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German Pages 200 Year 2014
Gertrud Lehnert Mode
Editorial Mode ist Motor und Ergebnis kultureller Dynamiken. Kleider gehören der materiellen Kultur an; Mode ist Ergebnis des Handelns mit Kleidern und wird in ästhetischen und alltagskulturellen Praktiken hervorgebracht. Als omnipräsente visuelle Erscheinung ist Mode wichtigstes soziales Zeichensystem – und sie ist außerdem einer der wichtigsten globalen Wirtschaftsfaktoren. Die Reihe »Fashion Studies« versteht sich als Forum für die kritische Auseinandersetzung mit Mode und präsentiert aktuelle und innovative Positionen der Modeforschung. Die Reihe wird herausgegeben von Gertrud Lehnert, Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft an der Universität Potsdam.
Gertrud Lehnert (Prof. Dr.) lehrt Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft an der Universität Potsdam. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Geschichte und Theorie der Mode, Visuelle Kulturen sowie Raum- und Emotionsforschung. Bei transcript erschien der Sammelband »Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung« (2011).
Gertrud Lehnert
Mode Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis
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Inhalt
Einleitung | 7
1. Mode als kulturelle Praxis Fokus 1: Mode als Dynamik | 15 Fokus 2: Zeichensystem Mode | 17 Fokus 3: Voraussetzungen von Mode | 20 Fokus 4: Alt und neu | 21 Fokus 5: Modesystem | 25 Fokus 6: Modisches Alltags-Handeln | 26 Fokus 7: Nachahmung, Self Fashioning und Lifestyles | 28 Fokus 8: Modische Kompetenz | 32 Fokus 9: Das Geschlecht der Mode | 37 Fokus 10: Ist Mode Kunst? | 43
2. Körper & Kleid Fokus 1: Visuelle Wahrnehmung: Trompe l’œil | 53 Fokus 2: Fühlen, Handeln: Körpertechniken | 55 Fokus 3: Mode und Fetischismus | 64 Fokus 4: Vestimentäre Skulpturen | 67 Fokus 5: Groteske Modekörper | 74 Exkurs: Charles Baudelaires Ästhetik der Mode | 85
3. Konsumkultur und ästhetische Arbeit Fokus 1: Ästhetische Arbeit und Atmosphären | 93 Fokus 2: Repräsentationen von Mode (Bild und Text) | 103 Fokus 3: Modische Wunscherfüllungen | 108 Fokus 4: Konsum und Kaufrausch | 111 Fokus 5: Bühnen der Mode: Läden und Museen | 122
4. Die Sehnsucht nach dem Anderen Fokus 1: Das Gedächtnis der Mode | 142 Fokus 2: Das fremde Andere | 150 Fokus 3: Ein Traum von Natürlichkeit, oder: Natürlichkeit und Artifizialität – zu einem grundlegenden Paradox der Mode | 155
Nachwort | 165 Abbildungen | 169 Bibliografie | 171
Einleitung »[…] the best way to understand, convey and appreciate our humanity is through attention to our fundamental materiality.«1
Mode treibt uns an. Mode treibt uns um. Mode ereignet sich: im Zwischenbereich von Alltagsleben, Konsumkultur und Kunst. Sie ist ständig in Bewegung und als Übergangsphänomen par excellence Paradigma einer Kultur, die durch Geschwindigkeit und Flüchtigkeit gekennzeichnet ist, einer Kultur, in der die Grenzen zwischen Originalität und Nachahmung, Individualität und Konformität, zwischen Kunst und Nicht-Kunst immer unschärfer werden und zunehmend keine Relevanz mehr besitzen. Wenn Mode auch vieles sein kann (oder umgekehrt vieles Mode sein kann): im Folgenden geht es um Kleidermode2 . Damit sind zunächst einmal Artefakte gemeint, also die Kleider in ihrer Materialität oder, wie Roland Barthes sagt3, die »vestimentären Objekte«. Diese sind Gegenstand der Kostümgeschichte und -forschung und der ethnologisch verankerten Textilwissenschaft, und sie sind die Grundlage jeder Beschäftigung mit dem Phänomen Mode, ganz gleich aus welcher Perspektive sie stattfindet. Allerdings erschöpft sich »Mode« mitnichten in der Materialität der Kleidungsstücke und ihrer spezifischen ästhetischen Gestaltung. Mode entsteht vielmehr in dem, was Menschen fortwährend in ihrem Alltag mit den vestimentären Objekten tun. Mode – als spezifischer Umgang mit vestimentären Artefakten – fordert die Inszenierung von Kleidern durch Körper und von Körpern durch Kleider. Denn erst im Zusammenspiel von Kleid und Körper entsteht Mode. Modekleidung verändert Körper, und sie bringt neue Körper hervor, die Modekörper, die weder nur Kleid noch nur TrägerIn sind.
1 | Daniel Miller: Stuff. Cambridge: Polity Press 2010, 4. 2 | Zum Folgenden grundlegend Lehnert 2006a; Lehnert 2005a; Lehnert 2004a; und weitere. 3 | Roland Barthes 1985.
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Mode — Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis
Mode funktioniert als soziales Zeichensystem und entzieht sich zugleich als Spiel mit ästhetischen Möglichkeiten der Festschreibung von Bedeutungen. Sie ist unabdingbar für die Konstitution von kulturellen und individuellen Identitäten und insofern alles andere als eine Oberflächlichkeit. Als »zweite Haut« zielen Kleider auf eine Körperpraxis, die andere kulturelle Praktiken prägt und strukturiert und Identität wie Alterität buchstäblich am eigenen Leibe erfahrbar macht. Zugleich nährt sie Illusionen von Einzigartigkeit und dem ganz Anderen, ohne die Sehnsucht danach je erfüllen zu können. Kleidung muss »inszeniert und aufgeführt werden, um überhaupt Mode zu werden, d.h., die Kleider werden in ihren ästhetischen, räumlichen und zeitlichen Dimensionen zur Erscheinung gebracht – einerseits als Zeichen innerhalb des kulturellen Kommunikationszusammenhangs, die immer zur Deutung aufrufen und nie endgültig und klar gedeutet werden können. Andererseits werden die Kleider, so meine These, vor allem als ästhetische Artefakte zur Erscheinung gebracht, die in Wechselwirkung zu den dreidimensionalen Körpern der Trägerinnen stehen, Raum und Zeit spürbar machen und zu einer ästhetischen Wahrnehmung jenseits aller Deutung aufrufen. Das gilt für die Aufführung im Alltag ebenso wie für die Modenschauen, die in den letzten Jahren zunehmend zu theatralen Aufführungen mit großem Unterhaltungs- und geringem Informationswert geworden sind.« (Lehnert 2004, 267) Mode realisiert sich in Zuschreibungen/Diskursen und in Alltagspraktiken; nur durch ihr Aufgeführtwerden, ihr Inszeniertwerden durch Körper und in Räumen werden die Objekte im eigentlichen Sinn zur Mode. Damit kann man ganz verkürzt sagen: Mode entsteht im Handeln, und zwar in sozialem ebenso wie ästhetischem Handeln, das den kulturellen und sozialen Habitus in hohem Maße prägt 4 . Sowohl die Produktion wie die Rezeption von Kleidern, die erst in ihrem Zusammenspiel Mode entstehen lassen, sind als soziales, wirtschaftliches und ästhetisches Handeln zu beschreiben. Als omnipräsente Alltagspraxis setzt Mode ästhetische Kompetenzen voraus; sie muss mit historisch wandelbaren Konzepten von Geschmack sowie mit Konzepten von Wissen in Verbindung gebracht werden. Im Spannungsfeld von Kommunikation mit dem Außen einerseits und narzisstischer Selbstbespiegelung andererseits wird Mode integrales Element der performativen Konstitution von Identität. Mode, so meine zentrale These, ist ein Spielraum des Möglichen. Kleidermode erlaubt die äußerst effiziente Ästhetisierung der eigenen Person und des Lebens, dient als Medium des Versprechens des ganz Anderen. Wie Träume ermöglicht sie imaginäre Wunscherfüllungen. Mode realisiert sich im Streben nach dem Neuen, dem Unerwarteten, dem Unbekannten, oft auch dem Bizarren, aber dieses Ziel verfolgt sie paradoxerweise über den Weg der Nachahmung. Die andere Seite des Glanzes und der unendlichen Möglichkeiten ist der Markt mit seinen radikalen Mechanismen, denen sich unterzuordnen hat, wer sich als ModemacherIn oder als Firma behaupten will und in deren festem Griff 4 | Vgl. Lehnert 2003; Lehnert 2006a und viele weitere.
Einleitung
sich auch die Konsumierenden befinden. Denn der Markt diktiert die Moden, nicht mehr die DesignerInnen, wie das möglicherweise in der »mode de cents ans« (Lipovetsky 1987), also bis Dior, gewesen sein mag. Die andere Seite sind die Bedingungen der Produktion, die an Erbärmlichkeit oft nicht zu unterbieten sind, sind Ausbeutung, Menschenfeindlichkeit und Umweltzerstörung. Die andere Seite des Glanzes ist eine Kultur, in der die Gier nach immer neuen Besitztümern zur Norm und Konsum zur Freizeitbeschäftigung, ja zum Lebensinhalt und oft zu einem Suchtfaktor ersten Ranges geworden ist. Das wird unterstützt durch die sogenannte Wegwerfmentalität, die wiederum eng verbunden ist mit der geplanten Obsoleszenz, d.h. dass – vor allem, aber nicht nur – billige Massenmode schnell kaputt geht. Damit Kleider Mode werden, bedarf es der Akzeptanz einer wie auch immer gearteten Gruppierung von Menschen, also eines vorübergehenden Konsenses. Mode als Alltagspraxis funktioniert unter anderem über die soziale Dynamik von »In« und »Out«, die gleichzeitig eine zeitliche Dynamik ist. Diese kennt jedoch keinerlei Teleologie, oder konkreter: Der modische Drang nach dem ständig Neuen realisiert sich in einer komplexen Dynamik von Emergenz und der Steuerung durch einen zunehmend globalen Markt. Es geht also um den Wandel als solchen, und deshalb ist sehr zweifelhaft, ob man den konkreten neuen Moden (damit meine ich der spezifischen Gestaltung der Artefakte) immer eine semiotisch entschlüsselbare Bedeutung zuschreiben kann.5 Frei nach Barthes könnte man sagen: die Botschaft ist »Mode« selbst, als Wandel und als ästhetisches Angebot um seiner selbst willen – tatsächlich auch und vor allem um des Gewinns wegen und um die Konsumkultur am Leben zu halten. Meine zweite zentrale These ist: Während bis ins 18. Jahrhundert (und in vielen Aspekten sogar bis in die 1950er Jahre) das Leben und die Mode durch politisch, gesellschaftlich, religiös etc. motivierte Verhaltensnormen, Regeln, Zeremonien und Rituale strukturiert wurde, verhält es sich heute umgekehrt. Es ist die Mode, die alle anderen Lebensbereiche reguliert und Verhaltensweisen hervorbringt. Diese These knüpft an Elena Espositos Befund an, dass die Mode im 17. Jahrhundert mit der Verwandlung der stratifikatorischen in eine funktional differenzierte Gesellschaft zur »Königin des gesellschaftlichen Lebens« geworden sei, zur »Göttin des Scheins«, die die Auflösung der traditionellen Ordnung offen gelegt habe (Esposito 2004, 10). Da aber meine Grundlage mehr die konkrete Modegeschichte ist und mein historischer Schwerpunkt, anders als der Espositos, auf dem Prozess der Verbürgerlichung des 18. Jahrhunderts liegt, meine ich, dass die Auflösung der traditionellen Ordnung zwar in eine neue Ordnung führte, dass dies jedoch nicht ausschließlich als Verlust verstanden werden kann, sondern als Neuschaffung (um das wertende Wort »Gewinn« zu vermeiden) von 5 | Ingrid Loschek (2007) erfasst die Komplexität von In und Out nur kursorisch, und ihre Erklärung, Mode und Kleidung erklärten sich kausal und sozial, ist verkürzt und terminologisch und argumentativ ungenau.
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Mode — Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis
Regeln und Ordnungen. Die Mode wird zunehmend gerade nicht zur »Göttin des Scheins«, sondern eher von der Göttin des Scheins zum wichtigsten Element der Hervorbringung neuer Identitäten und Lebensstile auf einer bis dahin unvorstellbar breiten Basis. Nicht mehr einige wenige setzen modische Kleidung zur Repräsentation von Status ein, sondern immer mehr Menschen arbeiten an der Hervorbringung (und Überschreitung) von Geschlecht, sozialem Status, Geschmack und Distinktion. Die Gegenwart ist gekennzeichnet von einer unüberschaubar ausdifferenzierten Vielfalt sozialer und modischer Szenen, ganz zu schweigen von der beschleunigten Globalisierung, die uns – wenigstens scheinbar – an allem jederzeit teilhaben lässt und völlig neue Wissens- und Erlebnisformen hervorgebracht hat. In dieser Situation bringt modisches Handeln selbst die Regeln hervor, die über sozialen Ein- und Ausschluss entscheiden, über »In« oder »Out«, über die Zugehörigkeit zu den vielen sozialen Gruppierungen, zwischen denen wir uns ständig bewegen, über Berufe und Liebhabereien, und schließlich über das, was man früher »Manieren« nannte, also die Weisen, mit anderen und sich selbst umzugehen. Die mit der Industrialisierung verbundene umfassende Ökonomisierung der westlichen Gesellschaften, deren Umwandlung in Konsumkulturen und das damit entstehende neue Verhältnis zwischen Menschen und Dingen ist ganz unmittelbar mit der Dynamik der Mode verbunden. Dass man immer auf der Suche nach dem neuen, dem besseren, dem modischeren Kleid ist, trägt zu Rastlosigkeit und Unzufriedenheit bei, die sich im Verhalten vieler Menschen manifestieren. Shoppen als wesentliche Freizeitbeschäftigung vieler Menschen, als wichtigste, oft einzige Form ästhetischen Handelns und der Geschmacksbildung, Konsum als Event und persönliche Erfüllung im Markenfetischismus: das alles sind neue Zeremonien, Regeln, Rituale, die die alten ersetzen. Sie bringen kulturelle wie individuelle Identitäten hervor, modellieren sie und organisieren das Leben der Individuen in Lifestyles. Mode ist ein räumliches Phänomen, sie findet in Räumen statt, sie ist raumschaffend und raumaneignend. Das führt zu der Frage nach dem Verhältnis von Kleid und Körper. Zum einen bringt Mode spezifische Körpertechniken hervor, bzw. kann sie selbst als Körpertechnik bezeichnet werden. Zum anderen schafft Mode, so meine These, grundsätzlich eigenständige Körper, die den anatomischen Körper gleichsam substituieren bzw. im Zusammenspiel mit ihm ein eigenständiges Drittes, den Modekörper, hervorbringen. Modische Kleider von der Renaissance bis zu den avantgardistischsten Modekünsten der Gegenwart spielen mit Oberflächen und Tiefen, mit Innen und Außen, mit prothetischer Überschreitung oder Verringerung der (vermeintlichen) leiblichen Grenzen – sei es in der Gesamtgestaltung, sei es in Details wie der Falte. Auf dieser Grundlage lautet meine dritte These, dass der Mode ein grundsätzlich grotesker »Stilwille« (im Sinne Bachtins) innewohnt, oder anders gesagt: dass das Verhältnis zwischen Belebtem (Körper) und Unbelebtem (Kleid) analog zu dem der grotesken Kunst zu sehen ist.
Einleitung
Am Beispiel Mode lässt sich aus den genannten Gründen exemplarisch und paradigmatisch eine interdisziplinär verstandene Kulturwissenschaft betreiben. Mit den vorangegangenen Stichworten sollte einleitend angedeutet werden, wie vielfältig das Phänomen Mode ist. Einige der Dimensionen davon möchte ich in meinem Buch entfalten. Ich gehe davon aus, dass Dingen Handlungsanweisungen eingeschrieben sind bzw. dass zwar einerseits kulturelle Praktiken die Bedeutung der Dinge bestimmen, andererseits aber auch die Dinge die körperlich-sinnlichen Praktiken strukturieren (Moebius/Prinz 2012, 15). Im Mittelpunkt meines Interesses steht deshalb die Fähigkeit von Kleidern, Mode zu werden, die gestalterische und imaginative Arbeit, die sie dazu macht, und die Auswirkungen, die das alles für das Selbstverständnis der Moderne hat. Im Fokus stehen weniger die Kreationen als vielmehr die vorwiegend alltags-kulturellen Strategien der Zuschreibung, Akzeptanz und (Selbst)Inszenierung. Zugrunde liegen die erwähnten Thesen: (1) Mode ist ein Spielraum des Möglichen, und ihr wohnt ein ludischer Aspekt inne, (2) Mode als Idee funktioniert als Matrix, die kulturelles und individuelles Handeln hervorbringt, (3) Mode bringt eigenständige, in der Verbindung von Körper und Kleid entstehende Modekörper hervor, deren Räumlichkeit sich verselbstständigen kann und deren formale Prinzipien dem Grotesken analog sind.
M E THODEN UND G EGENSTÄNDE Modewissenschaft als klar umrissene Disziplin existiert noch nicht. Die Modeforschung ist so facettenreich wie die Mode selbst. Als wichtiger Teil der materiellen Kultur wird Kleidung/Mode vor allem in ethnologischer und kostümhistorischer Perspektive untersucht. Mode kann in ihrer Bedeutung als soziales (und machtpolitisches) Handeln analysiert werden oder als ökonomischer Faktor. Mode gehört zum Design und kann als Kunst betrachtet werden. Als wesentliches Element des »doing gender« hat sie in den Gender Studies ihren Platz. Kunsthistorisch würde sich Modeforschung am ehesten als Formengeschichte manifestieren, oder als Gegenstand von bildender Kunst6. Mode kann in Gestalt der Geschichte ihrer Designer dargestellt werden oder in der Geschichte ihrer Re-Präsentationen in Modekupfern, Modefotografie, Modetexten etc. sichtbar werden. Und damit sind noch längst nicht alle Möglichkeiten benannt. Alle diese – und weitere – Aspekte und Perspektiven gehören zur Modeforschung. Idealiter formieren sie sich zu einem multidisziplinären Ansatz, denn als integrales Moment von Lifestyles im allgemeinsten Sinne können Mode-Kleider – die vestimentären Objekte – nur im gesamtkulturellen Kontext adäquat erfasst werden. Dass das von Einzelnen nur eingeschränkt zu leisten ist, liegt auf der Hand; wir alle haben eine spezifische disziplinäre und methodische Ausrichtung, die auch 6 | Vgl. hierzu Haase 2002; Zitzlsperger 2010.
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– wenigstens im Kern – durchaus erhalten bleiben muss, will man seriös über das komplexe Thema reden. Als Kulturwissenschaftlerin verfolge ich einen kulturwissenschaftlichen, an Theorien des Performativen orientierten Ansatz, den ich im letzten Jahrzehnt in vielen Aufsätzen entwickelt habe und den ich, was nur auf den ersten Blick paradox scheint, ergänze durch hermeneutische Ansätze7. »Unter ›Performativität‹ verstehe ich die Prozesshaftigkeit kultureller Phänomene; die Inszenierung von Formen, Farben, Bewegungen im Hier und Jetzt, das Erzeugen und das Verschieben von Bedeutungen in und durch solche Inszenierungen, kurz: ein produktives und rezeptives Tun. Performativ ist also unser Umgang mit der Mode; die Kleidung selbst ist nicht performativ: Denn sie kann nicht handeln. Ihr performatives Potential besteht darin, dass sie Handlung und Bedeutungszuweisungen zu provozieren vermag und so Medium der Inszenierung bzw. der Selbstinszenierung ist. Sie benötigt die Inszenierung (im Alltag, auf dem Laufsteg, im Foto etc.), um überhaupt zur Mode zu werden; umgekehrt ist Mode unabdingbarer Bestandteil unserer alltäglichen Performances.« (Lehnert 2003, 216) Mein Bestreben richtet sich auf die Verbindung von Form-, Stil- und Funktionsgeschichte der Modekleidung mit kulturellen Praktiken des Modehandelns. Das heißt, ich verstehe Mode grundsätzlich als eine spezifische Form kulturellen Handelns auf den unterschiedlichsten sozialen und ästhetischen Feldern und Niveaus, und zwar auf der Produktions-, Distributions- wie Rezeptionsseite. Darin impliziert ist auch, was ich »Ökonomie und Ästhetik der Geschlechter« nennen möchte. In meiner Reflexion von Mode als performatives Phänomen betone ich besonders den Aspekt ästhetischen Handelns, so dass ich nur Seitenblicke auf die kommerzielle Seite werfe, die jedoch immer implizit mitläuft 8 . Dabei wird das phänomenologische Konzept von Atmosphäre9 und im Zusammenhang damit die das Materielle weit überschreitende imaginative Tätigkeit aller Modehandelnden wichtig, die vor allem in der Anthropologie der Dinge zentral ist 10. Hier werden materiell nicht greifbare Aspekte mit der Materialität der Modekleidung in Beziehung gesetzt. Zentral ist weiter das Verhältnis der vestimentären Artefakte zum lebenden Körper. Denn in dieser unauflöslichen Verbindung liegt die Bedingung der Mode.
7 | Vgl. auch Lehnert 2006a; Lehnert 2004a; Lehnert 2005a; vgl. zur Terminologie Erika Fischer-Lichte 2001; Fischer-Lichte 2012; Fischer-Lichte/Wulf 2001; Fischer-Lichte/Wulf 2004. 8 | Diese kann freilich durchaus auch unter dem Aspekt ästhetischen Handelns betrachtet werden, wie Joanne Entwistle in »The Aesthetic Economy of Fashion« (2009) zuletzt vorgeführt hat; damit ist jedoch ein anderes Konzept gemeint. 9 | Vgl. u.a. Gernot Böhme 1995 und 2001, Geimer 2005; natürlich Benjamin 1979. 10 | Siehe u.a. Appadurai 1986; Douglas 1992; Miller 1998, 2008, 2009; Hartmut Böhme 2006; Gudrun König 2009, Moebius/Prinz 2012.
Einleitung
Es geht mir also darum, jene Prozesse in den Blick zu nehmen, die in meiner Perspektive überhaupt erst Mode konstituieren, darüber hinaus aber auch kontextualisierende Interpretationen solcher Prozesse anzubieten. Gegenstände des Buches sind mithin vestimentäre Objekte und ihre Inszenierungen. Als Beispiel dienen oft Haute Couture und Prêt-à-porter (die beide bestimmte Grundprinzipien der Mode verdeutlichen) und die mit ihnen verbundenen Mechanismen der Produktion und Rezeption. Aber auch die Massenkonfektion und ihre spezifischen Funktionsweisen dürfen nicht ignoriert werden, denn sie sind es, die am häufigsten und täglich sichtbarsten in Alltagspraktiken transformiert werden. Den Objekten werden Bedeutungen und emotionale Werte auf sehr unterschiedliche Weise zugeschrieben; die Prozesse der Zuschreibung zähle ich zu den Inszenierungen, die sich je nach Niveau der Moden erheblich unterscheiden. Methodisch orientiere ich mich an der von Clifford Geertz (1987) so genannten »dichten Beschreibung«. Meine Arbeit ist angesiedelt auf der Schnittstelle zwischen Kulturanthropologie und Ästhetik (mit einem deutlichen Fokus auf materieller wie performativer Kultur, Stilgeschichte und performativen Identitätskonzepten). Das impliziert eine transdisziplinäre Perspektive, die wiederum Analogien in Stephen Greenblatts »New Historicism« (Greenblatt 1993) findet. Die Argumentation ist systematisch und historisch, d.h. sie entwickelt Thesen und belegt diese am Material aus der Geschichte der Mode – oder auch umgekehrt.
A UFBAU Im ersten Kapitel (»Mode als kulturelle Praxis«) werden grundsätzliche Positionen und Konzepte erläutert. Die folgenden Kapitel fügen sich zu einem Kaleidoskop, das unterschiedliche Aspekte des schillernden, sich in ständiger Veränderung immer neu formierenden Phänomens Mode in den Blick bringt. Kapitel 2 geht das Thema »Körper und Kleid« aus zwei unterschiedlichen Perspektiven an. Es widmet sich einerseits der grundsätzlichen Problematik des Verhältnisses von Körper und Kleid und der Frage, inwiefern Mode als eine Körpertechnik verstanden werden kann, ferner dem Verhältnis von Verhüllung und Enthüllung und dem damit zusammenhängenden Verhältnis von Selbst- und Fremdbild. Die performative Konstitution von (flüchtigen) Identitäten bildet einen Schwerpunkt, wozu seit längerem auch die Thematik Maskerade sowie die Frage nach einem vermeintlich dahinter verborgenen Authentischen gehört. Schließlich geht es um Mode als Schnittstelle zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, Innen und Außen. Andererseits wird in stärker stilgeschichtlicher Argumentation auf das für die Mode konstitutive Zusammenspiel von Belebtem und Unbelebtem fokussiert, d.h., es geht um die Materialität und Räumlichkeit der Kleider und der Körper im Zusammenspiel und um die These, das Mode grundsätzlich einem grotesken Impuls folgt. In diesem Kapitel geht es also schwerpunktmäßig um das, was modische Artefakte mit Menschen machen.
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In Kapitel 3 geht es demgegenüber mehr um die andere Seite des Modehandelns, also um das, was Menschen mit Artefakten machen. Diskutiert wird Mode als ästhetische (Alltags-)Arbeit, und zwar in produktions-, vor allem aber rezeptionsästhetischer Hinsicht, und das wird kontrastiert am Beispiel des »Kaufrauschs« mit der Mode als Konsumprodukt. Beide Aspekte implizieren die Erzeugung von Atmosphären, die zu einem Versprechen funktionalisiert werden; »Wunscherfüllung« ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Stichwort. Aufgeworfen wird auch die Frage nach dem grundsätzlichen Narzissmus modischen Tuns (seitens der Rezipierenden). Daran schließen sich Ausführungen zu zwei wichtigen »Bühnen der Mode« an, nämlich Läden und Museen, deren unterschiedliche Präsentationsweisen großen Einfluss auf die Wahrnehmung der Kleider haben. In diesem Kapitel steht also »Wahrnehmung« im Mittelpunkt und damit die psychischen und phantasmatischen Aspekte der Mode. Kapitel 4 stellt die die Mode antreibende Sehnsucht nach dem Anderen in den Mittelpunkt. Alterität wird verstanden 1. als das eigene Vergangene, das paradoxerweise als kulturelles Gedächtnis, aber auch als Illusion des Neuen dient; 2. als kulturelles Anderes (Ethnomoden) und 3. als ein Traum von Natürlichkeit, die der Artifizialität der Mode immer wieder entgegengesetzt wird. Zum Sprachgebrauch: »Mode« wird im Sinne meiner Definition als kulturelle Praxis im Sinne der Interaktion von Menschen und Dingen verstanden. Das hat verschiedene Ebenen, vor allem die des alltagskulturellen Handelns, aber auch die der künstlerischen Praxis. Ich verwende den Begriff »Mode« zuweilen auch – neben »Modekleidung« oder »Kleidermode« –, um die sich in Modekleidung manifestierende kulturelle Dynamik zu bezeichnen (Mode will, Mode macht …). Dank gebührt Maria Weilandt, die das Manuskript sehr sorgfältig Korrektur gelesen hat; ferner der Mode-AG, insbesondere Sonja Kull, Alicia Kühl und Katja Weise, für anregende Diskussionen.
Mode als kulturelle Praxis F OKUS 1: M ODE ALS D YNAMIK Mode ist im weitesten Sinne als Dynamik zu begreifen, die sich in unterschiedlichen Formen menschlichen Handelns und in Artefakten realisiert. Sie ist eine kulturelle Praxis im Sinne eines aktiven menschlichen Agierens mit Artefakten und via Artefakte mit anderen Menschen. Anders gesagt: Mode besteht nicht aus Kleidern und Accessoires, vielmehr sind diese nur ein materielles Angebot, das in Folge von komplexen Zuschreibungen, von Akzeptanz sowie Inszenierungen durch Einzelne und Gruppen kurzfristig zu Mode wird. Mode ist als Ergebnis des Zusammenspiels von Materialität, Design, Diskursen und Handlungen zu verstehen. Sie konstituiert sich in einem Prozess, in den Kleider, Körper, Wahrnehmung, ökonomische wie ästhetische Aktivität und Bedeutungszuweisungen verwickelt sind. Ihre Analyse bezieht sich also zwar auf die Artefakte als Bestandteil der materiellen Kultur1 , aber auch und vor allem auf diskursive Praktiken und auf Inszenierungs- und Aufführungspraktiken. Grundsätzlich ist also zu differenzieren zwischen Mode als einer übergreifenden Dynamik, die sich in verschiedenen Materialisierungen und Handlungen realisiert, und den konkreten Materialisierungen, z.B. Kleidern mit bestimmten ästhetischen Eigenschaften und sozialen Funktionen und den darauf bezogenen bzw. davon ausgelösten Handlungen (Modehandeln). Man könnte auch sagen, dass Mode als grundsätzliche Dynamik die vestimentären Objekte ergreift, ohne in ihnen begründet zu sein. Im Folgenden meine ich mit »Mode« die Kombination aus den spezifischen materiellen Artefakten und der sich in ihnen manifestierenden Dynamik, und wenn ich nur die Kleider oder nur die Dynamik meinen sollte, mache ich das kenntlich. Elena Esposito betont in ihrer systemtheoretischen Modeanalyse zu Recht, dass in den modernen westlichen Kulturen die Veränderlichkeit zum eigentlichen Inhalt der Mode geworden sei, Veränderung zur einzigen Stabilität, und dass die Mode den Zufall operationalisiere (Esposito 2004, 174). Ich wür1 | Zur Dingkultur liegt eine Fülle aktueller Studien vor; siehe hierzu die Literaturhinweise vor allem in Kapitel 2 und 3.
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de hier das Konzept der Emergenz ins Spiel bringen (Stephan 1999; Wägenbaur 2000), denn Emergenz schließt die Aktivitäten von unterschiedlichen Akteuren mit ein, was die Chance bietet, die Rolle der Modekonsumierenden zu berücksichtigen. Zur Mode als Dynamik gehört die Geschwindigkeit, mit der das Alte abgestoßen und Neues auf den Markt gebracht wird. Das modische Neue rekurriert stets auf das Alte, aber es de-kontextualisiert und re-kontextualisiert es, macht ständig neue ästhetische Angebote und funktioniert als soziales Zeichen nur in einem recht vagen Sinne. Denn eigentlich hat die Mode, wie schon Georg Simmel 1905 bzw. 1911 betont (Simmel 1983), keinen bestimmbaren Inhalt; ein solcher kann ihr nur kursorisch und immer wieder neu zugeschrieben werden. Und bereits 1863 deutet Charles Baudelaire im »Peintre de la vie moderne« (Baudelaire 1976) die Mode als Inbegriff der Moderne und bestimmt ihre spezifisch moderne Schönheit durch ihre gleichzeitige Teilhabe am Ewigen und am Ephemeren. Gilles Lipovetsky kann ein Jahrhundert später erklären, Mode sei die grundlegende Struktur der Modernität, es gebe kein Außerhalb der Mode. Mode gilt ihm als Strukturierungsprinzip des modernen Lebens: Geschwindigkeit, unaufhörlicher Wechsel, der Hunger nach dem immer Neuen, die Gier nach sinnlichen Reizen (Lipovetsky 1987). Ich möchte das modifizieren und sagen, dass eben diese Dynamik von Veränderlichkeit, des Emergierens und strategischen Produzierens neuer Produkte und Sinnesreize und last but not least der unstillbaren Sehnsucht nicht nur neue Kleider und Lebensstile, sondern untrennbar davon auch neue Mentalitäten hervorbringt, die in einer Kreisbewegung vorangetrieben werden von der Dynamik von Wunsch, Enttäuschung und neuem Wunsch (oder Begehren). Daraus leitet sich meine Überzeugung ab, dass Mode grundsätzlich als Phänomen in Bewegung zu betrachten ist, als Spannung zwischen Gegensätzen bzw. als die unablässige Oszillation zwischen verschiedenen Polen. Aufgrund ihrer zeitlichen Struktur ist sie ein Übergangsphänomen: aufgespannt zwischen gestern und morgen, ist sie flüchtige Gegenwart, niemals Dauer. Der Unterschied von Mode und Kleidung und spezieller auch dem, was man früher allgemein Tracht nannte, besteht im Wesentlichen darin, dass die Mode der Flüchtigkeit und dem schnellen Wechsel verschrieben ist und oft eine Neigung zur Verselbstständigung der Form aufweist, die Tracht sich demgegenüber langsamer ändert und mit dem Anspruch auf Stabilität und dauerhafte Identität verbunden ist. Dennoch unterliegen auch Trachten der Mode, sie übernehmen Trends der Mode, entwickeln eigene – und umgekehrt macht Mode immer wieder Anleihen bei Trachten oder, um es im globalen Maßstab zu sehen, bei ethnischen Stilen. Mit Nancy Troy könnte man sagen, dass Mode seit den 1860er Jahren (also seit Baudelaire) in Frankreich (und folglich dann auch in Europa) als »linguistic and discoursive system and a sign of contemporaneity« funktioniere, wohingegen Kleidung ihre traditionellen Aufgaben weiter erfülle, nämlich »of delineating status, class, and rank« (Troy 2003, 13). Diese Grundunterscheidung zwischen Kleidung und Mode leuchtet ein, muss jedoch insofern modifiziert werden, als auch
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Mode selbstverständlich immer Status und Klassenzugehörigkeit demonstriert. Allerdings geht es bei solchen Definitionen in Bezug auf Mode nie um absolute, sondern um relative Grenzziehungen. Als Zeichen von Gegenwärtigkeit funktioniert Mode tatsächlich erst in der beginnenden Moderne (und d.h., früher als von Troy konstatiert, nämlich ansatzweise bereits seit dem 17. Jahrhundert). Ab dann werden Nuancen wichtiger, Mode wird in Folge der Entwicklung einer bürgerlichen Kultur weniger status- als geschlechterorientiert; Individualität wird zum leitenden Interesse. Ingrid Loschek (2007) vertritt die These, dass die Grundsignifikanz der Mode nicht ihr ununterbrochener Wandel sei, sondern ihre soziale Dynamik von »In« und »Out«. Es sei die »Mehrwertigkeit der Kleidung und die Pluralität der Stile«, die Mode zeitgemäß mache. Ich würde dagegen halten, dass die soziale Dynamik von In und Out auch eine zeitliche Dynamik ist bzw. nur über die zeitliche Dynamik funktioniert bzw. dass hier zwei Dynamiken zusammenkommen und einander nicht nur stützen, sondern wechselseitig hervorbringen. Mode als Prinzip der Moderne: das verspricht unendliche Freiheit in der ständigen Abwechslung. Indessen schränkt dieses zutiefst kapitalistische Prinzip die individuelle Freiheit eher ein als sie freizusetzen, und es »impliziert auch, dass Mode unmittelbar verbunden ist mit den Machtstrukturen, die in den postkapitalistischen (Spaß- und Konsum-)Kulturen wirksam sind und unter anderem die Konstruktionen von Geschlechtern, soziale Schichtungen oder das Verhältnis von Regionalismus und Globalisierung regulieren.« (Lehnert 2008, 90)
F OKUS 2: Z EICHENSYSTEM M ODE Mode ist ein besonders wichtiges, da omnipräsentes soziales Zeichensystem; »eines der vielfältigsten, unveränderlichsten, ungreif barsten und doch hartnäckigsten Medien der Bedeutungsgenerierung, Bedeutungszuschreibung, aber auch der Dekonstruktion von Bedeutung. [...] Mode wird immer erst im Gebrauch mit einer Bedeutung versehen, die je nach Kontext sehr schnell wieder wechseln kann oder ohnehin uneindeutig bleibt. Es deuten sowohl die TrägerInnen als auch die BetrachterInnen.« (Lehnert 2003, S. 216-217) Von den BetrachterInnen wird Kleidung anderer immer als Zeichen rezipiert, entziffert, gedeutet. Sie löst entsprechende Reaktionen aus, auch wenn die Signale von den Trägerinnen und Trägern der Kleidung denkbar uneindeutig und oft nicht einmal absichtlich eingesetzt werden: aber die BetrachterInnen deuten sie zwangsläufig und gleichsam automatisch. Mode kann nie nicht bedeuten. Auch im Widerstand gegen Mode, in der Modeverweigerung, bleibt man auf Mode bezogen. Kommunikation erfolgt nur teilweise über Sprache; größere Anteile haben die Art und Weise, wie verbal kommunziert wird, und vor allem nonverbale Kommunikation wie Haltung, Darstellung etc., »kurz, Verhalten jeder Art«, wie Paul
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Watzlawik erklärt. Sein berühmtes Axiom lautet: »Man kann nicht nicht kommunizieren.« (Watzlawik 2007, 51 und 53) Das kann man – muss man – auch auf Kleidung beziehen. Modische Zeichen glaubt man meist bewusst einzusetzen, aber tatsächlich geschieht es häufig aufgrund eines impliziten – also nicht bewussten – Wissens, das Verhaltensweisen steuert. Die Wahrnehmung des Erscheinungsbildes der anderen läuft zunächst vorbewusst ab; wir reagieren, bevor wir es merken. Zur Erscheinung gehören Ausstrahlung, Aussehen, Körpersprache, Mimik, aber vor allem auch die damit korrespondierende, den Eindruck unterstützende, meist sogar hervorbringende oder auch damit im auffälligen Gegensatz stehende Kleidung. Was hier geschieht, ist die Produktion von Atmosphären, die in der Begegnung von Menschen und anderen Menschen oder auch zwischen Menschen und Dingen zustande kommen (ausführlicher dazu Kapitel 3). Das heißt, Mode kann niemals bedeutungsneutral sein, auch wenn man der Ansicht ist, dass man nur eben etwas übergeworfen hätte: die Betrachterinnen und Betrachter fassen die modische (oder auch unmodische) Erscheinung anderer sofort als Indikator für etwas auf – für Status, soziale Zugehörigkeit, Geschlecht, persönlichen Geschmack, modische Kompetenz. Aber auch vorübergehende, schwer greif bare aktuelle Stimmungen werden sofort abgelesen aus Erscheinung und Auftreten, zu der eben auch die Kleidung gehört. Es gehört zur kulturellen Kompetenz, Moden lesen oder erspüren zu können, zu wissen, was bestimmte Kleidungsstile in bestimmten Momenten bedeuten können. Es wäre freilich verkürzt, würde man Mode ausschließlich als soziale Zeichensprache deuten, die vor allem auf soziale Ein- und Ausgrenzung und die Sichtbarmachung individueller Identitätsformierungsprozesse zielt. 2 Das ist sie auch, aber sie ist viel mehr als das, da die modischen Zeichen nie eindeutig lesbar sind. Roland Barthes (1985) analysiert Mode als Kombination von Bild und Text (Ikonotext). Gemeint damit ist nicht mehr das Artefakt als solches, das Kleidungsstück, sondern die durch Zeichenkombination entstehende Idee, ein Signifikant, der erst einmal keine materielle Entsprechung hat. Mode bedeutet dann die Idee »Mode«. Das ist ein wichtiger Ausgangspunkt für die folgenden Annäherungen an Mode: Mode ist zwar an materielle Objekte gebunden, aber sie entfaltet sich als Mode vor allem als Idee oder besser noch: als Diskurs. Mode als Diskurs zielt nicht auf Schönheit, Feminität, Eleganz oder einen anderen konkreten Inhalt, sondern in wechselnden Konstellationen auf all das; Mode als Diskurs meint gerade, dass sie alles bedeuten kann, und vor allem: dass sie als Generator von Phantasien und Versprechungen funktioniert, wobei die Vorstellung von Flüchtigkeit und Neuheit ständig mittransportiert wird. Kurz, Mode als Idee fungiert als Matrix, die kulturelles und individuelles Handeln hervorbringt.
2 | Vgl. etwa Simmel 1983; René König 1985 und andere soziologische Analysen; ferner viele Ratgeber noch heute mit Titeln wie z.B. »How to Dress for Success« von Edith Head (2009).
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Seitdem es Mode gibt, ermöglichte sie ein solch breites Spektrum an Deutungsmöglichkeiten, dass man beispielsweise im Mittelalter zu Kleiderordnungen griff, um die sozialen und Geschlechterhierarchien modisch klar zum Ausdruck zu bringen. Dass solche Ordnungen stets unterlaufen, ignoriert oder raffiniert umgangen wurden, zeugt vom menschlichen Drang zur spielerischen und ästhetischen Gestaltung seiner selbst und der Welt, ein Drang, den man bei all seiner historischen, d.h. vor allem inhaltlichen Wandelbarkeit als anthropologische Konstante ansehen kann3 . Die Lust am Luxus des eigenen Körpers und der Lebensumgebung zieht sich durch die Jahrhunderte – und die Lust am Spiel, die am deutlichsten die beliebten Verkleidungsgeschichten bezeugen: Herren gehen als einfache Männer verkleidet unerkannt durch die Welt, Knechte geben sich als Herren aus, Frauen als Männer (vgl. u.a. Lehnert 1997). Aber das sind nur die Spitzen des Eisbergs. Meine These ist: Jeder Mode liegt ein ludischer Impuls zugrunde, ganz gleich, ob die Menschen sehr ernsthaft oder sichtbar experimentierend und verspielt mit ihrer Kleidung umgehen. Sich-Kleiden bedeutet, sobald man die Notwendigkeiten des Schutzes vor Umwelteinflüssen erledigt und die Mittel hat, sich Anderem zu widmen, immer auch: mit Formen, Farben, Atmosphären und Ideen spielen. »›Spiel‹ im Sinne von Roger Caillois (1960) ist nicht als Gegensatz zum Ernst zu verstehen, sondern es ist oft genug selber ernst; Spiel ist kein Außerhalb, kein vom Alltag abgesonderter Bereich, sondern vielfältig in den Alltag verwoben. Im Spiel kann ausprobiert werden, kann Neues entstehen, kann aber ebenso gut das Alte affirmiert werden. Auf dieser Prämisse kann Mode im Sinne von Kleidern verstanden werden als eines der wesentlichen Medien unserer kreativen Weltaneignung, Weltwahrnehmung und Weltgestaltung; Mode im Sinne unseres Umgangs mit Kleidung ist Vollzug, Inszenierung, Spiel, theatrales Ereignis. Mit Hilfe der Mode situieren und re-situieren wir uns – und sei es noch so flüchtig – einerseits sozial, als Individuen in einer Gemeinschaft, aber auch ästhetisch als Formen im Raum [...] und in der Zeit. Denn Mode bedeutet immer eine Ästhetisierung unserer Lebenswelt und natürlich unserer selbst. Ohne Zweifel: Mode ist ein soziales Phänomen, sie ist außerdem ein Konsumprodukt, das marktwirtschaftlichen Gesetzen gehorcht: Aber: Sie ist darüber hinaus ein ästhetisches Phänomen, dessen Bedeutung man für unsere Alltagsgestaltung nicht unterschätzen sollte.« (Lehnert 2003, S. 216-217; kursiv dort) Mode setzt mithin nur scheinbar (realiter höchstens in besonderen Fällen) auf kommunikative Eindeutigkeit. Modische Zeichen sind grundsätzlich ambivalent, weil sie immer auch ästhetische Zeichen sind und ihre Erzeugung und Verwendung eine Variante ästhetischer Arbeit darstellt. 4 Und obwohl Mode gelten kann als »dasjenige außersprachliche Zeichensystem, in dem sich die abendländische Profankultur seit dem Herbst des Mittelalters am überzeugendsten artikuliert« 3 | Zu kulturwissenschaftlichen Spielkonzepten vgl. u.a. Caillois 1960; Huizinga 1997; Gebauer/Wulf 1998. 4 | Zum Thema »ästhetische Arbeit« vgl. G. Böhme 1995; G. Böhme 2001.
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(Goebel 1986, 458), kann es in Ermangelung klarer Regeln und Grenzen nur im metaphorischen Sinne als »Sprache« bezeichnet werden (Davis 1992, 6).5 Ästhetische Arbeit hat immer einen ludischen Aspekt, und dieser impliziert eine grundsätzliche Offenheit, die folglich allen Moden eignet.
F OKUS 3: V OR AUSSE T ZUNGEN VON M ODE Mode im engeren Sinne eines beschleunigten Prozesses der gezielten Hervorbringung, Vermarktung und Konsumption immer neuer Modekleidung beginnt in traditionell abendländischer Perspektive mit der gesellschaftlichen Moderne. Im 17. Jahrhundert findet der Paradigmenwechsel von der stratifikatorischen zur funktional ausdifferenzierten modernen Gesellschaft statt. Mode sei ab dann, so Elena Esposito (2004, 10), beschreibbar als Zusammenspiel von Kontingenz und Nicht-Beliebigkeit. Im 18. Jahrhundert beschleunigt sich der Prozess; Industrialisierung, globaler Handel, Individualisierung und Verbürgerlichung bringen eine neue Auffassung von Mode hervor, die gleichermaßen Imitation der Aristokratie wie dezidierter Gegenentwurf zu aristokratischen Lebensformen und Stilen ist. Neue Produktions- und Distributionsformen sind dafür ebenso bedeutsam wie die dadurch teilweise erst ermöglichten neuen Weisen der Rezeption, ebenso Beschleunigung und Recycling. Die Lust auf Neues wird zum Motor der Mode wie der industriellen Kulturen, das ästhetische Experiment mit der eigenen zweiten Haut wird potentiell zum Selbstzweck. Die Zahl der Konsumierenden wächst rasant; Mode wird dominanter Faktor des alltäglichen Lebens und schließlich kulturelle Matrix, die Identitäten unterschiedlichster Art hervorbringt und nicht zuletzt die Geschlechter trennt: Mode wird seit der Verbürgerlichung im 18. Jahrhundert Frauensache und damit – bei steigender Bedeutung – immer mehr als Oberflächlichkeit abgewertet. Freilich ist das eine eingeschränkte – eurozentrische – Sicht auf das globale Phänomen Mode, die vor allem heuristisch nützlich ist. Auch vorher, etwa im Mittelalter, kann man schon von Mode sprechen, wenn man konzediert, dass sie sich auf eine sehr kleine Schicht Privilegierter beschränkt. Und wenn man von dem engen westlichen Modell abrückt, wird klar, dass man durchaus nicht nur in früheren Epochen Europas, sondern auch in anderen, nicht-westlichen Teilen der Welt, in denen andere Produktions- und Konsumbedingungen herrsch(t)en, von Mode sprechen kann, etwa im China der Tang-Dynastie.6 Das heißt, dass 5 | Nur in Literatur, Film und Theater werden modische Zeichen eindeutig lesbar eingesetzt, weil sie nötig zur Charakterisierung sind. Kleider im Film, nicht anders als in anderen fiktionalen Genres, »primarily work to reinforce narrative ideas. [...] But primarily costumes are fitted to characters as a second skin, working in this capacity for the cause of narrative by relaying information to the viewer about a ›person‹« (Gaines 1990, 181). 6 | Ko 2005; Ko mit BuYun Chen 2009.
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das westliche Modell überdacht und revidiert werden muss.7 Hinzu kommt die Wechselseitigkeit, mit der Moden aus aller Welt sich gegenseitig inspirieren, mit der Techniken, Stile und Einzelelemente übernommen und vereinnahmt werden oder auch sich zu hybriden Neubildungen formieren, die sich nicht mehr mit traditionellen Kennzeichnungen wie orientalistisch, exotisch oder westlich fassen lassen. Mode ist seit dem 17. Jahrhundert zunehmend ein globales Phänomen geworden mit sehr unterschiedlichen zeitlichen und regionalen Ausprägungen und keineswegs beschränkt auf die gesellschaftliche Moderne Europas. Grundsätzlich unterschiedliche Konzepte von Originalität und Autorschaft werfen beispielsweise die Frage auf, ob China wirklich nur ausführendes Produktionsland für andere und Hersteller von weltweit verkauften Imitaten oder nicht doch längst zum aktiv handelnden Modeland avanciert ist.8 Als Konstanten oder zumindest notwendige Bedingungen von Mode innerhalb eines offeneren und flexibleren Konzepts, das für unterschiedliche Kulturen und Zeiten zutrifft, zählen: ästhetisches Vergnügen an Kleidern und Schmuck, das über deren Nutzen und Fähigkeit, Status zu repräsentieren, hinausgeht; eine Lust an der Selbstinszenierung (im Sinne eines »self fashioning«) und schließlich, wenn auch weniger dominant als das dem europäischen Modell eingeschrieben ist, eine gewisse Offenheit gegenüber dem Wandel, auch wenn sich dieser langsam vollzieht. Ich bleibe im Folgenden, wie angedeutet, aus heuristischen Gründen bei dem europäisch-modernen Konzept von Mode, weil es einen in sich einigermaßen kohärenten Ausschnitt aus der globalen Mode darstellt, an dessen Beispiel man typische Dynamiken und Funktionen von Mode in der überbevölkerten, industrialisierten modernen Konsumkultur erkennen kann, die sich derzeit rasant weltweit ausbreitet.
F OKUS 4: A LT UND NEU Das Neue in der Mode entsteht auf zwei Ebenen, der materiellen und der diskursiven. Mit der materiellen ist schlicht die Produktion neuer Güter für den Markt gemeint. Neu ist also die Herstellung von Dingen in einem Produktionsprozess, der nie zum Erliegen kommen darf, damit der Konsum immer weiter angeheizt werden kann. Diese Güter müssen nicht »neu« im Sinne von originell oder »noch nie da gewesen« sein. Sehr selten sind sie es. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Überzeugung, es gebe ein ganz und gar Neues in Kunst oder Design oder Wissenschaft, spätestens seit der Postmoderne ausgedient hat. Damit 7 | Einige grundlegende Veröffentlichungen dazu sind: Riello/Roy 2009; Riello/Lemire 2008; Riello/McNeil 2010; Niessen/Leshkowich/Jones 2003; ferner die von Nirmal Puwar/ Nandi Bhatia 2003 herausgegebene Sondernummer der Fashion Theory, Vol. 7, Issues 4 and 4; sehr informativ auch Brand/Teunissen 2006. 8 | Siehe Segre Reinach 2005; Segre Reinach 2006.
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verbunden ist der Verlust der Genie-Ästhetik, die sich in Europa seit der Romantik gegenüber den älteren Imitatio- und Emulatio-Konzepten durchsetzte und in der Modewelt im 19. Jahrhundert mit der Entstehung der Haute Couture durch Charles Frederick Worth Erfolge feierte (Lehnert 1998 a und b). »Das Neue in der Moderne ist nicht mehr das Resultat einer passiven, unfreiwilligen Abhängigkeit vom Zeitwandel, sondern Produkt einer bestimmten Forderung und einer bewussten Strategie, die die Kultur der Neuzeit beherrschen. [...] Mit dem Alten zu brechen ist keine freie Entscheidung [...], sondern lediglich die Anpassung an die Regeln, die das Funktionieren unserer Kultur bestimmen.« (Groys 1992, 10/11)
Die Krise der Originalität in der Moderne ist in der Postmoderne insofern überwunden, als sie das Konzept von Originalität zugunsten von Zitationen und Montagen längst aufgegeben bzw. umgedeutet hat. In Kunst und Ästhetik hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass Originalität heute darin besteht, das Alte klug und phantasievoll zu variieren. Denn: »[...] wer sind wir denn, wer ist denn jeder von uns, wenn nicht eine Kombination von Erfahrungen, Informationen, Lektüren und Phantasien? Jedes Leben ist eine Enzyklopädie, eine Bibliothek, ein Inventar von Objekten, eine Musterkollektion von Stilen, worin alles jederzeit auf jede mögliche Weise neu gemischt und neu geordnet werden kann.« (Calvino 1991, 165)
Grundsätzlich gilt: Damit ästhetisch Neues vom Publikum akzeptiert wird, muss es ein genügendes Maß an Vertrautem, Bekanntem aufweisen, und genügend Abweichung, genügend Neues, um interessant zu sein. Das nur Fremde oder Neue schreckt ab, das nur Bekannte langweilt. Das zielt oft weniger auf künstlerische Qualität, sondern – vor allem in der Massenmode – auf Befriedigung des durch das Modesystem angeheizten Wunsches nach Abwechslung. Je anspruchsvoller sich aber ein Label im Hinblick auf Design präsentiert, desto größer die Chance, dass es auch eine ästhetische Qualität bietet, die ein fundiertes Urteil über die Qualität des Designs erlaubt. Abgesehen davon hängt das Neue in der Mode viel weniger am Materiellen, als man glauben möchte, auch wenn Modemacher immer wieder von sich behaupten, sie schüfen andauernd etwas bislang noch nie Dagewesenes. Das stimmt für einige Avantgardisten, wie etwa Rei Kawakubo von Comme des Garçons, und auch dann nur für eine gewisse Periode (und abhängig vom jeweiligen Publikum), bis Grundideen des Designs sich wiederholen, von anderen nachgeahmt werden – und bis die Gewöhnung des Publikums eintritt. So haben Comme des Garçons, Yamamoto, Margiela und andere, vor allem dekonstruktive, ModemacherInnen, die anfangs radikal und unimitierbar schienen, die europäischen Wahrnehmungsgewohnheiten im Bereich der Mode drastisch verändert. Seither sind offen liegende Nähte, Bauschungen und Raffungen und Asymmetrien jeder
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Art – wenn auch in unterschiedlichem Maße – üblich in fast allen modischen Segmenten. Und am Ende steht der Modegigant H&M, der seit einigen Jahren Kooperationen mit den bedeutendsten zeitgenössischen Modesignern abschließt. Diese produzieren eine besondere Kollektion für die Kette, die ab einem bestimmten Tag in ausgewählten Filialen weltweit – die ausnahmsweise bereits um acht Uhr morgens öffnen – verkauft wird. Vorher werden sie derart massiv beworben, dass ein Run auf die Kleider der ansonsten eher von einem ganz anderen Publikum geschätzten und getragenen Designer einsetzt und das Ganze einen Eventcharakter sondergleichen gewinnt – und der Eindruck entsteht, dass H&M eine Luxusmarke wäre. Hennes & Mauritz hat es fertig gebracht, neben anderen auch die für den Massengeschmack sperrigsten Designer Rei Kawakubo, Viktor & Rolf und Martin Margiela als Kooperationspartner zu gewinnen. Während die meisten spezielle, quasi abgespeckte Kollektionen entwarfen, präsentierte die Maison Martin Margiela im November 2012 Re-Editions der Erfolgsstücke älterer Kollektionen – ein Geniestreich. Denn nun konnte man sich, wenn man in der Warteschlange einen Time Slot ergattert hatte und entsprechend später Zugang zum Laden bekam, während 15 Minuten den Duvet Coat von 1999/2000 kaufen9, einen Blazer aus der Kollektion Herbst/Winter 2005/2006 oder ein rotes Kleid vom Sommer 2003, dessen eine Seite von innen nach außen geschlagen und an der Schulter befestigt war. Die Modell waren längst klassisch oder sind es durch diese Aktion geworden, und man hätte sie ansonsten nie wieder haben können. Damit wird auch ein Prozess in Gang gesetzt, der eigentlich die Vergänglichkeit der Mode in Frage gestellt: denn die Designerstücke werden als brandaktuelle Originale verkauft, obwohl oder gerade weil sie Re-Editions von vor 10 oder 15 Jahren sind 10. Ingrid Loschek unterscheidet zwischen Invention und Innovation. Inventionen »umfassen neuen Ideen vor der Phase der Vermarktung«, sie äußerten sich als Entwurf, also Zeichnungen, Modelle und auch noch die auf den Laufstegen gezeigten Kollektionen (Loschek 2007, 42). Erst »aus der verkäuflichen Umsetzung« ergeben sich Innovationen. Der Unterschied sei der zwischen Erfinden und Umsetzen (Loschek 2007, 105). Das leuchtet nur ein als pragmatische Unterscheidung zwischen Phasen der Designentwicklung, nicht aber als Begründung des Neuen in der Mode. Loschek setzt als den Ursprung von Inventionen den »schöpferischen Experimentierdrang« der Menschen und erklärt, Inventionen werden zu Innovationen durch die schöpferische Zerstörung und die Evolution als Auf bau von Neuem auf der Basis des Vorhergegangenen. Die Voraussetzung ihrer Argumentation ist die problematische Überzeugung, dass die menschliche Kreativität und die Genialität einzelner Designer oder Stylisten immer wieder Neues im Sinne einer in den Dingen selbst liegenden Neuheit hervorbringen kön9 | Siehe zum Originalmantel unter anderem Katharina Tietze 2012, 253-260. 10 | Nichts anders geschieht schon viel länger im allgemeinen Design. Die WagenfeldLampe wird seit vielen Jahren als Original verkauft, ebenso wie der Eames Chair oder die Pontone Chairs und viele andere wertvolle Stücke.
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ne. Demgegenüber meine ich mit Boris Groys, dass die Innovation nicht darin besteht, »dass etwas zum Vorschein kommt, was verborgen war, sondern darin, dass der Wert dessen, was man immer schon gesehen und gekannt hat, umgewertet wird« (Groys 1992, 14). Auf der immateriellen Ebene ist das Neue nichts als eine diskursive Hervorbringung. Neuheit wird den Dingen als Qualität zugeschrieben, und zwar vom Moment des Entwurfs an. Wenn Mode durch den Zwang zur Neuheit definiert wird, dann muss diese Neuheit ständig neu produziert werden, und da das materiell nur sehr begrenzt möglich ist, greifen Zuschreibungsstrategien. Im Sinne der Sprechakttheorie John Austins (Austin 1979) handelt es sich um illokutionäre Sprechakte: Ein Designer behauptet, seine Kollektion biete etwas ganz und gar Neues, und präsentiert sie auf dem Défilé als neu (Kühl 2012). Das ist zunächst nichts als eine Behauptung und als solche zugleich die Aufforderung an andere, daran zu glauben und Handlungen daraus abzuleiten. Die Medien rezipieren und verbreiten die Auffassung und loben die Neuheit der Kollektion von X (oder der neuen Moden der Saison allgemein), die Einkäufer kaufen sie ein und fügen sie dem Sortiment ihrer Läden hinzu. Wenn schließlich die Konsumierenden überzeugt sind und die Kleider als die neue Mode kaufen und tragen, führen sie die Zuschreibungs-Handlung weiter und bestätigen zugleich die illokutionären Akte der anderen, die auf diese Weise (denn das Neue wurde ja wirklich als Neues gekauft, also akzeptiert) zu perlokutionären Akten werden. Die diskursive Setzung hat etwas produziert, was materiell nur eingeschränkt vorhanden war: das Neue als Qualität von Dingen. Ein zentraler Punkt in Austins Sprechakttheorie ist, dass diejenigen, die durch Sprache handeln, dazu autorisiert sein müssen. Wenn ein Kind im Spiel zu einem anderen sagt: »Ich taufe dich auf den Namen …«, ist keine Taufe vollzogen. Tut es hingegen ein Priester, wird durch den Satz eine Handlung vollzogen und Wirklichkeit geändert. Wer hat nun im Bereich Mode die Autorität, das Neue zu behaupten und in die Welt zu bringen? Alle. Zunächst natürlich die Designer und alle diejenigen, die in der Modeindustrie arbeiten (oder im Fashion System), dann aber auch alle KonsumentInnen, denn ohne ihre Abstimmung durch den Kauf und das Tragen der Stücke würde nichts zu Mode werden. Die Konsumierenden entscheiden mit, ob etwas für eine gewisse Zeit Mode wird oder nicht, was In ist und was wann Out ist. Im Bereich Mode sind mithin alle autorisiert, wenn auch in unterschiedlichem Maße und mit unterschiedlichem Transformationspotential. Natürlich hat die Äußerung der Moderedakteurin einer großen Hochglanzmodezeitschrift mehr Nachdruck als der Kauf einer einzelnen Kundin. Aber ohne das kollektive Handeln vieler KundInnen würde nicht viel passieren – wenngleich die KonsumentInnen vorab natürlich von den Urteilen der Moderedakteurin oder den Entscheidungen der Einkäuferin des großen Luxus-Warenhauses beeinflusst worden sind. Nicht nur beeinflusst, sie sind davon abhängig, um überhaupt zu erfahren, was in Frage kommen könnte, auch wenn der Zugang zu modischen
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Informationen heute viel einfacher für alle geworden ist, die über einen Computer verfügen und sich alle Schauen online anschauen können. Allerdings ist es mit dem Kaufen nicht getan. Kleider im Kleiderschrank sind verschenkte Chancen, so viel Freude sie der Besitzerin auch durch ihren bloßen Besitz zu bereiten vermögen. Um öffentlich wirksam zu sein, müssen sie aktiviert werden. Sie müssen von der Besitzerin aufgeführt und von anderen wahrgenommen werden, um imitierbar zu sein oder auch, um im Gegenteil die Absetzung und Wahl eines anderen Stil zu ermöglichen. Inszenierung und Wahrnehmung sind Schlüsselkonzepte von Mode als Alltagspraxis.
F OKUS 5: M ODESYSTEM Wie Design generell ist Mode in noch höherem Maße als andere ästhetische Objekte oder Prozesse (Kunst, Theater …) in eine komplexe Maschinerie von Institutionen eingebunden, die das System Mode konstituieren und die mit einer Vielzahl ausgeklügelter Strategien von Zuschreibungen durch Werbung und Vermarktung überhaupt erst als Mode präsentieren, was vorher nur materielles Objekt ist. Die Genialität einzelner ModeschöpferInnen vermag wenig, wenn sie nicht Zugang zu diesem System finden. Sie werden aber benötigt, um die von den Institutionen mindestens saisonal verlangten neuen ästhetischen Gestaltungen zu kreieren, um den Markt zu bedienen. Man kann diese Maschinerie Modesystem nennen. Zu ihm gehören unter anderem Trendforscher, Modefirmen, Modemacher, Modezeitschriften und Blogs, Einkäufer, Verkäufer, kurz: die gesamte Modeindustrie, die dazu beiträgt, dass Kleidern erstens die Qualifikation »Mode« und zweitens bestimmte ästhetische und emotionale Werte zugeschrieben werden. Yuniya Kawamura argumentiert in »Fashion-ology« (2005)11 im engeren soziologischen Sinne systemtheoretisch und meint mit Mode ein System von Institutionen, das einerseits das Konzept und andererseits das Phänomen bzw. die Praxis Mode schafft. Auch sie trennt Mode als Struktur und Mode im Sinne der Artefakte. Das System verwandle Kleider in Mode, bestimme darüber, was Mode sei und wer als Designer Zugang zum System erhalte und wer nicht. Das trifft zwar im Prinzip zu, jedoch bleiben Kawamuras Thesen impressionistisch, da weder genügend ausgeführt noch belegt, und sie schränkt das System auch – m.E. nicht mehr zeitgemäß – viel zu ausschließlich auf die französische Haute Couture ein. Dass diese mächtig ist, steht außer Zweifel; dass sie heute noch die geradezu diktatorische Macht besitze wie bis Mitte des 20. Jahrhunderts, scheint mir hingegen zweifelhaft angesichts der beschleunigten Globalisierung der Mode und der zunehmenden Bedeutung von Mailand, New York, London und vielen Städten 11 | Präziser ist Kawamuras zweites Buch (beide Teile waren Bestandteile der Dissertation) über The Japanese Revolution in Paris Fashion, 2004.
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weltweit, die längst ihre eigenen Fashion Weeks durchführen. Schließlich finden in Kawamuras Ausführungen die Konsumierenden nicht genügend Berücksichtigung, allerdings ist das auch nicht ihr Thema. Konsequenter systemtheoretisch argumentiert Elena Esposito. Sie beschreibt Mode als ein gesellschaftliches Teilsystem, das sich in der bürgerlichen Moderne mit dem Übergang von stratifikatorischen zu funktionalen Ordnungen ausgebildet hat, »ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium« bzw. eine auf der »Beobachtung zweiter Ordnung« basierende »Operationalisierung der Paradoxien der Kontingenz« (Esposito 2004, 31 und 165). Joanne Entwistle (2009) spricht demgegenüber mit Bezug auf die ökonomische Soziologie von einem »aesthetic market«, auf dem die »commodification of an aesthetic quality« durch die Modeindustrie und ihre Mittlerfiguren wie Models und ModeinkäuferInnen betrieben werde. Ich verwende zwar zuweilen kursorisch den Begriff »Modesystem«, jedoch nicht im strengen systemtheoretischen Sinne, sondern eher, um die Gesamtheit der Personen, Handlungen und Institutionen unterschiedlichster Art zu bezeichnen, die mehr oder weniger systematisch dazu beitragen, dass Kleider Mode werden.
