktische Analyse 69 Diplompädagogik 9

50 Enkulturation 63 Entwicklung 20

Erfahrungsmuster 68

56

Geschlechtsspezifischer Ansatz Gesellschaft 27 Gruppe 57

Gewaltprävention

179 f.

Handlungsforschung 130 Handlungskompetenz 172 Handlungstheorie 51 Handlungswissenschaft 55

175

195

Hermeneutik 37, 54, 91 Idealismus 51 Ich-Identität 115 Ideen der Erziehung 27 Identität 106, 117 Identitätshilfe 108,110,117,118 Integration 111, 158 Interaktionismus 116 Interesse 46 Interkulturelle Jugendhilfe 176 Intersubjektivität 32 Institutionen 27 Instrumentelle Dimension 66

Jugend 95 Jugendarbeit

102

Kreativität 75 Kritik 94 Kritisches Bewußtsein 80, 81, 158 Kritische Theorie 51, 52, 83, 89, 1 12

Kognitionen 90 Kognitive Dimension

66

Kommunikation 83, 152 Kommunikationstheorie 125 Konstruktivismus 51 Kultur 27, 63 Kybernetik 51, 138 Lebenshilfe 17 Lebenslage 23 Lebenswelt 23 Lebenssituation 23 Lebensverfassung 23 Lehrberuf 9 Lerndimensionen 66 Lernpsychologie 56 Lerntheorie 56 Marxismus 51 Mediation 168 Medien 73 Metaphysik 51 Methoden 69 Methodik 69

Modul 42 Motivation 66

Mündigkeit 82, 93 f. Naturalismus 51

Objektivität

32

Ökologie-Bewegung

Operationalisierung

100 71

Pädagogik 5,7, 11, 59 f., 107 Allgemeine Pädagogik 6 Anti-Pädagogik 126 Erlebnis- und Abenteuerpädagogik 127

Emanzipatorische Pädagogik 83 Empirisch-analytische Pädagogik Freizeitpädagogik 127 Kritische Pädagogik 6 Sach-Pädagogik 7 Spielpädagogik 127 Schwarze Pädagogik 16,125 Systemische Pädagogik 148 Zielgruppen-Pädagogik 7 Pädagogische Führung 13 Pädagogi sches Handeln 171 Person 106

Personalisation 106

Phänomenologie 40 f., Politologie 32 Pragmatismus 51

134 f.

Propädeutik 3 Prozeßquellen 21,22

Positivismusstreit 9, 130 Psychologie 56, 60

Rahmenbedingungen

27

Rationalismus 50 Reduktion von Komplexität 112 Reflexion 79 Rekonstruktionsprinzip 91 Ressourcenorientierung 22 Rollentheorie 116

Skalierung 37 Spräche 43, 152 Sprachkompetenz 18,

152

6

196

SOS Kinderdorf 194

Sozialarbeit/Sozialpädagogik 10,61 Soziale Dimension 66

Sozialisierung

18

Sozialisation 18, 63

Soziologie 32,61,112 Sozialpsychologie 57 Stadtteilarbeit 175

Stimulus-Response-Theorie 113 Subjekt 87 Synergie 150 System 130 f., 140 Systemansatz 133 Systemintegration 64 Systemisch 130 Systemische Erziehungsansätze 173 Systemtheorie 51, 131 Techniken 69 Theorie 31,42,49 Theorie-Praxis-Transformation 5 Transformation 2, 19

Übungen

74

Vernunft 32, 79 Verstehen 33,42

Wachsenlassen 17 Wahrheit 32 Wahrnehmung 35 Wissenschaft 28,31 Ziehen 16 Zucht 17 Zu Erziehende 26