F OKUS 6: M ODISCHES A LLTAGS -H ANDELN Darüber hinaus spielen die Konsumentinnen und Konsumenten eine ganz entscheidende Rolle, damit Mode überhaupt Mode sein kann. Aus heuristischen Gründen subsumiere ich sie nicht unter das Modesystem, denn sie sind die andere, notwendige Seite der Mode. Ihre Alltagspraktiken geben letztlich den Ausschlag dafür, welche Trends, Stile, welche Kleider zu Mode werden. Oft genügt die Behauptung der Neuheit oder einfach eine andere Farbe oder schlicht der Jubel der Zeitschriften und Blogs, um das breitere Publikum an die Neuheit der neuen Mode glauben zu lassen. Die KonsumentInnen nehmen dann Kleider als Mode an, aber sie können sie auch umfunktionalisieren oder ablehnen. Ganz wesentlich ist: Sie inszenieren die Mode-Kleider und geben ihnen einen Körper und Bewegung. Das alles tun sie in (realen und virtuellen) Räumen, die erheblichen Einfluss auf Moden haben und selbst Moden unterliegen 12 . Das setzt voraus, dass die KonsumentInnen auf die ästhetische Gestaltung zu reagieren vermögen, was ihre ästhetische Sensibilität und Kompetenz (bzw., wie oben skizziert, ästhetisches implizites wie explizites Wissen sowie emotionale Offenheit) voraussetzt. Die Reaktion auf ein vestimentäres ästhetisches Angebot impliziert, dass die vestimentären Artefakte nicht nur als soziale Zeichen 12 | Vgl. dazu die von mir im Kulturforum Berlin durchgeführte Tagung »Die Räume der Mode«, 5.-7. Mai 2010 sowie die daraus resultierende Publikation (Lehnert 2012a); ferner Potvin 2009; Gaugele 2005 und 2006; Schlittler/Tietze 2009.
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gelesen werden, sondern einen ästhetischen und vor allem auch affektiven Wert zugeschrieben bekommen – sowohl von der Modeindustrie wie von den Konsumierenden. Das heißt, es wird ein ansprechend gestaltetes Angebot gemacht und von den Vermittlern wie Modezeitschriften und schließlich den Konsumierenden angenommen, und zwar aufgrund der notwendigen Empfänglichkeit für bestimmte ästhetische Reize und aufgrund des impliziten und expliziten Wissens der Konsumierenden. Ungeachtet aller Strategien der Marktsteuerung ist der Mode ein starkes Moment der Unvorsehbarkeit, der Kontingenz eigen, denn letzten Endes bleibt unvorhersehbar, welche Moden sich in einer Saison in welchen sozialen Gruppierungen und auf welchem materiellen, ästhetischen und ökonomischen Niveau durchsetzen und welche alternativen und vielleicht subversiven Moden sich demgegenüber außerdem unerwartet ausbilden. Das heißt, dass man heute grundsätzlich von einer Vielzahl von Moden sprechen muss. Die eine Mode gibt es längst nicht mehr. Bekanntlich sind Trend Scouts im Auftrag der Modefirmen unterwegs, um herauszufinden, welche Kleider, Accessoires von wem, wann und wie getragen werden; sie geben ihre Informationen an die Modehäuser weiter, die sich – seit den 60er Jahren – zunehmend an dem orientieren, was »auf der Straße« getragen wird. So sind die sogenannten Street Styles durch Blogs immer wichtiger geworden: Fotos von Menschen auf den Großstadtstraßen, die Bloggern auffielen und von ihnen fotografiert und ins Netz gestellt wurden (heute sind das keine Zufallsfunde mehr, sondern gezielte Inszenierungen). Auf diese Weise wurden kühne Kombinationen und schräge Alltagsinszenierungen zu Vorbildern. Erinnert man sich daran, dass schon die Modezeitschriften des 18. Jahrhunderts ihre Leserinnen wissen ließen, wenn sie eine besonders interessant und neuartig gekleidete Dame gesichtet hatten, scheint dieses Verfahren gar nicht mehr so neu. Wie sich bestimmte Moden im Verkauf durchsetzen, erläutert Joanne Entwistle (2009) in einer sehr aufschlussreichen mikrosoziologischen Studie des Einkäuferverhaltens großer Modehäuser. Die EinkäuferInnen treffen sich regelmäßig bei Fashion Weeks, sie nehmen mit allen Sinnen auf, wer was wie gerade angesagt ist; sie müssen selbst bestimmte Regeln erlernen, was ihr Auftreten und Verhalten in diesen Kontexten angeht. Am Ende ergeben sich aus ihrem Modewissen und – vereinfacht gesagt – bestimmten Atmosphären und Gruppendynamiken die Entscheidungen. Zugrunde liegt hier, wie auch im Verhalten der Konsumierenden, ein wachsendes und sich dauernd neuen Verhältnissen anpassendes implizites Wissen, ein Wissen also, das nur teilweise in Regeln und Rationalisierungen zu fassen ist, sondern auf Handeln, Verkörperung und Verinnerlichung basiert (siehe dazu Kap. 1.8). Dieses Wissen ist keineswegs nur ein wirtschaftliches Wissen, sondern vor allem auch ein ästhetisches Wissen. Das heißt, Mode realisiert sich als ästhetische Arbeit in kulturellen Handlungen, und zwar sowohl was die Produktion wie was die Rezeption angeht – also die Herstellung wie den Umgang mit Kleidern, d.h., in Alltagshandlungen. Damit etwas Mode werde, bedarf es eines
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kurzfristigen Konsenses des Publikums13 (das auszudifferenzieren ist, ebenso wie die unterschiedlichen Niveaus von Mode). Nachahmung und leichte Modifikation des Nachgeahmten: das macht Mode aus. Denn Mode wird nur das, was viele tragen, aber wenn zu viele das gleiche auf gleiche Weise tragen, ist Uniformität das Ergebnis14 . Die Mode als spezifisch modernes Phänomen bedarf aber zumindest der Illusion von Individualität, um zu funktionieren.
F OKUS 7: N ACHAHMUNG , S ELF F ASHIONING UND L IFEST YLES Damit etwas Mode werde, bedarf es also des Konsenses eines Publikums 15 , das sehr wohl nur eine kleine Gruppe umfassen kann, die sich wiederum u.U. nur sehr kurzfristig zusammenfindet und auch im Hinblick auf den unterschiedlichen sozialen Status auszudifferenzieren ist, ebenso wie die unterschiedlichen Niveaus bzw. Segmente von Mode. Der Drang zur Individualisierung durch Nachahmung ist das immer wieder beschworene Paradox der Mode. Abschließung nach außen, Differenzierung im Inneren der (unter Umständen ephemer zusammengesetzen) Gruppe gilt nicht erst seit Simmel als wichtigste Funktion der Mode. Aus diesem Grunde widerspricht die Nachahmung auch nur scheinbar der These, dass Mode wesentlich mit »self fashioning« zu tun habe, was zumindest einen minimalen Grad von Individualität oder Selbstgenuss voraussetzt. Ohne zumindest die Illusion von Individualität würde moderne Mode nicht funktionieren. Diese aber ist innerhalb der jeweiligen Gruppen durchaus realisierbar. Tatsächlich aber ist Nachahmung ein wesentlicher Motor von Mode, ebenso die dazu gehörende Illusion, die auf komplexen kognitiven und emotionalen Prozessen der Imagination und der Verdrängung basiert. Die Nachahmung wird getrieben vom Drang nach dem Neuen und ganz Anderen und der Illusion, dass dieses mit Hilfe materieller Güter, speziell solcher, die auf dem Körper getragen werden, erreichbar sei und das Individuum unverwechselbar und ganz besonders mache. Dieser Aspekt ist in der westlichen Moderne bedeutend, trifft aber für prämoderne Epochen oder Kulturen nicht oder nur eingeschränkt zu. So definieren sich Lebensstile ebenso wie sogenannte Subkulturen stark über Mode und machen darüber ihre mehr oder weniger zelebrierte Gruppenidentität nach außen sichtbar. Sie können daher als Paradigma für die Thematik gelten. Wie lassen sich Subkulturen und Lifestyles unterscheiden? Lifestyles oder Lebensstile (der Begriff wurde von Max Weber eingeführt, Weber 1985) gehen 13 | Vgl. Simmel 1983; Loschek 2007. 14 | Dieses Thema taucht in allen Modetheorien seit dem 18. Jahrhundert auf und wurde kürzlich von Elena Esposito (2004) besonders prägnant neu formuliert und zum Kern ihrer Systemtheorie entwickelt. 15 | Vgl. Simmel 1983; vgl. auch König 1985.
Mode als kulturelle Praxis
heute oft in Konsumstilen auf. Allerdings umfassen sie mehr als das, nämlich die Bildung von (Gruppen)Identitäten aufgrund der Entwicklung gemeinsamer Interessen, Gewohnheiten und eines gemeinsamen Geschmacks (Featherstone 1991). Das, was für Mode charakteristisch ist, trifft auch auf Lebensstile zu: Sie grenzen nach Außen ab und differenzieren im Inneren. Und wie die Mode, die für sie unverzichtbar ist, können auch sie als eine Form ästhetischer Praxis beschrieben werden. Lifestyles strukturieren und ritualisieren das gesellschaftliche Leben, sie dienen der Konstitution nicht nur der individuellen, sondern auch der kulturellen Identität und damit zugleich des Ausschlusses anderer Identitäten. Sie sind aber immer auch eine Weise, das eigene Leben ästhetisch zu gestalten, ganz gleich welche Geschmacksnormen von welcher Gruppe gerade ausgebildet oder verworfen werden. Und sie sind, wie oben erwähnt, abhängig von Dingen, denn Lifestyles basieren auf der Möglichkeit, Objekte zu konsumieren, um damit das Leben auszustatten, gleichsam (bzw. oft auch buchstäblich) zu möblieren. Insofern sind Lifestyles immer auch Konsumstile, oft werden sie ganz und gar damit gleichgesetzt 16. Auch wenn diese Gleichsetzung zu kurz greift, um Lifestyles grundsätzlich zu beschreiben, so machen Konsumstile doch einen immer größeren Teil davon aus. Für Pierre Bourdieu (1974 und 1987) demonstrieren und konstituieren Lifestyles ausschließlich sozialen Status und Klassenzugehörigkeiten; sie äußeren sich in Arten des Konsums von Gütern, und ihr Ziel ist Distinktion. Dafür werden je nach Klasse und Status unterschiedliche Formen von Kapital eingesetzt: das ökonomische, also materieller Wohlstand, das soziale Kapital (Beziehungen zu anderen), das kulturelle Kapital (Bildung und Titel, kulturelle Güter wie Bücher, Wissen und kulturelle Fähigkeiten) und schließlich das den anderen übergeordnete symbolische Kapital, das sich in der Anerkennung von Kleidung, Sprache, Akzent, Bildung, Manieren und Geschmack manifestiert. Geschmack biete sich als »bevorzugtes Merkmal von ›Klasse‹ an« (Bourdieu 1987, 18). Das symbolische Kapital basiert auf sozialer Anerkennung und reguliert die Art der Verwendung der ökonomischen Güter, indem »eine Manier, die Form einer Handlung oder eines Gegenstandes auf Kosten ihrer Funktion in den Vordergrund tritt« (Bourdieu 1974, 60). Die symbolischen Handlungen verleihen demnach »stets der sozialen Stellung Ausdruck, und zwar gemäß einer Logik, die eben die der Sozialstruktur selbst ist, d.h. der Unterscheidung« (Bourdieu 1974, 62). Bestimmte Arten der Verwendung von Kleidern und Schmuck – oder auch der Sprachgebrauch – führen »Unterscheidungsmerkmale in die Gesellschaft ein oder verleihen diesen als Zeichen oder Insignien der Lage oder Funktion innerhalb der Gesellschaft Ausdruck«. Für die Subjekte haben die Regeln, die so entstehen, gleichsam absolute Bedeutung (Bourdieu 1974, 73). Sie entwickeln einen Habitus, der Individualität und Kollektivität (Bourdieu 1974, 132) vermittelt bzw. »kollektives Erbe in ein sowohl individuell wie kollektiv Unbewusstes« verwandelt (Bour16 | Vgl. z.B. Barber 2007; Ullrich 2006.
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dieu 1974, 139). Der Habitus funktioniert als eine Art »generativer Grammatik der Handlungsmuster« (Bourdieu 1974, 150), d.h., er gibt eine Grundstruktur vor, die mehr oder weniger individuelle Realisierungen ermöglicht. Kleidung gehört zu den wichtigsten konsumierbaren Dingen, da sie tagtäglich unmittelbar auf dem Körper getragen wird, das Körpergefühl verändert und die Selbstwahrnehmung ebenso wie die Wahrnehmung von anderen Menschen stärker bestimmt als alles andere. Insofern ist sie für die Schaffung von Lebensstilen unverzichtbar. Kleidermode ist deshalb mehr als integrales Element von Lebensstilen: In ihr verdichten sich sämtliche Tendenzen, die eine Kultur zu einem bestimmten Zeitpunkt ausmachen. Die Kleidermode trägt zur Entstehung unterschiedlicher Stile und Identitäten Entscheidendes bei und macht sie dann anschaulicher und spürbarer als alle anderen Bereiche des Lebens; sie prägt Bilder und Selbstbilder, Gefühle und Verhaltensweisen. In ihr kristallisieren sich Lifestyles. Angelehnt an Stephen Greenblatts Kulturpoetik 17 könnte man sagen, dass sich in der Mode besonders viel soziale Energie verdichtet. Sie besteht aus Artefakten mit einem ästhetischen Überschuss, die von Menschen auf dem Körper getragen werden und die sowohl nach innen (auf das eigene Selbstgefühl) wie nach außen (Kommunikation mit der Umwelt) wirken, ja in konstitutiver Wechselwirkung mit dem Außen stehen. Mode ist im Alltag omnipäsent – und sie hat theatralen Charakter insofern, als sie eine Weise der Inszenierung ist 18. Auch Subkulturen werden von der von Bourdieu so genannten »generativen Grammatik« hervorgebracht, denn auch sie bedienen sich des kulturell vorhandenen Repertoires, wenn auch in subversiver Absicht, nämlich um sich gegen einen vermeintlichen oder tatsächlichen Mainstream zu positionieren und sich von ihm abzusetzen – und sei es in massiver Übertreibung. Insgesamt lassen sich Subkulturen strukturell beschreiben als Lifestyles, sie beziehen sich oft auf kleinere Gruppierungen, sehen sich als Normbrecher und konstituieren sich noch mehr – zumindest demonstrativ sichtbarer – als manch andere Lifestyles durch ihre Kleidung, weil diese wie ein fast eindeutiges Zeichen funktioniert, was in der Mode allgemein ja eher nicht der Fall ist (Hebdige 1979, Kawamura 2010 und 2012). Schaut man in die Geschichte, so stellt man sofort fest, dass Mode immer als Teil dessen betrachtet wurde, was wir heute als Lifestyle (im Folgenden synonym mit Lebensstil verwendet) betrachten: als Teil von Lebensstilen und Lebensformen, von kulturellem wie individuellem Selbstverständnis, von Geschmack und schließlich als unverzichtbares Element der (Selbst-)Inszenierung – sei es des sozialen Status, den man einnahm und der untrennbar an bestimmte Repräsentationsformen gebunden war, zu denen auch die Kleidung zählte 19, sei es als Inszenierung der eigenen Persönlichkeit (was vor allem seit dem Beginn der bürgerlichen Moderne im 18. Jahrhundert bedeutsam wird). 17 | Greenblatt 1993; Greenblatt 1980; Greenblatt 1995. 18 | Zum Konzept Inszenierung vgl. u.a. Iser 1993. 19 | Vgl. Elias: Über den Prozeß der Zivilisation (1992).
Mode als kulturelle Praxis
Im 18. Jahrhundert wird Mode erstmals programmatisch im Kontext von Lifestyle situiert, und zwar in den Modezeitschriften, die in der 2. Hälfte des Jahrhunderts entstanden und Mode konsequent aus den aristokratisch-repräsentativen Zusammenhängen lösten, um sie in einem zunehmend (groß-)bürgerlichen Kontext zu versetzen.20 Die Zeitschriften, allen voran das »Cabinet des modes« (Paris, ab 1786), unterscheiden sich zwar von unseren heutigen Hochglanzmagazinen, die vor allem aus Werbung bestehen. Aber eine strukturelle Ähnlichkeit ist frappant: Man berichtet heute wie damals nicht nur hochaktuell über Kleidermoden, sondern auch über alle anderen Sparten dessen, was man heute unter »Design« subsumieren kann: Inneneinrichtungen, Fortbewegungsmittel (Kutschen, heute Autos), Architektur, berühmte Gärten; ferner kommen kulturelle oder intellektuelle Moden wie Bücher, Theaterinszenierungen und andere Ereignisse vor, lohnende Reiseziele und Restaurants und so weiter. Kurz, man situiert Kleidermoden in Lebensstilen, die als vorbildlich präsentiert und in ganz Europa als solche rezipiert werden. Kleidermode ist mithin immer nur ein – wenn auch besonders privilegiertes – Element jener Moden, die fast alle Bereiche des (»feineren«) Lebens umfassen. Ihre scheinbare Überflüssigkeit macht sie freilich einer bürgerlichen Arbeitsethik ebenso verdächtig wie der Kirche: Ist Mode notwendig oder ist sie (gerade als Prärogative der Aristokratie und von Bürgerinnen nachgeahmt) überflüssiger Luxus? Ist Mode nicht sogar gefährlich und darum verdammenswert, weil sie verweichlicht, von den Aufgaben des wirklichen Lebens ablenkt und vor allem, weil sie zur Verschwendung verführt? In Reaktion auf solche Verdächtigungen wird Mode nicht nur im 18. Jahrhundert häufig legitimiert, indem man die volkswirtschaftliche Notwendigkeit des Luxus nachweist. Luxus müsse produziert werden und schaffe Arbeitsplätze, er werde exportiert (so zumindest der französische Luxus) und bringe daher Geld, so schreibt die »Encyclopédie« 21, das große, aufgeklärte und aufklärende Kompendium des Wissens des 18. Jahrhunderts. Für die deutschen und englischen Modeapologeten des 18. und 19. Jahrhunderts stellt sich das ein bisschen problematischer dar, denn hier gab es keine nennenswerte Modeindustrie, man musste also importieren, und das kostete Geld, statt welches ins Land zu bringen. Man versuchte daher, die Mode-Wirtschaft anzukurbeln, man gründete eigene Modezeitschriften22, veröffentlichte Modekupfer, damit die deutschen Damen die französischen Modelle nachahmen könnten, und rechtfertigte das alles mit der Geldersparnis der Konsumentin, die auf diese Weise (indem sie die Modezeitschrift 20 | Vgl. zu den Modezeitschriften: Ackermann 2005; Kleinert 1980; Zika 2006; Lehnert 2007. 21 | L’Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, hg. Diderot, D’Alembert, Paris ab 1751-1772. 22 | Z.B. das Journal der Moden (bzw. Journal des Luxus und der Moden), hg. F.J. Bertuch und G.M. Kraus, Weimar, ab Dezember 1786; vgl. dazu Kuhles 2000.
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kauft, natürlich) genau erfahre, was zu haben sich wirklich lohne und wie es zu haben sei23 . Mit der Lust der Menschen an der Mode scheint das alles wenig zu tun zu haben – tatsächlich aber wird diese unausgesprochene Lust rationalisiert und legitimiert. Das fällt vor allem in Deutschland ins Auge, wo man lange eher kritische Einstellungen gegenüber der Mode antreffen konnte: Sie wurde tendenziell als übertrieben, als oberflächlich und als Ablenkung von wirklich wichtigen Dingen angegriffen24 , obgleich Philosophen wie Christian Garve, Georg Simmel oder Walter Benjamin25 schon früh über Mode schrieben. In Frankreich hingegen galt und gilt Mode ganz selbstverständlich als Teil der Kultur. Auch das ist eine Frage unterschiedlicher Lebensstile – d.h. auch: unterschiedlicher intellektueller und kultureller Moden. Der historische Exkurs über die Modezeitschriften verdeutlicht, wie sehr Mode als Teil unterschiedlicher Lifestyles sich von Anfang an in der Spannung von wirtschaftlichen, repräsentativen, sozialen, privaten und ästhetischen Interessen entfaltet.
F OKUS 8: M ODISCHE K OMPE TENZ Woher weiß jemand, was Mode ist und sein wird? Wie kann man wissen, was jemandem steht und was nicht? Alle Modehandelnden verfügen über eine mehr oder weniger ausgeprägte modische Kompetenz, aber die wenigsten von ihnen haben sie explizit durch eine reguläre Unterweisung erworben. Man wächst in das modische Wissen hinein. Als Kind wird man von Erwachsenen angekleidet und lernt auf diese Weise einen bestimmten Geschmack, der weder nur familiär noch gesamtkulturell begründet ist, sondern eine ausgeprägte Klassenspezifik hat. Als Jugendliche orientiert man sich an Gleichaltrigen und oft auch an Stars und Idolen; und letztlich bleibt das ein lebenslängliches Muster. Menschen lernen durch Nachahmung, und das in sich immer weiter ausdifferenzierender Weise ihr Leben lang. Aber wie lernen wir die modischen Zeichen »richtig« lesen und »richtig« einsetzen? Und wie kann in der Nachahmung Individualität entstehen, die ja für das modische Handeln so wichtig ist? Das setzt ein modisches Wissen voraus, das modische Elemente einschätzen, in ihrer Wirkung beurteilen und mit ihnen umgehen kann. Die Soziologin Joanne Entwistle fragt in »The Aesthetic Economy of Fashion«, wie die EinkäuferInnen von Mode – kulturelle VermittlerInnen zwischen Produktion und Konsumption – wissen können, was morgen Mode sein wird und wie man den intrinsischen ästhetischen Wert lang genug stabilisieren könne, um die Kleider eine Saison lang zu verkaufen (Entwistle 2009, 11f.). Dieser ästhetische 23 | Vgl. hierzu etwa Lehnert 2007. 24 | Simmel 1983; vgl. auch König 1985; und andere. 25 | Garve 1987; Simmel 1983; Benjamin 1982.
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Wert ist ihrer Ansicht nach nichts, was den Kleidern hinzugefügt wird; es sei im Gegenteil das Produkt selbst, im Markt und vom Markt erzeugt durch Routinen und Praktiken von Personen und Institutionen. Das Wissen darum könne wiederum nur im bzw. über den Markt selbst erworben werden. Es sei ein keineswegs nur kognitives, sondern verkörpertes Wissen, und zwar ein nicht nur lokales, sondern auch globales Wissen (Entwistle 2010). EinkäuferInnen treffen sich regelmäßig zu Fashion Weeks und Messen weltweit, sie sehen die angebotenen Kollektionen, sie machen sich ein Bild. Viel wichtiger aber als das eigentliche Objekt ihres Zusammentreffens und ihrer Arbeit sei das, was sich zwischen den EinkäuferInnen abspiele. Sie beobachten sich wechselseitig, es entstehe ein kollegialer Austausch, es entstehen Atmosphären, man »gehört dazu«: und nicht aus einer expliziten Wissensvermittlung, sondern aus diesen mehr oder weniger beiläufigen, jedenfalls nicht intentional auf Wissensvermittlung gerichteten Interaktionen entstehe das Wissen über das, was Mode werden wird, das mit einem Mal alle teilen. Entwistles Studie betrifft den Teilbereich derjenigen, die als Fachleute in der Modebranche arbeiten, aber die Ergebnisse lassen sich modifiziert übertragen auf jede Art modischen Wissens. Das Entscheidende ist für diejenigen, die Mode kaufen und tragen, nicht eine reguläre Ausbildung als (DesignerIn, ModemanagerIn …), sondern das, was scheinbar »nebenbei« geschieht. Es geht um die Interaktion von Menschen, was immer bedeutet, dass die Beteiligten sich wechselseitig beeinflussen. In Prozessen der Beobachtung, Nachahmung und Aneignung, die bis hin zur Verkörperung gehen kann, entstehen Wissen, Kompetenzen und »Könnerschaft«. Dafür ist die Vermittlung expliziten Wissens keine Voraussetzung (Neuweg 1999). Wissen ist demnach kein Reservoir stabiler Ergebnisse, sondern muss als dynamische, stets im Wandel begriffene Praxis aufgefasst werden. Mit M. Polanyi (1985 [1966]) kann man es unterteilen in implizites und explizites Wissen. Das implizite Wissen ist nicht verbal, nicht rational: es ist das, was menschliches Verhalten und Empfinden steuert, ohne dass man sich jederzeit dessen bewusst sein müsste. Polanyi beschreibt es als die Tatsache, »dass wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen«. Es ist ein Wissen, das aus der »aktiven Formung der Erfahrung während des Erkenntnisvorgangs« entstehe (Polanyi 1985, 14 und 15). Tatsächlich geht es um die Unterscheidung zwischen Wissen und Können oder, im Englischen, zwischen »knowing that« und »knowing how« (Ryle 1946). Das bedeutet letztlich, dass wir eine Fülle von Dingen einordnen und einer Bedeutung unterordnen können, ohne dass wir uns ihrer bewusst wären; sie sind nur noch erschließbar aus den Bedeutungen, die wir ihnen geben. Auf die Mode übertragen: man kann ein Gegenüber sofort sozial und ästhetisch einordnen, ohne sich sämtlicher Details ihres Outfits und ihrer Haltung bewusst zu sein. Es ist das Zusammenspiel von Linien, Formen, Material der Kleidung, aus dem Körper der Trägerin/des Trägers, ihrer Haltung und Ausstrahlung, das diese Erkenntnis auslöst, so dass man sofort sagen kann, die Person habe (einen bestimmten)
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Stil, sei modisch oder unmodisch, ihre modische Erscheinung sei stimmig, sie entspreche genau der aktuellen Mode oder sei ganz individuell usw. – allesamt Kriterien, die einer wandelbaren Konvention entsprechen und deshalb niemals absolut bestimmbar sind. Der Erwerb impliziten Wissens beruht auf einer nicht bewussten und dennoch aktiven Interaktion zwischen Menschen, darum kann Polanyi schließlich implizites Wissen etwas vage und fragwürdig als »Einfühlung« definieren (Polanyi 1985, 24f.). Meines Erachtens gehört zu dem, was am Ende Können hervorbringt, Kreativität – der Spielraum für die Verwandlung. Joanne Entwistle beschreibt auf der Grundlage ihrer Körpertheorie die körperliche Dimension des Wissens präziser. Modewissen sei »tacit in form, in that it is uncodified and experiential knowledge garnered from being inside the field; embodied, in that it is worn on the body; and aesthetic, in that it concerns the ability to translate fashion knowledge into a suitably fashionable style and demeanour« (Entwistle 2010, 11). Interessant sind in diesem Zusammenhang auch Polanyis Ausführungen über die sinnliche Wahrnehmung von Dingen. Diese sei geprägt von somatischen Vorgängen: »Wir werden der Dinge, die da in unserem Körper vorgehen, in Gestalt der Lage, Größe, Form und Bewegung eines Objekts gewahr, auf das wir unsere Aufmerksamkeit richten. Anders gesagt, wir richten uns von diesen inneren Prozessen auf die Qualitäten äußerer Dinge. Diese Qualitäten sind das, was uns jene inneren Prozesse bedeuten.« (Polanyi 1985, 22) Das heißt, dass uns »die Dinge der äußeren Welt dadurch gegenwärtig« sind, »dass wir uns auf unser Gewahrwerden der Kontakte unseres Körpers mit ihnen verlassen. Unser Körper ist das einzige Ding in der Welt, das wir gewöhnlich nie als Gegenstand, sondern als die Welt erfahren, auf die wir von unserem Körper aus unsere Aufmerksamkeit richten.« (Polanyi 1985, 23; alle Hervorhebungen im Original) Das lässt sich auf die Beziehung von Körper und Kleid beziehen. Das Kleid ist zunächst ein Ding der äußeren Welt, das wir auf und mit dem Körper spüren und das wir im besten Falle verkörpern und zum Teil unserer selbst machen (und uns zu einem Teil von ihm). Das Resultat ist der Modekörper. Und er empfindet die Welt, z.B. räumlich, auf bestimmte Weise, anders als es ein nackter Mensch täte. Wenn implizites Lernen auf Erfahrung basiert, so ist demgegenüber explizites Lernen der Erwerb von formalisierbarem Wissen, von Regelsystemen und Analysen. Das Ergebnis ist nicht zwingend Kennerschaft oder Können. Im Gegenteil kann das explizite Wissen oft ein »träges Wissen« sein, das nicht angewendet wird, wohingegen das implizite Wissen ein Handeln ohne rational sagbares Wissen ist (Neuweg 1999, 7). Eine Modedesignerin hat ihr Handwerk gelernt, und dieses Handwerk besteht aus definierbaren Regeln und Prinzipien (explizit) und aus der Art und Weise, wie die Regeln in welchen Situationen anzuwenden und zu modifizieren sind (implizit). Erst Letzteres – das Gespür für Zeitgeist, Stile und Materialien sowie die Fähigkeit, kreativ damit umzugehen – macht sie zur guten Designerin.
Mode als kulturelle Praxis
Dass zu alldem auch das Betrachten von Modeberichterstattungen, das Lesen von Zeitungen und Zeitschriften gehört, ist klar; hier wird durchaus explizites Wissen vermittelt, das sich mit dem impliziten Lernen verbindet zu einer spezifischen modischen Kompetenz. In den letzten Jahren sind die Möglichkeiten, sich modisches Wissen anzueignen, durch die schnelle Entwicklung der digitalen Medien geradezu explodiert. Wo früher Zeitschriften notwendigerweise den Ereignissen immer ein wenig hinterher hinkten, stehen heute die Defilés der großen Marken sofort Online oder werden zumindest in Fotostrecken verbreitet; in Blogs werden sie kommentiert, jede Modezeitschrift, die auf sich hält, hat längst auch ihre Online-Ausgabe oder/und einen Blog, in dem die LeserInnen selbst zu Wort kommen können. In unzähligen privaten oder zumindest nicht an Zeitschriften gebundenen Blogs werden darüber hinaus auch Alltagsmoden vorgestellt, wird eine Auswahl aus den oft auf Streifzügen durch die Städte gefundenen Angeboten – neu oder Vintage – getroffen, werden individuelle Zusammenstellungen präsentiert und von anderen kommentiert, Designer gelobt oder getadelt. Hier wird Mode nicht nur dargestellt, sondern tatsächlich gemacht, natürlich nicht im Sinne des Entwurfs und der Herstellung, sondern im Sinne einer alltagskulturellen Praxis der Konsumierenden, die mit Kleidern, Accessoires, Stilen und Lebensformen umgehen. So entsteht nicht nur modische Kompetenz, sondern eine Kennerschaft ganz neuer Art, die keineswegs mehr auf eine elitäre Schicht von Insidern beschränkt bleibt, wie das bislang in Kunstkreisen üblich war, sondern von allen Interessierten erreicht werden kann. Dabei findet eine Ausdifferenzierung nach unterschiedlichsten Interessen, Lifestyles oder auch nach Alter statt, die sich auch subkulturell nennen ließe und in jedem Fall der immer feineren Ausdifferenzierung der zeitgenössischen Gesellschaften entspricht 26. So lernt eine Modekonsumentin im Laufe ihres Lebens viel über Mode, je nach Interesse mehr oder weniger: aus Büchern, aus Zeitschriften, aus Blogs, beim Shoppen. Das ist aber gewissermaßen wieder nur das Rohmaterial, aus dem sie sich ein eigenes Bild machen muss. Und das wiederum wird geformt durch Alltagspraktiken: sich selbst kleiden, andere beobachten, wie sie sich kleiden, bewegen und welche Attitüde sie haben; auch beobachten, wie andere sie beobachten und auf sie reagieren. Im Ineinander von Handeln und Beobachten ist sie Akteurin und Beobachtete in einer Person. Aus der Verbindung von objektiven Fakten und subjektiver Erfahrung, die immer auf individuellem Vorwissen basiert, entsteht modische Kompetenz – als Form impliziten Wissens. Erst diese Kompetenz erlaubt das Entziffern modischer Zeichen, angefangen von den vestimentären Artefakten bis hin zu den Verhaltensweisen derjenigen, die sie verkörpern, erlaubt die Einordnung anderer Menschen sowie aktueller wie vergangener Stile, von Preisen, Qualitäten und sozialem Status der Moden und der Menschen. Sie ermöglicht vor allem auch die Fähigkeit, sich selbst zu kleiden: sich in oder 26 | Siehe z.B. für Ältere: http://advancedstyle.blogspot.de/, für Teenager: www.thestyle rookie.com/
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außerhalb von Trends und Subkulturen zu situieren, zu unterschiedlichen Anlässen angemessen aufzutreten, die eigene Persönlichkeit zu gestalten und zur Erscheinung zu bringen, abzuwägen und am Ende solche Produkte auszuwählen, die zu ihr »passen«, Kleider und Accessoires individuell (kreativ) zu kombinieren, ohne dass das Ergebnis von der eigenen Peer Group als geschmacklos und/oder unmodern beurteilt würde. Es erlaubt, etwas (begrenzt) Individuelles zu präsentieren, ohne aus dem allgemeinen Rahmen zu fallen, kurz: modisch up to date zu sein, ohne »fashion victim« zu werden. Wie anders als durch ein früh erworbenes implizites Wissen über Kleider und über soziale Hierarchien und sozial ausdifferenzierten Geschmack sowie Erfahrungen von Identität und Geschlecht könnte man Phänomene erklären, dass manche Menschen von Kindheit an bestimmte Kleidungsstücke lieben und andere hassen, dass manches kleine Mädchen sich weigert, Kleider zu tragen, und ein anderes sich in Hosen verkleidet fühlt? Was ist überhaupt verkleidet, was ist echt? Gibt es »Echtheit« in der Mode, wenn man sie als eine Form der Selbstgestaltung versteht? Sobald man Mode nicht als Ausdruck sozialer und besonders von Geschlechter-Hierarchien betrachtet, sondern als eine Form der Hervorbringung von Identitäten jeder Art und auch von Machtstrukturen, stellt sich die Frage nach der »Echtheit« oder Authentizität der modischen Praxis anders. Dann ist jede Hervorbringung für sich aussagekräftig, denn sie bringt etwas zur Erscheinung, was anders nicht zu sehen wäre bzw. anders nicht existieren würde. Mode funktioniert nicht ohne Selbstinszenierungen, aber diese unterliegen nicht der Frage nach Authentizität, so wenig wie ein literarisches Werk als »richtig« oder »falsch« beurteilt werden kann: es ist das, was es ist, innerhalb des Rahmens, der ihm vorgegeben ist bzw. immer wieder neu vorgegeben wird, und der erfordert jeweils eigene Kriterien. Dazu zählen Glaubwürdigkeit, Kohärenz oder ästhetische Wirkung beim Kunstwerk. Bei der Mode ist das wesentliche Kriterium die Phantasie und der Modemut der einzelnen, vor allem aber die Stimmigkeit (oder gewollte Diskrepanz) von Kleid, Person und Lebensstil. Anders gesagt: man soll Stil haben. Dass individueller Stil sich im Zeitalter der Massenmode und der inflationäre Behauptung aller Modehäuser, sie böten das Einzigartige, Individuelle an, sich wiederum in der Masse verliert, ist ein Problem. Darum kann eine Bewertung immer nur innerhalb eines jeweils umgrenzten Bereichs gelten, je nach Konsens, den jede der unzähligen kulturellen subkulturellen Gruppierungen vorübergehend oder dauerhaft für sich gefunden hat. Trotz der Globalität von Mode bleibt sie also an lokale Bezugsgrößen gebunden.
Mode als kulturelle Praxis
F OKUS 9: D AS G ESCHLECHT DER M ODE Da Mode sich in der Wechselwirkung von Kleidern und Körpern konstituiert, im Einwirken von Menschen auf die Kleider, die sie tragen (= inszenieren) und umgekehrt im Einfluss der Kleider auf die Menschen, kann man sie als eine Körperpraxis betrachten. Menschen und Kleider inszenieren einander wechselseitig und verändern sich dabei, und es entsteht dabei immer ein drittes, der Modekörper. Dieser ist in der Regel ein Geschlechtskörper. Valerie Steele sieht die Inszenierung von Männlichkeit und Weiblichkeit zur Erzeugung sexueller Anziehung als Hauptfunktion der Mode (Steele 1985; Steele 1988), denn Schönheit habe ihre eigentliche Wurzel in sexuellen Empfindungen. Anne Hollander (1993) beschreibt die Modegeschichte als ein Duett von Männlichkeit und Weiblichkeit, in dem der eine Pol stets komplementär auf den anderen bezogen bleibe und sich entsprechend ändere, sobald sich der andere ändere. Zweifellos ist sexuelle Attraktivität ein sehr wichtiger Aspekt in dem, was Mode ausmacht, sie ist jedoch keineswegs die Haupttriebfeder der Mode. Spricht man von Erotik, erweitert sich das Konzept erheblich. Erotisch kann schlicht das Vergnügen an etwas oder jemandem sein, den oder was man als schön empfindet; es kann auch die Freude an der eigenen Schönheit sein. Modische Inszenierungen von Identität sind immer auch Inszenierungen von Geschlecht, da Geschlechtsidentität in den meisten Kulturen ein integrales Element von Identitätskonzepten darstellt. Sie sind aber nicht zwingend auf Sexualität im engeren Sinne bezogen. Das würde die Bedeutung der Mode zu sehr einengen. In der Modeforschung wird meist noch ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass Erotik bzw. Sexualität grundsätzlich heterosexuelle Erotik sei. Das entspricht nicht dem aktuellen Stand der Genderforschung, die von einem performativen Konzept von Geschlecht und Identität ausgeht (Butler 1990; Lehnert 2010a). Mode ist zwar dominant, aber mitnichten zwingend der Heteronormativität verpflichtet. Ihr großes Potential liegt gerade darin, dass sie immer auch das von der Norm Abweichende inszenieren bzw. damit spielen kann; man denke an schwule, lesbische oder androgyne Stile oder an solche Kleider, die ganz und gar nicht an vergeschlechtlichten Körpern, sondern ausschließlich an Formen im Raum interessiert sind. Das Spektrum der Identitäten ist groß; die Mode tut das Ihre dazu, sie zu ermöglichen oder einzuschränken. Sie moduliert Identitäten und damit auch Geschlechtsidentitäten und gibt dabei (ungeachtet der Normativität, die gesellschaftlich den Geschlechtsidentitäten anhaftet) auch die Freiheit, die traditionellen Grenzen von Zweigeschlechtlichkeit zu überschreiten und viele Versionen und Nuancen zu erforschen. Entgegen dem, was oft propagiert wird, drückt Modekleidung also Identität und folglich auch Geschlecht nicht einfach aus. Sie ist vielmehr stark in seine Hervorbringung involviert; sie ist eine alltagsrelevante Form von »doing gender«. Das beginnt im frühen Kindesalter damit, dass kleine Jungen hellblau, kleine Mädchen rosa oder in andere Pastellfarben gekleidet werden. Der Soziologe Ste-
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fan Hirschauer (1993) erklärt, Geschlecht komme durch einen komplizierten Inszenierungs- und Attributionsprozess zustande; man inszeniere das eigene Geschlecht, und die anderen nehmen es nicht einfach wahr, sondern schreiben es aufgrund ihrer eigenen Geschlechtskompetenz zu. Jede Darstellung von Geschlecht konstituiert mithin überhaupt erst Geschlecht; ein Geschlecht zu »haben« oder zu repräsentieren bedeutet immer, an seiner Produktion teilzuhaben. »The representation of gender is its production«, schreibt Teresa de Lauretis (1987, 3). Alles, was wir darstellen, bringt das Dargestellte erst hervor. Judith Butler radikalisiert diesen Gedanken, indem sie erklärt, das biologische Geschlecht sei keineswegs eine unhintergehbare »natürliche Tatsache«, von der Geschlechtsidentität bzw. das soziale Geschlecht abhänge, sondern dass umgekehrt das soziale Geschlecht die Idee und Bedeutung des biologischen Geschlechts hervorbringe und zur Norm erkläre. Geschlecht entpuppt sich in dieser Sicht als konstitutives Element sozialer Machtverhältnisse. Aber Geschlecht, so Butler, sei keine stabile Identität, von der aus man handeln könne, sondern eine höchst instabile, in der Zeit prekäre Inszenierung, »an identity instituted through a stylized repetition of acts« (Butler 1990b, 270). Der Körper wird in dieser Argumentation nicht geleugnet, aber er wird nicht länger als etwas gesehen, was jeglicher Kultur vorgängig ist. Als solcher ist er für uns nicht wahrnehmbar, so wenig wie »die Natur an sich«. Vielmehr ist der Körper immer schon in Prozesse der Bedeutungsherstellung verwickelt, in einen aktiven Prozess der Verkörperung kultureller und historischer Möglichkeiten. Ein Effekt davon ist »sex«, die Idee, dass es ein »natürliches« Geschlecht gebe, bzw. zwei Geschlechter, denen jedes Individuum natürlich angehöre. Die Grundlage dafür bilden kulturell vorgegebenen »Skripte«, die von jedem Subjekt nach Maßgabe seiner kulturellen Einbindungen und Prägungen unterschiedlich und immer wieder neu interpretiert und damit immer auch verändert werden. Ein Skript ist kein vollständiger Text, sondern bietet bloße Stichworte zur Orientierung der eigentlichen Aufführung. Nicht nur deshalb ist keine Inszenierung mit der vorhergehenden völlig identisch. Leichte Verschiebungen, gewollt oder nicht, enthalten mithin nicht nur das Potential für Vielfalt, sondern auch für Veränderung (was ein durch und durch poststrukturalistischer Gedanke ist). Die Performativität von Geschlecht bedeutet, dass Identität kein Zustand ist, sondern ein Prozess der Realisierung, der nie zum Abschluss kommt. Gerade in seiner Inszeniertheit und in seinen prekären Re-Inszenierungen und Stilisierungen liegt die Chance, die Normierungen zu unterlaufen. Dann wird auch klar, dass Geschlecht als performatives Phänomen sich nicht in der binären Opposition von Mann und Frau erschöpft, sondern dass es ein Spektrum geschlechtlicher Identitäten gibt, die sich u.U. sogar in einer Person manifestieren können. Judith Butler hat der Dichotomie von »sex« und »gender« als dritten Term »desire« hinzugefügt. Mit dem Begehren, das losgelöst wird vom biologischen Geschlecht und von der Heteronormativität, kommen die Geschlechter in Bewegung, und vieles wird möglich.
Mode als kulturelle Praxis
Bezieht man das auf die Mode, wird deutlich, welch bedeutende Rolle sie in diesem Prozess des Gendering spielt. Die Modeindustrie macht beständig Geschlechterangebote, und einige davon sind als Geschlechtsnormen höchst wirkungsvoll. So ist der Rock nach wie vor für Männer Tabu, so wie es die Hose jahrhundertelang für Frauen war. Mode gilt nach wie vor als Frauensache, auch wenn sich das langsam ändert, und alle Kollektionen sind nach Geschlecht geteilt: Männermode und Frauenmode. Dazwischen gibt es nichts, was auch mit der Struktur der Modeindustrie zu tun hat. Allerdings werden innerhalb der einzelnen Kollektionen die Grenzen immer wieder überschritten oder gar aufgelöst, und in den heutigen modischen Alltagspraktiken ist ohnehin alles möglich. In der Frühen Neuzeit gab es noch Kleiderordnungen, die entsprechend dem sozialen Stand der Menschen genau vorschrieben, was wer tragen durfte. Bestimmte Materialien, Farben und Schnitte waren dem Adel vorbehalten, der sich in sich auch wieder differenzierte; Bürgern oder gar Bauern war zuviel Glanz verboten (abgesehen davon, dass sie ihn sich oft ohnehin nicht leisten konnten). Trachten setzten auf Stabilität – auch des Geschlechts –, ohne gänzlich statisch zu sein, denn auch sie änderten sich mit den Moden, nur langsamer. Modische Kleidung im engeren Sinne war also eine Angelegenheit der höheren Stände, sie diente der Repräsentation, denn was man war, das war man auch nach Außen. Das Geschlecht spielte selbstverständlich eine Rolle, war aber nicht wichtiger als der soziale Stand. In der Aristokratie waren Prunk und modische Extravaganz für beide Geschlechter Pflicht, der Absolutismus lebt ja gerade von ostentativer Verschwendung. Das änderte sich erst langsam mit dem Umbruch der gesellschaftlichen Ordnung. Die vormoderne stratifikatorische Gesellschaft wandelt sich seit dem 17. Jahrhundert in eine moderne, funktional ausdifferenzierte Gesellschaft. Damit einher geht die Stärkung des Bürgertums. Im Laufe des 18. Jahrhunderts gewinnen anti-aristokratische Ideen von Individualität und Innerlichkeit an Bedeutung, und eine zunehmende Trennung der (beiden) Geschlechter und ihrer sozialen Funktionen findet statt. Bis dahin galt grosso modo das, was Thomas Laqueur das Eingeschlechtsmodell nennt (Laqueur 1992): Die Sexualorgane seien bei Frauen und Männern identisch, jedoch unterschiedlich ausgeprägt und nur bei den Männern zur Vollendung gebracht. Nun entsteht das Zweigeschlechtsmodell oder der »Geschlechtscharakter« (Hausen 1976). Die beiden Geschlechter gelten zunehmend als physisch und psychisch grundlegend verschieden. Die Mode wird zur bürgerlichen Angelegenheit und zur Sache der (Ehe-)Frauen, deren soziale Funktion sich zunehmend auf das Private und Häusliche einschränkt (zumindest in der Ideologie, in der Praxis waren viele Frauen unverheiratet, erwerbstätig, arm und kinderlos). Männer schmücken sich nicht länger, sie kleiden sich seriös und stilistisch reduziert in Anzüge, die ihre Seriosität, ihre Korrektheit, ihr Leistungsethos, ihr »Sein« betonten. Sie hatten, so befand die Geschlechterideologie, es nicht mehr nötig, ein buntes Pfauenrad zu schlagen, um auf sich aufmerksam zu machen. Die Kleidung der Männer wird folglich seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr mit Mode gleichgesetzt. Seither gilt der zwei- bis dreiteilige
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Mode — Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis
Anzug aus schlichten Tuchen und in gedeckten Farben als Standardbekleidung für Männer. Er wurde zwar immer wieder variiert, aber die Veränderungen waren geringer als die der Frauenmode, und das Grundgerüst, die Formen und die spezifische Konstruktion der Kleidung wurden beibehalten (Hollander 1994). Wenn die Männermode sich verändert, geschieht das selten in der Konstruktion und nie in Richtung auf »Weiblichkeit«. Bunte Hemden, neue Muster auf Krawatten, pastellfarbene Sakkos scheinen uns keineswegs feminin, sondern Varianten des Männlichen, das seine dekorativen Potentiale (neu) entdeckt. Bürgerliche Frauen schmücken sich seit dem 19. Jahrhundert unter anderem stellvertretend für die Männer und im Interesse einer Ökonomie demonstrativer Verschwendung (Veblen 1979 [1899]). Georg Simmel (1983 [1905]) erklärt sinngemäß und keineswegs in zynischer Absicht, das ereignislose Leben der Frauen werde durch das Abenteuer Mode mit Beschäftigung gefüllt. Ostentative Verschwendung gehörte natürlich auch in der Aristokratie zum Verhalten und speziell zur Kleidung. Man hatte das, was man war, zu repräsentieren, sonst »war« man es nicht mehr – es gehörte gleichsam wesensmäßig zum Status und damit zur Person, wie Elias (1992) sinngemäß schreibt. Wenn Veblen in der deutschen Übersetzung von »demonstrativem Konsum« spricht, ist damit der Begriff eingeführt, den man zur Abgrenzung vom aristokratischen Verhalten verwenden kann: in der bürgerlichen Kultur wird Reichtum demonstriert, in der prä-revolutionären aristokratischen Kultur wird Status repräsentiert. Mode wird im 18. und 19. Jahrhundert als Frauensache27 zu einem wesentlichen Element in der Definition der Geschlechter und der Festschreibung der Zweiheit der Geschlechter sowie der sozialen Rollenverteilung. Wissenschaft, Kunst, Mode – alles wirkt darauf hin, einen neuen Menschen zu schaffen, der vor allem Mann oder Frau ist. Frauenmode bedeutet im Gegensatz zur schlichten Männer-Kleidung Prunk und Aufputz, üppige Stoffmassen, wechselnde Silhouetten, den Drang nach immer Neuem und ständigem Wechsel. Frauen benötigten im 19. Jahrhundert viel Zeit und Geld, um modisch gekleidet zu sein. Sie demonstrierten den Wohlstand und die gesellschaftliche Bedeutung der jeweiligen Familienvorstände unter anderem durch ihre aufwendige, aufgeputzte und durchaus erotisch attraktive, eben modische Kleidung. Frauen schmückten sich und machten sich selbst äußerlich zum schönsten Besitz der Männer; sie »bewiesen« deren Bedeutung, indem sie durch ihre »unpraktische« Kleidung vorführten, dass sie nicht arbeiten mussten (was sie in ihren Kleidern mit Krinolinen und Korsetts, Rüschen und Aufputz auch kaum gekonnt hätten). Und so sehr das von ihnen gefordert wurde: Sie wurden dennoch immer als oberflächlich und eitel gescholten, wenn sie dieser Forderung nachkamen, vor allem dann, wenn sie ihr eigenes Vergnügen darin fanden, sich schön zu machen und sich sinnlich zu fühlen.
27 | Vgl. hierzu die einschlägigen Aufsätze in »Mode, Weiblichkeit und Modernität« (Lehnert 1998 d).
Mode als kulturelle Praxis
Als omnipräsente ästhetische und soziale Praxis wird Mode mithin im 19. Jahrhundert zu einem wichtigen Bestandteil der Ausbildung bürgerlichen Selbstbewusstseins, und untrennbar damit verbunden ist sie konstitutives Element der sich nun definitiv ausbildenden und verfestigenden bürgerlichen Geschlechterkonzepte. Es ist kein Zufall, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Haute Couture entsteht, als Charles Frederick Worth sich zum Künstler der feinen Gesellschaft stilisiert, erstmals ganze Stile erfindet und seine Modelle signiert, wie das bisher nur Künstler getan hatten. Haute Couture: das ist exquisite, exklusive Mode für die Reichen und Schönen – für die Frauen. Sie treibt die Moden und ihre immer schnelleren Wechsel voran und formt die Silhouetten und die Identitäten. Die Mode des 19. Jahrhunderts verdeutlicht die Unüberwindlichkeit der Kluft zwischen den Geschlechtern. Männer stehen mit beiden Beinen fest auf dem Boden, sie tragen Jacketts, die breite Schultern und einen massigen Oberkörper suggerieren. Frauen hingegen haben schmale, abfallende Schultern, eine betonte, aber zierliche Büste, Wespentaillen und einen ausladenden Unterkörper: Der Rock, gestützt durch viele Unterröcke, später den Reifrock und gegen Ende des Jahrhunderts die Tournüre, verbirgt den anatomischen weiblichen Unterkörper und setzt an seine Stelle einen höchst artifiziellen modischen Körper: einen regelrechten Sockel. Frauenbeine sind unsichtbar; wie die Frauen mit dem Boden verbunden sind, kann man höchstens ahnen, aber niemals sehen. Unmöglich, dass eine Frau – es sei denn, sie wäre eine Rebellin wie George Sand – einen Anzug trüge. Dieser würde ihr ein anderes Körperbild, eine ganz andere Haltung und Bewegung und ein anderes Selbst-Bewusstsein verleihen als ihr komplizierter Aufputz dies tut. Die weibliche Kleidung aus Samt, Seide und Brokat, mit Stickereien und Spitzen, mit Stoff kaskaden und Rüschen nämlich spielt anders als ein Anzug und höchst raffiniert das Spiel von Enthüllen und Verhüllen, von verführerischer Lockung und unnahbarer Distanz und lässt den Männern alle Möglichkeiten, sich eine Hure oder eine Madonna in ihr weibliches Gegenüber zu phantasieren. Der Männeranzug aber, aus strengen Tuchen in gedeckten Farben, spielt nicht mit Erotik, sondern stellt Macht aus. Das stand einer Frau des 19. Jahrhunderts nicht zu. Umgekehrt wäre es auch unmöglich, dass ein Mann sich zu jener Zeit in üppige Samt- oder Seidengewänder gehüllt hätte oder in buntere Farben als die für Männer üblichen gedeckten Grau-, Blau-, Braunschattierungen. Nur ein Hausmantel konnte ein wenig orientalischen Prunk auch für Männer entfalten. Das alles galt bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Allerdings änderte sich die Frauenmode zu Beginn des 20. Jahrhunderts grundlegend. Sie wurde schlichter, flächiger, scheinbar funktionaler; sie brachte die berühmte »Neue Frau« der Zwanzigerjahre hervor, die windschnittig, selbstbewusst und oft berufstätig war und das mit ihrer Kleidung auch sein konnte – und sein musste. Neue, schmale, damals als knabenhaft beurteilte Körperformen wurden nötig, ohne die die Kleider nicht passen würden. Und mittlerweile machten Modeschöpferinnen den männlichen Modeschöpfern Konkurrenz.
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Langsam eroberten Frauen die Hose und den Kurzhaarschnitt. Man empfand das damals als Vermännlichung, weil Frauen Elemente übernahmen, die bislang Männlichkeit signalisiert hatten, denn was nicht eindeutig weiblich ist, muss männlich sein, so die Alltagslogik der Geschlechter (vgl. Lehnert 1997). Erst in den Sechzigerjahren verwischen sich die scharfen Grenzen zumindest visuell wieder. Unisex wird modern, Männer lassen sich die Haare wachsen und wagen sich an bunte Farben; die Hippiemode lockert die Grenzen des Modischen, Jugend und Jugendlichkeit scheint wichtiger zu werden als alles andere. Das hat sich bis heute gehalten. Die modischen Grenzen zwischen den Geschlechtern haben sich aber längst wieder verfestigt, sie waren ja auch nie aufgelöst. Es haben sich jedoch Spielräume gebildet, die sich immer mehr ausweiten, zuweilen aber auch wieder zusammenziehen. Die wachsende Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaften bringt immer mehr kulturelle Teilgruppierungen hervor, und die meisten Menschen gehören vielen davon an, je nach beruflichen und privaten Interessen. Lebensstile und sexuelle Identitäten vervielfachen sich, gehen zuweilen in Subkulturen über oder machen sich unsichtbar. Schwule und Lesben beispielsweise prägen im Zuge ihrer Emanzipationsbewegungen deutlich erkennbare Kleiderstile, die für einige Generationen identitätsbildend wirkten, mittlerweile sind die Stile in den Mainstream gesickert, und neue Stile bilden sich aus, die die Identitäten und Geschlechter vervielfachen. Eine der aufsehenerregenden Erscheinungen in der Männermode waren die Metrosexuellen, die aufgrund ihres modischen Interesses und ihrer gepflegten Körperbetontheit sofort für homosexuell gehalten wurden, weil das Klischee des modisch uninteressierten Hetero offenbar fest verankert ist. Analogien lassen sich finden zu den Dandys des 19. Jahrhunderts, die gegen die Banalität der bürgerlichen Uniformität protestierten, indem sie den Stil mit Detailversessenheit und außerordentlich hohem Qualitätsniveau so perfektionierten, dass er unvergleichlich distinguiert wurde. Anders die Maccaronis und Incroyables, die während eines kurzen Zeitraums die gängigen Moden ins Groteske übertrieben (vgl. Kapitel 2, 6). Affirmation, Dekonstruktion, Subversion, Protest, das Unterlaufen von Normen: Möglichkeiten der Konstitution und Modulation von Identität, die immer auch eine Geschlechtsidentität ist oder als solche gelesen wird. Mode schafft keine biologisch korrekten Körper, sondern ästhetische Körper, die, ganz gleich, ob sie einer biologischen Norm ähneln oder nicht, immer vor allem die Materialisierung eines phantasierten, vielleicht ideal gedachten Körpers ist. Der Modekörper wird gelesen, und als Geschlechtskörper gelesen. Wir werden deshalb lesbar, weil wir Kleider tragen und weil wir sie auf bestimmte, geschlechtlich kodierte Weisen tragen.
Mode als kulturelle Praxis
F OKUS 10: I ST M ODE K UNST ? Die vestimentären Objekte selbst müssen einen ästhetischen Überschuss besitzen, damit sie zur Mode werden können. Gemeint ist damit nur ein ästhetisches »Zuviel«, das darauf verweist, dass das Kleidungsstück sich nicht im Nutzen erschöpft, sondern mit Vorstellungen von Schönheit spielt, ganz gleich, wie diese jeweils definiert wird. Mode besteht niemals im Nützlichen, es sei denn, das Nützliche wird zur modischen Idee. Mode ist auch nicht »schön« in einem klar definierbaren Sinne, sie bringt vielmehr überhaupt erst Vorstellungen von Schönheit hervor. Dieser ästhetische Überschuss wird den Objekten in der Gestaltung (im Design) verliehen, aber auch im Gebrauch: den vestimentären Objekte werden nicht nur soziale, sondern vor allem ästhetische und affektive bzw. symbolische Werte zugesprochen. Die gesamte Modeindustrie dient diesem Zweck, die Modeträgerinnen und -träger leisten ihren eigenen Teil an ästhetischer und imaginativer Arbeit dazu. Ohne diese »Aufladung« gäbe es keine Mode, sondern nur Kleidung. Einerseits stellt Mode also einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor von globalen Ausmaßen und Auswirkungen dar. Moden werden nicht von Einzelnen gemacht, sondern meist von Konzernen produziert und angeboten. Die Kreativität der Konsumierenden besteht in der Auswahl und im Kauf.28 Sie finden darin Formen des Self Fashioning, Ermöglichungen von Individualität und Identität, die paradoxerweise als höchst persönlich empfunden werden. Andererseits kann Mode auch eine Form von Kunst sein (zumindest angewandte Kunst). Viele modische Kreationen in der europäischen Modegeschichte orientieren und orientierten sich wenig an der Tragbarkeit und am menschlichen Körper, sondern präsentieren und präsentierten sich als eigenständige ästhetische Gebilde. Dabei handelt es sich meist um die kostbaren, individuell gefertigten Modekleider der Aristokratie und dann der wohlhabenden BürgerInnen zu den Zeiten, in denen es noch keine Modeindustrie, keine Konfektion, kein Modesystem im modernen Sinne gab. Im 19. Jahrhundert, als die Konfektion und damit die Massenproduktion an Bedeutung gewannen, ging diese Funktion auf die Haute Couture über, und daraus entwickelte sich Mitte des 20. Jahrhunderts das Prêt-à-porter, dessen Design an einen Designernamen gekoppelt ist, aber das industriell und in großen Auflagen produziert wird. Den massenhaft produzierten Produkten stehen also heute das hochrangige Prêt-à-porter und vor allem die (vermeintlich) einzigartigen Haute Couture-Kleider gegenüber, die oft gar nicht für den unmittelbaren Konsum gedacht sind, sondern die Virtuosität der ModemacherInnen unter Beweis stellen und damit die Marke profilieren. Haute Couture setzt voraus, dass die Kleider handgearbeitet sind. Wer zur Haute Couture 28 | Die seit einigen Jahren florierende Do-It-Yourself-Kultur (DIY) versteht sich zwar teilweise als Protest dagegen, kann aber den Mechanismus nicht außer Kraft setzen. Vgl. Critical Crafting Circle (2011).
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Mode — Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis
(ein nur in Frankreich geschützter Begriff) gehören darf, entscheidet die Pariser »Chambre Syndicale de la Haute Couture« aufgrund bestimmter Bedingungen: Das Modehaus muss zweimal im Jahre seine neue Kollektion, bestehend aus mindestens 35 Modellen, zeigen, es muss eine Mindestzahl von 15 Angestellten beschäftigen. In der Regel werden die Modelle für den Laufsteg entworfen und nur auf Bestellung als Einzelanfertigung für spezielle Kundinnen nachgearbeitet. Aber auch die vermeintlich einzigartigen Haute Couture-Kleider wurden immer schon kopiert und in Kopien breit vermarktet, so wie umgekehrt auch die Einzigartigkeit von Kunstgegenständen im Zeitalter der Reproduktion und natürlich der technischen (Kunst-)Medien längst auch kein Abgrenzungskriterium zu Design und Mode mehr ist (Troy 2003). Das gilt umso mehr, wenn man grundsätzlich davon ausgeht, dass der Kunststatus, wie der der Mode, von Strategien und Praktiken der Zuschreibung abhängt (vgl. hierzu Leutner 2011, Graw 2009). Auf Défilés wird häufig Mode gezeigt, die nicht tragbar ist und auch nicht dafür gemacht wurde, sondern als eine Kunst, die die Fähigkeiten des Designers demonstriert – oder banaler als Aushängeschild, das Werbung für das Modehaus macht. Avantgardistische Mode-Designerinnen und Designer wie Rei Kawakubo, Yunya Watanabe, Husseyn Chalayan oder Viktor & Rolf bringen immer wieder Kleider in die Läden, die zwar käuflich zu erwerben sind, aber erst einmal als untragbar schockieren – und nach einer gewissen Zeit den allgemeinen Geschmack so verändert haben, dass einzelne ihrer Charakteristika in abgemilderter Form in der Massenmode wieder auftauchen, wie es z.B. mit »unvorteilhaften« Drapierungen, merkwürdigen Passformen oder unversäuberten, oben liegenden Nähten der Fall war. Was lange einer kleinen Elite avantgardistischer Kunstadepten vorbehalten war und die Frage nach In oder Out auf breiter Basis gar nicht erst aufkommen ließ, ist plötzlich in der Massenmode »in«. Die Präsentationen von Mode werden immer stärker Kunstperformances angenähert, denn die Notwendigkeit, jede Saison eine neue Kollektion vorzustellen, zwingt zur Originalität auf vielen Ebenen. Da Mode, wie gesagt, im Wesentlichen von Zuschreibungspraktiken und Akzeptanzen abhängig ist, spielt die Modenschau und die daran wiederum anschließende Berichterstattung in Printmedien wie Online eine wesentliche Rolle. Alicia Kühl vertritt die Ansicht, das Neue der Mode komme nur noch im Défilé zustande, das Mode materialiter nichts Neues mehr produzieren könne (Kühl 2012) – eine m.E. überspitzte Ansicht, die jedoch insofern richtig ist, als Modenschauen innerhalb der Modeindustrie eine Schlüsselposition einnehmen, und das um so mehr, je mehr sie weltweit Online auch dem großen interessierten Publikum – nicht mehr nur dem geladenen Fachpublikum – zugänglich sind. Und wenn z.B. Hussein Chalayan regelrechte Installationen inszeniert, so handelt es sich nicht mehr um einfache Modenschauen, sondern tatsächlich Performances von eigenem Recht, in die die Kleider eingebunden sind – auch wenn sie eine zentrale Rolle spielen. Als Beispiel diene das berühmte »Afterwords« (H/W 2000), in dem Sessel zu Koffern werden, die Hussen der Sessel zu Kleidern – so dass sofort die Flucht angetreten werden kann und man das Wichtigste im Gepäck
Mode als kulturelle Praxis
hat. Chalayan ist einer der wenigen Modekünstler, der politische, technologische und ökologische Konzepte verfolgt. Mit der Kollektion »Afterwords« thematisierte er die brennenden Themen Flucht und Migration. Im Hintergrund, hinter Glas, singt ein bulgarischer Frauenchor. Die Schau endet damit, dass ein Model in den auf der Bühne stehenden Tisch steigt und ihn zum Rock umgestaltet (Chalayan 2005). Besitztümer, so scheint die Botschaft, sind nur dann sinnvoll, wenn sie so mobil und multifunktional sind, dass man sie im Notfall ohne große Mühe umfunktionieren und mitnehmen kann. Ein krasser Gegensatz zum Prinzip Mode, das auf schnellen Wechsel und Austauschbarkeit setzt. Anders verhält es sich mit spezifisch künstlerischen Praktiken, die sich modischer Elemente bedienen, aber keine verkäuflichen Modekleider hervorbringen. Die textilen Objekte von Annette Messager oder Christiane Möbus oder Kleider von Jana Sterbak aus rohem Fleisch sind ebenso wenig wie die Objekte von Silvie Fleury als tragbare Kleider konzipiert, sondern als kritische und teilweise verstörende künstlerische Auseinandersetzung mit Mode, d.h. mit Mode als Konzept und als Alltagspraxis vor allem von Frauen (Lehnert 2009). Welchen Status aber kann man den Moden zuschreiben, die nicht gekauft werden, weil sie z.B. als untragbar gelten und schließlich als Kunstwerke (oder wenigstens kunst-affine Artefakte) ins Museum wandern? Gehören sie zur Kunst? Gehören sie zur Mode? Meiner Ansicht nach kann auch dasjenige Mode sein, was auf breiter Basis konsensuell als untragbar erachtet wird und z.B. im Museum landet. Damit trägt man einer aktuellen Veränderung der modischen Mechanismen Rechnung, die Georg Simmel noch nicht kennen konnte und die auch von vielen heutigen AutorInnen ignoriert oder anders bewertet wird. Mode ist nicht davon abhängig, dass alle oder auch nur eine Mehrheit von Konsumentinnen sie akzeptiert, wie Loschek (2007) nahe legt. Vielmehr genügen bestimmte Gruppierungen, ob es sich dabei um Subkulturen handelt oder um Fachleute, die beschließen, was ihrer Ansicht nach wert ist, im Museum gezeigt und damit gleichsam entzeitlicht und kanonisiert zu werden (vgl. dazu Kapitel 3, 5: Bühnen der Mode). Mit anderen Worten: Es muss ein Konsens da sein, aber der braucht nur von wenigen getragen zu werden, so dass die entsprechende Mode sich zwar nicht gesamtgesellschaftlich durchsetzt, aber doch in einzelnen gesellschaftlichen Teilbereichen. Zwar gibt es viele Moden, die vom großen Publikum als untragbar beurteilt werden. Und es gibt Moden, deren Vermarktung von vornherein nicht wirklich intendiert ist, sondern die eher als Aushängeschilder oder Experimente von DesignerInnen oder Modehäusern dienen. Sie sollen deren Fähigkeiten unter Beweis stellen, die dann wiederum der Vermarktung der für die Läden in reduzierter Form produzierten Moden, Accessoires und Kosmetik dienen. Aber das heißt noch lange nicht, dass sie nicht zur Mode zählen, und sei es, indem sie die Mode verändern, indem sie Wahrnehmungen ändern und neue Akzeptanzen schaffen. Das heißt, neben den konsensuellen Zuschreibungsprozessen ist eine Voraussetzung dafür, dass etwas zur Mode gezählt werden kann, dass die vestimentären Artefakte als Modekleidung produziert und dem Markt angeboten werden.
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»Das Untragbare ist ein Verdikt, das eine Norm setzt: die des in oder out; die des Angemessenen und des Dekorum; die des Ästhetischen und auch Passenden.« Gerade das Verschieben und Umspielen des Verdikts mache Mode, so Barbara Vinken (2009, 243). Allerdings betrifft das Kriterium von »In« und »Out« nur Teilbereiche oder Segmente der Mode. Denn je mehr (die gehobene) Designer- und Couture-Mode sich als Kunst versteht bzw. als Teil der modernen Kunstpraxis verstanden wird, desto schneller gelangt sie ins Museum, anders gesagt: wird sie als Modekunst sakralisiert und im Museum der Ewigkeit übergeben, ohne je getragene Mode gewesen zu sein.29 Das widerspricht der Idee der Mode als inkarnierte Flüchtigkeit einer Alltagspraxis (wie Baudelaire bereits 1863 im »Peintre de la vie moderne« [1976] schreibt), entspricht aber einem Konzept von Mode als künstlerischer Praxis und als Form kulturellen Gedächtnisses (und damit jenem anderen Aspekt des Schönen in der Moderne nach Baudelaire, nämlich dem Streben nach dem Ewigen). Insofern bleibt sie in meinem Verständnis dennoch Mode, weil Mode für mich auch eine künstlerische Praxis sein kann, für die andere konsensuelle Prozesse gültig sind als für die tatsächlich getragene Alltagsmode welchen Niveaus auch immer (abgesehen davon, dass die Moden im Museum ja häufig getragen werden könnten). Denn schließlich ist auch die Entscheidung eines Museums, bestimmte Moden zu zeigen, nichts anderes als einer von vielen möglichen Zuschreibungsprozessen, wenn auch einer, der auf andere Anerkennungen zielt als diejenigen Prozesse, die für den Konsum bestimmte Kleider zur tragbaren Mode für eine Saison ernennen und damit direkt oder indirekt auch den kommerziellen Erfolg von Produkten oder Marken mit bestimmen. Dass Mode in meiner Perspektive auch das werden kann, was als untragbar gilt, hat mit dem Verwischen der Grenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst und folglich auch zwischen Kunst und Mode zu tun, die typisch für die Postmoderne ist. Zur Abgrenzung von Mode und Kunst schreibt Petra Leutner zu Recht, dass »ein Kunstwerk sein« sowenig eine substantielle Eigenschaft sei wie »in Mode sein«, »sondern dass diese Attribute jeweils einer symbolischen Zuschreibung bedürfen« (Leutner 2011, 1). Während jedoch in der Mode die Zuschreibung »in Mode sein« wieder entzogen werden könne, sei das im Fall der Kunst nicht üblich (Leutner 2011, 2). Mode brauche Gefolgschaft und Massenkonsum, Kunst nicht. Auch wenn Mode sich analog zur Kunst zu einem eigenständigen gesellschaftlichen Subsystem entwickelt habe, »das an gesellschaftlicher Wert- und Konsensbildung teilhat«, dessen Anerkennungsinstanzen frei in der Gesellschaft verteilt seien und keineswegs nur nach Konsumgesichtspunkten urteile (Leutner 2011, 5), sei sie weiter vom Kunstsystem zu trennen. Als wesentlicher Unterschied bleibe die Bekräftigung von Echtheit und Unikaten in der Kunst und die Enthebung aus dem Alltag, demgegenüber die Notwendigkeit einer Massenfertigung in der Mode und ihr Gebrauch im Alltag (Leutner 2011, 5). Unberücksichtigt bleibt in 29 | Vgl. zur Mode im Museum u.a. Link-Heer 1998; Steele 2008; Wolter 2006.
Mode als kulturelle Praxis
dieser Argumentation, dass auch Mode Einzelstücke produziert, nämlich in der Haute Couture, und dass auch Kunst eine Ware ist, die im Alltag zu unterschiedlichen Zwecken eingesetzt wird. Denn sowenig alle Kleider im Alltag verwendet werden, so wenig hängen bzw. stehen alle Kunstwerke im Museum. Die Funktion von Kunst in städtischen Räumen oder ganz allgemein in der (groß)bürgerlichen Kultur hat ähnliche Funktionen wie das Tragen teurer Mode: Sie besteht in der Distinktion innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie und wiederum innerhalb der eigenen sozialen Schicht. Beides ist Resultat der Zwänge von Lifestyles, bringt aber umgekehrt als ästhetische Praxis, die hier mit einer Konsumpraxis zusammenfällt, auch Lifestyles hervor, die ja wiederum Formen von Selbstgestaltung und Identitätsbildungen fördern. Auch Isabelle Graw (2009) zielt in eine ähnliche Richtung, wenn sie erklärt, der Erfolg von Kunst sei nicht davon abhängig, dass sie gekauft werde, der Erfolg der Mode aber schon. Der Kauf von Kunst sei zukunftsorientiert und rechne mit langen Zeiten von Rezeption und Wertschätzung, während die Mode nur für einen Moment in der Zeit auf Akzeptanz und Interesse stoße. Erneut werden die großartigen Modelle und Kollektionen ausgeschlossen, die wenig tragbar sind und statt in private Kleiderschränke in die Museen wandern. Sind sie deshalb Mode oder Kunst? Sie sind beides: sie sind Mode-Kunst. Vielleicht ist es an der Zeit, Grenzphänomene zu definieren statt auf der Abgrenzung zu bestehen. Denn stimmt es z.B. noch, dass Mode ausschließlich für die Gegenwart geschaffen wird? Müsste man da nicht erst einmal festlegen, von welcher Mode man spricht und von welcher Kunst? Vergleicht man Massenmode mit großer Kunst, kann der Vergleich nicht stimmen. Massenmode lässt sich nur mit Gebrauchskunst vergleichen, anerkannte große Kunst mit Haute Couture und manchen Designermoden des Prêt-à-Porter. Mode, so Graw, werde konsumiert, also aufgebraucht, Kunst nicht, sie werde oft sogar wertvoller – aber welche Mode wird aufgebraucht? Werden tatsächlich alle Moden aufgebraucht, also vernichtet? Und wird Kunst etwa nicht aufgebraucht? Hört man in solchen Argumenten nicht das ferne Echo einer zweckfreien, autonomen Kunst? Bereits Nancy Troy (2003) postuliert einen grundlegenden Zusammenhang von Kunst und Mode. Im frühen 20. Jahrhundert und insbesondere im Werk und der Selbstpräsentation des Modeschöpfers Paul Poiret (1879-1944) erkennt sie eine Logik der Mode, die auf der Spannung zwischen Originalität und Reproduktion gründe (Troy 2003, 4). Denn so wie die Haute Couture ihre kostbaren Einzelstücke zwar als Originale deklariere, sie aber letztlich zur Kopie für den Massenmarkt freigebe (»authorized« oder »genuine reproductions«), verhalte sich auch die avantgardistische Kunst mit ihrem Anspruch auf Originalität, der angesichts ihrer Vermarktung (durch Reproduktionen) hinfällig werde, aber natürlich außerdem im Hinblick auf die Ready Mades, die damals alle Vorstellungen einer authentisch-ursprünglichen Kunst in Frage stellten und klar machten, dass es nur Zuschreibungspraktiken sind, die Kunst von Nicht-Kunst unterscheiden. Das
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Original, so Troy, sei nichts als eine Funktion der Kopie, die für das Konzept von Originalität nötig sei (Troy 2003, 7). Modemacher wie Worth oder Poiret setzten sich als Künstler in Szene, signieren ihre Kreationen und bauen ihre »persona« als Künstler und zusätzlich als Kunstsammler auf. Sie lassen ihre Moden durch Künstler in exklusiven Künstlerbüchern darstellen. Die quasi-industrielle Produktion wird durch den Nimbus der Handarbeit und die Schaffung von Originalen verschleiert. Im Vergleich Poirets mit dem Kunsthändler Kahnweiler stellt Troy fest, dass beide ähnliche Strategien der Präsentation und Vermarktung entwickelten, nämlich vor allem eine Exklusivität, die jede Massenwirkung scheinbar ablehnt. (Troy 2003, 57f.) Sie präsentieren ihre Mode/ihre Kunst als bedeutsam, dauerhaft und künstlerisch besonders wertvoll, aber natürlich muss sie verkauft werden, weil sie nur so überleben kann. Das Dilemma teilen Kunst und Mode, nur unter traditionell verschiedenen Vorzeichen, ebenso das grundsätzliche Problem ihrer Kopierbarkeit, und schließlich ist beiden Formen der Rückgriff auf Vorhandenes in der Gestaltung gemeinsam, also auf Bilder und Mythen – und nicht zuletzt auf ganz konkrete Gegenstände, die zu Ready Mades umdefiniert werden. Troy entdeckt verblüffende Parallelen zwischen Marcel Duchamp und Poiret im Hinblick auf eine Instabilität von Autorschaft, »faced with the collapse of distinction between originality and reproduction« (Troy 2003, 292). Troy löst das Problem der Grenzziehung zwischen Kunst und Mode nicht – das ist so allgemein ohnehin kaum möglich – und kann auch den endgültigen Kollaps der Grenze nicht behaupten, denn diese ist weiterhin in Bewegung. Sie entwickelt jedoch schon früh eine zu wenig beachtete wichtige Perspektive auf das Verhältnis der beiden, die in alle weiteren Überlegungen einbezogen werden sollte. »Zur Benutzbarkeit der Kleider gehört untrennbar ihre Käuflichkeit. Mode ist Ware, ungeachtet ihres künstlerischen Anspruchs: Sie wird als Ware vertrieben, indem sie als Kunst inszeniert wird. Nun wäre es eine Täuschung zu glauben, mit der Kunst verhalte es sich anders: auch die Kunst ist den Gesetzen des Marktes unterworfen. Die Verbindung zwischen Kunst und Kommerz ist, vereinfacht gesagt, ein weiteres Kennzeichen der Modernität der Mode, die hier den anderen Künsten nicht hinterherhinkt, sondern voraus ist.« (Lehnert 2005, 257) Im Gegensatz zur Kunst, die 200 Jahre lang vorgab, frei von den Zwängen des Marktes zu sein, hat die Mode ihre eigene Autonomie nie behauptet. Dass es mithin nicht die grundsätzliche Käuflichkeit der Kleidermode sein kann, die sie von Kunst abgrenzt, hat die bisherige Argumentation ergeben. Am Ende bleibt der Körper als entscheidendes Element einer möglichen Unterscheidung. Für die Mode ist er unabdingbar, für die Kunst nur ein möglicher Aspekt unter vielen. Die unmittelbare Beziehung von Kleidern zum Körper wie zur gesamten Person macht Modekleidung zu etwas, was man benutzen kann. Das Kleid wird eins mit der Trägerin, und keineswegs nur im übertragenen Sinne, sondern materialiter, indem es auf dem Körper getragen wird, den Körper ebenso braucht wie der
Mode als kulturelle Praxis
Körper das Kleid. Das kann man von Kunst eher selten sagen; eine solche enge, intime Bindung an den Körper kann sie nicht haben (es ei denn, es handele sich um textile Kunst oder Performance-Kunst). Sie bleibt dem Körper ferner, kann nur mittelbar zur Persönlichkeitspositionierung verwendet werden und wird tendenziell distanzierter rezipiert. Die Mode hat sich nie als eine Kunst sui generis verstanden, sondern zielte immer auf den – wie auch immer gearteten – Gebrauch ab und betonte ihre spezifische Materialität und Körperlichkeit. Wenn auch modische Gestaltungen sich immer wieder von Traditionen, Kontexten und Bedeutungen zu emanzipieren suchen und unter Umständen eine Tendenz zur Autonomisierung erkennen lassen (im Sinne einer Emanzipation von Tragbarkeit und Verkäuflichkeit als Kleidung), bleibt Kleidermode doch immer in konkrete, wechselnde Kontexte der globalen Konsumkultur sowie der Körpergeschichte eingebettet. Diese haben je nach Epoche unterschiedlich große Schnittmengen mit Design- und Kunstgeschichte, aber sie sind nicht deckungsgleich. Für Kunst ebenso wie für Mode gilt jedoch ein modernes, dynamisches Verständnis von Ästhetik. Der Begriff geht auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes als »Wahrnehmung« zurück und stellt neben dem Formalen des Designs vor allem auch ästhetische Erfahrung sowie ästhetische Arbeit in den Mittelpunkt, statt feste Kategorien des Schönen oder der Kunst aufzustellen. Eine Ästhetik von Mode kann also (1) verstanden werden als ein spezifisches visuelles und haptisches Wahrnehmungsangebot, das mit ausgeklügelten Strategien der Aufmerksamkeitslenkung arbeitet, um die Wahrnehmung durch Fachleute und Publikum zu gewinnen und idealiter deren kurzfristige Akzeptanz zu gewinnen. (2) Darauf folgt eine kurzfristige Symbiose der Modekleider mit den Körpern der Konsumierenden und die unterschiedlichen Inszenierungen in den unterschiedlichsten medialen Formaten sowie im Alltag, denen eine eigene ästhetische Qualität und performative Kraft eignet.
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Körper & Kleid »Le corps est là pour que le vêtement existe«.1
In der Amalgamierung von lebendem Körper und leblosem Kleid entsteht ein Drittes, das mehr ist als die Summe seiner Teile: Modekörper. Körper und Kleid sind auf den verschiedensten Ebenen von Fühlen, Sehen, Wahrnehmen und Handeln miteinander verbunden. Zunächst einmal fallen die Formen ins Auge, die auf diese Weise entstehen: die Modekörper, die uns tagtäglich umgeben, sei es in der Alltagswelt, sei es als Bilder in den unterschiedlichen Medien. Darüber hinaus speichert das kulturelle Gedächtnis Bilder von Modekörpern früherer Zeiten und bringt sie mit der gegenwärtigen Seherfahrung in Verbindung. So werden visuelle Wahrnehmung und Auffassungen von Identität und Geschlecht, von Schönheit, Hässlichkeit, Angemessenheit oder Abweichung in hohem Maße von der Kleidermode geprägt und ständig verändert. Seit der Aufklärung gilt der Gesichtssinn als der favorisierte Sinn; er impliziert gegenüber dem Tastsinn, dem ursprünglichen Sinn, Distanz und Reflexion.2 Letztere ermöglichen überhaupt erst die gegenwärtige Virtualisierung der Lebenswelt und der menschlichen Wahrnehmungen. Weniger thematisiert oder gar theoretisiert, aber von herausragender Bedeutung für den Umgang mit den Kleidern auf unserer Haut ist das haptische Moment. Das geht weit über das hinaus, was die Werbung zuweilen behauptet: dass sich Samt oder Seide schmeichelnd anfühlen oder bestimmte Kunstfasern sich genauso weich und zärtlich, wenn nicht noch zärtlicher, anschmiegen wie z.B. Crêpe de Chine. Sabine Trosse schlägt eine Systematik der Sinne in Bezug auf Kleidung vor. Auf der visuellen Ebene lassen sich funktionale und symbolische Qualitäten der Kleidung vermitteln: Beruf, Geschlecht, religiöse und soziale Herkunft etc., andererseits die gestalterische Ästhetik der Kleidung (Trosse 1994, 64). An ihr forme sich das Verhältnis Kleid – Körper aus, sie gehe über in den Bereich der Kinästhetik. Diesen teilt Trosse in einen motorischen und einen haptischen/taktilen Part. Der 1 | Roland Barthes: Erté ou à la lettre, 1989, S. 102 (dt. S. 114: »Der Leib ist da [...], damit die Kleidung existiert«). 2 | Vgl. u.a. Serres 1998; Böhme 1996.
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motorische betrifft die Schnittformen und die Beschaffenheit der Stoffe, die auf die Wahrnehmung wirken. Die haptische Wahrnehmung werde durch die Stoffe selbst geprägt. Steinert (2003) nimmt das auf und entwickelt am Beispiel der Kunstfasern in den Moden der 1920er und der 1950er Jahre eine Klassifikation der haptischen (außerdem olfaktorischen) Qualitäten von Kleidung: glänzendstumpf; transparent-opak; glatt-strukturiert, einfarbig-mehrfarbig; das deutet sie im politisch-sozialen Kontext, macht also wieder ein Zeichensystem daraus. In der Tat, jedes Material hat seine eigene haptische Qualität, die mehr als die visuelle auf das individuelle Selbstgefühl wirkt. Darüber hinaus sind es die Formen der Kleidung, die Körper zu bestimmten Bewegungen nötigen, andere verbieten, die befreien oder einengen, schützen oder exponieren. Diese Thematik hängt zusammen mit der Disziplinierung der Körper, die Norbert Elias im Prozess der Zivilisation als untrennbar mit der psychischen Zivilisierung beschrieben hat. Im Zusammenhang mit dem Korsett oder auch mit Schuhen3 ist exemplarisch darüber gearbeitet worden, denn das sind die spektakulärsten Fälle einer Veränderung der Körperformen und der Schaffung von Haltungen durch den Ausschluss anderer Haltungen und Bewegungsformen. Strukturell gilt dieses Verhältnis jedoch für Modekleidung generell; es ist eines der Merkmale von Modekleidung, dass sie den Körper verändert. Dabei macht sie ihn nicht nur zum »gut angezogenen, idealisierten Körper« (Vinken 2012, 126), sondern grundsätzlich zu einem Modekörper, der immer ein hybrider Körper und manchmal auch ein Kunstkörper ist. Das Kleidungsstück in seiner Gesamtheit ist keineswegs nur Material, sondern es ist einerseits Resultat menschlichen Handelns, also der Gestaltung und Herstellung, und andererseits nimmt es nur deshalb einen so zentralen Platz im Leben ein, weil es mit Zuschreibungen versehen und mit Qualitäten ausgestattet wird, die ihm nicht unbedingt materialiter zu eigen sind. Es wird quasi belebt. Aber die Materialität der Modekleidung und ihre Form kann sich verselbständigen zu Skulpturen, die den menschlichen Körper nur noch als Trägermaterial und raumgebendes Element benötigen. Kleidung ist ein geradezu ideales Medium zur Überbrückung der Dichotomisierung zwischen der Virtualisierung und Entkörperlichung einerseits und der Überbetonung des rein Physischen, von der die zeitgenössische Realität seit langem beherrscht wird. 4 Denn dem Kleidungsstück, das man auf dem Körper trägt, mit dem man quasi eins wird, entkommt man nicht. Es ist sehr real, sehr materiell, es lässt die Trägerin fühlen: sich selbst und den Raum, der sie ist/den 3 | Als exemplarisch kann Dorothy Kos wichtige Studie über das chinesische Footbinding gelten (Ko 2005); siehe zu Schuhen allgemein u.a. Steele, Valerie/Hill, Colleen 2013. Zum Korsett Barbe 2012; Steele 2003; Fontanel 1997; Junker/Stille 1988. 4 | Vgl. Fleig 2000; zum Körper ferner grundsätzlich Wulf 2004, Villa 2007; zum Körpergefühl Starobinski 1991 und viele andere Publikationen seit den 1970er, vor allem seit den 1990er Jahren.
Körper & Kleid
sie einnimmt und den Raum, in dem sie sich bewegt (Lehnert 2012b). Und es ist zugleich ein Zeichen, das eine Fülle von (immateriellen) Bedeutungen und Möglichkeiten in sich birgt, die ihm nicht materialiter zu eigen sind. Es bringt deshalb die TrägerInnen in die stete Bewegung zwischen materieller und immaterieller Welt. Die Mode lässt uns im Alltag ständig »Akte des Fingierens« (Iser 1993) ausüben, um die Isersche Theorie literarischen Schreibens auf den Umgang mit Mode zu übertragen, in denen Spielräume des Self Fashioning eröffnet werden: Selbstgestaltung, Selbsterkundung. Auf der Schnittstelle zwischen dem vestimentären Artefakt, dem menschlichen Körper, den kulturellen Codes und Imaginationen sowie den individuellen Phantasien entsteht – und sei es nur für kurze Zeit – Identität. Das hat eine positive Seite, nämlich Kreativität; es hat auch eine negative Seite, nämlich Normierung und Zwang.
F OKUS 1: V ISUELLE W AHRNEHMUNG : TROMPE L’ŒIL Ein Grundprinzip der Mode ist das Spiel mit visueller Wahrnehmung, ist die Herausforderung der Wahrnehmung, die darin liegt, den Blick zwischen Belebtem und Unbelebtem – oder auch zwischen verschiedenen Schichtungen und Faltungen des Unbelebten – schweifen und unentschieden zu lassen. Verwirrung wird erzeugt, Trompe-l’œil. Visuelle Wahrnehmung hat mindestens zwei Seiten: sie ist zwar distanziert, kann sich aber zugleich dem annähern, was sie wahrnimmt, ja es sich gewissermaßen im Akt des Sehens einverleiben. Modisches Verhalten treibt die – ineinander übergehenden – Modalitäten visueller Wahrnehmung auf die Spitze: das Sehen und ästhetische Genießen, das Sehen und Deuten, das Sehen und Habenwollen, das Sehen und Seinwollen, die Selbstreflexion und das Selbst-Fühlen. Das Spiel der Mode, so sehr es auf Immersion setzt, hindert doch auch den reinen Selbstgenuss der Betrachtenden5 . Ein Riss in der Wahrnehmung entsteht, denn die Mode täuscht, so lange man von einer Identität vor aller Kleidung ausgeht – und sie täuscht zugleich vor, dass es einen »wahren« Körper und eine »wahre« Persönlichkeit gebe. Mode lebt vom Zirkel Illusion – Desillusion – erneute Illusion; sie produziert Trompes l’œil. Man erkennt, dass man ein Trompe l’œil sieht, und ist doch unsicher hinsichtlich des Status’ dessen, was man sieht; man durchschaut diese Täuschung, und dennoch funktioniert sie 6. Hier entsteht der Riss in der Wahrnehmung. Man mag in diesem Zusammenhang an Roland Barthes denken, der in »Le plaisir du texte« (Barthes 1973, 17) von dem Riss in der Kleidung als dem Ort der Erotik spricht.
5 | Dekonstruktive Moden lassen diesen (unreflektierten) Selbstgenuss nicht zu; sie unterlaufen die Täuschung. Siehe zur dekonstruktiven Mode Vinken 1993. 6 | Lehnert 2008; Lehnert 2001b; vgl. auch von Pape 2008.
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Dieses grundlegende Prinzip der Mode führt ein Performance-Projekt der Künstlerin Alba d’Urbano vor. Es treibt den geschilderten Prozess auf die Spitze und kann ihn deshalb umso besser begreiflicher machen. Mit Hilfe von Computerdruck hat die Künstlerin ihren eigenen Körper auf fleischfarbene Kleidungsstücke gedruckt, um einmal aus der eigene Haut zu können (Masserdotti 2000, 40f.). Abbildung 1: Alba D’Urbano, »Il sarto immortale«, »Der unsterbliche Schneider«
Der Effekt ist verblüffend. Denn auch wenn man das Prinzip durchschaut, traut man seinen Augen nicht: Sieht man nun eine nackte Frau oder eine bekleidete Frau? Der Eindruck der Nacktheit ist stärker als etwa bei Altmans Models im Film »Prêt-à-porter«, die am Ende »tatsächlich« nackt über den Laufsteg gehen und vor allem verdeutlichen, wie sehr auch der nackte Körper der Mode unterliegt7. Die Nacktheit der Kleider von Alba d’Urbano gewinnt fast etwas Obszönes, da die Kleiderkörper die sekundären Geschlechtsmerkmale hervorheben und Scham- und Achselhaare betonen, die in unserer Kultur eher beseitigt als betont werden. Man weiß, dass man ein Kostüm sieht, und verwechselt trotzdem Körper und Kleid. Der Effekt wird gesteigert, wenn die Kleidungsstücke in Bewegung vorgeführt werden, wie auf einem Video zu sehen war. Übergänge und Grenzen werden sichtbar: die gedruckten Körperteile stimmen manchmal nicht ganz mit denen des vorführenden Models überein, die durch die Bewegung hervorgehoben werden, auch wenn man sie oft mehr erahnt als wirklich sieht. Eine Verschiebung 7 | Vgl. zum nackten Körper in der Kunst Hollander 1993 und natürlich Clark 1958.
Körper & Kleid
in der Wahrnehmung der Betrachtenden entsteht, die erneutes Hinsehen geradezu erzwingt – der Blick will verstehen und einordnen, was er sieht, und bleibt doch verwirrt. Man wird getäuscht, man weiß es und kann der Täuschung doch nicht entgehen. Der Gegensatz von Kleid und Körper löst sich keineswegs auf, auch wenn ihr Verhältnis invertiert wird und die Grenzen verschwimmen. Keine neuen Körperbilder entstehen, sondern ein Trompe l’œil führt in die Irre, Täuschung und Des-Illusion gehen ineinander über. Mode wird als ein Prozess vorgeführt, in den Kleider, Körper und Wahrnehmung involviert sind. Indem Kleid und Körper invertiert werden, werden außerdem Strukturen des Fetischismus aufgerufen (vgl. zum Fetischismus Fokus 3 dieses Kapitels). Sehen sucht Antworten, Sehen deutet, Sehen schreibt Bedeutungen zu. Sehen bringt Sehende rasch in ein kognitives Verhalten. Aber Sehen kann auch immersiv wirken: eine ästhetische Erfahrung, die nichts anderes in diesem Moment mehr wichtig sein lässt als die Erfahrung des gesehenen Objekts. Und: Sehen kann zu fühlen geben. Menschen verfügen über einen Schatz an Erfahrungen davon, wie bestimmte Kleider und Materialien und Bewegungen sich anfühlen. Selbst wenn man ein Kleid im Museum sieht oder im Schaufenster, ist man oft imstande – in einer Mischung aus Erinnerung und Extrapolation –, sich vorzustellen, wie es sich anfühlt. Direkt geben kann ein Objekt, das man aus der Ferne sieht, den haptischen Eindruck nicht, aber es kann ihn ver-mitteln und suggerieren. Deshalb können Gemälde eine so sinnliche Wirkung ausüben. Diese rührt nicht nur von der täuschenden Wiedergabe eines Objekts her, also der Lust an der Mimesis und am Trompe l’œil, sondern auch daher, dass wir beim Sehen die anderen Sinne bis zu einem gewissen Grade aktivieren können 8 .
F OKUS 2: F ÜHLEN , H ANDELN : K ÖRPERTECHNIKEN Damit Kleidung sich als Mode realisieren kann, muss sie getragen werden, sei es von einem lebenden und beweglichen Körper – das wäre das Ideal –, sei es von einer Puppe oder doch wenigstens einem Kleiderständer mit gewissen körperähnlichen Dimensionen. Erst dann entsteht eine innige Wechselwirkung zwischen Kleidern und Körpern, die ein Drittes hervorbringt: den Modekörper. Das Verhältnis kann als performatives beschrieben werden: Modekleidung drückt den Körper nicht aus, sondern sie bringt eigenständige neue Körper hervor: kurzfristig für die Augenblicke der Inszenierung, mit längerfristigem Effekt, indem sie an der Bildung von Geschmack Anteil haben, so dass Trends entstehen. Modekörper müssen mitnichten am Ideal von Schönheit oder Eleganz orientiert sein, 8 | Hier lässt sich eine Analogie zu H. Böhmes Deutung des Sehens als abgeleitetes Tasten ziehen. Er erläutert, dass den Vorsokratikern auch das Sehen eine »Kontaktwahrnehmung« sei und die von ihm ausgesandten Berührungsreize im Geist zu Vorstellungen olfaktorischer, visueller und anderer Art werde. (Böhme 1996, 205)
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sondern können alles sein – Hauptsache ungewohnt und reizend im buchstäblichen Sinne (oder: bereits so lange veraltet, dass sie schon wieder ungewohnt sind und recycelt werden können) (Lehnert 2001b).9 Wenn der Modekörper vom Subjekt als »Ausdruck« der eigenen Persönlichkeit betrachtet wird, basiert das auf der stillschweigenden Voraussetzung, es gebe ein vorgängiges Selbst mit einer ersten – angewachsenen – Haut, dem sich die zusätzliche zweite Kleider-Haut als Zusatz nahtlos anschmiegt10, freilich aber abgelegt und ausgewechselt werden kann. Damit wird die zweite Haut als sekundäres Phänomen betrachtet, das einer vorgängigen stabilen, nach außen klar abgegrenzten Identität als Zusatz hinzugefügt wird. Die zweite Haut gilt dann als Außen gegenüber einem Innen, dessen Grenze durch die erste Haut markiert wird; sie drückt angeblich aus und kann in ihren Veränderungen die Veränderung des Innen spiegeln. Der so installierte sekundäre Status der zweiten Haut verführt leicht dazu, Mode als bloßen Schein, als Verkleidung zu deuten 11 . Das kann Mode durchaus sein. Aber sie ist es nicht ein für alle Mal, sondern in genau zu bestimmenden Sonderfällen. Legt man den Schwerpunkt nicht auf Repräsentation, sondern auf Hervorbringung im Sinne eines performativen Verständnisses, dann ist modisches Handeln ein Vollzug, in dem sich das Subjekt überhaupt erst konstituiert. Dann kann man die »zweite Haut« als konstitutiv für Identität betrachten, ungeachtet oder gerade wegen ihrer Flüchtigkeit und Austauschbarkeit ebenso wie aufgrund ihrer engen Bindung an den lebenden Körper, und das Konzept gewinnt einen heuristischen Wert für die körperbildende Kraft der Kleidung. In diesem Sinne verwende ich den Begriff der zweiten Haut denn auch im Folgenden. In der Spannung von Belebtem und Unbelebtem entfaltet sich Kleidung als Mode, im Dialog Körper – Kleid. Der Körper belebt die Kleidung kraft seiner eigenen Dreidimensionalität und Beweglichkeit; er allein vermag das Kleid adäquat (als Mode) zu inszenieren. Das Kleid ist ohne den dreidimensionalen Körper (und idealiter seine Bewegungen) keine Mode. Der Körper wiederum schafft sich durch das Kleid und im Kleid spezifische Räume: Spielräume und Handlungsräume. Das Kleid inszeniert sich als Körper, und es wird vom Körper inszeniert als räumliche, ephemere und vor allem körperkonstitutive Erscheinung. Denn das 9 | Comme des Garçons etwa galt noch vor 10 Jahren als verstörend avantgardistisch, fern jeglicher Eleganz; dann wurde das Label – wenn auch in entschieden reduzierten, wenig provokanten Entwürfen – bei H&M vermarktet. 10 | Lehnert 2008; zur Haut siehe Benthien 1999. 11 | So Barbara Vinken (2001, 281), die die These vertritt, die Haute Couture sei die Travestie einer Travestie, die die Identität von Geschlecht als Verkleidung ausstelle. Mode repräsentiere nicht die Geschlechter, sondern gerade die Unrepräsentierbarkeit der geschlechtlichen Differenz. – Diese Argumentation ist einer Version des poststrukturalistischen Konzepts von Transvestismus verpflichtet, das auch anderes gelesen werden kann und in den Gender Studies der 1990er Jahre gelesen wurde. – Mir geht es in diesem Zusammenhang gerade um Hervorbringung, nicht um Repräsentation.
Körper & Kleid
Kleid schafft nicht nur im Dialog mit dem Körper einen neuen Körper, den Modekörper, sondern es verändert darüber hinaus das Selbstbild und das Selbst-Gefühl der Trägerin/des Trägers. Es wirkt nicht nur auf Bewegungen und Haltungen, sondern auf die momentane Befindlichkeit, auf das Selbst-Gefühl und schließlich auch das Selbst-Bewusstsein im wörtlichen Sinne. Es trägt mithin in erheblichem Maße dazu bei, den Habitus einer Person zu modulieren12 . Man könnte auch, in anderer Perspektive, sagen, dass der Modekörper, das modische Kleid in Kooperation mit dem lebendigen Körper, etwas zur Erscheinung bringt, was anders nicht sichtbar wäre13 . Das sollte nicht missverstanden werden als Ausdruck einer vorgängigen Essenz (z.B. Identität oder Charakter), sondern vielmehr als ein performativer schöpferischer Vorgang (im weitesten Sinne), der nicht ausdrückt, sondern modelliert und im Prozess des Modellierens und Zeigens hervorbringt. Anders gesagt, der Modekörper wird vom Subjekt als der seine angesehen, er wird performativ naturalisiert zum eigenen Körper. Von hier aus lässt sich das Konzept von Mode als Körpertechnik entwickeln. Wenn (modische) Kleidung dem Körper hinzugefügt und ihm wieder genommen würde, ohne Spuren zu hinterlassen, wäre sie reine Oberfläche. Tatsächlich aber gehört die Praxis des Sich-Kleidens zu denjenigen Prozessen, in denen Körper, ihr Aussehen, ihr Verhalten, ihre Bewegungen, ihre Ausstrahlung, in hohem Maße geprägt werden. Wie, wenn nicht durch das Einüben des Sich-Kleidens, des Sich-Angemessen-Kleidens, würden Körper rascher und effizienter zu kulturellen Körpern gemacht? Scham und Schönheit: Beides beginnt mit dem Kleid. So gibt die Mode zwar immense Spielräume. Da aber das Handeln mit Mode so wenig frei ist wie jedes andere Handeln, ist auch das Spiel mit Mode bis in die feinsten Verästelungen durch Nachahmung geprägt: Nachahmung von Geschlechternormen, Geschmacksnormen, sozialem Status und so weiter. Mode zeigt nicht nur die ökonomische Potenz ihrer TrägerInnen an, sondern sie gehört auch zum symbolischen und kulturellen Kapital, indem sie ästhetische Kompetenz und sogar Bildung signalisiert 14 . Wer z.B. ein Outfit von Comme des Garçons oder Yamamoto trägt, outet sich nach wie vor als modisch avanciert, als künstlerisch versiert und tendenziell als intellektuell. Indem die Nachahmung zum Eigenen gemacht wird, wird der Prozess der Nachahmung selbst unsichtbar gemacht. Freilich: Das Nachgeahmte verändert sich, es bleibt nicht ganz identisch mit dem, was nachgeahmt wurde, sondern erhält eine zeit- und kontextspezifische und eine individuelle Nuancierung. Darin liegen dann wiederum die – wenn auch eingeengten – Spielräume individuellen und modischen Handelns, in dem – idealiter – aus der Nachahmung etwas Neues entsteht. Das gilt für die Produktion ebenso wie für die Konsumption.
12 | Zum »Habitus« siehe Mauss 1978 [1950]; Bourdieu 1987. 13 | Zur Begrifflichkeit siehe Seel 2000; Iser 1993. 14 | Zur Begrifflichkeit siehe Bourdieu 1987; Bourdieu 2005, 49-80.
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Diese Grundannahme ist anschlussfähig sowohl an performativ orientierte Identitätstheorien, z.B. die Geschlechtertheorie (de Lauretis 1987, 13; Butler 1990), als auch an Marcel Mauss’ und vor allem Pierre Bourdieus Konzept des Habitus (Mauss 1978, Bourdieu 1987). Sie sind unverzichtbar für eine Auffassung modischen Handelns als Körpertechnik. Die Sozialanthropologen gehen von der Annahme aus, dass es keinen »natürlichen« Körper gibt, weil Körper von Beginn an kulturell geprägt und geformt werden. Wie Menschen gehen, wie sie schwimmen, wie sie sitzen: nichts davon ist einfach gegeben, alles ist das Resultat eines kulturspezifischen Lernprozesses durch Mimesis, der drei Aspekte hat: den biologischen, den psychologischen und den sozialen. Sein Ergebnis sind die Arten und Weisen, in denen sich Menschen in verschiedenen Gesellschaften ihres Körpers bedienen (Mauss 1978, 199) und Körpertechniken mit ihrem Körper als erstem verfügbaren Instrument entwickeln.15 Norbert Elias (1992) stellt die Formung des Verhaltens als fortschreitenden Zivilisationsprozess dar, in dessen Verlauf die Verwandlung sozialer Zwänge in Selbstzwänge geschieht. Diese seien ebenfalls niemals nur mentaler Natur, sondern beziehen sich stets auf körperliche Vorgänge. Sigmund Freuds Theorie zur Entwicklung des Gewissens als Resultat einer Verinnerlichung äußerer Autoritäten und Normen findet hier ihre stärker ins Körperliche gewandte Analogie. Pierre Bourdieu (1974, 1987) schließlich konzipiert »Habitus« 16 als »Leib gewordene Geschichte« (Fröhlich, Rehmann 2009) und als nicht bewusste Grundlage bewusster Handlungen. Habitus ist ein dynamisches Ergebnis der Vermittlung gesellschaftlicher Normen mit der Rezeption und Anverwandlung durch einzelne Subjekte. Impliziert sind dabei immer auch mögliche Modifikationen. Das Subjekt nimmt auf, es erlernt im mimetischen Handeln Verhaltensmodelle körperlicher, emotionaler und intellektueller Art, so dass Soziales und scheinbar Privatestes sich im Subjekt untrennbar verbinden und der Körper als Handlungssubjekt betrachtet werden müsse 17. Auf Modekleidung übertragen bedeutet das, dass die Zurichtung des Subjekts zum Umgang mit vestimentären Artefakten ein spezifisches Modewissen und Körperwissen produziert. Kleider werden zur »zweiten Haut« und »passend« im doppelten Sinne nicht nur für unterschiedlichste soziale Anlässe, sondern zunehmend auch für die Vielzahl unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppierungen und Situationen, zwischen denen man sich beständig bewegt. Mode bildet sich zu einer Verkörperungstechnik aus, die 15 | Jennifer Craik diskutiert ebenfalls das Konzept von Mode als Körpertechnik, basierend auf Mauss und Bourdieu. Sie betont, dass der Körper nicht nur technisch und sozial sei, sondern politische Arrangements verkörpere (Craik 2009, 137). 16 | Eine informative Einführung und ein knapper historischer Überblick Rehbein/Saalmann 2009, 110-118; siehe dort auch einzelne Artikel über Bourdieus Werke. Siehe ferner Krais/Gebauer 2002. 17 | Gebauer 1997, 501-516, hier: 515.
Körper & Kleid
mit atemberaubender Geschwindigkeit das ständig Neue amalgamiert und idealiter – das Streben nach Originalität und Individualität ist der Mode und ihren Menschen nicht auszutreiben – wenigstens ansatzweise modifiziert und eventuell auch hervorbringt. Ein Beispiel ist die Street Fashion, die als Ursprung von Moden zunehmend wichtig wird und doch immer auf bereits existierende Kleider und Moden zurückgreift, um sie neu zu kombinieren, manchmal sogar, um sie auseinanderzunehmen und neu zusammenzusetzen, also zu montieren. Damit ist einer der wesentlichen Aspekte des Modehandelns benannt: der Rückgriff auf das Bestehende, die Auswahl und Kombination vorgegebener Modelle und Stile. Wir machen unsere Moden schön längst nicht mehr selbst, sondern übernehmen vorgefertigte Angebote – Folge der Ausdifferenzierung der modernen bürgerlichen Industriekulturen seit dem 19. Jahrhundert, in der wichtige Tätigkeiten an Spezialisten delegiert wurden. Im 19. Jahrhundert entstand die Haute Couture, und Modeschöpfer wurden zu Schöpfern von Stilen, die sich erstmals künstlergleich mit ihrer Signatur verewigten. Je weniger man selbst produziert, desto wichtiger wird die Fähigkeit zum Kombinieren. Das ist längst keine originelle Idee mehr, sondern wird seit Jahren von Modezeitschriften propagiert und in Mode-Blogs zelebriert. Man soll keinen einheitlichen Stil (z.B. eines Modehauses) von Kopf bis Fuß mehr tragen, sondern Elemente mischen. Originalität und individueller Stil zeigen sich dann in der gelungenen Kombination und eventuell – bestenfalls! – im gelungenen Stilbruch. Mittlerweile schlägt sich das auf noch extremere Weise als früher im Mode-Design selbst nieder: wenn nämlich aus alter, abgelegter Kleidung neue gemacht wird, wie das etwa das Berliner Label Schmidttakahashi tut (vgl. dazu das Kapitel 4,1 über das Gedächtnis der Mode). Originalität und Stil zeigen sich auch in Alltagspraktiken der Konsumierenden, nämlich in der Art, wie sie die Kleider tragen, wie sie sie inszenieren: in der Attitüde. Und in dem, was mehr ist als bloße Attitüde: im Habitus. Der Vorteil des Habitus-Konzepts ist die Betonung des Körperlichen und die Vorstellung, dass das, was Menschen lernen, sich nicht nur dem Körper einschreibt (was eine Passivität des Körpers impliziert), sondern vor allem aktiv verkörpert wird. Gesellschaften produzieren Subjekte, die die Normen und Verhaltensweisen ihrer eigenen und manchmal auch fremder sozialer Schichten übernehmen und verkörpern und dabei glauben, dass sie ganz und gar individuell handeln. Daraus resultiert die viel beschworene Paradoxie der Mode: Das Individuum folge der Mode, um seine eigene Einzigartigkeit durchzusetzen, indem es sich nach einer allgemeinen Tendenz ausrichtet. Es macht, was die anderen machen, um anders zu sein. Für die Konsumentin liegt das Individuelle im sinnlichen Erleben, obgleich auch dieses kulturell überformt ist. Und deshalb werden neue Techniken wie die Möglichkeit, Kleidung virtuell anzuprobieren, schwerlich das Einkaufen und Anprobieren verdrängen können. So lästig das An- und Ausziehen in der Umkleidekabine sein mag: Es lässt die Trägerin sofort spüren, welches Kleidungsstück
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richtig ist und welches sich einfach falsch anfühlt (oder falsch aussieht). Es ist ein sinnliches Erlebnis, so verdrängt die Sinnlichkeit sein mag, und kein abstraktes, extrapolierendes18. Indessen: jede Verkörperung verändert das Vorgängige, so wie in der Perspektive des Performativen jede Aufführung das Aufgeführte verändert, ganz gleich ob es sich um eine Theateraufführung oder eine sogenannte »cultural performance« oder um unsere täglichen Identitäts-Inszenierungen handelt. Hier installiert sich eine Iterativität, die niemals das Identische hervorbringen kann, sondern nur das fast Identische. Darin liegt der Riss, der das Andere des Spielraums ahnen lässt; liegt die Chance der Subversion und der Veränderung. So wird ja auch Geschlecht als integrales Element unserer Identitäten, oder: unseres Habitus, in einer unendlichen Serie von Inszenierungen und Verkörperungen nicht etwa ausgedrückt, sondern produziert (de Lauretis 1987; Butler 1990) und dabei affirmiert oder eben auch minimal verändert. In dieser unabschließbaren Dynamik liegt der Spielraum für Veränderung und auch für das Neue. Im Zusammenhang mit der Materialität und potentiellen Mehrdimensionalität der Kleidung und der Bewegung der Körper besitzt die kleiderbasierte Körpertechnik eine besondere räumliche Dimension, die sich z.B. im Umfang der Körper oder in Enge oder Weite der Bewegungen manifestiert. In der konstitutiven Verbindung von dreidimensionalen menschlichen Körpern und vestimentären Objekten entstehen spezifische, historisch und kulturell variable Räumlichkeiten.19 Raum konstituiert sich in Bewegung und Objekten; man bewegt sich und nimmt Bewegung wahr, man platziert sich und nimmt platzierte Objekte wahr: daraus entsteht Raumwahrnehmung und Raumgefühl (Löw 2001). Die Freiheit der Bewegung in moderner Stretchkleidung erzeugt ein anderes Raumgefühl als der eingeschnürte Körper, der sich nur bedächtig bewegen kann. Die Wahrnehmung ausladender, üppig geschmückter, raumfüllender Modekörper wie etwa im 18. Jahrhundert erzeugt andere Raumwahrnehmungen als der Anblick windschnittig gekleideter sportlicher Menschen im frühen 21. Jahrhundert. Und diese wiederum unterscheiden sich erheblich von einer Person in Comme des Garçons oder Viktor & Rolf20. Daniel Miller beschreibt anschaulich, wie eine Inderin lernt, einen Sari zu tragen, und mit welch nie erlahmender Meisterschaft sie das dann fürderhin tut. Anders als ein genähtes Kleidungsstück muss der Sari ständig kontrolliert, korrigiert und manipuliert werden; er hält die Frau in fortwährender Bewegung und zwingt ihr seine Fluidität auf, gibt ihr aber auch eine Unmenge von Möglichkeiten des Modehandelns. Der Sari wird zu einem Element ihrer selbst, zu einer 18 | Tendenziell anders argumentiert Gaugele 2006; ferner Gaugele 2005. 19 | Siehe Potvin 2009 und Lehnert 2012a, ferner die spezielle Sicht von Flügel, der Kleidung psychoanalytisch als »Erweiterung des Körper-Ichs« deutet, das ein »erhöhtes Machtgefühl« verleihe, »weil wir mehr Raum auszufüllen vermögen« (Flügel 1986, 224). 20 | Lehnert 2001, 528-549; Leutner 2011a, 235-251.
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Art Körperextension, die alle möglichen Funktionen übernimmt und, so der Anthropologe Miller ohne jeden Bezug auf Performativität oder den »performative turn«, er drückt die Trägerin nicht aus, vielmehr macht er sie zu dem, was sie ist (Miller 2010, 23-31). Hier spielt offensichtlich das Fühlen eine wichtige Rolle. Es ist unlöslich mit der modischen Kompetenz verbunden; beide wirken wechselseitig aufeinander ein und münden in einen Habitus, der kulturell identifizierbar und gleichzeitig individuell ist. Das Diktat der Kleidung über den Körper hat Folgen. Der nackte Körper verhält sich gemäß dem Kleiderdiktat, das er gelernt hat, sich ständig neu einverleibt und selbst neu verkörpert. Anne Hollander hat in ihrer Studie »Seeing Through Clothes« (1993) gezeigt, wie sich die Wahrnehmung des nackten Körpers in der Malerei je nach herrschenden Moden verändert, und Kenneth Clarks Standardwerk »The Nude« (1956) verdanken wir die Einsicht, dass auch die Aktmalerei nicht nackte Körper zeigt, sondern mit Kultur bekleidete Körper. Claudia Benthien argumentiert, dass die Haut als Haus des Subjekts und als Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem erlebt werden könne; das gleiche kann für das Gewand gelten (Benthien 1996; Benthien 1998). Wenn Lady Mary Wortley Montagu (1689-1762) als – wie sie stolz betont – erste Europäerin (bzw. als erster europäischer Mensch überhaupt) Zutritt zu einem türkischen Frauenbad erhält, erlebt sie ihre Kleidung wie eine schützende Rüstung, die sie keinesfalls ablegen möchte, obgleich ihr das in einem Bad voller nackter Frauen nahegelegt wird. Sie markiert sich selbst als Außenseiterin und bemüht sich doch – ob pro forma oder tatsächlich, ist ungewiss –, eine von ihnen zu sein. Aber sie, die Bekleidete und Korsettierte, bleibt die Beobachterin der schönen sinnlichen Leiber der anderen Frauen, die sie auch sogleich – in einem vereinnahmenden Gestus – mit europäischen Gemälden vergleicht. Nacktheit scheint ihr für die türkischen Frauen demgegenüber eine ganz andere Rolle zu spielen: es gehöre, erklärt Lady Mary, nicht nur zum Wohlbefinden, sondern zum guten Ton, unbekleidet zu sein. Die Haut scheint hier tatsächlich das Haus, in dem sich jede einzelne sicher fühlt – zumindest solange die Frauen im Bad und unter sich sind. Und, so meint die europäische Beobachterin aus der Perspektive der Sitten und Moden ihrer eigenen Kultur, ihre Kleider, die sie außerhalb des Bades tragen, entsprechen dieser nackten ungezwungenen Natürlichkeit, sie seien ausnehmend prächtig, aber fließend, ungeschnürt, unkorsettiert; sie geben der Sinnlichkeit, die die Frauen in Lady Marys Augen generell verkörpern, den adäquaten Lebensraum (Montagu 1994 21). Wenn wir heute keine Korsetts und ausladenden langen Kleider mehr tragen und als Männer häufig nicht einmal mehr Anzüge, sondern bei jeder Gelegenheit Casual Wear, hat das gravierende Folgen für unsere Haltungen, für unsere Bewegungen, sogar für unsere Manieren und natürlich für unsere Ausstrahlung. Die Jeans hat unsere Körper ein für alle Mal verändert, auch wenn nicht alle sie 21 | Vgl. zu Lady Marys Briefen Konuk 2003, Konuk 2004, Kull 2012.
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tragen: aber sie sind zur Norm geworden. Nicht nur beurteilen wir alle Körper danach, ob sie in eine Jeans passen oder nicht, und versuchen, die Körper dem Kleidungsstück anzunähern: Wir sind gewöhnt an lästige harte Nähte und dicke Knöpfe in der Taille, an miederähnliche Gefühle – an das Gefühl, zugleich eingeengt und frei zu sein! –, an verfügbare Taschen für alles, die Handtaschen überflüssig machen, ohne sie zu verbieten. Wenn die Jeans habitualisiert worden ist, fühlt man sich, wenn man sie trägt, im eigenen Körper so sicher, wie sich eine Frau des 19. Jahrhunderts in Korsett und ausladendem Kleid gefühlt haben mag oder ein Mann in seinem korrekten Anzug. Man fühlt sich unter Umständen »authentisch«, »natürlich«, als man selbst eben, und dieses Gefühl wird zum Maßstab des Gefühls gegenüber anderen Arten, bekleidet zu sein, und des Urteils darüber. Damit einher geht das Gefühl, in allen sozialen Kontexten richtig gekleidet zu sein, sich bewegen zu können, wie die Gelegenheit es verlangt, sich zu fläzen oder im Gegenteil halbwegs korrekt zu stehen (zumal man mit der Jeans auch auf unbequeme Schuhe verzichten und jederzeit und immer Sneakers und Turnschuhe tragen kann). Bilder von James Dean mögen am Anfang gestanden und ein erstrebenswertes Ideal vermittelt haben, dem manche nacheifern, die Jeans tragen. Sie sind längst überlagert von den Millionen Bildern Jeans tragender Menschen, die unseren Alltag dominieren. Die Jeans hat uns auch daran gewöhnt, dass man sich über seine Kleider keine Gedanken machen muss. Sie hat uns darüber hinaus ein Gefühl von demokratischer Gleichheit vermittelt, das so trügerisch ist wie jede andere Auffassung von einer demokratischen Mode, in der soziale Unterschiede nicht mehr an der Kleidung erkennbar wären: Natürlich sind sie es noch immer. Wir haben nur andere Wahrnehmungen und andere Maßstäbe entwickelt und verfügen neben spezialisierten Techniken über ein intrinsisches Wissen (vgl. Kapitel 1, 8). Darum sehen wir sofort, ob eine Jeans ein Discounter-Imitat oder eine der »echten« Marken ist. Genauso wie wir sehen, wer welche Jeans wie trägt, und daraus Rückschlüsse auf die Person des Trägers/der Trägerin ziehen. Der Habitus als soziales Phänomen ist untrennbar mit den sozialen Hierarchien verbunden, die er verkörpert 22 . Stretch-Jeans sind ein Widerspruch in sich und werden von »echten« JeansTrägern eher belächelt, aber sie haben die Norm für eine bestimmte Klientel erneut modifiziert, indem sie die Idee der in Denim übertragenen Rüstung, die schützt und zugleich bequem und unverwüstlich ist, verweichlicht haben: die Stretch Jeans fordert keinen flachen Bauch mehr und keine kraftvollen, aber ungemein lässigen und ursprünglich maskulinen Bewegungen (bei Frauen kann das androgyn werden), sondern lässt die Trägerin/den Träger »schlunzen« und dennoch das Gefühl haben, mit einer Jeans jederzeit und immer und überall absolut alltagstauglich und »in«, korrekt oder gar cool zu sein. Das Alter hat sich nach hinten verschoben. In den Industriestaaten bleiben die Menschen länger jung als vor 100 Jahren, und sie kleiden sich häufig so. Die 22 | Zur Jeans sehr interessant auch Miller 2012 (Kapitel: Why Denim?).
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Stile der Jungen und der Alten haben sich über Casual Wear einander stark angenähert, und das hat auf andere Bereiche übergegriffen. Auch ältere Menschen – ob geliftet oder nicht – tragen kurze Kleider oder Hängerchen, lange Haare und Modeschmuck. Alle, jung wie alt, geben sich lässig, alle fühlen sich kindlich bis jugendlich und möglichst auch noch sexy. Das ist längst keine Ausnahme mehr in der westlichen Welt (in Asien z.B. ist das ganz anders). Dennoch haben Beobachtende ständig Normen im Kopf und beurteilen Menschen immer noch nach bestimmten (längst nirgendwo mehr geschriebenen) Regeln des guten modischen Verhaltens. Diese Regeln haben sich ausdifferenziert, je nach sozialer Gruppierung und persönlichem Geschmack, und keine ist mehr verbindlich außer der, jung und fit erscheinen zu müssen. Vorbei die Zeiten der klaren Ideen, was jemand mit 18, mit 28 oder mit 50 zu tragen hätte, um dem eigenen Alter und der eigenen Position im sozialen Gefüge angemessen zu sein und, vor allem, sich selbst entsprechend zu fühlen, sich des eigenen Körpers als Modekörper und sozialer Körper bewusst zu sein und sich entsprechend zu verhalten. Die Erscheinungen verwischen sich, augenfällige Distinktion ist scheinbar nicht mehr gefragt und wird doch nur auf andere Zeichen verschoben (wie auf die Qualität der Materialien oder die Marke des Outfits, die beide eine gewisse Kompetenz erfordern). Da wird sie dann freilich höchst bedeutend. Und wenn es um die High End-Mode geht, wird deutlich, dass die Differenzierung doch im Vordergrund steht: es ist wichtig, welchem der unzähligen Stile man anhängt. Völlig aus der Mode sind indessen klar lesbare und allgemein verbindliche soziale Zeichen für Manieren und Gefühle. Ein Beispiel dafür sind die Vorstellungen davon, wie man Trauer trägt und wie man die Trauer zeitlich und im Hinblick auf die eigene Nähe zu dem verstorbenen Menschen differenziert – für alle sichtbar und für sich selbst spürbar23 . Im 18. und 19. Jahrhundert gab es Regeln dafür, die man in Modezeitschriften aus der Zeit studieren kann. Heute trägt man Trauer nicht mehr »zur Schau«, man trägt Schwarz auf dem Friedhof und sonst ohnehin aus modischen Gründen. Das hat damit zu tun, dass Tod kein Thema ist, weder sozial noch in der Mode – außer in Gothic Styles und deren gelegentlichen und stilistisch sehr reduzierten Ablegern in anderen Spezial- und manchmal auch Mainstream-Moden (wie Totenköpfe als »witziges« Accessoire). Es hat aber auch damit zu tun, dass man sich angeblich in einer demokratischen Kultur wohler fühlt ohne Zeremonien. Dabei gibt es unablässig neue Zeremonien oder eher: Rituale, denen wir uns beständig anpassen, ohne es zu merken, und wenn es das Ritual des Event-Shopping ist, das die Rituale und Aktivitäten ersetzt, die bis in die Fünfzigerjahre das Leben und das modische Verhalten regelten. Die neuen Rituale dürfen vor allem eins nicht sein: langweilig und steif. 23 | Vgl. dazu Taylor 1983; Brett 2006 ist eher ein Bildband über Memorabilia und Verwandtes mit Informationen für Sammler. Allgemein zum Thema Trauern und Geschlechtsspezifik z.B. Ecker 1999.
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Wie bereits im ersten Kapitel erwähnt, ist es die Mode, die in den globalisierten und zunehmend internetbasierten Konsumkulturen die Regeln hervorbringt, die über sozialen Ein- und Ausschluss entscheiden, über »In« oder »Out«, über die Zugehörigkeit zu einer Vielzahl sozialer Gruppierungen, über Identitäten, auch über die Art, wie mit anderen umgegangen wird – was man früher Manieren nannte. Die unablässige Suche nach dem neuen, dem besseren, dem modischeren Kleid beispielsweise trägt zweifellos zu Rastlosigkeit und Unzufriedenheit bei. Shoppen als Freizeitbeschäftigung ist oft die einzige Form ästhetischen Handelns, der Markenfetischismus wird zur Orientierung in einer unübersichtlichen Welt: alles das sind letzten Endes Regeln und Rituale, die Lebensstile als Konsumstile organisieren und kulturelle wie individuelle Identitäten hervorbringen.
F OKUS 3: M ODE UND F E TISCHISMUS Das Verhältnis Körper – Kleid wird zuweilen als Fetischismus gedeutet. Barbara Vinken etwa vertritt im Anschluss an Benjamin die These, die Mode inszeniere das Kippen vom Anorganischen ins Organische und – gegenüber der unmarkierten Männlichkeit – den Fetisch Weiblichkeit24 . Das scheint innerhalb des dekonstruktiv-psychoanalytischen Bezugsrahmens evident, re-affirmiert aber letzten Endes die heteronormative Dichotomie der Geschlechter, die sie doch zu dekonstruieren meint. Das liegt nicht zuletzt an ihrem umfassenden Deutungsanspruch. Das psychoanalytische Konzept des Fetischismus basiert auf der Geschlechterdichotomie und auf der besonderen Rolle, die dem Weiblichen in der heterosexuellen Ökonomie für das Männliche zugewiesen wird: »der Fetisch ist der Ersatz für den Phallus des Weibes (der Mutter), an den das Knäblein geglaubt hat und auf den es – wir wissen warum – nicht verzichten will.« (Freud 1970 [1927], 383f.) Im Prozess der Verdrängung bzw. der »Verleugnung« der weiblichen Penislosigkeit, die für Freud gleichbedeutend ist mit »Kastrationsschreck« und darauf folgender Kastrationsangst, wird »der Glaube an den Phallus des Weibes« aufgegeben und zugleich bewahrt. In diesem Prozess ändert sich der Penis; ein Ersatz tritt an seine Stelle, der gleichzeitig »Zeichen des Triumphes über die Kastrationsdrohung und der Schutz gegen sie« ist (Freud 1970 [1927], 385). Die Deutung von Kultur unter diesen Freudianischen Vorzeichen, wie sie Vinken als Modeanalyse vornimmt, macht Fetischismus zu einem grundsätzlichen Strukturmerkmal, lässt Kultur ausschließlich als fetischistische zu und reproduziert auf diese Weise eine spezifische Form von Heteronormativität, selbst im Akt der Dekonstruktion. Tatsächlich fehlen in der Analyse alle anderen Identitäten – zwar kommen Homosexuelle vor, aber nur in einer Version, die als Travestie 24 | Vinken 2001 und 2012. Über den konzeptuellen Mode-Avantgardisten Martin Margiela schreibt sie, seine Mode mache »den Körper als Ort fetischistischer Einschreibungen lesbar«.
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des Weiblichen oder als übertriebene Maskulinität wiederum die Dichotomie bestätigt. »Mode«, und das heißt eben auch: modische Praktiken generell so zu beschreiben, ist deshalb eine radikale Vereinseitigung und Verkürzung, die nicht nur den Geschlechterordnungen, sondern auch der Mode ihre Vielfalt abspricht, die sie ja gerade interessant macht. Zwar funktioniert Mode als Praxis innerhalb bestimmter sozialer Konstellationen durchaus auf diese Weise. Wenn man Thorstein Veblens soziologische Analyse der Mode des 19. Jahrhunderts heranzieht, findet man ein hervorragendes Fundament zur Analyse von Mode als potentiell sexuellem Fetischismus: Frauen, die sich gleichsam zu Schaustücken machen, um den Erfolg ihrer Männer auszustellen und sich in Unmengen Stoff hüllen, die allesamt auf den Körper verweisen, indem sie ihn verbergen, die verführen durch die stoffliche Oberfläche: das kann man als eine Form des sexuellen Fetischismus deuten. Ein Beispiel für die Sexualisierung des Kleidungsstücks findet sich in JeanJacques Rousseaus Roman »La Nouvelle Héloise« (1761). Die Romanfigur Saint Preux erwartet seine junge Freundin zur ersten Liebesnacht in deren Boudoir und entdeckt ihr Korsett, das für ihn zum direkten, sinnlich erregenden Ersatz des Körpers wird – vor allem deshalb, weil es Spuren dieses Körpers trägt: »dieses aufgeschnürte Leibchen, das den Leib berührt und umfängt – welch bezaubernde Taille – am Vorderteile zwei leichte Wölbungen – o wollüstiger Anblick! – Das Fischbein hat der Gewalt des Drucks nachgegeben – köstliche Spuren; lasst euch tausendmal küssen!« (Rousseau 1988, 147)
Die Vertretung des Körpers durch das Kleid, vor allem das getragene Kleid, ist ein bedeutendes Potential der Kleidung. Sie kann Spuren nicht nur der sexuell begehrten Personen aufbewahren und für sie einstehen, sondern auch Spuren der endgültig Abwesenden, der Gestorbenen. Jedoch ist der explizite sexuelle Fetischismus als gängige sexuelle Praxis ein Sonderfall, der dadurch gekennzeichnet ist, dass er den Körper fragmentarisiert, Begehren auf Fragmente richtet und diese wiederum durch bestimmte Kleidungsstücke substituiert (Steele 1999). Von allgemeinerer Bedeutung für die Modetheorie scheint mir die Amalgamierung von Körper und Kleid zum Modekörper, der vom Subjekt als der eigene naturalisiert wird. Mode ist, wie ich bereits ausgeführt habe, ein Spielraum, ein Ermöglichungsraum, gebildet von Menschen und Dingen und deren vielfältigen Formen der Interaktion. Dass dazu vorrangig auch die Begabung der Objekte mit Eigenschaften zählt – oder: das Versprechen der Dinge, bestimmte Wünsche zu erfüllen –, gehört wesentlich dazu, ist Teil der Verwandlung des Kleides in Mode, des Objekts in eine Ware. Es ist aber auch Teil der Anverwandlung ins eigene und der Verkörperung durch die TrägerInnen. Hier kann man mit einem Fetischismus-Konzept grundsätzlicheren Charakters ansetzen, das sich im Wesentlichen aus der Ethno-
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logie herleitet. Marcel Mauss (1978) erläutert in seinem grundlegenden Werk zur Gabe, wie Dinge von Menschen mit Eigenschaften versehen werden, die an ihnen haften bleiben und zum Menschen zurück drängen. Deshalb beruht der Gabentausch als grundlegende Struktur der von Mauss untersuchten Gesellschaften in seinen Augen notwendig auf Wechselseitigkeit: jede Gabe erfordert zwingend eine Gegengabe, denn die Gabe gehört zum Geber, sie enthält einen Teil seiner Seele und will deswegen zu ihm zurück. Sie kann aber durch ein Gegengeschenk (oder eine Handlung) substituiert werden, so dass das Gleichgewicht zwischen Subjekten und das Gleichgewicht des Subjekts erhalten bleibt. Das heißt, dass Objekte nie einfach nur materielle Dinge sind. Sie besitzen vielmehr Eigenschaften, die sie untrennbar mit den Menschen verbinden, bzw. die von den Menschen rühren. Mauss bezeichnet das als Fetischismus und meint darin eine Vorform des Handels und Warenaustauschs zu erkennen. Hartmut Böhme entwickelt aus solchen Ansätzen seine »andere Theorie der Moderne« im Geiste des Fetischismus. Entgegen der aufgeklärten Norm, die alles Irrationale aus der Welt zu verbannen suchte und sich nur als aufgeklärte, rationale verstehe, die etwas mit der Welt und den Dingen tut, erklärt Böhme, dass die Moderne gerade aus der fundamentalen Widersprüchlichkeit bestehe: Modern sei nicht die Entgegensetzung von Vernunft und Fetischismus, sondern das Zusammendenken: mit sich selbst im Widerspruch leben, ohne ihn aufheben zu müssen (Böhme 2006, 30). In der Moderne werden vormoderne Formen und Institutionen der Magie, des Mythos, der Religion und der Festlichkeit aufgelöst, ohne dass die in ihnen gebundenen Energien und Bedürfnisse zugleich aufgehoben wären – »sie werden vielmehr freigesetzt und flottieren durch alle Systemebenen der modernen Gesellschaften« (Böhme 2006, 22). Das heißt, die Verdrängung des Irrationalen bzw. die Entzauberung im Namen der Rationalität habe zu einem desto wirkungsvolleren Schub von Energien der Wiederverzauberung geführt (Böhme 2006, 23). Dieses Argument erinnert wohl nicht zufällig an die psychoanalytische Theorie, dass das Verdrängte im Verborgenen umso stärker wirke, was wiederum in der Erklärung des Booms der Phantastik als Reaktion auf die Aufklärung wiederkehrt. Unter Fetischismus versteht Böhme die Überzeugung, dass von allen Dingen eine formative Kraft ausgehe, die Anmutungen, Einstellungen, Imaginationen, aber auch Gebrauchs- und Handlungsformen enthalte (Böhme 2006, 18f.). Dinge tun etwas mit den Menschen, nicht nur die Menschen mit den Dingen. In diesem Verständnis kann man Mode durchaus unter dem Aspekt des Fetischismus betrachten, wie Böhme das kursorisch auch tut; im Konzept des Warenfetischismus spielt das Konzept ohnehin seit jeher eine Rolle. Ich persönlich arbeite aufgrund von dessen vielfältigen, ausufernden Konnotationen lieber ohne das Konzept oder den Begriff Fetischismus, aber Böhmes Ausführungen über Dinge weisen sachlich gewisse Analogien zu meiner Auffassung auf, dass Mode nicht nur eines ästhetischen Überschusses bedarf, sondern dass Mode nur zustande kommt, weil den Artefakten Bedeutungen zugeschrieben und Kräfte
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verliehen werden, die ihre Materialität überschreiten, so dass sie tatsächlich eine Form von »agency« erlangen. Mode macht ein Versprechen, das leicht in eine (vermeintliche oder tatsächliche) Wunscherfüllung übergehen kann (vgl. Kap. 3: Ästhetische Arbeit). Ein entscheidender Unterschied liegt in Folgendem: Wenn ein Kleidungsstück oder eine Klasse von Kleidungsstücken mit atmosphärischen und oft sogar sehr konkreten Versprechungen versehen wird, etwa: die Person zu verändern, dann setzt das voraus, dass das Kleid mit dem Subjekt verschmilzt, dass sie eine Einheit bilden – jenes Dritte, das ich als Modekörper bezeichne und womit ich mehr meine als die pure Materialität eines aus Belebtem und Unbelebtem gebildeten neuen Körpers. Ich meine damit vielmehr etwas, was das Subjekt physisch wie psychisch verändert und das in ein Neues mündet, das mehr ist als die Summe seiner Teile – so flüchtig dieses Neue auch sein mag. In der Tat, die Dinge tun etwas mit uns, nicht nur wir mit ihnen, und in der Mode wird das offenkundiger als irgendwo sonst. Denn Kleidung kommt uns näher als andere Objekte, wir tragen sie direkt auf dem Körper, wir verkörpern sie, sie verkörpert uns, zusammen bringen wir etwas zur Erscheinung, was sonst nicht sichtbar wäre. Sich-Kleiden ist eine grundsätzliche Weise menschlicher Kreativität und Lebensgestaltung und des Self Fashioning. Ausgelöst durch die Notwendigkeit, sich vor Umwelteinflüssen zu schützen 25, ist diese Aktivität dann aber sofort mehr als Notwendigkeit, nämlich eine der grundlegenden Kulturtechniken, die Ordnung in das Chaos bringen, Bedeutung stiften und ästhetische Werte entfalten. Abgesehen davon könnte man den Prozess auch umkehren und behaupten, dass der Mensch nackt wird, weil er Kleidung entwickelt. Dann ist Kleidung von vornherein mehr als Notwendigkeit, weil sie eine der wesentlichen Kulturtechniken ist, die dazu dient, Menschen zu verändern.
F OKUS 4: V ESTIMENTÄRE S KULP TUREN Das gestalterische Experiment mit dem räumlichen Potential von Kleidung gehört zu den wesentlichen modischen Verfahren in fast allen Kleiderkulturen 26. Sie alle verfolgen eigene Ziele in der Verwandlung von Stoff in eigenständige räumliche Gebilde, die nicht von ungefähr oft mit Architektur verglichen werden (vgl. grundlegend Quinn 2003). Von entscheidender Bedeutung ist die Art, wie diese Räumlichkeit erzeugt wird (Lehnert 2012b). Bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein wurde das in der westlichen Mode mit Hilfe von unsichtbar unter der Kleidung angebrachten Gerüsten bewerkstelligt. Korsetts, Rosshaarpolster um die Hüfte (Weiberspeck), Wadenpolster für die Herren, Krinolinen, Tournüren gaben 25 | Vgl. Laver 1970 und andere. 26 | Harold Koda (2011) bietet eine ausgezeichnete Darstellung; er zeigt frappierende Analogien zwischen avantgardistischen westlichen Moden und schmuckorientierter Kleidung aus anderen, nicht-industriellen Kulturen.
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den darüber kunstvoll aufgetürmten Kleidungsstücken Halt. Diese boten durch ihre Stofffülle eine Vielzahl von Möglichkeiten, drapiert und gestaltet zu werden. Die »coiffures« des 18. Jahrhunderts, bestehend aus eigenem und fremdem Haar, Polstern unter dem Haar, Verzierungen, meist auf den in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts immer ausladenderen Hüten, die mit den Haaren verwoben waren: Sie ziehen nicht nur Aufmerksamkeit auf sich, sie bilden nicht nur einen Rahmen für das Gesicht, der oft das Gesicht in den Schatten treten lässt (buchstäblich und im übertragenen Sinne), sondern sie schaffen der Trägerin Raum und Distanz sowie physisches und soziales Gewicht. In ihnen wird die untrennbare Allianz von Körper und Artefakt offensichtlich. Die Hüte waren ein modisches Element im vorrevolutionären Frankreich und in ganz Europa, dem höchste Aufmerksamkeit galt, denn sie konnte man leichter als andere Kleidung scheinbar erneuern: durch neue Bänder oder die Art, ein Band oder eine Schleife oder andere Verzierungen zu tragen. Die Modistinnen waren diejenigen, die mit den Bändern, Schleifen, später auch künstlichen Blumen, mit Spitzen und anderem Tand für Hüte und Kleider handelten; nicht zufällig jedoch bezieht sich der Begriff heute ausschließlich auf Hutmacherinnen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird die Mode zunehmend flächig. Mit Anne Hollander (1993) kann man argumentieren, dass die Damenmode sich den Prinzipien des modernen Designs angenähert habe und damit erst modern geworden sei. Die Männerkleidung, d.h. der seit Beginn des 19. Jahrhunderts übliche Anzug in allen Varianten, sei demgegenüber schon lange modern gewesen: er lege seine Konstruktion offen und zeichne den Körper nach. Letzteres bezweifle ich: Betrachtet man die Geschichte des Männeranzugs, so wird deutlich, dass er zwar zwei Beine mehr hat als die beinlose Damenmode, aber wie die Damenmode ist er gepolstert, korsettiert und konstruiert, auch wechselte er im 19. Jahrhundert noch seine Linienführung häufig. Allerdings muss man konzedieren, dass er in der Tat lange Zeit schlichter als Damenmoden war, dass er sichtbarer konstruiert ist und ein anderes Körperbild präsentiert als die Damenmoden; vor allem enthält er sich des unendlichen Aufputzes, in dem die Damenmode im Laufe des 19. Jahrhunderts ebenso schwelgt wie im 18. Jahrhundert die Mode für beide Geschlechter. Darin ist der Männeranzug im Sinne der Designgeschichte tatsächlich deutlich moderner als die Frauenmode: aufgrund seines reduzierten und gewissermaßen in seinen Konstruktionsprinzipien zur Schau gestellten Designs, das sich wenig unter Materialmassen versteckt. Die Damenmode der 1920er Jahre macht offenkundig, was mit Flächigkeit gemeint ist: keine Gerüste mehr, kein auffallendes Innenleben, das mit Stoff überdeckt werden muss. Es gibt nur noch das Material, das in klaren geometrischen Formen zu Kleidern verarbeitet wird. Die Körper wirken flach, die Kleider, legt man sie aufeinander, sind flach, ganz anders als die Stoffmassen früherer Zeiten (Lehnert 2001a; Lehnert 2001b). Richard Martin führt in »Cubism and Fashion« (1998) anschaulich vor, wie die Mode neue Flächigkeiten, und das heißt: ganz neue, den ästhetischen Vorstellungen der Zeit gemäße Raumeindrücke kreierte,
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die das dominante Lebensgefühl von Geschwindigkeit nicht nur ausdrücken, sondern auch miterzeugen. Die Analogien zwischen Kunst und Mode sind augenfällig (Lehnert 2006b). Flächigkeit dominiert die Mode des 20. Jahrhunderts. Zwischendurch oder parallel dazu gibt es jedoch weiterhin immer wieder Phasen, in denen die Frauenmode sich ins Mehrdimensionale entfaltet. In den späten 1940er und den 1950er Jahren war das – ausgehend von Diors New Look – zuletzt als allgemeiner Modetrend der Fall, und zwar im Rückgriff auf Techniken der Verräumlichung des 19. Jahrhunderts: Hüftpolster oder Petticoats etwa, also gleichsam Gerüste unter der Kleidung (vgl. Trosse 1994; Steinert 2003; Lehnert 1998b). Seit den 1970er Jahren taucht das immer wieder als ein Trend unter anderen auf; die 80er hatten eine starke Neigung zum Hypertrophieren bestimmter Körperteile wie der Schultern, und sie liebten Oversize, entwickelten daraus aber keine eigenständige Räumlichkeit. Das tun hingegen avantgardistische Moden wie beispielsweise die von Comme des Garçons oder Viktor & Rolf, und sie tun das auf neue Weise. Heute sind es einerseits die Textilien selbst – neue Textilien oder technisch neuartig ausgerüstete wie die sogenannten intelligenten Textilien (vgl. z.B. Mentges 2006; Quinn 2010; Quinn 2012) –, andererseits neue Schnitte, Näh- sowie Lege- und Falttechniken, die meist ohne Hilfe darunter liegender Gerüste dreidimensionale räumliche Wirkungen erzeugen. Die japanischen Moden etwa von Comme des Garçons, Yamamoto oder Issey Miyake schaffen eine skulpturale Räumlichkeit der Kleidung mit Hilfe von Konstruktionen und Falttechniken, die zuweilen an Origami erinnern. Sie revolutionierten damit die westliche Mode (vgl. Kawamura 2004). Schon früher wurde die Arbeit etwa Cristobal Balenciagas mit der Metapher des Architekten von Kleidung beschrieben; das verweist auf die konstruierende Transformation von Geweben in scheinbar stabile räumliche Gebilde analog architektonischen Raumgestaltungen. Besonders frappierend ist die scheinbar paradoxe Verbindung von Flächigkeit und ausgeprägter Räumlichkeit in Entwürfen von Rei Kawakubo/Comme des Garçons, deren räumliche Komplexität durch eine ausgeprägte Flächigkeit des Entwurfs/Schnittes nur scheinbar konterkariert, tatsächlich jedoch darauf zurückzuführen ist. Erst getragen entfaltet das Kleidungsstück seine spezifische, allerdings oft variable Räumlichkeit, da erst dann das flache hingebreitete Stoffgebilde auf den Körper gezogen und von ihm auf unterschiedliche Weise drapiert wird. Erst jetzt wird das geometrische Stück Stoff zu einem Kleid, und zwar erst in Verbindung mit einem menschlichen Körper, der es idealiter auch noch im Tragen, in der Bewegung dauernd verändert (vgl. Future Beauty 2011, 63-83).
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Abbildung 2: Commes des Garçons: Body Meets Dress Meets Body
Die legendär gewordene Kollektion »Body Meets Dress Meets Body« (1997) verfolgt ein etwas anderes Prinzip. Hier wurden den Stretchstoffen Polster eingefügt, die die Modekörper an unerwarteten Stellen ausbuchteten, ihm Buckel, schiefe Bäuche, einseitige Hüften verliehen und ein geradezu skandalöses Körperbild entwarfen, das einige BetrachterInnen an den Glöckner von Notre Dame erinnerte und eigentlich nur das tat, was die europäischen Moden ebenso wie den japanische Kimono seit jeher auszeichnet: Sie schufen einen Körper, der prothetisch erweitert wird, sei es, indem er erotische Zonen schafft (Busen, Po, Hüften) oder im Gegenteil den Körper ent-formt, indem er unter dem Kimono zu einer Zylinderform gepolstert wird. Kawakubo schaffte das Unmögliche: Sie vereint Elemente der hypertrophierten Erotisierung wie der Ent-Erotisierung in einer spektakulären Kollektion, die noch dazu die Bewegungsfreiheit nicht (völlig) einschränkte, sondern sie veränderte. Denn die Modelle tauchten in einem Ballett von Merce Cunningham als Tanzkostüme wieder auf. Sie hinderten manche Bewegungen und brachten neue hervor: »Die neuen Körper mit ihren Ausbuchtungen an allen nur denkbaren Stellen erkundeten den Raum auf andere Weise, als die gewöhnlich auf der Bühne zu sehenden schlanken Körper von Tänzern es tun (die wiederum im Vergleich zu diesen neuen wulstigen Körpern
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mit einem Mal geradezu zweidimensional wirken). Denn wenn schon jeder einzelne Körper sich mit seinen Wülsten und Beulen in verschiedene Richtungen erstreckt, um wieviel mehr gilt das dann für mehrere dieser Körper, die in Interaktion treten. Sie erkundeten den Raum nicht nur, sie machten ihn sichtbar und spürbar.« (Lehnert 1998b, 225f.). Wie kann man vestimentäre Skulpturen beschreiben und konzeptualisieren? In Bezug auf die Wahrnehmung/das Sehen von Kleidern könnte man die kunsthistorische Analyse der Räumlichkeit von Skulpturen abgewandelt auf Vestimentäres übertragen. Winter (1985) fokussiert auf die Wahrnehmung, die sich in Wechselwirkung zwischen gestaltetem Objekt und Betrachter, im Wechsel zwischen Nähe und Distanz entfaltet. In der Büste (sein Beispiel) erstelle sich ein Raumordnungssystem; Richtungen des Raums werden aufgerufen, Motive und Formen verweisen auf Raum, ohne ihn zu systematisieren oder ihm gar eine endgültige Gestalt zu verleihen. Die Skulptur zeichne sich aus durch die Thematisierung des Gegensatzes Objekt – Subjekt und seine Vermittlung durch die Artikulation einer richtigen Distanz. Ergänzt man das damit, dass die modische Skulptur anders als die in Marmor gehauene nicht fixiert, sondern in sich selbst fluide und beweglich ist, und dass sie zudem in aller Regel von einem lebendigen Körper in Bewegung gesetzt wird (werden können muss), findet sich ein Ansatz zur Beschreibung der Räumlichkeit von Mode. Sie bezieht die Nähe und Distanz zwischen Betrachtern und Trägern ein und ergänzt sie durch die Opposition Sehen – Fühlen, die für die Mode von zentraler Bedeutung ist, da sie nicht nur von den Betrachtenden von außen gesehen, sondern vor allem von der Trägerin/ dem Träger auf dem Körper gespürt wird, was die Betrachtenden wiederum wissen und sich u.U. vorstellen können. Die Wahrnehmung von Kleiderskulpturen bzw. räumlichen Modekörpern erzeugt dennoch eine Dichotomie von wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommenem Objekt. Raum – auch Zwischenraum, Abstand – als solcher wird erfahrbar, denn Raum ist wahrnehmbar nur durch die Positionierung und Bewegung von Objekten. Zuweilen wird der zwischen Subjekt und Objekt liegende Raum überwunden oder vergrößert. Die spezifische Räumlichkeit von Körpern wird erlebbar im Vergleich des von außen wahrgenommenen Modekörpers mit dem gefühlten eigenen Körper. Nähe und Distanz werden erlebt und verändert. Zudem wird ein mentaler Vergleich bzw. eine Extrapolation dessen, was man vom lebendigen Körper sieht, aufgerufen: Wie ist der menschliche Körper beschaffen, der sich möglicherweise in dieser vestimentären Skulptur verbirgt? Wie verhalten sich Körper und Kleid? Sofort stellt sich die Frage: Was ist innen, was außen? Wie, so muss man in diesem Zusammenhang weiter fragen, lässt sich unterscheiden zwischen der Räumlichkeit von Kleidern, die in Museen oder Läden ausgestellt werden, und denjenigen, die tatsächlich getragen werden? Denn offensichtlich spielt die Bewegung gerade beim Erfahren von Raum und Räumlichkeit eine entscheidende Rolle. Kleider werden für Körper gemacht, die sich per defini-
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tionem immer bewegen, auch wenn sie sich relativ ruhig verhalten 27. Die Mehrdimensionalität des räumlichen Objekts entfaltet sich in der Bewegung und für das betrachtende Subjekt in der Wahrnehmung. Jedes Kleidungsstück gibt Bewegungsmöglichkeiten vor; es ist gedacht für einen bewegten und sich bewegenden Körper, es soll sich mit dem Körper bewegen und in der Bewegung seine eigene Lebendigkeit entfalten. Es ist ja kein Zufall, dass die meisten Modenschauen Models laufen lassen, um die neuen Moden bewegt vorführen und so die ihnen inhärenten Möglichkeiten spüren und sehen lassen. Selbst wenn man bewegungslose Kleider im Museum ausgestellt sieht, oder im Schaufenster an einer Puppe, ist die Bewegung mitzudenken und wird, so vermute ich, in der Wahrnehmung immer unbewusst mit-aktualisiert. Manche KuratorInnen sind dazu übergegangen, Bewegung auch ins Museum zu bringen, z.B. durch kleine Motoren Röcke tanzen zu lassen, wie das eine Prada-Ausstellung machte (Weise 2012). Zurück zur Materialität des Gewebes der Kleider und ihrer spezifischen Beschaffenheit und Fähigkeit, Räumlichkeit zu erzeugen. In der Falte konzentriert sich das Phänomen. Gabriele Brandstetter schreibt: »Während der Schnitt – als Riss auf dem Papier – aber die Körpergestalt des Kleides auseinanderlegt und gleichsam de-formiert, wirkt die Falte direkt auf die Fügung des Stoffes: auf seine Formierung und seine Modellierung als Raumfigur.« (Brandstetter 1998, 165) Falten trennen Innen und Außen, bringen diese Differenz aber überhaupt erst hervor (Brandstetter 1998, 165). Es entsteht ein »Spannungsfeld von Formieren und Löschen des Körpers in der Faltung« (Brandstetter 1998, 167). Das Grundprinzip der Falte kehrt in variierter Form wieder in all jenen Raffungen, Rüschen und Bauschungen, die die Frauenmoden vom Barock bis zum 19. Jahrhundert ausmachen. Solche Kleider inszenieren das Spiel zwischen Oberfläche und Tiefe schon aufgrund ihrer spezifischen Materialität und unterlaufen es zugleich, da sie nie endgültig festlegbar sind auf ein Außen und ein Innen. Sie implizieren eine Dynamik, die freilich erst in ihrem Gebrauch durch einen lebendigen, bewegten Körper vollkommen realisiert wird. Im Gegensatz dazu betont Gilles Deleuze in seiner Deutung der Falte als Charakteristikum des Barock die Einheit der Materie: Sie unterteile sich immer weiter, bilde Höhlungen, die kleinere Höhlungen enthalten, eine schwammige Textur ohne leeren Raum, jedes Stück beziehe sich auf die umliegenden. In diesem Konzept gibt es keine Oberflächen und Tiefen mehr, sondern endlose Schichtungen, die jede Oberfläche zur Tiefe werden lassen und vice versa. Die Wissenschaft der Materie, so Deleuze, habe das Origami als Modell. »Das Entfalten ist also nicht das Gegenteil der Falte, sondern folgt der Falte bis zu einer anderen Falte.« (Deleuze 2000, 16) Ungeachtet der Unterscheidung Deleuzes, die anorganische Materie sei durch exogene Falten bestimmt, nicht, wie ein Organismus, durch endogene, lässt sich der Gedanke, die Falte als eine räumliche, sich ins Unendliche 27 | Damit befasste sich die Tagung: Mode und Bewegung, 22.-24.09.2011 an der Zürcher Hochschule der Künste: www.modeundbewegung.ch/; außerdem Brandstetter 2012, 1995.
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krümmende Struktur oder gar Dynamik zu deuten, die vielfältig, d.h. auf viele Weisen gefaltet sei, auf die materielle Struktur von Kleidung übertragen. Deleuze spricht kaum über die reale Kleidung des Barock, sondern über deren Darstellung in Malerei und Skulptur. Er kann daher auch ihre tatsächliche materielle Beschaffenheit oder die den Moden zugrunde liegenden Gerüstauf bauten ignorieren. Zu Recht bemerkt er allerdings, denn das lässt sich ohne Weiteres von den Kleidern, nicht nur von ihrer Darstellung, sagen, die Kleidung befreie sich im Barock von der gewohnten Unterordnung unter den endlichen Körper, umgebe den Körper mit autonomen Falten, immer vervielfältigbaren Falten. 28 Dennoch ist seine Theorie anregend, um die vestimentäre Räumlichkeit wenn schon nicht zu analysieren, so doch zu beschreiben und zu interpretieren. Das gilt vor allem für zeitgenössische avantgardistische, raumorientierte Moden (Yamamoto, Comme des Garçons, Viktor & Rolf, Chalayan und andere); diese weisen mit den barocken Moden durchaus Gemeinsamkeiten auf (Lehnert 2001a). Deleuzes Konzept der Falte als gleichsam endloses Spiel mit Schichtungen unterschiedlicher Oberflächen (Deleuze 2000) lässt die Frage nach Anfang und Ende, Oberfläche und Tiefe im wörtlichen Sinn völlig obsolet werden. Darauf aufbauend lassen sich Kategorien entwickeln, um die Verbindung Körper – Kleid als eigenständige, wenngleich unablässig dem Wandel unterworfene dynamische Struktur zu beschreiben. Wenn Viktor & Rolf (2003/04) eine Bluse mit mehreren Hemdenkrägen übereinander schneidern, wenn sie ihr Model Maggy Rizer auf offener Bühne nicht etwa defilieren lassen, sondern es auf ein Drehscheibe stellen, immobil, und es so lange mit neuen Kleiderschichten bekleiden, bis am Ende eine unförmige »Russian Doll« (so der Titel der berühmten Schau von 1999) vor uns steht, dann kreieren sie scheinbar die Dichotomie von Körper und Kleid – tatsächlich spielen sie damit und dekonstruieren sie29 . Denn wo hört das eine auf, fängt das andere an? Sind die Kleider einzeln zu denken? Sind sie nicht nur für den Akt des Bekleidens in aller Öffentlichkeit da und dafür, die Schichtung als solche vorzuführen – eine Version, so möchte ich vorschlagen, der Faltung der Materie? Wann wird eine Oberfläche Tiefe und was geschieht, wenn ein Innen ein Außen wird? Dann funktionieren die Konzepte nicht mehr. Der Körper ist zwar von vielen MaterialSchichten bedeckt und steckt, kaum mehr erkennbar, »innen« – aber kann der Körper jemals das Innen der Kleider sein? Ist er nicht immer innen und außen zugleich, so wie die Kleider stets innen und außen sind? Wenn Yunya Watanabe einen Kragen vorstellt, der sich in unendlichen Faltungen wie ein Hybrid zwi28 | Zudem unterteilt er die Falten der Materie und die in der Seele, und letztere spielen im Hinblick auf Vestimentäres keine Rolle. Die Kunst des Barock, so führt er weiter aus, sei keine der Strukturen mehr, sondern eine der Texturen (Bernini). Zwischen Kleidung und Körper werde etwas Drittes eingeführt: die Elemente. Der Wind blähe die Kleidung etc., Wasserfalten umfließen den Körper etc. 29 | Zur Dekonstruktion der Mode allgemein vgl. Vinken 1993.
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schen einer traumschönen Qualle und einer Blüte entfaltet, dann ist das die Inszenierung der Faltung und des Origami und zugleich der Grenzüberschreitung zwischen natürlichen und künstlichen Formen. Hussein Chalayan zeigte 2003 in »Manifest Destiny« Modelle, die Löcher haben, aus denen Stofffetzen von nicht erkennbarer Funktion und Hosenträger heraus- und herabhängen, dazwischen Haut sichtbar wird. Diese vestimentären Experimente spielen »mit der Idee von Kleidung, von Oberbekleidung, Unterbekleidung, von Enthüllen und Verhüllen, sie stellen das Konzept der Oberfläche aus und unterlaufen es, weil es keine Tiefe gibt, die man hinter der Oberfläche entdecken könnte. Denn tatsächlich wird Stoff hier zwar auch gebauscht, gerafft usw., aber die Idee der Schichtung trügt: auch hier täuscht ein Nebeneinander ein Übereinander vor.« (Lehnert 2008, 97) Vestimentäre Skulpturen funktionieren also bei aller Ähnlichkeit zur Kunst doch teilweise anders als solche Skulpturen, die der Kunst zugerechnet werden, weil sie hybrider sind und oft in Bewegung (sofern sie nicht im Museum stehen). Da sie meist nur funktionieren, wenn sie von Menschen getragen werden, erlauben sie mehrdimensionale Wahrnehmungen und Erfahrungen. Ihr lebendiger – menschlicher – Anteil bestimmt ihre Wahrnehmung von außen wesentlich mit bestimmt und ermöglicht außerdem eine Wahrnehmung »von innen«. Sie erlauben es, den Raum, der sie selbst sind, ebenso wie den Raum um sie herum aktiv auszuloten und zu fühlen.
F OKUS 5: G ROTESKE M ODEKÖRPER 30 Mein zweiter Vorschlag, das Verhältnis von Körper und Kleid, Belebtem und Unbelebtem zu beschreiben, zielt auf das Formale. Ich deute Mode in Analogie zum Grotesken (Lehnert 2004b) im Sinne Michail Bachtins31 und anderer Theoretiker. Meine These ist: In der Mode scheint mir eine vergleichbare Gestaltungsenergie am Werk wie in der Schaffung von grotesker Malerei oder Literatur. Die Analogien zwischen Mode und dem Grotesken als kulturellem und ästhetischem Phänomen ermöglichen eine neue Perspektive auf die Mode, die umgekehrt das Phänomen des Grotesken in kulturgeschichtlicher Hinsicht zu erweitern vermag32 .
30 | Dieses Kapitel ist die überarbeitete Fassung eines Aufsatzes, den ich 2005 veröffentlicht habe: Gertrud Lehnert: »Das Schöne und das Groteske: Charles Baudelaire und die Mode«, in: Le Grotesque/Das Groteske. Colloquium Helveticum 35/2004, Fribourg (Academic Press) 2004, 161-184. Wiederverwendung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion. 31 | Bachtin 1980, 195-2002; Bachtin 1995, vor allem Kapitel 5 und 6. 32 | Die einzige, die m.W. und Jahre nach mir jemals das Thema angegangen ist, ist Granata 2012; ihr geht es mehr um die Frage, wie interdisziplinär die Fashion Studies sein sollen, als um eine Analyse des Grotesken in der Mode. Konkreter Granata 2012b.
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Die Wechselwirkung zwischen dem Belebten und dem Unbelebten und insbesondere ihre Vertauschung gilt spätestens seit Bachtins Studie zu den wesentlichen Charakteristika des Grotesken. Kleidermode hat, wie ausgeführt, stets mit den unterschiedlichen Beziehungen belebter menschlicher Körper zur unbelebten Bekleidung zu tun, oder auch mit der Aufnahme funktionaler Elemente aus ganz anderen Bereichen, die sich mit Kleid und Körper zu einem Hybrid vereinen. Als Beispiel möge Hussein Chalayans Kleid mit einer ergonomischen Nackenstütze als Kragen dienen (Echoform, Herbst/Winter 1999, s. Chalayan 2005, 68/69). Der Mensch, sein Kleid und seine Prothese, die Nackenstütze, verschmelzen zu einer Einheit. Was gehört noch zum Körper, was braucht der Körper? Wo sind die Übergänge? Sind sie überhaupt noch sinnvoll in einer Zeit, in der alles technisch machbar scheint und Menschen immer mehr künstliche Bestandteile in sich tragen?33 Hussein Chalayan ist ein Konzeptkünstler, dessen Moden Themen haben und Aussagen machen. Auf der formalen Ebene sind diese gleichgültig: Das Groteske ergibt sich erst durch die Inszenierung des Gegensatzes zwischen Körper und Kleid und durch die ständig wechselnde Verwischung der Grenzen, so dass unter Umständen ein Trompe l’œil entsteht, das gleich wieder aufgelöst wird. Zweites wesentliches Charakteristikum des Grotesken ist die Hypertrophierung von Körpern bzw. von einzelnen Körperteilen im Verhältnis zum gesamten Körper, die Übertreibungen und Abweichungen von einem normierten Ideal. Drittens sind es die Körperöffnungen, die Innen und Außen durchlässig machen und vor allem in Bachtins Theorie im Hinblick auf Rabelais hervorgehoben werden. Wie bereits ausgeführt, nimmt Modekleidung zuweilen die Formen des menschlichen Körpers auf und zeichnet sie nach, öfter aber löst sie einzelne Formen des menschlichen Körpers aus dem Gesamtzusammenhang, übertreibt sie, erweitert sie geradezu prothetisch, oder ignoriert die menschlichen Körperformen ganz und gar und schafft vestimentäre Kunstwerke von eigenem Recht. Dieser von mir so genannte fiktionale Körper, den die Mode hervorbringt, besitzt Formen, die erst im – oft nur unbewusst vollzogenen – Vergleich zu unserem Wissen um den menschlichen Körper »grotesk« erscheinen. Der Begriff des fiktionalen Körpers setzt selbst einen Vergleich zu einem realen, materiellen Körper voraus, zumindest zu einer Idee vom menschlichen Körper. Der menschliche Körper bleibt mithin der Bezugspunkt jeder modischen Formgebung, und sei es in der Ablehnung oder in der Neuerfindung. Genauer gesagt: Grundlage jeder Wahrnehmung von Abweichung ist eine abstrahierte Idealgestalt des Körpers. In der Modegeschichte finden sich unzählige Beispiel dafür. Ich nenne nur einige Beispiele aus der Neuzeit, jener Epoche mithin, seit der es Mode im engeren (westlichen) Sinne gibt (Laver 1996, Lehnert 1998a): Die ausladenden »coiffures« und Damenhüte des späten 18. Jahrhunderts oder die Krinolinen desselben Jahrhunderts, die in den »paniers à coudes« gipfeln, jenen fiktiven Hüften der 33 | Vgl. zu dieser Thematik den klassischen Aufsatz von Haraway 1991.
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großen Damentoiletten, auf denen man – theoretisch zumindest – die Arme ablegen konnte; oder die kreisrunden Krinolinen und später die Culs de Paris in der Damenmode des 19. Jahrhunderts, die von Vivienne Westwood Ende des 20. Jahrhunderts wieder aufgenommen und ihrem speziellen Stil adaptiert worden sind. Es ist offensichtlich, dass hier von einem mimetischen Nachbilden oder Ausdruck des weiblichen Körpers nicht die Rede sein kann, sondern von einer für spätere Augen geradezu karikaturistischen Übertreibung einzelner Körpertendenzen, die man auch als groteske Überzeichnung von Ausbuchtungen und Unregelmäßigkeiten des Körpers im Sinne Bachtins verstehen kann. Robert Petsch (1980) hebt die Übertreibung hervor, die das Groteske ausmache: es greife stets Missverhältnisse heraus und übertreibe sie im Kontext von Größenverhältnissen (während die Karikatur nur einzelne Züge übertreibe). Übertreibung setzt eine Norm voraus, nicht anders als Fiktionalität oder Groteskes, und so kann festgehalten werden, dass sich das Groteske als Abweichung nicht an der Realität, sondern stets an einem Ideal orientiert. In Bezug auf die Mode wäre hieran anschließend die These aufzustellen, dass Mode sich an einem historisch wandelbaren Körperbild orientiert, dessen Veränderungen gerade über die jeweils als modisch geltenden grotesken Überzeichnungen verursacht werden. Mode produziert Körperbilder, und das, so meine These, aufgrund eines Verfahrens, das auf groteske Überzeichnung idealer Körperbilder zielt. Das Groteske in der Mode wäre damit nicht Ergebnis, sondern ein fortwährender Prozess. Dass dieser Prozess in soziale Prozesse involviert ist, ohne in ihnen aufzugehen, leuchtet ein. Für Peter Fuß ist das Groteske Auslöser und Medium des kulturellen Wandels, keineswegs nur ein Produkt kultureller Prozesse. Wie die meisten Theoretiker des Grotesken sieht auch er das Groteske im Kontrast zum Klassischen. Er beschreibt es als Anamorphose, d.h. als Permutation, Rekombination, Liquidation und Transformation des Realen (Fuß 2001, 62); als Grenzüberschreitung und deterrioralisierende Bewegung. Das trifft tatsächlich auf Kleider im Augenblick ihres Entstehens und in der Retrospektive zu. Sobald sie jedoch zu Mode geworden sind, gelten sie über kurz oder lang als Norm und werden nicht mehr als grotesk erlebt. Das werden sie dann erst wieder in der Retrospektive. Denn Mode impliziert immer, dass nicht nur eine einzelne sich so oder so kleidet und damit gänzlich aus dem Rahmen fällt. Mode setzt vielmehr voraus, dass viele einem Trend folgen (den sie wiederum für sich zu individualisieren suchen). Das heißt aber, bei genauem Hinsehen, dass das Groteske nicht mehr als Groteskes auffällt oder funktioniert, wenn es in einen Kontext eingebettet ist, der genau jenen Zug zur Übertreibung, jene Formgebung als schön, modern, modisch wahrnimmt und fordert. Das unterscheidet das modische Groteske von anderen Spielarten des Grotesken, die in der Regel deutlicher in einen »klassischen« Kontext eingebettet sind bzw. als Gegensatz zu einer als klassisch erlebten Norm empfunden werden. Darum scheint es zunächst einmal nicht nahe zu liegen, Mode unter dem Aspekt des Grotesken zu betrachten. Dennoch ist es aber gerade darum sinnvoll.
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Denn erstens ändern sich die Maßstäbe des Modischen, und zweitens und vor allem ändern auch die wechselnden Moden unsere Körper(vorstellungen) letztlich nur teilweise und vorübergehend. Der wichtigste Maßstab bleibt mithin ein in bestimmten fundamentalen Grundzügen unveränderliches (Ideal-)Bild vom nackten menschlichen Körper. In der Wechselwirkung zwischen diesem und den Kleidern entfaltet sich, wie gesagt, das Groteske der Mode. Insofern ist der eigentliche Kontext des Grotesken in der Mode der Körper, konkreter sind es Körpervorstellungen. Ob freilich Wolfgang Kaysers Analyse des Grotesken als Ausdruck der kulturellen Orientierungslosigkeit (Kayser 1957) auch auf die Mode zutrifft, scheint mir zweifelhaft. Zwar reagiert Mode seismographisch auf kulturelle Stimmungen und Ereignisse, und möglicherweise ist ihre Neigung zum Grotesken stärker in Umbruchsphasen. Ich gehe aber davon aus, dass Mode grundsätzlich als Prozess der Anpassung an und Abweichung von ästhetische(n) und kulturelle(n) Normen (und damit schließlich deren Verwandlung) charakterisiert werden kann und es folglich keiner sozialen Umbrüche bedarf, um diese Bewegung in Gang zu setzen. Das Groteske wäre mithin Bestandteil des spezifisch modischen ästhetischen Verfahrens. Zentral für den Ansatz, Mode als potentiell »grotesk« zu bezeichnen, ist also 1. das Ineinander von Belebtem und Unbelebtem, 2. die prothetische Ausdehnung, ja »Verformung« des anatomischen menschlichen Körpers, wie auch immer dieser vorgestellt werden mag, und hinzu kommt 3. eine Präponderanz des Dekorativen, Arabesken, Formalen über jede Nützlichkeit. Häufig wird das Groteske mit dem Hässlichen in Verbindung gebracht (Best 1980, 7), was immer voraussetzt, dass es eine Vorstellung des Schönen gibt. Diese Idee lässt sich subsumieren unter den Aspekt der Verformung, der ebenfalls eine Wertung gegenüber einem normativen Ideal impliziert. Wie alle anderen Theorien des Grotesken trifft auch Michail Bachtins Theorie, in deren Mittelpunkt der Körper und seine Deformation steht, nicht in ihrer Gänze auf die Mode zu; ich beziehe mich daher auf die mir für die Mode relevant scheinenden Aspekte seiner Theorie. Das Groteske ist ohnehin nicht vollständig definierbar; eine Theorie des Grotesken der Mode ist folglich ebenso heterogen wie alle anderen Theorien (und wie das Groteske selbst). Der groteske Leib als werdender Leib ist laut Bachtin dadurch gekennzeichnet, dass er ständig seine eigenen Grenzen überschreite, »alles, was aus dem Körper herausragt oder herausstrebt, was die Grenzen des Leibes überschreiten will«, gilt Bachtin als grotesk (Bachtin 1980; Bachtin 1995). Der Leib zeuge einen neuen Leib, den Unterleib zumal und den Phallus. »Berge und Abgründe bilden das Relief des grotesken Leibes.« (Bachtin 1980, 197) Der neue Leibes-Kanon der Neuzeit hingegen bestehe auf einem einzigen, einem fertigen Leib. Auf dem Hintergrund dieser Theorie, so meine These, ist die Mode das wichtigste und unerkannte, vielleicht das letzte Residuum des Grotesken in der Moderne. Gibt es überhaupt in unserer bilderüberfluteten Welt noch das Groteske
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im engeren Sinne außerhalb der Mode? Die Mode jedenfalls hat es immer mit dem »doppelten Leib« zu tun, mit dem ständigen Werden und Vergehen, mit der Grenzüberschreitung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Körper und Kleid, Lebendem und Totem, zwischen Betonung von Sexualität und deren Leugnen, zwischen dem ganzen Körper (imaginär) und dem Herauslösen und der Verselbständigung einzelner seiner Elemente, auch zwischen dem vermeintlich Nützlichen und dem nur Dekorativen oder Vergnüglichen. Ein wesentlicher Aspekt der Bachtinschen Theorie fehlt der Mode als potentiell grotesk vollkommen: Das Groteske der Mode bringt selten zum Lachen und noch seltener (wenn überhaupt je) zum Schaudern, aber das ist – so möchte ich behaupten – nur deshalb so, weil wir Mode gewöhnlich nicht unter diesem Blickwinkel betrachten. Sie gilt weiterhin vorwiegend als oberflächlicher, im Zweifelsfall vernachlässigbarer Luxus, an dem man sich erfreut, schlimmstenfalls empört, dem man jedoch keine wirklich wichtigen Fähigkeiten oder Eigenschaften zutraut. Tatsächlich prägt die Mode unsere Alltagswahrnehmung von Menschen und Körpern in einer Weise, die sie uns »natürlich« scheinen lässt, so wandelbar sie ist und so »grotesk« im umgangssprachlichen Sinne uns zuweilen die vergangenen Moden scheinen mögen. Aber selbst an sie haben wir uns gewöhnt, aufgrund von Gemälden, historischen bzw. Kostümfilmen und nicht zuletzt aufgrund der Anleihen, die alle neuen Moden bei den vergangenen machen. Gerade der permanente Wandel der Mode zeigt indessen, dass sie niemals natürlich, sondern immer fiktionalisierend/fiktional ist – vorausgesetzt, man betrachtet die menschliche Anatomie als »real«. Eine Theorie des Grotesken der Mode, so dürfte deutlich geworden sein, kann sich nicht nahtlos an bereits bestehende Theorien des Grotesken anschließen, sondern muss sich auf der Basis dieser teilweise unterschiedlichen – und häufig speziell auf Literatur oder bildende Kunst bezogenen – Theorien als eigene, neue Perspektive auf die Mode konstituieren. Mode als wesentliches alltagskulturelles Phänomen hat am System der Kunst teil, ohne jedoch in ihr aufzugehen, sie ist ein soziales, ein ästhetisches, ein theatrales, ein wirtschaftliches, ein psychologisches, ein semiotisches Phänomen, und aus dieser Mischung ergibt sich die Notwendigkeit eines eigenen, ebenso gemischten (notfalls auch in Zügen eklektischen) Zugangs. Nur ein solcher kann hoffen, ihr gerecht zu werden.
Groteske Moden innerhalb der Mainstream Mode Ich fasse zusammen. Kleidermode birgt grundsätzlich das Potential zur Groteske in sich. Stärker formuliert: Mode konstituiert sich in einem Prozess, der grundsätzlich auf groteske Abweichung vom Gewohnten, auf Vermischung von Belebtem und Unbelebtem und Verselbstständigung des Dekorativen zielt. Als Maßstab gilt jeweils ein (wandelbares) Idealbild des nackten menschlichen Körpers. Das Groteske ist folglich stets als Normabweichung zu verstehen. Wenn man die Mode unter diesem Aspekt analysiert, wird ihre ungeheure kreative Kraft erklär-
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bar, ihre maßlose Lust am Neuen, am Unerwarteten, am Überraschenden, an der Wiederkehr des Gleichen auch, schließlich, in einem Wort, ihr stark formaler Charakter, der sich dem Nutzen entzieht und Angemessenheit nur als sekundäre Rationalisierung heranzieht. Aber es gibt noch eine andere, sozusagen sekundäre Ebene des Grotesken in der Mode. Im Rahmen jener Moden, die sich zu einer bestimmten Zeit durchsetzen, gibt es häufig abweichende Tendenzen, die im Vergleich zur allgemeinen Mode als grotesk bezeichnet werden können, die also gewissermaßen den Körper und die geltenden Moden gleichzeitig als Maßstab setzen und sich in einer doppelten Bewegung von beiden absetzen. Ihnen gelingt es dann, den Blick für das allen Moden inhärente Groteske zu schärfen; sie vermögen es, uns auf unsere Wahrnehmungsgewohnheiten und deren Veränderlichkeit hinzuweisen, die wir doch gewöhnlich als dauerhaft zu sehen vorgeben. Sie fordern unsere Wahrnehmung heraus, indem sie uns mit einem wirklich Anderen (das dennoch zugleich höchst vertraute Züge trägt) konfrontieren. Sie spielen mit gängigen Vorstellungen von Schönheit, von Angemessenheit, vom menschlichen Körper, und sie spielen mit den Moden vergangener Tage. Freilich: Grotesk kann auch wirken, wenn ein Körper sich in Kleider zwängt, die ihn entstellen, weil sie partout nicht passen oder zu ihm passen und deshalb das zur Erscheinung kommen lassen, was kulturell zu einer bestimmten Zeit als unschön oder unangemessen gilt. Dann ist das Verhältnis zwischen Körper und Kleid umgekehrt zum eben skizzierten; dann übernimmt der Körper selbst die Funktion, im Dialog mit dem Kleid grotesk zu sein; nicht das Kleid ist grotesk. Zur Veranschaulichung sollen abschließend eine historische Mode und zwei Beispiele aus der zeitgenössischen internationalen Modeszene vorgestellt werden:
Maccaroni Dress In den 1760er und 1770er Jahren entstand in London eine überaus exzentrische, als »Maccaroni Dress« apostrophierte Männermode, die sich dem widersetzte, was Herren in England zu jener Zeit trugen, nämlich zunehmend nüchterne und funktionale Anzüge34: »It was an urban style, coined to describe the wealthy youth of the clubs of St James’s in London, and was current also in fashionable provincial centers like Bath and York. [...] The macaronis used their dress and their bodies in a war of style, asserting their right to wear clothing traditionally reserved for courtiers, or to wear it in spaces where such clothes were normally not worn in England.« (McNeil 1999, 411) 35
34 | Zur Modernität des Herrenanzugs vgl. Hollander 1994. 35 | Vgl. u.a. auch Ribeiro 2002.
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Diese Aufmachung übertreibt, erweitert, ändert Proportionen, Haltungen und Gesten. Sie galt als effeminiert und als Zeichen von Homosexualität; zumindest liest man sie heute im Rahmen der Gender- und Queer-Forschung so. Unabhängig von derartigen Deutungen lässt sich festhalten, dass diese Moden exzentrisch im wörtlichen Sinne waren, dass sie ganz spezielle Körperbilder entwerfen, die die Grenzen zwischen dem Körper und dem Kleid anders als die gängigen Moden definieren und dass sie den modischen Männerkörper entgegen dem zeitgenössischen Trend (und in Anspielung und Übertreibung der vergangenen Trends aristokratischer Moden) zu einer phantasievollen, in den Raum ausgreifenden Form gestalten. Sie verdeutlichen damit aufs Schönste den auf das Groteske zielenden Prozess, der Moden hervorbringt, und das noch in potenzierter Variante, da es sich um eine abweichende Mode innerhalb einer anerkannten Mode handelt. Die Mode der Maccaronis setzte sich nie als allgemeine Mode durch, sondern sie blieb »grotesk« (ähnlich wie die wenige Jahre später aufkommende Mode der französischen, männlichen wie weiblichen »incroyables«36). Abbildung 3: P. Dawe, The Pantheon Macaroni, 1773
36 | Vgl. Ruppert/Delpierre/Davray-Piékollek/Gorguet-Ballestros 1996, 186.
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Abbildung 4: Ein französischer Herrenanzug von 1778
Abbildung 5: Carle Vernet: Incroyables, ca. 1795
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Comme des Garçons Rei Kawakubos37 Absicht ist es, immer wieder neue Formen zu schaffen, die noch nie jemand gesehen hat. Das gelingt ihr. Sie hat, zusammen mit Yamamoto und Issey Miyake, die westlichen Wahrnehmungsgewohnheiten seit den 1970er Jahren dermaßen verändert38, dass eine Mode, die als untragbar galt, mittlerweile in gemäßigter Form den Mainstream erreicht hat: obenliegende Nähte, unversäuberte Saume, merkwürdige Passformen und Asymmetrien finden sich seit ein paar Jahren selbst in den Kollektionen der Massenmode. Am aufsehenerregendsten war ihre Kollektion »Body meets dress meets body« von 1997. Abbildung 6: Comme des Garçons, Kollektion Sommer 1997
Hier werden Körper kreiert, die buchstäblich grotesk scheinen: versehen mit Buckeln und Auswüchsen genau da, wo ein Jahrhunderte altes Schönheitskonzept sie als hässlich empfindet – und doch ist das Prinzip, das die japanische Modeschöpferin anwendet, das gleiche wie das aller Modemacherinnen und Modemacher seit 37 | Vgl. zu Kawakubo u.a. Future Beauty 2011; Lehnert 1998a; Barbara Vinken 1993; Sudjic 1990. 38 | Unter dem Aspekt des Modesystems (womit sie wesentlich die Pariser Haute Couture meint) hat Kawamura (2004 und 2005) diese »Revolution« des westlichen Modesystems untersucht.
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Jahrhunderten: Sie entwirft – abendländische wie japanische Traditionen rezipierend und verfremdend – eigenständige Körper, sie spielt mit der Idee aller Moden, vorhandene Körper zu transformieren und prothetisch zu erweitern – nur erwartet man diese »Prothesen« an anderen Stellen, nämlich an den kulturell als erotisch definierten Körperteilen wie Busen, Hüften, Hintern. Kawakubo vermeidet die und lehnt ihre Körper an Modelle an, die gemeinhin als verformt und behindert gelten. Ebenso stark sind japanische Anspielungen, wie auf den Kimono, dessen makelloser Sitz voraussetzt, dass die Gestalt des menschlichen Körpers nicht betont, sondern im Gegenteil verborgen bzw. mit Hilfe von Bandagen umgestaltet wird zu einer zylindrischen Form. Ein ästhetisches Prinzip traditioneller japanischer Gestaltung ist – neben der Fülle, die die Körper verhüllt – das Spiel mit Licht und Schatten. Die Schönheit, so schreibt Tanizaki Jun’ichiro, liege nicht im Gegenstand selbst, sondern im Muster der Schatten (Jun’ichiro 2010, Orig. 1933). Die Frauen der Edo-Zeit hätten sich schlicht gekleidet, anders als die Männer. Sie vergruben sich im Dunkeln ihrer Häuser, nur das Gesicht war sichtbar. Die Kleidung sei nichts als eine Fortsetzung der Dunkelheit, Teil des Dunkels, Verbindung zwischen Gesicht und Dunkelheit. Diese Frauen, auch noch die seiner Muttergeneration, »besaßen kaum einen Körper« (Jun’ichiro 2010, 56): »In der Tat ist der Körper solcher Frauen ein Stock, um daran die Kleider zu befestigen, nichts weiter! Das, was die Körperfülle ausmacht, besteht aus soundso vielen Lagen von Kimonos und baumwollenen Untergewändern, auch wenn man sie aus ihrer Kleidung wickelte, bliebe wie bei der Puppe nur ein unförmiger Stock übrig.« (Jun’ichiro 2010, 57)
Daraus sei der Wunsch resultiert, Frauen möglichst vollständig in die Schattenwelt zu tauchen, man habe »ihre Hände und Füße durch lange Ärmel und Kleidersäume mit Dunkelheit umhüllt und trachtete danach, nur eine einzige Partie, nämlich den Kopf, hervorzuheben.« (Jun’ichiro 2010, 58) Der platte Rumpf darunter mag unansehnlich wirken. Aber was man nicht sieht, darüber mache man sich keine Gedanken. »Was unsichtbar bleibt, erachten wir als nicht vorhanden. Und wer unbedingt diese Unansehnlichkeit betrachten will, der wird zugleich jegliche vorhandene Schönheit zunichtemachen, gerade wie wenn er ein Licht von hundert Kerzenstärken auf die Wandnische eines Teeraums richtete.« (Jun’ichiro 2010, 59)
Wie stark diese Ästhetik sowohl des dezenten Licht-Schatten-Spiels wie der Verhüllung und Hypertrophierung sich in den frühen Kollektionen der großen Japaner Rei Kawakubo und Yamamoto niederschlägt, zeigte 2011 eindrücklich eine Ausstellung im Münchner Haus der Kunst (s. den Katalog dazu: Future Beauty 2011). Es sind eben solche Gestaltungen wie die beschriebenen, die – zumal wenn
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sie noch zusätzlich mit europäischen Elementen vermischt und ohnehin überzeichnet werden – für europäische Augen den Eindruck des Grotesken erzeugen. Andere Kleidungsstücke von Comme des Garçons sind nach dem Prinzip der Montage aus mehreren zusammengesetzt: Ein Blazer und ein Hemd. Wieder andere haben falsche Ärmel oder die Ärmel an Stellen, die nicht der »normalen« Anatomie entsprechen. Oft gemahnen die Stücke an körperliche Behinderungen; in rein ästhetischer Hinsicht wirken sie grotesk im oben skizzierten Sinne. Der Kontrast zum Gewohnten, die Anspielung an das, was gewöhnlich als hässlich oder auch als unfertig gilt, die Heterogenität der Teile, die Hybridität: alles das lässt ihre Moden grotesk wirken, galt Mode doch lange als Suche nach Harmonie und Schönheit. Comme des Garçons zeigt, dass Schönheit regional und historisch wandelbar und Produkt von Übereinkünften und etablierten Wahrnehmungsweisen ist, und dass Harmonie ebenso wenig ein überzeitliches und überräumliches Phänomen ist, sondern dass sie von Übereinkünften und Zuschreibungen und daraus resultierenden Wahrnehmungsgewohnheiten abhängt. Sie kommt auf eine ursprüngliche Bewegkraft der Mode zurück: Mode setzt auf das Überraschende und Bizarre; es ist nicht Schönheit, sondern Neuigkeit, die Mode als immer modern ausmacht.
Victor & Rolf Die beiden 1969 geborenen niederländischen Designer Victor & Rolf39 haben als Künstler begonnen und erst später ihre erste Kollektion zeigen können; noch heute ist die Grenze zwischen Mode und Kunst in ihren Entwürfen wie in den Präsentationen kaum zu ziehen. Sie entwickeln außerordentlich eigenwillige Perspektiven aus den Ansätzen, die ich als groteske Stilemente bezeichnet habe. In einem Kommentar zu ihrer ersten Kollektion 1993 benennen sie implizit das Verfahren des Grotesken als Verfahren ihres Modeschaffens (das sie selbst als »archäologisch« bezeichnen): »Paris, métro: deformed silhouettes in which you can only recognise some fragments. We used these existing fragments to create a new order. Parts of a suit sewn into a dress, like an archeologist restoring a greek vase. A dress existing of layers of blouses, the longing to hide. The same with a big coat in skai, that gives the impression of 3 soles. A deformation accomplished by linings bigger than the garments they belong to, which are far too small. Cut of sequins to show the beauty of decay.« (Viktor & Rolf par Viktor et Rolf 2003, 17)
Ein Werbefoto von 1998 führt die Hybridität dieser Moden im Spiegel einer gesteigerten Hybridität vor: Ein Model steht im Blumentopf, Blumen sind ihm auf den Mund gemalt, die Form ist ausladend. Offensichtlich spielt diese Inszenierung mit dem klassisch grotesken Gegensatz zwischen Belebtem und Unbelebtem, zwischen Menschlichem und Pflanzlichem. »Emergence d’une mode cynique 39 | Vgl. zu den Designern Evans/Frankel 2009; Martin 1999.
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brodée poétique«, titelt die französische Vogue Dez. 1998/Jan. 1999, und Christian Lacroix führt Baudelaire an, um Viktor & Rolf zu loben. Die Übersteigerung modischer Formenelemente zeigt auch eine Mischung aus Kleid, Anzug, Hemd, Pierrotkostüm, alles in scheinbar gänzlich verschobenen Proportionen. Ein bereits oben erwähntes »Défilé« mit dem Titel »Russian Doll« führt noch spektakulärer das Prozesshafte jeder und insbesondere dieser Moden vor: ein Kleid wird erweitert, immer wieder kommt eine weitere Schicht hinzu, Kleid schichtet sich auf Kleid, Mantel auf Mantel, bis am Ende ein nahezu unförmiges, aber auf seine Art immer noch schönes Gebilde steht, das den menschlichen Körper, der in ihm steckt, nicht einmal mehr ahnen lässt. Er wurde buchstäblich in unzähligen Schichten von Kleidung verloren, als nichtig erklärt, er ist Teil des Kokons geworden, der sich um ihn spinnt und eigentlich immer weiter gehen könnte – und der am Ende doch den menschlichen Körper als eine Art Initialzündung und als Dialogpartner braucht, nicht zuletzt, um die Bewegung ins Spiel zu bringen. Der modische Prozess thematisiert und reflektiert sich selbst; Mode wird selbstreferentiell wie die moderne Kunst, sie erzählt Geschichten über Kleider wie die postmoderne Kunst Geschichten über andere Geschichten erzählt – und sie veranschaulicht, dass einer der generierenden Impulse der Mode ein grotesker ist. Denn was hier vorgeführt wird, ist eine Hypertrophierung des menschlichen Körpers bis zur Unkenntlichkeit und die Übernahme des Körpers durch die Artefakte. Abbildung 7: Viktor & Rolf, Russian Doll
E XKURS : C HARLES B AUDEL AIRES Ä STHE TIK DER M ODE Dass Moden »fiktionalisierend« sind, dass sie nicht abbilden, sondern hervorbringen, ist keine neue Erkenntnis. Charles Baudelaire40 macht sie zum Zentrum seiner Theorie des Modernen, die er 1863 am Beispiel der Mode und der Modedarstellungen des Malers Constantin Guys in »Le peintre de la vie moderne« (Baude40 | Aus der unüberschaubaren Literatur zu Baudelaire und Mode sei stellvertretend nur Steele 1988 genannt.
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laire 1976) entwickelt. Seine Analyse verfolgt ein mehrfaches Ziel: 1. die Mode als Paradigma der Moderne in den Fokus zu rücken und 2. zu zeigen, dass und wie der moderne Künstler sich der – nicht zuletzt durch die Moden induzierten – Geschwindigkeit des zeitgenössischen Lebens anpassen müsse, um die Essenz der Gegenwart zu erhaschen und darzustellen. Das erfordere eine andere Kunst als die eher statische der Vergangenheit, die auf ewige Werte setze. Constantin Guys scheint ihm darum der Inbegriff des modernen Künstlers, da er das Skizzenhafte seiner Arbeiten nie verleugne, sondern zum gestalterischen Mittel erhebe. Guys (1802/1805-1892) warf Szenen des Pariser Lebens – des bürgerlichen wie des Demi Monde – in einer bis dahin unerhörten Flüchtigkeit aufs Papier, die an die späteren Impressionisten erinnert. Ihm geht es stets um Momentaufnahmen, Menschen in Bewegung, Kleider und Inszenierungen. 41 »Le peintre de la vie moderne« gestaltet sich als eine mehrfach gebrochene Beschreibung: Baudelaire beschreibt nicht Szenen, die er selbst beobachtet, sondern Skizzen von Guys, d.h. er deutet Deutungen. Aber sie kongruieren mit seiner eigenen Auffassung. Kunstbeschreibung, eigene Beobachtung und Reflexion fallen in eins. Dahinter steht die zentrale Idee von Baudelaires Ausführungen, nämlich dass die Schönheit kein überzeitliches Ideal, sondern im Gegenteil wandelbar sei. Die berühmte These Baudelaires lautet: »le beau est toujours, inévitablement, d’une composition double, bien que l’impression qu’il produit soit une [...]. Le beau est fait d’un élément éternel, invariable, dont la quantité est excessivement difficile à déterminer, et d’un élément relatif, circonstantiel, qui sera, si l’on veut, tour à tour ou tout ensemble, l’époque, la mode, la morale, la passion.« (Baudelaire 1976, 684)
Dem ewigen Element des Schönen, von ihm selbst als schwer zu fassen bezeichnet, widmet er sich denn auch konsequenterweise nicht, sondern dem von den klassischen Ästhetiken vernachlässigten ephemeren Aspekt, dem Körper gewissermaßen zur Seele, wie er selbst es metaphorisch benennt – wobei er durchaus von der Überzeugung ausgeht, dass die Seele den Körper und seinen Ausdruck präge. Implizit ist seiner Argumentation auch die umgekehrte und durchaus modernere These: die Körper/die Mode (als unmittelbarer Epochenausdruck) präge die Seele: Jede Epoche habe ihre eigenen Gesten, Haltungen, ja Gesichter (Baudelaire 1976, 695). Für Baudelaire ist klar: in der Mode/im zivilisierten Menschen vereinen sich Belebtes und Unbelebtes. Die Natur gilt dem französischen Dichter als hässlich und grausam, erst die Überwindung des Natürlichen im Künstlichen lasse Schönheit (und außerdem Ethik usw.) entstehen. Die hässliche, wilde Natur wird zur Kultur durch das Prinzip der Kunst und Künstlichkeit, das sich vorrangig im Gebrauch von Schminke und Mode zeigt: »la parure est un des signes de la 41 | Zu Guys vgl. u.a. Brosch 2006.
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noblesse primitive de l’âme humaine« (Baudelaire 1976, 716). Hier wird offensichtlich, dass Baudelaire von Frauen spricht, die ihm die Natur in all ihrer Unwürdigkeit verkörpern, solange sie sich nicht mit Hilfe der Mode veredeln. Erst dann gewinnen sie das Interesse der Männer. Die Frauenfeindlichkeit solcher Äußerungen liegt auf der Hand, sie ist aber nicht Gegenstand meiner Darstellung in diesem Kontext, sondern Baudelaires Bedeutung für eine performativ aufgefasste Modetheorie avant la lettre. Das Schöne und Edle seien Resultate von Kalkül und Verstand, und das gilt ihm auch und gerade für die Frauen: »Tout ce qui orne la femme, tout ce qui sert à illustrer sa beauté, fait partie d’elle-même.« (Baudelaire 1976, 714) Das Künstliche wird von den Frauen amalgamiert und »sie selbst« – das ähnelt deutlich dem, was ich als Modekörper bezeichne. Bemerkenswert im Zusammenhang mit der Mode ist die These Baudelaires, dass alle Epochen, selbst die ›monströsesten‹, von der Suche nach Schönheit getrieben seien. Damit öffnet er seiner Ästhetik des Bizarren, des Monströsen, des Hässlichen die erste Tür. 42 Denn in der Formulierung dieses Satzes allein wird deutlich, dass das Schöne ein historisch wandelbares Konzept ist, das sich in den unterschiedlichsten Weisen ausprägen kann, da es von der Wahrnehmung der Betrachterinnen und Betrachter abhängt. Und um nichts als Wahrnehmung geht es letzten Endes in Baudelaires neuer Ästhetik: Unabhängig vom Ewigen, das ihm auch innewohne, gilt ihm das Schöne als ein Ephemeres, Gegenwärtiges, Äußerliches. Dieses wird – zumindest vom Künstler – als schön erlebt (und in Schönheit übersetzt), es ist nicht absolut schön. Der Künstler – sei er Dichter oder Maler – »exprime à la fois le geste et l’attitude solennelle ou grotesque des êtres et leur explosion lumineuse dans l’espace« (Baudelaire 1976, 700). Zwischen dem Feierlichen und dem Grotesken liegt das ganze Spektrum dessen, was dem modernen Künstler bzw. dem Künstler der Moderne darstellbar ist, und das heißt: was als schön in einem jeweils eigenen Sinne gelten kann. Als reine Gegenwart ergibt sich das Schöne aus dem flüchtigen menschlichen Handeln. Keine Mode, so Baudelaire, ist als vestimentäre Struktur allein schön (tote Hüllen am Bügel); sie ist es nur, wenn sie getragen, belebt wird – inszeniert, würde man heute sagen. Erst das Wechselspiel von (lebendem) Menschen und (totem) Kleid macht die Kleidung zur Mode und als solche schön; erst die Attitüde, die Gestik, auch die Kontexte schaffen Moden und schaffen Schönheit. Insofern interessiert sich Baudelaire weniger für die Kleider als solche als für das, was Menschen damit machen, und für den visuellen und atmosphärischen Eindruck, der auf diese Weise erzielt wird: ein höchst moderner, performativ orientierter Ansatz. Baudelaires Konzept des Schönen entfaltet sich also im Wechselspiel zwischen den beweglichen, flüchtigen Phänomenen der Realität einerseits und der Wahr42 | Vgl. zur Ästhetik des Hässlichen natürlich Rosenkranz 1996; ferner u.a. Kleine 1998, Kap. IV über Baudelaire; vgl. auch Jauß 1968.
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nehmung andererseits; es ist ein prozesshaftes, performatives Konzept, das sich von der Statik vorangegangener Schönheitskonzepte deutlich abhebt. Indem das Schöne im Prozess des Wandels selbst und damit in der Gegenwärtigkeit schlechthin sowie im Überraschenden liegt, schließt es konsequenterweise das Ungewöhnliche, Bizarre, ja das Hässliche und Groteske ein, denn vor allem das Groteske reizt die Sinne, indem es ein wirklich Neues präsentiert – ja, das Groteske kann selbst als ein Werden begriffen werden (vgl. auch Fuß 2001; Bachtin 1980 und 1995). Das Gleiche lässt sich, wie weiter oben ausgeführt, über die Mode sagen. Wenn man Baudelaires Beschreibungen der Frauen und der Dandys folgt, dann ist allerdings von Groteske zunächst wenig zu spüren: Was er beschreibt, erscheint im fast klassischen Sinne schön. Aber er beschreibt ja nicht wirklich, sondern evoziert Impressionen, die sich aus Details zusammensetzen: Ein Stoff, ein geraffter Rock, unter dem ein Schuh hervorblitzt, ein geschminktes Gesicht, die Art, ein Jackett zu knöpfen, der Sitz eines Haarknotens … Flüchtige Eindrücke, flüchtig wahrgenommen – sie setzen sich erst in der Wahrnehmung durch die Betrachtenden zum Gesamteindruck einer Inszenierung zusammen. Erst darin entfaltet sich ihre spezifische Atmosphäre, ihr spezifisch Schönes. Baudelaires Text beschreibt das Flüchtige der Mode nicht nur, sondern setzt es in einen durch Flüchtigkeit des Verfahrens charakterisierten Text um. Damit wird zugleich der Prozess des Schaffens von Kunstschönem deutlich, den man mit dem der Naturalisierung analog setzen kann: das hässliche Referenzobjekt ist nicht mehr als hässlich erfahrbar, denn der Text ist schön. Aus dem Kontrast zwischen dem hässlichen Referenzobjekt und dem schönen Text wiederum kann sich beim lesenden Publikum wiederum ein Eindruck des Grotesken als eines Hybriden ergeben: Man misst den schönen Text mit den hässlichen Vorlagen und stellt eine Inkongruenz fest, die irritiert und neue Sichtweisen ermöglicht. Der Maßstab sowohl im Hinblick auf die Mode als auch im Hinblick auf die Kunst bleibt mithin die Vorstellung eines idealen Schönen, denn nur im Kontrast dazu kann das Groteske überhaupt als Groteskes wahrgenommen werden. Insofern bleibt das Groteske bezogen auf ein anderes, und es bleibt abhängig von der Wahrnehmung. Wenn man die realen Vorbilder für das ansieht, was Baudelaire so schön als schön beschreibt, wird deutlich, wie »grotesk« es erscheint, sobald man es löst von Sehkonventionen und in Vergleich setzt mit dem, was wir heute als schön empfinden bzw. mit dem, was wir als den menschlichen Körper zu betrachten gewohnt sind. Ein Beispiel soll das veranschaulichen:
Körper & Kleid
Abbildung 8: Constantin Guys: Femmes au salon, Tusche (Feder und Pinsel), Aquarell, 21,5x31,5 cm. Sammlung J.L. Roque, Paris
Abbildung 9: London and Paris Fashions for June 1865
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Ins Auge fällt die prothetische Erweiterung der Körper zu einem eigenständigen modischen Körper, der einzelne Körperelemente leugnet (wie Beine), andere, wie die Hüften bzw. den ganzen Unterleib, durch den umfangreichen Rock überbetont. So reicht hier der Unterleib in Gestalt des Rockes bis zum Boden, er besteht gewissermaßen aus einem Sockel, der die Sexualität der Trägerin zugleich leugnet (indem er alle körperlichen Details auslöscht) und betont (indem der Rock den gesamten Unterleib vertritt und damit gleichsam zu einem einzigen Signifikat für das Geschlecht wird). Gleichzeitig scheint sich das Spiel mit Formen zu verselbständigen: aus dem ausladenden Sockel wächst ein zierliches Oberteil hervor, eine durch Korsett schön geformte Büste und ein kleiner Kopf – hier entsteht das für das Groteske so typische Ineinander von menschlichem und nicht-menschlichem Körper, das Ineinander von Belebtem und Unbelebtem, kurz: ein Spiel mit Formen, die durchaus vergleichbar sind den Zwitterwesen der Renaissance-Grotesken, die halb Säule, halb Mensch, halb Pferd, halb Mensch sind. Das Ornament, das Arabesk, das Dekor verselbständigt sich in der Kreation einer hybriden Form, die jeden Realismus zugunsten der Transformation und der Überwucherung mit reiner Form transzendiert oder ignoriert. Zweifellos kann man diese Elemente deuten, d.h. mit einer klaren kulturellen Bedeutung versehen: Wenn Frauen einerseits keinen Unterleib haben, weil er vollständig überdeckt und unsichtbar gemacht wird in seiner tatsächlichen Gestalt, und andererseits dieser Rock zugleich auf das Geleugnete verweist, indem er einen monströsen, alles dominierenden Unterleib schafft – dann entspricht das in seiner Ambivalenz von Leugnung und Betonung des Sexuellen 43 dem dominanten Weiblichkeitsbild des 19. Jahrhunderts. An einer Stelle von Baudelaires Text indessen wird das Moment des Grotesken explizit deutlich. Am Ende von »Eloge du maquillage« spricht er von den mehr oder weniger käuflichen Frauen, und hier steigert sich die Beschreibung zu einer Art von ›éloge du mal et du grotesque‹. »Dans un chaos brumeux et doré, non soupçonné par les chastetés indigentes, s’agitent et se convulsent des nymphes macabres et des poupées vivantes dont l’œil enfantin laisse échapper une clarté sinistre; cependant que derrière un comptoir chargé de bouteilles de liqueurs se prélasse une grosse mégère dont la tête, serrée dans un sale foulard qui dessine sur le mur l’ombre de ses pointes sataniques, fait penser que tout ce qui est voué au Mal est condamné à porter des cornes.« (Baudelaire 1976, 721)
Hier, so Baudelaire, finde sich »le vice inévitable, [...] l’art pur, c’est-à-dire la beauté particulière du mal, le beau dans l’horrible.« (Baudelaire 1976, 722) Ihr Wert liege in den Gedanken und Erkenntnissen, die sie beim Betrachter auslösen. Die kontextabhängige Übersteigerung des Heterogenen wird zum Grotesken; dieses 43 | Zum Rock allgemein in psychoanalytischer Hinsicht vgl. den Aufsatz von Petra Leutner über die »Unheimlichen Räume des Rockes«, 2012.
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Groteske ist nicht komisch, sondern traurig – und zugleich wird hier das Wesen der modernen Schönheit am sichtbarsten. Erneut wird der kreative Prozess vorgeführt, der aus dem Hässlichen Kunst schafft. 44
44 | Der Essay Baudelaires kann gelesen werden als eine verbale Repräsentation von Mode, also als Ekphrasis, der »verbal representation of visual representation« (Heffernan 1993, 3; vgl. auch Mitchell 1994).
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3. Konsumkultur und ästhetische Arbeit F OKUS 1: Ä STHE TISCHE A RBEIT UND A TMOSPHÄREN »Mode als ästhetische Arbeit« meint zum einen die Gestaltung/das Design der Modekleidung und ihre Vermarktung durch ästhetische Inszenierungsformen. Zum anderen aber – und das ist mein eigentliches Thema – bezeichne ich damit die Selbst-Gestaltung der VerbraucherInnen und ihr Spiel mit modischen Elementen, d.h. der Erfindung immer neuer Erscheinungsweisen, die über Notwendigkeiten hinausweisen – hinausweisen aber auch über ein traditionelles Verständnis von Schönheit oder Eleganz. Mode ist in diesem Sinne als Spiel mit Grenzen und Möglichkeiten zu verstehen und als eines der wichtigsten Medien zur Ästhetisierung unserer selbst und der Welt/des Alltags. Man könnte auch mit Iser (1993) und Fischer-Lichte (2001) von Inszenierung sprechen: als kreativer und transformierender Umgang von Menschen mit sich und ihrer Umwelt, in dem etwas zur Erscheinung gebracht wird und gleichzeitig etwas hervorgebracht wird. Inszenierungen, so Martin Seel, seien »absichtsvoll ausgeführte oder eingeleitete Prozesse« (Seel 2001, 49), oder ein »artifizielles Verhalten und Geschehen, das sich als ein solches von bloß kontingenten, bloß konventionellen oder bloß funktionalen Vollzügen unterscheidet«, das als Inszenierung nur zu erkennen sei »vor dem Hintergrund nicht inszenierter räumlicher und zeitlicher Verhältnisse«. Stilisierung hingegen sei die unvermeidbare Form der Inszenierung (Seel 2001, 51f. und Anm. 1), sie entspreche dem, was etwa nach Goffmans soziologischem Rollenkonzept ein Mensch in sozialen Zusammenhängen zwangsläufig »gebe«. Ich würde hier, um die Anspielung auf die allzu absichtsvolle Rolle im soziologischen Sinne zu vermeiden, das Konzept des »Habitus« in Erinnerung bringen, das ja die immer schon kulturelle Zurichtung individuellen Verhaltens, Meinens etc. bezeichnet. Auf die Mode bezogen bedeutet das: wenn wir uns irgendetwas anziehen und die Wohnung putzen, ist das nicht unbedingt eine Inszenierung. Zur Inszenierung wird es durch die bewusste Ankleidung für einen Zweck und das Wissen, dass man in einem bestimmten Kontext auf einen bestimmte Weise vor anderen erscheinen möchte – und, möchte ich ergänzen, wie man vor sich selbst erscheinen möchte. Das kann dann wiederum etwas zum Vorschein bringen, was vorher so nicht existierte und nach der konkreten Situation vielleicht auch nicht mehr
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existiert: ein Selbst-Bild, ein Verhalten … Gegenüber Fischer-Lichte betont Seel, Inszenierungen seien Inszenierungen von Gegenwart, »Herstellen und Herausstellen einer Gegenwart«, die sich als Gegenwart grundsätzlich der »annähernd vollständigen Erfassung« entziehe. Sie tun das im Medium des Erscheinens, das Seel definiert »als ein Spiel von Erscheinungen, das sich einer eindeutigen begrifflichen oder funktionalen Auffassung und Zuordnung entzieht«. Im Erscheinen trete uns das sinnliche Gegebensein in seiner phänomenalen Fülle entgegen.1 Auch das lässt sich ohne weiteres auf die Mode in allen ihren Erscheinungen übertragen.
Ästhetischer Überschuss Mode als Ergebnis menschlichen Handelns durch und mit materiellen Objekten ist konstitutives Element der Konsumkultur. Damit die Konsumkultur funktioniert, muss eine Vielzahl von Strategien zur Anwendung kommen. Zu den wesentlichen zählt die Begabung der Dinge mit affektiven und ästhetischen Werten in Produktion, Distribution und Rezeption. Anders gewendet: Damit Kleidung vom bloß vestimentären Objekt zu Mode werden kann, sollte sie einen – zumindest behaupteten – ästhetischen Überschuss besitzen, der nichts mit Nützlichkeit zu tun hat, sondern sich als Wahrnehmungsangebot für die Sinne anbietet. Kleider sind nützlich, aber Mode besteht niemals im Nützlichen, es sei denn, das Nützliche wird zur modischen Idee. (Dass modische Kleidung dennoch nützlich oder praktisch sein kann, steht außer Frage, ändert aber nichts daran, dass Mode als Idee nichts Nützliches meint.) Das bedeutet jedoch nicht, dass Schönheit oder Eleganz die Leitideen der Mode wären. Als wandelbare Konzepte besitzen sie keine Verbindlichkeit mehr, und auch dem Drang der übersättigten Moderne nach dem Schockierenden und Überraschenden können diese Konzepte nicht mehr entsprechen. Schon Baudelaires Bestimmung des Schönen in der Mode hat mit dem klassischen Ideal von zeitloser Harmonie nichts mehr zu tun. Und wenn Vivienne Westwood von Eleganz spricht, meinte sie damit ebensowenig eine Perfektion, Harmonie und »Angemessenheit« klassischer Formen, die Publikums-Erwartungen erfüllen, sondern einen bewussten (Selbst-)Formungswillen der Mode-TrägerInnen, der sich gegen die allgemeine Verlotterung richtet, aber durchaus auch provozieren kann (Lehnert 1998). Mode geht es mithin nicht um Schönheit, sondern um immer neue sinnliche Reize. Diese mögen zwar unter Umständen ausgelöst werden durch »Schönheit« oder als »schön« empfunden werden, je nachdem, wie Schönheit – den wechselnden Moden folgend – zu einem bestimmten Zeitpunkt definiert wird. Spätestens in der nächsten Saison aber beginnt sich gewöhnlich schon wieder zu ändern, was modisch als schön empfunden wird. »Ästhetisch« bezieht sich also im ganz ursprünglichen Wortsinne von »aisthesis« auf Wahrnehmung und meint 1 | Seel 2001, Zitate 53, 56.
Konsumkultur und ästhetische Arbeit
konkret: die Sinne ansprechend, die Sinne reizend, Aufmerksamkeit erzeugend durch einen sinnlichen Reiz – und das nicht zuletzt durch eine schwer zu fassende Atmosphäre, die zwischen den Objekten und den Wahrnehmenden entsteht. Modekleidung will überraschen, sie muss überraschen, sonst verkauft sie sich nicht. Denn um die Sinne in einer mit Wahrnehmungsangeboten so überfütterten Zeit überhaupt noch ansprechen zu können und Aufmerksamkeit zu erregen, muss man aus dem Rahmen fallen. Das geschieht in der Mode (wie im Design generell) mit Hilfe ästhetischer Gestaltung, ganz gleich wie minimalistisch die Änderungen ausfallen, die die Gestaltung am Hergebrachten vornimmt. Das gilt in unterschiedlichen Nuancierungen für Haute Couture und Prêt-à-Porter wie auch für die Massenmode. Große Fast-Fashion-Ketten wie Zara oder H&M sind bekanntlich sehr schnell sehr nah an den aufregenden Entwürfen der etablierten DesignerInnen und ahmen sie nach. Aus billigen Stoffen billig produziert, sind die billigen Artikel hochmodisch und werden die Trendsetter für ein breites, junges Publikum, das sie so schnell kauft wie wieder weg wirft und durch Neues ersetzt. Selbst diejenigen Sparten der Massenmode, deren Innovativität sich in Grenzen hält – also die großen Modehäuser, die ein konservativeres Publikum aller Altersklassen bedienen –, müssen Trends2 folgen, wollen sie Mode vermarkten. Hier kann man tatsächlich wieder von einem »trickle down«-Phänomen sprechen. Es werden stark reduzierte – man könnte sagen: entschärfte – Versionen von ästhetisch gestalteter Designermode angeboten, die eine Chance haben, auf breiter Basis auch das Publikum zu erreichen, das konservativer ist. Das Minimum modischer Übereinstimmung innerhalb der Mainstream-Mode in einer Saison besteht darin, dass überall bestimmte Farben, bestimmte Muster zu sehen sind, die im Jahr vorher noch nicht »in« waren, aber nun die Idee des Modischen inkarnieren und dazu verhelfen, nicht besonders auffallende, von den Moden von gestern oder vorgestern minimal abweichende Kleidungsstücke zu kaufen. Die gehobene Designermode bestimmt das mit, sie kann sich aber auch dagegen stemmen und ganz eigene Moden entwerfen, wie das z.B. Yamamoto mit der konsequent verwendeten Farbe Schwarz tut – und außerdem mit Schnitten, die weitab von dem liegen, was bei Peek & Cloppenburg oder Karstadt verkauft wird. Die Ästhetik, so Joanne Entwistle, sei das Produkt selbst, und das Problem sei, wie man den ästhetischen Wert aufgrund der Flüchtigkeit der Mode lang genug stabilisieren könne, um sie zu verkaufen (11f.)3. Damit lassen sich Modekleider be2 | Als »Trend« bezeichnet man etwas, was in gesellschaftlichen Kontexten im Entstehen begriffen ist und auf eine Veränderung von Ideen, Geschmack, Werten, Verhaltensweisen etc. hindeutet; setzt er sich durch, wird er zur Mode. »Trend« kann auch Details einer Mode bezeichnen, so einen Trend zum »flower print« oder zu Dreiviertelärmeln, oder umgekehrt etwas, was sich in mehreren Erscheinungen manifestiert, also in Kleidermode, Inneneinrichtung, Buchgestaltung etc., wie etwa ein Trend zu Nachhaltigkeit oder ein Retro-Trend. 3 | Entwistle 2009, 10 und 11.
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stimmen als ästhetische Konsum-Objekte. Und eine Präzisierung ist vorzunehmen: Die Ästhetik kann nur dann das Produkt sein, wenn sie grundsätzlich unabhängig von der konkreten materiellen Beschaffenheit der Kleider ist, sondern diesen sozusagen standardmäßig zugeschrieben wird. Damit wird ein Immaterielles – eine Behauptung – zum entscheidenden Kriterium für »Mode«, ganz gleich, was die Kleider materiell sind (siehe Kapitel 1.4). Dennoch muss man die konkrete Gestaltung einbeziehen, wenn man die Interaktionen zwischen Mensch und Artefakt einbezieht, denn diese werden auch durch die Spezifik der jeweiligen Kleidungsstücke und Accessoires mit bestimmt. Neben der Gestaltung (dem Design) wird der ästhetische Überschuss aber auch durch die Reaktion der Rezipierenden dem Objekt gegeben. Sie schreiben ihm – entsprechend ihrer eigenen modischen Kompetenzen und auch ihrer Vorlieben, aber auch in Reaktion auf das konkrete Angebot – symbolische und ästhetische Werte zu.
Ästhetische Arbeit und Emotionen In diesem Zusammenhang gewinnt das Konzept von »ästhetischer Arbeit« (G. Böhme 1995) an Interesse. Denn ästhetische Arbeit wird nicht nur von den Designerinnen und der gesamten Modeindustrie geleistet, sondern ebenfalls von den Rezipierenden, also den Konsumierenden. In einer Umwelt, die eine geradezu unübersehbare Fülle ästhetischer Angebote präsentiert, müssen sie ständige Entscheidungen treffen und Handlungen ausführen, die auf kultureller und speziell (mode-)ästhetischer Kompetenz beruhen: den dem Objekt innewohnenden oder ihm willkürlich durch Texte, Konventionen etc. hinzugefügten ästhetischen Wert wahrnehmen, akzeptieren oder verwerfen, dieses kaufen und jenes nicht, sich täglich kleiden, die unterschiedlichen Produkte kombinieren. Sie müssen sich selbst ankleiden, stilisieren und inszenieren und, last but not least, die anderen modischen Personen in ihrer Umgebung wahrnehmen und implizit bewerten, was wiederum den eigenen Habitus verändern kann. Das setzt allgemein ästhetische und speziell modische Kompetenzen voraus und außerdem die kulturelle Kompetenz der Unterscheidung von sozialer Zugehörigkeit, den Anlässen, zu denen man sich angemessen kleidet etc. Das schließlich führt zur Frage nach der Beschaffenheit ästhetischen Wissens, das offensichtlich nicht als Reservoir stabiler Ergebnisse betrachtet werden kann, sondern als dynamische, stets im Wandel begriffene Praxis aufgefasst werden muss. Dieses Wissen kann man mit M. Polanyi (1985) unterteilen in implizites und explizites Wissen. Das implizite Wissen ist nicht verbal, nicht rational: es ist das, was menschliches Verhalten und Empfinden steuert, ohne dass man sich jederzeit dessen bewusst sein müsste. Ästhetisches Wissen, gerade in Bezug auf die Mode, gehört teilweise zum impliziten Wissen (vgl. dazu Kap. 1.8). Ästhetische Arbeit wäre dann auf der Seite der Produktion und Distribution von Mode ein produktiver Umgang mit Objekten, durch den ihnen ein sinnlicher Wert verliehen wird, der vordergründig nicht durch eine Funktion oder einen
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Nutzen erforderlich, aber im Falle der Mode oder generell des Designs tatsächlich notwendig ist, um diese Objekte im wirtschaftlichen Handeln mit einem höheren Wert zu versehen und sie besser verkäuflich zu machen.4 So werden Kleider als Design-Objekte nach teilweise erlernbaren ästhetischen Kriterien so gestaltet, dass sie die Fähigkeit haben, in den Mode erfahrenen BetrachterInnen sowohl eine ästhetische wie eine emotionale Erfahrung auszulösen. Man könnte das – in Anlehnung an die Rezeptionsästhetik Wolfgang Isers (Iser 1975a) – als den »Appellcharakter« der Kleider bezeichnen: Sie sprechen gleichsam aktiv die BetrachterInnen an, weil sie deren Mitarbeit benötigen, um zu werden, was sie sein können. Erst die aktive Kooperation der Betrachtenden vermag die ästhetischen und sozialen Möglichkeiten des Kleides zu realisieren. Das Kleid enthält eine ästhetische Botschaft – oder »Lektüreanleitung« –, und diese muss durch besondere Inszenierungstechniken vermittelt werden. Den Objekten werden Qualitäten als spezifische Werte zugeschrieben, unabhängig davon, ob sie sie materialiter besitzen. Viele Kleider besitzen ästhetische Qualitäten nur in geringem Maße. Umso dringlicher wird die Aufgabe der Modeindustrie, die mit großem Aufwand die affektiv ansprechende Vermarktung bestimmter Konsumartikel betreibt. Das ist Aufgabe der Werbung von Modenschauen oder Frauen- und Modezeitschriften. Ästhetische und emotionale Wirkung/Erfahrung gehen ineinander über; beide basieren auf der Vorstellung, dass Objekte Menschen ansprechen und darauf, dass Menschen nicht (nur) kognitiv, sondern mit ihren Sinnen darauf reagieren. Längst sind die Grenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst nicht mehr scharf zu ziehen, und so ist ästhetische Erfahrung – ebenso wie ästhetische Arbeit – keineswegs mehr auf Kunst oder bestimmte Kunstformen begrenzt5. Damit wird auch ihre Verwandtschaft mit Gefühlen selbstverständlicher. Im Folgenden verwende ich die Begriffe ästhetische und emotionale Wirkung bzw. Erfahrung in Bezug auf Mode dementsprechend so gut wie synonym; eine Unterscheidung ist im Zusammenhang mit Mode nur gradueller Natur und könnte wie folgt umschrieben werden: Ästhetische Erfahrung kann auf dem gesamten Spektrum von ästhetischer Distanz bis Immersion stattfinden und geht hervor aus den Kompetenzen der Konsumierenden auf den Gebieten Kunst, Design, Modedesign, aber auch aus ihrem Geschmack, ihren Konsumerfahrungen sowie aus ihren Phantasien. Es ist eine emotionale Erfahrung, die jedoch m.E. gebunden ist an die Gestaltung, also an das Wie des Objekts. Das emotionale Erleben tout court ist nicht minder abhängig von Erfahrungen und Erwartungshorizonten der BetrachterInnen, aber es ist ten4 | Joanne Entwistle (2009) verortet die ästhetische Arbeit in ihrer soziologischen Analyse ausschließlich auf Seiten der Produzierenden. Ihr Gegenstand sind einerseits männliche Models und andererseits die Einkäufer als kulturelle Mittler am Beispiel des Londoner Warenhauses Selfridges. 5 | Der Vorteil von Gernot Böhmes Konzepten der Atmosphäre und der ästhetischen Arbeit liegt darin, dass beide eben nicht auf Kunst beschränkt sind; sie sind deshalb gut auf die Prozesse der modischen Produktion und Rezeption übertragbar.
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denziell etwas stärker im erlebenden Subjekt (und dessen Phantasien und Selbsterleben) begründet als im Objekt, auch wenn es ebenfalls davon ausgelöst wird. Es ist ein Ereignis, dem man sich nicht entziehen kann und mit dem man sich das Ding emotional quasi zu eigen macht. Wie ersichtlich, liegen beide Erfahrungen auf einem Spektrum, das man in seiner Gesamtheit als »ästhetisch-emotionales Erleben« bezeichnen kann. An einem Ende liegt die ästhetische Distanz, am anderen das gefühlsmäßige Eintauchen, das als Immersion ja ebenfalls eine Version ästhetischer Erfahrung ist (Bieger 2011). Affektivität kann als heftige momentane Erregung potentiell überall auf dieser Skala auftauchen6. Die Frage ist dann, in welchem Verhältnis diese beiden Praktiken stehen – die Intentionalität der Objektgestaltung und die Reaktion der Betrachtenden –, d.h., in welchem Umfang dem Objekt eine Qualität materiell zu Eigen ist und in welchem Umfang sie ihm als Wert zugesprochen wird. Das hängt u.a. davon ab, wie kompetent die BetrachterInnen sind7 und wie mächtig die Modeindustrie. Eine entscheidende Rolle spielt außerdem, auf welche Weise und in welchen Räumen oder Medien das Objekt der Wahrnehmung präsentiert wird, was wiederum komplexe Techniken der Erzeugung und Steuerung von Aufmerksamkeit voraussetzt8. Dennoch ist nie garantiert, dass die Kommunikation mit den Rezipieren6 | In der kulturwissenschaftlichen Forschung wird das Wort »Emotion« meist als Oberbegriff verwendet und »Affekt« (der früher der starken Leidenschaft entsprach) als stärker momentane Reaktion. Das entspricht meiner Verwendung (vgl. zur Geschichte des Sprachgebrauchs allgemein seit dem 18. Jahrhundert Scheer 2011). Gerhard Roth erklärt, Gefühle seien im limbischen System verankert, hätten also mit dem Körper zu tun, nicht mit dem Hirn; er unterteilt Gefühle im weitesten Sinne in: 1) körperliche Bedürfnisse wie Müdigkeit, Durst, Hunger, Geschlechtstrieb, Drang zum Zusammensein mit anderen Menschen = menschliche Grundausstattung; 2) Affekte: Wut, Hass, Zorn, Aggressivität, reißen uns mit, man kann sich nicht dagegen wehren; 3) Emotionen: Furcht, Angst, Neugier, Freude, Glück, Verachtung, Ekel, Hoffnung, Enttäuschung, Erwartung, Hochgefühl, Belastung, Niedergeschlagenheit (Roth 2003, 156). In diesem Sinne wäre das, was im Zusammenhang der Mode interessiert, die Emotionen sowie die Affekte. 7 | Martha Nussbaum betont die soziale Konstruiertheit von Gefühlen. Wahrnehmungen und Überzeugungen spielten beim Empfinden der Gefühle eine ausschlaggebende Rolle. Ein Gefühl sei immer auf ein Objekt gerichtet und enthalte Vorstellungen der Wahrnehmenden vom Objekt (Nussbaum 2002,173). 8 | Für Assmann ist Aufmerksamkeit nicht nur ein unwillkürlicher Reflex, sondern eine Kulturtechnik (Assmann 2001, 13 und 18), eine Grundvoraussetzung kognitiver Prozesse und gründsätzliche Form der menschlichen Zuwendung zur Welt. Seitter (2001, 171) definiert Aufmerksamkeit als »relativ starke Zuwendung des Bewusstseins auf einen wie immer gearteten Gegenstand oder Gehalt«; »eine Bewusstseinsaktivierung, die sich überwiegend auf Wahrnehmung bezieht«, demgegenüber sei Konzentration die »willentlich gesteuerte und eine Zeitlang aufrechterhaltene Sammlung aller mentalen Kräfte und speziell der Denkkraft auf eine bestimmte Tätigkeit«.
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den gelingt. Denn – um erneut eine Parallele zur Rezeptionsästhetik zu ziehen – wie bei jedem Interaktions- bzw. Rezeptionsprozess bleiben auch hier notwendig »Leerstellen«, die die Betrachtenden keineswegs willkürlich, sondern gelenkt von den Signalen des Objekts, ausfüllen müssen, die sie aber auch fehl lesen oder einfach ignorieren können – wie den gesamten Text. Wie jede Kommunikation, kann auch die modische Kommunikation misslingen9. Wie das Verhältnis ist, ist schließlich auch vom jeweiligen modischen Segment abhängig und wäre im Einzelfall zu bestimmen. Es wird komplexer, je höher der ästhetische Anspruch ist (was nicht zwingend, aber meistens auch höhere finanzielle Investitionen impliziert). So kann die affektive Beteiligung der Konsumierenden beispielsweise entweder stärker in Richtung ästhetische Erfahrung oder in Richtung der Symbolisierung eines Zustands, von Status, Wohlstand, einer Identität oder eines Gefühls (Freiheit, Erfolg, Erotik …) gehen. Und schließlich bestimmt unter Umständen der Preis die Entscheidung mehr als jede andere emotionale, mit Projektionen verbundene Reaktion auf ein Kleidungsstück; auch das kann eine emotionale oder affektive Reaktion sein. Eine Marke wiederum kann das Verhältnis vereinfachen, wenn sie klar »für etwas« steht, oder es verkomplizieren, wenn sie auf Ambivalenz setzt 10. Wichtig ist immer der inszenatorische Aufwand, der um das Objekt herum betrieben wird, sowie der aus vorausgehenden modischen Erfahrungen resultierende »Erwartungshorizont« der jeweiligen Klientel. Potentiell jedoch haben alle modischen Kleider die Chance, in einen emotionalen Austausch mit Menschen zu treten, da in anthropologischer Sicht Menschen grundsätzlich emotional mit Dingen umgehen11 und Kleidung, die man auf dem Körper trägt, zu den ausgezeichneten, besonders intimen Dingen gehört.
Aura und Atmosphäre Walter Benjamin erklärt in seinem klassischen Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, die Aura von Kunstwerken sei an die Einzigartigkeit und einmalige Präsenz im Hier und Jetzt gebunden; zugleich trage sie die gesamte Geschichte des Objekts in sich. Für Benjamin hat das Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit die Aura abgeschafft, es müssten andere Wirkmechanismen und Beschreibungen für das, was Kunst sei und vermöge, gefunden werden (Benjamin 1979). Peter Geimer vertritt daran anschließend die Auffassung, die Aura sei keine feste Eigenschaft der Dinge, aber auch keine Summe von Zuschreibungen, jedoch sei sie an einen »Raum der Imagination« gebunden, denn das Artefakt führe seine »Geschichtlichkeit nicht sichtbar mit sich« (Geimer 2005, 112) und 9 | Zu scheiternder Kommunikation allgemein Watzlawik 2007. 10 | Zum Thema Marke vgl. u.a. Hellmann 2003 und 2010. 11 | Vgl. dazu u.a. auch Miller 2009, Miller 2010, Miller 2012, H. Böhme 2006, Hahn 2005.
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existiere letztlich nur in den Vorstellungen und Zuschreibungen. Am Beispiel eines imitierten skythischen Helms erläutert er die Komplexität des Themas. Der Helm veränderte, als er als Kopie entlarvt wurde, seine Materialität nicht – aber er verlor seine »historische Zeugenschaft« und damit seine Aura. Geimer folgert: »Die Aura […] ist weder in den Dingen noch liegt sie in der Summe ihrer wechselnden Zuschreibungen. Ihre Sphäre ist eher ein Vorstellungsraum, der zwischen dem Gegenstand und seinen Zuschreibungen vermittelt.« (Geimer 2005, 116) Das eigentlich Dinghafte komme wohl erst zum Vorschein, wenn man den Dingen ihren Sinn – ihren Gebrauch, die Zuschreibungen – entzogen habe (Geimer 2005, 118). Offen bleibt die Frage, wie letzteres geschehen könnte, denn es scheint eine unmittelbare menschliche Reaktion auf die Konfrontation mit Dingen zu sein, ihnen sofort Bedeutungen zuzuweisen, seien es solche ihres Gebrauchs, seien es atmosphärisch-emotionale Projektionen. Insofern bleibt das eine ideale Forderung. Die jedoch, das bleibt festzuhalten, Aura noch stärker als Benjamin an die historische Authentizität des Objekts bindet und sie zugleich mit Zuschreibungspraktiken, Wissen und Projektionen in Verbindung bringt, also die menschliche Rezeption ins Spiel bringt, während Benjamin die Aktivität des Kunstwerks betont. Gernot Böhme ent-auratisiert das Benjaminsche Konzept stärker als Geimer, indem er das Konzept einer Ästhetik entwickelt, die nicht mehr auf Kunst beschränkt ist. Er bestimmt ästhetische Arbeit als die Produktion von Atmosphären; nicht die Dinge, die man wahrnehme, sondern die Atmosphäre, die man empfinde, sei das primäre Thema der Sinnlichkeit. Atmosphäre, so Böhme, gehe von Dingen und Menschen und deren Konstellationen aus. Sie entstehe aus Umgebungsqualitäten und Befindlichkeiten, die Atmosphäre liege gleichsam auf der Schnittstelle zwischen beiden, in einem räumlich nicht fassbaren Dazwischen. Atmosphären gehören zum Objekt, ohne dessen Eigenschaft zu sein. Sie seien aber auch keine Bestimmungen des Seelenzustandes von Menschen, aber sie werden in leiblicher Anwesenheit durch Menschen gespürt. Dieses Spüren sei zugleich ein leibliches Sich-Befinden der Subjekte im Raum, der wiederum – in der Terminologie Elisabeth Strökers (1965) – als »gestimmter Raum« bezeichnet werden kann. Gemäß Hermann Schmitz12 ist Raum strukturell leiblich, d.h., »seine Strukturen entsprechen den leiblichen oder ergeben sich gar aus diesen«. Das Subjekt habe also keine Stimmungen und Gefühle, sondern tauche gleichsam in sie ein und spüre leiblich z.B. in dem, was Schmitz Weiteraum nennt, Stimmungen und Atmosphären. Ich würde dem hinzufügen, dass durch virtuelle Welten und Möglichkeiten, beispielsweise im Netz an Modenschauen teilzunehmen oder zu shoppen, die Atmosphäre nicht mehr vordringlich von der leiblichen Ko-Präsenz in einem konkreten gemeinsamen Raum abhängt, wovon die Phänomenologen ausgehen. Zwar 12 | Schmitz 1995 (2. Auflage), 275-320, hier: 278; Schmitz 1998 (1967); Schmitz 1981 (1969). Hermann Schmitz spricht von Gefühlsräumen und leiblichen Räumen.
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muss immer noch ein Mensch in seiner Leiblichkeit empfinden, aber er wird in dem Fall von Bildern affiziert.13 Er benötigt also Bildkompetenz und die Fähigkeit, Leerstellen zu füllen, um die gezeigten Objekte als real und begabt mit dieser oder jener ästhetischen Qualität zu erleben; außerdem muss er die flächigen Bilder dreidimensional erweitern können, sofern sie nicht ohnehin schon einen dreidimensionalen Illusionseffekt besitzen. Involviert sind im virtuellen Shoppen zwei Räume: der der körperlichen Gegenwart und der der Virtualität. Dennoch ist fraglich, ob die durch virtuelle Räume und Dinge ermöglichten Atmosphären an Intensität an diejenigen heranreichen, die durch leibliche Ko-Präsenz erzeugt werden, da die Ausstrahlungen, die Aura von Dingen wie Menschen, sich über Energien mitteilen, die von materieller und räumlicher Nähe abhängig sind. Wenn die konkrete Umsetzung von Böhmes Atmosphäre-Konzept als Analyseinstrument auch nicht ohne weiteres möglich ist, hat das Konzept den Vorteil, dass es – mit Benjamin – den Dingen und Räumen eine gewisse »agency« zugesteht, statt das, was zwischen Menschen, Dingen und Umgebungen geschieht, ausschließlich auf die menschliche Aktivität – also auf Projektionen – zurück zu führen. Mit der Aktivität bzw. Handlungsmacht der Dinge befasst sich auch die Kulturanthropologie des Designs. Moebius/Prinz betonen die Eigenlogik der Dinge. Überall mischten sich Dinge in unsere alltäglichen Praktiken ein; in sie seien Handlungsprogramme eingeschrieben, die in routinisierte Praktiken der BenutzerInnen eingehen. Ihre Wirkung sei um so stärker, je unauffälliger sie seien (Moebius/Prinz 2012, 9; vgl. auch H. Böhme 2006). Daraus resultiere die Notwendigkeit eines Analyseinstrumentariums, »das die sozial ausgehandelte Bedeutung von Dingen mit der strukturierenden Funktion visueller Ordnungen sowie den materiellen Handlungsprogrammen von Artefakten zusammendenkt« (Moebius/Prinz 2012, 14). Auf dieser Grundlage kann man den Atmosphäre-Ansatz konkretisieren: die Handlungsmacht der Dinge bestimmt das, was zwischen Menschen und Dingen geschieht, ebenso maßgeblich mit wie die Menschen. Die Attraktivität dieses Ansatzes liegt gerade darin, dass Atmosphären zwischen Menschen und Dingen entstehen, also beide Aktivitäten benötigen, und dass sie etwas bezeichnen, was schwer greifbar ist. Emotionen sind konkreter und benennbarer, Atmosphären sind flüchtig – sie können zwar in Gefühle übergehen, aber sie sind keine Gefühle, sondern kommen dem näher, was man früher in der Ästhetik »Stimmung« nannte14. Ein erneuter Rückgriff auf die rezeptionsästhetische Analyse des Lesevorgangs verdeutlicht die Interaktion zwischen Menschen und Dingen, in der Atmosphäre entsteht. Man mag ein Buch im Bücherschrank haben, aber das ist ein 13 | Zum Sehen grundsätzlich, wenn auch nicht zum Thema Virtualität speziell, vgl. die Studie von Eva Schürmann (2008) über Sehen als Praxis; ferner Mitchell 1994; Mitchell 2006; Sachs-Hombach 2009. 14 | Vgl. etwa Riegl 1996.
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ausschließlich materielles Objekt. Ein Text existiert darin nur potentiell, realisiert wird er erst dann, wenn die gedruckten Zeichen gelesen – und d.h.: mit Vorstellungen verbunden und interpretiert – werden. Die Lesenden müssen also immer ihren Teil zum Entstehen eines Textes leisten. Dabei sind sie nicht frei, denn der Text besitzt »Handlunsmacht« und setzt Signale oder zeigt unterschiedliche Wege, die man gehen kann. Die Lesenden entscheiden, welchen Weg sie wählen – ob sie überhaupt einen wählen oder ob sie gar keinen wählen (Eco 1994). Zudem müssen, wie bereits ausgeführt, die Lesenden immer Leerstellen ausfüllen, die der Text vorgibt, und auch dafür gibt es mehr oder weniger deutliche Anweisungen im Text selbst, die ganz und gar oder teilweise befolgt werden können. Es findet also eine Interaktion statt, die zum Teil gesteuert ist und zum Teil dem Zufall von Zeit, Ort, Stimmung überlassen bleibt. Erst in der Interaktion entsteht der Text – und zwar ein ganz spezifischer, von der lesenden Person und dem Moment der Lektüre abhängiger Text, der dennoch intersubjektiv vermittelbar ist und Ähnlichkeiten zu den »Texten« anderer LeserInnen aufweist. Die Mode ist freilich weniger klar lesbar, sie ist kein Text oder doch nur in bestimmten Hinsichten als Text lesbar. Kleider werden ebenso wie Texte mit Signalen ausgestattet; mit visuellen, haptischen und unter Umständen sogar olfaktorischen Signalen. Deren Wirkung ist immer eingebettet in den Kontext einer Tradition, folglich konventionell und außerdem diskursiv vermittelt. Dass ein Kleid, und sei es noch so vage, die Assoziation »Märchenprinzessin« oder »Dame« oder »Hexe« oder »Vamp« auslöst (oder: natürlich, künstlich, verzaubert, sexy, schlampig, wild, sinnlich, zart, traurig ...), liegt nicht allein – oder vielleicht sogar: am Wenigsten – an der Beschaffenheit des konkreten Artefakts, sondern an den Zuschreibungen, die bestimmte Kleidertypen in einem fortgesetzten Attributionsund Deutungsprozess kulturell schon längst erfahren haben. Das heißt, in jedes Kleidungsstück sind Erinnerungen an andere Kleidungsstücke (oder Kleidungstypen, Materialien, Farben etc.) eingewebt, so wie in jeden Text andere Texte eingewebt sind. Die der individuellen Interaktion vorgängigen und in jeder individuellen Interaktion teilweise oder ganz aktivierbaren Zuschreibungen sind als Ergebnis einer Interpretation und Zuschreibung grundsätzlich diskursiver Natur. Ein rein materielles Objekt kann Wohlbehagen auslösen, wenn es sich schön anfühlt oder schön aussieht, es kann im Idealfall vielleicht ein ästhetisches Erleben auslösen, das noch nicht nach einer Bedeutung oder einem Nutzen fragt. Es allein in seiner schieren Materialität kann jedoch vermutlich nicht die Phantasie vom ganz »Anderen« und im nächsten Schritt das Begehren danach auslösen. Dazu bedarf es unterschiedlicher diskursiver und inszenatorischer Praktiken, die wiederum auf die Erfahrung und das Wissen der Rezipierenden stoßen. Das ist freilich bereits ein Schritt über die Atmosphäre hinaus. Denn die Konkretisierung der Aura oder Atmosphäre auf ein Benennbares hin verwandelt sie in ein Symbol, das für etwas anderes steht, ganz gleich wie vielfältig ein Symbol auch sein mag – und das ein Versprechen macht. Das Versprechen der Mode zielt auf das grundsätzlich und ganz Andere, sei es eine andere Identität, ein anderes
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Leben, andere Gefühle, Sinnlichkeit, Erfolg, Glück – die Liste ist fast beliebig erweiterbar. Gleichwohl bleibt auch das modische Versprechen vage und vieldeutig. Ja, es muss vage und vieldeutig bleiben, sonst käme der Prozess zum Stillstand. Das Versprechen besteht darin, »die Atmosphäre, die den Objekten aufgrund der Wahrnehmung durch Menschen eignet, fixieren zu können: ein paradoxes und uneinlösbares Versprechen.« (Lehnert 2006, 16)
F OKUS 2: R EPR ÄSENTATIONEN VON M ODE (B ILD UND TE X T) Als Beispiel für den Prozess, in dem vestimentären Artefakten Stimmungswerte, Atmosphären und Bedeutungen zugesprochen werden, soll im Folgenden kurz eine Modestrecke der deutschen Vogue (2003) analysiert werden. Um es zu wiederholen: Bedeutungszuweisungen sind ein grundsätzlich sprachliches Verfahren; Atmosphären basieren auf weiteren sinnlichen Signalen. Bei Roland Barthes (1967) kann man en détail nachlesen, wie Mode in der Modezeitschrift erzeugt wird – oder eigentlich weniger Mode als eine Idee von Mode, die keinen anderen Inhalt hat als sich selbst: Mode. In den Jahrzehnten seit Barthes’ grundlegendem Werk hat sich die Präsentation von Mode in Modezeitschriften bzw. allgemein in der Modefotografie noch zugespitzt. Man sieht oft keine Kleider mehr, sondern Bilder, die bestimmte Atmosphären vermitteln und/oder vorrangig einen bestimmten Lebensstil darstellen wollen; Winfried Gerling nennt diese spezielle Variante zeitgenössischer Modefotografie »subjektiven Dokumentarismus« (Gerling 2006, 280). Die Bilder haben entweder künstlerischen Anspruch und stehen mehr oder weniger für sich, oder sie sollen eine verkaufsförderliche Stimmung erzeugen, ohne visuelle Informationen über das zu erwerbende Objekt zu geben. Informationen gibt in den Modestrecken15 der Modezeitschriften der begleitende kurze Text, der dem Bild beigegeben ist wie die Subscriptio in einem Emblem der Pictura. Er nennt Daten: Designer, Material, (evtl.) Preis. Selten beschreibt er genau, was da angeboten wird, häufig setzt er immer schon etwas als bekannt voraus: Bezeichnungen von Kleidertypen, Designernamen, Stoffe, Muster usw. Das ist schon in den Modezeitschriften des späten 18. Jahrhunderts nicht anders: die Fachterminologie wird als bekannt vorausgesetzt, als Leserin hatte man zu wissen, was eine »robe à la turque« oder »à l’anglaise« war. Namen spielten damals eine noch wichtigere Rolle als heute, denn sie konnten bestimmte Phantasien aufrufen. Eine »robe à la turque« etwa rief die verbreitete Haremsphantasie von sinnlicher, luxuriöser Weiblichkeit auf, die sich materiell in den Kleidern keineswegs niederschlägt, sondern – in diesem Fall – ausschließlich in den Namen residiert (Lehnert 2013 und 2011). Ein struktureller Vergleich zur Emblematik bietet sich an. Das Thema einer Modestrecke würde der Inscriptio oder dem Motto des Emblems entsprechen, 15 | Eine detallierte Beschreibung und Interpretion einer Modestrecke bei Venohr 2010.
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das kombiniert wird mit der Pictura, also dem Titelbild sozusagen. Damit ist das Thema zu Beginn der Strecke eingeführt und lenkt die Rezeption entscheidend. In der weiteren Strecke werden die Bilder mit den »subscriptiones« kombiniert: jedem Bild ist ein – meist sehr kurzer – Text beigegeben, der das Bild »kommentiert«, zumindest Designername und Preis, evtl. Material nennt, oft aber auch stimmungsstützende Assoziationen zur gezeigten Mode anbietet. Im Idealfall entstehen bei diesem Verfahren Ikonotexte16, in denen keine bloße Addition, sondern eine untrennbare Verbindung von Bild und Text, also ein Neues, stattfindet17. Abbildung 10: Modestrecke »Glücksoffensive« aus der deutschen Vogue, April 2003/ Versace-Modell aus Leder
Die Doppelseite zeigt Inscriptio und die Pictura; die Subscriptio findet sich auf den einzelnen Modeseiten und gibt die Kauf-Details für die Kleider an. Zum Auftakt der Strecke werden die Weichen für die Rezeption gestellt, und das vorwiegend verbal. Denn ein echter Zusammenhang zwischen dem silhouettenartigen schwarzen Bild mit dem pfauenhaft aufgeworfenen Rock liegt nicht auf der Hand – es sei denn, eben diese Diskrepanz als solche würde die »Aussage« der Doppelseite veranschaulichen. Da steht: »Furiose Fantastik und der unbedingte Wille zur Kostbarkeit: Haute Couture – das ist die Erlösung vom alltäglichen Zweckdenken«. (Dt. Vogue April 2003, S. 186) Was sofort ins Auge fällt, ist der quasi religiö16 | Zur Ikonotextualität allgemein Wagner 1996, von Möllendorf, o.J. 17 | Das Beispiel aus der Vogue habe ich bereits in der Einleitung zu dem von mir hg. Buch »Die Kunst der Mode« verwendet.
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se Sprachgebrauch: Haute Couture erlöst, und zwar vom alltäglichen Zweckdenken – womit dieses in die Position der Sünde rutscht. Die Kostbarkeit der Haute Couture wird zum Ziel allen Strebens (Himmel), und der Wille danach treibende Kraft menschlichen Lebens. Das ist die implizite Verwandlung der Mode in Religion. Daneben ist aber auch von Fantastik die Rede, was einen anderen semantischen und Assoziationsraum eröffnet. Fantastik ist das nicht Alltägliche, das, was unter Umständen dem rationalen Denken widerspricht (und damit auch dem Zweckdenken). Nicht mehr Schönheit steht im Mittelpunkt der Mode, sondern das Ungewöhnliche, das Wilde, das Überwältigende (furios), vielleicht auch das nicht mehr Verständliche, das in den geordneten (langweiligen) Alltag einbricht. Hier wird ein elitäres Gegenbild zum unterstellten (klein-)bürgerlichen Zweckdenken entworfen, und dieses Bild wird zur Idee der Mode schlechthin. Die Wirkung zielt interessanterweise gleichzeitig aufgrund des eingebauten Verständnis-Hiats sowohl auf Distanz als auch auf Immersion und auf die Anregung der Imagination sowie des Begehrens. Es wird eine Sehnsucht geweckt, die unerfüllt bleiben muss und sich auf diese Weise immer fortzeugt; darum lebt die Mode immer weiter im vergeblichen Versuch, das Versprechen einzuholen. Allerdings eröffnet sich über die erwähnten Diskrepanzen oder Gegensätze hinaus eine weitere Dimension. Die Trägerin des Luxus ist schwarz – ganz gleich, ob ihre Hautfarbe so ist oder sie so geschminkt wurde –, was offensichtlich für Exotik und Wildheit stehen soll, zugleich ist sie inszeniert wie ein Pfau, der für Eitelkeit und Schönheit steht. Da die Assoziation eines Pfaus mit einem schwarzen Model verbunden wird, eröffnen sich weitere Assoziationen im Hinblick auf die Kategorien von Gender und Race. Sie sind in einen Diskurs einordenbar, der Weiblichkeit, Animalität und Ethnie in einen fatalen Zusammenhang bringt. Dieser im Kolonialismus des 19. Jahrhunderts verwurzelte Diskurs wird noch gestärkt durch das scheinbare Paradox, dass das schwarz aussehende Model auf eine Weise geschminkt ist, dass ein Clownsgesicht entsteht. Das passt nicht zum prächtigen Designerkleid, aber es passt hervorragend in die Diffamierung nicht-weißer Menschen in Europa und den USA ebenso wie in die Abwertung des Weiblichen als oberflächliche, kindhafte Protagonistinnen stellvertretenden Konsums. So erscheint die visuelle Inszenierung von Luxus unerwartet und vielleicht unbeabsichtigt gekoppelt an Praktiken sozialer Ausgrenzung und Ausbeutung. In der Logik der Bildstrecke weist das wie ein Clown geschminkte Gesicht des Models jedoch eindeutig voraus auf die Inszenierung der Modestrecke als phantastischer Zirkus. Offenkundig ist die Relation zwischen Text und Bild eine Synekdoche, eine Grenzverschiebungstrope; keine metaphorische freilich, denn die würde eine Ähnlichkeitsbeziehung voraussetzen, sondern eine metonymische, die in der Abfolge und im Spiel der Signifikanten nachzuvollziehen ist, aber nicht im direkten Bezug zwischen Text und Bild. Dennoch ergibt sich in der präsentierten Kombination die Figur des Emblems, das als solches Bezüge zwischen den Bereichen suggeriert. Und das ist dann schon fast wieder als metaphorisches Verfahren zu bezeichnen.
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Abbildung 11: »Glücksoffensive«, Vogue, April 2003
Auf den folgenden Bildern dieser Modestrecke werden Modelle von Galliano gezeigt, die mit dem Foto des Versace-Modells (der Pictura) inhaltlich wenig zu tun haben bis auf die Zuschreibungen, die die Inscriptio vorgenommen hat und die nun für alle folgenden Bilder gelten. Die Galliano-Modelle werden als phantastischer Zirkus inszeniert, im Gegensatz zum Versace-Foto leuchtend bunt und übervoll; nichts als Phantasie (oder »Fantastik«, wenn man so will). Das entspricht Gallianos Stil, denn alle Kleiderstile und -praktiken, die er zitiert, dienen ihm als unendliches Reservoir für seinen Karneval der Stile; dem entspricht diese Inszenierung (Frankel 2006). Und der Bezug zum Clownsgesicht des Auftakts wird evident und sorgt für die visuelle Logik der Strecke. Im dynamischen Dreieck von Kleid, Text und Bild entsteht Mode in Modezeitschriften nicht als konkretes Artefakt, sondern als Atmosphäre und Versprechen – und letztlich natürlich als Konsumobjekt, aber das wird gerade verschleiert. Grundsätzlich funktionieren, bei allen Unterschieden der medialen Formate und der Einzelinszenierung, andere Präsentationen von Mode ähnlich. Ein Versandhauskatalog tut es auf ästhetisch meist weniger anspruchsvollem Niveau, vor allem direkter, weil er relativ rasch sein Publikum ansprechen und zur Bestellung anregen muss (was die Vogue weder kann noch muss), und das ist ein anderes Publikum als das der Vogue. Kataloge setzen stark auf Nützlichkeit und sprechen damit ein Publikum an, zu dessen Schlüsselreizen vielleicht tatsächlich eine Nützlichkeit zählt, die mit dem Hübschen, Angepassten, Korrekten einhergeht. Öko-Versandhäuser wählen wieder andere, aufwändigere Strategien der Darstellung: Sie versetzten ihre Models stets in eine glückliche, strahlende Natur, sei es eine winterliche oder eine sommerliche; oft ist es ein Strand. Bei Online-Ver-
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sandhäusern kommt alles auf die Gestaltung der Website an, die eine bestimmte Anmutung haben muss, und auf die technischen Möglichkeiten: Kann man die Kleider drehen und wenden? Kann man zoomen oder nicht? Hier steht eher die Information im Mittelpunkt, aber die funktioniert nicht ohne zusätzliche atmosphärische Anreize, und diese werden in der Gestaltung der Site mit bedacht. Ein Schaufenster18 macht ganz Ähnliches mit seinen spezifischen Mitteln der Inszenierung von Objekten und kann durchaus wie ein dreidimensionales Bild wirken. Das Schaufenster verkörpert einen weiteren Reiz, den die Bildmedien nicht in dem Maße haben: es zeigt reale, dreidimensionale Objekte, die man fast, aber eben nur fast, berühren kann und die deswegen um so mehr ins Haus locken, weil man hofft, sie dort nicht nur berühren, sondern auch anprobieren zu können. Das Schaufenster kann einfache oder hochkomplexe Szenografien 19 entwerfen, die dazu einladen, sich in ihnen zu verlieren – die aber auch gleichsam wie ein imaginärer Spiegel wirken können, der Möglichkeiten zeigt und damit Begehren nach dem Ich weckt, das man sein könnte. Vielleicht aber auch einfach nur Begehren nach dem Objekt in seiner Schönheit, die allerdings einiges verlieren wird, wenn es dem schönen, skurrilen, überraschenden – sinnlichen – Kontext entrissen wird und zu Hause im Schrank hängt. Die Fenster können auch ein scheinbar zweckfrei schönes Schaubild präsentieren, das überrascht und die Sinne erfreut – und scheinbar nur ganz nebenbei das Objekt ins Zentrum rückt, das gekauft werden soll. So dekorierte Hermès (Paris) vor einigen Jahren ein ganzes Schaufenster aufwändig als Dschungel, in dem eine einzige Tasche lag – wie eine zu jagende und schwer zu erlangende Beute (ein in den letzten Jahren öfter verwendetes Motiv in der Handtaschenwerbung). Damit war spielerisch zugleich der Anspruch, eine Luxusmarke zu sein, visualisiert. Ganz gleich jedoch, ob Text, Bild oder Szenografie: die beworbenen Kleider werden kontextualisiert, oft auf unvorhersehbare Weise, und gewinnen genau darin ihren spezifischen ästhetischen Wert, der idealiter über die Imagination sogleich ins Begehren überführt wird – vielleicht mit der Illusion, dass man ja nur die wundervolle Inszenierung bewundert habe wie ein Kunstwerk. Und schließlich als letztes Beispiel Défilés: Eine Modenschau kreiert für wenige Minuten eine besondere Atmosphäre im Raum, die auf die vorgeführten Kleider überspringen und das Begehren nach ihnen wecken soll.20 Ihre Besonderheit ist die Unwiederholbarkeit, die sie einer Theateraufführung annähert, wenngleich diese in der Regel wiederholt werden – wenn auch keine Aufführung der anderen ganz gleich ist. Allerdings ermöglicht das Internet mittlerweile eine all18 | Zum Schaufenster siehe u.a. Schneider 1985; Schleif/Windgätter 2010; Lindemann 2011 und 2012. 19 | Zur Szenografie grundsätzlich vgl. u.a. Brejzek/Mueller von der Hagen/Wallen 2009. 20 | Vgl. den Katalog zur Düsseldorfer Ausstellung »Catwalk« (2009), ferner die ausführliche Analysen von Evans 2009, Kühl 2011 und Silbermann 2011. Alicia Kühl widmet dem Thema ihre Dissertation.
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gemeine Verfügbarkeit von Modeschauen, die noch vor zehn Jahren undenkbar gewesen wäre. Zwar wird man als Betrachterin zu einer Perspektive genötigt, und von der Atmosphäre des gesamten Events bekommt man meist recht wenig mit. Jedoch überträgt sich auch im Video der Schau einiges von deren Ideen und auch von den Reaktionen des Publikums. Ein Desiderat der Forschung ist die Untersuchung, ob sich die Entstehung und die Übertragung von Stimmungen und Atmosphären in dieser noch vergleichsweise neuen Situation der allgegegenwärtigen Verfügbarkeit von Ereignissen im Netz verändern, ob es sie noch gibt, wie es sie gibt – kurz, wie die Virtualität sich auf die menschlichen Wahrnehmungen und affektiven Reaktionen auswirkt.
F OKUS 3: M ODISCHE W UNSCHERFÜLLUNGEN Im Rückgriff auf Sigmund Freuds Konzept des Traums als Wunscherfüllung (Freud 1972 [1900]) lässt sich der atmosphärische Prozess konkretisieren bzw. kann man ihm etwas hinzufügen, was seine Funktion als Versprechen verdeutlicht. Analog dem nächtlichen oder dem Tag-Traum erfüllt der modische Traum vom Kauf/Besitz des Kleides Wünsche – vielleicht auch noch der Kauf selbst. Dabei ist es (auf dieser Ebene der Argumentation) gleichgültig, ob es sich um soziale oder um narzisstische21 Träume handelt (also statusorientiert oder selbstgenussorientiert). Tatsächlich ist Atmosphäre zunächst unabhängig von jeglicher materiellen Wunscherfüllung, aber sie kann gezielt erzeugt werden, um in eine solche zu münden. Man könnte noch weiter gehen. Jacques Lacan (1966) entwirft in einem seiner bekanntesten und viel zitierten Texte »Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je« die Entwicklung des Kleinkindes aus der Einheit mit der Welt/Mutter/mit dem Anderen hinaus und hin zur getrennten, eigenständigen Existenz als Individuum. Als Moment der Veränderung macht Lacan den Blick in den Spiegel aus, in dem zum ersten Mal das Kind sich erkenne – und zugleich verkenne, denn es nehme sich wahr als frei, als aller seiner Glieder mächtig und autonom, was es beileibe noch nicht ist. Das nennt Lacan »Gestalt«. Seine SelbstErkenntnis, immer schon geprägt von den Bildern der anderen (der Erwachsenen), die es um sich sieht, ist also von vornherein ein Verkennen, ist Projektion und Bild. Folglich können sie nie eingeholt werden. Im Grunde ist das, was das Kind im Spiegel sieht, eine Wunscherfüllung. Es sieht das, was es – vielleicht – irgendwann sein könnte, als wäre es bereits realisiert. Kaja Silverman betont, 21 | »Narzissmus« verwende ich in diesem Buch weder im abwertenden umgangssprachlichen noch im klassisch freudianischen Sinne einer Persönlichkeitsstörung, also der ausschließlichen – emotionalen wie sexuellen – Zentrierung auf sich selbst, des Egoismus und der Eitelkeit, sondern als positiven Umgang mit sich selbst, als Freude an sich selbst, wie es unter anderen die Psychoanalytikerin Alice Miller (2012) definiert hat.
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dass der kindliche Blick in den Spiegel stets vom Blick der Mutter begleitet sei, die notwendig dabei sein müsse, um das Kind zu halten und es anzusehen, ihm skopischen und orthopädischen Halt gibt: »In order for the child to continue to ›see‹ itself, it must continue to be (culturally) ›seen‹. [...] In fact, the subject sees itself being seen, and that visual transaction is always ideologically organized.« (Silverman 1994, 187) Das Modefoto kann analog dazu als »Gestalt« interpretiert werden, die die Betrachterin (noch) nicht ist, als die sie sich aber phantasiert. Da Mode nichts anderes bezweckt, als Wünsche wecken und zu versprechen, dass sie im Besitz des Kleides erfüllt werden könnten, erweist sich das in die Zukunft projizierte Bild als ebenso schimärenhaft, ebenso imaginär wie das Selbstbild des Kindes in Lacans »Stade du miroir«. Dabei handelt es sich ja eigentlich um eine Form des Begehrens, ein Begehren nach dem Anderen, narzisstisch projiziert auf das ebenso phantasierte Selbst. In der Modefotografie als einer »ungefährlichen« Version der erotischen Fotografie für Frauen erhält das eine interessante Wendung (Lehnert 2002a). Traditionell geht die Modefotografie davon aus, dass Frauen sich selbst im Bild als Objekte ihrer eigenen Wünsche und damit letztlich als Objekte ihres Begehrens im Spiegel betrachten. Sie können ihr Begehren dabei ungestraft auf sich selbst richten: ein narzisstischer, glücklich selbstbezogener Blick, der Möglichkeiten für das eigene Ich im Hier und Jetzt, vor allem aber in der Zukunft zu öffnen scheint. (Natürlich kann es im Gegenteil auch ein tadelnder Blick sein, weil man selbst vom eigenen Idealbild so weit entfernt ist. Das entspricht der üblichen, wenn auch nicht unberechtigten Modeschelte, ohne deswegen falsch zu sein). Inszenierte Blickordnungen sind nach wie vor meist heteronormativ organisiert, d.h., dass es wird noch immer davon ausgegangen, dass die sich genussvoll betrachtende Frau den impliziten – in der Regel männlichen – Blick der Begehrenden immer mitdenkt (so schon Berger 1977). Oft wird dieser Blick auch im Bild selbst mit inszeniert. Aber es ist auch die Version möglich, dass sie entweder von einer anderen Frau begehrt werden möchte oder umgekehrt die andere Frau nicht sein will, sondern sie haben will – sie also homoerotisch begehrt. Mit Anspielungen dieser Art wurde um 2000 in der Modefotografie zuweilen gespielt, wenn Frauen in offensichtlich erotisch aufgeladenen Posen miteinander aufgenommen wurden oder sich küssten. Als »lesbische« Inszenierungen waren diese Fotos nie ernsthaft gemeint, sondern als pikantes Spiel mit dem kulturellen Phantasie einer polymorphen Erotik und vor allem mit dem weiblichen Narzissmus.22 Sie sollten vermutlich vor allem den ephemeren und pikanten Kitzel des Unerwarteten auslösen. Um den Bogen zur eingangs gestellten Problematik zurückzuschlagen: Die modischen Repräsentationen in medialen Formaten wie Bild oder Text erzeugen 22 | Ausgeführt bereits in meinem Essay-Band: Wir werden immer schöner. Lesbische Inszenierungen, 2002a. – Eine poststrukturalistisch-psychoanalytische Analyse bei Diana Fuss 1994, 211-232.
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– aufgrund ihrer medialen Differenzen auf unterschiedliche Weise – überhaupt erst die Vorstellungen und Phantasien, die wiederum Begehren erzeugen. Freilich gaukeln sie mit Hilfe dessen, was Freud in der Traumdeutung Verschiebung und Verdichtung nennt, die Möglichkeit der Wunscherfüllung vor, indem sie weiteres Begehren auslösen. Das ist zweifellos paradox. So öffnet sich im Thema »Mode und Bild« das weite Feld des Verhältnisses von Mode und innerem Bild, Mode und Selbstbild, Mode und Begehren – von Wunsch, Illusion und Realität. Denn auch das Begehren entlarvt sich hier unter Umständen als ein nur phantasiertes, das keine Erfüllung hypostasiert und nichtsdestoweniger Begehren bleibt. Die Frau vor dem Spiegel scheint mir dafür das ideale Emblem – sei es der Spiegel, vor dem sie sich ankleidet und schminkt, sei es der Spiegel des Schaufensters, in dem ihr alternative ästhetische und Identitäts-Modelle vorgeführt werden, die sie als imaginäre Möglichkeiten der eigenen Person wahrnimmt. In der Begegnung mit dem Bild realisiert sich eine Begegnung mit sich selbst, ganz gleich ob kritisch oder imaginär: eine Begegnung, die die fremden Blicke selbstverständlich immer mit-weiß, da sie verinnerlicht und längst Teil des Selbstbildes, des eigenen Habitus sind. Doch entsteht hier ein intimer Raum, in dem eine Zuwendung zu sich selbst, zum eigenen Körper und zu den eigenen Phantasien, über die Vermittlung der Stofflichkeit des Kleides und seiner Sinnlichkeit möglich wird. Mag der reale Raum, in dem der materielle Spiegel steht oder hängt, auch klein sein: Es eröffnen sich weite Möglichkeitsräume, oder sie verschließen sich im Gegenteil, engen sich ein auf ein trostloses Hier und Jetzt. Die Frau vor dem Spiegel befindet sich weniger in einem performativen Raum als in einem Erlebnisraum 23, der sich ständig verändern kann – ja der davon lebt, dass er sich verwandelt. Der Spiegel schafft Distanz und Verfremdung und zwingt zur Rückwendung auf die eigene Materialität und die des Kleides, auf das Fühlen, das das Sehen komplementiert. Er schafft Bewegung: vom äußeren Bild zum inneren Bild zum äußeren Bild zum inneren Bild; sie alle verändern sich unablässig. Zwischen Spiegel, Kleid, Körper, in der Dynamik von Spiegel und Blick, Sehen und Fühlen, entsteht der Möglichkeitsraum: Alice geht hinter die Spiegel und entdeckt das ganz Andere, das immer auch das Eigene ist.
23 | Vgl. Fischer-Lichte 2004; Lehnert 2011a; Lehnert 2012. Ein performativer Raum ist m.E. einer, der sich umdekorieren lässt, wie ein Theaterraum. Ein Erlebnisraum ist einer, der durch Nutzung und sogar durch bloße Wahrnehmung verändert werden kann.
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F OKUS 4: K ONSUM UND K AUFR AUSCH 24 Ungeachtet der persönlichen Spielräume, die die Mode für die Subjekte eröffnet: Am Ende läuft das alles aus der Sicht der Mode-Industrie darauf hinaus, Menschen in Kauflust oder sogar in Kaufräusche zu versetzen, um die Umsätze zu steigern. Denn Shopping, so Sze Tsung Leong, »is now, arguably, the defining activity of public life. Why has it become such a basic aspect of our existence? Because it is synonymous with perhaps the most significant and fundamental development to give form to modern life: the unfettered growth and acceptance of the market economy as the dominant global standard. Shopping is the medium by which the market has solidified its grip on our spaces, buildings, cities, activities, and lives. It is the material outcome of the degree to which the market economy has shaped our surroundings, and ultimately ourselves.« (Sze Tsung Leong 2001, 129)
Zygmunt Baumann (2009) geht noch weiter und erklärt, dass in der Konsumgesellschaft Menschen selbst zu Waren werden, da sich nichts und niemand außerhalb des Warenkreislaufs befindet. Demgegenüber vertritt Daniel Miller die Ansicht, die Wirtschaft bringe mitnichten die Konsumgesellschaft hervor, sondern der Konsum die Wirtschaft. Er dreht also das übliche Bedingungsverhältnis um. Eine Konsumgesellschaft ist seiner Definition nach eine, »in which commodities are increasingly used to express the core values of that society but also become the principal form through which people come to see, recognise and understand those values« (Miller 2012, 41). In mehreren (nicht unpolemischen und sich oft wiederholenden) Publikationen legt Miller seine anthropologische Perspektive auf Konsum dar. Konsum wäre demzufolge eine Form der Aneignung von Waren, die zum Zweck der Selbstgestaltung, vor allem aber der Beziehung zu anderen eingesetzt werden – das ist eine erfreulich positive, aber zuweilen auch etwas naiv wirkende Sicht auf die Konsumkultur. Wie werden Dinge zu Waren? Arjun Appadurai erklärt, wie Menschen hätten auch Dinge Biographien (Appadurai 1986, 3). Denn erst, wenn sie ausgetauscht werden, erhielten Dinge z.B. zeitweise den Status von Waren (commodities), sie könnten ihn aber auch wieder verlieren. Waren definiert er konsequenterweise als »things in a certain situation, a situation that can characterize many different kinds of thing, at different points of their social lives« (Appadurai 1986, 13), und zwar dann, wenn sie die Erfordernisse von »commodity candidacy« erfüllen (Appadurai 1986, 16). Hier geht es also wieder, wenn auch in anderer Perspektive und in anderer Terminologie, um Zuschreibungspraktiken und affektive Reaktionen auf die Dinge. Und da Appadurai Konsum als »eminently social, relational, and 24 | Das Folgende ist die überarbeitete und erweiterte Fassung meines Aufsatzes: »Kaufrausch«, in: Koordinaten der Leidenschaft, hg. Clemens Risi, Jens Roselt, Berlin (Theater der Zeit) 2009, 254-266; mit freundlicher Genehmigung von Theater der Zeit.
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active« ansieht, kann er den Begriff auch auf andere als westliche kapitalistische Gesellschaften ausdehnen. Damit kollabiert auch die Unterscheidung zwischen religiösen Dingen, Gebrauchs-Dingen und Prestige-Dingen25 bzw. es wird deutlich, dass sie alle nur in bestimmten Stadien ihres Lebenszyklus’ in bestimmten Kontexten das eine oder andere sind. Auf die Mode übertragen heißt das, dass vestimentäre Objekte eine gewisse Zeit hindurch Trend oder gar Mode sein können oder auch gar nicht, dass sie im Museum stehen und doch Mode sein können, aber auf andere Weise, als wenn sie getragen werden, und dass sie auch als Modekleider ganz unterschiedliche Bedeutungen im Laufe ihres Lebens (und des Lebens ihrer BesitzerInnen) haben können. Um die Konsumstruktur zu erhalten, muss Kaufsucht erzeugt werden. Das geschieht über die Auslösung von Kaufräuschen. Die Voraussetzung für den Kaufrausch ist eine Dreiecksbeziehung: zwischen der Käuferin, der Ware und dem Setting. Mit Setting meine ich die Verkaufssituation sowie den Raum, in dem sie stattfindet (das mag ein realer oder ein virtueller Raum sein). Alles zusammen ergibt die Inszenierung. Die Inszenierung könnte ebenso gut das Schlendern durch ein Warenhaus oder das einsame Surfen im Internet (ohne leibhaftige Verkäuferin) sein. In dem Fall gäbe es zwei Räume: den virtuellen im Netz und den realen der Käuferin vor dem Computer26. Es finden mithin drei Interaktionen statt, die Atmosphären erzeugen: 1. zwischen Raum und Ware, 2. zwischen Raum und Käuferin, und 3. zwischen Käuferin und Ware. Im Folgenden geht es mir um die Interaktion Käuferin – Ding (Subjekt – Objekt). Weitere (emotionale) Voraussetzungen des Kaufrauschs sind, 1. dass an die Stelle zielorientierten, rational gesteuerten Kaufens erlebnisorientiertes Shoppen tritt, und dass 2. die Käuferinnen sich freiwillig in eine Situation begeben, in der sie der Verführung zum Kauf ausgesetzt sind, also in dem sie den vorübergehenden Kontrollverlust – der integrales Element des Rauschs ist – billigend in Kauf nehmen. Das kann passieren, weil zwischen der Käuferin und der Ware etwas passiert. Wie weiter oben ausgeführt, wird schon bei der Herstellung, durch Werbung und Präsentation jede beliebige Ware mit sinnlichen oder genauer: atmosphärischen Qualitäten aufgeladen, auf dass sie verführen könne. Aber erst, wenn die Käuferin fähig ist, mit ihrem eigenen Begehren und ihrer Imaginationskraft zu reagieren, entsteht Atmosphäre zwischen Käuferin und Ding. Dann wird das Ding zur 25 | Unterscheidung bei Fischer-Lichte 2012, 161-178. 26 | Konsens besteht darüber, dass die zunehmende Virtualisierung etwa durch Verwendung von Kreditkarten das Kaufen erleichtert. Auffallend ist, dass die physische Begegnung mit den Objekten weniger wichtig zu werden scheint als bisher angenommen, denn Kaufen im Netz boomt, und man muss sich fragen, ob dabei nicht der Anteil des Imaginären zu Ungunsten des Sinnlichen sichtbarer wird. Die Ware könnte hier weniger als materielles Objekt denn als pures Versprechen betrachtet werden. Damit geht die mit dem Kaufen und ganz sicher mit dem Rausch so oft verbundene Sinnlichkeit weitgehend verloren.
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Projektionsfläche für Phantasien der erstaunlichsten Art und im nächsten Schritt zum Objekt der Begierde. Das Ding ist kein Gebrauchsgegenstand mehr, auch wenn es noch so nützlich sein mag, sondern wird in dieser Konstellation zum Symbol, das die Befriedigung unterschiedlichster – oft nicht klar artikulierbarer – Sehnsüchte verspricht. Allerdings findet keine Metamorphose statt, sondern eine Illusion. Begabt wird das Ding mit seiner trügerischen Eigenschaft von der phantasiebegabten Käuferin, die einerseits durchaus aktiv ihre Imaginationskraft in das tote Ding investiert. Die Begegnung mit dem Ding und der momentane Kontrollverlust bewirken ein Glücksgefühl in der Käuferin: Sie ist zugleich außer sich und ganz bei sich und in der Situation/im Moment. Andererseits ist sie passiv einem unwiderstehlichen Drang ausgesetzt, dieses Ding (und noch viele andere von der Sorte) haben zu müssen. Ganz gleich, ob sie es braucht, und koste es, was es wolle. Nur der Kauf kann in diesem Moment beruhigen, glücklich machen, nur der Besitz verspricht die Erfüllung ihrer Wünsche – oder nicht? »Frau Marty« – so heißt es in Emile Zolas Roman »Au Bonheur des Dames« (1882f.) über eine der Kundinnen nach einem Ausverkauf – »hatte jetzt das angeregte und nervöse Gesicht eines Kindes, das unvermischten Wein getrunken hat. Mit klaren Augen, die Haut kühl und frisch [...] war sie hereingekommen. [...] Als sie endlich fortging, nachdem sie, entsetzt über den Rechnungsbetrag, gesagt hatte, sie werde zu Hause bezahlen, hatte sie die verzerrten Züge, die geweiteten Augen einer Kranken.« (Zola 2002, 344)
Frau Marty ist im Kaufrausch – der Vergleich mit dem Weingenuss macht es überdeutlich – und wird gerade wieder nüchtern, und zwar in dem Augenblick, in dem sie die Rechnung präsentiert bekommt. Gesund und im Vollbesitz ihrer Fähigkeiten ist sie gekommen, dérangiert geht sie wieder weg, in einem Zustand, in dem sie sich sonst der Öffentlichkeit nicht präsentieren würde, weil er viel zu intim ist: krank, oder vielleicht sogar eher erotisch aufgewühlt? Das Glück des Rauschs, jener absichtlich herbeigeführte Kontrollverlust, jenes Sich-Verlieben und Sich-Verlieren im momentanen Tun, entpuppt sich rasch als trügerisch; der Kater kommt sehr viel schneller als bei jedem anderen Rausch. Und damit der Absturz, der tatsächlich unkontrollierbar ist, wie im Falle von Flauberts Emma Bovary (1981; zuerst 1856 bzw. 1857). Diese Konsumentin par excellence konsumiert auf der Suche nach dem Glück Literatur, Luxusartikel und Liebesaffären und wird von ihrem permanenten Konsumrausch in den Selbstmord getrieben – den sie möglicherweise als letzten großen Rausch wie eine glanzvolle Opern-Inszenierung imaginiert. Aber auch an dessen Realisierung scheitert sie: Sie stirbt einen sehr realen, elenden und qualvollen Tod. Emma Bovary ist eine Konsumsüchtige, und sie wird vom Roman dafür bestraft. Die kontrollierte Unkontrolliertheit – der Rausch – kann sehr schnell zur unkontrollierten Unkontrolliertheit – zur Sucht – werden (Mieth 1994, 88). Tatsächlich werden die beiden Konzepte in sozialpsychologischen Abhandlungen oft fast
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synonym verwendet. Kaufsucht gehört zu den nicht-substanzgebundenen Süchten und teilt die Charakteristika aller Süchte: 1. Süchtige führen sich von außen etwas zu, was 2. ein inneres Defizit kompensieren soll; 3. die Erlebnismöglichkeiten werden auf die Sucht verengt, es besteht Abhängigkeit und 4. ein unwiderstehlicher Zwang, die Sucht zu befriedigen, 5. die Dosis wird ständig gesteigert, und 6. ist Verzicht mit Entzugserscheinungen verbunden.27 Die Kritik der Warenästhetik 28 hat das ausgeführt, hier nur ein paar Stichworte zu einer anderen kritischen Perspektive: Erich Fromm unterscheidet zwischen zwei grundlegenden Einstellungen gegenüber dem Leben: Haben oder Sein. Das Haben differenziert er wiederum in 1. funktionales oder existentielles Haben, das nötig sei zum Überleben, und 2. charakterbedingtes Haben als »leidenschaftlicher Trieb, sich Dinge anzueignen und sie zu behalten« (Fromm 2006/07, 102). Das charakterbedingte Haben sei selbstsüchtig, gierig und um Dinge statt um Lebewesen (Menschen) zentriert.29 Kaufen bedeutet für Fromm: Macht über etwas haben (Fromm 2006/07, 88). Ich möchte das ergänzen durch etwas so Simples wie das Sammeln (Jäger und Sammler) und den Nestbau. Ganz gleich, ob es dabei um anthropologische Grundgegebenheiten oder (gegendertes) Angelerntes geht: beides sollte man bei einer Analyse der Kaufsucht nicht außer Acht lassen. Fromm zielt in seiner Kritik auf Besitz. Demgegenüber vertritt Miller (2012) wie erinnerlich die Auffassung, Einkaufen sei ein Akt der Liebe und der sozialen Bezüge. Das ist, wie hier erkennbar wird, tatsächlich nicht mit Kaufsucht und Kaufrausch in Beziehung zu setzen. Viele KulturkritikerInnen zielen auf den Ereignischarakter des Shoppens. Sie sind sich einig, dass die zeitgenössischen Konsumgesellschaften grundsätzlich suchtbefördernd sind bzw. sie bezeichnen sie kurzerhand als süchtige Gesellschaften.30 Strukturiert wird die Konsumgesellschaft von immer schnellerer Produktion und Vermarktung von symbolisch bzw. sinnlich aufgeladenen Waren und dem damit zusammenhängenden Erzeugen von Bedürfnissen in den Konsumierenden, die nur befriedigt werden, um gleich neue Bedürfnisse hervorzubringen – das ist die Suchtstruktur, denn ein Suchtobjekt kann immer nur neue Sucht 27 | Scherhorn 1994, 7-41, hier: S. 8ff.; Raab 2000, 147. Vgl. auch Bongers 2000, 165-180. 28 | Vgl. u.a. Haug 1971; Barber 2007; Drügh/Metz/Weyand 2011. 29 | In der Existenzweise des Seins hingegen gehe es um lebendige Beziehungen und finde der Mensch sein Glück im Lieben, Teilen, Geben (Fromm 2006/2007, 97). 30 | U.a. Scherhorn 1994; oder Wilson Schaef 2004. Demgegenüber Miller (2009, 2010), der grundsätzlich ein positives Bild vom menschlichen Verhältnis zu den Dingen und damit zum Konsum vertritt. Millers »Theory of Shopping« (1998) bezieht sich auf Einkaufen als alltägliche Versorgung etwa einer Familie mit dem Notwendigen und hat mit dem Modekonsum nur sehr indirekt zu tun. Miller vertritt die provokante These, dass diese Art des Einkaufens (eine weitgehend weibliche Tätigkeit) mit einem klaren Erwartungs- und Gabenprinzip gegenüber Anderen verbunden sei und deshalb in Analogie zu traditionalen Riten und Opfern gebracht werden könne.
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auslösen, keine Befriedigung. Da es nie um das konkrete Objekt geht, sondern um den Akt der Zuführung selbst (des Kaufs in unserem Falle), kann alles Suchtobjekt werden. Das funktioniert nur, weil die Gesellschaft komplementär dazu ein »leeres Selbst« als den idealen Konsumenten hervorbringt. Denn in unserer »Erlebnisgesellschaft«31 ersetze, so der Konsens, Außensteuerung bzw. Kontrollorientierung die intrinsische Motivation, Ablenkung die Auseinandersetzung mit sich selbst. Eine einseitige Präferenz für Sachen werde erzeugt32, Langeweile werde ein dominantes Gefühl der leeren Selbste und müsse beständig durch von außen zugeführte Substanzen oder Aktivitäten und immer neue Sensationen bekämpft werden33. Der Unterschied zwischen Kaufsucht und Kaufrausch ist ein gradueller, denn die genannten Suchtcharakteristika treffen auf das in der Wohlstandsgesellschaft als »normal« erachtete Kaufverhalten tendenziell auch zu. Das Konzept des Kaufrauschs selbst ist ein modernes, bürgerliches, das erst mit dem Kapitalismus entsteht. Vorher kann man von »Verschwendung« sprechen, die ja das Verhalten der kulturtragenden Aristokratie in den stratifikatorischen Gesellschaften dominiert, wie Norbert Elias (Elias 1992) gezeigt hat.
Defiziente Subjekte? »Der Konsumentenhaltung liegt der Wunsch zugrunde, die ganze Welt zu verschlingen, der Konsument ist der ewige Säugling, der nach der Flasche schreit«,
schreibt provokant Erich Fromm (Fromm 2006/07, 41). Den meisten Studien sehen in der Defizienz des Subjekts die Matrix des sucht- oder doch rauschhaften Kaufverhaltens. Kaufen gilt als symbolische Selbstergänzung34 bzw. als Kompensation. Kaufen wird verstanden als »Strategie alltäglicher Emotionsarbeit« beispielsweise zur Bewältung von Depressionen35 . Mit anderen Worten: Kompensatorisches Kaufen suche selbstrelevante Stimmungen zu beeinflussen und sei immer mit Selbstwertstörungen verbunden. Selbstwertstörungen wiederum werden auf die oben geschilderten Mechanismen zurückgeführt: Kulturelle Kontrollorientierung, Fremdbestimmtheit, Erfolgszwang. Die solcherart erzeugte innere Leere müsse gefüllt werden. Dem entsprechen die klassischen Begehrenskonzepte, die allesamt vom Mangel ausgehen (vgl. Kolesch 2007; Mersch 2007). Das ist alles zweifellos richtig – aber recht plakativ und vielleicht doch allzu einfach. Mein kritischer Einwand lässt sich formulieren als die Frage, ob man in dieser Argumentation nicht eine anthropologische Konstante polemisch einengt 31 | Schulze 1992. 32 | Scherhorn 1994, 11. 33 | Doehlemann 2000, 18-24; Scherhorn 1994, 7-41; Ullrich 2006; Barber 2007. 34 | Wicklund & Gollwitzer 1985, 31-55; Haubl 1996, 199-224; Haubl 1998. 35 | Haubl 1996; 217.
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zugunsten einer Kritik der schädlichen Folgen der Akkulturation in den postindustriellen Gesellschaften. Die Grundlage dafür ist, das moderne Subjekt als grundsätzlich defizientes zu definieren und diese Defizienz als sozial bedingt. Ich sehe darin freilich eine implizite nostalgische Illusion mancher Kulturkritiker, dass frühere Gesellschaften weniger außen- bzw. kontrollgesteuert gewesen seien als unsere heutige und weniger auf Besitz hin orientiert. Das dem nicht so gewesen sein muss, weist Norbert Elias (1992) in seiner Geschichte der Entstehung der Selbstzwänge aus den Fremdzwängen nach. Moderne KulturanthropologInnen gehen davon aus, dass Menschen eine grundsätzlich enge Beziehung zu Dingen und deren Besitz haben36. Und wenn man Sigmund Freud glauben möchte, liegt der Ursprung jeglicher Zivilisation im Triebverzicht und in der Verinnerlichung äußerlicher Normen und Strafen. Auch das ist eine Form der Fremdsteuerung, allerdings eine bereits verinnerlichte. Mein Vorschlag ist, das Ganze positiv zu wenden: zur Bedingung der Möglichkeit menschlicher Aktivität und Kreativität. Der Mensch wird nackt und im Vergleich zu anderen Spezies viel zu früh geboren und benötigt Kleidung und Werkzeug zum Überleben – nicht erst im Kapitalismus. Es könnte auch umgekehrt sein: Menschen werden nackt, weil sie Kleidung und Schmuck entwickelt haben. Wie dem auch sei, sie entwickeln einen ästhetischen Sinn, der sie als Spezies auszeichnet (auch wenn sie ihn bedauerlich oft nicht anwenden). Damit gewinnen sie zugleich spezifische Wahlmöglichkeiten, Entscheidungsmöglichkeiten und Genussfähigkeiten. Ich frage mich also, ob man den Kaufrausch – bei aller zweifellos mehr als berechtigten Kritik – unbedingt nur abschätzig beurteilen muss oder ob man ihm auch andere Dimensionen zugestehen und damit den Subjekten einen Teil ihrer Selbstbestimmtheit und Aktivität zurückgeben kann. Insofern plädiere ich für eine andere Betrachtung des Konsumenten – durchaus auch im Sinne von Mary Douglas (1992), die sich gegen die Abwertung des Shoppens als weibliche Passivität und Verführbarkeit wendet. Sie plädiert für eine Neubewertung des Shoppens als ernstzunehmende kulturelle Aktivität und der Konsumentin als kohärentes rationales Subjekt. »Shopping« bewertet sie positiv als Wahl einer von mehreren gesellschaftlichen »Kulturen«, wie sie es nennt und damit Lifestyles meint. Nur wechselseitige Feindschaft erhalte die gesellschaftlich notwendige Stabilität zwischen den vier »Kulturen«, mithin innerhalb einer gegebenen Gesellschaft. Eine andere Perspektive nimmt, wie mehrfach erwähnt, der ebenfalls konsum-freundliche Miller ein. Empirisch genau beschreibt er aufgrund seiner Feldforschungen in London die Wahl, die Menschen beim Shoppen treffen, als Verbindung oder Überbrückung von zwei Zuständen. Einerseits habe jede/r eine Vorstellung davon, wie sie sein möchten bzw. möchten, dass ihre PartnerInnen, Kinder, FreundInnen als VertreterInnen einer bestimmten Kategorie (Mutter, Ehemann, Freundin, Kind …) sein sollen. Das nennt er den normativen Aspekt, und er betont, der 36 | Z.B. Appadurai 1986; Miller 2009; Miller 2010; H. Böhme 2006.
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sei keineswegs deskriptiv, sondern auch moralisch und in jedem Fall Resultat einer kulturellen Normierung. Demgegenüber stehe das, was man über die konkrete Person wisse, das sei der tatsächliche Zustand. (Miller 2012, 70) Insofern sei einkaufen – ganz gleich ob Lebensmittel oder Kleidung – stets der Versuch, beide Aspekte zu vermitteln, und das heißt für ihn: sozial zu interagieren. Einkaufen bzw. konsumieren setzt er mit Liebe gleich – was allerdings recht übertrieben scheint, aber verständlich wird, da er offenbar weitgehend Hausfrauen – Ehefrauen und Mütter –, seltener Singles oder Männer, aus der unteren und mittleren Mittelschicht beim Einkaufen u.a. im Supermarkt begleitet hat. Methodisch anregender finde ich Michel de Certeaus wildernden Konsumenten, der seine Listen und Taktiken anwendet, um die Dinge und Praktiken der hegemonialen Konsumkultur gegen den intendierten Sinn zu benutzen und neu zu montieren. De Certeau nennt das die »kulturelle Aktivität von Nicht-Kulturproduzenten« (Certeau 1988, 20). Meine Argumentation geht freilich in eine etwas andere Richtung.
Shopping als Tagtraum Im Zusammenhang mit Shopping Malls spricht Rolf Haubl von Shoppen als Tagtraumaktivität. Ich schlage vor, das Konzept des Tagtraums im Zusammenhang mit Shoppen grundsätzlich ernst zu nehmen und zu verallgemeinern. Nach Sigmund Freud ist Tagträumen wie Träumen eine Aktivität des Unbewussten, die auf Wunscherfüllung abzielt (vgl. dazu Fokus 3), wobei die Wunscherfüllung laut Freud die erstaunlichsten Umwege machen kann, so dass gar Alpträume als letztliche Wunscherfüllung gedeutet werden können. Der Tagtraum, schreibt er in »Der Dichter und das Phantasieren«, habe zum Protagonisten stets »seine Majestät, das Ich«, den mächtigen Helden, der über alle Widrigkeiten triumphiert, der geliebt wird und dem alles gelinge (Freud 1989, 176). Tagträumen hat mithin in psychoanalytischer Perspektive eine kompensatorische Funktion. Tagträumen kann aber durchaus auch als aktive Tätigkeit betrachtet werden, die sich nicht mit dem grauen Hier und Jetzt zufrieden gibt, sondern die Farbenkraft der Imaginationen spielen lässt und alternative Realitäten schafft, die ja nicht darum schon schlechter sind, weil sie fiktiv sind – ganz im Gegenteil, wenn man die Künste mit Nelson Goodman als »Weisen der Welterzeugung« (Goodman 1990) bezeichnet. Überträgt man das auf den alltäglichen Umgang mit Dingen, so kann man darin die imaginäre Realisierung eines fiktionalen Entwurfs von sich selbst und dem eigenen Leben sehen. Das ist narzisstisch – dennoch geht es um die Realisierung von Möglichkeiten, geht es um das Überschreiten von natürlichen und sonstigen Grenzen. Es geht um Aktivität und Ermächtigung anstelle von Betäubung. Im Zustand des Rauschs wird die kognitiv-rationale Seite kurzfristig außer Kraft gesetzt – genau das ist ja das Entlastende und potentiell Kreative des Rauschs gegenüber dem zumindest vom Anspruch her rational, zweckmäßig und auf Funktionalität hin organisierten Alltag. Das Problem des
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Kaufrauschs freilich bleibt der Selbstverlust, der in den ökonomischen und emotionalen Ruin führen kann; bleibt die Sucht.
Die Dinge Immer wieder kann man lesen, es sei gleichgültig, was gekauft werde, es gehe um den Kauf als solchen. Ich halte dagegen, dass es mitnichten egal ist und dass man differenzieren muss, welche Objekte es sind, die Ziel bzw. Auslöser des Kaufrauschs sind. Die Dinge in der Konstellation »Kaufrausch« unterscheiden sich je nach dem Geschlecht der Kaufenden, und sie vermögen ein klareres Bild von Charakter, Persönlichkeitsstruktur und kultureller Struktur zu geben. Noch immer gilt, dass Frauen, statistisch gesehen, mehr Kleidung und Einrichtungsgegenstände konsumieren, Männer hingegen Autos und andere technische Geräte. Denn auch Männer sind anfällig für Kaufräusche und Kaufsucht, auch wenn beides lange als weibliche Domäne galt: das war schlicht eine im Interesse der herrschenden Geschlechterökonomie aufgestellte und akzeptierte Behauptung.37 Beide Objektgruppen (Kleidung und Technik) haben mit dem Körper zu tun, d.h. sämtliche Geschlechter tätigen Käufe, die im Zusammenhang mit dem eigenen Körper stehen, mit dessen Ausstaffierung, Erweiterung, Ergänzung, Vervollkommnung, Ästhetisierung, auch mit seiner Bequemlichkeit und vor allem mit dem Bild bzw. Selbstbild, das mit ihm verbunden ist und verändert werden kann. Der Anthropologe Daniel Miller kommt aufgrund seiner Felduntersuchungen in London zu dem Ergebnis, einkaufende Menschen hätten eine außerordentlich genaue Vorstellung von sich selbst in Relation zu den Unmengen von Angeboten, die sie vorfinden (Miller 2012, 54). Darum können Einkaufstouren ergebnislos sein, trotz der Fülle des Angebots: Wenn das »eigene« Kleid nicht dabei war. War es aber dabei und wurde gekauft, verwandele es sich sofort von einem unpersönlichen Massenartikel in ein einzigartiges, persönliches Objekt, das eng mit der eigenen Person verbunden ist: »Once we have used money to purchase consumer goods, these become our possessions and the source of a very different kind of production and creativity. We work on these possessions and sometimes make them very personal and expressive of our specific value and relationships.« (Miller 2012, 57)
So wird Konsum für Miller paradoxerweise zur Negation der Entfremdung des Kapitalismus. Kleidermode38, also ein spezifisch weiblich konnotierter Warenbereich, eignet sich für Kaufräusche geradezu ideal, und zwar aus den oben darge37 | Etwas veraltet und im entgegen gesetzten Sinne einseitig ist Froschauer 1988. Aktueller und differenzierter Haubl 1998. Siehe auch Bowlby 1993; Gaugele/Reiss 2003; Campbell 1987; und Siegrist/Kaelble/Kocka 1997, Teil 3. 38 | Lehnert 2006, 10-25; Lehnert 2006b, 190-219; Lehnert 2004, 265-271.
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legten Gründen: Mode ist sinnlich und verfügt über einen ästhetisch-emotionalen Überschuss; sie erfordert per definitionem eine besondere Art der Interaktion zwischen Subjekt und Objekt. Mode hat direkt mit dem Körper zu tun, sie findet am Körper statt und ist dessen notwendiges Korrelat. D.h. Modekleidung gehört in ihrer Dinglichkeit zur Person, bündelt und integriert disparate Funktionen und Lebensbereiche. Sie zählt neben dem Körper, der Wohnung u.a. zum materiellen Selbst39, mehr noch: sie amalgamiert mit dem Körper zum Modekörper und macht daher besonders anschaulich, wie Dinge der Selbsterweiterung und/ oder dem Status dienen können. Sie ist unmittelbar in die Kommunikation mit anderen eingebunden. Schließlich dient Mode der Ästhetisierung unserer selbst und der Welt. Das wird in der Konsumkritik fast immer vergessen bzw. es wird den zweifellos wichtigen Funktionen Status- oder Selbsterweiterung subsumiert, was indessen eine einseitige Sicht auf die Dinge darstellt. Die beiden Aspekte Status- oder Selbsterweiterung mögen durch zwei berühmte literarische Beispiele veranschaulicht werden: Statusorientierter Konsum wird in Honoré de Balzacs Roman »Illusions perdus« (1843) thematisch. Der vom Lande in die Metropole kommende Lucien de Rubempré verfällt in vollkommen status- und zielorientierte Kaufräusche. Von brennendem Ehrgeiz angetrieben, will er seinen sozialen Stand vor allem durch hervorragende Kleidung aufbessern, durch die ein Anschein erzeugt wird, der Lucien Zugang zu den besseren Kreisen verschafft und dadurch dann eine Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse nach sich ziehen soll. Zu Anfang misslingt das Unternehmen, denn obwohl er soviel Geld ausgibt, kauft er mangels Geschmack die falsche Kleidung. Aber er lernt schnell dazu und korrigiert seine Fehler, und die Gesellschaft, in der er lebt, erlaubt ihm wenigstens zeitweise die Illusion, dazuzugehören. Lucien de Rubempré verliert über seinem sozialen Aufstiegswillen jedes Maß, jede Kontrolle und jede Moral. Schließlich vergreift er sich sogar am Besitz seines mitnichten reichen Schwagers, indem er einen falschen Wechsel ausstellt. Der Scheinhaftigkeit der Kleidung entspricht mithin die Scheinhaftigkeit des sozialen Aufstiegs und die Scheinhaftigkeit der bürgerlichen Gesellschaft schlechthin; der Konsum führt gleichsam automatisch in schamlosen Betrug und gänzliche Unmoral. Und garantiert, wenn das Geld nicht genügt, dann doch nicht den sozialen Status. Selbstergänzender Konsum (nicht zufällig auf eine Frau bezogen) charakterisiert Gustave Flauberts »Madame Bovary« (1856/57). Sie ersehnt ein anderes Leben, ein anderes Ich und stürzt sich in Kaufräusche als Flucht aus der beengten Gegenwart, aus der es sonst keinen Ausweg gibt. Nur der Kauf immer neuer Luxusgüter, vor allem Kleidung und Einrichtungsgegenstände, scheint ihr eine Veränderung des eigenen Lebens, ja des eigenen Ichs zu ermöglichen, das sie auf diese Weise zu ergänzen und aufzuwerten sucht. Als Jugendliche konsumiert Emma Kitschromane und sentimentale und religiöse Gefühle; als Erwachsene 39 | Habermas 1996.
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konsumiert sie Kleider, Möbel, Reisen in die Stadt, ja konsumiert sie ihre Liebhaber bzw. die (vermeintliche) Liebe. Emma konsumiert in all dem ihre gar nicht so eigenen Phantasien.
Rausch Im Kaufrausch geschieht Folgendes: Die Käuferin nimmt ein oder mehrere Objekte wahr, weil sie von ihnen »angesprochen« wird. Es entstehen Atmosphären zwischen Käuferin und Ware, die gesteuert sind, aber trotzdem aufgrund bestimmter Dispositionen der Käuferin wirken; Atmosphären, die sowohl dem Objekt selbst als Potential angehören wie von der Art und Weise seiner Präsentation in bestimmten Räumen abhängen. Denn die Objekte und ihre Präsentationen im Raum haben eine bestimmte ästhetische Qualität, die den ästhetischen Vorlieben und den (narzisstischen) Phantasien der Käuferin von sich selbst – von dem, was sie ist oder sein möchte – entgegenkommt. Erneut möchte ich mit Jacques Lacans Spiegelstadium (Lacan 1966) argumentieren, in dem das Kind sich im Spiegel erkennt, und zwar nicht so, wie es tatsächlich ist, sondern in einer phantasmatischen »Gestalt«, die sich einerseits an anderen erwachsenen Menschen seiner Umgebung orientiert, andererseits phantasmatisch die Zukunft antizpiert und schließlich auch von der tagtraumhaften Größenphantasie à la Freud gesteuert wird. Bezieht man das auf den weiblichen Mode-Kaufrausch, könnte man folgern, dass hier unablässige Selbstentwürfe in die Zukunft hinein stattfinden. Das Begehren richtet sich narzisstisch auf das eigene Selbst. Diese Selbstbezüglichkeit ist vermutlich genau das, was nach Ansicht von Ästhetikern beim Erleben von Kunst nicht geschieht, weil dabei das Andere als Anderes wahrgenommen wird und gerade nicht einverleibt werden kann. Ich möchte jedoch abschließend noch einmal auf Gernot Böhmes Konzept der Atmosphäre zurückkommen40 und meine These affirmieren, dass auch für den Konsum geschaffene Dinge eine Aura besitzen, so dass in der Begegnung zwischen Subjekt und Ding Atmosphäre entsteht. Voraussetzung dafür ist ein Subjekt, das bestimmte Empfänglichkeiten und zweifellos auch ein bestimmtes ästhetisches Vermögen besitzt. Dieses Vermögen funktioniert vor der bewußten Zur-Kenntnisnahme und Einordnung der Objekte. Das Kognitive und Intentionale ist in dieser Begegnung dem Affektiven, Prä-Intentionalen nachgeordnet. Daraus folgt, dass die Struktur der nicht-intentionalen Wahrnehmung in dieser Begegnung von Objekt und Subjekt auch im potentiell rauschhaften Akt des Kaufens zutrifft: Es ist die Struktur von Wahrnehmen und Antworten (nicht Wahrnehmen als Verstehen und Bezeichnen). Das ist genau der Moment des Kontrollverlusts, denn diese Situation ist m.E. als kontrollierte schlechterdings nicht vorstellbar.
40 | Böhme 2001; Böhme 1995.
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Tatsächlich gibt es empirische Untersuchungen zum Kaufverhalten, die ein ähnliches Phänomen schildern, nämlich die Begegnung von Ware und Käufer/ in: Die Ware spricht mich an, begehrt mich (nicht umgekehrt).41 Die Kritik des Psychologen geht vom defizienten Subjekt aus und spricht von der »Psychodynamik einer projektiven Identifikation«. Die Käuferin halluziniere die Ware als lebendig, weil die Ware für sie ein idealisiertes menschliches Liebesobjekt vertrete, das ihren Selbstwert stärke.42 Ich meine, wie zu sehen war, dass man das auch anders sehen kann: als eine Begegnung zwischen einem Objekt, das als leiblich anwesend wahrgenommen wird, und einem Subjekt, das sich selbst als leiblich anwesend empfindet und die Verbindung herstellt. Die Welt wird kraft der eigenen Phantasie belebt, die antizipatorische Phantasie vom eigenen Selbst ist sicher narzisstisch, aber aktiv und keineswegs zwangsläufig als Kompensation eines Defizits, sondern als Möglichkeitssinn zu denken. Das ist ein fundamentaler Unterschied. Und genau darin steckt das Moment des Glücks, das dem Rauschzustand eigen ist – der ja grundsätzlich in mehrfacher Hinsicht vorstellbar ist: als ganz bei sich sein, indem man außer sich ist, als Selbstentfremdung, als verstärkte Wahrnehmung der Außenwelt im Sinne von Mihály Csíkszentmihályis Konzept von Flow. Freilich: Um Glück im Sinne der Ethik handelt es sich selbstverständlich nicht.43 Und so muss man am Ende kritisch fragen, ob man nicht doch einige Einschränkungen bei der Anwendung von Csikszentmihályis Konzept des Flow, des Aufgehens im Augenblick und im Handeln, auf den Kaufrausch machen muss. Flow ist möglich, wenn Menschen intrinsisch motiviert sind, Freude am eigenen Tun um des Tuns willen und nicht um einer Belohnung willen haben. Der Kaufrausch jedoch impliziert in seiner Gebundenheit an den Besitz materieller Dinge durchaus einen Aspekt der Belohnung in Form der gekauften Ware und der damit verbundenen Hoffnung auf Einlösung des von ihr gemachten Versprechens; und darüber hinaus entzieht er sich dem Konzept des »Flow« aufgrund seiner Zeitstruktur, d.h. dem phantasmatischen Bezug auf eine imaginäre Zukunft. Freilich ist diese Begegnung nicht ohne weiteres wiederholbar, jedenfalls nicht mit demselben Objekt: Hat man die Ware gekauft, verliert sie oft genug rasch ihren Zauber – ihre Aura. Man ist im schlimmsten Falle desillusioniert. Im besten Falle behält das gekaufte Objekt einen Teils des Zaubers, auch wenn es nicht mehr mit der Besitzerin spricht, sondern zum Teil ihrer selbst geworden ist (vgl. auch Habermas 1996; Miller 2012). Ich bin freilich keineswegs sicher, ob Kunst tatsächlich immer ihre Aura behält und ob sie nicht auch Teil der Besitzerin werden kann, denn bekanntlich ist auch Kunst eine Ware.
41 | Haubl 1996, 219. 42 | Haubl 1996, 219. – Es geschieht zumindest in diesem Augenblick das Gegenteil von dem, was Fromm dem Konsum vorwirft: Die Haltung des Habens »verwandelt alle und alles in tote, meiner Macht unterworfene Objekte« (Fromm 2006, 92). 43 | Vgl. Seel 1995.
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Wie jeder andere Rausch, besteht der Kaufrausch aus einem Ablauf von Spannungsaufbau, Erfüllung und Spannungsabfall: von Hoffnung, Phantasie, Erfüllung und Ent-Täuschung. Denn in dem Augenblick, in dem die Ware als Ware, als Symbol und als symbolische Befriedigung eines (Selbst-)Bildes erkannt wird, in dem erkannt wird, welches Bild das ist, muss der Rausch vergehen. Denn Zeichen markieren Abstraktionen, die Gegenwart und gegenwärtiges sinnliches und emotionales Erleben verdrängen oder verstecken. Sie verweisen auf Abwesenheiten, auf das, was sie gerade nicht sind. So können sie wieder nur auf andere Zeichen verweisen. Kaufräusche sind ein außerordentlich ambivalentes Phänomen. Sie sind wie die meisten anderen Räusche durch ein Hochgefühl gekennzeichnet, das mit willentlich herbeigeführtem Kontrollverlust und dem Dasein im erfüllten Augenblick zu tun hat und sich physisch spüren lässt, etwa im gesteigerten Adrenalinspiegel. Kaufräusche können dem puren Sammeltrieb entspringen, aber sie implizieren fast immer eine erhöhte Imaginationsfähigkeit, eine Fähigkeit, sich vom Objekt ansprechen zu lassen, in einen Dialog mit ihm zu treten und es dann mit besonderen Qualitäten auszustatten. Ziel ist häufig symbolische Selbstergänzung, d.h. die Realisierung eines Selbst, wie es als künftiges imaginiert wird. Insofern entspringen Kaufräusche, zumal die modischen, fast immer einem narzisstischen Impuls. Die Lebendigkeit des Objekts verflüchtigt sich aber schnell, und der erfüllte Augenblick wird schal. Das Hochgefühl stürzt ab, weicht der Ernüchterung und Des-Illusion. Das Leben hat sich nicht wirklich verändert. Manchmal freilich gelingt die Selbstmodellierung (wie ich lieber anstelle von Selbstergänzung sagen möchte). Und da viele Dinge als Speicher von Leben zu betrachten sind, da sie ihre eigene Geschichte mit der der Käuferin verbinden, sind die Sammlungen von Objekten, die man um sich schart, schließlich auch materielle Lebensspuren und Formen der Erinnerung.
F OKUS 5: D IE B ÜHNEN DER M ODE : L ÄDEN UND M USEEN Die Räumlichkeit der modischen Artefakte war Thema von Kapitel 2. In diesem Kapitel geht es um die Räume, in denen Mode stattfindet: in denen Kleider verkauft oder ausgestellt werden. Das ist ein wichtiger Aspekt des Prozesses, in dem Kleider Mode werden oder sind. Mode entsteht und lebt in einem wechselseitigen Verhältnis von Raum, Kleidern und Menschen. Kleider werden in Geschäften verkauft, in Museen zur Schau gestellt, sie werden auf der Straße und in Innenräumen getragen. Ohne Räume keine Mode. Im Folgenden geht es um solche Räume, in denen in Alltagspraktiken Mode entsteht. Diese Alltagspraktiken sind Aufführungen von Kleidern und Körpern sowie die Zuschreibungsprozesse, die Menschen unablässig vornehmen, wenn sie andere bekleidete Menschen sehen. Anders gesagt, es geht um den Austausch,
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in den Kleider und Körper mit den umgebenden Räumen treten (Lehnert 2012c; siehe auch Potvin 2009). Die Stätten der Produktion (wie Designstudios und Werkstätten) spare ich aus, um gleich zu jenen Orten zu kommen, an denen die Artefakte bereits fertig und in Gebrauch sind oder für den Gebrauch angeboten werden – in denen also Kleider in unterschiedlichen Alltagshandlungen und Gebrauchszusammenhängen zu Mode werden. Meine Beispiele sind Geschäfte und Museen. Diese sollen eine bestimmte Atmosphäre ermöglichen, die sich auf die Kleider übertragen und zu deren Durchsetzung als Mode auf dem Markt beitragen soll. In Läden werden Kleider als Mode angeboten und ausgestellt, anprobiert und ausgewählt. Auch die Läden leben von der Stimmung, in die sie die potentiellen KäuferInnen versetzen können. Auswahl und Einkauf gehören zu den wichtigen Akten der Attribution und Affirmation eines vorangegangenen Angebots, in denen Kleider Mode werden (Gaugele 2005). Im Museum schließlich werden die Kleider der Zirkulation entzogen, als gleichsam auf Ewigkeit gestellte ehemalige Moden ausgestellt, und man könnte sich fragen, ob sie dann noch »Mode« sind. Es gäbe viel mehr Räume, über die zu handeln wäre: Straßen, Discotheken, Theater, Laufstege, last but not least das Internet, dessen Bedeutung in den letzten Jahren sprunghaft gewachsen ist. Ich habe mit Läden und Museen exemplarische und klassische, d.h. bekannte, weit verbreite und geschichtsträchtige Beispiele ausgewählt, an denen das Ineinander von Körper, Kleid und Raum anschaulich gemacht werden kann. Dabei geht es mir zentral auch um die Verschiebung traditioneller Grenzen, die gerade im Bereich Mode besonders auffällig sind. Waren noch vor 50 Jahren die Grenzen zwischen den Orten, an denen man Mode kaufte, und dem Museum, in dem längst nicht mehr modische Moden vergangener Epochen mit kulturhistorisch belehrender Absicht ausgestellt wurden, sehr scharf gezogen, so gehen beide Präsentationsbereiche heute mehr und mehr ineinander über. Die Museen übernehmen Inszenierungsstrategien der Läden und vice versa, und beide orientieren sich an theatralen Formaten, die wiederum längst von den großen Modenschauen adaptiert worden sind, die keine einfachen Kleidervorführungen mehr sind, sondern Performances von eigenen Recht (Kühl 2012, Evans 2009). Damit wird auch die Frage nach der Grenze zwischen Kunst und Mode wieder aufgeworfen und damit zwischen Räumen und Strategien des Konsums (und der allgemeinen Verfügbarkeit der Objekte als Ware) gegenüber den Räumen und Strategien der Bildung und Erbauung – dem Museum, in dem die Objekte gerade nicht käuflich sind und als Einzelstücke präsentiert werden. Die Grenzen sind auch hier längst in Fluss geraten, viele Museen sehen sich mittlerweile als Orte für Events und Vergnügen, und Museumsshops bringen schon lange den Konsum ins Museum. Der Vergleichbarkeit wegen beziehe ich mich auf High End-Mode, die am ehesten sowohl in sehr durchgestalteten Shops als auch in Museen präsentiert wird. Im Fokus steht neben Yamamoto erneut das Beispiel Comme des Garçons, was sich aus verschiedenen Gründen anbietet. 2011 fand im Haus der Kunst in München eine große Ausstellung über japanische Mode statt, in deren Mittel-
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punkt Rei Kawakubo und Yamamoto standen (Katalog: Future Beauty 2011). Im Sommer 2012 zeigte das Musée Galliéra in den Ausstellungsräumen »Les Docks« die Frühjahrs/Sommerkollektion 2012 von Comme des Garçons »White Drama«, die von Rei Kawakubo selbst kuratiert worden war. »White Drama« ist ein bis dahin unerhörter Fall: die Kollektion ging über den Laufsteg und sogleich ins Museum. Darüber hinaus hat Rei Kawakubo schon früh ein besonderes Shop-Modell entwickelt, und sie hat Mitte des letzten Jahrzehnts die Guerilla-Stores erfunden, ein Format, das sofort von anderen übernommen wurde und mittlerweile zu einer besonderen Präsentationsform von High-End-Mode geworden ist.
Raum Raum wird längst nicht mehr, wie viele Jahrhunderte lang, als »Container« vorgestellt, sondern ist dynamisiert worden44 . In der neueren Raumwissenschaft herrscht Konsens darüber, dass Raum sich konstituiert im Zusammenspiel von Menschen, Dingen, Wahrnehmung und Bewegung. Raum entsteht demnach in kulturellem symbolischem Handeln und ist erfahrbar nur über Körper und deren Bewegung. Henri Lefebvre beschreibt Raum als »physische[n] Naturraum«. Darunter versteht er einen prä-kulturellen Ursprung, der als solcher nicht empirisch fassbar ist (als von Anbeginn an kulturelle Wesen können Menschen immer nur kulturell wahrnehmen). Er wird gesetzt als – letztlich fiktionaler – Ausgangspunkt dafür, dass Menschen bzw. Gesellschaften unterschiedliche Räume produzieren. Die räumliche Praxis einer Gesellschaft setze ihren Raum – und setze ihn gleichzeitig voraus (Lefebvre 2006, 335). Hier geht Lefebvres Raumbegriff in den des Ortes über. Räume, zumal gestaltete Räume, sind Affektivitäts-Dispositive. Die Begegnung von Mode-Körper und räumlicher Umgebung ist grundsätzlich affektiv gefärbt; hier entstehen Stimmungen, die man auch mit Hermann Schmitz (1995) und Gernot Böhme (1995) als Atmosphären bezeichnen kann. So kann man Unbehagen empfinden, wenn man in einen Raum kommt, in den man räumlich nicht passt, und das heißt immer, unabhängig von allen anderen möglicherweise Anwesenden und deren Stimmungen: in den man als Körper-Raum nicht passt, oder als räumlicher Modekörper. Modeläden nutzen das, indem sie ihre Innengestaltung so präsentieren, dass nicht nur die geschlossene Tür oder der Türsteher den Eintritt erschweren, sondern auch die Ausstrahlung des Innenraums, der nur bestimmte Menschen einlädt, ihn zu betreten, und andere auslädt. Andere Modeläden tun das Gegenteil und laden zum Eintritt ein – das gilt vor allem für die preiswerteren Läden und in jedem Fall für die Fast-Fashion-Modeketten.
44 | Zum »Spatial Turn« und Raumkonzepten vgl. Dünne/Günzel 2006; Günzel 2008; Bachmann-Medick 2010; Lehnert 2011a; Lehnert 2012a; Löw 2001.
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Der Phänomenologe Hermann Schmitz 45 erklärt, nur in leiblicher Anwesenheit könne man z.B. Weite und Enge spüren, denn Raum sei strukturell leiblich, »seine Strukturen entsprechen den leiblichen oder ergeben sich gar aus diesen«. Fruchtbar für den Zusammenhang mit den Bühnen der Mode ist Schmitz’ Systematisierung der Arten, wie Raum erfasst werden könne: (1) als Raum des leiblichen Befindens, (2) als Raum des motorischen Verhaltens, (3) atmosphärisch aufgrund »prädimensionaler Volumina«: Schall, Gerüche, Luft. Raum ist nicht vermessbar – sehr wohl vermessbar sind hingegen Orte, die im Raum entstehen bzw. von Menschen geschaffen werden. Sie sind begrenzt, stabil und lokalisierbar: Gebäude, Parks, Kulturlandschaften und so fort. Orte sind, um mit Gaston Bachelard (1960) zu sprechen, Heimat. Marc Augé (1994) spricht von »anthropologischen Orten, verwurzelt und verwurzelnd«, sie grenzen Eigenes und Anderes voneinander ab. Warenhäuser, Flagship Stores oder Museen sind in der Regel also Orte. Jedoch sind sie besondere Orte, in denen niemand lebt, sondern die zu bestimmten Zeiten und unter bestimmten Bedingungen (Öffnungszeiten, Eintrittspreise) besucht werden können. Man könnte sie mit Michel Foucault (2002) Heterotopien nennen, Orte, die aus dem alltäglichen Lebenszusammenhang ausgegrenzt und ihm doch notwendig sind, wie Krankenhäuser, Schiffe, Regierungsgebäude – oder eben Läden und Museen. Sie gibt es schon sehr lange. Marc Augé charakterisiert andere, spezifisch moderne, Orte als »non lieux«. Damit gemeint sind Durchgangsorte, an denen man nicht verweilt und die kaum einen eigenen Charakter besitzen, wie Autobahnen oder Bahnhöfe. Sie werden deutlich flüchtiger erlebt als z.B. ein Flagship Store, denn sie haben oft keine eigene Identität, sondern sind nur im Vorüberfahren als Markierungspunkte erkennbar46. Jeder Ort kann sich im Gebrauch verändern. Er wird umdekoriert, er wird einfach nur anders genutzt (eine Kirche wird ohne materielle Änderung zum Konzertsaal oder zum Tanzsaal), der Berliner Bebelplatz wurde einige Male zum Mode-Ort, weil an ihm das Zelt für die Fashion Week errichtet wurde; mittlerweile ist es das Brandenburger Tor, an dem die Fashion Week ihr Domizil aufschlägt47. Es gibt Orte, denen ein performatives Potential stärker eignet als anderen (Theater z.B.), weil sie darauf angelegt sind, für verschiedene Ereignisse umfunktio45 | Schmitz 1998 (1967); Schmitz 1981 (1969); Schmitz 1995. – Schmitz leitet das Raumerleben vom leiblichen Befinden und Empfinden ab. Er unterscheidet Weiteraum, Richtungsraum und Ortsraum. Im Weiteraum ergießen sich Stimmungen und Atmosphären, die noch nicht gerichtet sind. Sie werden vom Subjekt aufgrund der strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Leib und Raum leiblich erfahren, d.h., sie entstehen nicht im Subjekt, sondern es taucht gleichsam in sie ein. 46 | Als eigentümliche Mischform könnte man temporäre Gebilde wie Rem Kohlhaas’ Prada Transformer in Seoul bezeichnen, der für eine bestimmte Zeit als multifunktionaler, beweglicher Behälter aufgestellt wurde und dann wieder verschwand. 47 | Erika Fischer-Lichte (2012, 187ff.) spricht von »performativen Räumen«.
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niert zu werden. Grundsätzlich können aber alle Orte auf diese Weise verwandelt werden. So entstehen Erlebnisräume (Lehnert 2011a, Lehnert 2012c), die vor allem durch eine andere Wahrnehmung oder auch durch eine bestimmte Nutzung entstehen, die Wahrnehmungen auslöst. Phantasien werden freigesetzt, Atmosphären entstehen in der Begegnung des Ortes und der Menschen, sie verzaubern oder erschrecken. »Neben konkreten Umgestaltungen und den atmosphärischen Potentialen der Räume sind für die Entstehung von Erlebnisräumen entscheidend Raumwahrnehmungen, Raumerlebnisse und auch Raumvorstellungen, die das konkrete Raumerlebnis erheblich zu prägen vermögen. Gerade die Mode in ihrer Materialität und als soziale und symbolische Praxis verwandelt vorgegebene Orte in diesem Sinne.« (Lehnert 2012, 11f.) Man kann das so zusammenfassen: Raum konkretisiert sich in Orten, die sich wiederum transformieren können in ephemere Räume der Wahrnehmung und des Erlebens. Daraus leitet sich ab, dass Räume Kleider-Moden prägen und umgekehrt Kleider Räumen ein Gesicht geben können. Mode braucht Räume, und Räume brauchen Mode. Die selbst räumlichen Mode-Körper treten mit Räumen und Orten in Interaktion. Kleider werden als Mode inszeniert, angefangen von der Straße, auf denen Moden zur Schau getragen und eigene Stile hervorgebracht werden, über berufliche Kontexte, eher freizeitorientierte Veranstaltungsorte von Discotheken über Theater bis hin zu dem berühmten roten Teppich bei Filmfestspielen, und schließlich die modischen Orte im engeren Sinne wie Laufstege, Läden oder auch Museen. Unterschiedliche architektonische Orte wie Designer-Stores gehen einher mit bestimmten Kleider-Stilen (für die sie ja eingerichtet oder gar gebaut worden sind) und prägen die Wahrnehmung der Kleider: die Atmosphäre des Verkaufsraums verbindet sich mit den Kleidern. Gesellschaftliche – formelle oder nicht-formelle – Anlässe verlangen bestimmte Outfits und Auftritte, aber da sie immer an bestimmte Orte gebunden sind, ist modische Anpassung auch an die Orte erforderlich. Unterschiedliche Städte bringen unterschiedliche Stile hervor. Und natürlich gehört das Internet mittlerweile zu den wichtigen Räumen, in denen Mode stattfindet: Blogs dienen dem Austausch und bringen ein modisches Wissen – und eine Verbreitung modischen Wissens – hervor, das weit über das hinausgeht, was früher möglich war, Online-Shops bieten alles von Massenmode bis Designermode an; virtuelle Anprobekabinen ermöglichen bereits auch die visuelle Inszenierung der eigenen Person im gewählten Outfit.
Mode-Räume Museen, Flagship Stores, Shop in Shops oder auch Ateliers als Orte, die speziell für die Präsentation von Kleider-Moden gebaut und/oder eingerichtet werden, sind durchaus stabile Behälter/Container. Betont man freilich die grundsätzlich dynamische Struktur von Raum, die immer auch Wahrnehmung und Gebrauch einschließt, sind auch Orte weit mehr als bloße Schauplätze. Denn erstens ist ihnen
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ihre Nutzung und Wahrnehmung durch unterschiedliche Subjekte eingeschrieben, und zweitens nehmen Orte – so sehr sie selbst den Moden unterworfen sind – Einfluss auf die jeweiligen Kleidermoden, auf die Art und Weise von deren Aufführung einerseits und von ihrer Wahrnehmung andererseits. Sie werden damit konstitutiv für das Entstehen von Mode. Denn wenn Raum entsprechend dem modernen Raumverständnis durch menschliches Handeln konstituiert wird, konstituiert auch Mode als kulturelles Handeln von Menschen mit Artefakten Raum. Zumal sowohl die Menschen als auch die Artefakte ihrerseits räumliche Gebilde sind.
Was aber hat das alles konkret mit den Läden und Museen zu tun? Grundsätzlich sehr viel. Im Besonderen muss man jedoch stets differenzieren, was überhaupt realisierbar ist. In der konkreten Gestaltung von Läden etwa geht es keineswegs in jedem Fall darum, Ideen des aktuellen Kleiderdesigns aufzunehmen und räumlich umzusetzen. Vielmehr gewinnt die Architektur bzw. Inneneinrichtung eine eigene ästhetische Wertigkeit, die grundsätzlich atmosphärisch positiv stimmt, z.B. Luxus, großes Design oder alternative Lifestyles vermuten lässt bzw. die Idee davon andeutet. Die Atmosphäre eines Raums wird u.a. dadurch beeinflusst, »wie das Blickfeld organisiert ist« (Interview mit Petra Blaisse, in: Krüger 2009). Hinzu kommen Bewegung und Flexiblitität. Die ästhetische Wertigkeit der Raumgestaltung stimmt idealerweise ein auf Kleider, aber nicht zwingend auf diejenigen Kleider, die gerade da sind. Eine gute Raumgestaltung führt die Kundin von Kleid zu Kleid, der Raum bietet also den Rahmen – oder eine Bühne – für Kleider; er soll sich trotz anspruchsvollsten Designs nicht selbst in den Mittelpunkt rücken, sondern dafür sorgen, dass die Kundin alle präsentierten Produkte entdecken kann. Es muss ferner dafür gesorgt werden, dass ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Highlights gelenkt wird, und dass ihr die Möglichkeit, anzuprobieren, auszuprobieren, zu entscheiden und zu kaufen, möglichst leicht gemacht wird. Dieser Rahmen (oder die Bühne) kann, je nach Marke, einen starken Kontrast zur Idee des Konsums darstellen und eher an Räume der Kunst denken lassen, aber er kann die Idee des Konsums auch unterstützen und bestimmte Lifestyles in Szene setzen. Im besten Falle – der in der Regel dann eintritt, wenn das Geschäft für eine Marke gebaut worden ist – stimmt er auf die Markenidentität ein. Arjan van de Bliek pointiert: »Der Architekt verkauft mit seinem Gebäude eine Identität an seinen Auftraggeber, ähnlich wie ein Kunde/eine Kundin eine Identität von einem Mode-Designer kauft.« (van der Bliek 2012, 28) Marken sind im Detail variabel und benötigen darum Räume, die viele verschiedene stilistische Konkretisierungen ihres Stils vertragen, gemäß dem Prinzip der Mode, ständig Neues zu bieten, das in einem neutralen oder akzentuierenden, aber nicht bis ins Kleinste festlegenden Rahmen präsentiert werden kann. Das heißt, er muss auch die Möglichkeit offen lassen, die verschiedensten ephemeren Erlebnisräume zu
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öffnen, je nach Jahreszeit, Kollektionsbesonderheiten u.ä., und zugleich muss er um jeden Preis die Identität der Marke wahren. Im Museum muss der Container imstande sein, so umdekoriert zu werden, dass er völlig andere Modestile und –themen in unterschiedlichen Kontextualisierungen präsentieren kann. Wichtiger als der materielle Museumsraum ist das, was mit ihm geschieht, sind die Erlebnisräume, die hier entstehen (Lehnert 2011a und Lehnert 2012c). Die (innen-)architektonische Gestaltung der Moderäume unterliegt ihrerseits Moden und emanzipiert sich oft von den Kleidermoden, so wie sich die Moden vom Körper emanzipieren und ihn doch, gleichsam als Dialogpartner, benötigen. Selten sind die Moden und die Körper, sind die Orte und die Kleider, deckungsgleich. Das fällt auf, wenn man sich einige Läden großer Massenmode-Ketten wie Zara oder die H&M-Schwester COS anschaut. Sie sind bekannt für besonders modische Kleidung zu relativ niedrigem Preis, haben unterschiedliche, jeweils spezifische, jugendlich-modische Marken-Images aufgebaut (wobei COS in seiner an die frühe Jil Sander erinnernden Reduziertheit nicht nur ganz junge Kundinnen ins Auge fasst und auch teurer ist) und pflegen diese Images nicht zuletzt dadurch, dass sie mittlerweile an geeigneten Orten großartige Läden einrichten, die sich in Gestaltung und Anmutung kaum von Designer Stores unterscheiden. Am ehesten kongruieren Innenarchitektur und Kleider in den Läden, die von den Designern als Interpretation ihrer modischen Konzepte gestaltet werden, also im ästhetisch anspruchsvollen, hochpreisigen Luxussegment. Das sind dann auch diejenigen Designer, deren Produkte am schnellsten ins Museum wandern.
Habenwollen versus interesseloses Wohlgefallen? Läden und Museen An den Beispielen von Yamamoto und Comme des Garçons kann exemplarisch einerseits die Amalgamierung der Präsentationsformate48 und andererseits der Trend der anspruchsvollen Designermode bzw. der Haute Couture ins Museum gezeigt werden 49 . Sobald sie ins Museum kommen, werden die Kleider, die ja bei allem künstlerischen Anspruch, den sie haben mögen, vor allem für den Konsum gedacht sind, der Zirkulation aus Gebrauchszusammenhängen enthoben (H. Böhme 2006). Sie verlieren damit ihren Status als Ware. Dem isolierten und nicht mehr käuflichen Objekt im Museum gilt eine ganz andere Aufmerksamkeit als dem käuflichen und tragbaren Kleid im Laden. Eine Grunddichotomie der unterschiedlichen Formate und ihrer Mischungen ist zweifellos die von Nähe oder Distanz, Vertrautheit oder Ehrfurcht. Sie lässt sich ganz klassisch auf unterschiedliche Präsentationsformen von Läden und Museen beziehen, aber sie differenziert auch die Läden untereinander. Sie bezieht 48 | Von »künstlerischen Darstellungsformaten im Wandel« handelte eine Tagung der ZHdK im September 2012, auf der ich Aspekte des Folgenden vorstellte. 49 | Es gäbe viele andere Fälle, von Max Mara über Versace bis Viktor & Rolf.
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sich auch auf den klassischen Unterschied zwischen kommerzieller Präsentation und musealer Präsentation, der sich freilich immer mehr aufhebt. Museen hatten traditionell bekanntlich einen Sammlungs- und Bildungsauftrag. Das wird schon durch ihre Architektur sichtbar, die die BesucherInnen von außen einzustimmen sucht auf ein erhebendes Erlebnis der Distanz gegenüber den isolierten Objekten hinter Glas, die, der Zirkulation entzogen, für sich stehen, aber immer auch für einen bestimmten historischen (oder anderen) Kontext, den sie versinnbildlichen. Demgegenüber setzt das Warenhaus darauf, Menschen anzuziehen, die nicht nur aus respektvoller Distanz schauen wollen, sondern die anfassen, begehren und haben wollen – und kaufen sollen. Architektonisch war das Warenhaus im 19. Jahrhundert dem Museum jedoch ebenso ähnlich wie Bahnhöfen und anderen großstädtischen Bauten, die in ihrer Anlehnung an Herrschaftsbauten des Barock ihre tatsächlich sachliche Funktion zu verschleiern und gleichzeitig ihre Wichtigkeit hervorzuheben suchten (Rooch 2001). Aber die Präsentationsweisen nähern sich einander an, und zwar in beide Richtungen. Anders als im klassischen Museum müssen die BesucherInnen im Laden mit dem Raum und den in ihm präsentierten Objekten interagieren und alle Objekte betrachten, d.h. sie müssen auch geleitet und zum Anfassen verführt werden – diese Strategie beherrschten schon die Warenhäuser des 19. Jahrhunderts hervorragend50. Aber längst leihen sich Läden – zumal solche der High-End-Mode – Konzepte der musealen Ausstellung aus und präsentieren ihre Kleider wie Kunstwerke in einem scheinbar der Ruhe und Kontemplation verpflichteten Raum. Andererseits ist Szenografie51 längst auch im musealen Kontext zum Schlüsselkonzept geworden, da es den aktiven Charakter des Anschauens betont und den Museumsbesuch zum Event modelt, was heute die Voraussetzung des gewünschten Erfolgs ist. Museen spielen auf Präsentationsformen an, die anderen modischen Ereignissen entnommen sind, wie etwa Défilés, besonders das Konzept des Laufstegs (der allerdings schon längst nicht mehr das Nonplusultra der großen Schauen ist). Aber auch die typisch großstädtische Bewegungsform des Flanierens wird als eine Möglichkeit der Szenografie in Ausstellungen genutzt, wenn die Exponate auf ebener Erde und ohne schützenden Display stehen und sich das Publikum um sie herum bewegen kann. Das Flanieren ist seit dem 19. Jahrhundert von den Straßen der Großstadt ausgeweitet worden auf die Einkaufspassagen und Warenhäuser, in denen es vom Sich-Treiben-Lassen und nur Schauen zur gezielt gesteuerten und Begehren weckenden Bewegung transformiert worden ist. In anspruchsvollen Modeläden ist der White Cube zum Paradigma moderner Verkaufsausstellungen geworden; er ist geborgt vom mittlerweile längst wieder umstrittenen Ausstellungsort für moderne Kunst. Der White Cube ist eine Reaktion auf die opulente Museumsarchitektur des 19. Jahrhundert. Seit den 1920er Jahren wurde der Opulenz, die die Aufmerksamkeit oft mehr auf sich selbst als 50 | Dazu u.a. Lehnert 2010c; G. König 2010; G. König 2009; Lehnert 2008; Lehnert 2002c. 51 | U.a. Brejzek/Mueller von der Hagen/Wallen 2009.
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auf die Exponate lenkte, das Modell der Reduktion des Raums entgegengesetzt: ein schlichter, weißer Raum, der das Kunstwerk ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt und auf alle Ablenkung durch ein Drumherum verzichtet (O’Doherty 1996). An Yamamotos Pariser Flagship Store lässt sich exemplarisch zeigen, wie diese Idee seit etlichen Jahren für kommerzielle Räume nutzbar gemacht wird. Der Kunstraum mit seiner Aura der Alltagsenthobenheit wird zum Verkaufsraum. Das widerspricht natürlich der ursprünglichen Idee massiv, denn damit wird ja scheinbar die Betonung des Auratischen unterlaufen, um die es dem White Cube als Ausstellungsraum für Kunst gerade ging. Man betritt einen schlichten, weiß getünchten, relativ großen Raum, einige Zierelemente erinnern an japanisches Origami; eine Treppe führt nach oben, Kleider sind großzügig auf Ständern vor den Wänden gehängt, einige werden im Raum stehend präsentiert wie besondere Kunstobjekte. Verkäuferinnen und Verkäufer bewegen sich dezent in der Nähe der Kundschaft, sie drängen sich nicht auf, stehen aber zur Verfügung – und passen auf, wie Wärter im Museum. Abbildung 12: Yamamoto Store, Paris
Die Aufmerksamkeitssteuerung funktioniert hier ganz anders als in einem Warenhaus oder einer Modekette, da der stille, großzügige, helle Raum übersichtlich und relativ leer ist. Die eigenständige Bedeutung der Umgebung wird reduziert. Eine ruhige Atmosphäre erinnert eher an klassische Ausstellungspräsentationen und ermöglicht Konzentration auf das einzelne Objekt, von dem nicht abgelenkt wird. Die Idee des Konsums wird heruntergespielt; das einzelne Objekt wird isoliert und erscheint als einzigartig; damit wird es hervorgehoben und teilweise sogar quasi-sakralisiert. Die ästhetischen Besonderheiten des Designs – wirkliche
Konsumkultur und ästhetische Arbeit
oder eingebildete – werden ins Zentrum gerückt; dem Gebrauch scheinbar (noch) entzogen, steht das Kleidungsstück wie ein Kunstwerk für sich – bis zu dem Moment, in dem es von einem Menschen angezogen wird. Die Marke wird in ihrer Eigenart akzentuiert. Hier geschieht das nicht nur durch das monochrome Weiß, das freilich nach einiger Zeit des Gebrauchs nicht mehr ganz so strahlend ist, sondern vor allem durch die sparsamen Dekorationselemente, die an japanisches Origami erinnern. Damit wird auch die Botschaft vermittelt, dass hier ein Kulturtransfer stattfindet: den europäischen Kundinnen wird visuell vermittelt, dass sie sich im Flagship Store eines japanischen Designers befinden, der japanische und europäische Traditionen verbindet. Das heißt, sie haben in Europa die eindeutige Signalwirkung »Japan«, und sie verweisen in diesem Fall darüber hinaus auf Schnitt- und Falttechniken Yamamotos, also auf seinen Umgang mit den Stoffen und die spezifische Räumlichkeit, die mit ihnen hervorgebracht werden kann. Neben dem Weiß des White Cube kommt außerdem auch das Weiß als Gegensatz zum Schwarz mit seinen Schatteneffekten ins Spiel, entsprechend der Ästhetik, die Tanizaki Jun’ichiro 1933 in seinem »Lob des Schattens« erläutert. In dieser Tradition steht auch noch (oder wieder) »Comme des Garçons Black« in Berlin Mitte: ein kleiner weißgekalkter Raum, unterteilt durch wenige schwarze, fast wandhohe Winkel, auf denen das Logo als einziges dekoratives Element zu sehen ist. In den entstehenden Abteilungen stehen die Kleiderständer. Die schnörkellose Anmutung des glatten White Cube wird hier nuanciert durch die Betonung der Funktionalität des Raums. Die grobe Struktur der Wände ist sichtbar und die Heizungsrohre werden nicht geleugnet, sondern in die Gestaltung einbezogen: Postmoderne Reduktion und eine Idee von Schlichtheit, die an die Arte povera erinnert, der Rei Kawakubo und ihre Arbeit für Comme des Garçons in vielen Kollektionen verpflichtet war. Yohji Yamamotos oder Rei Kawakubos ausgestellte und zum Kauf angebotene Objekte – ihre Kleidungsstücke also – waren anfangs ausschließlich schwarz, skulptural, auffällig in ihrer je eigenen und eigenständigen Räumlichkeit. Sie konnten, so dachte man offenbar, keine barocken Umgebungen vertragen. Längst jedoch sind Farben in die Kollektionen eingezogen, und Rei Kawakubos Diktum »Red is the new black« ist Programm geworden. Die Konsequenz davon ist: Nicht nur die Kleider bekamen Farbe, sondern zuweilen auch die Geschäfte. So der Pariser Laden von Comme des Garçons in einem Hof der Rue du Faubourg St. Honoré, der ganz in Rot gehalten ist: weiße Wände wechseln ab mit leuchtend roten; als Möbel dienen rote, glänzende Kuben, auf denen die Objekte ausgelegt werden oder auf die man sich setzen kann. Provokant und schräg wirkte das damals und wirkt es noch immer, denn keine Imitation hat das je erreichen können. »Die Mode stellt eine klare Bedingung an die Architektur: Die Räume und Formen dienen allein der Präsentation der Kleider und Accessoires«, so Christoph Allenspach (2009, 59). Lenkt das Rot nicht von den Kleidern und Accessoires ab, die sparsam vorhanden sind? Doch, es lenkt ab – aber es lenkt auch
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wieder hin, weil die Kleider sich immer von ihm abheben. In jedem Fall markiert es Raum und Kleider als außergewöhnlich, überraschend und exklusiv, trotz der Knallfarbe, die ja auch ganz andere, weniger dezente Konnotationen haben könnte. Aber – so kann man vermuten – auch diese sollen aufgerufen werden, um gebrochen und konterkariert zu werden. Hier kommen die Kleider ins Spiel, die die Farbe wiederum relativieren und zugleich betonen, ihr ihre ganz besondere Ausstrahlung verleihen. Denn leer würde dieser Raum nicht eine solche Wirkung entfalten. Leer, die Kleider entbehrend, wäre er gewissermaßen ratlos. Schaut man sich demgegenüber den Lil*Shop in Berlin an, die Nachfolge des ersten Comme des Garçons-Guerilla-Stores, staunt man zunächst über das verspielte Design, das eher auf eine andere ästhetische Ausrichtung – die mittlerweile seit längerem in ist – schließen lässt als auf Comme des Garçons: überdimensionierte Schattenrisse an den Wänden, plüschige Sessel … Tatsächlich aber ist Comme des Garçons längst nicht mehr so puristisch, wie sie begonnen haben, und Kaninchendrucke auf Shirts und Hemden oder die entfernt an Comics erinnernden Zeichnungen auf Parfum passen dann doch wieder zu den weißen Wänden mit Schattenrissen. Das Gleiche gilt für die jüngeren Kollektionen von Comme des Garçons, die durchaus etwas Verspieltes haben. Und es handelt sich hier nicht um einen Comme des Garçons-Store im engeren Sinne, von Kawakubo selbst eingerichtet, sondern, so schreibt die Betreiberin, die »sowohl als Creative Director (einschließlich Design und Umsetzung aller GS Läden und GS Websites weltweit) verantwortlich für die CDG Guerrilla Stores als für den Nachfolger des Konzeptes LIL*SHOP« war: »CdG war bei diesem Konzept daran interessiert, Leuten aus anderen Disziplinen absolute Freiheit in der Handhabung zu geben. So wurde der Laden in Warschau beispielsweise von einem ehemaligen Geologen geführt. Die Idee dabei war, die meist eindimensionale Sichtweise von professionellen Modeleuten zu durchbrechen und spielerisch neue Interpretationen der Kollektion zu ermöglichen.« (Lil Schlichting-Stegemann in einer Mail an mich vom 14.9.2012)
Die Massenmode/Konfektion wird in der Regel weniger aufwendig präsentiert und kommt auch meistens nicht ins Museum. Geht man in den üblichen Shopping Malls oder Einkaufsstraßen shoppen, findet man Läden, in denen Kleider einfach in Mengen vorhanden sind, mehr oder weniger nett angeordnet. Der vorhandene Raum wird genutzt, um möglichst viele Kleider unterzubekommen, die möglichst viele Kundinnen anlocken sollen. Von einem Design-Konzept lässt sich da oft nur im weiteren Sinne sprechen, schon gar nicht von ruhiger, geradezu ehrfurchtsvoller Aufmerksamkeit. Es geht vor allem darum, die Aufmerksamkeit der KundInnen so zu steuern, dass sie alles das sehen und anfassen können, was sie kaufen sollen, und dass ihnen nicht nur die Designs, sondern auch die niedrigen Preise ins Auge fallen. Hier entsteht Hektik, nicht Ruhe und Konzentration, das Objekt erscheint mehr als Konsumobjekt, weniger als Designobjekt in Kunstnähe.
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Allerdings schließen sich einige der großen, hoch erfolgreichen Massenketten wie Zara zunehmend dem Trend an, Luxus zu suggerieren, indem sie ästhetisch anspruchsvoll durchgestaltete, moderne Shopping-Ambientes realisieren. Sogar H&M versucht sein Image nicht nur durch die Kooperation mit den berühmtesten, teilweise auch avantgardistischsten zeitgenössischen Designern aufzupeppen (Comme des Garçons, Martin Margiela), sondern hat sich in Madrid, Barcelona, Mailand oder Tokio grandiose Läden von Stararchitekten gestalten lassen. Das suggeriert Luxus und Exklusivität, ganz gleich, wie billig und massenhaft (und in Niedriglohnländern gefertigt) die Waren sind – ein nettes Geschenk an treue KundInnen, könnte man auch sagen, die nun zum billigen Outfit noch einen ganz besonderen Einkaufstempel bekommen. Es wird deutlich, dass alle Segmente sich der gleichen Strategien bedienen. Die Möglichkeiten, sich zu unterscheiden, sind nicht unbegrenzt. Man findet Räume vor und setzt sie so effizient wie möglich für die eigenen Zwecke ein. Abbildung 13: Zara, Salamanca
Oder man baut neue Räume und muss dann zwar nicht mit – z.B. – einem Kircheninneren arbeiten, aber vermutlich werden die Prinzipien ähnlich sein: Es geht darum, die Kundschaft in gute Stimmung zu versetzen, die sich auf die Wahrnehmung der Kleider überträgt, und die Kleider selbst optimal zur Geltung zu bringen. Das rote Design von Comme des Garçons kann man sich in einem sehr großen und mit Kleidern überfüllten Haus nicht leisten. Aber die reduzier-
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ten kargen Wände oder ein besonders ausgefallenes Interieur wie ein Kircheninneres können sowohl die billigen Marken wie die teuren verwenden. Es geht um den Überraschungseffekt, der am Ende mit den Kleidern selbst, die ja auch jede Saison wechseln, nicht zwingend unmittelbar zu tun hat. Womit es zu tun hat, aber auch nur indirekt, ist die Corporate Identity eines Hauses.
Ausstellungen Während bis vor wenigen Jahrzehnten nur vergangene Moden ins Museum gelangten52 und oft in Völkerkundemuseen im Kontext vergangener Lebenswelten ausgestellt wurden, sind mittlerweile zunehmend zeitgenössische DesignerInnen in Ausstellungen vertreten. Um nur wenige Beispiele zu nennen: Versace 1994 im Kulturforum Berlin, Vivienne Westwood 2004 im Victoria & Albert Museum London, im NRW Forum Kultur und Wirtschaft 2006 und weiter in anderen Ländern, Yves Saint Laurent 2010 im Pariser Grand Palais, Margiela 2009 im Haus der Kunst in München, Alexander Mc Queen »Savage Beauty« 2011 im New Yorker Metropolitan Museum of Art (ein anderer Fall, da es um die Retrospektive des jüngst verstorbenen Designers ging) und im Hamburger Kunstgewerbemuseum (»Inspirations«), 2011-2013, Yohji Yamamoto 2010 im Londonder Victoria & Albert Museum, Comme des Garçons (»White Drama«) 2012 im Musée Galliéra, Paris, beide zusammen z.B. in »Future Beauty«, 2011 im Münchner Haus der Kunst. Das hat Folgen, denn meist nehmen die Designer Einfluss auf Auswahl, Präsentation und Gestaltung, oder sie kuratieren, wie im Falle der jüngsten Ausstellung von Comme des Garçons, die Ausstellung ganz und gar selbst. Die Beteiligung der ModemacherInnen verändert das Museum insofern, als es Ideen von Menschen aufnimmt, die zwar künstlerisch arbeiten, aber immer auch Produkte für einen (Luxus)Markt produzieren und naturgemäß Interesse am Absatz haben. Der Drang der Mode ins Museum verändert außerdem die Modewelt. Denn diejenigen Designer, deren Kreationen schon bald im Museum landen, sind ein für alle Mal (so scheint es) dem Kanon der großen ModemacherInnen zugehörig. Ihre Entwürfe sind fortan unverzichtbarer Teil einer auf Höhenkammmode setzenden Modegeschichtsschreibung. Sie sind gleichsam geadelt durch eine Institution, die Dinge sammelt und vor dem Vergessen bewahrt, die den Anspruch erhebt, kulturelles Gedächtnis zu sein und das Publikum ästhetisch oder kulturgeschichtlich zu bilden. Damit ist eine Situation bezeichnet, die mitnichten nur die Mode betrifft, sondern alle kulturellen Bereiche: die Grenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst, zwischen populärer Kultur und »gehobener« Kultur sind längst verwischt, wenn nicht gefallen. Kultur ist nicht länger ein bildungsbürgerliches Konzept, sondern bezieht sich auf alles, was Menschen tun und hervorbringen. Und gleichzeitig bilden sich ständig neue Kanones heraus, die aus der Vielzahl der Ereignisse und 52 | Vgl. Weise 2012; de la Haye 2012; Link-Heer 1998.
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Dinge einige wenige als besonders hervorheben und ihnen Kunststatus oder doch einen kunstähnlichen Status zuschreiben. Sie werden dadurch quasi-auratisiert, und sei es noch so vorübergehend, und zwar im Interesse einer Eventkultur, die jeden Museumsbesuch entsprechend präsentieren und verkaufen muss. Damit wird aber gerade die Beliebigkeit der Auswahl betont. In einer Kultur, die nur noch Höhepunkte kennt, entbrennt ein erbarmungsloser Kampf um Aufmerksamkeit (und Finanzen), aber kein Highlight ist mehr von Dauer – die Konkurrenz ist zu groß, die Verfallszeiten zu kurz, die Aufmerksamkeitsschwelle zu niedrig. Die Mode ist davon nicht ausgenommen, im Gegenteil, als integrales Element der modernen Konsumkultur ist mit diesem Befund gerade ihre wesentliche Eigenschaft benannt. Auffallend ist nur noch, wenn Mode besonders rasch aus den Läden ins Museum geht. Und das geschieht in der Regel am schnellsten mit den Moden, die sich auf der Grenze zur Kunst bewegen und auf diese Weise ihren Kunstcharakter betonen können. Gerade im Museum können Kleider eine Aura entfalten, und ihre Wahrnehmung kann eine ästhetische Erfahrung auslösen, die der von expliziten/intentionalen Kunstwerken in nichts nachsteht. Der Einzelstück-Charakter wird in Rei Kawakubos letzter Ausstellung in ganz besonderer Weise betont, wenn die Modelle auch in kleinen Gruppen angeordnet sind. Sie hat ihre F/S-Kollektion 2012 »White Drama« kurz nach dem Défilé für einige Monate im Sommer 2012 im Pariser Musée Galliéra ausgestellt – sensationell, weil aktuelle Kollektionen bislang nicht sofort ins Museum gewandert sind. Der Raum in einem alten Industriebau, Les Docks, ist eher klein und schmal, funktional, weiß gekalkt, mit sichtbaren Rohren und Leitungen. Kawakubo setzt auf Distanz und Nähe zugleich. Gesichtlose bekleidete Puppen stehen zu dritt oder zu mehreren in überdimensionalen transparenten Plastikkugeln, die im Raum verteilt sind. Eine Atmosphäre von Isolation, Einsamkeit, Eingesperrtsein wird hier vermittelt, was auch mit dem Konzept der Kollektion zu tun, die das Leben von Geburt über Hochzeit bis zum Tod in weißen Gewändern in Szene setzen will. Dennoch steht man als Zuschauerin auf Augenhöhe mit den Puppen und kann die Kleider aus der Nähe von allen Seiten betrachten. Die Kleider selbst und die Aufmachung der Puppen laden selbst nicht dazu ein, allzu vertraulich auf sie zuzugehen. Es sind beeindruckende, überwältigende und bei aller Schönheit verstörende Kunstobjekte. Kleider, ja, die getragen werden können – nur ob sie je getragen werden, ist die Frage. Wer wird ein Hochzeitskleid tragen, das die Hände fesselt? Ein Kleid wie ein Schlauch, das den ganzen Oberkörper immobilisiert und nur winzige Schlitze in Oberschenkelhöhe lässt, aus dem man theoretisch, aber schwerlich praktisch die Hände ein wenig hinausstrecken kann? Jedes dieser Outfits verlangt Aufmerksamkeit für sich und außerdem im Kontext der anderen Stücke; jedes ist rundum sichtbar, gefangen, ausgesetzt und geschützt zugleich im seltsamen Kokon aus Plastik in diesem funktionalen Raum, der ein roh belassener White Cube ist und den Ausstellungsstücken nichts von ihrer Präsenz nimmt, sondern diese im Gegenteil hervorhebt. Und das Publikum zwar definitiv vom Artefakt trennt und es trotzdem nahe herankommen lässt.
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Abbildung 14: Commes des Garçons, White Drama
Die Ausstellung kann in der Raumgestaltung Zeichen setzen, die eindeutiger sind, als ein Laden das vermöchte. Transparenz und Gefangenschaft nehmen Ideen auf, die die Kleider andeuten: Aufbruch und Stillstellung, Freiheit und Fesselung. Gleichzeitig nehmen die Kugeln die Idee sowohl des Displays im Museum als auch des Schaufensters auf und konterkarieren sie zugleich, da sie eben nicht aus stabilem Glas sind und die Objekte tatsächlich schützen können, sondern aus leicht zerstörbarem Plastik – ein Alltagsprodukt, das aber gerade nicht alltäglich ist in seiner Größe, Form und Funktion. Was diese kleine Ausstellung mit vielen anderen verbindet, ist die Nähe, die man als Zuschauerin zu den Objekten hat. Was sie trennt, sind die Plastikkugeln, die trotz ihrer Transparenz eine große Distanz schaffen und die Distanz unterstreichen, die die Kleider selbst ausstrahlen. Die Plastikkugeln wirken nicht nur billig, weil man eher Glasvitrinen gewöhnt ist, sie wirken befremdlich und passen eher zum Raum als zu den kostbaren Kleidern, die so sehr den Charakter von Kunstwerken haben als von Kleidern, die man kauft und anzieht. Es ist Konzeptkunst, die hier gezeigt wird, deren Idee fast so wichtig ist wie ihre Gestaltung, und dieses Konzept lebt gerade aufgrund der strikten Einheitlichkeit der Farbgebung (ausgerechnet unschuldiges Weiß) von den ungeheuren Kontrasten, die
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es vorführt: zwischen der Erwartung an ein Kleid und dem Kleid, das man sieht, zwischen der Materialität der Kleider und der Immaterialität ihrer Botschaft, zwischen Kunst und Alltag, Schönheit und Hässlichkeit. Dem gegenüber stehen in letzter Zeit vermehrt Ausstellungen, die die Exponate nicht hinter Glas (oder Plastik), sondern quasi »live« zeigen, so die kleine Yamamoto-Schau im Londoner Victoria & Albert Museum, 12. März bis 10. Juli 2011. Die Kleider waren auf Puppen ebenerdig und ohne jede schützende Hülle ausgestellt in einem reduzierten Raum, der von wenigen, eher an Fabrikarchitektur erinnernden Metallelementen strukturiert wurde. Man konnte um sie herumgehen und – wenngleich es verboten war – sie auch berühren. Keine Distanz wurde erzeugt, sondern Nähe und Intimität. Es war fast, als wäre man im Laden und könnte kaufen, oder als wäre man auf der Straße und könnte sehen, was zu haben ist. »Fashioning Fashion« im Deutschen Historischen Museum Berlin, 2012, zeigte Mode des 18. und 19. Jahrhunderts und verzichtete ebenfalls auf Schutz für die Exponate. Das ist für die Objekte gefährlich, denn die unvermeidbaren menschlichen Ausdünstungen, denen sie so unmittelbar ausgesetzt sind, greifen sie an, sie müssen ständig gesäubert, nach der Ausstellung vermutlich restauriert werden. Und doch gibt der Publikumserfolg den KuratorInnen recht. In dieser Ausstellung wurde jedoch der Effekt, als flanierte man auf gleicher Augenhöhe an locker gruppierten Kleiderpuppen vorüber, konterkariert durch den sich durch alle Ausstellungsräume ziehenden überbreiten Laufsteg, der – grün gestrichen – die Kleider und die vergleichsweise neutral gestalteten weißen Puppen über die ZuschauerInnen erhob und in eine räumliche Distanz rückte, die jede Berührung unmöglich machte. Die scheinbar größere Intimität und Nähe zu den Objekten wurde andauernd in Frage gestellt durch die Distanz zum erhöhten Laufsteg: eine paradoxe Botschaft. Wieder anders war das Konzept in der Yves-Saint-Laurent-Retrospektive im Pariser Petit Palais, März bis August 2010. Die weißen Puppen standen ebenfalls nicht hinter Glas, sondern auf unterschiedlich hohen Plattformen. Über 300 Exponate waren thematisch angeordnet (z.B. »Imaginäre Reisen«); zu einigen Themen gab es spezielle, größere Installationen. Abendmode wurde auf einer großen Bühnentreppe gezeigt, die sich in die Tiefe und die Höhe zog und auf der sich die festlich gekleideten Puppen um einen Mittelpunkt »scharten«. In einem kaum beleuchteten schwarzen Raum stand man plötzlich vor einer schwarzen Wand, die raumhoch bestückt war mit schwarzen Smokings in allen Variationen, die Yves Saint Laurent je entworfen hatte – ein atemberaubender und überraschender szenischer Effekt, denn man erblickte diese Wand erst, wenn sich die Augen an das Dunkel gewöhnt hatten. Überzeugend auch die Idee, eine Reihe von Schaufensterpuppen nebeneinander auf Stühlen zu platzieren, alle mit übergeschlagenen Beinen und leicht in eine Richtung geneigt, als schauten sie auf einen Laufsteg – tatsächlich auf
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den Weg, den die Museumsbesucherinnen nahmen. Die Rollen waren mit einem Mal vertauscht, die Puppen schauten das Défilé der Besucherinnen an.53 Das Fehlen der Glasvitrinen erzeugt Intimität, aber diese bleibt Illusion. Denn die Distanz ist beharrlich. Natürlich darf man keines der zauberhaften Outfits berühren, anziehen, geschweige denn kaufen. Man kann sich, anders gesagt, nichts ›einverleiben« bzw. umgekehrt die Kleider nicht modisch verkörpern. Das gilt auch dann, wenn in Ausnahmefällen Kleider anprobiert werden können, oder von Modenschauen im Museum (Weise 2012).54 Das Wissen, im Museum zu sein, kann keine Sekunde vergessen werden, und es prägt die Wahrnehmung der Ausstellungsstücke trotz aller Versuche der KuratorInnen, unmittelbare Erfahrungen zu ermöglichen. Es bleibt eine ästhetische Erfahrung, die durchaus der von Kunstwerken vergleichbar ist. Und genau hier liegt das Besondere, liegt der Gewinn der musealen Präsentation. Kleider können eine Aura haben, und diese spürt man vornehmlich dann, wenn sie isoliert als Einzelstücke präsentiert werden, egal ob im Museum oder im Laden. Und diese Wahrnehmung ist dann tatsächlich keine Illusion mehr. Der Aktivität des Publikums sind auch bei der ausgefeiltesten szenografischen Inszenierung in einer Ausstellung klare Grenzen gesetzt. Im Museum bleibt man BetrachterIn. Im Laden kann man andere Sinne einsetzen, man kann fühlen, riechen, anziehen. Das mehr oder weniger befriedigende Ergebnis ist der Kauf. Der Kauf wird das Kleid seinem schein-musealen Kontext entziehen und es benutzen – ein großes Plus an Möglichkeiten, aber auch Quelle möglicher Enttäuschungen. Denn vielleicht verliert das Artefakt, im Laden so außergewöhnlich präsentiert, im Gebrauch seinen Zauber als Kunstwerk und wird einfach – ein Kleid.
53 | www.zeit.de/lebensart/mode/2010-03/yves-saint-laurent-ausstellung, www.welt. de/lifestyle/article6733610/Paris-ehrt-Yves-Saint-Laurent-mit-Retrospektive.html 54 | Andere Erfahrungen ermöglichen Modeausstellungen dann, wenn Kleider mit den Spuren ihres Lebens und Alterns, des Gebrauchs also, ausgestellt werden, wenn sie also eine Geschichte erzählen, die von Leben und Vergänglichkeit handelt, wie es z.B. Amy de la Haye (2012) beschreibt.
4. Die Sehnsucht nach dem Anderen
Als ästhetisches Angebot, das vor allem auf möglichst großen Umsatz zielt, muss die Mode immer wieder (vermeintlich) Neues bieten. Dieses Neue zeichnet sich materiell durch oft nur minimale Abweichungen von dem ab, was kurz davor noch Mode war. Strukturell könnte man sagen, dass Mode von der institutionalisierten Normabweichung lebt. Dabei impliziert Normabweichung keinen moralischen Aspekt, sondern lediglich eine Veränderung des materiellen Angebots und der Zuschreibungen durch das Modesystem, woraus eine Veränderung der Wahrnehmung und des ästhetischen Urteils der Konsumierenden resultiert. Neuheit in der Mode ist also, wie in Kapitel 1.4 bereits ausgeführt, keine absolute Kategorie und nur teilweise – wenn überhaupt – in materiellen Änderungen begründet. Neuheit ist vor allem eine diskursive Hervorbringung, die Rückwirkungen auf Realitäten im Sinne von menschlichen Wahrnehmungen hat und weitere Diskurse hervorbringt. Und sie ist relevant innerhalb der kulturellen Hierarchisierung: »Die Produktion des Neuen ist die Forderung, der sich jeder unterwerfen muss, um in der Kultur die Anerkennung zu finden, die er anstrebt.« (Groys 1992, 11) Verschiebt man die Perspektive auf das Neue ein wenig, kommt man zum Konzept des Anderen, von Alterität. Mode kommt nur zustande, wenn die Sinne gereizt werden und nicht nur dem Status, sondern auch dem ganz privaten Narzissmus der Konsumierenden geschmeichelt wird (was am Ende in Kauflust resultieren soll). Das gelingt nur, indem im modischen Angebot immer wieder auf etwas zurückgegriffen wird, das als »Anderes« oder »Fremdes«, als neu, fremdartig, exotisch ausgegeben wird. Die modekonstitutive Dynamik weckt also immer die Sehnsucht nach dem Neuen, das ein Versprechen des ganz Anderen macht. Zugleich befriedigt sie diese Sehnsucht wenigstens kurzfristig durch das aktuelle Angebot, das ein wenig Anderes (oder nur den Anschein des Anderen Erweckendes) mit viel Eigenem mischt. Das so genannte Andere ist aber gerade in der Mode ebenso wie das Neue eine diskursive Hervorbringung, die sich an bestimmte Materialitäten und Stile heftet. Ihr Ursprung ist entweder das »eigene« Vergangene (die Zitation von vergangenen Moden), oder es kann ein räumlich oder kulturell Anderes sein, das als Fremdes präsentiert wird. Orientalismus,
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Exotismus, ethnische Moden: das sind Stichworte, die das »Fremde« in der Mode aus europäischer/westlicher Perspektive seit Jahrhunderten bezeichnen. Neben dem räumlich und kulturell Anderen kann auch die jeweils eigene Vergangenheit als Form der Alterität gelten, eine Erkenntnis, die sich, ausgehend von der Mittelalterforschung (Jauss 1977), in Literatur- und Kunstwissenschaft seit Ende der 1970er Jahre durchgesetzt hat. Die Vergangenheit einer Kultur ist ihrer Gegenwart so fern und so fremd wie das räumlich/philosophisch Fremde. Sie wird auf diese Weise zum Anderen der eigenen Gegenwart. Sie wird aber im kulturellen Gedächtnis auf bewahrt, wenn auch – wie in der Mode – oft nur in rudimentären Resten. Ein drittes Anderes ist zu nennen, ein kategorial von den eben Genannten verschiedenes Anderes: nämlich die Natur als das Andere der Mode (oder umgekehrt). Hier tut sich die Problematik des Gegensatzes von Natur und Kultur auf, die hier im Einzelnen nicht durchdiskutiert werden kann. Wichtig ist mir an dieser Stelle, dass Natur bzw. Natürlichkeit von Modekritikern, aber auch Modemachern auf der Suche nach dem Neuen, immer wieder als Gegenentwurf zu »verkünstelten« Moden aufgerufen wird. Das wird mittlerweile tatsächlich als Gegenentwurf zu den zerstörerischen Seiten der aktuellen Modeindustrie relevant, oder anders gesagt: als die Frage, ob und wenn ja wie Mode überleben kann, ohne an der Vernichtung des Planeten weiter mitzuwirken. Alterität in der Mode ist also zu bestimmen entweder als historische oder als kulturelle Alterität (beide Aspekte sind der Mode immanent), oder als ein kategorial Anderes zu »Mode«. Im einen Fall wird das eigene Vergangene recycelt, im anderen Falle wird ein Fremdes übernommen und einverleibt. Im dritten Fall geht es zunächst ganz banal um klassische Modeschelte, aber schließlich auch um den Zustand und Bestand der Mode selbst, wie sie heute ist. Um alle drei Aspekte geht es im Folgenden. Vorab noch kurz eine kurze Klärung der Begriffe. Die Begriffe »Alterität« und »Identität« spielen in den Kulturwissenschaften seit einigen Jahrzehnten eine Schlüsselrolle. Die Diskussion wurde stark beeinflusst von Edward Saids bahnbrechender, mittlerweile vielfach kritisierter bzw. weiter geführter Studie »Orientalism« von 1978 (Said 1994). Saids These ist, dass »der Orient« keine materielle räumliche Gegebenheit sei, sondern eine diskursive Konstruktion der imperialistischen und industriellen Länder des Westens (Europas und der USA). Sie benötigen den Orient als das grundsätzlich »Andere«, dem sie bestimmte Eigenschaften zuschreiben, um sich als das »Eigentliche« setzen zu können, um also ihre eigene »Identität« zu konstituieren. So wird Identität als unmarkierte erst geschaffen in der Projektion eines Anderen. Damit einher geht immer eine Hierarchisierung, d.h., dass auf diese Weise ein Machtverhältnis installiert wird. Ähnlich argumentieren die feministische und Gender-Forschung, denen zufolge das Männliche das Weibliche als sein markiertes »Anderes« benötigt und folglich überhaupt erst konstituiert, um sich selbst als das Eigentliche, als Identität schlechthin zu setzen. Mithin sind Alterität und Identität eng aufeinander bezogen, ja bedingen einander; es handelt sich um Setzungen/Zuschreibun-
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gen, die konkrete gesellschaftliche Folgen wie Machtstrukturen hervorbringen. Die gleichen Zuschreibungen werden auch in vielen anderen Zusammenhängen vorgenommen; es handelt sich vermutlich um Prozesse, die fast allen Identitätskonstruktionen zugrunde liegen. Andrea Polaschegg (2005) differenziert die Begrifflichkeit aus. Sie entlarvt die häufig angeführte Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden als falsch und schlägt demgegenüber zwei klar abgrenzbare Begriffspaare vor: das Eigene/das Andere bestimme sich durch Differenz und beschreibe Operationen von Identitätskonstitution; das Vertraute/das Fremde bestimme sich durch Distanz und beschreibe Prozesse des Verstehens. Beide Begriffspaare sind für die Untersuchung von Mode unter dem Aspekt der Rezeption unterschiedlicher Einflüsse wichtig. Gerade in der Mode wird deutlich, wie komplex Bezüge zwischen dem Anderen und dem Eigenen, dem Anderen und dem Fremden, dem Fremden und dem Vertrauten sind. Typisch für die Mode ist, wie schnell das Andere, das als Fremdes ausgegeben wird, zum Eigenen und im nächsten Schritt auch vertraut gemacht wird. Andererseits können manche Elemente einen (schwachen) Signalcharakter von Andersartigkeit behalten, etwa das ursprünglich persisch-indische Paisleymuster, obgleich sie längst den westlichen Moden einverleibt worden sind. Sie sind vertraut geworden und behalten dennoch eine Konnotation von Fremdheit und Alterität bei, weil diese durch visuelle Zitationen und diskursive Praktiken jahrhundertelang wach gehalten werden, wie schwach auch immer. Das Vertraute scheint einer auf beständig neue Reize setzenden Welt langweilig. Das Andere, das Fremde zumal, birgt ein Versprechen. Und da die Mode davon lebt, dass sie Versprechen macht, braucht sie dringend die Inspiration aus dem Fremden und dem Anderen – und wenn es nur ein diskursiv produziertes Anderes oder Fremdes ist. Oft aber bietet das Andere tatsächlich ein materielles Reservoir an Stilen, Materialien und Ideen an, aus dem sich die aktuelle Mode immer wieder bedient. In den gegenwärtigen globalen Moden ist das Spiel mit dem Fremden längst zur Selbstverständlichkeit geworden, und da es nur noch wenig wirklich Anderes und Fremdes zu geben scheint, müssen die unterschiedlichen Alteritäten immer wilder kombiniert werden, um überhaupt noch neue Reize zu suggerieren. Dazu zählt immer wieder auch Natur/Natürlichkeit als neue Inspiration der Mode. Denn tatsächlich ist, auch wenn es, außer von Modekritikern, nie ausgesprochen wird, Mode nie natürlich.
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F OKUS 1: D AS G EDÄCHTNIS DER M ODE »Die Mode ist immer ›retro‹, aber auf der Basis der Abschaffung des Vergangenen beinhaltet sie den Tod und die gespenstische Wiederauferstehung von Formen. Gerade die ihr eigene Aktualität bedeutet keine Bezugnahme auf die Gegenwart, sondern eine totale und unmittelbare Verwertung früherer Formen [...] Ästhetik der Wiederholung: die Mode bezieht ihre Frivolität aus dem Tod und ihre Modernität aus dem ›déja-vu‹. Sie beinhaltet die Verzweiflung darüber, dass nichts Bestand hat, und die perverse Lust am Wissen, dass jenseits dieses Todes jede Form die Möglichkeit zu einer zweiten Existenz hat [...].« 1
Was heißt es konkret, dass Mode Gedächtnis habe oder gar sei? Zunächst einmal ist das eine bloße Metapher. Die Mode ist kein Lebewesen mit Sinnen und einem Gehirn, die Erinnerungsprozesse ermöglichen würden. Tatsächlich ist damit die der Mode grundsätzliche Dynamik des Recycling gemeint: das ständige Sterben und Wiederbeleben veralteter Formen und Bilder2 . Um 1800 orientierte sich die Mode an der römische Antike; im 19. Jahrhundert wurden mittelalterliche oder Renaissance-Moden zitiert, Christian Diors New Look schöpft Ende der 1940er Jahre aus dem Fundus der Moden des 19. Jahrhunderts. Ähnlich der Intertextualität lebt die Mode vom Zitat, davon, dass die materiellen Formen, die ihre Grundlage bilden, immer schon ein Echo vorgängiger materieller Formen darstellen. Aber nicht nur die Materialität wird zitiert, sondern vor allem – so rudimentär auch immer – auch die damit verbundenen Ideen, Bilder, Phantasien. Mode ist deshalb ein besonders wichtiges Medium3 des individuellen wie des kulturellen Gedächtnisses. Das individuelle Gedächtnis koppelt häufig die Erinnerung an wichtige Ereignisse des Lebens an die Erinnerung an die Kleider, die man damals trug und die längst nicht mehr passen oder unmodisch geworden sind. Die materiellen Artefakte selbst tragen Spuren der Körper, die sie getragen haben; manche Modeausstellung legt inzwischen von dieser individuellen, sichtbaren Geschichte des Artefakts Zeugnis ab, statt unversehrte, makellos restaurierte Kleider zu zeigen 4 . Als kulturelles Gedächtnis bewahrt Mode in Zitaten und Anspielungen der wechselnden Stile ebenso wie in ihrer Präsentation in Museen die vestimentären Vergangenheiten auf. Zur Mode gehört von Anfang an, dass sie Moden früherer 1 2 3 4
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Baudrillard 1982 (Orig. 1976), 134. Lehnert 2009a; Baudrillard 1982. Medien sind Kommunikationskanäle in materieller und virtueller Form. Vgl. de la Haye 2012.
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Zeiten und fremder Kulturen zitiert, mit Elementen von Geschichte spielt und auf diese Weise Geschichte und Geschichten – oder besser: deren Bruchstücke – bewahrt. Denn es werden immer nur einzelne Elemente übernommen, niemals die gesamte Mode, zu der auch immer ihr ursprünglicher sozialer Kontext gehört. Gerade weil soziale Kontexte sich ändern, können veraltete Moden in einem aktuellen Kontext neu wirken – es ist mithin auch der veränderte Kontext, der sie »neu« erscheinen lässt. Aleida Assmann (2006) nennt Schrift, Bild, Körper und Orte als Medien kulturellen Gedächtnisses. Erinnerung ist nie einfach da, sondern stets medial vermittelt, ganz gleich, ob es sich um individuelle oder kollektive Erinnerung handelt. Medien fungieren als »Vermittlungsinstanzen und Transformatoren zwischen individueller und kollektiver Dimension des Erinnerns. So können persönliche Erinnerungen erst durch mediale Repräsentation und Distribution zu kollektiver Relevanz gelangen.« (Erll 2005, 122). Medien sind nun freilich keine neutralen Träger von irgendetwas, sondern erzeugen oft erst das, was sie zu enkodieren scheinen. Oder anders gesagt: »Die erinnerungskulturell wirk- und bedeutsamen Vergangenheiten sind damit den Medien nicht äußerlich. Es sind mediale Konstrukte.« (Erll 2005, 124). Mode kann folglich als Medium des Erinnerns5 betrachtet werden. Sie bewahrt die Vergangenheit in materiellen Spuren auf, de-kontextualisiert und rekonstruiert sie. Materielle Spuren sind die Kleider und Accessoires selbst, aber auch Abbildungen in Kostümbüchern oder Modezeitschriften. Sie können Vorstellungen davon auslösen, wie sich die Kleider angefühlt haben, und in jedem Fall zeigen sie, wie sie ausgesehen haben – wenigstens idealiter. Denn jede Präsentation eines Kleides aus dem 18. Jahrhundert, sei es im Museum, sei es in ein Bild transformiert, schafft ein Ambiente, das die Rezeption des Kleides beeinflusst, denn es kann nur eine bestimmte Ansicht oder Auffassung des Kleides gezeigt werden. Es ist für immer seinem eigenen Kontext entrissen, auch wenn dieser noch so sorgfältig rekonstruiert wird. Umso mehr gilt das für moderne Kleider, die alte Kleider zitieren. Fasst man diese Arbeit als Form der Erinnerns auf, wird erkennbar, dass Erinnern auch als Erinnerung in materieller Form selten einfach abbildet, sondern neu schafft, dass sie »eine Form der Wirklichkeitskonstitution und aktiven Welterzeugung ist« (Erll 2005, 123). Schon 1900 entwickelte Sigmund Freud (Freud 1972) in der Traumdeutung die Theorie, dass Erinnern nicht zuverlässig sei im Sinne einer exakten, intersubjektiv überprüfbaren Wiedergabe der Wirklichkeit. Sie sei vielmehr immer schon durch das Vergessen und Erinnern selbst verändert. Menschen selektieren nicht nur aus der Fülle des Erlebten und Gesehenen, sondern sie richten die Erinnerung zu: So werden Zusammenhänge hergestellt, so entstehen sinnvol5 | Erinnern meint den dynamischen, aktiven Prozess; Erinnerung ist dessen gleichsam geronnenes Resultat, das im Gedächtnis abrufbar ist, wenn auch immer in veränderter Gestalt.
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le Geschichten, die man sich über das eigene Leben und dessen Kohärenz erzählt. So entsteht Sinn. Neben das bewusste Erinnern tritt die amorphe Masse des Verdrängten, der Erinnerungen, die man nicht mehr weiß – aber die Grenze zwischen beiden ist beweglich, sie kann sich verschieben, Verdrängtes kann ins Bewusste gehoben und integriert werden und verändert folglich die eigene Geschichte (im doppelten Sinne). Erinnern ist kreativ, es kann neue Erinnerungen schaffen. Wir können Geträumtes wie Wirkliches erinnern, oder auch: Filme, Gelesenes: alles das kann, wenn es mit der entsprechend hohen emotionalen Intensität wahrgenommen, d.h. erlebt wurde, wie ein Eigenes erinnert werden. Aleida Assmann (2006) unterscheidet in Bezug auf das kulturelle Gedächtnis Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis als die zwei grundlegenden Modi der Erinnerung. Im Speichergedächtnis werden Erinnerungen eingelagert und – so hofft man – unverändert bei Bedarf wieder abgerufen. Demgegenüber steht Erinnern als lebendiger Prozess sinnstiftender Vergegenwärtigung. Tatsächlich aber sind beide miteinander verquickt bzw. sie verhalten sie sich komplementär zueinander. Erinnerung durchläuft im Prozess des Erinnerns Veränderungen. Sie ist niemals, wie das Konzept des Speichers es vorsieht, einfach abruf bar und unverändert reproduzierbar, sondern es finden ständige Transformationen statt; das, was reaktiviert wird, ist nicht mehr das, was eingelagert wurde. Beide Modi der Erinnerung müssen durch Institutionen bzw. medial gestützt werden. Das lässt sich auf die Mode übertragen, wenn man sie als Medium kulturellen Gedächtnisses versteht. Hier würden die Institutionen ersetzt durch die konkreten Modeentwürfe und die realisierten Artefakte, die vergangene Moden zitieren. Mode speist sich sehr willkürlich aus dem Speichergedächtnis, d.h. aus der Sammlung vorhandener Bilder, Formen und Stile. Auch Bedeutungen alter Moden können wieder abgerufen werden, denn sie sind oft schriftlich oder bildlich festgehalten und der Erforschung zugänglich. Manche Bedeutungen haben sich, ungeachtet aller formalen Wandlungen der Moden durch die Jahrhunderte, bis heute gehalten, wie z.B. bestimmte Geschlechterbilder. Jeder Rock, den eine Frau trägt, ist in der westlichen Welt eine Form kulturellen Gedächtnisses, denn Röcke sind hier nach wie vor als Zeichen für Weiblichkeit definiert. Hosen galten ursprünglich als ganz den Männern vorbehalten, sie gelten immer noch als Ausweis von Männlichkeit, auch wenn sie längst von Frauen adaptiert worden sind. Aber der Rock hat sich als Bekleidung für Männer in Europa und den USA ungeachtet mancher Bemühung avantgardistischer Designer noch nicht durchgesetzt. So kann man Hosen und Röcke immer auch als Erinnerung an eine festgeschriebene Geschlechterdifferenz lesen.6 6 | Interessant ist in diesem Zusammenhang die Idee der Migration von Bildtypen, Motiven, ja »Archetypen«, die Aby Warburg in seinem Mnemosyne-Konzept verfolgt. Ignoriert man Warburgs Unterstellung der Zwangsläufigkeit einer organischen Entwicklung und berücksichtigt ausschließlich die Idee einer Rekurrenz von Bildformeln, die geschaffen und tradiert werden und wie alle Zeichen wieder erkennbar sind, lasst sich das ohne weiteres
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Obwohl in modischer Hinsicht angeblich nichts lächerlicher und un-modischer ist als die Mode von gestern, lebt die Mode unter anderem von den Moden von gestern, vorgestern und vor einem Jahrhundert. Die Mode von gestern muss lächerlich sein, damit der Drang nach einer neuen Mode entsteht. Die wiederum verwendet das Alte, denn wie alle kulturellen Praktiken muss sie sich eines Reservoirs von Bildern und Bedeutungen bedienen, die gleichsam in einem kulturellen Speicher aufbewahrt werden. Damit bewahrt die Mode freilich zwangsläufig immer auch die Lächerlichkeit des Veralteten auf. Fremd an der eigenen kulturellen Vergangenheit sind mithin einerseits die Kleider in ihrer Materialität selbst, andererseits die mit ihnen verbundenen Lebensweisen. Bis in die Moderne konnte sich nur ein verschwindend geringer Prozentsatz der Bevölkerung modische Kleidung leisten; das waren die Aristokraten, dann auch die wohlhabend werdenden Kaufleute, Handwerker und andere Bürgerliche. Kleiderordnungen schrieben freilich lange Zeit vor, wer was tragen durfte und was nicht, so dass eine freie Verfügung über Modisches keineswegs gegeben war. Die Menschen lebten so völlig anders als wir heute, dass ihr Umgang mit Mode zwar rekonstruierbar ist, aber oft nicht mehr nachvollziehbar. Es sind also oft eher soziale Strukturen, die den heutigen relativ fern sind, als die Kleider selbst – auch wenn diese durchaus selbst etwas äußerst Befremdliches haben können, wie die »zerhauene« Mode der barocken Landsknechte, die Schamkapseln des 15. und 16. Jahrhunderts, die gigantischen Reifröcke und die aufgetürmten »coiffures« des 18. Jahrhunderts – alles das scheint heute eher fremd und vertraut höchstens aus Kostümfilmen. Vieles davon ist eher als durch tatsächliche Anschauung durch die Transformation solcher Moden in Filme vertraut geworden, d.h. hier steht eine Instanz zwischen den Moden und den heutigen Betrachtenden, die die Moden längst transformiert und den medialen Zwecken angepasst hat. Die Kenntnis vergangener Moden entpuppt sich plötzlich als Kenntnis eines filmischen Bildes vergangener Moden. Ein seit langem berühmtes Beispiel für den virtuosen Umgang mit Moden der Vergangenheit ist Vivienne Westwood (*1941), Kennerin der europäischen Kunstund Modegeschichte, die sie unablässig zitiert. Es gelingt ihr stets, aus dem Zitierten etwas völlig Neues zu machen, das in Vergangenheit und Gegenwart gleichermaßen beheimatet ist. Sie führt vor, dass Originalität nicht mehr heißt, aus gleichsam göttlicher Inspiration etwas gänzlich Neues zu schaffen, sondern mit dem Vorgefundenen neu umzugehen, es zu de-kontextualisieren und dann zu rekontextualisieren. Wenn Westwood von »Eleganz« spricht, ist auch das eine intertextuelle Aktualisierung älterer Vorstellungen. Aber sie versteht darunter etwas anderes, als traditionell mit dem Begriff verstanden wird. Westwood kreiert eine Mode, die der Trägerin durch Mieder und Drapierungen, enge Schnitte und Plaauf Kleidermode übertragen. Hinzu kommt im Falle der Mode die über Jahrhunderte wirksame starke affektive Kraft mancher Moden (wie des Paisley-Schals), die man durchaus mit der der »imagines agentes« vergleichen kann (Warburg 2000).
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teauschuhe Halt und Haltung gibt, statt sie im Jogginganzug verlottern zu lassen. Sie inspiriert sich unter anderem an den Halbweltdamen des Fin de Siècle – nicht umsonst heißt eine ihrer Kollektionen »Vive la cocotte«. Und nicht zufällig waren es ja die ausgehaltenen und käuflichen Frauen, die im 19. Jahrhundert einen großen Einfluss auf die modische Entwicklung hatten, was den Bürgerfrauen oft keineswegs bewusst war. Westwoods Mode hat immer Sex Appeal. Ihr Körperbild entspricht der Eieruhrsilhouette des 19. Jahrhunderts. Sie betont die traditionellen Weiblichkeitsattribute wie Busen, Po und schlanke Taille, und das in so übertriebener Weise, dass das Zitat des Alten zu einem neuen, durchaus ironischen Ergebnis führt. Ernst gemeint ist jedoch ihre Wirkung innerhalb der heteronormativen Geschlechterordnung der Moderne: Sex Appeal im altmodischen Sinne einer Verführung der Männer durch die Frauen – der voyeuristische männliche Blick ist immer mitgedacht, er ist integraler Bestandteil von Westwoods Mode, die auf diese Weise die Kluft zwischen den Geschlechtern betont. Darin ist sie ganz dem 19. und auch dem 18. Jahrhundert verpflichtet. Dieses Bild wiederum bezieht sie nicht nur aus den erhaltenen Kleidern der Zeiten, sondern auch aus zeitgenössischen Gemälden sowie aus Filmen, die die opulenten Moden des 18. und 19. Jahrhunderts in Szene setzen. Es ist also notwendigerweise eine vermittelte Erinnerung, die etwas völlig Neues schafft. Vergleicht man Modelle von Rei Kawakubo (Comme des Garçons) mit denen von Vivienne Westwood, stellt man bei allen offensichtlichen Unterschieden erstaunliche Gemeinsamkeiten fest: Beide entwerfen einen modischen Körper, der mit dem anatomischen Körper nur noch sehr wenig zu tun hat. Drapierungen, Ausbuchtungen, prothetische Erweiterungen setzen beide ein – nur sitzen sie bei Westwood da, wo unsere an europäischen Sehgewohnheiten geschulte Wahrnehmung sie erwartet, nämlich an jenen Stellen, die kulturell als erotisch kodiert sind. Man denke auch an Christian Diors New Look aus den späten Vierzigerjahren, der wiederum auf die Mode des 19. Jahrhunderts zurückgreift: Betonung von Hüften und Busen durch Polster. Das galt und gilt als schön und erotisch reizvoll. Boris Groys schreibt zutreffend: »Jedes Neue wird letztlich danach bestimmt, inwieweit es sich im historischen Vergleich, der von den Archiven ermöglicht wird, vom Alten unterscheidet.« (Groys 1992, 35) Folglich unterscheide sich das Neue vom »bloß Differenten dadurch, dass es in eine Beziehung zum wertvollen und im gesellschaftlichen Gedächtnis auf bewahrten Alten gestellt wird.« (Groys 1992, 44) Daraus kann man folgern, dass die Zitation vergangener Moden sich einerseits auf besonders »wertvolle« Aspekte des Vergangenen beruft, aber andererseits das Zitierte gerade durch die Zitation affirmiert als »wertvollen« Bestand des kulturellen Gedächtnisses. So wird deutlich, dass, da Geschlecht und Erotik im modischen Gedächtnis immer wieder (visuell und sprachlich) thematisiert werden, sie folglich präsent bleiben und daher immer noch zu den wichtigen Bilder-Reservoirs der modischen Kultur gehören. Rei Kawakubo setzt die Erweiterungen der Körper in ihrer bereits mehrfach erwähnten, da paradigmatischen Kollektion von 1997, »Body Meets Dress Meets
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Body«, gezielt dahin, wo sie gewöhnlich als hässlich und unnatürlich gelten: auf den Bauch, auf den Rücken oder quer über die Hüfte oder, in Form kleiner flügelähnlicher Auswüchse, auf die Schulterblätter. Dass die zeitgenössische Kritik das hässlich fand, liegt an Sehgewohnheiten. Das Prinzip ist das gleiche wie das Westwoods, Kawakubo verschiebt es nur. Aber die Verschiebung ist entscheidend. Kawakubo »erinnert« europäische Moden der Vergangenheit. Erinnernd kommentiert sie europäische Moden, aber nicht im Detail, sondern als Prinzip, und macht durchschaubar, wie sie funktionieren. Die Befremdung, die von ihren Moden ausgeht, ist größer als die von Westwoods Moden. Denn während Westwood europäische Moden und ihre Prinzipien übertreibt, aber bestätigt, dekonstruiert Kawakubo sie, nimmt sie auseinander, fügt sie neu zusammen und macht ihre Konstruktion und Konstruiertheit erkennbar. Darum wirken ihre Stücke befremdlich, fremd im wahren Sinne des Wortes. Die Erinnerung hat einen anti-affirmierenden, einen subversiven Charakter. Das Erinnern will gar nicht aufrufen, was »wirklich« war, sondern sie will es kommentieren und in seiner bereits »ursprünglich« vorhandenen Konstruiertheit ausstellen. Hinzu kommt, dass Rei Kawakubo nicht nur europäische/westliche, sondern auch japanische und andere Traditionen aufnimmt und zitiert; etwa die Art und Weise, wie ein Kimono getragen wird und wie er mit dem Körper umgeht, der nicht primär als geschlechtlicher geformt wird. Denn der Körper wird durch Polsterungen konisch geformt und so auf den Kimono vorbereitet. Damit bringt sie zwei Gegensätze zusammen, die sich eigentlich ausschließen: das klassische japanische Prinzip der Verhüllung der Körper und das europäische Prinzip der Erotisierung der Körper. Das ist paradox – und genial. Denn gerade im Paradox liegt der Kern der Mode, der selten so genau in einem Entwurf realisiert wird. Während also Westwood auf dem Unterschied der Geschlechter insistiert, ihn zum zentralen Aspekt ihrer Moden macht und damit bei aller »Neuheit« deren Traditionsbindung affirmiert, ignoriert Kawakubo ihn, ja sie lässt ihn kollabieren. Das Spiel von Verhüllen und Enthüllen findet bei ihr ebenso statt wie bei anderen, ja mehr noch, da ihre Moden oft drapiert, angelegt, verändert werden müssen, nicht ein für alle Mal fest sitzen. Aber dabei geht es um die Verhüllung und Enthüllung der Stoffe, der unzähligen Schichten und überraschenden nicht-funktionalen Elemente7, und nicht um eine Verhüllung der Körper, die eine Enthüllung als notwendige Folge hätte. Niemals geht es um ein Zur-Schau-Stellen der Körper als sexuelle Körper, im Gegenteil: Kawakubo bekleidet den weiblichen Körper nicht als »weiblichen Körper«, sondern behandelt ihn als dreidimensionalen Raumkörper, den sie zusammen mit ihren Kleidern zu einer lebenden Skulptur von neuartiger, nie da gewesener Formgebung macht (vgl. Kapitel 2.4 und 2.5). Kawakubos dekonstruktive Mode kommentiert also nicht nur andere Kleider, wie Barbara Vinken geschrieben hat, oder vorgängige Moden und die Prinzipien 7 | Was durchaus im Sinne von Tanizaki Jun’ichiros »Lob des Schattens« (2010) ist, wie in Kap. 2.4 und 2.5 dieses Buches dargelegt wird.
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von Mode, wie ich ergänzen würde. Sie kommentiert außerdem die heteronormative Geschlechterordnung der westlichen Moden (vgl. Kap. 2.4). Es ließen sich viele moderne Beispiele für das Zitieren alter Moden nennen. So hat sich das niederländischen Designer-Duo Viktor & Rolf das Sammeln, Montieren, das Verfremden neuer Kleider mit alten Stilen und Ideen zum künstlerischen Prinzip gemacht. Alexander McQueen arbeitete, ähnlich Westwood, in der klassischen englischen Schneidertradition und verfremdete diese noch radikaler, als Westwood es tut. Karl Lagerfeld gelingt es seit Jahrzehnten, den typischen Chanel-Stil zu erneuern und doch immer wieder die ursprünglichen Entwürfe Coco Chanels durchscheinen zu lassen. Mode, wie eingangs behauptet, lebt vom Wiederholen, von der Notwendigkeit, das Alte als Neues aufleben zu lassen. Aber dabei wird das Alte Versatzstück. Eine ganz klassische und heute schon wieder radikale Methode ist das Recycling konkreter Materialien. Der konzeptionelle Modeschöpfer Martin Margiela setzte nicht nur Vergänglichkeit in Szene, indem er Kleider von Bakterien zerfressen ließ (so wie Hussein Chalayan Kleider für einige Wochen in Erde vergrub, um sie dem natürlichen Veränderungsprozess preiszugeben). Er kreierte außerdem Kleidungsstücke aus gebrauchter Kleidung, die er auseinander nahm und neu zusammensetzte; oder auch aus kleidungsfremden Materialien wie Keramik. Manche Labels machen das Recyceln explizit zum Programm: Schmidttakahashi aus Berlin beispielsweise arbeiten nur mit alten Kleidern, nehmen sie auseinander, ohne die Spuren der TrägerInnen zu vernichten, setzen sie neu zusammen und schaffen dadurch ganz neue Kleider, die immer noch die Spuren der alten tragen. Flecken, Löcher, Beulen – nichts davon wird weggenommen, sondern es wird, als Spur der persönlichen Geschichte des Kleidungsstücks, integriert in das neue Kleidungsstück. Zugleich wird die Erinnerung an modische Trends der (jüngsten) Vergangenheit, für die das alte Kleid steht, nicht nur aufgerufen, sondern buchstäblich erhalten und integriert: eine spezielle Form kultureller Erinnerung. Auf diese Weise machen die Modemacherinnen anschaulich, wie Mode funktioniert: durch Nachahmung, De-kontextualisierung und Re-kontextualisierung, durch Montage und Bricolage. Auf diese Weise entsteht etwas Neues, das einer anderen, postmodernen Vorstellung von Originalität entspricht und nicht mehr den seit der Genie-Ästhetik um 1800 gängig gewordenen Konzepten. Kurz: Mode als Medium kulturellen Gedächtnisses kann als Paradigma dafür gelten, wie Erinnern funktioniert: fragmentarisch, de-kontextualisierend, re-kontextualisierend. Aus Erinnertem, das ausgewählt, verändert, neu perspektiviert und kontextualisiert wird, entsteht ein Neues, das sich als kohärent präsentiert und doch grundsätzlich heterogen ist. Mode führt die Willkür des Erinnerns vor Augen, denn die Wiederbelebung alter Formen ist oft unvorhersehbar und willkürlich. Sie folgt eher dem Bedürfnis nach dem Neuen als einem Bedürfnis nach Wiederholung von Ideen oder Bedeutungen. Diese sind in der Mode ohnehin mit Vorsicht zu genießen. Mode kann zwar als Indiz für Zeitgeist, für soziale und politische Prozesse gedeutet werden. Aber sie erschöpft sich nicht in dieser
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konkreten Zuschreibung. Sie hat ganz wesentlich teil an der Stil- und Formengeschichte, aber diese Geschichte ist weder teleologisch noch organisch, sondern sprunghaft, voller Brüche, willkürlich. So wird der reale vergangene Kontext oder auch die ursprüngliche Funktion historischer Kleidungsstücke oder Kleidungsstile durch die aktuellen Moden im besten Falle wie ein fernes Echo aufgerufen. Häufig scheint er als bloß imaginäre Phantasie von ferne auf, gespeist nur aus der Kenntnis von Fiktionen über die Vergangenheit, z.B. in Kostümfilmen und (historischen) Romanen. Das zunehmend beschleunigte Recycling modischer Elemente, von Stilen und Formen lässt die Mode zu einem Reservoir sinnentleerter Zeichen werden, die spielerisch nach Lust und Laune eingesetzt werden. Sind visuelle Ereignisse, Stile und Formen wichtiger als Bedeutungen? Ist die Neuheit schlechthin zum Inhalt geworden? Ich meine in der Tat, dass das ein wesentlicher Aspekt von Mode ist, vorausgesetzt, man betrachtet sie nicht vorrangig als soziales Zeichensystem, sondern als ästhetisches Spiel mit dem Möglichen – und als Prozess in der Zeit, als unablässiges Streben nach einer Gegenwart, die in ihrer prekären Position zwischen Vergangenheit und Zukunft niemals einzuholen ist. Das ändert freilich nichts an ihrer eminenten Bedeutung als Medium kulturellen Gedächtnisses – gerade weil es so lückenhaft und willkürlich ist. Und schließlich: Nur die Mode erlaubt es, spielerisch und angstfrei nicht nur mit der Vergangenheit, sondern mit der Vergänglichkeit selbst umzugehen. 1824 lässt der italienische Romantiker Giacomo Leopardi in einer satirischen Modeschelte Mode und Tod in einen Dialog treten: »Mode: Ich bin die Mode, deine Schwester. Tod: Meine Schwester? Mode: Ja. Weißt du denn nicht, dass wir beide Kinder der Vergänglichkeit sind? Tod: Wie sollte ich mich entsinnen, da ich ein Erzfeind des Gedächtnisses bin? Mode: Aber ich entsinne mich noch gut und ich weiß, dass uns beiden der Sinn danach steht, die Dinge hienieden unablässig zu verwandeln und aufzulösen.« 8
Weiter erklärt Frau Mode dem (im Italienischen weiblichen) Tod, dass sie ihm zuarbeite, weil sie dafür sorge, dass die Menschen sich Schaden zufügen. Indem sie blindlings der Mode folgen, verlieren sie ihre Gesundheit aus dem Auge. Die enge Schnürung der Körper, die viel zu dünnen Stoffe führten, in Verbindung mit viel zu wenig körperlicher Bewegung innerhalb kürzester Zeit zu Siechtum und einem frühen Tode. Ja selbst die Seele leide Schaden, denn kein Mensch befasse sich mehr mit Moral, Würde oder gar Tod und Unsterblichkeit. Es gehe nur noch darum, so modisch wie möglich zu sein. Mit anderen Worten: In einer modebesessenen Kultur gehen alle Werte moralischer wie ästhetischer Art verloren, sie werden erst betäubt und schließlich ersetzt durch die rasende Geschwindigkeit, 8 | Leopardi 1979.
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mit der die Mode sich voranbewegt und die für alle, die ihr folgen, zum puren Selbstzweck wird. Allerdings, so behauptet Frau Mode, sie selbst sei unsterblich. Darin beruht ihre Macht: Die Mode ist ein dauerhaftes Prinzip, das Vergänglichkeit produziert9 .
F OKUS 2: D AS FREMDE A NDERE Europäische Mode ist in ständigem Austausch mit »fremden« Kleidertraditionen entstanden. Geht man davon aus, dass Mode Wechsel bedeutet und der Wechsel nicht nur dem Wunsch nach Abwechslung, nach neuen Reizen und Angeboten entspringt, sondern diesen Wunsch auch hervorbringt, muss man Mode sehr viel früher ansetzen als in der Moderne. Bereits die Kreuzzüge brachten modische Anregungen nach Europa, die schnell vereinnahmt wurden. Die Mauren in Spanien, die Entdeckung der Amerikas, der seit dem 17. Jahrhundert florierende Handel mit dem Orient – ohne alles das gäbe es kaum die westliche Mode, wie sie heute erscheint, und es wird klar, dass Mode kein genuin europäisches/westliches Phänomen oder beschränkt auf die Moderne ist. Die Geschichte der europäischen Mode ist ohne das kulturell und räumlich Fremde und Andere gar nicht denkbar. Beispielhaft steht dafür der Orient – also ein Dispositiv, das Phantasien und Imaginationen hervorbringt. Unter dem Orient verstand man im 18. Jahrhundert alles das, was östlich von Europa lag, wie die große Encyclopédie von Diderot und d’Alembert schreibt: Arabien, Asien, Persien, Russland, so dass »orientalisch« fast ein Synonym für »exotisch« zu sein scheint. Das gilt auch für die Mode, die sich als global und absolut setzt: Mode ist ein europäisches Phänomen mit – seit dem 17. Jahrhundert – dem Zentrum Paris. Die Phantasie vom Orient funktioniert als Motor der Mode, treibt immer wieder Neues hervor und hält die Imagination in Gang, gerade weil sie das ganz Andere buchstäblich und sinnlich erlebbar zu verkörpern scheint – und zwar sowohl als begehrtes und gefürchtetes Bild vom als sinnlich phantasierten »Anderen« wie auch als buchstäblich sinnliche Erfahrung mit den konkreten Materialien, den Stoffen, den Steinen, den Metallen usw. Für Mode als wichtige Praxis der (Selbst-)Ästhetisierung in der westlichen Welt ist der Orient mit seinen kulturell zugeschriebenen atmosphärischen Werten anscheinend unwiderstehlich. Orientalismus impliziert nicht nur ein Machtverhältnis, sondern ist auch ein Begehren nach dem sinnlich Schönen, mit dem das Orientalische in Europa immer wieder assoziiert wurde. Neben Begehren löst es aber auch Angst vor dem anderen aus. Ashwani Sharma und Sanjay Sharma entwickeln die überzeugende These, der weiße Universalismus identifiziere sich mimetisch mit »otherness as an idealized object«, um den eigenen Universalismus aufrechtzuerhalten. Allerdings könne 9 | Diese Argumentation habe ich andernorts bereits ausführlicher verfolgt, z.B. Lehnert 2009a.
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dieser Narzissmus schnell zur Paranoia werden, wenn das Subjekt nicht da sei, wo es in der weißen Logik hingehöre, heißt: wenn es nicht mehr der Andere sei und desorientierende Formen von Gegen-Mimesis (counter mimesis) stattfinden. Dem könne begegnet werden, indem der Westen den Orient einverleibe im Versuch, nicht »der Andere« zu werden, sondern besser als der Andere (Sharma/Sharma 2003). Der Angst vor dem Fremden kann außerdem durch Fragmentierung und Einverleibung begegnet werden. Fragmentierung erlaubt die Absorption des Fremden am besten10, um so mehr, als Mode unmittelbar in die sinnliche und emotionale Erfahrung des Individuums eingeht und Körperpraktiken hervorbringt. Typisch für Mode als Interaktion mit dem Anderen und dem Fremden ist mithin von Anfang an, dass diese Begegnung sich stets als Einverleibung fremder Elemente exotischen Charakters realisiert. Damit ist Mode in hohem Maße exemplarisch für das, was von Edward Said als europäischer Orientalismus analysiert worden ist. Durch die Konstruktion des Anderen und Fremden konstituiert sich die europäische Mode als das Eigene und Vertraute, als das »Eigentliche«, und sie schafft sich zugleich ein Reservoir von Bildern und Stilen, mit dessen Hilfe sie den Reiz des immer Neuen ständig erneuern kann. Als Fabrikation der westlichen Welt hat der Orientalismus seine realen Ursachen in Handel und Eroberungen, aber er verschleiert seine Herkunft, um als Traumbild funktionieren zu können. Auch die Mode verschleiert ihre kommerziellen Ursprünge, um zum Traumbild und zur Wunschproduktion zu werden. Dass sie dabei auch vereinnahmt, ist die andere Seite der Phantasieproduktion. Eingeschrieben in diese Phantasieproduktion sind zwangsläufig die sozialen und ökonomischen Kontexte, in denen Mode zustande kommt. Das gilt um so mehr für orientalisierende Moden, in die immer, auch wenn sie als zweckfreies Märchen aus 1001 Nacht erscheinen mögen, die tatsächlichen Machtverhältnisse eingeschrieben sind, die immer auch die von Kolonisierenden und Kolonisierten sind. Seit der Öffnung der Handelswege nach Asien im 17. Jahrhundert existiert ein florierender internationaler Markt für Luxusgüter, die nach Europa importiert wurden und mit denen man sehr viel Geld verdienen konnte11 . Am Anfang steht also keineswegs die Sehnsucht nach dem Anderen, sondern diese Sehnsucht wird durch die Öffnung von globalen Handelswegen und den Import fremdartiger Luxusartikel überhaupt erst hervorgebracht, und bald wird der ökonomische Ursprung unsichtbar gemacht. Die Produkte wurden früh schon für den europäischen Markt gefertigt, so dass die vermeintliche »Authentizität« der Originale ein Mythos ist. Sie sind vielmehr immer schon intentional für einen bestimmten westlichen Markt hergestellt. Rasch wurden Muster, Stile und Techniken in Europa nachgeahmt, so dass 10 | Vgl auch Koda/Martin 1994, 10: »The power of costume is in its capacity to be absorbed.« 11 | Siehe Riello/Tirthankar 2009; Riello/Lemire 2008; McCabe 2008; Berg 2003 u.a.
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Luxusgüter aus dem Orient häufig nur Imitate waren – das schlug sich im Preis nieder, der dann meist günstiger war. Hochwertige originale Paisley-Schals aus Indien kosteten ein Vermögen; die im schottischen Paisley gefertigten waren in der Regel erschwinglicher. Wenn im 20. Jahrhundert China als ein Land gescholten wurde, das nichts Eigenes produziere, sondern nur Imitate herstelle, dann ist das eine Umkehrung der Verhältnisse aus dem 18. Jahrhundert. Was bleibt, ist Nachahmung als Motiv der Mode und damit einer wachsenden Wirtschaft. Wobei man berücksichtigen muss, dass spätestens seit dem 18. Jahrhundert die Austauschbeziehungen wechselseitig waren und die »orientalischen« Länder ihrerseits Europäisches übernahmen, freilich zunächst im Kontext einer Kolonisierung, die mit Zwang die europäischen Kleider und Gebräuche einführte, was dann aber im Laufe der Jahrzehnte eine Eigendynamik entwickeln kann 12 . Orientalismus in der Mode funktioniert zumindest bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in folgenden Kategorien: (1) als Ethnomaskerade, das ist der Versuch, sich dem Fremden vestimentär anzunähern; (2) als theatrale Maskerade, die nie vorgibt, das Andere zu sein (Konuk 2004); und schließlich (3) als ästhetisches Spiel, die das aufregende Neue als ästhetischen Reiz sucht. Ethnomaskerade ist »the performance of an ethnic identity through the mimicking of clothes, gestures, appearance, language, cultural codes, or other components of identity formation« (Konuk 2004, 1). Mary Wortley Montagu lebte 1718 für kurze Zeit mit ihrem Mann, dem britischen Botschafter, in Istanbul, und veröffentlichte viele Jahre später, 1763, einen Reisebericht darüber in Form von Briefen (Montagu 1994). Sie interessierte sich für das Leben der Türken, insbesondere der Frauen, und kleidete sich schließlich türkisch, um ihre Vertrautheit mit der fremden Kultur zu dokumentieren. Es handelt sich also um eine Form der Identitätsbildung, die freilich bestimmte Grenzen nicht überschreitet; Kader Konuk bezeichnet es als »unbeschwerte Ethnotravestie – ein Verkleidungsspiel, das [...] keine weiteren Konsequenzen für die eigene Identität mit sich bringt und in erster Linie dazu genutzt wird, um den Reiz kultureller Alterität am eigenen Leibe zu erfahren« (Konuk 2003, 75). Theatrale Maskerade wäre demgegenüber nicht nur die Adaptation orientalischer Kostüme für das Theater, sondern auch eine Praxis, sich in orientalischem Kostüm porträtieren zu lassen wie Madame de Pompadour, die sich 1750 von Carle van Loo als Sultanin malen ließ und sich auf diese Weise – entsprechend einer bekannten Ikonographie orientalischer Weiblichkeit – als sinnliche Frau inszenierte, was sie als maîtresse-en-titre des Königs durchaus tun musste. Zugleich aber spielt dieses Bild an auf den sozialen Status der Dargestellten, die als die mächtige erste Dame des Harems den höchsten Anspruch auf die königliche Gunst (beim notorisch untreuen König) hat. Eine politische Machtdemonstration 12 | Diese kann durchaus mit Homi Bhabhas Konzept der Mimikry in Verbindung gebracht werden (Bhabha 2004).
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also und zugleich der Versuch, Vergangenes zu retten und in eine Zukunft zu übermitteln, in der sie nicht mehr am Leben sein würde. Paul Poirets opulentes Maskenfest, auf dem 150 Jahre später orientalische Kostüme getragen wurden, ist hingegen eine orientalisierende Theaterinszenierung, die parallel zu den Erfolgen der Ballets Russes in Paris entstand bzw. von diesen inspiriert war. Die Kostüme hätte man niemals im Alltag getragen; es verband sich mit ihnen kein Anspruch auf Zugehörigkeit, sondern nur der der Exklusivität und des Besonderen, vergleichbar den Défilés der heutigen Haute Couture: Poiret macht damit Werbung für seine Moden. Solche Inszenierungen haben zweifellos Einfluss auf die Moden gehabt, wie sie in Zeitschriften propagiert und tatsächlich getragen wurden. Trotzdem – und das ist die dritte Version der Orientalismus-Adaptation, die bis heute geläufig ist, nämlich das ästhetische Spiel – übernahm die Mode im engeren Sinne niemals ganze Kostüme oder Stile, sondern nur Fragmente. Mit ihnen wird gespielt, sie werden modifiziert und mit anderen Elementen montiert. Am einfachsten war die Übernahme von Stoffen, Stoffmusterungen. Seltener übernommen wurden einzelne Kleidungstypen wie der Kimono, der Ende des 19. Jahrhunderts modern wurde, aber vollkommen zu einem körperbetonenden Kleidungsstück umfunktioniert wurde, was er in Japan niemals war. Importiert wurde für Männer im 18. Jahrhundert der »bunyan«, ein Hausmantel, und die dazu passende Kopfbedeckung. Adaptiert wurden Typen von Kopfbedeckungen (der Schleier und der Turban, beide bereits seit dem Mittelalter); schließlich Schmuck, Muster, Methoden der Drapierung. Und last but not least führte man im 18. Jahrhundert Namen ein, die sich zu vagen Vorstellungen verdichten: man nennt im 18. Jahrhundert bestimmte Kleider »à la turque«, »à la circassienne«, »à la polonaise«, aber es ist oft nicht wirklich auszumachen, was das spezifisch Orientalische an solchen Stilen sein sollte. Im 20. Jahrhundert, in dem die Moden sich ausdifferenzieren zu vielen unterschiedlichen Segmenten und Stilen, werden die Übernahmen selbstverständlicher. Die Hippies der Sechziger übernahmen ethnische Elemente aus verschiedensten Bereichen, und ihr Stil wurde in gemäßigter Form in die Mainstream-Mode übernommen. Die italienische Firma Etro machte in den Neunziger Jahren das Paisley-Muster zu ihrem Markenzeichen und arbeitete von Anfang an mit unterschiedlichen, nicht immer eindeutig lokalisierbaren ethnischen Elementen. Dries van Noten wurde mit seinen Ethnomoden berühmt, die ebenfalls das Prinzip des Synkretismus manifestieren. Niemals wird ein Kleidungsstück ganz und gar indisch, arabisch, afrikanisch sein; stets verarbeitet er unterschiedliche Elemente zu einem hybriden Neuen. John Galliano nutzt die Mode der Welt als Reservoir für seine überbordend phantasievollen Kollektionen. Nichts von dem, was die heutigen ModemacherInnen übernehmen, ist unbekannt – neu ist nur mehr die Art und Weise, wie sie kombinieren, wie sie dekontextualisieren und rekontextualisieren.
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In der globalisierten Gegenwart haben sich neue Praktiken entwickelt, die man mit David Howes als »Cross Cultural Consumption« (Howes 1996) bezeichnen kann. Kulturelle Mechanismen der Identitätsbildung bilden sich heraus, die mit Homi Bhabha als Hybridisierung oder allgemeiner im globalen Sprachgebrauch als »Fusion« (Fashion) bezeichnet werden könnten. So lassen sich in der gegenwärtigen globalen Mode Tendenzen erkennen, die auf Selbstorientalisierung und Okzidentalisierung als Strategien des Modedesigns setzen (Lehnert/Mentges 2013). Für DesignerInnen aus den Industriestaaten sind die globalen Moden weiterhin ein beliebtes Inspirationsreservoir, aber das gilt inzwischen auch für die ModemacherInnen aus aller Welt, die an Selbstbewusstsein gewinnen und regionale wie globale Trends zu eigenständigen Stilen verbinden. Und die bislang modisch nicht als eigenständig auffallenden Länder holen auf. Fashion Weeks werden weltweit durchgeführt (van der Zwaag 2005), Märkte expandieren, die lokale Produktion verändert sich durch Interaktion mit der Globalisierung (Nagrath 2005), und es wird notwendig, Mode neu zu definieren. Und doch hat sich an den Hierarchien noch nicht viel geändert. Noch immer hält sich die Mode der Industriestaaten für maßgeblich, und die hässliche Seite des globalen Modemarkts ist die hemmungslose Ausbeutung von Ressourcen und Arbeitskraft in Asien und Afrika. Die Industriestaaten lassen in Niedriglohnländern ihre Artikel fertigen, ganz gleich, ob diese dann als teure oder billige Produkte auf den Markt kommen. Kinderarbeit ist an der Tagesordnung, die Menschen arbeiten unter menschenunwürdigen und ungesündesten Bedingungen unglaublich lange und verdienen trotzdem nicht einmal genug für ihren Lebensunterhalt. Die lange Kette der Subunternehmer erlaubt es zu übersehen, was eigentlich vorgeht, und am Ende steht ein Produkt, dass – egal ob billig oder teuer – als modischer Artikel in Europa oder den USA verkauft wird, ohne dass man wissen möchte, wie er zustande gekommen ist. Längst ist bekannt, wie das System funktioniert. Und dennoch funktioniert es. Die großen Firmen wie die Konsumierenden verschließen die Augen vor dem, was sie wissen, aber nicht wissen möchten, weil auf allen Ebenen der Wunsch nach dem »Neuen« dominiert, übersetzt: auf der Ebene der Ökonomie zählt der Umsatz, auf der Ebene der Individuen der Wunsch oder gar die Sucht nach immer neuen ästhetischen Reizen und nach der vermeintlich unendlichen Möglichkeit der ständigen Selbstgestaltung. Spätestens seit den jüngsten Katastrophen in Pakistan und Bangladesch ist nicht mehr zu übersehen, wer die Leidtragenden der Produktion von Textilien für die Industriestaaten sind. In Pakistan kamen im September 2012 fast 300 TextilarbeiterInnen bei einem verheerenden Brand ums Leben, da sie in nicht feuersicheren Fabrikhallen eingesperrt waren. In Bangladesch stürzte im April 2013 ein mehrstöckiges Fabrikgebäude ein; mehr als 1000 Menschen starben. Immerhin gibt es nun Abkommen von mehr als tausend großen
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Textilkonzernen, sich auf die Einhaltung von besseren Sicherheitsstandards zu verpflichten, aber es sind keineswegs alle Firmen den Abkommen beigetreten 13 . Das ist der Aspekt der Globalisierung von Mode, in dem der phantastische Reiz des als fremd Empfundenen nur noch als zynische Reminiszenz erscheint.
F OKUS 3: D ER TR AUM VON N ATÜRLICHKEIT, ODER : N ATÜRLICHKEIT UND A RTIFIZIALITÄT — ZU EINEM GRUNDLEGENDEN P AR ADOX DER M ODE Modegeschichte ließe sich strukturieren, indem man zwei grundsätzlich differente Modeauffassungen einander gegenüber stellt: solche, die sich als »natürlich« verstehen (oder vermarkten), und solche, die ganz selbstverständlich ausschließlich von Artifizialität ausgehen. Dass die Trennlinien nicht immer scharf zu ziehen sind, sei vorausgeschickt, aus heuristischen Gründen wird in der folgenden Skizze von einer Dichotomie ausgegangen. Grundsätzlich hat Mode nichts mit Natur zu tun. Tatsächlich lässt die bloße Existenz der Mode als grundlegendes Verfahren ästhetischer Selbst-Gestaltung die Phantasie von einer voraussetzungslosen natürlichen Schönheit und Anmut kollabieren. Im Hinblick auf Gestaltungsprinzipien, Herstellung und die modischen Alltagspraktiken der VerbraucherInnen ist Mode das Andere von Natur. Noch viel radikaler aber präsentiert sich der Gegensatz zwischen Mode und Natur/Natürlichkeit, wenn man an den aktuellen Massenkonsum denkt, an Fast Fashion (schnelle Produktion, mehrere Kollektionen pro Jahr, rasche Nachahmung der Designermode) 14 und die damit notwendigerweise bislang noch verbundenen Produktionsbedingungen, zumeist in Asien, durch die Unmengen giftiger Chemikalien nicht nur in die Kleider gelangen, sondern ganze Landstriche verwüsten, Flüsse vergiften und Menschen töten. Das hat mit Natur auf ganz konkrete und materielle Weise nichts mehr zu tun, denn so wird Natur – im Sinne natürlicher Ressourcen – zerstört. Und auch wenn ein Produkt möglicherweise aus Naturfasern wie Baumwolle besteht, so bleibt doch von Natur nichts übrig, wenn es auf diese Weise hergestellt worden ist. Es sind also zwei Dimensionen zu berücksichtigen, wenn man vom wechselseitigen Ausschluss von Mode und Natur/Natürlichkeit spricht: einerseits die modische Gestaltung, also die formale, stets mit Zuschreibungen und Phantasien verbundene Seite; und die Seite der Produktion, des Umgangs mit natürlichen Ressourcen und der konkreten materiellen Beschaffenheit der Produkte.
13 | www.spiegel.de/wirtschaft/service/bangladesch-textilkonzerne-versprechen-mehrsicherheit-a-900237.html (20.05.2013). 14 | www.nachhaltigkeit.info/artikel/fast_fashion_1770.htm?sid=3d8e43cd635c7916c d044b411bede183 (24.05.2013).
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Zum ersten Punkt, der Gestaltung: »Natürlichkeit« wird im Modediskurs immer wieder beschworen. Mode sei Ausdruck des natürlichen Körpers, sie bringe die natürliche Schönheit hervor, sei Ausdruck der Persönlichkeit. Das schlägt sich in Trends nieder, die in unregelmäßigen Abständen die »Exzesse« der Mode reformieren und zur Natürlichkeit zurückkehren wollen. Jean-Jacques Rousseaus Modeschelte im 5. Buch seines Erziehungsromans »Emile oder Über die Erziehung« drückt das pointiert aus: »Alles, was die Natur hemmt und behindert, zeugt von schlechtem Geschmack. Das gilt sowohl für den Putz des Körpers wie für den Geschmack des Geistes.« (Rousseau 1993, 397) Als Vorbild nennt er die Antike, die noch die natürlichen Maße der Körper gekannt und geschätzt hätte: Rousseau versteht die Kunst gleichsam wörtlich und meint, die antiken Statuen hätten reale Menschen dargestellt. Tatsächlich handelt es sich um Idealisierungen, was lange verkannt wurde. So konnte man aus den antiken Proportionen eine scheinbar von der Natur vorgegebene Norm machen, der die verdorbene Gegenwart des 18. Jahrhunderts nicht mehr entspreche: »Es ist bekannt, dass die bequeme und unbeengte Kleidung viel dazu beitrug, beiden Geschlechtern die schönen Proportionen zu bewahren, die man an ihren Statuen sieht und die heute noch der Kunst als Vorbild dienen, weil ihr unter uns die verschandelte Natur keines mehr bietet. Sie kannten keine von diesen mittelalterlichen Fesseln, von diesen Unmengen von Wickeln, die unsere Glieder von allen Seiten einschnüren. Ihren Frauen waren Schnürleiber unbekannt, durch die unsere Frauen ihre Hüften eher verunstalten als betonen. Ich bin überzeugt, dass dieser in England bis zur Unfaßbarkeit getriebene Mißbrauch das Menschengeschlecht zur Entartung treibt, und ich behaupte sogar, daß das Gefallen, das man darin findet, schlechten Geschmack verrät. Es ist eben nicht erbauend, eine Frau zu sehen, die wie eine Wespe in zwei Teile zerstückelt ist. Das beleidigt das Auge und verletzt die Phantasie. Die Hüftweite hat, wie alles andere, ihre Verhältnisse und ihr Maß. Wird sie unterschritten, so ist es eben ein Schönheitsfehler: dieser Fehler würde selbst am nackten Körper ins Auge fallen! Warum soll er dann unter der Kleidung schön sein?« (Rousseau 1993, 396/97)
Rousseau geißelt modische Exzesse als Folge einer Depravierung der zivilisierten Gesellschaft, die jedes Verhältnis zur Natur verloren habe. Sein Idealbild ist das einer »natürlichen« Gesellschaft, in der die Natur des Menschen in all ihrer angeborenen Schönheit und Güte zum Vorschein kommen kann. Schönheit ist für ihn noch ein absolutes Konzept, das sein Vorbild in der Antike findet und nicht bezweifelbar ist; und Schönheit und Natürlichkeit sind für ihn untrennbar. Würde sich diese Auffassung wieder durchsetzen, so meint er, dann bedürften Frauen keiner »unnatürlichen« Mode mehr, um die Männer erotisch anzuziehen. Ihre Anziehungskraft würde in schlichter, also seiner Auffassung nach natürlich-schöner Kleidung liegen, in natürlich-anmutigem Verhalten, in guten Manieren und vor allem der Beschränkung auf ihre wahre natürliche Bestimmung: ihrem Mann zu gefallen und seine Kinder großzuziehen. Kurz: In
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ihrer Natürlichkeit, die sich ganz besonders in ihrer Kleidung manifestierten soll. Was Rousseau aber als natürliche Kleidung schildert und was er als natürliche Anmut beschreibt, wird sehr mühselig hervorgebracht: durch Dressur und indirekten Zwang. Die Romanheldin Sophie durchläuft eine Erziehung, von der sie unter dem Vorwand der Herausbildung ihrer wahren Natur zurechtgestutzt wird. Und was sie auf dem Leibe trägt, ist natürlich nichts anderes als Mode. Nur scheinen diese Modekleider »natürlicher«, weil sie die Taille weniger einschnüren, weil die Reifröcke kleiner sind oder entfallen, weniger Aufputz verwendet wird. Wenn man aber diese scheinbar natürlicheren Moden aus heutiger Sicht betrachtet, kommen sie uns immer noch reichlich üppig vor und keineswegs dem »natürlichen« Körper entsprechend. Natürlichkeit ist also offensichtlich ein Konstrukt, das dringend seines Gegensatzes bedarf, der Künstlichkeit – und d.h. immer auch: der Mode. Nur als Gegenentwurf zur Mode scheint Natur sich konturieren zu lassen (vgl. zur Mode in der Literatur des 18. Jahrhunderts auch Lehnert 2008b). Abbildung 15: Daniel Nikolaus Chodowiecki: Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens, Erste Folge, 1778
Ähnlich Rousseau macht der Kupferstecher Daniel Chodowiecki in seiner berühmten Kupferstichserie »Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens« (1778/79) unfreiwillig deutlich, wie sehr das, was in einer bestimmten Zeit als natürlich gilt, immer schon ein zeitgebundenes Bild von Natürlichkeit ist, ein modisches Konstrukt also. Denn zwar sind seine »affectirten« Paare einigermaßen überzeichnet, was Haltung, Bewegung und Kleidung angeht. Aber seine »natür-
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lichen« Paare sind nicht weniger modisch: sie verkörpern nur ein stärker zurückgenommenes Bild des modischen bürgerlichen Menschen. Dieser versteht sich eben nicht als modisch, sondern als natürlich, um damit einen Gegenentwurf zur Aristokratie zu präsentieren. Er trägt nicht nur schlichtere Kleidung, sondern bildet eigene Identitäten und Lebensstile aus. Modekritik, die in ihrem Gegenentwurf auf Natürlichkeit setzt, meint damit also häufig nur eine Reduktion des modischen Aufwandes. Der frühe Modetheoretiker Christian Garve erklärt 1792, es gebe zwei Arten von Schönheit, eine mehr und eine weniger veränderliche. Die weniger veränderliche sei Dingen eigen, »deren Natur für uns zum voraus bestimmt ist«, so dass sie »auch nur durch eine bestimmte Form gefallen können«, das ist Naturschönheit, die unabhängig von der Einbildungskraft sei. Die andere beziehe sich auf Dinge, »die wir entweder erst selbst bilden, oder deren Wesen wir nur durch einen allgemeinen Begriff bestimmen, unter den wir sie fassen«. Sie können auf die verschiedenste Weise in unterschiedlichen Formen gefallen (Garve 1987, 37). Und schließlich gibt es »ein unabsehbares Gebiet von Formen, die mit keinem bestimmten Begriffe verknüpft, an keine durch eigentümlichen Bau und stets ähnliche Fortpflanzung sich auszeichnende Natur gebunden sind.« In dieses Gebiet gehört die Mode, die zwar immer eine Art von Schönheit habe, diese aber sei – modern gesagt –willkürlich, »zufällig« und abhängig von der »Einhelligkeit vieler«, also vom Konsens derjenigen, die sich der Mode verschrieben haben (Garve 1987, 40/41). Sachlich und systematisch definiert Garve in philosophisch-ästhetischen Begriffen Mode als das, was nicht der Naturschönheit entspricht, also als Nicht-Natur, folglich als künstlich. Häufiger jedoch findet man keine sachliche Auseinandersetzung, sondern Polemik gegen die »Exzesse« der Mode. Das gehört von Anfang an zur Mode, fängt lange vor Rousseau an und reicht über Friedrich Theodor Vischer bis in die Gegenwart. Positiv äußert sich als einer der wenigen Charles Baudelaire, der Modekleidung und Schmuck bezeichnet als »un des signes de la noblesse primitive de l’âme humaine« (Baudelaire 1976, 716). Für ihn macht erst die Künstlichkeit – also die Mode – die Schönheit und Würde der Menschen, insbesondere der Frauen, aus; die Natur gilt ihm nicht mehr als edel und schön, sondern als abstoßend, grausam und hässlich (vgl. Kap. 2, Exkurs). Im Geiste der Modeschelte sind jene Moden zu verstehen, die sich selbst als natürlich bezeichnen. Ein spektakuläres Beispiel ist die europäische Empire-Mode um 1800. Eine indirekte Folge der politischen Umwälzungen, die die Französische Revolution mit sich gebracht hatte, orientierte sie sich an der Kleidung der römischen Antike; gemeint war damit nicht zuletzt die römische Republik. Das heißt nicht, dass diese Mode politisch gewesen wäre; Politik schafft keine Kleidermoden, sondern kann sie höchstens anregen. Die Idee der alternativen modischen Konzepte ist es fast immer, Schlichtheit und Körperbetonung wieder in die Kleidermode einzuführen. So trugen die Damen um 1800 pastellfarbene, oft weiße Kleider aus leichten, nicht selten transparenten Stoffen (Mousseline z.B.), de-
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ren Taille unter den Busen gerutscht war und die wenig Aufputz hatten. Darunter trugen sie hautfarbene Strumpfhosen oder Bodies (um die modernen Begriffe zu verwenden). Der Körper wurde gezeigt – aber er wurde tatsächlich neu gestaltet und nur als gestalteter gezeigt. Denn zwar gab es keine Wespentaillenschnürung mehr und keine ausladenden Röcke, die den Unterkörper versteckten, aber natürlich gab es formende Elemente der Unterkleidung, und Beine hatten die Damen noch lange nicht, denn ihre Röcke waren meist doch stoffreich und lang genug, um weiterhin den Unterkörper zu verhüllen. Der Oberkörper wurde kleiner, denn er begann nun nicht mehr in der Taille, sondern mit der Brust. Entsprechend vergrößerte sich der Unterkörper von der Brust abwärts bis zu den Füßen. Die Natürlichkeit dieser Mode um 1800 bezieht sich vorrangig auf die Formgebung und die Farben und Ideologie. Die Materialien waren ohnehin noch weitgehend natürlich, denn es gab noch keine Kunstfasern. Die Herren blieben bei ihren Anzügen, die ja mittlerweile offenbar ohnehin als einigermaßen »natürlich« galten. In Gender-Perspektive könnte man sagen, dass der Männeranzug von dieser Epoche an zum Maßstab des Menschlichen schlechthin naturalisiert wurde, von der sich das Künstliche der Damenmoden als das markierte Andere absetzt. Lang hielt sich diese Mode nicht, und es setzte sogar eine heftige Gegenbewegung ein, in der die kreisrunden Krinolinenröcke gigantische Ausmaße ereilten und der Aufputz der Kleider, also die Dekorationen, die auf dem Kleid angebracht wurden, immer üppiger wurden. Das ist dann die Zeit, in der Charles Baudelaire im »Peintre de la vie moderne« sein Lob der Schminke und der Mode singt und erklärt, Natur sei hässlich und brutal, nur Künstlichkeit veredle, darum sei die Mode das einzige, was Frauen überhaupt liebenswert und menschlich mache (vgl. Kapitel 2, Exkurs). Selbstverständlich wurde heftige Kritik an dem geübt, was man als Übertreibungen der jeweiligen Moden ansah, und viele Ärzte traten auf den Plan und attackierten massiv die Korsetts mit ihren radikalen Körperformungen, weil sie die Frauenkörper von klein an deformierten und die Frauen krank machten. Die modischen Frauen hat das nicht gehindert, sich weiter zu schnüren. Schlichtheit der Kleidung und des Auftretens wurde vor allem für junge Mädchen gefordert, das genügte schon, um sie als »natürlich« wahrzunehmen.15 Die Moden der 1920er Jahre und der 1960er Jahre nahmen ebenfalls mehr Natürlichkeit in Anspruch, weil sie auf schlichtere Schnitte und auf Jugendlichkeit setzten. Und alle modischen bzw. Design-Reformbewegungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts propagierten die Notwendigkeit, die in ihren Augen übertriebene und längst menschenfeindliche und gesundheitsschädliche Artifizialität der Moden zu reduzieren und ihnen eine wahrhaft natürliche Mode entgegen zu setzen. Gemeint ist damit in der Regel: Kleider, die als schön galten, weil sie nach Meinung der ReformerInnen dem menschlichen Körper und den menschlichen Bedürfnissen angemessen waren. Tatsächlich wollten ja die Arts 15 | Wie die Normen für altersgerechte Kleidung sich in den Jahrhunderten veränderten, wäre eine eigene Studie wert.
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and Craft-Bewegung um William Morris, Henry van de Velde, die Wiener Werkstätten oder die russischen Konstruktivisten das gesamte Umfeld der Menschen, d.h., ihr gesamtes Leben, reformieren und auf Prinzipien zurückführen, die, wie sei meinten, das Leben vor der Industrialisierung bestimmt hätten: Einklang mit der Natur, Funktionalität statt Verschwendung und Überfluss, Handwerk und Kunstgewerbe statt industrielle Massenproduktion ohne Seele, die Menschen ausbeute und verelende. Die Reformbewegungen ebenso wie die Moden der Zwanziger- und Sechzigerjahre verstehen sich fast ausnahmslos als Rebellion gegen etablierte Moden, die sowohl als saturiert und überaltet wie auch als artifiziell und damit »gegen die Natur« gebrandmarkt werden. Damit verbunden ist immer auch eine Dichotomisierung von Jugend und Alter, wobei Jugend erstaunlich oft mit Natur gleichgesetzt wird. Hier liegt denn auch der Übergang vom Aspekt Gestaltung zum dem der Rohstoffe und der Produktionskette, also dem zweiten Aspekt der Natürlichkeitsthematik in der Mode. Es gibt Parallelen der Reformbewegungen zu heutigen Diskussionen über grüne Mode, Öko-Mode und seit einiger Zeit auch verstärkt vegane Mode, über ethischen Konsum, Nachhaltigkeit und Fair Trade. Diese Konzepte greifen zum Teil ineinander, existieren aber auch getrennt voneinander und sind grundsätzlich dadurch gekennzeichnet, dass sie versuchen, andere Werte zu propagieren als die üblicherweise mit Mode bzw. der Konsumkultur allgemein verbundene Schnelllebigkeit und Auswechselbarkeit. Die Diskussion hat sich zugespitzt, weil die modischen Neuheiten und Billigprodukte immer schneller auf den Markt drängen, naturferne Kunstfasern mittlerweile gang und gäbe sind (und sich ja längst auch intelligente Fasern weit von aller Natur entfernt haben), die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen ebenso wie von Arbeitskräften ungeheure Ausmaße erreicht hat, die Verarbeitung der Stoffe und Kleider oft gesundheitsschädlich für Produzierende und Verbrauchende ist und der Abfall nicht mehr entsorgt werden kann, weil viele Kunstfasern nicht abbaubar oder kompostierbar sind (vgl. z.B. Fletcher/Grose 2012). Kurz, weil der ungebremste Massenkonsum mit allen seinen Begleiterscheinungen (vereinfacht gesagt) über kurz oder lang den Planeten zugrunde richten wird. Der textile Bereich gehört maßgeblich zu den Verursachern. Er ist der fünftgrößte wirtschaftliche Sektor mit weltweit 40 Millionen Beschäftigten, davon 19 Millionen in China, 2,7 in der EU (Black 2012, 9), und er verbraucht mehr Energie und Wasser als jeder andere Sektor. Dabei ist Wasser nicht ausschließlich in der Herstellung von Kunstfasern relevant. Die Herstellung von Polyesterartikeln, die nicht biologisch abbaubar und folglich Müll für ewig sind, benötigt erheblich weniger Wasser als Baumwolle, die, dicht gefolgt von Viscose, ebenfalls ein aus Naturfasern bestehender Stoff, am meisten Wasser verbraucht. Im Anbau von Baumwolle werden Unmengen von Pestiziden eingesetzt, nämlich weltweit Chemie für etwa 2 Billionen US-Dollar jährlich, die Hälfte davon wird von der Weltgesundheitsorganisation als gefährlich eingestuft (Fletcher/Grose 2012, 22). Zudem sind 50
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Prozent der Baumwolle weltweit genetisch manipuliert. Baumwolle – eine Naturfaser? Sandy Black (2012, 8) betont: »everyone is implicated in the destructive aspects of this endemically unsustainable system, where obsolescence is inbuilt«, was nichts anderes heißt, als dass der gesamte Lebenszyklus eines Produkts betrachtet werden muss, wenn man seine »Natürlichkeit« und Nachhaltigkeit beurteilen will, von der Faser über die Verarbeitung und Verschickung bis hin zu den Konsumierenden, deren Kaufverhalten ebenso wie deren Umgang mit den Kleidern und schließlich die Entsorgung. Daher gehören in die Diskussion von Mode und Natur/Natürlichkeit auch die Themen Nachhaltigkeit, Fair Trade und ethischer Konsum. Sie alle haben scheinbar mit Natur und Natürlichkeit zu tun, aber man muss hier genau differenzieren, was im Einzelnen gemeint ist. Grüne Mode, Eco Fashion oder Öko-Mode16 setzt nicht auf Menge, billige Preise und kurze Haltbarkeit, sondern – zumindest im Prinzip, wenn auch nicht immer in der Praxis – auf die Qualität des Produkts und seiner Produktion, und schließlich auf Natur und Natürlichkeit. Davon sind die Konsumierenden ebenso betroffen wie die Herstellenden und schließlich die Natur/Umwelt auch. Natur bedeutet hier vor allem, dass natürliche Rohstoffe verwendet werden, also Naturfasern, und im besten Falle – aber nicht zwingend – auch noch, dass sie biologisch und umweltschonend angebaut und verarbeitet werden. Aber oft ist das, was z.B. als Bio-Baumwolle angepriesen wird, durch einen langen Prozess der Verarbeitung mit chemischen Mitteln gegangen. Was bleibt da noch von der Natürlichkeit des Produkts übrig? Nicht alle Zertifikate, die inzwischen an vielen Kleidungsstücken zu finden sind, garantieren, dass das Stück sowohl aus natürlichen biologisch angebauten Materialien als auch umwelt- und sozialverträglich verarbeitet und verschickt worden ist, denn meistens beziehen sie sich auf einen einzigen Aspekt der gesamten Kette17. Tatsächlich genügt es nicht mehr, auf Natur zu setzen, indem man Kleidung aus Naturfasern kauft, sondern es muss, wenn man auf Natur und Umweltverträglichkeit setzt, die gesamte Kette berücksichtigt werden. Entsprechend definieren Kirsten Diekamp und Werner Koch Eco Fashion bzw. grüne Mode als: »nachhaltige, hautverträgliche Textilien, die fair gehandelt, umweltfreundlich und sozialverträglich aus Naturfasern produziert oder aus re16 | Vgl. unter anderem das Themenheft von Fashion Theory 2008. Zur Geschichte der Ökomode seit den Siebzigerjahren und zum gegenwärtigen Stand siehe z.B. Diekamp/Koch 2010. 17 | Am umfangreichsten zertifizieren IVN mit dem Label Best (http://naturtextil.de/ profil.html) und International Working Group on Global Organic Textile Standard mit dem Label GOTS (www.global-standard.org/de/the-standard.html); ferner Cradle to Cradle (C2C) (http://epea-hamburg.org/en/content/service). Erläuterung der Siegel z.B. in Diekamp/Koch 2010, Kapitel 8 und 9; oder auf: www.brigitte.de/mode/trends/guetesiegeltextilien-1160293.
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cycelten Materialien hergestellt werden.« (Diekamp/Koch 2010, 160) Das Konzept »Cradle to Cradle« (C2C) vertritt »die Vision einer abfallfreien Wirtschaft, bei der Firmen keine gesundheits- und umweltschädlichen Materialien mehr verwenden und alle Stoffe dauerhaft Nährstoffe für natürliche Kreisläufe oder geschlossene technische Kreisläufe sind«18. Auch die grüne Mode lebt von der Idee, natürlich zu sein. Auch hier greifen spezifische Strategien der Zuschreibung, die keineswegs immer die empirische Realität hinsichtlich der Rohstoffe und deren nachhaltiger Nutzung, der Fertigung und des Vertriebs realistisch wiedergeben. Wie verträgt sich der Anspruch grüner Mode mit dem Zwang zur Vermarktung, und d.h. auch: wechselndes Angebot, massenhafte Produktion, Werbung etc.? Hier kommt das Konzept der Nachhaltigkeit ins Spiel, das eine verantwortliche Nutzung von natürlichen Ressourcen, eine verantwortliche Verarbeitung und einen Vertrieb der Produkte fordert, die Menschen und Umwelt schonen, um auch der Zukunft noch etwas übrig zu lassen 19 . Ein wichtiger Aspekt nachhaltiger Mode ist außerdem, dass weniger Kleider mit längerer Lebensdauer und besserer Gestaltung produziert und angeboten werden sollen, dass die Konsumierenden sich weniger kaufen und die Stücke als Lieblingsstücke lange Jahre tragen können. Damit gewönne tatsächlich das, was ich so vehement vertrete, nämlich die Amalgamierung von Körper und Kleid, eine andere, umfassendere Realität. Und Shopping, so Anne Teresia Wanders (2009), wäre dann nicht mehr die wichtigste Freizeitaktivität von Menschen. Damit würde der fatale KonsumKreislauf unterbrochen. Die ineinander greifenden Dimensionen der Nachhaltigkeit sind Ökonomie, Ökologie und Soziales, denn keine einzelne davon kann Nachhaltigkeit garantieren. Auch Recycling kann eine Form nachhaltigen Konsums sein. Wenn Vintage angesagt ist, werden alte Kleider weiter verwendet, ganz gleich, ob sie aus Naturfasern sind oder nicht, oder wie sie hergestellt worden sind. »Upcycling« bedeutet, dass z.B. aus Lagerbeständen von Textilfabriken, aber auch von Bundeswehr oder der DDR-Armee neue Kleidung hergestellt wird, wie es beispielsweise der finnische Onlineshop »Globe Hope« tut.20 »Grün« sind solche Moden nicht, da es nicht auf die Fasern selbst ankommt, sondern die Verwertung vorhandenen Materials – und das ist zweifellos eine Variante von Nachhaltigkeit in der Modebranche. Und wenn junge Modemacherinnen wie Schmidttakahashi oder viel früher schon das dekonstruktive Label Martin Margiela gebrauchte Kleider in neue Kleidung umarbeiten, ist das die zur Neuheit aufgewertete Wiederaufnahme einer alten, aus der Not geborenen Praxis, Kleidung – auch modische – so 18 | www.nachhaltigkeit.info/artikel/fast_fashion_1770.htm?sid=3d8e43cd635c7916 cd044b411bede183 (24.05.2013) 19 | Grober 2013; Pufé 2012; ferner »Lexikon der Nachhaltigkeit« (www.nachhaltigkeit. info/artikel/definitionen_1382.htm; 28.05.2013). 20 | Viele weitere Beispiele in Black 2008; Diekamp/Koch 2010.
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lange zu verwerten wie nur irgend möglich, sei es, dass man sie selbst änderte, sei es, dass man sie an Dienstboten verschenkte, die sie auch ihrem Stand anpassen, also sie verändern, mussten; bis sie schließlich beim Altkleiderhändler oder gar Lumpensammler endete. Fair Trade schließlich bezieht sich auf den fairen Umgang mit Produzierenden, die ihre Arbeit unter guten Bedingungen verrichten und angemessen entlohnt werden sollen; das Fair Trade-Siegel wird nur verliehen, wenn diese Kriterien erfüllt sind, und macht angesichts der Fülle von kursierenden Bezeichnungen wie Bio, Öko etc. für die Verbrauchenden transparent, dass hinter einem Produkt tatsächlich eine bestimmte umwelt- und sozialverträgliche Produktion steckt. Die Fair-Trade-Standards Ökonomie, Ökologie und Soziales21 entsprechen den Nachhaltigkeits-Prinzipien; es geht also durchaus auch darum, den umweltschonenden Anbau und den Bio-Anbau zu unterstützen. Das Siegel wird vorwiegend für Nahrungsmittel vergeben, aber seit 2007 wird auch Baumwolle zertifiziert 22, so dass der Weg in die Bekleidungsindustrie sich öffnet. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von Marken, die »natürliche«, grüne Mode verkaufen. Meist liegt allerdings ihr Schwerpunkt auf T-Shirts, Stricksachen und im Großen und Ganzen Casual Wear und sportlicher Mode für vorwiegend junge Menschen. Auch wenn man allenthalben hört, dass die ästhetisch wenig anspruchsvolle Schlabbermode der frühen Öko-Bewegung überholt sei, so ist im unteren und mittleren Segment nach wie vor nur selten wirklich anspruchsvolles Design zu finden. Auch bei einem größeren Sortiment handelt es sich grundsätzlich eher um unkomplizierte, klare Schnitte, die modisch keinen allzu aufregenden Eindruck machen. Wenige der renommierten großen Modehäuser tragen bislang dem grünen Trend Rechnung. Eine der Ausnahmen ist Stella McCartney, die zwar keine grüne Mode im engeren Sinne macht, aber als Tierschützerin und Vegetarierin weder Leder noch Pelze verarbeitet. Vivienne Westwood erklärt sich für Nachhaltigkeit (»Buy less, choose well«), Armani nimmt ökologische Modelle in seine Kollektionen auf. Aber es entstehen mehr und mehr Labels, die sich der Couture zurechnen und ganz oder teilweise Eco Fashion anbieten, etwa die dänische Firma Noir, MaxJenny oder Edun 23 . Dazu zählt die Berliner Firma Umasan, deren Inhaberinnen konsequent vegane Mode produzieren, aber betonen, dass neben ihrer klar definierten Philosophie ihnen ihr von japanischen Moden inspiriertes Design von zentraler Bedeutung ist. Sie wünschen sich, dass man ihre Sachen der Gestaltung wegen kaufe und sich freue, dass sie außerdem noch umweltverträglich, tierschützend und nachhaltig sind. Vegane Mode ist ein Sonderfall. Sie definiert sich über den Verzicht auf tierische Bestandteile jeder Art, d.h. nicht nur 21 | www.fairtrade-deutschland.de/ueber-fairtrade/fairtrade-standards/ (24.05.2013). 22 | www.fairtrade-deutschland.de/ueber-fairtrade/was-macht-transfair/transfairchronik/ (24.05.2013). 23 | Viele weitere Namen in Black 2012, Black 2010, Diekamp/Koch 2010.
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Fell und Leder, sondern auch Wolle, Seide etc. werden nicht verwendet, und es wird darüber hinaus darauf geachtet, dass das Arbeitsmaterial, das benutzt wird, um die Produkte herzustellen (wie Nähfäden oder Leim), keine tierischen Anteile enthält. Vegan bedeutet aber z.B. nicht den Verzicht auf Kunstfasern, sofern sie recycelbar sind, oder auf Farben wie Schwarz, die in der Herstellung grundsätzlich problematisch sind. In allen Selbstbekundungen von Produzenten grüner, Öko- und veganer Mode spielt Zeit eine zentrale Rolle, nämlich die Zeit, die es brauche, gute Produkte unter guten Bedingungen herzustellen, und die lange Zeit, die diese Produkte halten und ein Leben begleiten. In der Massenmode werde, so die Idee, neben den Produkten und Ressourcen auch die Zeit vernichtet. Fast Fashion setzt auf billig produzierte, schnell abgenutzte Kleidung, meist Kopien von Designermoden. Sie werden wenige Male getragen und dann ebenso schnell weggeworfen und durch neue ersetzt. Zwei Kollektionen im Jahr gehören der Vergangenheit an, alle paar Wochen bieten die Fast Fashion-Läden neue Produkte an. Im Gegensatz dazu erklärt sich nachhaltige Mode, die einem langsamen Zyklus und Langlebigkeit verpflichtet und durchaus teurer ist – sein muss –, zum Luxusprodukt par excellence. Am Ende ist also, wenn man auf Natürlichkeit hofft, die entscheidende Frage, ob man von der schnelllebigen Massenware umsteigt auf Slow Fashion: nachhaltige, umweltverträgliche, fair produzierte Kleidung, die nicht auf dem immer schnelleren Karussell neuer Kollektionen mitfährt 24 . Natur/Natürlichkeit scheint mithin kein absoluter Gegensatz zu Mode mehr zu sein. Sie wird allerdings anders definiert als im 18. oder frühen 20. Jahrhundert. Es geht nicht mehr so sehr um eine modische Linie, die »natürlich« zu sein verspricht – außer in den klassischen Naturkaufhäusern –, als darum, Mode zu sein, aber andere, zeitgemäße Rohstoffe und Produktionsweisen zu verwenden und im Auge zu behalten, dass die Kette bei den Rohstoffen beginnt, aber nicht im Laden endet, sondern bei den Konsumierenden, die die Produkte nicht nur kaufen, sondern tragen, abnutzen, waschen oder reinigen lassen, schließlich entsorgen – und damit ihren eigenen ökologischen Fußabdruck erzeugen.
24 | Allerdings schließen sich auch große Modehäuser zunehmend dem Fast-FashionTrend an: www.nachhaltigkeit.info/artikel/fast_fashion_1770.htm (28.05.2013).
Nachwort
Kultur bestimmt sich in meiner Sicht wesentlich durch die Interaktion von Menschen mit Dingen und via Dinge mit anderen Menschen. Modekleider sind die Dinge, die uns täglich umgeben, die wir am eigenen Leib erleben und an anderen sehen. Sie ist aus dem modernen Alltag nicht wegzudenken. Modekleider geben uns Form, machen uns für uns selbst und für die anderen (scheinbar) lesbar, sie schaffen Identität und machen Zeit und Raum erfahrbar. Mode als Dynamik und als Praxis bringt Lebensstile und Dynamiken hervor, die die Rituale und Zeremonien früherer Zeiten ersetzen. Die Aspekte, die mich seit mehr als 15 Jahren an Mode interessieren und die die Hauptrolle in diesem Buch spielen, seien hier noch einmal kurz zusammengefasst: (1) Am Anfang steht die Diskursivität und Performativität von Mode. Mode entsteht nicht schon dann, wenn Kleider als Modekleider produziert werden – das ist erst einmal nur ein Angebot. Mode entsteht, wenn eine Gruppierung von Menschen das Angebot als Mode akzeptiert. Das geschieht (a) durch Zuschreibungspraktiken und (b) dadurch, dass Menschen mit den Kleidern interagieren. Denn die Kleider brauchen Körper, um inszeniert zu werden, und Menschen brauchen Kleider, um sich selbst zu inszenieren und zu dem zu gestalten, was sie sind und sein wollen. Mode realisiert sich in Alltagspraktiken ebenso wie in künstlerischen Praktiken; nur durch ihr Aufgeführtwerden, ihr Inszeniertwerden an Körpern und in Räumen werden die vestimentären Artefakte im eigentlichen Sinn zur Mode. Man kann die Aufführungen auch als Teil der Zuschreibungen auffassen, die Kleider zu Mode machen. (2) Dennoch sind Modekleider als wichtiger Teil der materiellen Kultur Artefakte, die eine eigenen Handlungsmacht besitzen: Nicht nur tun wir etwas mit ihnen, sondern sie machen auch etwas mit uns. (3) Das menschliche Handeln mit Kleidern ist eine sowohl soziale als auch ästhetische Praxis. Das ästhetische Potential von Mode erachte ich als mindestens ebenso wichtig wie die soziale Signifikanz der Moden. Dem Modehandeln
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wohnen grundsätzlich spielerische und fiktionalisierende Elemente inne. Mode ist ein Möglichkeitsraum, der Phantasien, aber auch Projektionen und Verleugnungen zulässt und Suchtstrukturen erzeugt. (4) Individuelle und kulturelle Identität bildet sich wesentlich im Umgang mit Kleidern aus. (5) Modekleider und Körper produzieren im Zusammenspiel Körpertechniken und spezifische Räumlichkeiten und lassen Raum erfahren. (6) Mode entsteht in der Suche nach dem Neuen, das als Anderes und Fremdes materialisiert und phantasiert wird und die modernen Gesellschaften mehr prägt als jede andere Strukturierung des Lebens (wie Rituale und Zeremonien früherer Zeiten, die zumindest bis zum 17. Jahrhundert, aber vermutlich deutlich länger, umgekehrt die Mode strukturierten). Das Buch stellt meine Perspektive auf Mode dar. Es gibt andere Schwerpunkte. Was ich gar nicht berücksichtigt habe, sind die neuen technischen Möglichkeiten, die der Kleidermode ungeahnte Möglichkeiten eröffnen und möglicherweise, aber m.E. nicht zwingend, die Mode in den nächsten Jahrzehnten vollkommen verändern könnten.1 Technotextilien sind »intelligente« Stoffe, die auf Veränderungen der Umwelt reagieren können, also beispielsweise Funktionstextilien, wie sie seit langem in der Sportkleidung oder im militärischen Bereich eingesetzt werden. Oft gehen sie von natürlichen Vorbildern aus, die transformiert werden. Integrierte LED-Leuchten, lichtreflektierende Gewebe sind nur der Anfang. Computergeneriertes Design bringt nicht nur völlig neue visuelle Effekte hervor, die vorher trotz aller Perfektion von Drucktechniken nicht möglich waren 2, sondern ist auch bereits imstande, dreidimensionale Objekte zu realisieren. Die Zeitschrift Textilforum berichtet von den ersten 3D-Outfits der niederländischen Designerin Iris van Herpen in Zusammenarbeit mit der Architektin Julia Körner und Designerin Neri Oxman3 . Wearable Computing oder Smart Fashion integriert Funktionen von technischen Geräten wie Handy, GPS oder Computer in die Kleidung selbst oder kontrolliert die Körperfunktionen von Kranken. 4 Spielerei oder Zukunft? Gundula Wolter schreibt: »Durch elektronische Aufrüstung wird das technische Kleid in etwas noch nie Dagewesenes transformiert. Smart Fashion folgt nicht mehr dem Regelwerk der Mode, sondern den Vorgaben der Produzenten und der User. Durch die im Stoff integrierte Technologie wird Kleidung zum Interface, zur Benutzeroberfläche, und somit zum äußerst vielseitigen Kommunikations- und
1 | Siehe Mentges 2006; Wolter 2009; Quinn 2010. 2 | Braddock Clarke/Harris 2012. 3 | Textilforum Nr. 2, Hannover, Juni 2013, 2. 4 | Wolter 2009, 185.
Nachwor t
Unterhaltungsmedium. Wearables binden den Menschen in Netze ein, nehmen Einfluss auf sein Leben, seine Gefühle, seine Aktionen.« 5 Die Frage wird sein, inwieweit sich damit die grundlegenden Funktionsweisen von Mode tatsächlich ändern, solange sie Mode bleibt; anders gefragt: ob man Mode in Zukunft neu definieren muss. Ich denke nicht. Denn die grundlegenden Charakteristika von Mode und ihre Funktionen für Menschen werden sich schwerlich ändern, nur weil die Artefakte und Aspekte des Umgangs mit Artefakten sich verändern. Sie mögen dem Körper näher rücken – aber sie bleiben, solange sie nicht implantiert werden, Artefakte außerhalb des Körpers, die mit ihm nur einfach noch umfassender und vielleicht anhaltender fusionieren, als das die nicht-technischen Kleider jetzt schon tun. Weiterhin wird das Zusammenkommen von Körper und Kleid den Modekörper als eigenes räumliches Gebilde hervorbringen, weiterhin wird Raumerfahrung ermöglicht. Mode mag mit den technischen Textilien funktionaler werden, aber weiterhin werden Menschen sich durch ihre Kleidung selbst gestalten und ihre Spielräume im sozialen wie im ästhetischen Sinne nutzen. Und auch wenn sich die ästhetische Gestaltung vollkommen ändert, weil technische Textilien und Kleider ganz andere Gestaltungen hervorbringen: So bleibt das doch im Rahmen dessen, was die Mode seit jeher tut. Mode bietet unablässig neue Wahrnehmungsangebote, die unsere Sicht auf die Welt und unser ästhetisches Empfinden prägen und ständig verändern. Insofern lebt sie nicht von Schönheit, sondern vom ständig neuen Reiz der Sinne, der auch und gerade über das Bizarre und Hässliche oder auch über das noch ungewohnte Technische erzeugt werden kann. Modische Experimente können rein ästhetischer Art sein, sie können sich auf Identitäten beziehen oder auf Wünsche und Ängste. Die Mode bietet Spielräume, und »Spielraum« verweist auf die Freiheit, mit der modische Experimente möglich sind, auf deren Unabschließbarkeit und auf die Offenheit des Ausgangs.
5 | Wolter 2009, 185.
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Abbildungen
Kapitel 2 Abbildung 1: Alba D’Urbano: »Il sarto immortale«, »Der unsterbliche Schneider« (www.durbano.de) Abbildung 2: Rei Kawakubo/Comme des Garçons: Kleid aus der Kollektion »Body Meets Dress Meets Body«, Frühjahr/Sommer 1997 (Foto: Comme des Garçons) Abbildung 3: P. Dawe, The Pantheon Macaroni, 1773 (aus Eileen Ribeiro, Dress in Eighteenth-Century-Europe 1715-1789, New Haven, London: Yale University Press 2002, S. 210) Abbildung 4: Ein französischer Herrenanzug von 1781 (aus: Jacques Ruppert/ Madeleine Delpierre/Renée Davray-Piékollek/Pascale Gorguet-Ballestros: Le costume français, Paris: Flammarion 1996, Abbildung 185, S. 155) Abbildung 5: Carle Vernet: Incroyables, um 1795, Paris, Bibliothèque Nationale, (aus: Jacques Ruppert/Madeleine Delpierre/Renée Davray-Piékollek/Pascale Gorguet-Ballestros: Le costume français, Paris: Flammarion 1996, Abbildung 242, S. 186) Abbildung 6: Rei Kawakubo/Comme des Carçons: Kleid aus der Kollektion »Body Meets Dress Meets Body«, Frühjahr/Sommer 1997 (Foto: Comme des Garçons) Abbildung 7: Viktor & Rolf: »Russian Doll«, Herbst/Winter 1999/2000, aus: Viktor & Rolf par Viktor et Rolf. ABCDE-Magazine, Première Décennie 2003, S. 96-99 Abbildung 8: Constantin Guys: Femmes au salon, Tusche (Feder und Pinsel), Aquarell, 21,5x31,5 cm. Sammlung J.L. Roque, Paris, aus: Renate Brosch: Das flüchtige Bild: Constantin Guys’ Modeskizzen als neuer Weiblichkeitsentwurf, in: Gertrud Lehnert (Hg.): Die Kunst der Mode, Oldenburg: dbv 2006, S. 128-161, hier: S. 157
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Abbildung 9: London and Paris Fashions for June 1865, aus: James Laver: Costume & Fashion. London: Thames and Hudson 1996, Abbildung 203, S. 187
Kapitel 3 Abbildung 10: Modestrecke »Glücksoffensive« aus der deutschen Vogue, April 2003, Foto: Dietmar Katz, Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek, Sammlung Modebild – Lipperheidesche Kostümbibliothek Abbildung 11: Modestrecke »Glücksoffensive« aus der deutschen Vogue, April 2003, Foto: Dietmar Katz, Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek, Sammlung Modebild – Lipperheidesche Kostümbibliothek Abbildung 12: Yamamoto Store, Paris, Foto: Johannes Marburg; www.sophiehicks.com/yohji-yamamoto/ Abbildung 13: Zara, Salamanca; www.fashionexposedblog.com Abbildung 14: Comme des Garçons, »White Drama«, Les Docks, Cité de la Mode et du Design, Paris 14.4.2012-28.10.2012, Foto: Lehnert
Kapitel 4 Abbildung 15: Daniel Nikolaus Chodowiecki: Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens, Erste Folge, 1778, aus: Prometheus Bildarchiv (www.prometheusbildarchiv.de)
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Zeitschrif t »Quer format« Birgit Haehnel, Alexandra Karentzos, Jörg Petri, Nina Trauth (Hg.)
Anziehen. Transkulturelle Moden Querformat. Zeitschrift für Zeitgenössisches, Kunst, Populärkultur, Heft 6 Oktober 2013, ca. 100 Seiten, kart., zahlr. Abb., 14,80 €, ISBN 978-3-8376-2512-7 ISSN 1876-447X Was soll ich anziehen? Diese Frage stellt sich jeden Morgen von Neuem. Die Möglichkeiten sind heute vielfältig. Durch die Globalisierung werden Moden aus unterschiedlichen Kontexten zusammengeführt und bestehen nebeneinander. Transkulturelle Moden sind das Thema des sechsten Heftes von Querformat und sie widersprechen dem gängigen Klischee: Globalisierung der Mode ist keineswegs vereinheitlichend und gegenwärtige Modeströmungen verlaufen nicht erdumspannend in die gleichen Richtungen. Die angeblich weltweiten Trends unterliegen zahlreichen Brechungen. In Europa setzt die global agierende Modebranche auf das Spektakel rund um die Haute Couture. »Anziehen« hingegen denkt Körper, Kleidung und Raum zusammen, so dass politische, wirtschaftliche und technische Dimensionen von Kolonisierungs- und Globalisierungsprozessen in den Blick rücken. Die Themen dieses Heftes reichen von Streetwear in Afrika über (Selbst-)Ethnisierungen von Designern bis hin zu Hightech-Fashion.
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Edition Kultur wissenschaf t Gudrun M. König, Gabriele Mentges, Michael R. Müller (Hg.)
Die Wissenschaften der Mode
Dezember 2013, ca. 190 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN 978-3-8376-2200-3 Ein Buch über die Modernität der Mode: Während eine Modewissenschaft an deutschsprachigen Universitäten bis heute nicht etabliert wurde, wenden sich verschiedene Disziplinen wie die Germanistik, die Soziologie, die Kulturanthropologie oder die Kunstgeschichte dem Phänomen der Mode zu. Der Band erkundet die Möglichkeiten der Verwissenschaftlichung des Gegenstands und entdeckt Parallelen zwischen den Wirkungsmechanismen der Mode – etwa der Dynamisierung, Rhythmisierung und Serialität – und Schlüsselstrategien der Modernisierung. Ein wichtiger Schritt für die Initiierung einer transdisziplinären Modewissenschaft.
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Zeitschrif t »POP« Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Nadja Geer, Thomas Hecken, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)
POP Kultur und Kritik (Heft 3, Herbst 2013)
September 2013, ca. 170 Seiten, kart., zahlr. Abb., 16,80 €, ISBN 978-3-8376-2485-4 ISSN 2194-6981 »POP. Kultur und Kritik« analysiert und kommentiert die wichtigsten Tendenzen der aktuellen Popkultur in den Bereichen von Musik und Mode, Politik und Ökonomie, Internet und Fernsehen, Literatur und Kunst. »POP« liefert feuilletonistische Artikel und Essays mit kritisch pointierten Zeitdiagnosen. »POP« bietet wissenschaftliche Aufsätze, die sich in Überblicksdarstellungen zentralen Themen der zeitgenössischen Popkultur widmen. Im dritten Heft geht es u.a. um die Bundestagswahl, Pop Life, Oberflächlichkeit und populäres Wissen.
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Kathrin Audehm, Iris Clemens (Hg.)
GemeinSinn Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2013
Oktober 2013, ca. 150 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2322-2 ISSN 9783-9331 Gemeinsinn ist und bleibt aktuell: Sowohl der westliche Zusammenhang von Bürgersinn und sozialem, politischem oder kulturellem Engagement als auch immer komplexer werdende Relationen zwischen Lokalem und Globalem sorgen für ein anhaltendes Interesse. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie Migrations- und Flüchtlingsbewegungen bzw. kulturelle Diaspora auf Gemeinsinn rekurrieren. Und inwiefern fordern jene Solidaritätshandlungen, die sich auf in prekären Verhältnissen von Migration oder Illegalität lebende Gruppen beziehen, den Gemeinsinn der Mehrheitsgesellschaft heraus? Die Beiträge dieser Ausgabe der ZfK geben Antworten.
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Edition Kultur wissenschaf t Erika Fischer-Lichte
Performativität Eine Einführung (2., unveränderte Auflage 2013)
2012, 240 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1178-6 Die Perspektive des Performativen geht davon aus, dass kulturelle Phänomene und Prozesse neue Wirklichkeiten hervorbringen und nicht lediglich als Zusammenhänge von Zeichen zu begreifen sind, die es zu entziffern und zu verstehen gilt. Texte, Bilder, Artefakte, Aufführungen und Praktiken aller Art lassen sich damit neu und anders wahrnehmen. Kulturen aus der Perspektive des Performativen zu untersuchen, ermöglicht den Kulturwissenschaften ganz neue Einsichten, die auch für den Laien faszinierend sind. Erika Fischer-Lichte stellt in diesem Band das Performative als eine kulturwissenschaftliche Grundkategorie vor und liefert damit die erste deutschsprachige Einführung in die kulturwissenschaftliche Performativitätsforschung.
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Edition Kultur wissenschaf t Stephan Moebius (Hg.)
Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies Eine Einführung
2012, 312 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2194-5 In den vergangenen Jahren haben immer mehr jene Kulturanalysen an Bedeutung gewonnen, die sich als umfassende Deutungen der Gegenwart verstehen, wie beispielsweise die Cultural Studies, Governmentality Studies, Queer Studies, Gender Studies, Disability Studies, Space Studies, Science Studies, Visual Studies, Media Studies, Performative Studies, Memory Studies, Sound Studies, Surveillance Studies oder Postcolonial Studies. Diese Ansätze stehen mittlerweile im Zentrum der Kultur- und Sozialwissenschaften. Der Band führt in diese Positionen anhand von Einzelbeiträgen ausgewiesener Expertinnen und Experten ein.
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X-Texte Karin Harrasser
Körper 2.0 Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen
Oktober 2013, ca. 120 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-8376-2351-2 Erfährt der Mensch ein Update, wie es der Prothetiker Hugh Herr mit seiner Formel von den »Humans 2.0« prophezeit? Die Diskussion um die Hightech-Prothesen eines Oscar Pistorius oder um Aufsehen erregende körpernahe Medien wie die Google-Brille zeigen einen Wandel der Ideen von Körperlichkeit: Verbessernde Eingriffe in und um den Körper werden nicht länger als notwendige Kompensation von Defiziten begriffen, sondern als wünschenswerte Optimierung und Steigerung. Werden Körper »machbar«? Karin Harrasser nimmt die neuen Diskurse und Praktiken des Körpers kritisch in den Blick und fragt nach den Möglichkeiten und Grenzen der technischen Erweiterbarkeit des Menschen.
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